Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich. Ich freue mich über die erkennbar
gute Laune. Sie könnte damit zusammenhängen, dass der
von der Fraktion Die Linke beantragte Zusatzpunkt 10,
Aktuelle Stunde mit dem Titel „Konsequenzen aus dem
Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts“, jeden-
falls für heute abgesetzt wird.
– Ich hoffe, dass die Protokollführer alle Ahs und Ohs
personengenau im Protokoll erfassen werden. –
Jedenfalls stelle ich zu der Absetzung dieses Tagesord-
nungspunktes ein ziemlich breites Einvernehmen fest.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 41 a bis 41 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Rechte von Patientinnen und Pa-
tienten
– Drucksache 17/10488 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mehr Rechte für Patientinnen und Patienten
– Drucksache 17/6489 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Patientinnen und Patienten durch-
setzen
– Drucksache 17/6348 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dauer von 90 Minuten vorgesehen. –
Auch das ist offensichtlich einvernehmlich. Dann kön-
nen wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasdeutsche Gesundheitswesen ist deshalb so leistungsfä-hig, weil sich die Patientinnen und Patienten auf ein be-sonderes Vertrauensverhältnis zum Arzt, zur Ärztin ihrerWahl verlassen können. Diese Bundesregierung will dasvertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis auch durchdieses Patientenrechtegesetz weiter stärken.Der Arzt schuldet eine Behandlung nach den Regelnder ärztlichen Kunst. Er muss sich fortbilden, um seinWissen auf dem neuesten Stand zu halten. Er muss auchseine Grenzen kennen. Das heißt, wenn er nicht weiter-weiß, muss der Arzt die Patienten zu einem Spezialistenweiterverweisen. Dabei können täglich Fehler passieren,wenn Ärztinnen und Ärzte handeln. Bei Verdacht aufKrebs wird das Gewebe vielleicht nicht zu einer Unter-suchung eingeschickt, ein Röntgenbild wird falsch ge-
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23654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Bundesminister Daniel Bahr
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deutet. Kann ein Verdacht auf eine Blinddarmentzün-dung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, so istdas Hinauszögern einer Operation ein Behandlungsfeh-ler. Oder: Das falsche Knie wird operiert, eine Klemmewird bei einer Operation im Bauch vergessen, das Lö-sungsmittel bei der Anästhesie wird verwechselt. All dassind Fehler, die Ärztinnen und Ärzten schon passiertsind. Das Patientenrechtegesetz, das die Bundesregie-rung dem Deutschen Bundestag heute vorlegt, wird dazubeitragen, Fehler im ärztlichen Verhalten künftig besserzu vermeiden. Das ist im Interesse der Patientinnen undPatienten in Deutschland und im Interesse eines vertrau-ensvollen Verhältnisses von Arzt und Patient.
Jahrelang wurde in Deutschland ein Patientenrechte-gesetz diskutiert. Schon Vorgängerregierungen habensich mit den Patientenrechten beschäftigt und diskutiert,ob ein Patientenrechtegesetz auf den Weg gebracht wer-den soll. Die SPD-Justizministerin Frau Zypries, dieSPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt haben etwasfür die Patientenrechte in Deutschland getan: Sie habenin den letzten Legislaturperioden eine Broschüre vorge-legt.
Eine FDP-Justizministerin, ein FDP-Gesundheitsminis-ter in dieser schwarz-gelben Bundesregierung legen denPatientinnen und Patienten in Deutschland nicht weiternur Broschüren vor,
sondern sie legen ihnen ein Gesetz vor, damit den Pa-tientinnen und Patienten endlich transparent gemachtwird, dass sie Rechte und Pflichten haben.
Dieses Gesetz bündelt die Rechte für die Patienten, da-mit sie den Ärzten auf Augenhöhe gegenübertreten kön-nen.
Dieses Gesetz stärkt die Patienten; denn erstmals wirdklar geregelt, dass Patienten bei Verdacht auf Fehler dieHilfe ihrer Krankenversicherung in Anspruch nehmenkönnen.So kann die Krankenversicherung beispielsweise beider Beweiserleichterung helfen, indem ein Gutachten er-stellt wird, oder sie kann darauf hinweisen, wo Rechtewie geltend gemacht werden können. Nach einer Um-frage kennen sechs von zehn Patientinnen und Patientenihre Rechte nicht. Deswegen brauchen wir die Bünde-lung der Rechte in diesem eigenen Patientenrechtege-setz, damit sich die Patientinnen und Patienten nicht al-leine auf Gerichtsentscheidungen und Richtersprücheberufen müssen, sondern ihre Rechte endlich transparentin einem Gesetz verankert vorfinden. Das Patientenrech-tegesetz ist der Beitrag dazu.Darüber hinaus können sie ihrer Krankenversiche-rung Fristen setzen, wenn die Krankenversicherung beiLeistungsansprüchen nicht rechtzeitig entscheidet. Wennalso eine Krankenkasse nicht innerhalb einer Frist, dieihr der Patient gesetzt hat, entschieden hat, dann kanndie Patientin oder der Patient diese Leistung auf demWege der Kostenerstattung in Anspruch nehmen. Dasheißt, hier stärken wir auch die Rechte der Patientinnenund Patienten gegenüber ihrer Krankenkasse. Denn häu-fig hören wir davon, dass Patientinnen und Patientenverärgert sind, weil die Krankenkasse nicht rechtzeitigentschieden hat und sie hingehalten werden. Auch hiermüssen die Patientenrechte gestärkt werden, damit Pa-tienten endlich die Leistungen bekommen, die sie für dieBehandlung dringend brauchen.
Unser Leitbild ist der mündige Patient, der seineRechte kennt, der dem Arzt kompetent gegenübertrittund der mit dem Arzt über seine Behandlung spricht.Deswegen regelt das Patientenrechtegesetz auch, dassder Patient künftig Einblick in die Patientenakte hat, umbeispielsweise bei Verdacht auf Fehler zu sehen, was derArzt gemacht hat.
Es soll darüber gesprochen werden, wie die Behand-lung aussieht, welche Risiken die Behandlung birgt undwelche Folgen die Behandlung hat. Zum Beispiel sehenwir bei individuellen Gesundheitsleistungen nun vor,dass der Arzt auch darauf hinweisen muss, dass Kostenentstehen können. Er soll diese Kosten beziffern undauch darauf aufmerksam machen, dass die Kosten einerindividuellen Gesundheitsleistung von der gesetzlichenKrankenkasse nicht ausreichend getragen werden, son-dern dass der Patient selbst Kosten tragen muss. Diessoll dazu dienen, dass der mündige Patient die Informa-tionen hat und selbst entscheiden kann, welche Leistunger in Anspruch nimmt.
Es wird über die Frage diskutiert, wie Patienten ihreRechte geltend machen können. Dieses Gesetz sieht erst-mals vor, dass bei groben Behandlungsfehlern nicht derPatient dem Arzt den Fehler nachweisen muss, sondernder Arzt nachweisen muss, dass er alles richtig gemachthat. Jetzt wird vonseiten der Opposition und von außendie Forderung gestellt, es müsse eine generelle Beweis-lastumkehr geben.
– Die Forderung nach einer generellen Beweislastum-kehr steht doch in der Öffentlichkeit im Raum und istauch aus Ihren Reihen gekommen.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Dass der Arztbei einem groben Behandlungsfehler beweisen muss,
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Bundesminister Daniel Bahr
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dass er alles richtig gemacht hat, ist der richtige Weg, ummit Augenmaß vorzugehen und das vertrauensvolleArzt-Patienten-Verhältnis zu schützen.
Weitere Beweislastumkehrungen, meine Damen undHerren, oder sogar eine generelle Beweislastumkehrwürden in Deutschland zu amerikanischen Verhältnissenführen,
und ich will nicht, dass der Arzt als Erstes an das Risikodenkt, dieses vermeiden will und deswegen eine Defen-sivmedizin in Deutschland stattfindet.
Ich will nicht, dass er an seine Haftpflicht- oder Rechts-schutzversicherung denkt. Vielmehr soll der Arzt inDeutschland das Bestmögliche tun und dabei auch Risi-ken eingehen müssen, damit der Patient geheilt wird.Denn wir wollen in Deutschland eine Fehlervermei-dungskultur und nicht eine Risikovermeidungskultur. Essoll das Beste für den Patienten getan werden,
und das muss im Mittelpunkt des vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses stehen.
Gleichzeitig wird darüber diskutiert, ob ein Entschä-digungsfonds eingeführt werden soll; auch das ist eineForderung der Opposition und anderer. Ich kenne, meineDamen und Herren, bisher keinen konkreten umsetzba-ren Vorschlag für einen solchen Entschädigungsfonds.Ich glaube, dass das in der Systematik unserer Recht-sprechung auch im Verhältnis zwischen Arzt und Patientder falsche Weg wäre; denn wenn ein Arzt einen Scha-den zu verantworten hat, dann muss er dafür haften.Dann ist er dafür verantwortlich, und dann kann es nichtsein, dass die Solidargemeinschaft der Beitragszahler da-für herangezogen wird und das finanziert.Wir wollen nicht, dass es für Ärztinnen und Ärzte ei-nen Anreiz gibt, zu sagen: Es gibt ja den Entschädi-gungsfonds, der zahlt dann schon im Schadensfalle. –Vielmehr muss derjenige, der einen Schaden verursachthat, zum Schadenersatz herangezogen werden, und nichtdie Solidargemeinschaft soll dafür aufkommen müssen.Ich meine, das Verursacherprinzip muss hier gewahrtbleiben, meine Damen und Herren.
Insofern geben wir mit dem Patientenrechtegesetzviele gute Antworten, die die Rechte der Patienten stär-ken und die das besondere Vertrauensverhältnis zwi-schen Arzt und Patient weiter ausbauen. Wir gehen vommündigen Patienten aus, wir gehen von dem Arzt aus,der sich fortbildet, der an seinen Fehlern arbeitet und derdafür sorgt, dass das Bestmögliche für den Patienten ge-tan wird.Dafür brauchen wir auch ein Beschwerdemanage-ment in den Krankenhäusern. Dafür brauchen wir in denKrankenhäusern eine Kultur, die eine Kultur des Ver-trauens und nicht eine Kultur des Misstrauens ist. Nichtdurch immer mehr Regelungen, nicht durch immer mehrDokumentationspflichten werden die Patienten gestärkt.Sie werden gestärkt, wenn der Arzt die ausreichendeZeit hat, sich um seine Patienten zu kümmern, und nichtzum Bürokratieangestellten einer Krankenkassenverwal-tung wird.Wir wollen, dass der Arzt genügend Zeit hat, sich imGespräch mit dem Patienten auseinanderzusetzen, dasses ein Beschwerdemanagement gibt, wenn der Patientunzufrieden ist, dass dies dazu führt, dass Prozesse imKrankenhaus verbessert werden und dass sich Patientenkünftig informieren können, in welchem Krankenhaussie am besten behandelt werden.All das stärkt die Patienten in Deutschland. Heute istein guter Tag für die Patienten in Deutschland, weil end-lich eine Bundesregierung ein Patientenrechtegesetz vor-legt, das die Rechte der Patientinnen und Patienten bün-delt, sie möglichst auf Augenhöhe mit dem Arzt stärktund ihnen die Möglichkeit gibt, in Deutschland die best-mögliche Behandlung zu bekommen – mit einem ver-trauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Dr. Marlies Volkmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorzweieinhalb Jahren haben wir an dieser Stelle den An-trag der SPD für ein modernes Patientenrechtegesetz dis-kutiert.
Ein solches Gesetz muss die Rechte zusammenfassen,muss aber auch die Rechte der Patientinnen und Patien-ten weiterentwickeln und muss dafür sorgen, dass diePatienten diese Rechte wahrnehmen können;
denn sonst nützen die besten Formulierungen und diebesten Paragrafen nichts.
Nun haben Sie sich sehr lange Zeit gelassen, ehe Sieeinen solchen Entwurf für ein Patientenrechtegesetz aufden Weg gebracht haben.
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Dr. Marlies Volkmer
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Wir alle kennen den Satz: Was lange währt, wird gut.Trifft das für diesen Fall zu? Sie kennen wahrscheinlichschon unsere Antwort: Nein, natürlich nicht. Die Zieledieses Gesetzentwurfes sind bis zur Unkenntlichkeit ver-wässert worden. Da, Herr Minister Bahr, nützt es auchnichts, wenn Sie sich hier hinstellen und alles aufzählen,was in dem Gesetzentwurf steht. Das gibt es in der Tatalles schon. Sie haben jetzt tatsächlich nur den erstenPunkt erledigt und das geltende Recht zusammengefasst.
Das reicht uns aber nicht. Von daher müssen Sie sichnicht wundern, wenn von vielen Seiten Kritik geäußertwird, von den Betroffenen, von Patientenverbänden, vonden Anwälten für Medizinrecht und von den Kranken-kassen. Nur die Ärztekammer ist zufrieden mit diesemGesetz. Für die Ärzte gibt es keine höheren Anforderun-gen. Dieses Gesetz ist ein Placebo,
und das war von Ihnen auf der Regierungsbank auch sogewollt.Von daher ist dieses Gesetz in der Ausrichtung völligkonsequent: Patientinnen und Patienten erhalten nichtmehr Rechte. Das beginnt schon bei der Aufklärung. Esgehört dazu, dass der Patient weiß, wie oft in einer be-stimmten Einrichtung ein Eingriff vorgenommen wird,wie hoch die Komplikationsrate ist, wie der normaleBehandlungsverlauf ist. Er muss auf Alternativen zurDiagnostik und Therapie hingewiesen werden, auchdann, wenn diese an der betreffenden Einrichtung nichtdurchgeführt werden und der Patient eventuell in eineandere Einrichtung geht.Ich bin Ärztin. Ich kann mir diese Informationen ho-len, und das tue ich auch. Meine Kolleginnen und Kolle-gen tun das auch. Aber was wir Ärzte für uns in An-spruch nehmen, um eine fundierte Entscheidung treffenzu können, muss generell für alle Patienteninnen und Pa-tienten gelten.
Diese selbstverständliche Information trifft in beson-derer Art und Weise auf die individuelle Gesundheits-leistung, IGeL, zu. Hier nützt es nichts, wenn im Be-handlungsvertrag steht, wie teuer eine Leistung ist. DerPatient muss vielmehr wissen, warum eine Leistung,zum Beispiel die Augendruckmessung, manchmal eineLeistung der Krankenkasse ist und manchmal nicht. DerPatient muss aufgeklärt werden, dass eine Therapie, dieihm angeboten wird und die er privat bezahlen soll, vonder Krankenkasse nicht bezahlt wird, weil der Nachweisder Wirksamkeit nicht gegeben ist.Sie haben völlig recht: Wo Menschen arbeiten, sindauch Fehler nicht ausgeschlossen. Aber Patienten, die ei-nen Behandlungsfehler erlitten haben, sind in einer sehrschwierigen Position.
Die Beweislast liegt zu 100 Prozent beim Patienten,während die Beweismittel … zu 100 Prozent aufSeiten des Arztes sind.Das sagt Susanne Mauersberg vom VerbraucherzentraleBundesverband. Sie hat völlig recht. Daran ändert sichmit diesem Gesetz nichts.
Der Patient muss nach wie vor nachweisen, dass derArzt den Fehler begangen hat und dass dadurch der Ge-sundheitsschaden eingetreten ist. Er muss langwierigeund teure Prozesse führen. In dieser Zeit hat er keinefinanzielle Unterstützung. In diesen Fällen würde einHärtefallfonds, den wir vorschlagen und den viele Be-troffene fordern, Unterstützung für die Patienteninnenund Patienten bedeuten.
Natürlich müssen sich die Haftpflichtversicherer ander Finanzierung dieses Fonds beteiligen. Wir wollenmitnichten eine Beweislastumkehr, aber wir wollen Be-weiserleichterungen in den Fällen, in denen mit hoherWahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann,dass der Schaden im Krankenhaus entstanden ist, zumBeispiel wenn in dem Krankenhaus hohe Infektionsratenvorkommen und der Patient eine solche Infektion hat.Entscheidend für Patienteninnen und Patienten, einenBehandlungsfehler nachweisen zu können, ist die voll-ständige und richtige Dokumentation. Auch hier reichtes nicht, was Sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben.Wir wollen gesetzlich geregelt haben, dass eine Softwarevorgeschrieben wird, die die Fälschung elektronischerPatientenakten verhindert.
Sie haben recht: Im Gesetz ist vorgesehen, dass Kran-kenkassen ihre Versicherten unterstützen müssen, wennsie glauben, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Aberes fehlt die Regelung, wie die Mindestunterstützung aus-sehen soll. Reicht vielleicht ein Faltblatt oder ein kurzesBeratungsgespräch aus? Auch hier muss deutlich nach-gebessert werden.Jeder Behandlungsfehler, jeder Schaden durch einMedizinprodukt ist einer zu viel. Schadensregulierungist nur eine Hilfe und kann körperliche Beschwerden,körperliche Schäden und menschliches Leid natürlichnicht ausgleichen. Von daher ist die Frage der Patienten-sicherheit eine ganz entscheidende. Hierbei geht es da-rum, die Qualitätssicherung zu verbessern, die Zulas-sungsregelungen für Medizinprodukte zu verbessern undProduktkontrollen vorzunehmen. Wir haben mit unse-rem Antrag „Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten“,den wir im Juni eingebracht haben, den Weg aufgezeigt.Selbst wenn uns heute ein deutlich besseres Patienten-rechtegesetz vorliegen würde, dann muss das natürlichdurch andere gesetzliche Regelungen ergänzt werden.Auch solche liegen auf dem Tisch. Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Union und von der FDP, sind
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23657
Dr. Marlies Volkmer
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aufgefordert, diese Regelungen ernsthaft zu prüfen, mituns zu diskutieren und, wenn möglich, umzusetzen.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller für
die CDU/CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Kollegin Volkmer, wenn Sie uns auffor-dern, mit Ihnen zu diskutieren, möchte ich Sie auffor-dern, unseren Gesetzentwurf erst einmal zu lesen. WasSie hier nämlich vorgetragen haben, hat mit diesem Ge-setzentwurf leider nichts zu tun.
Wer von Ihnen weiß, wo und wie die Rechte auf Ein-sicht in Ihre Krankenakten geregelt sind? Es gibt den§ 810 des Bürgerlichen Gesetzbuches, es gibt Landge-richtsurteile, zum Beispiel vom Landgericht Aachen ausdem Jahr 1985, und, und, und. Die Unübersichtlichkeitführt dazu, dass ein Viertel aller Versicherten gar nichtsvon einem Recht auf Einsicht weiß und dass 63 Prozentzu Unrecht meinen, bei einem Arztwechsel die Original-unterlagen verlangen zu können.Aber nicht nur die Versicherten sind verunsichert.Viele Ärzte verneinen ihre Pflicht auf Erstellung einerKopie, und viele Krankenkassen schicken ihre Versi-cherten dann mit solchen Fragen zu uns. Dass Patientenverbriefte Rechte und Leistungen wie Bittsteller einkla-gen müssen, ist nicht akzeptabel. Darüber hinaus benöti-gen auch die Ärzte und das medizinische Personal Klar-heit, welche Rechte und Pflichten sie treffen.Ich mache keinem einen Vorwurf; auch wir von derPolitik tragen hier Verantwortung. Die Zersplitterung desRechts, vom Grundgesetz über Sozialgesetzbuch, Bürger-liches Gesetzbuch, Röntgenverordnung, Reichsversiche-rungsordnung, Berufsrecht bis hin zu Gerichtsentschei-dungen, erschwert einen Überblick über bestehendeRechte und fördert dadurch natürlich Vollzugsdefizite.Das Ergebnis kennen wir: Unwissenheit und Irrtümerüber Patientenrechte zerstören nicht nur Vertrauensver-hältnisse, sie führen auch zu erheblichen sozialen undgesundheitlichen Nachteilen.Das beenden wir heute.
Mit der Bündelung und Weiterentwicklung der Patien-tenrechte in einem Patientenrechtegesetz setzen wir – imÜbrigen von vielen scheinbar noch gar nicht wahrge-nommen – eine Wende in der Gesundheitspolitik fort,nämlich die Wende dahin, dass der Patient im Mittel-punkt unserer Bemühungen steht und nicht wie bisherdie vorhandenen Strukturen.
Ich kenne keine Regierungszeit, in der so viele Ver-besserungen für die Patienten erreicht wurden wie in die-ser. Dank Umstellung der Finanzierung haben wir zumersten Mal genügend Geld, sodass wir keine Leistungenkürzen müssen. Mit der Überleitung der UnabhängigenPatientenberatung vom Modellvorhaben zu einer profes-sionellen Regelversorgung ist ein Vorteil für den Patien-ten geschaffen worden. Das Krankenhaushygienegesetzschützt die Patienten besser vor Infektionen.Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittel-marktes bestimmt der Zusatznutzen für die Patientenkünftig den Preis der Medikamente. Natürlich werdendie Patientenvertreter in diese Beratungen einbezogen.Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz passen wir dieVersorgungsplanung den Bedürfnissen der Versichertenan und nicht umgekehrt. Auch das geschieht wiederumunter Einbindung der Patientenvertreter. Mit demPflege-Neuausrichtungs-Gesetz richten wir auch diePflege verstärkt an den Bedürfnissen der Menschen aus,zum Beispiel durch die Unterstützung neuer Wohnfor-men.Mit dem Patientenrechtegesetz runden wir jetzt dieseBemühungen ab. Wir wollen, dass ein vertrauensvollesMiteinander in den Praxen zur Regel wird. Das Patien-tenrechtegesetz liefert hierfür ein modernes, tragfähigesFundament. Denn nur wenn man sich als Partner ver-steht, können Therapien passgenau individuell abge-stimmt werden, was, wie wissenschaftlich bewiesen ist,die Erfolgsaussichten einer Krankheitsbewältigungenorm befördert.Aus diesem Grund haben wir den Begriff „Patienten-schutzgesetz“ zunächst einmal in die Schublade gelegtund alle Beteiligten zu einem Gespräch eingeladen, umden größtmöglichen Konsens vor dem Gesetzgebungs-prozess auszuloten. In über 300 Gesprächen ist diesgelungen. Seitens der Fachleute gibt es keine Extremfor-derungen mehr. Die einen sagten: „Ein Patientenrechte-gesetz brauchen wir nicht“, die anderen forderten einetotale Beweislastumkehr im Falle eines Behandlungsfeh-lers.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist gelun-gen, nach fast 20 Jahren Diskussion einen ausgewoge-nen Entwurf vorzulegen.
Sicher, auch ich als Patientenbeauftragter habe noch deneinen oder anderen Wunsch. Ich könnte mir zum Bei-spiel vorstellen, dass wir im parlamentarischen Verfah-ren darüber diskutieren, wie mit Mitbestimmungsrechtenin Verfahrensfragen im Gemeinsamen Bundesausschussumgegangen wird.Der Entschädigungsfonds wurde angesprochen.
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23658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Wolfgang Zöller
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– Härtefallfonds. – Die Ärzteschaft war voll auf unsererSeite, nur die Versicherungswirtschaft hat ihn strikt ab-gelehnt.
Ich sage Ihnen klipp und klar: Mit mir gibt es keinenEntschädigungsfonds; denn dann müssten die Versicher-ten dafür bezahlen, dass im Zweifelsfall ein Arztfehlerausgeglichen wird. Mit einer solchen Lösung können wirnicht vor die Öffentlichkeit treten.
An dieser Stelle darf ich mich beim Gesundheitsmi-nister, bei dir, lieber Daniel, und bei der Justizministerinrecht herzlich bedanken.
– Ja. – In den vorhergehenden Jahren sind die Gesprächeimmer gescheitert, weil sich die beiden Ministerien nichteinigen konnten. Man kann feststellen, dass die beidenHäuser optimal zusammengearbeitet und einen sehr gu-ten Gesetzentwurf vorgelegt haben.
Lassen Sie mich stichpunktartig darauf eingehen, wasder Gesetzentwurf für die Patienten bedeutet:Die Aufnahme des Behandlungsvertrages in das Bür-gerliche Gesetzbuch: Es ist schon mehr als ein Zusammen-fügen; denn jetzt wird es wirklich zum Gesetz erhoben. Pa-tienten und Ärzte können künftig in diesem Gesetznachlesen, welche Rechte und Pflichten sie haben: Wasmuss die Aufklärung beinhalten? Bekomme ich das ge-wünschte Dokument, ja oder nein? Es ist geregelt, dassoffengelegt werden muss, wenn die Kosten einer Be-handlung von der Krankenkasse nicht voll übernommenwerden. Es wird außerdem festgeschrieben, in welchenFällen es bei einem Behandlungsfehler eine Beweislast-umkehr gibt. Auch das ist ein Vorteil für die Patienten.Die effektive Qualitätssicherung durch Risikoma-nagement- und Fehlermeldesysteme: Meldungen wie:„Falsches Bein amputiert, weil die Markierung auf demThrombosestrumpf war, der vor der OP ausgezogenwurde“, dürften künftig der Vergangenheit angehören.Unser Ziel ist eine neue Fehlerkultur, um dadurch Be-handlungsfehler so weit wie möglich zu vermeiden. Einwichtiger Faktor hierfür ist, aus Fehlern und vor allemauch aus Beinahefehlern zu lernen. In Deutschland giltnach wie vor, dass man sucht, wer den Fehler gemachthat, statt sich stärker damit zu beschäftigen, warum derFehler begangen wurde, und die Ursachen abzustellen.Durch das Risikomanagement- und Fehlermeldesystemwird die richtige Struktur vorgegeben, um dies umsetzenzu können. Es gibt auch noch einen finanziellen Anreizfür Krankenhäuser, die sich an diesem System beteili-gen.Mehr Unterstützung bei Behandlungsfehlern. Oftwird verschwiegen, dass jetzt gesetzlich geregelt wird,dass den Patienten von den Krankenkassen ein kosten-freies medizinisches Gutachten zur Verfügung gestelltwird. Das ist ein großer Fortschritt.
Schnellere Entscheidungen durch die Krankenkassen:Ich habe Briefe bekommen, in denen es hieß: Die Ge-nehmigung meines Rollstuhls hat acht Monate gedauert. –Das ist eine Beschwerde, die ab dem kommenden Jahrnicht mehr vorkommen darf. Der Rollstuhl muss inner-halb von drei Wochen genehmigt sein. Die Frist von dreiWochen wird die Verfahren wesentlich beschleunigen.Auch das ist ein Vorteil für die Versicherten.
Stärkung der Patientenrechte: Sie werden gelesen ha-ben, dass die Patientenvertreter in die Bedarfsplanungstärker eingebunden werden, was für die medizinischeVersorgung auf dem flachen Land entscheidend ist.Ein ganz wichtiger Punkt zum Schluss: umfassendeInformation für Patientinnen und Patienten. Wir stellenimmer wieder fest: Die wenigsten kennen ihre Rechte,und wer seine Rechte nicht kennt, kann sie nicht einfor-dern. Wir werden durch ein verständliches Informations-system für mehr Transparenz sorgen, eine Aufgabe, diedem Patientenbeauftragten zukommt. Wir werden dieBürger also ordentlich informieren.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Moral undder Umgang miteinander können nicht gesetzlich gere-gelt werden. Mit dem Patientenrechtegesetz schaffen wiraber die Voraussetzungen für einen faireren Umgang inPartnerschaft. Das dient dem Ziel, wie alle Bemühungenim Gesundheitswesen, einer optimalen medizinischenVersorgung.Vielen Dank.
Harald Weinberg ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wegen des Ent-wurfs des Patientenrechtegesetzes, über den wir heutehier debattieren, klingelt seit Wochen mein Telefon, unddas Fax quillt über.
Leider ist es nicht überschäumende Begeisterung überdiesen Gesetzentwurf, die eine Vielzahl überglücklicherPatientinnen und Patienten zum Telefonhörer greifenlässt, sondern die übergroße Enttäuschung über das, wasSie, meine Damen und Herren von Union und FDP, nachjahrelanger stiller Beratung ausgeheckt haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23659
Harald Weinberg
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In Ihrem Koalitionsvertrag hatten Sie vor drei Jahrennoch von einem Patientenschutzgesetz gesprochen. Esgeht aber nicht nur um den Schutz der Patienten, sondernauch darum, ihnen Rechte zu geben, und darum, ihnenMöglichkeiten an die Hand zu geben, dass sie dieseRechte auch durchsetzen können. Die Überschrift desGesetzentwurfs zeigt, dass Sie unsere Nachhilfe ange-nommen und dazugelernt haben: aus Patientenschutz- istPatientenrechtegesetz geworden.
Bei den Inhalten haben Sie diese Einsicht leider nichtgezeigt. Wir hätten uns für die Patientinnen und Patien-ten gefreut, wenn Sie unsere Vorschläge oder, wenn Sieunsere Vorschläge nicht nehmen wollten, die der Grünenoder die der SPD übernommen hätten. Wir hätten unsgefreut, wenn Sie zum Beispiel die erleichterte Regelungbei der Beweislast in den Gesetzentwurf hineingeschrie-ben hätten.
Wir hätten uns auch gefreut, wenn Sie die Vorschlägeder Betroffenen, also der Patientinnen- bzw. Patienten-verbände, in den Gesetzentwurf hineingeschrieben hät-ten. Stattdessen haben Ihnen die Ärzte- und Kranken-hausverbände die Hand beim Schreiben geführt.
Da muss man sich nicht wundern, wenn zum Schlusswenig herauskommt, was den Patienten bei der Durch-setzung ihrer Rechte hilft.
Deshalb steht in dem Gesetzentwurf jetzt nur das, wasbislang auch durch Richterrecht schon geregelt und gül-tig war.
Zum Teil bleiben Sie sogar hinter der bisherigen Recht-sprechung zurück.Gut, die Krankenkassen bekommen ein paar Zusatz-aufgaben, wenn es darum geht, Patientinnen und Patien-ten zu unterstützen.
Das war es aber auch, und das ist aus unserer Sicht deut-lich zu wenig.
Worum geht es im Kern eigentlich? Viele Patientinnenund Patienten haben die leidvolle Erfahrung gemacht,dass man als Patient nach einem Behandlungsfehler keineguten Karten hat. Wer schon vor der Behandlung krankwar und aufgrund eines Ärztefehlers noch kränker undleidender wurde, der hat es ganz schwer. Er muss sich umseine Genesung kümmern und gleichzeitig gegen ein pro-fessionelles Kartell von Ärzteschaft, Krankenhausver-waltung und Ärztehaftpflichtversicherung samt Anwäl-ten und Gutachtern ankämpfen, um die Schuld zubeweisen. Dazu muss der Patient aufzeigen – das ist be-reits erwähnt worden –, dass erstens wirklich eine falscheBehandlung vorliegt und zweitens die Schädigung ur-sächlich auf die falsche Behandlung zurückzuführen ist.Diejenigen, die das zu begutachten haben, sind wiederumÄrzte und werden von Ärztekammern oder den Ärz-tehaftpflichtversicherungen bezahlt. Solche Gerichtsver-fahren dauern im Übrigen Jahre, oft auch Jahrzehnte.Sehr häufig ist es so, dass die Geschädigten das Ende desGerichtsverfahrens nicht mehr erleben.Leider wird den Geschädigten durch den jetzt vorge-legten Entwurf eines Patientenrechtegesetzes kaum ge-holfen. Es soll keine generelle Erleichterung der Beweis-last eingeführt werden. So haben die Geschädigtenweiterhin die Beweislast zu tragen, und die Ärzte habendie Beweismittel in den Händen. Nur bei groben Behand-lungsfehlern wollen Sie eine Beweislastumkehr einfüh-ren. Das ist aber heute schon gängige Praxis vor Gericht.Doch was nun ein grober Fehler ist, wird wiederum durcheinen Arzt entschieden.Sie wollen auch keinen unabhängigen Gutachterpooleinrichten. Die Geschädigten werden sich also weiterhinan Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionenwenden müssen, die bei den Ärztekammern angesiedeltsind und zum größten Teil für die Ärzte und gegen diePatienten entscheiden.
Es wird nach Ihren Plänen leider auch keinen Härte-fall- oder Entschädigungsfonds geben, aus dem Geschä-digten schnell und unbürokratisch zumindest eine finan-zielle Entschädigung geleistet werden könnte.Kommen wir zu den individuellen Gesundheitsleis-tungen – ein besonderes Ärgernis für viele Patientinnenund Patienten. Das sind Leistungen, die die Kasse nichtübernimmt und für die die Patientinnen und Patientenbeim Arzt extra zahlen müssen: wenige sinnvoll, diemeisten überflüssig, einige sogar schädlich! Auch hierschreiben Sie nur die Verpflichtung zur Aufklärung übermögliche Kosten in den Gesetzentwurf. Das kann dochnicht alles sein. Dabei wissen auch Sie genau: MancheÄrztinnen und Ärzte nutzen IGeL-Leistungen, um ihrenUmsatz zu erhöhen. Dafür gibt es sogar spezielle Ver-kaufstrainings, die bis vor kurzem noch vom Bundes-wirtschaftsministerium gefördert worden sind.
Die Linke fordert darum in ihrem Antrag, einen klarenrechtlichen Rahmen zu schaffen, damit die Patientinnenund Patienten nicht über den Tisch gezogen werden.
Dazu gehören eine angemessene Bedenkzeit, ausrei-chende Informationen und unabhängige Beratung überSinn, Nutzen und Alternativen genauso wie Maßnahmen
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23660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Harald Weinberg
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der Qualitätssicherung. Nichts davon findet sich aller-dings in diesem Gesetzentwurf.Auch bei den Rechten von Patientenorganisationenbleiben Sie sehr schmalbrüstig. Die Patientenorganisatio-nen werden im Gemeinsamen Bundesausschuss, demwichtigsten Gremium der Selbstverwaltung im Gesund-heitswesen, weiterhin am Katzentisch sitzen müssen underhalten noch nicht einmal in Verfahrensfragen einStimmrecht. Dass diese darüber verbittert sind, darf Sienicht wundern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,ich weiß schon, dass einige von Ihnen sehr wohl zumin-dest einen Teil unserer Kritik teilen und mit dem Gesetz-entwurf recht unzufrieden sind.
Darum appelliere ich an Sie: Setzen Sie sich im weiterenVerfahren lautstark dafür ein, dass dieser Gesetzentwurfnoch entscheidende Änderungen erfährt, die im Interesseder Patientinnen und Patienten sind, und nicht so durchdas Parlament geht.Vielen Dank.
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink.
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich will hier nicht wiederholen – diese Punktewurden schon genannt –, was in diesem Entwurf des Pa-tientenrechtegesetzes sinnvoll ist.
In diesem Patientenrechtegesetz sollen tatsächlich erst-mals all die Rechte der Patienten gebündelt werden, diein verschiedenen Gesetzeswerken, allerdings sehr ver-streut, verankert sind. Es ist natürlich eine große Erleich-terung und stellt einen Fortschritt dar, wenn diese Rechtetatsächlich transparent und gebündelt vorliegen. Dasaber, meinen wir, ist zu wenig Anforderung an ein Pati-entenrechtegesetz.
Dieses Patientenrechtegesetz ist zwar von zwei FDP-Ministern auf den Weg gebracht worden, aber – dasmuss man doch sagen – diese beiden Minister musstenmehr zum Jagen getragen werden, als dass sie sich zuüberzeugten Verfechtern einer wirklichen Patientenori-entierung und einer Stärkung von Patientenrechten auf-geschwungen hätten. Genau dies spiegelt sich an vielenStellen in diesem Gesetzentwurf wider. Sie von derCDU/CSU wissen das sehr genau. Nicht umsonst habenwir drei Jahre warten müssen, bis dieser sehr verküm-merte Gesetzentwurf vorgelegt wurde. Das ist ein ganzklarer Nachweis dafür, dass es einen langen Prozess desRingens gegeben hat, bis Sie überhaupt zu diesem Er-gebnis gekommen sind.
Das ist eigentlich schade, wenn man sich anschaut,was Sie, Herr Zöller, in den letzten drei Jahren aufGrundlage zahlreicher Gespräche mit Patientenverbän-den – dies ist durchaus anerkennenswert – vorgebrachtund vorgeschlagen haben. Wir konnten zahlreiche Pres-seartikel darüber lesen. Genau das hat dazu geführt, dasswir alle die Hoffnung hatten, wir kämen ein Stückchenweiter als nur bis zu dem, was jetzt vorliegt.
Betrachten wir einmal den Gesamtansatz. Natürlichist es richtig, einen eigenständigen Untertitel im Bürger-lichen Gesetzbuch zu schaffen, in dem der Behandlungs-vertrag geregelt wird. Aber bringt dies tatsächlich mehrRechte? Wir haben eben schon gehört: Es gibt kein ein-ziges zusätzliches Recht, das insbesondere den Patien-ten, die einen Behandlungsfehler erlitten haben, weiter-helfen würde. 20 Jahre nachdem erstmals Vorschläge aufden Tisch gelegt worden sind, 20 Jahre, in denen esHoffnungen gegeben hat, dass die Stellung von geschä-digten Patienten vor Gericht verbessert wird, ist das aus-gesprochen kümmerlich.
Kommen wir zu den anderen Bereichen, die mit Pati-entenschutz zu tun haben. Sie haben ja im Koalitionsver-trag von einem Patientenschutzgesetz gesprochen. Dasweckte die Hoffnung, dass gerade der Aspekt der Patien-tensicherheit, der Fehlervermeidung konsequent ange-gangen wird. Nichts da! Was finden wir dazu in diesemGesetzentwurf? Es sind nur ganz wenige Regelungen imSGB V vorgesehen, und fast alle haben eine eher freiwil-lige Grundlage. Es gibt keinen Ansatz, der dazu führt,dass wir ein stringentes System der Fehlervermeidung,des Fehlermonitorings, des Beschwerdemanagementsund des Risikomanagements bekommen. Nirgendwo fin-det man wirklich verbindliche Regelungen, dafür aberviele Aufgabenstellungen, die sich an den G-BA und diegemeinsame Selbstverwaltung richten. An keiner Stelleheißt es: Jede Einrichtung, jede Praxis, jedes Kranken-haus hat genau dies zu tun und dabei bestimmte Quali-tätsstandards einzuhalten. – Diese klare Verbindlichkeitfinden wir in Ihrem Gesetzentwurf nicht. Wir meinen,das ist nicht ausreichend.
Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Einrichtung vonMedizinprodukteregistern; die Debatte um Brustimplan-tate haben wir ja geführt. Auch hier bleibt es dabei: Was
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23661
Maria Klein-Schmeink
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die Wirtschaft betrifft, findet man nur freiwillige Selbst-verpflichtungen. Es gibt keinen Ansatz, eine gesetzlicheRegelung vorzunehmen. Sie sagen nicht etwa: Wir tref-fen im Hinblick auf Medizinprodukteregister eine ver-pflichtende Regelung und schaffen damit Instrumente,die für Qualitätssicherung, aber auch für Transparenzsorgen. – Auch in diesem Punkt ist Ihr Gesetzentwurfein großer Ausfall.Zu den Gutachten. Sie sind stolz darauf, dass Sie inIhrem Gesetzentwurf eine entsprechende Verpflichtungder Krankenkassen verankert haben. Vorher war das eineKannregelung. Es gab diese Möglichkeit also schon, undsie wurde gerade von den großen Kassen umfangreichgenutzt. Aber: Was tun Sie, um diese Gutachten tatsäch-lich zu qualifizieren? Was tun Sie, um Mindeststandardsfestzulegen? Was tun Sie, um den Gutachtern Weiterbil-dungen zu ermöglichen? Nur so kann ja überhaupt einehohe Qualität der Gutachter gewährleistet werden. Zualldem findet sich in diesem Gesetzentwurf nichts, Fehl-anzeige.
So, meinen wir, kann eine wirkliche Unterstützung vonPatienten nicht aussehen.
Schauen wir weiter; es besteht auch noch folgendesProblem: Eine Beteiligung der Patientenorganisationenim Rahmen der Selbstverwaltung in den verschiedenenGremien ist mittlerweile zwar, auf Betreiben von Rot-Grün,
seit Jahren vorgesehen. Aber was ist mit ihren Verfah-rensrechten? Nicht einmal hier konnten Sie sich zu einerRegelung durchringen.Wir meinen, Sie sind an sehr vielen Stellen zu kurzgesprungen. Wir hoffen, dass wir die Kolleginnen undKollegen in den Reihen der CDU in Ihrem Bemühen umein besseres Patientenrechtegesetz noch ein bisschen be-stärken können. Denn in Ihren Eckpunkten sind durch-aus einige Vorschläge enthalten, die auch die andereSeite dieses Hauses für sinnvoll hält. Noch haben Sie dieMöglichkeit, ein wirkliches Patientenrechtegesetz aufden Tisch zu legen. Ich bin noch nicht ganz ohne Hoff-nung. Aber wenn ich mir die anderen Gesetzgebungsver-fahren, die Sie noch vorhaben, ansehe – ich nenne nurdas Betreuungsgeld –, dann bin ich etwas weniger opti-mistisch, dass wir hier noch etwas erreichen.
Das Wort erhält nun die Bundesjustizministerin FrauLeutheusser-Schnarrenberger.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Frau Klein-Schmeink, Sie ha-ben versucht, den vorliegenden Gesetzentwurf kleinzu-reden. Das ist Ihnen beim besten Willen nicht gelungen.
Denn Sie konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dasssieben Jahre Rot-Grün zu keinem einzigen Gesetzent-wurf geführt haben.
Wenn alle Regelungen schon lange in der Schublade ge-legen hätten, längst klar wären und schon aufgeschriebenworden wären, dann könnten wir heute über die Verbes-serung eines vielleicht schon vorliegenden Patientenrech-tegesetzes debattieren. Wir, diese Bundesregierung unddie Koalitionsfraktionen, legen heute allerdings erstmalsin der Geschichte der Beratungen im Bundestag einenGesetzentwurf zur Stellung der Patienten vor. Außerdemfinden die Regelungen dieses Gesetzentwurfes ihren Nie-derschlag erstmals auch im Bürgerlichen Gesetzbuch; indieses schaut man ja, wenn man rechtliche Regelungenim Hinblick auf einen Behandlungsvertrag sucht. Alleindas ist schon ein Mehrwert. Es ist jetzt ganz leicht in Er-fahrung zu bringen, und zwar ohne googeln oder umfang-reiche Auskünfte einholen zu müssen, welche Rechte undwelche Pflichten der Behandelnde und der Patient haben.
Der Mehrwert liegt auch darin, dass die Rechte jetztso festgelegt sind, dass der Patient dem Behandelnden– das ist nicht nur der Arzt, sondern das sind auch alleanderen, die medizinische Dienstleistungen erbringen –auf Augenhöhe gegenübersteht. Der Patient ist nichtBittsteller, und der Arzt bzw. der Behandelnde ist nichtein Halbgott im weißen Kittel. Hier begegnen sich zweimit unterschiedlichen Anliegen: der Behandelnde, dermit seinem Fachwissen dem Patienten helfen soll undmuss und will, und der Patient, der ein Recht darauf hat,alles zu erfahren und selbstbewusst entscheiden zu kön-nen, in was er einwilligt und in was er nicht einwilligenmöchte. Dass das jetzt nachlesbar und transparent ist unddass es damit Rechtssicherheit gibt, ist ein wirklich gro-ßer Fortschritt gegenüber der derzeitigen Situation, inder Fälle durch Rechtsprechung entschieden werden.
Die Verpflichtungen, die festgehalten worden sind,sind natürlich umfangreicher als die, die sich aus derderzeitigen Rechtsprechung ergeben. Die Rechtspre-chung ist ja immer nur eine Entscheidung im Einzelfall.Daraus haben sich ein paar Grundsätze ergeben. Bei denInformationspflichten gehen wir über das hinaus, wasbisher durch Rechtsprechung niedergelegt ist – auch imBlick auf das, was sich entwickeln kann. Gerade in Be-zug auf die Verpflichtung zur Aufklärung machen wir inden Folgebestimmungen Konsequenzen für die Haftungdeutlich. Es ergeben sich daraus Beweiserleichterungen
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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und damit eine Stärkung der Patienten, gerade dann,wenn zum Beispiel die Aufklärung unterblieben ist.Wenn in der Patientenakte einiges überhaupt nicht ent-halten ist, vielleicht aber aufgeklärt wurde, dann gilt:Das, worüber nichts ausgeführt worden ist, ist nicht er-folgt. Das wird in einer Auseinandersetzung dann zu-gunsten des Patienten bewertet.Es handelt sich also um ein sehr gut ineinander grei-fendes Regelungswerk. Dies gilt für die Regelungen imBürgerlichen Gesetzbuch, natürlich aber auch für das,was in Bezug auf die Kassen und im Sozialgesetzbuchgeregelt wird.Selbstverständlich schaut man gerade bei diesen Fra-gen – auch angesichts der Statistiken und bestimmt auchangesichts der Dunkelziffern im Hinblick auf Behand-lungsfehler, die wir nicht kennen – darauf, wie die Haf-tung zwischen dem Patienten auf der einen Seite unddem Behandelnden, dem Arzt, auf der anderen Seite aus-tariert wird. Ausgangslage für uns war dabei zunächsteinmal die Haftungsverteilung im Bürgerlichen Gesetz-buch; daran orientieren wir uns. Dass jemand, der An-sprüche hat – die fixieren wir hier –, sie auch geltendmachen muss, ist ein allgemeiner Grundsatz, der für alleBereiche gilt. Aber natürlich reicht das in diesem Be-reich nicht aus.
Ein Patient steht ja vielen technischen Geräten gegen-über und hat keinen Einblick in das, was in entscheiden-den Momenten passiert. Er ist, wie es so schön heißt,nicht so nah dran, wenn es an die Behandlung geht. Dasswir deshalb Änderungen an dieser grundsätzlichen Be-weisregelung vornehmen, ist ein ganz wichtiger Schritt.Natürlich hat sich das über Jahrzehnte auch schon in derRechtsprechung immer wieder ein Stück weit entwi-ckelt, aber das hat doch eine total andere Qualität.Lesen Sie bitte auch einmal die Begründung im Ge-setzentwurf, in der wir über zig Seiten deutlich machen,was „grober Behandlungsfehler“ heißt. Wir entwickelndort Beispiele und sagen, was das voll beherrschbare Be-handlungsrisiko ist; denn auch in diesen Fällen – undnicht nur bei einem groben Behandlungsfehler – gilt dieBeweislastumkehr,
weil der Patient bei einem voll beherrschbaren Behand-lungsrisiko auf der Seite des Behandelnden im Kranken-haus natürlich nur wenig vortragen und einbringen kann.Diese Beweislastumkehr ist zum Beispiel ganz ent-scheidend beim Umgang mit der Gefahr von Infektio-nen. Hinsichtlich der hygienischen Standards in Kran-kenhäusern kann der Patient nichts ausrichten. Das istein beherrschbares Risiko derjenigen, die eine Leistungerbringen. Wir erwähnen entsprechende Beispiele in un-serer Gesetzesbegründung ganz bewusst, damit man da-ran ablesen kann, in welche Richtung wir mit den Geset-zesformulierungen gehen.
In den einzelnen Paragrafen können wir doch nichtaufzählen, was alles ein grober Behandlungsfehler ist.Das kann man nie abschließend machen, sonst müssteman ein Buch schreiben; das können wir nicht. Wir müs-sen objektive Kriterien erläutern; deshalb werden ent-sprechende Beispiele in der Begründung des Gesetzesaufgeführt. Das ist wichtig für die Anwendung, das istwichtig für die Praxis.Dann macht nämlich eine neue Broschüre, die dieBundesregierung nach Abschluss der Beratungen ge-meinsam herausgeben wird, auch Sinn. In diese werdenwir im Einzelnen das hineinschreiben, was wir jetzt imGesetzestext, aber insbesondere in der Begründung aus-führen.
Niemand, der nicht hier im Bundestag oder in derBundesregierung Verantwortung trägt, hat bei diesemGesetzentwurf Hand geführt.
Wir können das untereinander sowieso viel besser. Dannhaben wir aber auch intensiv verhandelt. Wir haben beidiesem Gesetzentwurf sehr früh mit den Abgeordnetender Koalitionsfraktionen überlegt: Wie machen wir dasam besten? Wir haben uns ausgetauscht, gerade natürlichauch mit Ihnen, Herr Zöller, weil insbesondere an Sie– Sie haben ja täglich ein offenes Ohr für die Patienten –die Anliegen herangetragen werden. All das hat Eingangin den Gesetzentwurf gefunden. Darüber werden wir jetztdebattieren.Wir haben ausreichend Zeit, zu debattieren, damit amEnde der Legislaturperiode aus diesem Entwurf ein Ge-setz wird, das im Bundesgesetzblatt steht. Deshalb brin-gen wir ihn jetzt ein. Ihm ging eine gründliche Vorarbeitvoraus. Die Zielrichtung dabei war einerseits, Patienten-rechte zu stärken. Wir wollten mit diesem Gesetzentwurfandererseits aber auch kein generelles Misstrauen gegen-über dem Behandelnden hervorrufen; denn wir brauchendoch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt bzw. Be-handelndem und Patient. Auch das wird durch diesenGesetzentwurf gestärkt.Vielen Dank.
Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Januar 2010hat der Patientenbeauftragte bei seiner Vorstellung imGesundheitsausschuss angekündigt, dass er 2011 ein Pa-tientenrechtegesetz verabschieden will. Jetzt endlich
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Dr. Carola Reimann
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liegt der Gesetzentwurf vor. Es ist mittlerweile Septem-ber 2012! Über zwei Jahre hat sich die schwarz-gelbeKoalition mit diesem wichtigen Thema Zeit gelassen.Wir waren auch geduldig gewesen; denn es ist ein kom-plexes Thema; das ist hier schon angeklungen.Auch mir ist wie der Kollegin Volkmer die schöneRedensart eingefallen: Was lange währt, wird endlichgut. Leider bewahrheitet sie sich bei diesem Gesetzent-wurf nicht. Wir mussten lange warten, aber das Wartenhat sich leider nicht gelohnt.
Das sieht die Regierung erwartungsgemäß anders. Beider Präsentation des Kabinettsbeschlusses im Mai hätteman den Eindruck bekommen können, einem epochalenEreignis beizuwohnen; so gut, so neu sei das Gesetz. Dawurden große Worte gewählt.Mit dem, was tatsächlich im Gesetzentwurf steht, hatdas allerdings herzlich wenig zu tun. Neues enthält derEntwurf nämlich nicht.
Der Anspruch an ein neues Gesetz sollte aber sein, dasses mehr bringt, als die bisher in verschiedenen Gesetzenund Urteilen bereits bestehenden Patientenrechte zusam-menzuführen.
Der Entwurf dieses Patientenrechtegesetzes ist eineschöne Fleißarbeit, aber nichts wirklich Neues.
Wir haben es gelesen.
– Es sind ganze acht Seiten mit einer sehr umfangreichenBegründung; das können wir schon bewältigen. – GroßeWorte, aber für die Patientinnen und Patienten wird diesesGesetz keine spürbare Wirkung haben. Das Zusammen-führen bestehenden Rechts allein genügt nicht den Anfor-derungen an ein wirklich modernes Patientenrechtege-setz. Dieser Gesetzentwurf ist ein politisches Placebo, dasden Betroffenen keine wirklichen Verbesserungen brin-gen wird – leider! Der Gesetzentwurf, Kolleginnen undKollegen, greift deshalb zu kurz. Patientenrechte müssenin vielen Bereichen wirklich ernsthaft erweitert werden.Der Bundestag ist aufgefordert, hier nachzubessern.Ein erstes Beispiel: Im Gesetzentwurf fehlt ein Härte-fallfonds, mit dem Patientinnen und Patienten in Härte-fällen unbürokratische, schnelle Hilfe gewährt wird.Auch Kollege Singhammer hatte ihn im Februar 2012gefordert. Ich zitiere: „Ich halte die Einrichtung einesEntschädigungsfonds für notwendig.“
Das war in der Süddeutschen Zeitung im Februar diesesJahres zu lesen.Dass sich die CSU und die FDP nicht immer ganz ei-nig sind, ist kein neues Phänomen.
Ich sage nur: Betreuungsgeld.
Dass aber die Meinung des Patientenbeauftragten ebensowenig zählt, ist bitter.
Kollege Zöller hatte sich als Patientenbeauftragter eben-falls frühzeitig für einen derartigen Fonds ausgespro-chen. Ende des Jahres 2010 sagte er in der FrankfurterRundschau – ich zitiere –:Er sichert eine schnelle Hilfe für die Betroffenenund könnte auch dazu beitragen, jahrelange Ge-richtsprozesse mit unsicherem Ausgang zu vermei-den.Das sehen wir auch so. Aber selbst wenn außer den Kol-legen noch zahlreiche Patientenorganisationen, Medizin-rechtler – das ist schon angeklungen –, Anwälte, Ver-braucherschutzorganisationen und die Bundesländerdiesen Fonds fordern, ist das für den Minister anschei-nend kein Grund, zu handeln. Das, finde ich, ist schadeund vor allem schlecht für die Patientinnen und Patien-ten.
Der Patientenbeauftragte – Herr Zöller, Sie wissen,dass ich eine hohe Meinung von Ihnen habe –
hat gerade angeführt, dass die Versicherungswirtschaftdagegen war. Das ist leider ein beredtes Beispiel dafür,auf welcher Seite die Regierung wirklich steht.
Ich dachte immer, Sie seien Patientenbeauftragter undnicht Versicherungsbeauftragter.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion fordern, dassein Härtefallfonds nach dem Wiener Vorbild aufgelegtwird. Dieser soll eintreten, wenn es keinen sicherenNachweis der Schadensursache oder des Verschuldensgibt, wenn eine seltene oder bislang unbekannte Kompli-kation auftritt, die den Versicherten stark schädigt, wenndie Durchsetzung des Schadensersatzanspruches unzu-mutbar lange dauern würde oder wenn eine finanzielleHilfe aus sozialen Gründen oder anderen Gründen gebo-ten erscheint. Das wäre eine echte Verbesserung.Kolleginnen und Kollegen, auch die Medizinprodukteund die damit verbundenen Probleme werden im Gesetz-entwurf nicht angesprochen; das blendet die Regierung
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Dr. Carola Reimann
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völlig aus. Der Skandal um schadhafte Brustimplantatezu Beginn dieses Jahres hat aber gezeigt, dass wir im In-teresse der Patientinnen und Patienten etwas tun müssen.Es ist schließlich nicht so, als hätte es nicht bereits früherProbleme mit Metallhüftgelenken und Defibrillatorengegeben. Die derzeitigen Regelungen reichen, wie wirwissen, nicht aus, die Sicherheit der Patientinnen undPatienten in vollem Umfang zu gewährleisten.
Während aus den Reihen der Opposition schon ent-sprechende Anträge erarbeitet und im Bundestag debat-tiert wurden und auch die EU-Kommission bereits einenVerordnungsvorschlag vorgelegt hat, ist immer noch un-klar, wie die Bundesregierung die Sicherheit von Medi-zinprodukten verbessern will. Die Chance, dies im Pa-tientenrechtegesetz zu regeln, wurde bisher klar vertan.Wir brauchen aber schärfere und unangemeldete Kon-trollen, eine europaweit einheitliche Zulassung für Me-dizinprodukte der höheren Klassen, eine Pflicht zum Ab-schluss einer Haftpflichtversicherung und die Errichtungeines Entschädigungsfonds sowie nicht zuletzt ein Im-plantatregister zur Versorgungsforschung und ein Ver-zeichnis der Patienten zur Rückverfolgung und Informa-tion der Patientinnen und Patienten.Kolleginnen und Kollegen, ich will noch einen letztenPunkt ansprechen; denn auch über die Quelle größtenÄrgernisses für Patientinnen und Patienten in der ambu-lanten Behandlung, die IGeL-Leistungen, ist im Gesetz-entwurf nichts zu finden.
Die IGeL-Leistungen müssen gesetzlich Versicherte ausihrem privaten Geldbeutel zahlen.
Der medizinische Nutzen ist jedoch sehr oft zweifelhaft.Wir fordern deshalb Maßnahmen zur Kontrolle, zumBeispiel ein Verbot, am selben Tag GKV-Leistungen undIGeL-Leistungen bei einem Patienten abzurechnen, so-wie einen verpflichtenden schriftlichen Behandlungsver-trag, eine schriftliche Rechnung und eine umfassende In-formationspflicht des Arztes, die nicht delegiert werdenkann.Kolleginnen und Kollegen, auch wenn mir vor allemdie gesetzlich Versicherten am Herzen liegen, will ichnoch etwas zu den Privatversicherten sagen. Alles, wasmit dem Patientenrechtegesetz im SGB V für die gesetz-lich Versicherten zusammengestellt wurde, muss eigent-lich auch für die privat versicherten Patientinnen undPatienten gelten. Normalerweise werden deshalb dieSGB-V-Regelungen im Versicherungsvertragsgesetz odergegebenenfalls im Versicherungsaufsichtsgesetz nach-vollzogen, oder wie wir sagen, wirkungsgleich umge-setzt.Ich wundere mich: Im Patientenrechtegesetz findetsich dazu nichts. Muss ich Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen vor allem von der FDP, wirklich sagen, dassPKV-Versicherte keine Versicherten mit Patientenrech-ten zweiter Klasse sind?
Es ist schlimm genug, dass sie ihre Versicherung nichtwechseln dürfen wie gesetzlich versicherte Patientinnenund Patienten. Aber im Fall eines gesundheitlichenSchadens müssen sie, finde ich, die gleichen Rechte ha-ben.
Auch da gibt es noch Nachbesserungsbedarf.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerName ist Programm: Wir behandeln heute das Gesetzzur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Pa-tienten. Genau das ist das Ziel der christlich-liberalenKoalition. Trotz der vielen Unkenrufe, die wir vonseitender Opposition hören, erreichen wir dieses Ziel mit demvorliegenden Gesetzentwurf.
Wir haben bereits heute ein gutes und leistungsfähi-ges Gesundheitssystem. Patienten können in aller Regeldarauf vertrauen, dass sie, wenn sie zu einem Arzt ge-hen, dort eine qualitativ hochwertige medizinische Be-handlung bekommen und dass ihnen durch Ärzte und an-dere im Gesundheitswesen tätige Personen geholfenwird, wieder gesund zu werden.Aber – auch das gehört natürlich zur Wahrheit – imBehandlungsalltag treten an der einen oder anderenStelle Defizite auf. Da werden Behandlungswünsche vonPatienten nicht immer ausreichend respektiert, da erfolgtdie notwendige Aufklärung nicht immer in hinreichen-dem Maße, und im schlimmsten Fall gibt es Behand-lungsfehler mit gravierenden gesundheitlichen Folgen.Der Patient ist hier in aller Regel schutzbedürftig, undzwar nicht nur, weil er krank ist und sich deshalb in me-dizinischer Behandlung befindet, sondern vor allen Din-gen deswegen, weil er medizinischer Laie ist und ihmdie Sachkenntnis fehlt, Art und Weise sowie Erfolg oderMisserfolg einer Behandlung erkennen und einschätzenzu können.Vor diesem Hintergrund hat die Rechtsprechung inden vergangenen Jahrzehnten eine sehr komplexe, sehr
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Dr. Jan-Marco Luczak
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ausdifferenzierte Judikatur zum Arzthaftungs- und zumBehandlungsrecht entwickelt. Sie hat versucht, die In-teressengegensätze, die es zwischen Arzt und Patient na-turgemäß dann gibt, wenn bei einer medizinischen Be-handlung einmal nicht alles glatt gelaufen ist, in einausgewogenes und sachgerechtes Verhältnis zu bringen.Das Problem dabei ist, dass Patienten in aller Regelkeine Juristen sind. Kein Patient kennt also den Umfangund auch die Grenzen der ihm zugesprochenen Rechte.Was ist die Folge daraus? Die Folge ist eine Intranspa-renz, aus der eine Unsicherheit der Patienten darüber re-sultiert, welche Rechte sie tatsächlich haben. Die Folgedavon wiederum ist, dass die Patienten den Ärzten nichtauf Augenhöhe begegnen können und deswegen auchmanchmal Probleme haben, ihre Rechte durchzusetzen.Das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf ändern.Wir wollen, dass Patienten selbstbewusst, selbstbe-stimmt und eigenverantwortlich über ihre Behandlung,über ihre Therapie entscheiden können. Wir setzen hier-bei auf das Leitbild des mündigen Patienten, der umfas-send über seine Rechte informiert ist und weiß, in wel-che Behandlung er einwilligt. Damit stärken wir dasVertrauensverhältnis zwischen Patient auf der einenSeite und Arzt auf der anderen Seite.Wie erreichen wir das? Wir glauben, dass es notwen-dig ist, die relevanten Rechte und Pflichten, die es nachder Rechtsprechung und in vielen Gesetzen schon jetztgibt, klar, nachvollziehbar und transparent in einem Ge-setz zu regeln. Aus diesem Grunde bündeln wir dieseRechte dort, wo sie für jeden auffindbar und nachlesbarsind, nämlich in einem eigenen Abschnitt des Bürgerli-chen Gesetzbuchs. Wir konstruieren dazu den eigenenVertragstypus des Behandlungsvertrags. Mit dieser um-fassenden Kodifizierung schaffen wir die notwendigeRechtsklarheit und Rechtssicherheit.Unser Blick richtet sich dabei nicht alleine auf die Pa-tienten, sondern es ist auch für die andere Seite – für dieÄrzte und die anderen im Gesundheitswesen tätigen Per-sonen – wichtig, ihren Pflichtenkanon zu kennen. Dennnur dann können sie sich darauf einstellen und im Be-handlungsalltag die notwendigen Schritte unternehmen.Wir schaffen also Orientierung für die Patienten, abereben auch für die Mediziner. Und das ist gut so.
Was regeln wir nun im Einzelnen? Meine Redezeit istzu knapp bemessen, um alle Details darzustellen. Wirorientieren uns im Wesentlichen an dem Wunsch nachVerlässlichkeit und Kontinuität hinsichtlich der Rechte,die es schon gibt. Allein mit dieser Kodifizierung schaf-fen wir schon einen Mehrwert, weil damit Transparenzherrscht. Jeder Patient kann ins Bürgerliche Gesetzbuchschauen und weiß dann, was seine Rechte und Pflichtensind. Allein das ist ein bemerkenswerter Schritt.Aber dabei bleiben wir nicht stehen – auch wenn dasvon der Opposition hier zum Teil anders dargestellt wird.Natürlich gibt es bei den Informations- und Aufklä-rungsrechten der Patienten Fortschritte. Wir haben unssehr genau angeschaut, was wir da machen müssen.Auch in vielen anderen Punkten werden die Rechte derPatienten gestärkt.Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sa-gen, das sei ein politisches Placebo und ein verkümmer-ter Gesetzentwurf. Es ist wirklich unangemessen, in die-ser Art und Weise mit den Rechten von Patientenumzugehen.
Wir haben verschiedene Punkte aufgegriffen. Uns istdie Einwilligung, die ein Patient zu seiner Behandlunggeben muss, sehr wichtig. Deshalb ist nach unserer Mei-nung ein abgestuftes System aus Information und Auf-klärung des Patienten für die Wirksamkeit der Einwilli-gung notwendig. Wir stärken die entsprechenden Rechtedes Patienten in diesem Punkt, weil wir der Meinungsind, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten imMittelpunkt stehen muss. Das erreichen wir mit diesemGesetz.Des Weiteren geht es um Fragen der Beweislastvertei-lung und der Haftung. In Haftungsprozessen ist es in derRegel entscheidend, wer was beweisen muss bzw. be-weisen kann. Hier gibt es natürlich ein strukturelles Un-gleichgewicht im Verhältnis von Arzt zu Patient. Daswollen und werden wir mit unserem Gesetz ausgleichen.Wir schreiben die besondere Beweislastverteilung, die esschon im richterrechtlichen Bereich gibt, im BGB fest.Auf die verschiedenen Vermutungsregelungen muss ichnicht näher eingehen, weil sie schon dargelegt wurden.Nur so viel: Wir sorgen dafür, dass die Patienten ihreRechte auch in der Rechtspraxis durchsetzen können. Esstellt einen ganz wesentlichen Fortschritt dar, dass wirdas gesetzlich kodifiziert haben.
Ich muss langsam zum Schluss kommen. Wir wollenauch kein überzogenes Haftungsregime haben. Wir wol-len ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.Wenn wir – wie zum Teil gefordert – die Vermutung ge-setzlich festgeschrieben hätten, dass auch einfache Be-handlungsfehler immer als schuldhaft anzusehen sind,kämen wir zu einer Defensivmedizin, die sich fort-schrittlichen Behandlungsmethoden nicht öffnen kann.Das wollen wir nicht. Deswegen haben wir uns entspre-chenden Forderungen verschlossen.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt nicht langsam, son-
dern zügig zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.Ich stelle fest: Wir haben hier einen gesetzgeberi-schen Drahtseilakt zwischen der Kodifizierung auf dereinen Seite und dem notwendigen Spielraum für die Ge-richte auf der anderen Seite, um einzelfallbezogene, ge-rechte Entscheidungen treffen zu können, bewältigt. Dasleistet dieser Gesetzentwurf. Ich finde, er ist gut gelun-
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23666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Dr. Jan-Marco Luczak
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gen. Nun gehen wir gestärkt in die parlamentarischenBeratungen.
Für die Fraktion Die Linke hat nun Martina Bunge
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich schätze ein: Ihr Gesetzentwurf zu den Patien-
tenrechten, werte Kollegen von der Koalition, ist ein
„wirkungsloses Feigenblatt“ und lässt die Geschädigten
im Regen stehen. Nach den großen Ankündigungen von
Ihrer Seite, verehrter Herr Kollege Zöller, als Patienten-
beauftragter sind die Patientinnen und Patienten maßlos
enttäuscht.
Warum müssen wir aber überhaupt so intensiv über
die Patientenrechte diskutieren? Der Hauptgrund ist mei-
nes Erachtens, dass das Vertrauen der Patientinnen und
Patienten in die medizinische Versorgung – und hier vor
allen Dingen in die ärztliche Versorgung – abnimmt.
Dieser Vertrauensverlust ist ein Alarmsignal für das Ge-
sundheitssystem. Im Grunde ist die dringende Notwen-
digkeit eines Patientenrechtegesetzes ein Armutszeugnis
für die vorherrschende Gesundheitspolitik.
Das Vertrauen nimmt sicherlich auch ab, weil Patien-
tinnen und Patienten kritischer werden und sich orga-
nisieren und weil ärztliche Fehler durch präsentere Me-
dien viel stärker öffentlich werden. Aber das Vertrauen
nimmt besonders dadurch ab, dass vor allen Dingen Ärz-
tinnen und Ärzte zunehmend in einen Interessenkonflikt
zwischen persönlichen Vorteilen und guter Behandlung
der Patientinnen und Patienten kommen. Die zuneh-
mende Vermarktlichung unseres Gesundheitssystems,
die auch die Ärztinnen und Ärzte immer stärker erreicht,
schwächt das Vertrauen in die Versorgung. Das Ver-
trauen ist aber eine Grundvoraussetzung für eine gelin-
gende medizinische Therapie. Daher gilt es, das Ver-
trauen zu stärken.
Dies kann ein Gesetz allein nicht leisten. Aber es muss
ein Beitrag dazu sein.
Für Vertrauen brauchen wir ein Gesundheitssystem,
in dem der Patient wieder im Mittelpunkt steht, ein Ge-
sundheitssystem, das nicht Tummelplatz wirtschaftlicher
Interessen ist.
Wir brauchen wieder eine intensive Diskussion und
einen modernen Konsens über die Ethik des Arztberufes.
Die Charta zur ärztlichen Berufsethik aus dem Jahre
2002 wird in Deutschland – anders als in den USA und
anderen europäischen Ländern – kaum zur Kenntnis ge-
nommen. Ganz leise beginnt jetzt eine Diskussion. Ent-
worfen wird ein „Manifest für eine menschliche Medi-
zin“. Das ist gut so.
Ich will zwei Punkte aus der Charta herausgreifen. Sie
fordert, Interessenkonflikte beizulegen und allein den
Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Patientinnen und
Patienten erwarten keine Unfehlbarkeit, Frau Ministerin,
aber sie erwarten, dass allein ihr Wohl das therapeutische
Handeln bestimmt und nicht persönliche Vorteile, gleich
ob Vergütungsvorteile oder Geschenke; denn diese kön-
nen dazu führen, dass ein Arzt bewusst sein Handeln än-
dert. Interessenkonflikte bei Therapeuten müssen offen
benannt und erheblich verringert werden. Die Vorlage
der Bundesregierung reicht dazu bei weitem nicht aus.
Die von Ihnen vorangetriebene Vermarktlichung des Ge-
sundheitssystems bewirkt genau das Gegenteil.
Die Charta fordert Wahrhaftigkeit von einem Arzt.
Patienten erwarten keinen perfekten Arzt, aber sie er-
warten zu Recht, dass ihr Arzt einen Fehler zugibt und
die Verantwortung übernimmt, statt die Fehler zu vertu-
schen. Aber dann steigt ihm die Haftpflichtversicherung
auf den Kopf. So kann keine Fehlerkultur entstehen,
Herr Minister, in der man aus Fehlern lernt. Lernen muss
das ganze System.
Wenn ein Fehler passiert, brauchen die Patientinnen und
Patienten eine generelle Erleichterung bei der Beweis-
last, nicht nur in schweren Fällen. Dazu stehen wir.
Das derzeitige Konstrukt der Haftpflichtversicherung
bei Gesundheitsberufen sorgt dafür, dass Fehler ver-
tuscht und die Existenz bestimmter exponierter Berufs-
gruppen und damit die Versorgung gefährdet werden.
Ganz offensichtlich ist, dass durch die aktuelle Situation
der freiberuflichen Hebammen das Wahlrecht der werden-
den Mütter hinsichtlich der Art der Entbindung mehr
und mehr eingeschränkt wird. Das darf nicht hingenom-
men werden.
Daher fordert die Linke einen Haftungsfonds. Herr
Zöller, wenn einer dafür und einer dagegen ist, dann
muss die Politik zum Wohle der Patientinnen und Patien-
ten entscheiden. Dazu sind wir hier.
Das wäre doch ein schöner Schlusssatz gewesen, FrauKollegin.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23667
(C)
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Das Profitdenken von Unternehmen erfordert einen
starken Verbraucherschutz. Dem Profitstreben im Ge-
sundheitssystem kann man mit einem Patientenrecht nur
unzureichend begegnen. Ein Patientenrechtegesetz kann
das Gesundheitssystem nicht reparieren, aber es könnte
dafür sorgen, dass das System zumindest patienten-
freundlicher gemacht wird. Diese Gesetzesvorlage leis-
tet das nicht. Schade.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die
Kollegin Ingrid Hönlinger das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Patientenrechtegesetz wird durch folgende zentrale Be-
griffe gekennzeichnet und beschrieben: Beteiligungs-
rechte, Aufklärungspflichten, Dokumentationsrechte und
vor allem Transparenz und Rechtssicherheit. Schon an
dieser Begrifflichkeit lässt sich ablesen, dass es sich um
ein komplexes und besonders wichtiges Rechtsgebiet
handelt. Patientinnen und Patienten und auch Sie selbst,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
haben, wie sich Ihren Worten entnehmen lässt, hohe An-
sprüche an dieses Gesetz. Diesen Ansprüchen wird das
Patientenrechtegesetz in seiner jetzigen Form nicht ge-
recht.
Dass Sie uns nun endlich ein solches Gesetz vorlegen
und dass der Behandlungsvertrag damit als eigener Ver-
trag im Bürgerlichen Gesetzbuch kodifiziert wird, begrü-
ßen wir ausdrücklich. Sie erkennen damit an, dass zwi-
schen Patient und Arzt ein besonderes Rechtsverhältnis
besteht. Die gesetzliche Regelung des Behandlungsver-
trags war überfällig, ausreichend ist sie jedoch noch im-
mer nicht. Sehr deutlich zeigt sich das bei der Festlegung
der Beweislast.
Hier kodifizieren Sie die ständige Rechtsprechung
des BGH zur Beweislastumkehr bei groben Behand-
lungsfehlern. Demgemäß erkennen Sie nur hier an – Zi-
tat von Seite 30 Ihres Gesetzentwurfs –: „… dass der Be-
handelnde ‚näher dran‘ ist, das Beweisrisiko zu tragen.
Demgegenüber wird der Patient im Regelfall kaum et-
was zur Klärung des Sachverhalts beitragen können …“.
Aber schauen Sie doch genau hin! Das ist bei weniger
krassen Behandlungsfehlern nicht anders. Im Regelfall
ist es bei kleineren Fehlern sogar noch viel schwieriger
für die Patientinnen und Patienten, den Behandlungsfeh-
ler nachzuweisen.
Das Besondere an einem Behandlungsvertrag ist doch
gerade, dass ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen
den Vertragsparteien besteht, meine Damen und Herren.
Die Beweislastumkehr im Ausnahmefall reicht deshalb
nicht aus. Wir brauchen eine zusätzliche Beweiserleich-
terung in Form einer widerlegbaren Vermutung auch für
einfache Behandlungsfehler. Ich sage ausdrücklich „Be-
weiserleichterung“ und nicht „Beweislastumkehr“. Da-
mit meine ich: Wenn der Patient zur Überzeugung des
Gerichts darlegt, dass ein Behandlungsfehler vorliegt
und dass ein Gesundheitsschaden eingetreten ist, muss
der Arzt die Vermutung erschüttern, dass hier ein Kau-
salzusammenhang besteht. Nur so kann ein effektiver
Schutz von Patientinnen und Patienten erreicht werden.
Ein weiterer wichtiger Faktor in Arzthaftungsprozes-
sen ist die Frage, nach welchem Verfahren sachverstän-
dige Gutachter bestellt werden. In den allermeisten Fäl-
len fehlt Juristinnen und Juristen der medizinische
Sachverstand. Das gilt für Anwälte/Anwältinnen ge-
nauso wie für Richter/Richterinnen. Die Entscheidung
darüber, wer das medizinische Gutachten erstellt, ist so
in Wirklichkeit oft die vorweggenommene Entscheidung
darüber, wie der Prozess ausgeht.
Wir Grünen meinen deshalb: In die Entscheidungsfin-
dung zu der Frage, welcher Gutachter bestellt wird, müs-
sen die Parteien viel stärker eingebunden werden als bis-
her. Wir brauchen klare und transparente Regeln für die
Gutachtenvergabe.
Auch die Verfahrensabläufe bei den Schlichtungs-
und Gutachterkommissionen der Ärztekammern können
wir noch verbessern. Wir sollten auch Möglichkeiten der
alternativen Streitbeilegung verstärkt nutzen. Mit dem
Mediationsgesetz haben wir hier vor der Sommerpause
überfraktionell, mit allen Fraktionen, eine sichere recht-
liche Grundlage geschaffen.
Diese und weitere Punkte wie ein Härtefallfonds,
meine Damen und Herren, müssen im Gesetzgebungs-
verfahren noch eingearbeitet werden; denn das oberste
Ziel dieses Gesetzes muss es sein, die Rechtsstellung
von Patientinnen und Patienten umfassend zu verbessern
und diese im Behandlungsprozess von Betroffenen zu
Beteiligten zu machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Erwin Rüddel für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Meine Fraktion sieht in dem vorliegenden Gesetz-entwurf der Bundesregierung eine deutliche Verbesse-rung der Patientensituation und eine hervorragende
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23668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Erwin Rüddel
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Grundlage für die weitere parlamentarische Beratung.Mein Dank gilt neben den beteiligten Bundesministerienvor allem unserem Kollegen Wolfgang Zöller, der sichals Patientenbeauftragter der Bundesregierung seit vie-len Monaten mit großem persönlichen Einsatz für dieseswichtige Vorhaben engagiert hat.
Mit dem Patientenrechtegesetz runden wir unsere er-folgreiche Gesundheitspolitik der letzten drei Jahre ab.
Wir schaffen mehr Transparenz und mehr Rechte fürPatientinnen und Patienten. Wir bündeln diese Rechte ineinem einheitlichen Gesetz. Wir machen sie für jeder-mann nachprüfbar. Wir verankern das Arzt-Patient-Ver-hältnis erstmals im Bürgerlichen Gesetzbuch.Die Krankenkassen werden ihre Mitglieder künftigbei Verdacht auf Behandlungsfehler unterstützen, umeventuelle Schadensersatzansprüche durchzusetzen. DerGesetzentwurf richtet sich nicht gegen jemanden, son-dern sorgt für einen transparenten und fairen Ausgleichder Interessen. Er schützt das sensible Vertrauensverhält-nis zwischen Arzt und Patient. Bei Streitigkeiten ist diePatientenakte das wichtigste Dokument. Wir stellen si-cher, dass Patienten in ihre Akte Einsicht nehmen kön-nen. Beweiserleichterungen für die Patienten werdenklar geregelt.Bei groben Behandlungsfehlern muss der behan-delnde Arzt darlegen, dass er alles richtig gemacht hat,und nicht der Patient nachweisen, dass der Arzt einenFehler begangen hat. Diese Regelung greift die bisherentwickelte Rechtsprechung auf und sichert so das sen-sible und ausgewogene System der Beweislastumkehrim Prozess.Die Patientinnen und Patienten erhalten auch mehrRechte gegenüber Kliniken und Krankenkassen, und siewerden in unserem Gesundheitssystem zu Partnern aufAugenhöhe. Dazu trägt nicht nur die vorgesehene Unter-stützung seitens der Krankenkassen durch medizinischeGutachten beim Verdacht auf Behandlungsfehler bei,sondern auch die Verpflichtung für Ärzte und Kliniken,sehr viel stärker als bisher Behandlungsfehler und Bei-nahefehler zu dokumentieren und auszuwerten. Wir stär-ken durch Einführung von Fehler- und Risikomanagement-systemen die Fehlervermeidungskultur. Außerdem wirdein Beschwerdemanagement in Krankenhäusern ver-bindlich.Zu den Rechten der Patienten wird in Zukunft nebender Einsicht in die Behandlungsunterlagen auch eineumfassende und rechtzeitige Aufklärung gehören. Damiterhalten der Behandlungsvertrag sowie die Aufklärungs-und Dokumentationspflichten eine rechtliche Grundlage.Die von der Rechtsprechung entwickelten Beweiserleichte-rungen werden ausdrücklich zugunsten der Patienten ge-setzlich geregelt.Den Krankenkassen wird bei der Genehmigung bean-tragter Leistungen künftig eine Frist gesetzt. Entschei-den sie innerhalb dieses Zeitraumes nicht, gilt ein Antragautomatisch als genehmigt; der Patient bekommt also dieKosten seiner Behandlung erstattet.Insgesamt stellt der vorliegende Gesetzentwurf einenMeilenstein für unser Gesundheitswesen dar. Patientin-nen und Patienten werden ihre Rechte besser kennen undbesser durchsetzen können. Wir werden jetzt rasch in dieDetailberatungen einsteigen und das Gesetz zügig verab-schieden, damit die Neuregelungen mit Beginn des kom-menden Jahres in Kraft treten können.Meine Damen und Herren, ich plädiere dafür, imZuge der weiteren parlamentarischen Beratungen dieEinrichtung einer Stiftung zu prüfen, die Betroffenen inHärtefällen schnell und unbürokratisch Hilfe zukommenlässt. Ich bitte, diesen Härtefallfonds nicht mit einemEntschädigungsfonds zu verwechseln. Ein solcher Fondssollte auch Fälle mit einbeziehen, in denen Ärztefehlerwahrscheinlich, jedoch letztendlich nicht gerichtsfestnachzuweisen sind.
Die Hilfe würde zwar nicht auf einem Rechtsanspruchberuhen, aber Betroffenen zugutekommen, die aufgrunddes gesundheitlichen Schadens in eine schwierige Le-benslage geraten sind und rasche finanzielle Unterstüt-zung brauchen.Ferner müssen wir eine Lösung für den Fall finden,dass ein Ärztefehler zwar nachgewiesen wurde, die Ver-ursacherfrage aber nicht eindeutig geklärt werden kann.Es kann nicht im Sinne der Betroffenen sein, dass es hierlange Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Versi-cherungen gibt und die Patienten zwar im Prinzip recht,aber keine Entschädigung bekommen.
Deshalb sollten wir auch über einen Rückversiche-rungsfonds nachdenken, der von den Versicherern zu fi-nanzieren wäre. Dieser hätte zum Beispiel dann für dieSchadensregulierung aufzukommen, wenn ein Arztseine Versicherungsprämie nicht gezahlt hat. Ich sehehier aber insbesondere die Ärztekammern und die Bun-desländer in der Pflicht, für die Kontrolle einer ausrei-chenden und fortdauernden Berufshaftpflichtversiche-rung der behandelnden Ärzte zu sorgen.Derzeit ist die Haftpflicht lediglich mit der Zulassunggegenüber der Kammer nachzuweisen. Wenn sich aberder Tätigkeitsbereich verändert, wird bislang kein erneu-ter Nachweis einer ausreichenden Berufshaftpflicht ge-fordert. Nach meiner Einschätzung benötigen die Zulas-sungsbehörden und Kammern Sanktionsmittel bis hinzum Entzug der Approbation.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23669
Erwin Rüddel
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Wünschenswert wäre eine bundeseinheitliche Rege-lung. Ich halte es für unerlässlich, dass die Länder einelückenlose Kontrolle sicherstellen.
Meine Damen und Herren, in Sachen Mitbestim-mungsrechte bei der Bedarfsplanung geht der vorlie-gende Entwurf in die richtige Richtung. Im Sinne derBeteiligungsrechte der Patientinnen und Patientenscheint er mir aber noch ausbaufähig zu sein.
Deshalb sollten wir über eine Erweiterung der Mitbe-stimmungsrechte der Patientenvertreter im Gemeinsa-men Bundesauschuss nachdenken, etwa in Verfahrens-fragen, die den Ablauf der Sitzungen beeinflussenkönnen.
– Sie sehen, wie gut die Grundlagen der Diskussion sind.In Sachen Patientenakte sollte es auf Wunsch der Pa-tienten künftig auch möglich sein, die Akte elektronischzugänglich zu machen, wobei die subjektiven Eindrückedes Arztes auch weiterhin vertraulich bleiben müssen.Schließlich ein Wort zu den sogenannten individuel-len Gesundheitsleistungen. Wir werden im zu verab-schiedenden Gesetz zweifelsfrei sicherstellen, dass diePatientinnen und Patienten ihre Entscheidung für odergegen eine individuelle Gesundheitsleistung ohne jedenDruck und Zwang treffen können und dass die Versi-cherten wirkungsvoll vor möglichem Missbrauch undvor unnötigen und überflüssigen Maßnahmen geschütztwerden. Der Vertragsarzt muss die Zustimmung des Ver-sicherten einholen und ihn auf die Pflicht zur Über-nahme der Kosten hingewiesen haben. Er muss also mitdem Patienten vor Beginn der Behandlung einen Be-handlungsvertrag mit Angabe der voraussichtlichenKosten abgeschlossen haben. Eine Vergütung darf nurgefordert werden, wenn der Versicherte vor Beginn derBehandlung ausdrücklich verlangt hat, auf eigenen Kos-ten behandelt zu werden, und dies schriftlich bestätigt.Das alles, meine Damen und Herren, wird im Rahmendes künftigen Patientenrechtegesetzes verbindlich gere-gelt werden. Versuche aus den Reihen der Opposition,hier weiterhin Panikmache zu betreiben, sind deshalbwirklich überflüssig.
Seit über zehn Jahren wird über ein Patientenrechte-gesetz diskutiert. Ich weiß, dass auch zu Zeiten der rot-grünen Regierung über ein Patientenrechtegesetz ge-sprochen wurde,
es aber bei Worten geblieben ist, da man nicht die Kraftentwickelt hatte, ein Gesetz auf den Weg zu bringen. Da-her bin ich dieser Regierungskoalition dankbar, dass sienicht nur redet, sondern auch konkret handelt.
Nun spricht der Kollege Edgar Franke für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Beste an diesem Gesetz, Herr Rüddel, istmeiner Ansicht nach sein Name. Eine wirkliche Stär-kung der Patientenrechte sucht man vergebens; da kannich meinen Kolleginnen und Kollegen nur Recht geben.In diesem Gesetzentwurf ist im Wesentlichen das be-stehende Richterrecht, Herr Zöller, nochmals aufge-schrieben worden. Frau Ministerin, das Richterrechtlediglich aufzuschreiben, kann sogar negative Auswir-kungen haben. Die Rechtsprechung hat die Patienten-rechte in den letzten Jahren dynamisch ausgeweitet.Aber eine Normierung, wie Sie sie vornehmen, schreibtden Status quo letztlich nur ein Stück weit fest. Damitbremst sie sogar eine dynamische Weiterentwicklung,eine Verbesserung der Rechte der Patienten. Insofernschadet dieses Gesetz mehr, als es nutzt.
Patientenrechte sind immer aus der Patientenperspek-tive zu sehen. Was heißt das? Das heißt, man muss dieFrage beantworten: Was möchte der Patient? Er möchtemöglichst alle medizinischen Leistungen erhalten, er möch-te keine vorenthalten bekommen. Außerdem möchte ernicht schlecht und vor allen Dingen nicht unnötig behan-delt werden. Wir kennen die vielen Fälle, ihn denen je-mand ein künstliches Kniegelenk verpasst bekommenhat, obwohl er es nicht gebraucht hat. Der Patient musssozusagen den Durchblick dafür haben, dass nicht mone-täre, sondern medizinische Gründe für eine Behandlungursächlich sind.Nachdem verschiedene Punkte schon sehr detailliertangesprochen worden sind, möchte ich für meine Frak-tion jetzt ein paar Punkte zusammenfassen.Erstens. Das zentrale Problem im Haftungsrecht ist dieBeweislastsituation; das hat auch Frau Hönlinger ange-sprochen. Auch hier, Frau Ministerin, bringt der Gesetz-entwurf nichts Neues. Der Patient muss auch zukünftigdie volle Beweislast tragen. Beweislasterleichterungensind bei normalen, einfachen Behandlungsfehlern nichtvorgesehen. Das wäre allerdings erforderlich gewesen,meine sehr verehrten Damen und Herren.
Natürlich gilt die Beweislastumkehr bei groben Behand-lungsfehlern, aber dies entspricht der stetigen Rechtspre-chung und ist somit nichts Neues.
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Dr. Edgar Franke
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Zu kritisieren ist auch, dass Ärzte zukünftig erst aufdirekte Nachfrage eine Bewertung als Behandlungsfeh-ler mitliefern müssen. Dies hat aus unserer Sicht generellzu geschehen.Darüber hinaus brauchen wir in der Praxis ein neuesFehler- und Beschwerdemanagement und eine Kultur,Fehler zuzugeben. Wir haben im Gesetzentwurf ein straf-prozessuales Verwertungsverbot vorgesehen, sodass nie-mand Angst davor haben muss, Fehler auch zuzugeben.Das, Frau Ministerin, ist positiv.
Zweitens. IGeL-Leistungen sind im Patientenrecht,sehr geehrter Herr Zöller, so gut wie nicht geregelt. Wirwissen, dass den Patienten in letzter Zeit von Ärzten oft-mals freiwillige bzw. medizinische Nicht-Kassenleistun-gen angedreht – so muss man ehrlicherweise formulie-ren – werden. Zum Teil zahlen Patienten viel Geld dafür.Diese Leistungen sind schädlich; darüber brauchen wiruns nicht zu unterhalten. Darmspülungen sind das besteBeispiel.Herr Zöller, da bei jedem Haustürgeschäft eine Ein-willigungssperrfrist gilt, frage ich mich, warum eine sol-che Einwilligungssperrfrist nicht auch bei diesen Leis-tungen gilt. Warum räumt man dem Patienten nicht eineFrist von beispielsweise zwei Tagen ein, innerhalb derener widerrufen kann?
Wenn es eine solche Einwilligungssperrfrist schon beiHaustürgeschäften gibt, dann muss es sie erst recht beiGesundheitsleistungen geben, meine sehr verehrten Da-men und Herren.
Außerdem glaube ich, dass auch ein schriftlicher Be-handlungsvertrag vernünftig ist.Dritter Punkt. Die bestehenden Schwächen im Medi-zinproduktegesetz werden auch in diesem Gesetzentwurfnicht geheilt. Da hätten wir als Sozialdemokraten mehrerwartet. Gerade die Skandale bei Brust- und Hüftim-plantaten führen aus unserer Sicht vor Augen, dass dortHandlungsbedarf besteht. Die Hersteller jedenfalls ha-ben nichts oder nur wenig zu befürchten, und gerade beiSerienfehlern müssten wir die Hersteller an den Kostender Entfernung des Implantats beteiligen. Das wäre sinn-voll und aus meiner Sicht auch sachgerecht.
Wir bräuchten ein Implantatregister zur besserenRückverfolgung der Fälle, in denen ein Implantat einenFehler aufweist. Auch das wäre notwendig und vernünf-tig.Des Weiteren wäre die Einführung der Pflicht zumAbschluss einer Haftpflichtversicherung für die Herstel-ler zwingend erforderlich.Viertens. Der Härtefallfonds ist mehrfach angespro-chen worden. Wenn ich Herrn Rüddel richtig verstandenhabe, ist auch er nicht ganz abgeneigt. Ein solcher Fondsfür soziale Härtefälle wäre sinnvoll. Dies wäre zum Bei-spiel dann sinnvoll, wenn sich nicht genau ermittelnließe, wer schuld daran ist, dass sich ein Patient währendeines Krankenhausaufenthalts mit einem Keim infizierthat. Für den Fall, dass sich die Ursache oder das Ver-schulden nicht genau ermitteln lassen, sollte ein Härte-fallfonds greifen.
Fünftens. Auch ein Patientenbrief müsste verbindlichsein. Sie werden gleich sagen, dass es zu viel Bürokratiein der Pflege gebe und dass die Ärzte durch zu viel Bü-rokratie belastet seien; aber ein Patientenbrief würdeVertrauen und Transparenz schaffen. Er wäre aus unsererSicht sinnvoll. Denn wenn Vertrauen aufgebaut wird,ließe sich die eine oder andere Streitigkeit, Herr Zöller,präventiv verhindern. Insofern wäre ein solcher Patien-tenbrief sehr wichtig.
Letzter Punkt. Patientenrechte haben auch vor demHintergrund der Entscheidung des Bundesgerichtshofseine besondere Bedeutung; ich erinnere an die Entschei-dung des Bundesgerichtshofs zur Korruption im Gesund-heitswesen. Wie Sie wissen, können niedergelasseneÄrzte nunmehr ungestraft Zahlungen kassieren, zum Bei-spiel dafür, bestimmte Medikamente zu verschreiben,und kein Patient kann etwas dagegen tun. Es bestehtkeine rechtliche Möglichkeit, dies zu sanktionieren. Esbesteht keine strafrechtliche Prävention.Vertrauen, Herr Zöller, ist ein hohes Gut. Patientenmüssen sich immer sicher sein, dass bei einer ärztlichenEntscheidung allein medizinische und nicht finanzielleGründe eine Rolle spielen. Wir haben im Gesundheits-ausschuss gehört, dass es bei den Ärztekammern so gutwie keine Verfahren hierzu gibt. Es gibt deswegen keineVerfahren, weil es keine staatsanwaltschaftlichen Ermitt-lungen gibt. Die gibt es nicht, weil es keinen Straftatbe-stand gibt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in-sofern beißt sich hier die Katze in den Schwanz.Wir müssen gegen Korruption vorgehen. Wenn wirnicht dagegen vorgehen, riskieren wir nicht nur die Ge-sundheit der Patienten, sondern auch den guten Ruf derÄrzte; von den Versichertengeldern ganz zu schweigen.Das Patientenrechtegesetz verdient aus unserer Sichtseinen guten Namen eigentlich nicht; denn wichtigeDinge sind nicht geregelt. Die Rechte von Patientinnenund Patienten werden jedenfalls aus meiner Sicht nichtgestärkt. Insofern muss man vielleicht bis 2013 warten,bis die SPD wieder mit einem starken Kanzler an derRegierung ist.Danke schön.
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Dr. Edgar Franke
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Nun hat der Kollege Rudolf Henke als letzter Redner
zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Franke,Ihre Rede trägt zumindest dazu bei, dass die Öffentlich-keit weiß, worauf sie sich einstellen muss und womit sierechnen muss. Wenn Sie sagen: „Das zentrale Instru-ment, das Vertrauen herstellt, ist ein Patientenbrief, derregelmäßig geschrieben wird“, wenn das also das zen-trale Instrument ist, das Vertrauen herstellt, dann scha-den Sie mit dieser Argumentation sogar der Glaubwür-digkeit des Textes eines Antrags von Ihnen, in dem Sieeinmal festgehalten hatten, dass das Leistungsniveauund übrigens auch das Arzthaftungsrecht in Deutschlandim internationalen Vergleich – ich zitiere Ihren Antrag –beispielhaft gut sei. Dem widerspricht es, wenn Sie dannsagen, das Vertrauen muss erst geschaffen werden.Wodurch wird denn Vertrauen geschaffen? Ichglaube, Patienten haben dann Vertrauen, wenn sie erle-ben, dass sie Zugang zur Behandlung haben. Das ist et-was, was Vertrauen schafft.Was schafft Vertrauen? Wenn die Patienten erleben,dass Behandelnde genügend Zeit haben, dass derenKraft – Minister Bahr hat darauf aufmerksam gemacht –nicht durch unsinnige Belastungen gebunden wird. Biszum Beweis des Gegenteils behaupte ich, dass dieservon Ihnen geforderte Patientenbrief an alle eine unsin-nige Belastung wäre, die die Behandelnden davon ab-hält, sich den Patienten mit genügend Zeit zu widmen.
Vertrauen wird geschaffen, wenn wir ein solidarischesGesundheitswesen haben, in dem keiner die Sorge habenmuss, sich durch eine Behandlung zu ruinieren. Ver-trauen wird geschaffen, wenn man sich auch in schlech-ten Zeiten darauf verlassen kann, dass das Versprechender Versicherungen eingelöst wird. Vertrauen wird ge-schaffen, wenn es ein Leitbild des therapeutischen Ar-beitsbündnisses von Arzt und Patient, von Behandlerund Patient gibt.In diesem Sinne, meine Kolleginnen und Kollegen, istdies nicht das erste Patientenrechtegesetz in dieser Le-gislaturperiode, es ist mindestens das dritte. Denn mitdem Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz von An-fang 2010, vom Kabinett 2009 beschlossen, wurde einAusgleich der aus Konjunkturgründen abgesenkten Bei-träge durch Steuermittel herbeigeführt. Damit haben wirden materiellen Vertrauensanspruch der Patienten abge-sichert.Auch das Versorgungsstrukturgesetz war in diesemSinne ein Patientenrechtegesetz, weil es den Zugang zurBehandlung auch im ländlichen Raum sicherer macht.
Übrigens ist auch die Neufassung der Approbations-ordnung, in der der Minister verordnet, dass in der Aus-bildung der Ärzte Palliativmedizin und Schmerztherapieheute einen größeren Umfang einnehmen, zwar kein Pa-tientenrechtegesetz, aber eine Patientenrechteverord-nung gewesen.
Nun zum vorliegenden Patientenrechtegesetz. Ichglaube, dass es richtig ist, dass die Rechte hoch entwi-ckelt sind und dass sie durch die Rechtsprechung in gro-ßem Umfang gesichert sind. Aber das Bestreben – dashaben wir von allen gehört –, die Informationslage zuverbessern und die bestehenden Rechte zu verdeutli-chen, hat auch durch die früheren Versuche, das Richter-recht transparenter werden zu lassen, nicht zu dem er-hofften Erfolg geführt. Insofern wollen wir mit diesemGesetz mehr Transparenz schaffen für Patienten, Ärzteund Behandler; denn dieses Gesetz weitet die Gültigkeitdes entwickelten Richterrechts von der Arzt-Patienten-Beziehung auf andere Behandlungssituationen aus. Esbeschränkt sich nicht nur auf die Beziehung zu den Ärz-ten.Gute Ärztinnen und Ärzte achten das Selbstbestim-mungsrecht ihrer Patienteninnen und Patienten, respek-tieren die Würde der Kranken und schützen deren Privat-sphäre.Dazu gehört auch, dass wir unsere Patienten über dieDiagnose- und Therapieschritte und über ihren gesund-heitlichen Zustand in einer so verständlichen Form infor-mieren und aufklären, dass sie die Tragweite der Be-handlung, die in Betracht kommenden alternativenBehandlungsoptionen und die damit verbundenen Risi-ken erfassen können. Der Gesetzentwurf will die Be-lange von Menschen mit Behinderungen übrigens auchdadurch berücksichtigen, dass er die Verwendung derLeichten Sprache für Menschen mit sogenannten geisti-gen Behinderungen fördert.
Vor allem vor operativen Eingriffen muss dem Patien-ten die notwendige Bedenkzeit zur Verfügung stehen,ohne dass deshalb Behandlungschancen verlorengehen.Der Referentenentwurf sah vor, dass die Aufklärungdurch den Behandelnden erfolgen muss. Diese Regelungist im Gesetzentwurf geändert worden. Dort steht, dassdie Aufklärung entweder durch den Behandelnden oderdurch eine Person erfolgt, die über die zur Durchführungder Maßnahme notwendige Befähigung verfügt. Daswird dem Arbeitsalltag, vor allem von Klinikärzten, bes-ser gerecht als die Fassung des Referentenentwurfs.Wolfgang Zöller hat in der ersten Debatte, die wir hiergeführt haben, zugesagt, dass das Patientenrechtegesetzim Dialog mit allen Betroffenen entwickelt wird.
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23672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Rudolf Henke
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Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Schilderungenaus der Praxis auf die Formulierung des Entwurfes Ein-fluss genommen haben. Deswegen ist auch diese Zusageeingehalten worden.
Es wäre ein großer Fehler, wenn jemand glaubenwürde, keine Fehler zu haben. Überall da, wo Menschenarbeiten, passieren Fehler. Davon sind Ärztinnen undÄrzte nicht ausgenommen. Deswegen: Ja zu den Rege-lungen zu CIRS. Im weiteren Beratungsprozess müssenwir aber noch einmal die Frage untersuchen: Was ist mitder rechtlichen Verwertung der Kenntnis, wenn jemandim Rahmen von CIRS einen Fehler dokumentiert? Auchdie Frage der Arzthaftung muss noch einmal im Gesetz-gebungsverfahren betrachtet werden; denn wenn ein Arztkeine oder eine zu geringe Haftpflichtversicherung hat,dann müssen wir eine Befugnis schaffen, die es erlaubt,auf Länderebene zu entscheiden, ob die Approbationruht, wenn die Haftpflichtversicherung nicht ausreichendist. Hierzu müsste der Bund noch eine entsprechende Re-gelung fassen.Am 22. Oktober, wenn ich das Datum richtig im Kopfhabe
– die Ausschussvorsitzende bestätigt das; ich bedankemich –, werden wir eine große Anhörung im Ausschusshaben. Dort werden wir natürlich weitere Fragen im Stilder bisherigen Diskussion behandeln müssen. Ich per-sönlich glaube, dass in der Anhörung die Frage eineRolle spielen wird: Wie passen § 630 c Bürgerliches Ge-setzbuch mit den neuartigen Informationspflichten und§ 630 e BGB mit den weiter fortbestehenden Aufklä-rungspflichten zusammen? Harmonisieren sie schonhundertprozentig?Wir müssen auch die Frage der Selbstbezichtigungsge-bote diskutieren – das bezieht sich nicht auf die Abwehreiner Gesundheitsgefahr, für die es nötig und zwingendist –, die besagt, dass auf Nachfrage ein Behandlungsfeh-ler zugegeben werden muss. Das muss man vergleichenmit dem Nemo-tenetur-Prinzip der Juristen: Man musssich nicht selbst anklagen. Das sind Fragen, die von derKoalition – ich bin sicher, auch von den Gutwilligen inder Opposition – genauso konstruktiv in der weiterenDebatte um den Gesetzentwurf behandelt werden, wie esWolfgang Zöller, Minister Bahr und MinisterinLeutheusser-Schnarrenberger bereits getan haben. Des-wegen freue ich mich auf die Fortsetzung dieser Diskus-sion.Ich bedanke mich zunächst einmal für Ihre Aufmerk-samkeit. Wir stimmen natürlich dafür, den Gesetzent-wurf in die Ausschüsse zu überweisen.
Ich schließe die Aussprache.Der letzte Vorschlag wird im Übrigen auch interfrak-tionell gemacht,
nämlich die Drucksachen 17/10488, 17/6489 und 17/6348an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 42 a bis42 c auf:a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auf-nahme von Kultur und Sport in das Grundge-setz– Drucksache 17/10644 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEDie Förderung des Sports ist Aufgabe desStaates– Drucksache 17/6152 –Überweisungsvorschlag:Sportausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheitc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Lukrezia Jochimsen, Jan Korte, AgnesAlpers, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKultur gut stärken – Staatsziel Kultur imGrundgesetz verankern– Drucksache 17/10785 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittigDie ersten Verbrüderungsszenen zwischen den jewei-ligen Gruppen finden schon im Plenarsaal statt.
– Dem sehen wir mit Interesse entgegen.Jedenfalls ist für die Beratung dieser Vorlagen eineAussprachezeit von 90 Minuten vorgesehen. – Auchdazu gibt es offenkundig keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Dieter Wiefelspütz für die SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23673
(C)
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verfassungsänderungen sind keine Kleinigkeit.
Deswegen macht es Sinn, mit der gebotenen Ernsthaftig-
keit über einen Vorschlag zu reden, der vonseiten der
SPD-Bundestagsfraktion heute vorgelegt wird, mit dem
wir wichtige Staatsziele wie Kultur und Sport im Grund-
gesetz verankern wollen.
Ich will freimütig sagen, dass das auch ein legitimer-
weise umstrittenes Projekt sein kann. Es gibt nicht nur
Menschen, die davon begeistert sind; es gibt auch den ei-
nen oder anderen Skeptiker in meiner eigenen Fraktion.
Gleichwohl gibt es, wie ich finde, sehr gute und über-
zeugende Gründe für eine solche Ergänzung unseres
Grundgesetzes. Ich denke, wir alle kennen die Ge-
schichte des Art. 20 a des Grundgesetzes. Wir haben vor
Jahren den Umweltschutz, den Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen, ins Grundgesetz eingefügt. Anschlie-
ßend ist dieser Artikel um den Tierschutz ergänzt wor-
den.
Wir haben darüber nachgedacht, wo am ehesten eine
Ergänzung des Grundgesetzes in Sachen Kultur und
Sport hineinpasst. Dabei sind wir auf den Art. 20 a
gekommen. Heute schlagen wir Ihnen eine Verfassungs-
ergänzung vor, die, wie sich das bei Verfassungsände-
rungen eigentlich gehört – was wir als Verfassungsge-
setzgeber aber leider nicht immer beherzigt haben –,
ausgesprochen minimalistisch ist. Sie umfasst nur we-
nige Wörter.
Diese Wörter sollen zielbestimmend sein.
Es kann sicherlich kein Streit darüber bestehen, dass
Kultur und Sport überragende Erscheinungsformen in
unserer Gesellschaft sind. Die Bundesrepublik Deutsch-
land ist ein Kulturland, wir sind eine Kulturnation. Von
ebenso überragender Bedeutung ist der Sport. Darüber
wird heute im Laufe der Debatte sicherlich noch mehr-
fach gesprochen werden.
Wenn man sich das Ganze im nationalen Vergleich
anschaut, also einen Blick in die Verfassungen der Bun-
desländer wirft, wird man den Sport und die Kultur in
vielen Verfassungen verortet sehen. Betrachtet man das
Ganze im internationalen Vergleich, wird man viele Län-
der finden, in deren Verfassungen Kultur und Sport als
Staatsziele verankert sind. In Deutschland fehlt das.
Diesem Mangel kann durch eine sinnvolle Ergänzung
abgeholfen werden. Dazu machen wir einen Vorschlag,
den wir intensiv beraten sollten. Die Wirkungsmächtig-
keit von Kultur und Sport ist so bedeutsam, so überra-
gend wichtig, dass diese beiden Bereiche nach meiner
festen Überzeugung selbstverständlich in die Verfassung
unseres Landes gehören. Allein aus diesem Grunde
schlagen wir diese Verfassungsänderung vor.
Wir schlagen eine sehr sparsame sprachliche Formu-
lierung vor. Die Verfassung, unser Grundgesetz, darf
nicht geschwätzig sein. Wir haben manchmal Verfas-
sungsänderungen vorgenommen, die einen eher ge-
schwätzigen Charakter hatten: viel zu wortreich, viel zu
detailliert. Diesen Fehler, der in Deutschland immer wie-
der gemacht worden ist, haben wir hier unterlassen. Es
ist eine sehr sparsame Formulierung. Es geht um Schutz,
Förderung und Pflege, und das wird hier zum Ausdruck
gebracht. Es ist daher eine gute Grundlage für weitere
Diskussionen. Ich jedenfalls denke, dass beide Bereiche,
sowohl Kultur wie auch der Sport, von so überragender
Bedeutung sind, dass sie sinnvollerweise auch in unse-
rem Grundgesetz verortet sein sollten.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort erhält nun der Kollege Franz Josef Jung für
die CDU/CSU-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Staats-ziele Sport und Kultur in unser Grundgesetz aufzuneh-men, stößt bei uns auf erhebliche verfassungsrechtlicheBedenken. Herr Wiefelspütz, bei Ihrer Rede eben
hatte ich das Gefühl, dass das bei Ihnen durchaus auchder Fall ist.Es ist unbestritten: Der Sport ist die größte Bürgerbe-wegung Deutschlands,
und unser Staat versteht sich auch als Kulturstaat. Aberunsere Verfassung ist kein Warenhauskatalog. Mit derAufnahme von Sport und Kultur ins Grundgesetz erwe-cken wir Hoffnungen, die wir nicht erfüllen werden. Wirgeben den Bürgerinnen und Bürgern Steine statt Brot.Wir sind der Auffassung: Reine Symbolpolitik verwäs-sert unsere Verfassung, und deshalb sind der Gesetzent-wurf und der vorliegende Antrag dazu abzulehnen.
Der von Ihnen dem Bundesverfassungsgericht vorge-schlagene Staatsrechtler Dieter Grimm spricht von „Ver-fassungsakrobatik“. Er hält Ihre Forderung nach verfas-sungsrechtlich garantierter Förderung von Sport undKultur für vermessen, so seine Formulierung.Im Übrigen ist die Schutzfunktion, sowohl für dieKultur als auch für den Sport, bereits in unserer Verfas-sung geregelt. Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz besagt: Kunstund Wissenschaft sind frei. Hieraus ergibt sich die Ver-
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Dr. Franz Josef Jung
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pflichtung des Staates, ein freiheitliches Kunst- und Wis-senschaftsleben zu erhalten. Das Bundesverfassungsge-richt formuliert wörtlich: Hieraus ergibt sich dieSchutzfunktion des modernen Staates als Kulturstaat.Für den Sport gelten Art. 2, die freie Entfaltung der Per-sönlichkeit, Art. 9, die Vereinigungsfreiheit – sie gilt so-wohl für die Verbände als auch für die Sportler –, undArt. 20, das Sozialstaatsprinzip, worunter selbstver-ständlich auch der Sport zu subsumieren ist.
Dem Sport und der Kultur, Herr Wiefelspütz, könnenkeine Rechte zuwachsen, die das Grundgesetz nicht be-reits in seiner jetzigen Form vorsieht.
Die Begründung im Hinblick auf den Sport, die ichIhnen gerade geliefert habe, stammt im Übrigen aus dem9. Sportbericht der Bundesregierung, damals unterzeich-net von Bundesinnenminister Schily.Die bisherige Zurückhaltung des Grundgesetzes ge-genüber symbolischen Normen hat sich bewährt undsollte deshalb aus unserer Sicht beibehalten werden.In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings dieFrage: Wie steht es eigentlich um die Förderung vonKultur und Sport in unserem demokratischen Staat? Siehaben darauf hingewiesen: Die Kulturförderung liegt imVerantwortungsbereich der Länder und der Kommunen.Der Bund fördert die Kultureinrichtungen von nationalerBedeutung: Dies reicht von der Filmwirtschaft, Sympho-nieorchestern und Gedenkstätten bis hin zur DeutschenWelle. Das Engagement für Kultur, das insbesonderedurch den hier anwesenden Staatsminister Neumann
vorgelebt wird, ist von dieser Bundesregierung in erheb-lichem Umfang ausgeweitet worden. Ich denke, dass wirdamit einen Beitrag zur Kulturförderung in Deutschlandin besonderer Art und Weise leisten.
Auch der Breitensport ist zunächst ein Thema derLänder und der Kommunen. Der Bund fördert den Spit-zensport. Dabei geht es um die Bundesleistungszentrenund die Spitzensportler. Ich habe selbst dafür gesorgt,dass über 800 Sportlerinnen und Sportler vom Vertei-digungsministerium gefördert werden. Bei den Olym-pischen Spielen damals wurden übrigens von 11 Gold-medaillen 9 von Sportlerinnen und Sportlern derBundeswehr gewonnen. Das zeigt, wie ich finde, dassdiese Art der Sportförderung funktioniert. Das gilt auchfür das Bundesinnenministerium und das Bundesfinanz-ministerium. Von daher sind die Anstrengungen, die derBund auf diesem Gebiet erbringt, positiv zu bewerten.Deshalb ist ein zusätzlicher Beitrag durch eine verfas-sungsrechtliche Festschreibung nicht nötig.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ein-mal Folgendes hervorheben: Aus unserer Sicht habenwir die Aufgabe, Kultur und Sport in unserem Verant-wortungsbereich zu fördern. Dies tun wir durch die Be-reitstellung finanzieller Mittel im Haushalt und nichtdurch eine Verfassungsänderung, wie Sie von Ihnen vor-gesehen ist. Deshalb lehnen wir sowohl den Gesetzent-wurf als auch den Antrag der Linken dazu ab.Besten Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katrin
Kunert nun das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Jung, es ist bemerkenswert, dass Sie nicht einmalIhre Redezeit ausgeschöpft haben.
Sie wollen das ablehnen, was die SPD hier vorschlägt,was wir im Übrigen unterstützen. Mehr als Lyrik habenSie hier aber leider nicht zu bieten.
Ich möchte mich auf einen Artikel beziehen, der ges-tern in der Süddeutschen Zeitung stand. Er hat die Über-schrift „Verfassungsakrobatik“. Der Autor sinniert da-rüber, ob es wirklich nötig ist, Kultur und Sport alsStaatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen und damit zuadeln. Gestatten Sie mir bitte das Zitat:Dort, im Grundrechtsteil vor allem, steht das, wasfür Bürger und Staat wichtig ist. Rechte, Pflichtenund Ziele, die dort formuliert sind, haben außeror-dentliche Bedeutung, und werden, wenn es seinmuss, vom Verfassungsgericht durchgesetzt.Genau darum geht es. Es geht darum, Ziele im Grund-gesetz zu bestimmen und daraus Aufgaben abzuleiten.Weil wir die Bedeutung des Sports anerkennen, müssenwir auch dementsprechend handeln.
Deshalb wollen wir den Sport im Grundgesetz veran-kern. Der Generaldirektor des Deutschen OlympischenSportbundes hat gesagt: Wir würden uns freuen, wenn esam Ende der Legislaturperiode eine Gemeinschaftsak-tion im Bundestag gäbe. Aus unserer Sicht geht es aberüberhaupt nicht darum, ob Sportfunktionäre sich mitdem Eintrag ins Grundgesetz auf die Schulter klopfenkönnen. Nein, es geht um die Würdigung der Aufgaben.Wir sagen: Wir wollen mehr als nur die Eintragung insGrundgesetz.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23675
Katrin Kunert
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Die Linke sagt: Es fehlt ein Sportfördergesetz desBundes, in dem der Sport als Ganzes gesehen und be-handelt wird.
Alle, die wir hier sitzen, messen dem Sport eine großeBedeutung bei. Übrigens würde mich die Argumentationder FDP interessieren. Sie drehen sich ja immer wie einKreisel, wenn Sie aus der Opposition in die Regierungwechseln.
Wir alle wissen um die Funktionen des Sports. Wirwissen auch: In einem Sportverein funktioniert Integra-tion viel leichter. Kinder und Jugendliche, die in einemVerein Sport treiben, kommen nicht auf dumme Gedan-ken, zerstechen zum Beispiel keine Reifen. Bewegungvon der Kita bis zur Volkssolidarität hält fit, kann zueiner gesunden Lebensweise beitragen und sichert kör-perliche Mobilität. Das Ablegen des Sportabzeichensbringt Menschen zusammen und fördert soziale Kon-takte.
Wir wissen aber auch, dass der Sport nur dann gutfunktionieren kann, wenn die gesellschaftlichen Bedin-gungen das zulassen. Damit komme ich auf den Verfas-sungsrechtler zu sprechen, der meint, dass die Forderung,den Sport im Grundgesetz zu verankern, vermessen sei,weil der Sport der Kommerzialisierung ausgesetzt istund Betrug und Korruption eine Rolle spielen. Aber werhindert uns, bitte schön, daran, in einem Sportförderge-setz genau diesen Tendenzen entgegenzuwirken? Werhindert uns daran?
Wir reden im Bundestag seit Jahren über die gleichenProbleme im Sport. Ich will das an einigen Beispielendeutlich machen. Die Bereitschaft, Verantwortung in derVereinslandschaft des Sports zu übernehmen, nimmt ab.Es fehlen Übungsleiter. Die finanziellen Probleme derVereine werden immer größer, weil sie immer mehr Kos-ten übernehmen, die eigentlich die Kommunen zu tragenhaben. Die Situation der Sportstätten ist mehr als ange-spannt. Über 66 Prozent der Sportstätten sind in kommu-naler Hand, aber die Kommunen haben kein Geld, umInvestitionen zu tätigen.
Was für den Bereich des Sports gilt, gilt auch für denBereich der Bildung: Der Geldbeutel der Eltern entschei-det über die Teilnahme an Sportangeboten, erst recht,wenn es um weiterführende Sportschulen geht. Daranändert leider auch das Bildungs- und Teilhabepaketüberhaupt nichts.Der Schulsport wird zunehmend anderen Fächern ge-opfert, obwohl es einen gültigen Beschluss der Kultus-ministerkonferenz zur Einführung der dritten Sport-stunde gibt. Dabei ist nachgewiesen – mehrere Studienbelegen dies –, dass mehr Schulsport die Lernbereit-schaft und die Ausgeglichenheit der Kinder fördert.Nach wie vor können längst nicht alle Menschen mit ei-ner Behinderung alle Sportangebote nutzen. Barrieren inSportstätten, in Ausbildungsinhalten und vor allen Din-gen in den Köpfen hindern sie, ganz normal Sport zutreiben. Dabei haben gerade die paralympischen Sportle-rinnen und Sportler in London deutlich gemacht, dass siemit spürbar weniger Mitteln hervorragende Leistungenbringen können.
In einem Sportfördergesetz möchten wir vieles festle-gen, Grauzonen bei Übergängen von Zuständigkeitenbeseitigen und Planungssicherheit für den Sport schaf-fen. Wie oft verwenden wir Zeit darauf, zu sagen, wofürwir alles nicht zuständig sind? Wir wollen, dass derSport in der Bundesrepublik von der einfachen Basisar-beit im Verein bis hin zur Spitzensportförderung struktu-riert wird. Deshalb haben wir den Antrag, den Sport alsStaatsziel im Grundgesetz zu verankern und ein Sport-fördergesetz des Bundes aufzulegen, vorgelegt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es ist eine etwas geisterhafte Debatte, die Sie vonden Linken eben aufgemacht haben. Sie wollten hier denEindruck erwecken, man könne nur dann Sport treibenund Sportstätten würden nur dann gefördert, wenn diesim Grundgesetz verankert ist, Sportabzeichen und Sport-stätten seien gefährdet, wenn sie nicht im Grundgesetzverankert sind. Ich glaube, wer sich in Deutschland mitwachen Augen umsieht, der sieht sofort, dass Sport über-all eine Rolle spielt und dass viele Menschen in Deutsch-land sehr wohl sehr gute Bedingungen dafür haben– Gleiches gilt für die Kultur –, und das, ohne dass es imGrundgesetz steht.
Die Ernsthaftigkeit eines solchen Anliegens kannman daran messen, wie es angegangen wird. Da sprecheich Sie, Herr Wiefelspütz, an. Wir haben ein anderesBeispiel für eine Grundgesetzänderung in dieser Legisla-turperiode. Dabei ging es um den subjektiven Rechts-
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23676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Dr. Stefan Ruppert
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schutz. Wir hatten uns zusammengesetzt und überfrak-tionell darüber gesprochen, wie wir das machen können.Wenn man so an ein Verfahren herangeht, kommt mansicherlich weiter, als wenn man, so wie hier heute ge-schehen, einen Schaufenstergesetzentwurf einbringt, dieanderen damit konfrontiert und sagt: Entweder ihr nehmtdiese Grundgesetzänderung so an, wie sie ist, oder ihrlasst es bleiben. Ich glaube, da mangelt es ein wenig ander Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
angesprochenen Kollegen Wiefelspütz?
Aber gerne. Ich diskutiere gerne mit Herrn
Wiefelspütz.
Herr Ruppert, dass Sie gerne mit mir diskutieren,
spricht eigentlich eher gegen Sie. Woraus schließen Sie,
Herr Ruppert, dass wir nicht bereit sind, über diese vor-
geschlagene Änderung des Grundgesetzes mit Ihnen und
mit allen anderen Fraktionen dieses Hauses zu reden?
Woraus schließen Sie, dass wir nicht dazu bereit sind?
Ich habe Ihnen, Herr Wiefelspütz, eben gesagt, dass
wir bei anderen Verfahren, bei denen wir das Grundge-
setz geändert haben, eine andere Herangehensweise hat-
ten. Wir haben erst einmal mit den Kollegen darüber ge-
sprochen. Sie legen uns hier eine Fassung mit einem sehr
konkreten Wortlaut vor. Ich kenne Sie als jemanden, der
eine gewisse Ästhetik in der Gesetzgebung durchaus
schätzt. Ich habe mir angesehen, wie Sie es regelungs-
technisch angegangen sind. In Art. 20 a des Grundgeset-
zes steht, dass der Staat „die natürlichen Lebensgrundla-
gen und die Tiere“ schützt. Nun soll als eine Art Annex,
als ein Anhängsel, ein weiterer Satz hinzugefügt werden:
Er schützt und fördert ebenso
– das klingt halb entschuldigend –
die Kultur und den Sport.
Ich halte das unter sprachlichen und ästhetischen Ge-
sichtspunkten für eine völlig misslungene Formulierung,
weil sie wie ein Anhängsel wirkt und nicht den Selbst-
wert von Kultur und Sport in den Vordergrund stellt.
Diese Fassung legen Sie uns vor und sagen: Stimmt ent-
weder zu, oder lasst es bleiben. Ich glaube, so kann man
miteinander nicht zu einer Grundgesetzänderung kom-
men.
In meiner Fraktion gibt es viele Kollegen – das will
ich nicht verhehlen –, die prinzipiell erst einmal skep-
tisch sind, wenn es um die Bestimmung von Staatszielen
geht; denn das Grundgesetz gewinnt ja nicht dadurch an
Präzision, dass man es an allen Ecken und Enden auf-
bläht. Es gibt aber auch – das ist die herrschende Be-
schlusslage – durchaus eine hohe Sympathie für Kultur
und Sport als Staatsziele in der Verfassung.
Ich persönlich glaube, wir sollten diese Diskussion
nicht so symbolisch führen, wir sollten nicht sagen, dass
es nur ein Entweder-oder gibt. Wir haben in Deutschland
eine reiche Kulturförderung, und unter dieser Regierung
ist sie so gut wie noch nie. Genauso ist es beim Sport.
Deswegen, glaube ich, sollten wir diese Diskussion nicht
symbolisch aufheizen, indem wir sagen: Das alles geht
nur, wenn wir das Grundgesetz entsprechend anpassen.
Lassen Sie mich noch zu der Frage kommen, was ei-
gentlich die Begriffe „schützen“ und „fördern“ bedeuten.
Was „fördern“ bedeutet, verstehe ich; das kann ich nach-
vollziehen, auch inhaltlich. Aber „schützen“? Wie ver-
hält es sich eigentlich mit dem Schutz von Sport und
Kultur im Verhältnis zu den jeweiligen Grundrechten?
Was heißt eigentlich „Schutz von Kultur“ im Vergleich
zur Kunst- und Kulturfreiheit, die grundgesetzlich ge-
schützt ist? Darauf gibt Ihr Gesetzentwurf – das sage ich
jetzt eher als dogmatisch interessierter Verfassungsjurist –
nur relativ wenige Antworten. Auch darüber hätte man
sich im Vorfeld sicherlich austauschen können. Das wäre
besser gewesen, als uns hier und heute eine, wie ich
finde, so verunglückte Formulierung vorzulegen.
Ich weiß, dass dieses Thema den Kultur-, Kunst- und
Sportpolitikern meiner Fraktion ein großes Anliegen ist.
Deutschland ist eine Kulturnation, ob das im Grundge-
setz steht oder nicht. „Es schadet nicht“, sagen die
Kunst- und Kulturpolitiker meiner Fraktion. Ich persön-
lich muss sagen: Die Qualität eines Staates zeichnet sich
dadurch aus, wie er es mit der Kultur hält. Deutschland
kann als Kulturnation auf vieles sehr stolz sein, auch in
Anbetracht des starken Föderalismus. Ich glaube, dieser
Gesetzentwurf trägt zur Kultur-, Kunst- und Sportförde-
rung nur relativ wenig bei, ohne dass damit gesagt ist,
dass jede Staatszielbestimmung in diesem Bereich von
vornherein sinnlos ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Agnes Krumwiede für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Forderungen im Gesetzentwurf der SPDsind nicht neu. Aber es bleibt spannend: Wie werdensich die anderen Fraktionen diesmal verhalten, vor allemdie FDP, die ja 2009 mit „Kultur als Staatsziel“ den glei-chen Vorstoß unternommen hat? Damals noch hat dieSPD mit Nein gestimmt. Ich glaube, wenn es der SPDmit ihrem Anliegen aktuell wirklich ernst wäre, hätte sieein anderes politisches Verfahren gewählt. Anstatt heuteein Schaulaufen altbekannter Argumente zu verursa-chen, hätten Sie sich mit den Fachpolitikern aller Frak-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23677
Agnes Krumwiede
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tionen vorher abgesprochen und versucht, einen inter-fraktionellen Gesetzentwurf zu ermöglichen. Das istnicht passiert. Es entsteht der Eindruck, dass es hier we-niger um die Sache als vielmehr um ein Säbelrasseln fürden Bundestagswahlkampf geht.
Die Forderung nach einem Staatsziel Kultur wird zurKulisse für eine Politposse: Welche Fraktion setzt sicham leidenschaftlichsten für Kultur und Sport ein? Ich binder Meinung, die Kultur- und Sportfreundlichkeit derFraktionen an der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurfoder seiner Ablehnung zu messen, greift zu kurz.
Für das Pro oder Kontra gibt es je nach Perspektive ernstzu nehmende Gründe. Für mich als Kulturpolitikeringeht es in erster Linie um eine Werteentscheidung. Aberein Staatsziel Kultur ist nicht der Heilige Gral der Kul-turpolitik und kein Allheilmittel für all die uns Kulturpo-litikern vertrauten Durchsetzungsprobleme.
Die Befürworter glauben, Kultur als Staatsziel könnteeine entscheidende Argumentationsgrundlage für unsereKolleginnen und Kollegen in den Kommunal- und Län-derparlamenten sein, wenn es wieder einmal heißt: DerRotstift fällt als Erstes auf das Kulturzentrum oder dasTheater. Fakt ist: Art. 167 des Vertrages von Lissabonenthält eine Kulturklausel. Länder wie Spanien, Polenund die Schweiz haben ein Staatsziel Kultur. In Schwe-den wurde die kulturelle Wohlfahrt als ein primäres Zielder öffentlichen Tätigkeit in die bestehende Verfassungmit aufgenommen. Schweden ist ein positives Beispiel.Dort ist Kulturförderung mehr als Makulatur in der Ver-fassung. Musische Fächer haben an den Schulen inSchweden einen höheren Stellenwert als bei uns. Auchwas Stipendien für Künstler und die Musikförderung be-trifft, ist Schweden wesentlich besser aufgestellt.In der vergangenen Woche wurden auf dem Bundes-kongress Musikunterricht in Weimar eindringliche Ap-pelle an die Politik gerichtet. Der Trend in unserem Bil-dungssystem geht dahin, Musik- und Kunstunterrichtzusammenzulegen und zu kürzen. Bundesweit fehlen anSchulen qualifizierte Musik- und Kunstlehrer. DiesesDefizit liegt nicht etwa am Fehlen ausgebildeter Kräfte– sie befinden sich in der Selbstständigkeit oder in pre-kären Beschäftigungsverhältnissen –, sondern es man-gelt am politischen Willen, ausreichend qualifizierteLehrer einzustellen.
Ich bin der Meinung, dies wäre ein geeigneter und pra-xistauglicher Punkt, an dem man ansetzen sollte. Das istdringlicher, als Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz zuschreiben.
Ein weiteres Alarmsignal für unsere Kulturnation istdie sich kontinuierlich verschlechternde soziale undwirtschaftliche Lage von Künstlerinnen und Künstlern.Künstlerisch zu arbeiten, wird bei uns oft nicht als Leis-tung angesehen, sondern als Hobby. In Zeiten knapperKassen steht die Kultur immer wieder unter Rechtferti-gungszwang: Was nützt uns ein Theater? Was nützen unsdie Kulturzentren?Kultur als Staatsziel wäre auf dem Papier ein Gegen-gewicht zur einseitigen Dominanz ökonomischer Verfas-sungsgüter. Veränderungen entstehen aber nicht durchStaatszielbestimmungen. Staatsziele brauchen einenStaat, der die Ziele auch politisch umsetzt.2002 wurde der Tierschutz als Staatsziel in unsereVerfassung aufgenommen. Immenser Fleischkonsum,industrielle Massentierhaltung, Antibiotikaskandale: Mitdem Tierschutz ist es in Deutschland nicht weit her.Veränderung muss in den Köpfen stattfinden. EinStaatsziel Kultur wäre vielleicht ein erster Schritt. Vieleweitere müssten folgen. Wir brauchen einen Paradig-menwechsel gegen die einseitige Ökonomisierung unse-rer Gesellschaft, gegen das kurzsichtige Kosten-Nutzen-Denken, gegen die Abwertung ideeller und künstleri-scher Leistungen hin zu einer stärkeren Anerkennungder kulturellen, geistigen Dimension als notwendige Ba-sis für unsere Demokratie.Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich freuemich grundsätzlich auf den rot-grünen Regierungswech-sel.
Mit diesem Gesetzentwurf haben Sie den Ring der politi-schen Bereitschaft ins Parlament geworfen und schürenbei Künstlerinnen, Künstlern und Kulturverbänden dieHoffnung, dass eine nächste Runde zum Staatsziel Kul-tur unter einer SPD-Regierung zum Erfolg führen wird.Wir werden sehen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Christoph Bergner.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei derLektüre des SPD-Antrags habe ich mich an die31. Sportministerkonferenz im Jahre 2007 in Neubran-denburg erinnert, auf deren Tagesordnung die Beratung
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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
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der Verankerung eines Staatszieles Sport im Grundge-setz stand. In dieser Diskussion hat der damals für dasLand Berlin anwesende Senator Körting mit mich über-zeugenden Argumenten, in denen er auch auf seine Er-fahrungen als Verfassungsrichter verwies, vor genau die-ser Entscheidung gewarnt, indem er darauf hingewiesenhat, dass er aufgrund seiner Erfahrung als Landesverfas-sungsrichter weiß, wie problematisch es sein kann, wenndurch plakative Zielvorgaben unerfüllbare Ziele gesetztwerden und der Staatsbürger hinsichtlich der Verbind-lichkeit dessen, was sonst in der Verfassung steht, danngeradezu in Zweifel gerät.Die Sportministerkonferenz hat sich dann dazu ent-schlossen, auf dieser Sitzung ein Papier zu verabschie-den, das die Situation des Sports zutreffend beschreibt.27 Millionen Bundesbürger treiben Sport, 100 000 Sport-vereine, tragende Säule für die Gesellschaft, Replik aufden großen Erfolg der Fußball-WM, Staat und Sport le-ben in einer Symbiose: Dies und vieles andere können wirdarin finden. Das heißt, man war sich in der Wertschät-zung des Sports einig.Mit Blick auf die Zitierung von Herrn Körting ist mireine grundsätzliche Feststellung in Bezug auf die De-batte dieses Antrages wichtig: Ich hoffe, die Antragstel-ler von der SPD wollen Herrn Körting nicht mangelndesEngagement für den Sport vorwerfen. Wir sollten dieDebatte über das Staatsziel „Sport und Kultur“ imGrundgesetz auch nicht unter dem Gesichtspunkt führen,dass das eine Maßgabe dafür wäre, wie ernst die Betref-fenden die Förderung von Sport und Kultur nehmen.Wenn das die Voraussetzung der Diskussion wäre, dannkönnten wir in der Sache schon sehr viel weiterkommen.Ich gebe zu – mindestens eine Kollegin ist noch hier,die sich an die Frühzeit der Landesverfassung in Sach-sen-Anhalt erinnert –: Wir haben seinerzeit – ich war inSachsen-Anhalt beteiligt – eine Landesverfassung miteiner klaren Gliederung in Grundrechte, Einrichtungsga-rantien und Staatsziele beschlossen. Im umfänglichenKapitel „Staatsziele“ wird in einem Artikel mit fünf Ab-sätzen, also nicht nur in einem kurzen Satz, versucht,Kultur und Sport zu beschreiben.Ich sage ausdrücklich: Ich habe das damals befürwor-tet und mich dafür eingesetzt, dass das so geschieht.Aber es ist eben, Herr Wiefelspütz, ein Unterschied, obman von vornherein im Rahmen einer Neukonzeption ei-ner Verfassung, eines Grundgesetzes auf Vollständigkeitachtet oder ob man gewissermaßen im Zuge nachträgli-cher Einzelentscheidungen neue Staatsziele ins Grund-gesetz aufnimmt; denn mit der Aufnahme werden beiden Bürgerinnen und Bürgern hohe Erwartungen ge-weckt. Bewirkt die Nennung von Staatszielen nicht inüberschaubaren Zeiträumen spürbare Veränderungen,kann Enttäuschung zu einer Distanzierung von Verfas-sung und Staat führen. Das ist das Körting’sche Argu-ment.Die erhoffte Wirkung neuer Staatsziele setzt daher vo-raus, dass Einvernehmen darüber besteht, welche kon-kreten Inhalte das Staatsziel hat und welche Änderungenbisheriger Politiken damit eintreten sollen. Dazu, HerrWiefelspütz, haben Sie überhaupt nichts gesagt. Ist ab-sehbar, dass hier keine Änderungen beabsichtigt oderrealistischerweise umsetzbar sind, dürfte ein neuesStaatsziel mittelfristig eher negative Wirkungen auf dieIdentifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Ver-fassung haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wiefelspütz?
D
Ja, gerne.
Herr Kollege Bergner, warum sind Sie eigentlich so
ängstlich gegenüber Staatszielen? Warum sind Sie da so
zurückhaltend? Ich meine, dass in einem Grundgesetz
– wir haben ein großartiges Grundgesetz, wie ich finde –
die zentralen Werte,
an denen sich unser Staat orientiert, stehen sollten.
– Die Verfassung, Herr Montag, besteht nicht nur aus
den überragend wichtigen Grundrechten, sondern darin
stehen noch ein paar andere sehr wichtige Dinge.
Warum sind Sie da so ängstlich? Dass in Zusammen-
hang mit der Formulierung eines Staatsziels natürlich
keine Versprechungen gemacht werden sollten, die dann
hinterher nicht eingehalten werden können, ist völlig
klar. Trotzdem macht es doch Sinn, dass sich ein Staat,
ein Verfassungsgesetzgeber zu den zentralen Werten be-
kennt, die staatsleitend sind und die für unser Land prä-
gend sind und die auch für Regierungen, für uns alle ver-
pflichtend sind.
D
Herr Wiefelspütz, ich hoffe, ich muss Ihre Frage nichtso verstehen, dass das Grundgesetz in der Beschreibungder Wertfundamente unserer Gesellschaft gewisserma-ßen unzureichend ist. Ich hoffe, wir sind uns einig, dassdas Grundgesetz einschließlich der entsprechendenRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hiereine breite und verlässliche Basis gibt.
Aber ich möchte in Beantwortung Ihrer Frage gerneeinen zweiten Punkt aufwerfen. Es ist so, dass ich mir inden letzten Jahren mehr als zuvor Gedanken darüber ma-che, worin die Ursachen der Politikverdrossenheit zu su-chen sind.
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Die Ursachen der Politikverdrossenheit sind nach meinerEinschätzung in einem hohen Maße – ich beantwortenoch Ihre Frage, Herr Wiefelspütz, wenn das gestattetist – darin zu suchen, dass die Politik Erwartungenweckt, die sie dann selber nicht erfüllt.
Genau an diesem Punkt gemahne ich zur Vorsicht.Genau aus diesem Grunde würde ich, wie gesagt, in ei-ner nachträglichen und nicht mit einer konkreten Politik-veränderung verbundenen Änderung des Grundgesetzeseher ein problematisches Signal sehen und die Notwen-digkeit einer solchen Änderung nicht befürworten. –Vielen Dank, Herr Wiefelspütz.Das Grundgesetz – das ist das nächste Argument – istin erster Linie ein Rechtstext. In ihm werden mit denGrundrechten subjektive Rechte der Bürgerinnen undBürger sowie Pflichten des Staates geregelt, anerkannteVerfassungsprinzipien – Republik, Rechtsstaat, Demo-kratie, Bundesstaat, Sozialstaat – verankert und Kompe-tenzen zwischen Bund und Ländern verteilt. Programm-sätze, die weitgehend symbolischen Charakter haben,sind deshalb für eine Verfassung problematisch.Die ganze Diskussion leidet unter dem unauflösbarenWiderspruch, auf den ich hingewiesen habe, nämlichdass jeder Kultur- und Sportpolitiker sicherlich gerne dieAnliegen von Kultur und Sport unterstützt, aber dieFrage beantworten muss, warum er zur Erfüllung dieserAufgabe einen entsprechenden Verfassungsartikelbraucht. Ich will den früheren Vorsitzenden des Sport-ausschusses, Herrn Kollegen Danckert, zitieren:Um es vorweg zu nehmen: verfassungsrechtlichzwingend notwendig ist eine Aufnahme ins Grund-gesetz nicht. Auch die rechtliche Wirkung der Auf-nahme eines Staatszieles Kultur und Sport insGrundgesetz wäre begrenzt. Für das Tätigwerdenauf ein bestimmtes Ziel hin bedarf es keines verfas-sungsrechtlichen Staatszieles. Es ist den gesetzge-benden Körperschaften unbenommen, auch Zielezu verwirklichen, die nicht als Staatsziele in dasGrundgesetz aufgenommen worden sind.So der Kollege Danckert im Jahr 2006 in der Zeitung desDeutschen Kulturrates. Kultur und Sport nur deswegenins Grundgesetz aufzunehmen, um dadurch den unbe-stritten hohen Stellenwert in der Gesellschaft zu verdeut-lichen, ist ein Ansatz, der in der Sache eher überflüssigist.Meine Damen und Herren, ich komme jetzt noch kurzzu dem Antrag der Fraktion Die Linke, die sich zu dieserStaatszielbestimmung bekennt, ohne das im Einzelnenzu formulieren, und darüber hinaus ein Sportförderge-setz vorschlägt. Ich mache aber darauf aufmerksam– wir haben das in der Beantwortung Kleiner Anfragenund auch in der Diskussion im Sportausschuss mehrfacherörtert, Frau Kunert –, dass dem Gesetzgeber im Rah-men der Haushaltsgesetzgebung ein umfassendes Instru-mentarium zur Verfügung steht – ich zitiere aus einer derAntworten –, „um auf die Mittelbereitstellung für dieSportförderung Einfluss zu nehmen. Die Förderrichtli-nien regeln detailliert die Voraussetzungen, Art und Um-fang der Leistungssportförderung.“ Wir hatten in derjüngsten Sportausschusssitzung diesbezüglich geradeerst wieder eine Diskussion.Wir würden aber ein anderes Risiko eingehen, wasdie Situation der Kompetenzverteilung zwischen Bundund Ländern betrifft. Das ist übrigens auch ein Punkt,der bei der Staatszielbestimmung eine Rolle spielt undder relevant und im Grunde auch problematisch wird,wenn wir uns auf ein Sportfördergesetz einlassen.Ich komme zusammenfassend zu dem Schluss: NachMaßgabe des vom Parlament beschlossenen Haushaltsund im Rahmen der föderalen Kompetenzordnung unse-res Staates lässt sich diese Bundesregierung bei der För-derung von Kultur – hierfür steht StaatsministerNeumann – und bei der Förderung von Sport – hierfürstehen das BMI, aber auch andere Ressorts – von nie-mandem überbieten.
Aus diesem Grunde erscheint eine Änderung des Grund-gesetzes überflüssig.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Siegmund Ehrmann für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indiesem Jahr feiert die Deutsche Nationalbibliothek ihren100. Geburtstag. Aus diesem Anlass wurden vor weni-gen Tagen in Frankfurt im Rahmen eines Festaktes eineGedenkmünze und eine Sonderbriefmarke präsentiert.Aus einer der dort gehaltenen Reden ist mir ein plasti-sches Bild haften geblieben. Darin wurde die DeutscheNationalbibliothek als Arche Noah unseres kulturellenErbes bezeichnet.Sie hat in der Tat den Auftrag, einen Teil der kulturel-len Überlieferungen unserer Gesellschaft zu sammeln,zu bewahren und zugänglich zu machen. Am Beispielder Deutschen Nationalbibliothek lässt sich sehr gut diebesondere öffentliche Verantwortung des Staates für dieBewahrung des kulturellen Erbes, die kulturelle Infra-struktur und die Förderung der Künste darstellen.Wenn wir heute über die Staatsziele Kultur und Sportsprechen, geht es im Wesentlichen darum, dieser beson-deren Verantwortung im Grundgesetz Ausdruck zu ver-leihen.Das Thema hat einen langen Vorlauf. Nicht wenigevon Ihnen werden sich daran erinnern, dass dieses
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23680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Siegmund Ehrmann
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Thema in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch-land“ sehr intensiv analysiert worden ist. Bereits Jahrezuvor haben Bundesregierung und Bundestag sich mehr-fach mit der Frage beschäftigt, ob und welche Staatsziel-bestimmungen Eingang in unsere Verfassung findensollten: angefangen bei der Sachverständigenkommis-sion Anfang der 80er-Jahre über die Debatten des Eini-gungsvertrages und die Gemeinsame Verfassungskom-mission 1992 bis hin zu besagtem Zwischenbericht derEnquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Letzterehat im Jahr 2005 einen einstimmigen Beschluss alsHandlungsempfehlung formuliert, das Grundgesetz umeine Staatszielbestimmung der Kulturförderung zu er-gänzen.Die FDP ist in der letzten Legislaturperiode mit ei-nem Gesetzentwurf an das Parlament herangetreten. Dashat uns als Sozialdemokraten – das will ich freimütig be-kennen – ziemlich ins Schwitzen gebracht. Wir hättengerne zugestimmt, konnten das zu der Zeit aus Koali-tionsräson aber nicht. Wir haben den Antrag abgelehnt.
In der Tat sind wir möglicherweise in einer vergleichba-ren Situation. Gleichwohl waren wir uns damals über dieFraktionsgrenzen hinweg einig, uns mit diesem Themazu beschäftigen.Die Verankerung der Kultur als Staatsziel im Grund-gesetz stärkt die kulturellen Anliegen auch auf der Bun-desebene. Eine solche Klarstellung ist beileibe keineVerfassungsgirlande. Die bereits genannten Sachverstän-digenkommissionen haben zu Staatszielbestimmungenfestgestellt, es handele sich um „Verfassungsnormen mitrechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit diefortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Auf-gaben … vorschreiben.“ Zitat:Eine Staatszielbestimmung überlässt es der politi-schen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, in wel-cher Weise und zu welchem Zeitpunkt er die ihmeingeschärfte Staatsaufgabe durch Gesetz erfüllt …Das Staatsziel „Kultur“ ordnet sich in die föderativeOrdnung ein. In erster Linie sind natürlich die Länderund Kommunen zuständig. Es werden somit nicht origi-näre Kompetenzen der verschiedenen staatlichen Ebenenausgehebelt. Gleichwohl lässt sich von einem auch imGrundgesetz formulierten Staatsziel eine allgemeineVerpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen ablei-ten, in ihrer Zuständigkeit die Kultur zu schützen und zufördern.Das hat bei konkreten politischen Abwägungsent-scheidungen, insbesondere bei der Haushaltssanierungsowie dem Rückbau und Umbau kultureller Infrastrukturerhebliche Bedeutung. Kultur wäre mit einem entspre-chenden Staatsziel nämlich nicht mehr nur eine bloßfreiwillige Aufgabe.Klar ist aber auch: Es werden keinerlei Rechtsansprü-che begründet. Auch ist dem Staat damit nicht die Be-fugnis übertragen, zu bestimmen, was Kultur ist. Es istein Appell an den Staat, für die Kultur Sorge zu tragen,sie zu pflegen, zu fördern, zu schützen und darauf zuachten, dass die kulturelle Freiheit nicht eingeschränktwird.Es ist auch die Frage gestellt worden, ob es dieses Ap-pells überhaupt bedarf: Geben nicht Art. 5 des Grundge-setzes – die Kunstfreiheit – und die Rechtsprechung ge-nug Sicherheit? Auch diesbezüglich lohnt ein Blick indie Analyse der Sachverständigenkommission. Sie ap-pelliert an den Verfassungsgeber, in der Verfassung daszu benennen, was gemeint und gewollt ist. Zudem wirddas Grundgesetz dadurch um einen kulturellen Aspektergänzt, der neben den bereits enthaltenen materiellenZielen der Verfassung ebenfalls Bedingung und Teil un-seres Gemeinwesens ist.Das führt mich zu der Frage nach dem Zusammen-hang zwischen Kultur und Sport, den wir mit unseremGesetzentwurf herstellen. Aus einer Fülle geistes- undnaturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen wissen wirum den prägenden Zusammenhang von Körper, Geistund Seele für die Verfasstheit des Menschen. Was deneinzelnen Menschen prägt, wirkt sich in der Addition na-türlich auch auf unser Gemeinwesen aus.Insofern wiederhole ich: Das Grundgesetz beschreibteben nicht nur die rechtliche und materielle Verfasstheitunseres Gemeinwesens. Deshalb werbe ich für meineFraktion bei Ihnen, in eine Debatte einzutreten und zu ei-ner Lösung zu kommen. Ich habe Herrn Rupprecht soverstanden, dass es durchaus Alternativen gäbe, über diees sich zu sprechen lohnt. Wenn wir hinsichtlich derSubstanz dessen, was wir möglicherweise gemeinsamwollen, zusammenarbeiten, könnte es in dieser Legisla-turperiode ja vielleicht doch gelingen, zu einem gemein-samen Vorgehen zu kommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Reiner Deutschmann für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Der Staat schützt und fördertdie Kultur. So würde Art. 20 b des Grundgesetzes lauten,wenn das einstimmige Votum der Enquete-Kommission„Kultur in Deutschland“ umgesetzt worden wäre. Sowürde Art. 20 b des Grundgesetzes auch lauten, wennder Spitzenverband der Kulturschaffenden, der DeutscheKulturrat, Gesetzgeber wäre. So würde Art. 20 b desGrundgesetzes lauten, wenn die FDP in der letzten Legis-laturperiode mit ihrer Initiative zur Aufnahme desStaatsziels Kultur in das Grundgesetz erfolgreich gewe-sen wäre und die notwendige Zweidrittelmehrheit er-reicht hätte.Ich möchte heute an diejenigen unter Ihnen appellie-ren, die noch Bedenken haben, der Aufnahme des Staats-ziels Kultur zuzustimmen; denn es sprechen starke Ar-gumente für die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23681
Reiner Deutschmann
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das Grundgesetz. Ich will wegen meiner begrenzten Re-dezeit hier nur zwei nennen. Zum einen enthalten so-wohl die EG-Verträge seit dem Vertrag von Maastrichtals auch zahlreiche Verfassungen der Bundesländer eineeigenständige Hervorhebung der Kultur. Dahinter solltedas Grundgesetz nicht zurückstehen.
Zum anderen haben wir, die Mitglieder des Deut-schen Bundestages, mit der Aufnahme anderer Staats-ziele selbst ein Ungleichgewicht in unserer Verfassunggeschaffen. Dies müssen wir endlich korrigieren.
Da das Staatsziel „Schutz der natürlichen Lebensgrund-lage“ in Art. 20 a des Grundgesetzes verankert ist, müs-sen die kulturellen und geistigen Lebensgrundlagen angleicher Stelle geschützt werden, um eine verfassungs-rechtliche Schieflage zu verhindern. Es ist eigentlichganz einfach: Da man die Umwelt und den Tierschutz indie Verfassung aufgenommen hat, gehört auch die Kul-tur in das Grundgesetz.
Kultur wird dadurch nicht einklagbar. Wenn aber Verfas-sungsgüter miteinander im Wettstreit stehen, darf dieKultur nicht mit schwächeren Mitteln ausgestattet sein.Hierin liegt auch der Unterschied zu den zahlreichen an-deren Staatszielforderungen, die immer wieder genanntwerden. Versuchen Sie einmal zu definieren, was Kultureigentlich ist, und Sie werden feststellen, wie universell,wie wichtig sie für alle Bereiche unseres Lebens ist. Ja,sie ist der Mittelpunkt unseres Lebens. Damit gehört sieaus unserer Sicht ohne Wenn und Aber in das Grundge-setz.Kunst und Kultur sind so wichtig, weil hier das Krea-tivpotenzial der Gesellschaft zutage tritt. Sie spiegelnden Zustand einer Gesellschaft wider. Sie gehen oft vo-ran. Sie sind ihr Motor. Kunst und Kultur sind deshalb sowertvoll, weil sie die Werte unserer Gesellschaft prägen.Bei fast jedem offiziellen Auftritt zu Hause oder im Aus-land verweisen wir mit Stolz auf unser kulturelles Erbeund bezeichnen uns als Kulturnation. Denken Sie dabeiauch an unsere 149 Goethe-Institute weltweit.Ich weiß, dass die Juristen unter Ihnen es immer et-was abstrakter wollen. Daher wird es Sie beruhigen, dasssich im Rahmen von Expertenanhörungen innerhalb derEnquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ dieMehrzahl namhafter Staatsrechtler für das StaatszielKultur ausgesprochen hat. Exemplarisch möchte ich hierProf. Dr. Bodo Pieroth nennen, der Ihnen gewiss ein Be-griff ist. Er sagte damals in der Anhörung der Enquete-Kommission, Art. 20 a des Grundgesetzes decke die ma-teriellen Bedingungen menschlicher Existenz ab, alsoden Unterbau. Weiter führte er aus – ich zitiere –:Sollten uns nicht die geistigen, ideellen Dimensionenmenschlichen Daseins … genauso viel wert sein?Hier einen rechtlichen Markierungspunkt zu setzen,scheint mir gerade in einer Zeit, in der alles auf dieökonomische Dimension reduziert zu werden droht,durchaus angebracht zu sein.Die UNESCO lebt es uns mit dem Schutz von Natur-und Kulturwelterbestätten vor. Auf beide sind wir inDeutschland besonders stolz. So sollten wir es auch imGrundgesetz halten.Die FDP hat immer deutlich gemacht, dass sie sichfür das Staatsziel Kultur im Grundgesetz einsetzt. Dazubekennen wir Liberale uns weiterhin ausdrücklich.
Dazu gibt es eine klare Beschlusslage des FDP-Bundes-parteitags aus dem Jahr 2007, der sich exemplarisch mitder Kultur befasst hat. Ich rufe die anderen Fraktionenauf, sich ebenfalls zum Staatsziel Kultur zu bekennen,damit wir es noch in dieser Legislaturperiode in dasGrundgesetz aufnehmen können. Seien Sie mutig!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Lukrezia Jochimsen für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdrei einfachen Sätzen lässt sich begründen, warum Kul-tur in unser Grundgesetz festgeschrieben werden soll:In Wahrheit geht es darum, dass Deutschlandeine Kulturnation ist. Wir sind stolz auf unserekulturelle Vielfalt. Eine Kulturnation solltesich in ihrer eigenen Verfassung dazu beken-nen, dass sie es ist.
Drei einfache Sätze – Guido Westerwelle hat sie am19. Juni 2009 in diesem Haus ausgesprochen, am letztenDebattentag vor Aufbruch in den vorigen Wahlkampf.Die FDP hatte damals den Gesetzentwurf zur Aufnahmedes Staatsziels Kultur in das Grundgesetz eingebrachtund stand ziemlich allein auf weiter Flur. Nur die Links-fraktion stand an ihrer Seite und die unbeirrbare Kolle-gin von den Grünen Undine Kurth. So war das.
Die FDP hatte den Vorschlag der Enquete-Kommis-sion aufgenommen, Kultur als Staatsziel in die Verfas-sung aufzunehmen. Nach sorgfältiger Beratung und An-hörung der angesehensten Verfassungsrechtler war diesein einstimmiger Vorschlag aller Kulturpolitiker. Aber,wie gesagt, 2009, kurz vor dem Wahlkampf, entschiedsich eine große Mehrheit des Parlaments aus unter-schiedlichen Gründen – man könnte auch sagen: unterunterschiedlichen Vorwänden – dagegen.Heute wird das Nein sagende Lager vielleicht nicht sogroß sein, aber mit dem Grundgesetzsatz „Der Staat
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Dr. Lukrezia Jochimsen
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schützt und fördert die Kultur“ wird es wahrscheinlichwieder nichts werden, und zwar einmal, weil es nun zueinem Mix von Kultur und Sport kommen soll, dessenSinnhaftigkeit schwer zu begreifen ist, zum anderen,weil CDU/CSU sich standhaft verweigern werden. Inso-fern ist es wieder, liebe Kollegen von der SPD, einemehr oder weniger vorgezogene Wahlkampfschau undkeine parlamentarische Auseinandersetzung mit Chanceauf politische Veränderung.Warum das so ist, ist schwer zu verstehen, auch undgerade was die verfassungsrechtlichen Bedenken angeht.Schauen wir uns unsere europäischen Nachbarländer an,die sich in den letzten Jahren neue Verfassungen gege-ben und in diese Verfassungen das Staatsziel Kultur inweitreichender Weise aufgenommen haben. Es sind sounterschiedliche Länder wie das Königreich Spanien,die Republik Polen und die Schweizerische Eidgenos-senschaft, alle drei Länder haben föderale Strukturen. Dageht es. Warum nicht endlich auch bei uns?
Nun ja: Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländernhaben dann Erwartungen. Sie wollen den zentralen WertKultur politisch gepflegt wissen. Aber was ist daranfalsch? Die Linke bekennt sich seit langem zum Staats-ziel Kultur. Deswegen legen wir auch heute einen An-trag vor. Er geht vom Kulturbegriff der UNESCO aus,die Kultur als die Gesamtheit der unverwechselbarengeistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalenEigenschaften ansieht, die eine Gesellschaft kennzeich-nen. Nach diesem Kulturverständnis gehört der Sport zurKultur einer Gesellschaft.
Das heißt, das Staatsziel Kultur schließt den Sport aus-drücklich ein, und es ist selbstverständlich Aufgabe desStaates, den Sport zu fördern.Bei der Anhörung im Rechtsausschuss 2007 hat Pro-fessor Paul Raabe gesagt:Zum Ansehen in der Welt sollte nunmehr die Kulturauch im Blick auf Europa – „Europa eine Seele ge-ben“ – Verfassungsrang haben. Es ist an der Zeit,dass der Kulturstaat im Grundgesetz definiert wird.In diesem Sinn sollten wir über das Staatsziel Kulturverhandeln. Und wenn wir wieder scheitern – wir wer-den uns weiter für diese Grundrechtsforderung einsetzenwie bisher.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LiebeKollegin Jochimsen und lieber Kollege Deutschmann,auf Ihre beiden Redebeiträge will ich zuallererst einge-hen, weil Sie meiner Meinung nach genau die Frage auf-werfen, die wir hier diskutieren und beantworten müs-sen, nämlich ob sich aus der unbezweifelten Bedeutungvon Kultur und Sport für die Gesellschaft die Notwen-digkeit ergibt, diese beiden Werte als Staatsziele in derVerfassung zu verankern. Wir sind in der Pflicht, diesebeiden Fragen getrennt voneinander zu diskutieren undzu beantworten,
und dürfen diese beiden Ebenen nicht fortwährend ver-mischen.Die Bedeutung der Kultur und des Sports wird dochin Deutschland von niemandem ernsthaft bestritten.Deutschland gibt auf allen Ebenen sehr viel Geld fürKultur und für Sport aus, wenn auch nicht genug.Deutschland ist weltweit geachtet als Kulturnation undauch als Sportnation. Aber ob sich daraus zwangsläufigergibt, dass es Sinn macht, diese beiden wichtigen Wertein der Verfassung als Staatsziele zu verankern, muss ge-trennt davon diskutiert werden und richtet sich nach mei-ner Meinung nach drei Aspekten: Erstens. Ist es dennzwingend erforderlich, es hineinzuschreiben? Zweitens.Würde es der Kultur und dem Sport ganz konkret etwasnützen, wenn man das hineinschreiben würde?
Drittens. Wäre es nicht vielleicht konkret kontraproduk-tiv für Kultur und Sport, es zu tun? – Diese drei Fragenmüssen wir beantworten.Ob dies zwingend erforderlich ist, ist, glaube ich, amschnellsten abzuhandeln. In Deutschland leiden die Kul-tur und der Sport nicht daran, dass sie nicht in der Ver-fassung stehen. Wenn die Kultur und der Sport an etwasleiden, dann leiden sie an mangelnder konkreter Unter-stützung und an mangelnden finanziellen Mitteln.Würde es etwas nützen? Das ist eine viel schwierigereFrage. Dazu hätte ich in dem Gesetzentwurf der SPDgern etwas an Begründung gelesen. Aber leider, liebeKolleginnen und Kollegen von der SPD: Sie beschäftigensich in der für eine Grundgesetzänderung sowieso schonkurzen Begründung fast ausschließlich mit der Darstel-lung der Bedeutung von Kultur und Sport – unbenom-men. Aber der Frage, warum Sie das dann ins Grundge-setz schreiben wollen, widmen Sie bei der Kultur undbeim Sport jeweils nur einen einzigen Satz.
Bei der Kultur schreiben Sie, dies würde die kulturel-len Belange in politischen und juristischen Auseinander-setzungen stärken. Glauben Sie das wirklich?
Glauben Sie, dass ein Sportfördergesetzentwurf, von derLinken, von Ihnen oder von wem auch immer hier einge-bracht, ein größeres Maß an Zustimmung bekäme, nurweil der Sport im Grundgesetz stünde? Kommt es nichtdarauf an, was in diesem Sportfördergesetzentwurf
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Jerzy Montag
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steht? Sie sind doch nicht gehindert, Frau KolleginKunert, einen solchen Gesetzentwurf einzubringen; Siemüssen dazu den Sport nicht in der Verfassung haben.Das bedeutet: Sportpolitik können Sie auch ohne dieseAufnahme ins Grundgesetz sehr gut vertreten und ver-folgen.Zum Sport, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, haben Sie in der Begründung lediglich dargelegt:Wenn man den in die Verfassung hineinschreiben würde,dann würde das „ein Heranziehen verfassungsrechtlicherHilfsbegründungen entbehrlich machen“. Aber das kanndoch nun wirklich kein Grund sein, so etwas in die Ver-fassung hineinzuschreiben.
Ich teile die vorsichtige, skeptische Grundhaltung,dass wir damit Erwartungen wecken, die wir nicht erfül-len können, die nicht erfüllt werden werden. Das besteBeispiel dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieUmkehrung Ihres Arguments. Sie sagen: Das steht dochschon in den Landesverfassungen, und deswegen musses auch in die Bundesverfassung hinein. – Ja, es steht inden Landesverfassungen. Kultur und Sport sind im We-sentlichen kommunale und Landesangelegenheit. Ob-wohl das schon seit Jahrzehnten in den Landesverfassun-gen ist, steht es in manchen Kommunen und in manchenLändern schlecht um Sport und Kultur.Insofern sage ich Ihnen: Wir sind für eine Förderungdes Sports, wir sind für eine Förderung der Kultur; aberwir werden keinen Euro mehr für diese Themen gewin-nen, nur weil wir sie vorher in die Verfassung geschrie-ben haben.
Danke.
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!Sehr geehrte Kollegen! In steter Regelmäßigkeit be-schäftigen wir uns hier in diesem Hohen Haus mit derFrage, ob Kultur und/oder Sport als Staatsziele insGrundgesetz aufgenommen werden sollen.Es ist doch vollkommen unbestritten, dass Deutsch-land ein Kulturstaat ist. Es ist ebenso unbestritten, dassdie Deutschen eine sportbegeisterte Nation sind. Sageund schreibe 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger trei-ben in Sportvereinen Sport. Wir sind auch eine sportlicherfolgreiche Nation. Insbesondere wenn man an das Ab-schneiden unserer Olympiamannschaft sowohl bei denOlympischen als auch bei den Paralympischen Sommer-spielen in London denkt, kann man wirklich stolz auf dieSportlerinnen und Sportler sein, die Deutschland vertre-ten.
Ich denke aber, dass wir trotzdem behutsam mit unse-rem Grundgesetz umgehen sollten. Wir sollten uns auchvergegenwärtigen, welche Aufgabe eine Verfassung hat:Eine Verfassung hat einen grundsätzlichen und funda-mentalen Charakter. Man sollte sich deshalb davor hü-ten, alles, was man vielleicht aufgrund des Zeitgeistesgerade ganz nett und sympathisch findet, als Staatszielins Grundgesetz zu schreiben.
Das wäre aus meiner Sicht Verfassungslyrik oder, wie esProfessor Grimm sagt, Verfassungsakrobatik. Ich stimmeHeribert Prantl ausdrücklich zu, der in seinem Kommen-tar in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitungschreibt, dass „eine Verfassung … kein Poesiealbum“und „kein politisches Tagebuch“ ist, in die man nett hin-einschreibt, was man gerade sympathisch und angenehmfindet.Kultur und Sport kann man nicht normativ verordnen.Bei einer Aufnahme der beiden Staatsziele ins Grundge-setz besteht aus meiner Sicht die zusätzlich konkrete Ge-fahr, dass wir die Grenzen zwischen dem Verfassungs-recht und dem einfachen Recht verwischen. Es bestehtdes Weiteren die Gefahr, dass die Gestaltungsspielräumeder Politik und des Gesetzgebers immer kleiner werden.Bei der schon zitierten Anhörung im Rechtsausschussim Jahr 2007 hat Professor Heinrich Wolff von der Ge-fahr des Verfassungsvollzuges gesprochen, also von derGefahr einer zunehmenden Verrechtlichung und Verre-gelung der Politik. Die Konsequenz einer Aufnahme die-ser beiden Staatsziele ins Grundgesetz wäre, dass wirhier als Gesetzgeber in vielerlei Hinsicht, auch in Abwä-gung mit anderen Staatszielen und Freiheitsrechten, im-mer weniger Gestaltungsspielräume hätten. In der Kon-sequenz bestünde auch die Gefahr, dass damit letztenEndes auch der Wähler entmachtet würde, weil er mitseiner Wahlentscheidung immer weniger politischeKursbestimmungen vornehmen kann, wenn immer mehrStaatsziele inflationär ins Grundgesetz aufgenommenwerden.Konkret zum Staatsziel Kultur. Deutschland ist eineKulturnation. Ich lege aber auch Wert darauf, dass dieKulturnation Deutschland von einem sehr vielfältigen,föderalen Charakter geprägt ist. Ich glaube, wir sindauch deshalb eine so große Kulturnation, weil wir primärvon Bundesländern geprägt sind, die ganz unterschiedli-che kulturelle Traditionen und Brauchtümer haben. Des-halb ist es richtig, dass die Länder grundsätzlich und pri-oritär für die Kultur und die Kulturförderung zuständigsind. Wenn die Kultur als Staatsziel in unsere nationaleVerfassung aufgenommen würde, sähe ich die Gefahr,dass es im Hinblick auf die Kulturpolitik und unsere kul-turelle Vielfalt zu einer zunehmenden Zentralisierungkäme, die nicht wünschenswert oder gewollt sein kann.
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Stephan Mayer
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,Politik wird immer dann interessant, wenn es konkretwird. Es ist schon erwähnt worden: Nach der Aufnahmeder Staatsziele ins Grundgesetz würde es darum gehen,diese im gesetzgeberischen Handeln zu verwirklichen.Wie sah es denn zuletzt konkret aus? In den letzten sie-ben Jahren hatten wir durch die Bank einen Aufwuchsim Kulturhaushalt des Bundes. Seit die CDU/CSU hierin Berlin an der Regierung ist, ist der Kulturhaushalt vonJahr zu Jahr angewachsen,
von 1 Milliarde Euro im Jahr 2005 auf 1,2 MilliardenEuro in diesem Jahr. Mittlerweile machen die Kulturaus-gaben des Bundes 13 Prozent aller Ausgaben aus, die inunserem Staat insgesamt für Kultur getätigt werden. Da-mit machen sie nur einen relativ kleinen Anteil aus; dennder Großteil wird richtigerweise von den Ländern er-bracht.Gleiches gilt für den Sport. Interessant ist auch derAufwuchs der Sportförderung. Im Jahr 2005 hat derBund 216 Millionen Euro für die Spitzensportförderungin Deutschland verwendet. In diesem Jahr sind es im-merhin 250 Millionen Euro. Ich glaube, darauf könnenwir als Deutscher Bundestag insgesamt und damit alsHaushaltsgesetzgeber stolz sein. Wir fördern den Sportin Deutschland, wenn wir ihm mehr Geld zur Verfügungstellen, wenn wir mehr Geld für unsere Spitzensportler,für den Sportstättenbau, für die Dopingbekämpfung zurVerfügung stellen. Das und nicht die Aufnahme desSports als Staatsziel ins Grundgesetz ist eine ganz kon-krete Förderung des Sportes in Deutschland.
Ein weiteres Beispiel. Es ist oft gesagt worden: Na ja,wenn man den Sport als Staatsziel ins Grundgesetz auf-nimmt, dann hat dies vor Ort positive Auswirkungen,zum Beispiel in der Abwägung, ob eine Kita, ob einBolzplatz, ob ein Kinderspielplatz gebaut werden darfoder ob sich die Interessen derjenigen Anwohner durch-setzen, die sich gegen die jeweiligen Baumaßnahmenwenden. Wir haben als christlich-liberale Koalition § 22des Bundes-Immissionsschutzgesetzes geändert. Darinsteht jetzt, dass Kinderlärm – dort ist von „Geräuschein-wirkungen“ die Rede, was ich für sehr bedenklich halte;eigentlich sind diese Geräusche Zukunftsmusik – vonunter 14-Jährigen keine schädliche Umwelteinwirkungist, und das hat Auswirkungen für den Bau von Kitasund die Errichtung von Kinderspielplätzen oder vonBolzplätzen. Das ist eine ganz konkrete Unterstützungdes Sportes, des Breitensportes, des Sportes von Jugend-lichen und von Kindern vor Ort. Auch dies wird durchdie bloße Aufnahme des Sportes als Staatsziel insGrundgesetz nicht erreicht.Liebe Frau Kollegin Kunert, Sie haben zu Recht be-mängelt – ich bin da vollkommen bei Ihnen –, dass derSchulsport leider Gottes immer mehr an Bedeutung ver-liert. Dass die Schulsportunterrichtsstunden die erstensind, die ausfallen, das ist richtig. Nur, ich frage jetzt zu-rück: Was hat es denn gebracht, dass in 15 von 16 Län-derverfassungen in Deutschland der Sport als Staatszielfestgeschrieben ist? Die Länder sind für die Schulpolitikzuständig. Also, was hat die Verankerung in der Verfas-sung ganz konkret gebracht?Ich möchte an die Ausführungen des KollegenMontag anknüpfen. Wir sollten uns gerade bei diesemwichtigen Thema immer die Frage stellen: Wem nutzt es –cui bono? Dazu muss man ganz deutlich sagen: In diesen15 Ländern hat es dem Sportunterricht überhaupt nichtsgebracht, dass Sport als Staatsziel in den jeweiligen Lan-desverfassungen steht.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Pro-fessor Scholz hat in dieser Anhörung des Rechtsaus-schusses im Jahr 2007 noch einmal deutlich gemacht,dass das Grundgesetz einen ordnungspolitischen Rah-men gibt. Ich glaube, wir sind gut beraten, uns vor einerInflation von politisch-programmatischen Festlegungenin unserer Verfassung durch eine Überfrachtung mit im-mer mehr Staatszielen zu hüten. Es besteht hier wirklichdie Gefahr einer Verwässerung unseres Grundgesetzes.Deshalb sollten wir weiterhin zurückhaltend und puris-tisch mit unserem Grundgesetz umgehen. Ich kann daherden Anträgen der Linksfraktion und dem Gesetzentwurfder SPD-Fraktion nur eine klare Ablehnung entgegen-halten. Wie gesagt, es geht nicht darum, dass wir alschristlich-liberale Koalition nichts für die Förderung derKultur und des Sportes in Deutschland machen wollen.Ich glaube, wir haben das mit ganz konkreten Gesetzge-bungsmaßnahmen, mit einem deutlichen Aufwuchs inbeiden Haushalten deutlich unter Beweis gestellt. Allesandere wäre eine bloße Symbolpolitik.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Martin Gerster für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege Stephan Mayer hat gerade gesagt, wir soll-ten uns davor hüten, alles, was Zeitgeist ist, in unsereVerfassung aufzunehmen. Dem kann man zustimmen.Aber Kultur und Sport, das ist alles andere als Zeitgeist,zumindest in meinen Augen und in den Augen der SPD-Fraktion.
Deswegen haben wir uns ganz bewusst dafür ent-schieden, heute einen Vorschlag auf den Tisch zu legen,über den wir mit Ihnen diskutieren wollen. Wir schlagenvor, Kultur und Sport ins Grundgesetz aufzunehmen,weil wir explizit der Meinung sind, dass es beim Sportnicht um bloße Körperertüchtigung geht, sondern dassSport darüber hinaus eine große Bedeutung für unsereGesellschaft hat. Das hat nicht erst die SPD-Fraktion er-
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Martin Gerster
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kannt, sondern das ist letztendlich Allgemeingut. Daszeigt allein schon ein Vers, der dem Herrn Ringelnatzzugeschrieben wird:Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine … und erschützt uns durch Vereine vor der Einsamkeit.Das bringt es eigentlich auf den Punkt, worum es hierim Bereich des Sports geht. Sport hat eine große Bedeu-tung für unsere Gesellschaft, und deswegen sind wir derMeinung, dass wir diese im Grundgesetz definieren soll-ten. Ich will ein paar Punkte ansprechen, die wir auch imSportausschuss Woche für Woche diskutieren und dieunserer Meinung nach für unsere Gesellschaft wichtigsind.Wir wissen doch um die Kraft des Sports beispiels-weise bei der Integration von Menschen mit Handicap,von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unter-schiedlicher Generationen und unterschiedlicher Her-kunft. Ich erwähne die vielen Migrantinnen und Migran-ten, die durch den Sport in unsere Gesellschaft integriertwerden. Wir wissen, dass der Sport – wie wahrscheinlichnichts anderes in der Gesellschaft – Menschen zusam-menbringen kann. Deswegen müssen wir darüber disku-tieren – und deshalb sind wir auch dafür –, den Sport imGrundgesetz zu verankern
Wir denken an den Bereich Prävention. Schließlichwissen wir aus der wissenschaftlichen Forschung: Sportund Bewegung bringen einen großen Benefit für unsalle, weil wir beispielsweise weniger Ausgaben für denGesundheitsbereich tätigen müssen. Sport und Bewe-gung bringen dem Einzelnen etwas, aber auch der ge-samten Gesellschaft.Ich denke an das Thema Rehabilitation. Neulich ha-ben wir im Sportausschuss über die Funktion und Be-deutung des Sports bei der Überwindung von schwerenKrankheiten gesprochen. Es ist wirklich unglaub-lich – das muss man sich einmal vor Augen führen –,was Sport und Bewegung bewirken können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sport ist auch so-zialer Kitt in unserer Gesellschaft; auch das muss manimmer wieder betonen und herausstellen. Über die Mil-lionen von Ehrenamtlichen, die sich im Sport engagie-ren, schaffen wir es doch, dass das Leben für viele le-bens- und liebenswert wird. Auch wegen dieser Aspektemeinen wir, dass der Sport zusammen mit der Kultur insGrundgesetz aufgenommen gehört.Des Weiteren schafft es der Sport, Werte zu vermit-teln – Werte, die aus verschiedenen Gründen woanders,beispielsweise in der Schule oder im Elternhaus, wo-möglich nicht optimal vermittelt werden können. Ichdenke an Werte wie Zusammenstehen, Teamgeist, denfairen Umgang mit anderen und an das Erlernen der Fä-higkeit, mit Niederlagen oder Siegen umzugehen. Sportträgt dazu bei, insbesondere die Persönlichkeitsentwick-lung junger Leute positiv zu beeinflussen. Weil der Sportso etwas wie einen Kompass für das weitere Leben dar-stellen kann, meinen wir, dass es durchaus berechtigt ist,mit Ihnen zusammen zu diskutieren, wie wir Sport undKultur im Grundgesetz verankern können.Wir müssen den Sport schützen. Es gibt nämlich Ge-fahren – das hören wir in unserer parlamentarischen Ar-beit immer wieder von Experten –, die den Sport kaputt-machen können. Ich nenne das Beispiel Doping. Ichnenne aber auch das Beispiel Wettmanipulation, und esgibt viele andere mehr. Der Sport ist in Gefahr. Unswurde beispielsweise vom Bundesrechnungshof gesagt,dass auf Bundesebene eine gesetzliche Grundlage fehle,um insbesondere für den Spitzensport immense Summenbereitzustellen. Deswegen wäre es gut, wenn wir als Ge-setzgeber nach Möglichkeiten suchen würden, wie wirdie gesetzlichen Grundlagen an dieser Stelle schaffenkönnten. Ich glaube, eine Diskussion darüber ist überfäl-lig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht aus-schließlich die SPD, die darüber diskutiert. Vielmehrwissen wir ganz genau, dass die Diskussion auch in denanderen Fraktionen und Parteien geführt wird. Wir ha-ben in der Vergangenheit mit Interesse wahrgenommen,dass zum Beispiel die FDP einen Parteitagsbeschluss ge-troffen hat und dass sogar im Regierungsprogrammsteht, Sport und Kultur ins Grundgesetz aufzunehmen.Herr Westerwelle hat sich mehrfach entsprechend geäu-ßert. Auch der Kollege Lutz Knopek hat geschrieben,dass er dafür ist, Sport ins Grundgesetz aufzunehmen.Insofern, meine sehr geehrten Damen und Herren,möchte ich noch einmal dafür werben, dass wir in einesachliche Diskussion darüber eintreten, wie wir es schaf-fen können, Kultur und Sport ins Grundgesetz aufzuneh-men. Wir sind auch offen, wenn es darum geht, die eineoder andere Formulierung zu ändern.Herr Ruppert, Sie hatten angesprochen, dass Ihnendie Formulierung nicht so passt. Aber ich denke, es liegtjetzt ein Vorschlag auf dem Tisch, über den wir mit Ih-nen, aber natürlich auch mit den Experten aus den Sport-verbänden oder aus dem Kulturbereich, in den parlamen-tarischen Beratungen im Hinblick darauf sprechenwollen, wie wir es schaffen können, Kultur und Sport insGrundgesetz aufzunehmen.Ich will noch einmal dafür werben, dass wir dies nichtemotional aufgeladen, sondern in einer Weise tun, in derwir miteinander umzugehen gewohnt sind, wenn es umsolche übergeordneten Fragen geht.Deswegen, Herr Kollege Deutschmann, habe ichmich über Ihren offenen Redebeitrag zu diesem Themasehr gefreut. Wir sind gespannt darauf, wie sich die Dis-kussion zu diesem Thema in den nächsten Wochen undMonaten weiterentwickeln wird.Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Joachim Günther für die FDP-Frak-tion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Et-
was überrascht waren wir schon von dem Antrag der
SPD und auch von dem der Linken,
den Sport und die Kultur ins Grundgesetz aufzunehmen,
etwas überrascht deshalb, weil dieser Antrag plötzlich
am letzten Tag in unsere Postfächer gelegt wurde, ob-
wohl jeder weiß, dass bei Grundgesetzänderungen eine
breite Diskussion, auch im Vorfeld, erforderlich ist,
wenn das Ganze von Erfolg gekrönt sein soll.
Wir jedenfalls von der FDP-Fraktion haben vorher
keine Hinweise in diese Richtung erhalten. Deshalb
frage ich Sie: Machen Sie es in diesem Fall so, wie Sie
es in Ihrem Diskussionsbeitrag vorhin angedeutet haben,
etwas ein Jahr vor der Bundestagswahl erneut auf das
Tapet zu bringen? Das wird der Sache aus meiner Sicht
nicht gerecht.
Wir als Bundestagsfraktion – das sage ich ja – stehen
diesem Ansinnen grundsätzlich positiv gegenüber, wir
können dem etwas abgewinnen. Wir haben es selbst im
eigenen Wahlprogramm 2009 geschrieben.
Wir wollen uns auch für eine irgendwie geartete Auf-
nahme des Sports in das Grundgesetz aussprechen. Doch
bei Grundgesetzänderungen – das hat gerade die Diskus-
sion heute wieder gezeigt –, egal welcher Art sie sind, ist
einfach eine gewisse Vorsicht geboten.
So hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter
Professor Dr. Udo Steiner auf die Gefahren neuer Staats-
zielbestimmungen hingewiesen. Er sagte, wer Verfas-
sungsrecht sät, gerade in der Form von Staatszielbestim-
mungen, wird Verfassungsrechtsprechung ernten. Das
wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen gestalten. Daher
ist vor der Aufnahme eines Staatszieles Sport in das
Grundgesetz genau zu untersuchen, welche Ziele damit
verfolgt werden und welche Folgen das Staatsziel Sport
und Kultur im Grundgesetz haben kann. Es kann nicht
Sinn der Sache sein, dass ausgehend von der guten Ab-
sicht eine Flut von Prozessen ausgelöst wird, die weder
der Rechtssicherheit noch den Zielen selbst dient.
Auch eine zusätzliche Belastung des Haushalts darf
vor dem Hintergrund unserer Staatsschuldensituation
nicht ohne Grenzen herbeigeführt werden. Wenn sich et-
was ändern soll, müssen wir die finanziellen Auswirkun-
gen vorher ermitteln und müssen sie klar begrenzen.
Was wir nicht brauchen, ist mehr Verfassungsrecht-
sprechung. Stattdessen sollten wir gemeinsam darange-
hen, die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports
und seiner vielen positiven Wirkungen mit einfachen
Gesetzen voranzubringen. Diese Gestaltungskraft haben
wir ja.
Wir haben gerade in dieser Woche in unserem Aus-
schuss über die Olympischen Sommerspiele diskutiert,
Stephan Mayer hat gesagt: mit positiver Tendenz. Aber
wir haben auch gesagt: Deutschland ist bei der Medail-
lenwertung nicht mehr im Spitzenbereich.
Angesichts dessen muss zumindest die Frage gestattet
sein: Wollen wir eine Stagnation, oder wollen wir weiter
vorankommen und den Spitzensport ausbauen? Ich kann
mir vorstellen, wenn wir gemeinsam handeln, wenn wir
zum Beispiel im Bereich des Spitzensports jährlich
10 Millionen Euro zusätzlich mittelfristig einsetzen, dass
Deutschland in diesem Bereich wieder mit an die Spitze
der Nationenwertung kommt.
Bei dem Antrag der SPD-Fraktion können wir im
Moment nicht erkennen, wo gemeinsam gehandelt wird
und wie wir mit diesen Fragen umgehen. Deshalb kön-
nen wir ihm in dieser Form nicht zustimmen.
Dem Antrag der Linken können wir unsere Zustim-
mung ebenfalls nicht geben. Viele Forderungen darin
sind allgemein ausgerichtet. Kollegin Kunert, es ist eine
Aufzählung von vielen Dingen, mit der Sie wahrschein-
lich mehr die eigene Klientel befriedigen wollen. Wir
wollen aber insgesamt ein Ziel voranbringen. Führen wir
eine gemeinsame Diskussion! Arbeiten wir etwas Ge-
meinsames heraus, was der Bedeutung des Sports und
der Kultur gerecht wird und uns alle voranbringt!
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Mit den heute auf der Tagesord-nung stehenden Anträgen greifen wir eine längst überfäl-lige Debatte auf. Ziel ist es, den politischen Rahmen fürdie Lösung einer Reihe von Problemen, die wir im Sporthaben, zu verbessern. Ich denke, dass sich jenseits desakademischen Streites sowohl hier im Haus als auch inder Gesellschaft eine Mehrheit für diese Anträge ab-zeichnet. Wenn man einmal die rosarote Brille absetzt– das ist hier verschiedentlich schon geschehen –, wirdman sehen, dass es eine ganze Reihe von Problemengibt, die einer Lösung zugeführt werden müssen.Der Schulsport ist schon angesprochen worden. Wirbrauchen dringend die dritte Schulsportstunde. Die Län-der haben sie auch irgendwie einmal auf dem Schirm ge-habt. Tatsächlich findet vielleicht gerade einmal die ersteStunde statt. Was spricht dagegen, dass der Bund einProgramm auflegt, das es den Ländern ermöglicht, diesedritte Sportstunde tatsächlich durchzuführen? Das wäreein Vorschlag, bei dem sich auch der Bund einbringenkönnte.Stichwort Breitensport. Wie sieht es mit der Anerken-nung der ehrenamtlichen Tätigkeit aus? Eine ganzeReihe von Vereinen leidet darunter, dass ihnen die Mit-glieder abhanden kommen, vor allem aber auch darunter,dass sie nicht genügend Personal für die Leitung haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23687
Jens Petermann
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Auch hier fehlt eine entsprechende Initiative des Bun-des.Wie sieht es beim Nachwuchssport aus? Wenn ich mirdie Situation der Trainer bei den Nachwuchssportlernansehe, dann merke ich, dass sie die 40-Stunden-Wochenur vom Hörensagen kennen. Faktisch werden 60 Stun-den und mehr geleistet, wofür sie eine Vergütung von1 200 Euro erhalten. Hier befinden wir uns schon im Be-reich der prekären Beschäftigung. Das müssen wir drin-gend ändern.
Wie sieht es mit der Talentsichtung aus? Gerade ausdem Bereich des organisierten Sports wird gefordert,dass der Erfahrungsvorsprung des Ostens aufgegriffenwird und bestimmte positive Dinge von dort in die ak-tuelle Talentsichtung aufgenommen werden. Das mussman natürlich aufgreifen. Warum eigentlich nicht?
Wie sieht es mit der Transparenz aus? Wie sieht esmit der Verteilung der Mittel aus? Auch hier gibt es eineReihe von Defiziten. Aktuell gibt es eine Diskussionüber Zielvereinbarungen. Das müssen wir auch angehen.Hier können wir gemeinsam vorankommen.
Die Entwicklung eines jungen Menschen zu einerPersönlichkeit, die Verantwortung übernehmen kann, dieleistungsbereit ist, die soziale Kompetenz besitzt und dasLeben erfolgreich meistert, ist eine umfassende Angele-genheit. Sowohl der Sport als auch die Kultur habenhierfür eine zentrale Bedeutung. Das gilt gerade in einersehr schnelllebigen konsumorientierten Gesellschaft.Das gerät aus dem Blickfeld. Diesen Blick wieder zuöffnen, ist das Verdienst dieses Gesetzentwurfes derSPD-Fraktion, den wir mit unseren Anträgen gern unter-stützen. Ich werbe noch einmal dafür, dass Sie diese An-träge wohlwollend begleiten.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Wolfgang Börnsen für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Es ist unglaublich, was in diesen Tagen in Paris ge-schieht.Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wenige Wochen nach der Regierungsübernahme fallenFrankreichs Sozialisten über den Kulturhaushalt her. Ri-goros haben die Linken über 1 Milliarde Euro gekürzt.
Frankreichs Kulturschaffende beklagen einen Wort- undTabubruch. Sie warnen die Bürger Europas zornig davor,links zu wählen. Recht haben sie!
All das geschieht in einem Land, in dem die Kultur bis-her obersten Stellenwert hatte. Ähnlich rabiate Ein-schnitte erfährt die Kultur jetzt auch in Spanien, Italienund in vielen anderen europäischen Ländern, wo sie Ver-fassungsrang hat. Den bittersten Raubbau gibt es derzeitin Griechenland.Ich bin dort gewesen: Tausende Kulturdienstleistendehaben ihren Arbeitsplatz verloren, Tausende bedeutendeAusgrabungsstätten bleiben ungesichert. Museen, Thea-ter, Konzertsäle wurden im Mutterland der abendländi-schen Kultur geschlossen.Was nutzt der Kultur der Schutz einer Verfassung,wenn die Finanzen nach dem Motto „Wo die Dukatenfehlen, hat der Kaiser sein Recht verloren“ verweigertwerden? Ich begrüße es ausdrücklich, dass der DeutscheKulturrat eine Initiative zur Rettung der Kultur in Grie-chenland starten will, und ich hoffe auf die Unterstüt-zung aller Beteiligten.
Der Ruf nach einem Sicherungsstatus der Kultur imGrundgesetz bleibt blanker Formalismus, wenn keineTaten folgen.
Vergessen wir nicht: Als die Sozialdemokraten – derheutige Antragsteller – mit den Grünen in der Regie-rungsverantwortung waren, haben sie den Kulturetat um4 Prozent gekürzt. Mit dem Beginn der Regierungszeitvon Angela Merkel hingegen wurde der Kulturhaushaltachtmal in Folge erhöht. Mit 1,3 Milliarden Euro wurdevonseiten des Bundes noch nie so viel Kulturförderungbetrieben wie in diesem Jahr.Dieser Rekord trägt einen Namen: Bernd Neumann,der zuständige Staatsminister.
Vergessen wir nicht: Als Rot-Grün Regierungsverant-wortung trug, wurden die Mittel für die Künstlersozial-kasse um 20 Prozent eingestrichen, wurde der DeutschenWelle massiv der Geldhahn zugedreht, wurden Goethe-Institute geschlossen. Mit dieser fatalen Entwicklung ha-ben wir vor acht Jahren Schluss gemacht.
Wir von der Union haben den Rückwärtsgang heraus-genommen und der Kultur in Deutschland wieder Per-spektiven gegeben. Museen, Musik- und Filmförderungprofitieren mit über 200 Millionen Euro jährlich davon.Die Kulturstiftung, die Gedenkstätten haben allein inden letzten drei Jahren 150 Millionen Euro für Denkmä-
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Wolfgang Börnsen
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ler von nationaler Bedeutung erhalten. Davon profitierenauch die 37 Weltkulturerbestätten unseres Landes. Be-sonders Kinder und Jugendliche gewinnen im Rahmender kulturellen Bildung durch zusätzliche Mittel von30 Millionen Euro jährlich.
Das ist eine Tat, die sich sehen lassen kann.
Auch die Kultur- und Kreativwirtschaft hat von dieserPolitik des Handelns profitiert. Als wir vor gut fünf Jah-ren unter Führung von Dagmar Wöhrl konzeptionellaktiv wurden, registrierte man in der Kreativwirtschaftungefähr 190 000 Unternehmen mit 760 000 Erwerbstä-tigen. Heute setzt die Branche mehr als 135 MilliardenEuro um, kann mit 960 000 Arbeitsverhältnissen und290 000 Unternehmen bei etwa 25 Prozent Selbstständi-gen einen Bruttoertrag erwirtschaften, der bereits höherist als der von der Automobilindustrie und von der Elek-troindustrie. Das nenne ich Dynamik pur.
Der Parlamentarische Staatssekretär Hans-JoachimOtto, der hier engagiert tätig ist, bezeichnet die Kreativ-wirtschaft zu Recht als einen herausragenden Jobmakerunseres Landes – und das alles ohne Verfassungsauftrag.Vergessen wir nicht: In der rot-grünen Epoche wurden44 Millionen Euro in der auswärtigen Kultur- und Bil-dungspolitik gestrichen. Heute können wir von einemPlus in Höhe von 127 Millionen Euro ausgehen. KeinStaatsziel hat uns dazu aufgefordert. Nein – wir glaubenan die Sinnstiftung der Kultur. Sie macht Menschenstark, und unsere Demokratie braucht starke Bürger. Dasist unser Wille, Kultur zu fördern.
Die bürgerliche Koalition ist in dieser Frage einerAuffassung. Das gilt auch für die auswärtige Kulturpoli-tik, für die Außenminister Guido Westerwelle und dieStaatsministerin Cornelia Pieper stehen. KonsequenteMittelerhöhung und gute Konzepte belegen unsereErnsthaftigkeit in diesem Politikbereich. Die Kultur-szene kann sich auf uns verlassen. Trotz mancher Fehlermachen wir doch vieles richtig. Völlig falsch ist der hiervermittelte Eindruck, die Kultur sei schutzlos und ohneRechte in unserem Land, im Gegenteil – Jerzy Montaghat bereits darauf aufmerksam gemacht –:Erstens. Unser Grundgesetz garantiert in Art. 5 dieFreiheit von Kunst und Wissenschaft – einklagbar.Zweitens. Der Art. 167 des Vertrages über die Euro-päische Union unterstreicht die einzigartige Bedeutungder Kultur – das ist rechtsklar.
Drittens. 15 unserer Bundesländer, bei denen die ei-gentliche Kulturhoheit liegt, garantieren der Kultur Ver-fassungssicherheit – auf dem Papier. Wie sieht denn dieRealität aus? Das Verfassungsgebot hindert elf Bundes-länder derzeit nicht daran, aktuell und wiederholt zumTeil erhebliche Kürzungen bei der Kultur vorzunehmen.
Bei diesen Ländern wäre, sarkastisch bemerkt, ein Zu-satzartikel wünschenswert: Die Kultur muss vor demStaat geschützt werden.Viertens. Wer Rechtssicherheit für die Kultur an-mahnt – und das ist richtig –, der sei an den Art. 35 desEinigungsvertrages erinnert, in dem Deutschland klar,konsequent und einklagbar als Kulturstaat bezeichnetwird. Auf diesen Rechtshintergrund der Kultur kannman sich berufen.Kultur hat nicht nur auf den genannten vier EbenenVerbündete, sondern auch in den vielen Millionen Men-schen unseres Landes, die aktiv Kultur betreiben odergenießen. Die Kultur bleibt eine der größten, großartigs-ten Bürgerbewegungen unseres Landes. Das macht Mut.Doch unabhängig davon gibt es bei uns in der Unioneine Reihe von Abgeordneten, die für das alleinigeStaatsziel Kultur eintreten, so wie es die Enquete-Kom-mission „Kultur in Deutschland“ angeregt hat. Ich ge-höre dazu, auch der zuständige Staatsminister.
Wenn in unserer Verfassung der Schutz der natürlichenLebensgrundlagen und der Tiere garantiert wird, dannmuss es auch einen Platz geben für die geistig-ideellenLebensgrundlagen der Menschen.
Das ist der Kernpunkt bei der Überlegung, die Verfas-sung zu ändern. Hier weist das Grundgesetz mehr als ei-nen Schönheitsfehler auf. Doch ich bleibe dabei: An denTaten erkennt man die wahren Kulturförderer. Trotzklammer Kasse wollen wir von der CDU/CSU auf einMehr für die Kultur auch im achten Jahr nicht verzich-ten.Was die Sozialisten jetzt in Frankreich praktizieren,müssen wir bei uns in Deutschland verhindern.
Auf jeden Fall gilt – nach diesem Applaus will ich dasnoch einmal wiederholen –: Was die Sozialisten jetzt inFrankreich praktizieren, –
Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kom-men.
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– müssen wir bei uns verhindern. – Es kommt nicht
noch ein drittes Mal, Herr Präsident, zwei Mal genügen.
Mit Schaufensteranträgen helfen wir weder dem Sport
noch der Kultur. Wir sollten uns ernsthaft mit dieser
Frage auseinandersetzen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/10644 und 17/6152 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/10785 soll
ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch
strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Innen-
ausschuss, die Fraktionen der SPD und Die Linke wün-
schen Federführung beim Ausschuss für Kultur und
Medien.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktionen der SPD und Die Linke, also
Federführung beim Kulturausschuss. Wer stimmt für
diesen Überweisungsbeschluss? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Grü-
nen gegen die Stimmen von SPD und Linken abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen, Federführung beim Innenausschuss. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen?
Ich werde gerade darauf hingewiesen, dass es bei den
Grünen in beiden Abstimmungen ein unterschiedliches
Abstimmungsverhalten gegeben hat.
Eine Abgeordnete stimmte jeweils anders als die ande-
ren anwesenden Grünen. Der Überweisungsvorschlag ist
im Übrigen mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
– Drucksache 17/10748 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Ralf Brauksiepe für die Bundes-
regierung das Wort.
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBundesregierung legt dem Hohen Haus heute den Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften BuchesSozialgesetzbuch vor. Der Titel klingt unauffällig, derInhalt ist es aber nicht: Was wir Ihnen vorlegen, bedeutetfür die Kommunen im mittelfristigen Finanzplanungs-zeitraum, von 2013 bis 2016, eine Entlastung um18,5 Milliarden Euro. Eine vergleichbare Entlastung hates noch nie gegeben. Das ist christlich-liberale Regie-rungsarbeit.
Zur Einordnung macht es Sinn, einen Blick in die Ge-schichte zu werfen: Die Grundsicherung im Alter ist imZusammenhang mit einem Verzicht auf den sogenanntenUnterhaltsrückgriff bei Menschen, die auf Unterstützungim Alter angewiesen sind, eingeführt worden. Damalswar klar, dass dies mit finanziellen Mehrbelastungen fürdie Kommunen verbunden sein würde. Die im Jahr 2001in Opposition befindliche CDU/CSU-Fraktion hat dassehr deutlich kritisiert. Es lohnt sich, gelegentlich in al-ten Protokollen zu lesen. Die Abgeordnete Lotz von derSPD-Fraktion erklärte damals wörtlich:Die den Kommunen dadurch entstehenden Kostenwerden vom Bund getragen. Die Kommunen wer-den also nicht belastet, wie es die CDU/CSUfälschlicherweise in ihrem Entschließungsantragbehauptet.Das Protokoll vermerkt: Beifall bei SPD und Grünen.Was steckte damals dahinter? Die damalige Regie-rung war der Meinung, dass die Kommunen eine Kom-pensation in Höhe von 600 Millionen D-Mark für dengrundsicherungsbedingten Mehraufwand erhalten soll-ten. Im Vermittlungsausschuss ist es gelungen, dieseSumme auf 800 Millionen D-Mark, 409 Millionen Euro,zu erhöhen. Mehr war damals gegen die rot-grüne Bun-
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Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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desregierung nicht drin. Zum Vergleich nenne ich dieGesamtkosten, die für die Grundsicherung im Alter undbei Erwerbsminderung entstehen. Die aktuellste Istzahl,die uns vorliegt, stammt aus dem Jahr 2010. Damals wa-ren es gut 4,1 Milliarden Euro. Für dieses Jahr rechnenwir mit Gesamtkosten von 4,8 Milliarden Euro. Davonwollte Rot-Grün 307 Millionen Euro erstatten – amEnde waren es 409 Millionen Euro –, also weniger als10 Prozent.Wir legen nun einen Gesetzentwurf vor, nach dem derBund die Kosten im nächsten Jahr zu 75 Prozent undvom übernächsten Jahr an zu 100 Prozent übernimmt.Also weniger als 10 Prozent Übernahme der Kosten derKommunen – das war Rot-Grün; 100 Prozent – das sindCDU/CSU und FDP, die christlich-liberale Koalition.Das ist der Unterschied in Bezug auf die kommunalenFinanzen.
Der inhaltliche Schwerpunkt des Gesetzentwurfs istdamit beschrieben. Es geht um die Erstattung der laufen-den Nettoausgaben der Kommunen: vom Jahr 2013 anzu 75 Prozent und vom Jahr 2014 an zu 100 Prozent.Schon in diesem Jahr hat der Bund seine Zusage wahrge-macht und 45 Prozent dieser Kosten übernommen. In derrot-grünen Zeit wäre dies, wie gesagt, ein einstelligerProzentsatz gewesen.Die Länder können die Mittel, wenn dieser Gesetzent-wurf in Kraft tritt, direkt aus dem Bundeshaushalt abru-fen. Das ist die verfassungsrechtlich vorgesehene Art derMittelzuteilung. Das heißt, der Bund hat die Länder alsAnsprechpartner. Aber klar ist – das möchte ich aus-drücklich für die Bundesregierung betonen –: Wir habendiesen Gesetzentwurf vorgelegt, um die Kommunen fi-nanziell zu entlasten.
Das heißt, es geht darum, dass diese Gelder von denLändern an die Kommunen weitergeleitet werden. Dasist unser ausdrücklicher politischer Wille.Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs liegtbei der Weiterentwicklung der Grundsicherungsstatistik,die die Voraussetzung dafür ist, dass die laufenden Net-toausgaben überhaupt erstattet werden können. Ich habedarauf hingewiesen: Wir haben in diesem Jahr die Kos-ten des Vorvorjahres zu 45 Prozent erstattet; das sind dieaktuellsten Zahlen, die uns vorliegen. Für das letzte Jahrhaben wir bisher nur eine Kostenschätzung. Wenn mandie laufenden Ausgaben direkt erstatten will, brauchtman eine solche Weiterentwicklung der Statistik.Außerdem ist im Gesetzentwurf vorgesehen, dass dieLänder die Träger der Leistung, also der Grundsicherungim Alter und bei Erwerbsminderung, bestimmen.Das sind die wesentlichen inhaltlichen Schwerpunktedieses Gesetzentwurfes, der bereits im Bundesrat behan-delt worden ist. Über fachliche Änderungen, die auchaus Sicht der Bundesregierung durchaus möglich sind,wird gesprochen. Wir sind da sehr gesprächsbereit. Beiweitergehenden Forderungen, die über das unmittelbarFachliche hinausgehen, will ich allerdings darauf hin-weisen, dass wir natürlich das Transparenzgebot beach-ten müssen. Das heißt, wenn der Bund vom übernächs-ten Jahr an diese Leistung zu 100 Prozent finanziert,muss er auch die Möglichkeit haben, festzustellen, wasals Grundlage für diese Leistung genommen werdensoll. Dafür brauchen wir eine entsprechende Statistik.Zudem muss die erforderliche Transparenz vorhandensein. Anders ist es, wenn Bundesgeld fließen soll, nichtmöglich.Ich bin aber ganz sicher: Die Einsicht in diese Not-wendigkeiten wird sich durchsetzen, und wir werden zueinem guten Ergebnis kommen. Dieses Ergebnis heißtzunächst einmal – das will ich als Sozialpolitiker beto-nen –: Würdevolles Leben im Alter ist in Deutschlandmit der Grundsicherung im Alter als unterster Sicherunggarantiert.
Darüber hinaus wollen wir Menschen, die lange Vollzeitgearbeitet haben und wichtige familienpolitische Leis-tungen erbracht haben, besserstellen. Darüber diskutie-ren wir noch politisch. Aber diese Auffanglinie, die einwürdevolles Leben im Alter – natürlich nicht mit üppi-gen Mitteln,
aber eben in Würde – ermöglicht, ist garantiert.Klar ist auch: Die christlich-liberale Koalition hältWort. Die christlich-liberale Koalition hat geliefert. Sieentlastet die Kommunen um 18,5 Milliarden Euro in die-sen fünf Jahren. Sie übernimmt die Kosten der Grund-sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung komplett.Die christlich-liberale Koalition legt damit die größteEntlastung der Kommunen in ihrer Geschichte vor.Ich bitte dafür um Zustimmung.
Das Wort hat nun Bernd Scheelen für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich bin erkennbar nicht Gabi Hiller-Ohm; das nurzur Aufklärung. Wir haben getauscht. Ich hoffe, Sie ha-ben nichts dagegen.
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Bernd Scheelen
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Ich bin froh, dass ich jetzt direkt auf die Ausführun-gen des Kollegen Brauksiepe antworten kann; denn das,was Sie hier vorgetragen haben, Herr Kollege Brauksiepe,ist absolute Geschichtsklitterung. Das wissen Sie auch.
Ich kann Ihnen erzählen, was damals unter Rot-Grünpassiert ist. Wir haben ein Problem gelöst, das Sie in16 Jahren unter Helmut Kohl nicht gelöst haben. Sie ha-ben für die Kriegerwitwen – das war damals die Pro-blemgruppe – nichts getan. Diese Frauen waren durchdie Erziehung von Kindern und andere Umstände über-haupt nicht in der Lage, Rentenansprüche zu erwerben.Sie haben sich meist nicht getraut, zum Sozialamt zu ge-hen – damals musste man noch zum Sozialamt gehen,um eine Art Grundsicherung zu bekommen –, weil beider Sozialhilfe der Rückgriff auf die Kinder vorgesehenist. Daher sind viele aus Scham nicht zum Sozialamt ge-gangen und mussten mit weniger als dem damaligen So-zialhilfesatz auskommen.Dieses Problem sind wir gemeinsam mit den Grünenangegangen, und wir haben es gelöst. Wir haben für eineidentifizierte Gruppe von etwa 300 000 Personen, haupt-sächlich Frauen, diese Regelung getroffen und haben ge-nau für diese Gruppe das Geld geliefert. Das waren da-mals 800 Millionen D-Mark; das war noch zu D-Mark-Zeiten. Genauso war das, Herr Kollege Brauksiepe. Ichwar dabei; ich bin einer von denen, die schon ein biss-chen länger in diesem Hause sind. Ich kann mich nochsehr gut daran erinnern.
Das war damals eine Beteiligung an den Gesamtkos-ten von erst 13 Prozent und später von 16 Prozent. Siestellen sich jetzt hier hin und sagen: Seht mal, die Sozishaben damals nur 10 bis 13 Prozent gegeben, wir über-nehmen jetzt 100 Prozent. – Dazu sollte man wissen,dass Sie das, was Sie hier vorlegen, gar nicht freiwilligmachen. Das war doch gar nicht Ihre Idee.
Das ist auf Druck der sozialdemokratisch geführten Lan-desregierungen und auf Druck der linken Hälfte diesesHauses auf den Weg gebracht worden. Ohne uns könntenwir heute nicht hier stehen. Sie sind von sich aus nichtmit einer Initiative gekommen, die Grundsicherung zuübernehmen, ganz im Gegenteil. Das wurde aufgrundder Verhandlungen zum Bildungs- und Teilhabepaketnotwendig. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket warnicht Ihre Idee. Vielmehr hat Sie ein Urteil des Bundes-verfassungsgerichts gezwungen, etwas für Kinder vonHartz-IV-Empfängern zu tun, damit sie bessere Bil-dungschancen bekommen.
Freiwillig haben Sie überhaupt nichts gemacht.
Dann brauchten Sie dafür die Zustimmung der Länder.Diesen Hebel haben die Länder genutzt, um Ihnen dieBeteiligung an den Kosten der Grundsicherung aufsAuge zu drücken und die Entlastung der Kommunen vo-ranzutreiben. Sie haben dem zugestimmt; das ist auchgut so. Aber das war das Ergebnis der Arbeit eines Ver-mittlungsausschusses. Das war keine Initiative Ihrer-seits.
Parallel dazu haben Sie damals eine Kommission ein-gerichtet – das hatten Sie in Ihrem Koalitionsvertragfestgelegt –, die sogenannte Gemeindefinanzkommis-sion. Ihr Auftrag war – das steht so in Ihrem Koalitions-vertrag –, Vorschläge zu erarbeiten, um die Gewerbe-steuer zu ersetzen; das war ihr einziger Auftrag. DieseKommission hat getagt und festgestellt, dass man dieGewerbesteuer nicht ersetzen kann. Damit war sie ei-gentlich gescheitert. Sie war tot, sogar toter als tot. Nur:Sie hatten nicht den Mut, sie zu beerdigen. Es kam Ihnenzupass, dass zeitgleich im Vermittlungsausschuss aufDruck der SPD-geführten Landesregierungen die Betei-ligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherung imAlter vereinbart wurde. Da hatten Sie die Idee: Wir kön-nen die Entscheidung darüber ja noch ganz schnell andie Kommission weiterleiten. Dann kann sie dem zu-stimmen, und das verkaufen wir als Riesenerfolg dieserKommission. – Genau das war der Versuch, den Sie un-ternommen haben. Er ist aber total gescheitert, Herr Kol-lege Brauksiepe. Das, was ich gerade gesagt habe, ist dieWahrheit. Das, was Sie gesagt haben, ist gelogen.
– Ich nehme das Wort „gelogen“ zurück und sage: Eswar die Unwahrheit. Das ist, glaube ich, parlamentarischbesser ausgedrückt.Ich nehme an, dass der vorliegende Gesetzentwurfeine Mehrheit bekommt; das ist auch gut so. „Heute istfür die Kommunen ein guter Tag“ – mit diesem Satzwollte ich meine Rede eigentlich beginnen;
aber Sie haben mich gereizt, erst einmal klarzustellen,was in der Vergangenheit war.
Heute ist für die Kommunen, wie gesagt, ein guter Tag.
Aber damit haben Sie eigentlich gar nichts zu tun. Alldas geschah nämlich auf Betreiben der linken Seite die-ses Hauses und des Bundesrates;
ohne die wäre das nicht gegangen.
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Bernd Scheelen
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In den Gesetzentwurf, den wir voriges Jahr auf denWeg gebracht haben und in dem es um die erste Stufeder Entlastung der Kommunen, nämlich die Entlastungfür dieses Jahr, ging, haben Sie einen Trick eingebaut,um dafür zu sorgen, dass die Belastung der Kommunenetwas höher ausfällt. Sie haben nämlich gesagt: Wir er-statten nur auf der Basis des Vorvorjahres. – Wenn manweiß, dass diese Leistung dynamisch steigt, und zwarum 5 Prozent pro Jahr, dann kann man sich leicht aus-rechnen, dass bei den Kommunen, wenn man auf Basisdes Vorvorjahres erstattet, immer 10 Prozent der Belas-tung verbleiben. Diese Regelung widersprach der Ver-einbarung, die im Vermittlungsausschuss getroffenwurde. In ihr war nämlich von einer 100-prozentigen Er-stattung die Rede. Ihr Abrechnungsverfahren hingegenführte nur zu einer 90-prozentigen Erstattung. Das habenwir damals kritisiert; das können Sie in den Protokollennachlesen. Wir haben dem Gesetzentwurf, der im vori-gen Jahr auf den Weg gebracht wurde und in dem nurRegelungen im Hinblick auf dieses Jahr getroffen wur-den, zugestimmt, allerdings verbunden mit der Auffor-derung: Regelt die Lücke, die da übrig bleibt! – Das ha-ben Sie von sich aus nicht gemacht.Im Sommer dieses Jahres haben Sie dem Kabinett ei-nen Referentenentwurf zugeleitet, in dem immer nochdas alte Abrechnungsverfahren angewandt wurde –
bis die Verhandlungen zum Fiskalpakt anstanden.
Da haben Ihnen die SPD-geführten Landesregierungenund die linke Seite dieses Hauses wieder etwas aufsAuge gedrückt. Weil Sie unsere Zustimmung zum Fis-kalpakt brauchten, haben Sie unserer Forderung, das Ab-rechnungsverfahren auf sofortige Erstattung umzustel-len, zugestimmt. Allerdings haben Sie sich ein letztesHintertürchen offen gelassen, um ein bisschen Geld zusparen: Die sofortige Erstattung soll so erfolgen, dass dieLänder in einem Dreimonatsrhythmus Geld abbuchenkönnen. Ich würde uns empfehlen, im Zuge der Beratun-gen dieses Gesetzentwurfes noch einmal auf diesen As-pekt zu sprechen zu kommen. Wir sollten überlegen, obwir vielleicht zu einer monatlichen Abrechnung überge-hen. Das ist ein Verfahren, das sich beispielsweise beimWohngeld sehr bewährt hat. Es funktioniert und führtdazu, dass die Kommunen zu 100 Prozent entlastet wer-den.Durch die Maßnahmen, die wir heute beschließen,entlasten wir die Kommunen zukünftig in einer Größen-ordnung von über 5 Milliarden Euro pro Jahr; das ist gutso. Aber damit ist das Ende der Fahnenstange noch nichterreicht. Wir müssen auch über die weiteren Verabredun-gen, die im Rahmen des Fiskalpaktes getroffen wordensind, sprechen. Für die nächste Legislaturperiode sindweitere Entlastungen in genau diesem Bereich geplant,insbesondere bei der Eingliederungshilfe für Behinderte.Ich bin sehr gespannt, ob wir auch dann zu einer Eini-gung kommen. Im Interesse der Kommunen hoffe ich essehr.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitder Drucksache 17/8606 haben wir – es ist noch garnicht so lange her – am 1. März dieses Jahres eine De-batte zum Antrag der Linken mit dem Titel „Bundesmit-tel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter undbei Erwerbsminderung 1:1 an Kommunen weiterrei-chen“ geführt.
Obwohl ich mich gut daran erinnere, habe ich mir nocheinmal die Protokolle der damaligen Debatte angesehen.In der Tat hat mich meine Erinnerung nicht getäuscht: Inder Debatte vom 1. März dieses Jahres haben alle Red-nerinnen und Redner der Opposition mal mehr, mal we-niger deutlich infrage gestellt, dass diese Regierungs-koalition zu der im Vermittlungsverfahren zum Thema„Leistungssätze im Sozialgesetzbuch II“ getätigten Zu-sage steht, die Kosten der Grundsicherung im Alter voll-ständig von den Kommunen zu übernehmen.Ich zitiere beispielsweise die Kollegin Hiller-Ohm.Sie sagten damals:Sie– die Kommunen –können zwar mit der für dieses Jahr geplanten Ent-lastung von 1,2 Milliarden Euro rechnen, jedochfehlt ihnen für die nachfolgenden Jahren schlichtdie Planungssicherheit.
Das war schon damals nicht richtig, und heute zeigenwir Ihnen, wie falsch Sie damals lagen.Wir haben den Kommunen die Zusage gemacht, undwir halten uns daran. Zusagen zu halten, ist ein Merkmalchristlich-liberaler Politik.
Ihre unbegründete Panikmache hat die Kommunen ver-unsichert. Das Handeln der Regierung sorgt für Gewiss-heit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23693
Pascal Kober
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Wir haben 2011 angekündigt, dass der Bund bis zumJahr 2014 seine Beteiligung an den Kosten der Grund-sicherung im Alter in drei Schritten bis hin zu einer voll-ständigen Erstattung erhöht. Dass wir dies umsetzen,stand, im Gegensatz zu dem, was Sie als Oppositionspar-teien uns unterstellt haben, nie infrage.Ich habe Ihnen in der Debatte im März schon erläu-tert, weshalb mit dem ersten gesetzgeberischen Schritt,der Übernahme der Kosten, nicht die vollständige Über-nahme geklärt werden konnte. Ich erkläre es Ihnen auchheute gerne noch einmal:Mit der Kostenübernahme der Grundsicherung hängtdie Einrichtung der Bundesauftragsverwaltung zusam-men. Sie tritt nach Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 des Grundge-setzes dann ein, wenn der Bund einen mindestens hälfti-gen Anteil an den Ausgaben erstattet. Die Einrichtungder Bundesauftragsverwaltung bedarf einiger Regelun-gen und Änderungen. Sie bedarf der Verankerung vonPrüf- und Weisungsrechten des Bundes und der Einfüh-rung und Umsetzung einer ganzen Reihe von Regelun-gen. Das hat seine Zeit gebraucht, aber das haben wirheute zum Abschluss gebracht.Am 1. März 2012 habe ich Ihnen in der Debatte auchgesagt:Wir werden … in diesem Jahr die Voraussetzungenfür die Kostenübernahme in den kommenden Jah-ren schaffen.Heute können wir Ihnen das Ergebnis vorlegen.
Mit diesem Gesetzentwurf – der StaatssekretärBrauksiepe hat darauf schon hingewiesen – erhöhen wir,genau so wie gegenüber den Kommunen zugesagt, dieBundesbeteiligung für das Jahr 2013 auf 75 Prozent undab dem Jahr 2014 auf 100 Prozent. Daraus ergibt sich inden Jahren bis 2016 eine Entlastung für die Kommunenin Höhe von 18,5 Milliarden Euro. Das ist eine gewal-tige Leistung, die der Bund hier von den Kommunenübernimmt, eine Leistung, die in der Geschichte ihres-gleichen sucht. Dies zeigt, dass sich die Kommunen aufdiese christlich-liberale Bundesregierung verlassen kön-nen.
Diese Entlastung wird dauerhaft sein. Dies bedeutet,dass die Kommunen dauerhaft und nachhaltig entlastetwerden. Durch den demografischen Wandel werden dieKosten der Grundsicherung im Alter künftig eher nochweiter steigen; das wissen wir alle. Durch unseren Ge-setzentwurf bleiben diese zusätzlichen Kosten in Zu-kunft aber nicht bei den Kommunen hängen, sondernwerden vom Bund getragen.Zudem haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen, dassdie Berechnungsgrundlage für die Erstattungszahlungendie Nettoausgaben des Jahres sein werden, in dem dieErstattung gezahlt wird. Bisher war das so nicht vorgese-hen, sodass Grundlage weiterhin die Nettoausgaben desVorvorjahres gewesen wären. Es ist gut, dass diese Än-derung möglich war. So bekommen die Kommunenschneller die tatsächlich entstandenen Kosten erstattet.Unsere Politik bedeutet eine echte Entlastung derKommunen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ge-fährden mit Ihrer Politik die finanzielle Basis der Kom-munen. Was wir derzeit allenthalben von Ihnen hören,sind Forderungen nach Steuererhöhungen. Steuererhö-hungen schwächen aber in erster Linie die Wirtschaft,die dadurch weniger Gewerbesteuer zahlen kann.
Mit Ihren Forderungen nach Steuererhöhungen schwä-chen Sie die finanzielle Basis der Kommunen.Darüber hinaus bedeutet eine schwache Wirtschaftweniger Arbeitsplätze. Daraus folgen leider auch höhereSozialkosten, die die Kommunen mittragen müssen. IhreSteuererhöhungspläne haben wir, auch im Interesse derKommunen, verhindert.
Wir zeigen heute, dass wir zu Vereinbarungen stehen,und werden die Kommunen dauerhaft um Milliardenentlasten, auch wenn Sie uns das nicht geglaubt haben.Die Menschen wissen es zu schätzen.Noch eine kleine Bemerkung zu Ihnen, HerrScheelen, weil Sie ja das Bildungs- und Teilhabepaketangesprochen haben. Zur Wahrheit in der Geschichte ge-hört auch, dass Sie das Bildungs- und Teilhabepaketdurch Ihre Forderungen im Vermittlungsverfahren unnö-tig verkompliziert haben.
Es war damals die Absicht der Bundesregierung, zusam-men mit den Koalitionsfraktionen dieses Bildungs- undTeilhabepaket mit einer einheitlichen Systematik bun-desweit den Menschen zur Verfügung zu stellen, die esbrauchen. Sie haben gefordert, dass das Bildungs- undTeilhabepaket in die Hände der Kommunen gegebenwird.
Das hat dazu geführt, dass wir im Land jetzt ganz unter-schiedliche Ansätze haben, wenn es um das Bildungs-und Teilhabepaket geht. Das belastet wieder einmal dieKommunen. Es belastet vor allen Dingen die Leistungs-berechtigten und ihre Kinder. Das war unter anderem Ihr
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23694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Pascal Kober
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Beitrag in dem Vermittlungsverfahren. Darauf hätten wirgerne verzichten können.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Katrin Kunert für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn Rentnerinnenund Rentner, egal ob sie eine Rente im Alter oder eineRente wegen Erwerbsminderung bekommen, von ihrerRente nicht leben können, dann ist die Grundsicherungfällig. Es ist ausdrücklich nicht Aufgabe der Kommunen,die Grundsicherung zu zahlen, weil dies nämlich einegesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Sprich: Der Bundhat hierfür geradezustehen.
Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die kompletteKostenübernahme bei der Grundsicherung im Alter undbei Erwerbsminderung; denn die Kommunen sind in denletzten Jahren mit den Kosten alleingelassen worden.Das sage ich aus dem Wissen heraus, das ich in über20 Jahren in der Kommunalpolitik gesammelt habe.Ich habe eine Bitte, Herr Brauksiepe.
– Wahrscheinlich ist er so verliebt in seine Rede von vor-hin. –
Ich habe eine Bitte: Tun Sie bitte nicht so, als wären Sievon ganz allein auf die Idee gekommen, die Kommunenzu entlasten. Niemand in dieser Bundesregierung hat dieAbsicht, die Kommunen wirklich nachhaltig zu entlas-ten.
Was Sie hier heute präsentieren, ist das Resultat von Ver-handlungen im Vermittlungsausschuss.
2008 ging es um die Absenkung der Kosten der Unter-kunft. Dabei hat man auch über die Kosten der Grund-sicherung verhandelt.
2011 ging es erneut um das Hartz-IV-Paket. 2012 habenSie die Länder dadurch zur Zustimmung zum Fiskalpaktbewegen können, dass Sie die komplette Übernahme derKosten zugesichert haben.Sie haben weder Plan A noch Plan B. Sie verhaltensich wie auf einem Basar. Ihnen geht es gar nicht um dieEntlastung der Kommunen, sondern Sie machen dieKommunalfinanzen immer zum Gegenstand von Ver-handlungen im Vermittlungsausschuss. Das ist einfachnicht hinnehmbar.
Ich will noch Folgendes sagen: Es ist nicht Inhalt die-ses Gesetzes, aber wer ist für die Gegenfinanzierung derKostenentlastungen bei den Kommunen zuständig? Werzahlt das? Das wird dann bei den Geldern für die Bun-desagentur für Arbeit abgeschmolzen. Das wiederum be-deutet, dass Erwerbslose diese Zeche zahlen, weil dannweniger Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt möglichsind. Auch das ist für uns nicht hinnehmbar. Das kritisie-ren wir ausdrücklich.
Ich will etwas zum Gesetzentwurf sagen; denn er istan einigen Stellen in jedem Falle nachzubessern. Derzeitgibt es laut § 29 SGB XII die Möglichkeit, örtlich ab-weichende Regelsätze zu zahlen. Das macht derzeit dieStadt München. Da die Lebenshaltungskosten sehr hochsind, zahlt die Stadt zusätzlich Geld. Derzeit sind dasdort für eine einzelne Person 393 Euro, also 19 Euromehr als der bundesweit geltende Regelsatz. Allein inder Stadt München sind das 15 466 Personen. DieseMöglichkeit des örtlich abweichenden Regelsatzes wol-len Sie mit diesem Gesetzentwurf streichen. Das haltenwir für ein Problem. Wir möchten gern, dass diese Mög-lichkeit beibehalten wird.
Es ist im Übrigen auch sehr interessant, dass Sie beiden Regelsätzen sagen: Wir wollen keine differenzierteHerangehensweise, sondern für alle die gleiche. Bei denKosten der Unterkunft allerdings lassen Sie die regionalunterschiedlichen Richtlinien gelten, weil Sie sehr wohlwissen, dass die restriktiven Richtlinien der Kommunenzum Teil nicht immer im Sinne der Betroffenen sind.Das muss man hier wirklich sehr kritisch hinterfragen.
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will: Sie ver-sprechen den Kommunen eine tatsächliche Entlastung.Ich frage Sie aber, wie Sie das regeln wollen, wenn Siebei der Weiterleitung der Gelder an die Länder nicht da-für sorgen – die Verantwortung dafür verneinen Sie aus-drücklich –, dass diese die Gelder an die Kommunenweiterreichen. Hier gibt es keine bundesrechtliche Rege-lung. Diese fordern wir im Sinne der Kommunen ein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23695
Katrin Kunert
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Zum anderen bleiben die Kommunen auf Kosten sit-zen, nämlich auf Verwaltungs- und Personalkosten. ImLandkreis Märkisch-Oderland werden derzeit die Perso-nal- und Verwaltungskosten auf 200 000 Euro beziffert.In Erwartung der Anzahl der Arbeitslosengeld-II-Bezie-henden, die dann in die Grundsicherung fallen, verdop-peln sich die Kosten für Personal und Verwaltung. Dashaben Sie in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht gere-gelt. Darüber sollten wir in jedem Fall noch einmal re-den.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im nächsten Jahrbetragen die Kosten für die Grundsicherung in der Bun-desrepublik, so die Zahlen der Bundesregierung,3,1 Milliarden Euro. Im Jahre 2016 geht der Bund von5,46 Milliarden Euro aus. Hinter dieser Steigerung ver-bergen sich viele Menschen, die in ihrem Lebensalterdarauf angewiesen sein werden, Grundsicherung zu be-ziehen. Das muss uns doch eigentlich alle alarmieren,damit wir endlich die Grundlagen dafür schaffen, dassMenschen mit ihrer Hände Arbeit eine armutsfreie Renteerarbeiten können.
Damit kommen wir automatisch zum gesetzlicheneinheitlichen Mindestlohn in der Bundesrepublik. Ichdenke, das ist eine der Grundlagen, um Grundsiche-rungsnehmerinnen und -nehmer, wenn ich das so sagendarf, zu vermeiden.Ein weiterer Punkt ist, dass wir eine vernünftige Ren-tenversicherung auf den Weg bringen müssen, die solide,gerecht und solidarisch ausgestaltet ist. Hierzu sagt dieLinke erstens ganz deutlich: Eine Rente muss zum Le-ben reichen. Das heißt auch, dass das Rentenniveau wie-der angehoben werden muss.
Alle Fraktionen nehmen in Kauf, dass sich dieses Niveauin den nächsten Jahren immer weiter verringert. Dasproduziert wiederum Armut im Alter, und das ist die Ur-sache für die späteren Kosten der Grundsicherung.Zweitens fordert die Linke, alle Kürzungen aus derRentenanpassungsformel zu streichen.Drittens fordern wir nach über 20 Jahren deutscheEinheit, dass die Renten in Ost und West endlich ange-glichen werden.Als letzten Punkt zur Rentenversicherung fordern wir,dass die Rente mit 67 abgeschafft wird. Wir hoffen, dasssich auch die SPD dazu durchringen kann.
Wenn wir diese ganzen Maßnahmen im Voraus grei-fen lassen, dann können wir Grundsicherung im Alterund bei Erwerbsminderung verhindern.
Denn Menschen, die ihr ganzes Leben lang arbeiten,müssen ihren Lebensabend würdevoll verbringen dür-fen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ichfange erst einmal damit an, dass der Gesetzentwurf einpositives Ergebnis für die Städte und Gemeinden ist. An-gesichts der Tatsache, dass in den Kommunen jährlich42 Milliarden Euro für soziale Aufgaben ausgegebenwerden – diese Zahl ist in den letzten Jahren dramatischgestiegen, nämlich von 26 Milliarden Euro auf 42 Mil-liarden Euro –, ist die Entlastung bei der Grundsicherungim Alter, für die demnächst der Bund zu 100 Prozent dieKosten übernimmt, sehr positiv. Das begrüßen auch wirGrünen; denn es führt zu einer erheblichen Entlastungder Kommunen gerade bei den sozialen Kosten.
Das ist so, und das ist gut.Dennoch, Herr Brauksiepe, war Ihre Rede sehr pein-lich. Hier so zu tun, als wäre Schwarz-Gelb auf die Ideegekommen, dieses Ergebnis zu erzielen, ist völlig ver-kehrt. Sie wissen es besser. Ich habe mich beim Zuhörengefragt, was die Menschen aus den Ländern, Städten undGemeinden denken, wenn sie eine so peinliche Rede hö-ren, in der auch noch zehnmal gesagt wird: Gäbe esSchwarz-Gelb nicht, wäre das nicht passiert.Jeder und jede, die sich mit der Materie beschäftigen,weiß, dass das ein Ergebnis des Vermittlungsausschussesbzw. des Bundesrates, des Drucks der Städte und Ge-meinden und der Verhandlungen der rot-grünen Ländermit der schwarz-gelben Bundesregierung war. Sonstwäre nichts dabei herausgekommen.
– Herr Grund, ich weiß, dass es für Sie schrecklich ist,das zu ertragen. –
Das Ergebnis der Gemeindefinanzkommission war:nichts. Sie konnten kein Ergebnis vorlegen.Dann ist im Rahmen der Verhandlungen über das Bil-dungs- und Teilhabepaket gesagt worden: Die Kommu-
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23696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Britta Haßelmann
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nen müssen entlastet werden. Das ist auch richtig, unddabei erwarte ich von Ihnen ein bisschen Größe, HerrBrauksiepe. Können Sie nicht einfach sagen: „Hier ha-ben wir als Parteien und Fraktionen, Bund und Länderzusammen, etwas Gutes für die Kommunen gemacht“?Nein, er muss das Lied von der schwarz-gelben Erfolgs-geschichte singen. Das ist so peinlich; das geht dochnicht.
Sie wissen genau, dass es in der Gemeindefinanzkom-mission kein Ergebnis gab. Sie haben zwei Jahre dafürgebraucht, den Gesetzentwurf vorzulegen. Dass die Ent-lastung kommt, allerdings in zwei Schritten, ist, wie ge-sagt, positiv.Nun zu Ihnen, Herr Kober: Sie haben, glaube ich, et-was verwechselt. Das Kooperationsverbot, das im Ge-gensatz zu uns Grünen von Ihnen mitbeschlossen wurde,verhindert, dass der Bund das Bildungs- und Teilhabepa-ket direkt mit den Kommunen beschließt. Das war dochimmer unsere grüne Kritik. Jetzt haben Sie das Paket alsein Riesenmonster voller Bürokratie und mit hohen Ver-waltungskosten geschaffen, das nicht direkt bei den Kin-dern und Familien, die es brauchen, ankommt. Sie abersagen jetzt: Rot-Grün wollte doch, dass das über dieLänder abgewickelt wird.Nichts davon wollten wir.
Das Kooperationsverbot spricht dagegen, dass der Bunddirekte Beziehungen zu den Kommunen aufnimmt. Dasist Fakt, und ich hätte erwartet, dass Sie sich ein wenigfachkundig machen, wenn Sie in dieser Debatte reden.
Das Gleiche gilt für die Problematik der Steuersen-kungen. Nicht Steuererhöhungen, sondern Steuersen-kungen belasten die Kommunen. Sie sollten einmal daskleine Einmaleins durchgehen. Seit 2008 gab es vielesteuerrechtliche Änderungen – das Wachstumsbeschleu-nigungsgesetz, das Bürgerentlastungsgesetz und dieseMövenpick-Hotelsteuer – und Funktionsverlagerungen.Das bedeutete Mindereinnahmen für die Kommunen inHöhe von 5,6 Milliarden Euro. Da sagen Sie hier, Sie be-fürchten Mindereinnahmen durch Steuererhöhungen.
Ich fasse es nicht, dass Sie nicht einmal das kleine Ein-maleins verstehen.Ich rate insbesondere der CSU und bitte die CDA-Leute in der CDU/CSU-Fraktion, sich unbedingt § 42SGB XII noch einmal anzuschauen. Der ist problema-tisch, denn § 29 SGB XII wird damit außer Kraft gesetzt.Das bedeutet – wie Frau Kunert gesagt hat – für eineStadt wie München, dass sie 19 Euro weniger Regelsatzzahlen darf, weil keine regionale Festsetzung der Regel-sätze mehr erfolgen darf. Das sollte in der Kompetenzder Länder bleiben; sie sollten sich diese Möglichkeitnicht vom Bund nehmen lassen.Das bedeutet für die Betroffenen eine erheblicheHärte. Schauen Sie sich einmal das Gutachten in Bezugauf München an. Die regionale Festsetzung von Lebens-haltungskosten und Regelsätzen ist außerordentlichwichtig, weil die Lebenshaltungskosten in einer Stadtwie München wahnsinnig hoch sind. Wenn Sie § 42SGB XII so belassen, dann wird damit § 29 SGB XII,der den Ländern den entsprechenden Spielraum gibt, au-ßer Kraft gesetzt.Das wäre für die Städte und Gemeinden und für dieBetroffenen eine dramatische Benachteiligung, weiletwa eine Stadt wie München 19 Euro weniger Regel-satz zu zahlen hätte. Das ist für die Betroffenen nichtverkraftbar; das ist unterhalb des Existenzminimums.Deshalb hoffe ich, dass wir in den Beratungen in denAusschüssen noch zu einer gemeinsamen Änderungkommen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Heute ist ein großer Tag für die Kommunen.
Ich kann Staatssekretär Brauksiepe nur beipflichten. Sietun sich mit seiner Rede nur deshalb so schwer, weil Siedie Fakten nicht vertragen können.
Es ist nun einmal eine Tatsache, dass es sich bei die-sem Gesetz um die größte Entlastung der Kommunenseit Jahrzehnten handelt.
Dieses Gesetz ist ein großer Wurf, kein Klein-Klein. Wirentlasten die Kommunen spürbar und machen einenkommunalfeindlichen Akt der Schröder-Regierung durchunsere Bundesregierung rückgängig.
Herr Scheelen, Sie werden doch – unabhängig davon,wo die Ideen für dieses Gesetz herkamen – nicht bestrei-ten können, dass Rot-Grün dieses Gesetz damals völlig
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23697
Bettina Kudla
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unsystematisch gemacht hat. Es ist unsystematisch, dieGrundsicherung, die eine Rente für diejenigen Men-schen ist, die ihre Rente nicht selbst erwirtschaften kön-nen, den Kommunen aufzubürden.
Das Gesetz hat deswegen eine so große Bedeutung,weil die Kosten sich aufgrund der demografischen Ent-wicklung beständig nach oben bewegen. Letztlich führtedie Politik der rot-grünen Regierung zu einem Tiefpunktder Kommunalfinanzen. Schauen Sie sich einmal dieStatistik an: Im Jahr 2003 hatten wir bei den Kommunal-finanzen ein Defizit von 8 Milliarden Euro. Die Kom-munen waren also schon Jahre vor der Wirtschaftskrise2008 chronisch unterfinanziert.
Die CDU/CSU hat dann in der Großen Koalition ver-sucht, dieser Entwicklung gegenzusteuern, indem sie dieBundesbeteiligung schrittweise erhöht hat.
Im Jahr 2009 wurde der Bundesanteil in jährlichenSchritten bis zum Jahr 2012 von 13 auf 16 Prozent derNettoausgaben in der Grundsicherung angehoben.
Heute liegt das wichtigste Ergebnis der von derchristlich-liberalen Koalition initiierten Gemeindefi-nanzkommission zur Beratung vor. Die Vorredner habenes bereits teilweise angesprochen: Wer plant denn nunwirklich, die Kommunen zu entlasten? Ich erinnere indiesem Zusammenhang nur daran, dass in unserem Ko-alitionsvertrag festgeschrieben war, eine Gemeindefinanz-kommission einzusetzen. Diese hat sich dann intensivmit den Themen Kommunalsteuern und Kommunal-finanzen auseinandergesetzt.
Wir haben intensiv darüber diskutiert, ob eventuell einErsatz der Gewerbesteuer für die Kommunen günstigerund attraktiver wäre. Nach Beratungen mit den Spitzen-verbänden haben wir davon abgesehen, hier eine Ände-rung herbeizuführen.
Wir haben dann im Vermittlungsausschuss das nun vor-liegende Ergebnis erzielt. Es ist schon verwunderlich,dass sich die Länder in ihrer Zustimmung zum Fiskal-pakt davon haben beeinflussen lassen. Schließlich müss-ten auch sie an soliden Finanzen interessiert sein.
Die Entlastung in Höhe von 18,5 Milliarden Euro biszum Jahr 2016 ist großartig. Besonders profitieren wer-den die strukturschwachen Kommunen, die unter Finanz-problemen leiden.
Im Grunde wird mit diesem Gesetz ein Paradigmen-wechsel im Bereich der Sozialausgaben für die Kommu-nen eingeleitet. Heute ist klar – ich bitte Sie, das zu be-achten –: Die Trendwende bei den Kommunalfinanzenist erreicht.
Wir rechnen für das Jahr 2012 mit einem Haushaltsüber-schuss in Höhe von 2,5 Milliarden Euro für die Städteund Gemeinden. Dieser Überschuss wird gemäß der Fi-nanzplanung des Bundes bis zum Jahre 2016 auf5,5 Milliarden Euro ansteigen. Mit ausgeglichenen Haus-halten bzw. mit einem Überschuss können die Kommu-nen wieder deutlich mehr in die Infrastruktur, auch inSchulen, investieren.
Noch etwas ist von Bedeutung. Das Gesetz zeigt, dasswir wieder systematisch vorgehen. Die Themen Renteund Absicherung im Alter sind von zentraler Bedeutungfür die Menschen.
Für die Bundesregierung steht die Politik für die Men-schen an vorderster Stelle. Die Menschen haben nunmehr Sicherheit, da die Grundsicherung nicht mehr vonder Finanzstärke einer Kommune abhängig ist. DerBund steht jetzt dafür gerade. Es ist auch eine sachlogi-sche Politik für die verschiedenen staatlichen Ebenen.Kommunen und Länder brauchen eine adäquate Finanz-ausstattung, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Übri-gens würden mit der Beschlussfassung zum Steuerab-kommen mit der Schweiz weitere Milliarden in dieKassen der Länder und Kommunen gespült werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ein guter Tag fürdie Kommunen, aber man muss auch sehen: Die Kom-munen mussten sehr lange auf diesen Tag warten. Jetztendlich haben sie es schwarz auf weiß. Der Bund wirddie Grundsicherung im Alter komplett übernehmen. Eswurde schon gesagt: Es handelt sich dabei nicht um ein
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23698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Gabriele Hiller-Ohm
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schwarz-gelbes Geschenk, sondern um einen sozialde-mokratischen Verhandlungserfolg aus dem Vermitt-lungsausschuss zur Reform der Hartz-IV-Regelsätze zuJahresbeginn 2011. Dort haben wir durchgesetzt, dassdie Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Er-werbsminderung in drei Schritten vom Bund übernom-men werden.
Bisher zahlten dies zum größten Teil die Städte undGemeinden aus eigener Tasche.
Ende letzten Jahres wurde der erste Übernahmeschrittgesetzlich geregelt. Der Bund übernimmt 2012 45 Pro-zent der Kosten. Nun werden auch die zwei weiterenEntlastungsstufen umgesetzt. Im kommenden Jahr zahltder Bund 75 Prozent und ab 2014 dann 100 Prozent deraktuellen Jahresausgaben für die Grundsicherung. Dassind dann etwa 5 Milliarden Euro jährlich, die vom Bundin die Kassen der Städte und Gemeinden gespült werden.Heruntergebrochen auf meine Wahlkreisstadt Lübeckmit etwa 210 000 Einwohnerinnen und Einwohnern be-deutet das mindestens 15 Millionen Euro pro Jahr. DieseFinanzspritze ist gut und auch dringend nötig; denn Lü-beck steht wie viele andere Städte in Deutschland auch,was die Finanzen anbelangt, mit dem Rücken an derWand. Die Städte brauchen das Bundesgeld, und siebrauchen Planungssicherheit.Dies, sehr geehrter Herr Kollege Kober, war bishernicht gegeben. Es gab keine Planungssicherheit. Manhätte das Gesetz komplett, in einem Rutsch, schon imletzten Jahr auf den Weg bringen können.
Das haben wir erwartet, und das haben auch die über11 000 Städte und Gemeinden in Deutschland von Ihnenerwartet. Das haben Sie nicht geleistet, und das kritisie-ren wir.
Wenn man sich das heute einmal anschaut, dann erlebtman geradezu das Déjà-vu des letzten Jahres. Wiedersind Sie genauso spät dran, fast auf den Tag genau, undauch dieses Gesetz muss nun im Schweinsgalopp durchsParlament und durch die Länderkammer. Das kritisierenwir, das ist kein guter Stil.Gut wäre es gewesen, wenn man sich auf einen fairenAbrechnungsmodus schon im letzten Jahr geeinigt hätte.In diesem Jahr wurde den Städten und Gemeinden durchden unfairen Abrechnungsmodus etwa eine halbe Mil-liarde Euro vorenthalten. Für meine Hansestadt Lübeckmacht das immerhin etwa 2 Millionen Euro weniger aus.Als Berechnungsgrundlage wurden für 2012 die Vorvor-jahreszahlen genommen und die stetig anwachsendenAusgaben für die Grundsicherung dabei einfach außerAcht gelassen. Das Abrechnungsverfahren wurde jetztnur auf Druck der Länder bei den Fiskalpaktverhandlun-gen geändert. Nun sind endlich nicht mehr die Zahlendes Vorvorjahres Berechnungsbasis, sondern die jeweilsaktuellen Ausgaben des laufenden Jahres. Das ist auchrichtig so.
Natürlich haben sich auch die Länder mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf befasst. Sie haben einige Kritik-punkte angebracht. Ich greife drei davon heraus.Erstens. Freiwillige regionale Zuschläge zur Grund-sicherung sollen ausgeschlossen werden. Diese Rege-lung ist nicht nachvollziehbar. Sie wird allein in Mün-chen 12 000 alte Menschen treffen, die dann mit 19 Euroweniger im Monat auskommen müssen, weil die Stadtihnen nach dem neuen Gesetz keine höheren Regelsätzeaus eigener Tasche mehr zahlen darf.Zweitens. Das Geld darf nur alle drei Monate vomBund abgerufen werden. Man sollte prüfen, ob dies nichtmonatlich erfolgen kann. Dadurch würden sich die Zwi-schenfinanzierungskosten für die Städte und Gemeindenverringern.Drittens. Die vorgesehenen Verwaltungs- und Statis-tikregelungen erscheinen recht umfangreich. Es sollteüberprüft werden, ob sie tatsächlich in dem Maß erfor-derlich sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Grundsiche-rung im Alter sind wir auch gleichzeitig mitten in der ak-tuellen Altersarmutsdiskussion. Immer mehr alte Men-schen sind auf staatliche Leistungen angewiesen. Frauensind hier besonders betroffen. Eines ist klar: Nur wer Ar-beit hat und einen anständigen Lohn bekommt, wirdauch eine vernünftige Rente haben, von der er lebenkann.Die Wirklichkeit in Deutschland ist aber: Jede und je-der fünfte Beschäftigte arbeitet inzwischen für einenNiedriglohn. Das wollen Sie, meine Kolleginnen undKollegen von CDU/CSU und FDP, nicht ändern; imGegenteil: Sie setzen die Minijobgrenze gerade von400 Euro auf 450 Euro rauf und erhöhen dadurch dasArmutsrisiko vor allem der Frauen.Diese Politik ist nicht nur schlecht für die Menschen;sie schwächt auch die Finanzen des Bundes. Denn einesist klar: Mehr Armut bedeutet mehr Grundsicherung imAlter und damit höhere Ausgaben für den Bund.Richtig wäre, einen gesetzlichen Mindestlohn einzu-führen.
Dagegen sträuben Sie sich. Sie sollten es aber tun. Es istder richtige Weg. Es hilft den Menschen in unseremLand. Deshalb: Geben Sie sich einen Ruck und machenSie das für unser Land!Danke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23699
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Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Hiller-Ohm, um mit dem letzten
Argument gleich anzufangen: Ein gesetzlicher Mindest-
lohn wird auch nach den Forderungen aller auf dem Markt
befindlichen Gruppierungen nicht per se zu einer Besei-
tigung der Altersarmut führen können. Man bräuchte ei-
nen Mindestlohn von 12,50 Euro, um eine auskömmliche
Rente in der Größenordnung, wie wir das derzeit disku-
tieren, zu erreichen. Also, lassen Sie, Frau Kunert, Frau
Hiller-Ohm, doch endlich ab von der Mär vom gesetzli-
chen Mindestlohn, der die Altersarmut beseitigen kann!
Wir müssen darauf achten, dass vernünftige Löhne ge-
zahlt werden. Wir als christlich-liberale Koalition haben
zehn Mindestlöhne eingeführt, zum Teil mit Ihnen, zum
Teil schon zu Zeiten von Helmut Kohl, bereits im Ar-
beitnehmer-Entsendegesetz. Das ist, glaube ich, besser.
Meine Damen und Herren, heute ist ein guter Tag für
die Kommunen. Wer die Vorredner gehört hat, muss fest-
stellen: Das jetzt in der Debatte befindliche Gesetz zur
Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch muss
ein prachtvoller Wonneproppen sein. Jeder erhebt An-
spruch auf die Autorschaft. Lieber Kollege Scheelen, Sie
haben gesagt: Wer hat das gemacht? Wir haben es ge-
macht! Die Grünen haben gesagt: Wer hat es gemacht?
Wir haben es gemacht!
Mit Ausnahme der Linken waren wir alle beteiligt.
Seien wir doch einfach neidlos froh, dass die Kommu-
nen die Entlastung bekommen! Es wurde bei Einführung
des SGB XII, lieber Kollege Scheelen, noch nicht alles
richtig gemacht. Die 400 Millionen Euro langen bei den
Kommunen vorne und hinten nicht. Wir korrigieren es
jetzt.
Dass Sie in Ihrer Rede extra noch einmal auf das Bil-
dungs- und Teilhabepaket abgestellt haben, hat mich et-
was erschüttert. Das wurde damals, 2004, von Ihnen
doch schlichtweg vergessen. Wir haben es nachgebes-
sert. Wir bessern jetzt die Entlastung der Kommunen
nach. Sie haben im Vermittlungsausschuss mitgewirkt
– das will ich nicht verhehlen –, aber, um Gottes willen,
das Gros hat die christlich-liberale Koalition, wie es der
Herr Staatssekretär völlig zu Recht ausgeführt hat, auf
den Weg gebracht.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist die
größte Entlastung für die Kommunen in der Geschichte
der Bundesrepublik; man kann es gar nicht oft genug
wiederholen. Wir reden nicht nur über die Entlastung der
Kommunen; wir setzen diese auch in die Tat um. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf wird vollendet, was im
Vermittlungsverfahren zum Gesetz zur Ermittlung der
Regelbedarfe vereinbart wurde.
Frau Kollegin Haßelmann hat ausgeführt, § 42 SGB XII
hindere in Zukunft die Kommunen, Zuschläge zu ge-
währen. Dazu ist auf Folgendes hinzuweisen: Wer be-
zahlt, schafft an. Das heißt, wenn der Bund die Kosten
übernimmt, dann ist es für die Kommunen natürlich
leicht, einen Zuschlag zulasten des Bundes zu gewähren.
Die Kommunen können jederzeit Zuschläge von 20 oder
30 Euro gewähren, wenn sie der Meinung sind: Wir
brauchen noch einen Zuschlag, weil wir ein Hochpreis-
gebiet sind. – Allerdings ist der Bund nicht verpflichtet,
diese Zuschläge zu bezahlen.
Der Bund übernimmt die Nettoausgaben für die
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bis
2014, wie bereits ausgeführt, in mehreren Schritten. Da-
mit knüpft dieses Vorhaben an das Gesetz zur Stärkung
der Finanzkraft der Kommunen an, durch das im laufen-
den Jahr der Bundesanteil bereits von 16 auf 45 Prozent
aufgestockt wurde.
Der vorliegende Gesetzentwurf – auch hierauf wurde
bereits hingewiesen – sieht für das Jahr 2013 eine Erhö-
hung auf 75 Prozent und ab 2014 auf 100 Prozent vor.
Herr Lehrieder, möchten Sie die Zwischenfrage von
Frau Haßelmann zulassen?
Selbstverständlich, von der Frau Haßelmann immer
gern.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank auch,Herr Lehrieder, dass Sie die Frage zulassen. – HerrLehrieder, da Sie mich gerade angesprochen haben, willich doch noch etwas fragen. Ich habe gesagt: Die Ände-rung des § 42 Nr. 1 SGB XII verhindert die Anwendungdes § 29 SGB XII, und das ist das Problem. Es geht mirnicht darum, dass wir vom Bund den Ländern mit ihrenKompetenzen und Regelungen regionale Regelsätze vor-schreiben, also zum Beispiel vorgeben, welche Regel-satzhöhe in München gelten muss.Sie müssten als CSU-Mitglied und Bayer wissen, dassdas insbesondere in München ein Riesenthema ist; dazusind Gutachten erstellt worden. Deshalb habe ich dezi-
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23700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Britta Haßelmann
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diert nach § 42 Nr. 1 SGB XII gefragt, der nämlich dieAnwendung des § 29 SGB XII verhindert. Dazu hat sichder Bundesrat schon eingelassen; er hat schon eine Ideegehabt. Deshalb ist meine Frage an die Koalition, insbe-sondere an die Abgeordneten von der CSU, die die Pro-blematik in München besonders gut kennen, ob Sie sichdarauf einlassen werden, dass wir im Gesetzgebungsver-fahren versuchen, die Regelung nach § 29 SGB XII zuhalten, damit Länder wie Bayern und Städte wie Mün-chen diese Regelung weiter anwenden können.
Liebe Frau Kollegin Haßelmann! Ich danke für diesen
konstruktiven Beitrag. Natürlich kenne ich das Schrei-
ben meiner bayerischen Sozialministerin aus München.
Wir sind in der ersten Lesung dieses Gesetzes. Wir wer-
den in der von Ihnen gewünschten Intensität auf die
§§ 29 und 42 SGB XII schauen und werden das im Inte-
resse der Betroffenen prüfen. Das dürfen Sie unserer
christlich-liberalen Koalition zutrauen.
Meine Damen und Herren, die unionsgeführte Bun-
desregierung zeigt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf,
dass sie die weiterhin prekäre Finanzsituation vieler
Städte und Gemeinden ernst nimmt – das will ich aus-
drücklich hervorheben – und an konstruktiven und nach-
haltigen Lösungen arbeitet. Die so erreichte Entlastung
der Kommunen ist beachtlich: Bis zum Jahr 2020 ergibt
sich durch die zusätzliche Bundesbeteiligung aus heuti-
ger Sicht ein Finanztransfer von über 40 Milliarden
Euro.
Angesichts dieser Größenordnung kann ich der Oppo-
sition den Vergleich mit der rot-grünen Regelung von
2003 leider nicht ganz ersparen: Damals glaubte man of-
fenbar, der Bund könne seiner Verantwortung bei der
Vorsorge gegen Altersarmut mit 400 Millionen Euro
jährlich gerecht werden. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der SPD und der Grünen, das sind nicht einmal
10 Prozent der Summe, die die Kommunen tatsächlich
benötigen und um die wir sie jetzt entlasten.
Berücksichtigt man noch, dass die Aufwendungen
aufgrund des demografischen Wandels mittel- und lang-
fristig steigen werden – die Zahlen wurden bereits ge-
nannt; die benötigte Summe steigt auf über 5 Milliarden
Euro pro Jahr –, dann wird deutlich: Es war höchste Zeit,
dass die christlich-liberale Koalition eine nachhaltige
Regelung vorlegt,
die anders als der Ansatz von Rot-Grün die Finanzlage
der Kommunen nicht weiter verschärft.
Wer sich von der Sinnhaftigkeit des vorliegenden Ge-
setzentwurfes überzeugen will, dem rate ich zu einem
Gespräch mit dem Stadtkämmerer oder Sozialreferenten
aus seinem Wahlkreis; für meine Stadt Würzburg bei-
spielsweise ergeben sich für das laufende Jahr bereits
Minderausgaben in Höhe von 3,5 Millionen Euro, für
2013 in der Größenordnung von 5,8 Millionen Euro und
für 2014 in Höhe von immerhin 7,8 Millionen Euro;
Geld, das die Kommunen dringend brauchen, Geld, das
für Projekte bereitsteht und den Städtern entsprechende
finanzielle Spielräume verschafft, Geld, das bei den
Kommunen dringlichst gebraucht wird. Man kann es gar
nicht oft genug sagen: Damit helfen wir den Kommunen;
wenn Sie zustimmen, zugegebenermaßen mit Unterstüt-
zung der Opposition, das wäre natürlich am besten.
Meine Damen und Herren, gerade weil in der Öffent-
lichkeit oft die Meinung vorherrscht, infolge der Haus-
haltskonsolidierung im Bund würden immer mehr Las-
ten auf Städte und Gemeinden abgewälzt, finde ich es
ausgesprochen wichtig, das erhebliche finanzielle Enga-
gement des Bundes im Zusammenhang mit der geplan-
ten Neuregelung zu unterstreichen. Mit der Übernahme
der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Er-
werbsunfähigkeit macht der Gesetzgeber deutlich, dass
die Absicherung gegen Altersarmut eine – liebe Frau
Kunert, Ihre Worte – gesamtgesellschaftliche Aufgabe
darstellt und damit folgerichtig in den Verantwortungs-
bereich des Bundes gehört. Kein Oberbürgermeister,
kein Kämmerer kann etwas dafür, dass in seiner Kom-
mune Menschen wohnen, die mit ihrer Rente nicht aus-
kommen. Deswegen müssen wir die gesamtgesellschaft-
liche Aufgabe übernehmen. Das tun wir jetzt.
Wir sind froh, denn heute ist ein guter Tag für die
Kommunen und auch für die Betroffenen. Ich bitte Sie
um konstruktive Mitarbeit. Liebe Frau Haßelmann, erste
Ansätze dafür gibt es bei den Grünen schon; aber das gilt
auch für die anderen Oppositionsparteien.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.
Ich schließe die Aussprache.Wie mehrfach angekündigt, wird der Gesetzentwurfüberwiesen. Er steht auf Drucksache 17/10748 und sollan die Ausschüsse, die Sie in der Tagesordnung finden,überwiesen werden. – Damit sind Sie offensichtlich ein-verstanden. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 44 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten NiemaMovassat, Eva Bulling-Schröter, Dr. KirstenTackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKETeller statt Tank – EU-Importverbot fürKraft- und Brennstoffe aus Biomasse– Drucksache 17/10683 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23701
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
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Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dannist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe dem KollegenNiema Movassat für die Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Tau-
sende Menschen auf der Welt sterben jeden Tag, weil sie
nicht genug zu essen haben. Gleichzeitig werden mas-
senweise Nahrungsmittel verbrannt. „Irrsinnig“, wird
man sagen, aber genau das passiert tagtäglich: Nah-
rungsmittel werden in großem Stil in Form von soge-
nanntem Biosprit – in Deutschland unter anderem E 10 –
in unsere Autotanks gefüllt. Wir als Linke sagen in unse-
rem heutigen Antrag: Mais, Getreide, Zucker gehören
nicht in den Tank, sondern auf den Tisch.
Der Begriff Biosprit, der uns ständig verkauft wird,
ist übrigens ein Etikettenschwindel. Mit „Bio“ hat das
gar nichts zu tun. Besser passt das Wort „Agrokraft-
stoffe“. Die EU und die Bundesregierung setzen im Rah-
men des Ausbaus erneuerbarer Energien auf Agrokraft-
stoffe. Deshalb haben sie verbindliche Quoten
festgelegt, wie viele Agrokraftstoffe dem Markt beige-
mischt werden sollen. Es gibt aber gar nicht genug An-
bauflächen in Europa, um unseren Agrospritbedarf zu
decken. Also importieren wir Pflanzen aus Brasilien, In-
donesien und vielen anderen Ländern. Bis zu 50 Prozent
der Rohstoffe für den Agrokraftstoffbedarf kommen aus
Drittstaaten, Staaten, in denen häufig Armut und Hunger
herrschen. Genau da liegt das Problem.
Es kann nämlich passieren, dass, während in einem
Dorf Menschen hungern, auf einem Feld nebenan
gleichzeitig Mais für die europäische Beimischquote
wächst. Das ist menschenverachtend. In Sierra Leone
und vielen anderen Ländern zwingt unsere Agrokraft-
stoffpolitik Kleinbäuerinnen dazu, ihr Land an global
agierende Agrarunternehmen abzugeben. Agrarkonzerne
eignen sich immer größere Landflächen an und degra-
dieren Kleinbäuerinnen und -bauern zu mies bezahlten
Saisonarbeitskräften auf ihrem ehemals eigenen Land.
Was da geschieht, ist Landraub, und das muss gestoppt
werden.
Für die Produktion von 50 Liter Bioethanol, das wir
für E 10 brauchen, sind 232 Kilo Mais nötig. Davon
kann sich ein Mensch ein Jahr lang ernähren. Und es
wird verheizt in einer einzigen Tankfüllung. Die stei-
gende Nachfrage nach Agrokraftstoffen treibt zudem die
Preise für Grundnahrungsmittel wie Mais, Soja und
Speiseöl immer weiter in die Höhe. Nahrungsmittel sind
heute schon so teuer wie nie in der Geschichte der
Menschheit. Immer mehr Menschen in den armen und
ärmsten Ländern der Welt können sich Lebensmittel
schlichtweg nicht mehr leisten. Die Beimischquote für
den Agrotreibstoff E 10 ist mit schuld daran. Agrokraft-
stoffe schaffen also Hunger. Angesichts 1 Milliarde
Hungernder muss aber das Menschenrecht auf Nahrung
absoluten Vorrang genießen. Deshalb fordern wir ein so-
fortiges EU-Importverbot für Agrarrohstoffe zur Ener-
giegewinnung.
Wer übrigens denkt, Agrokraftstoffe der heutigen Ge-
neration senkten den CO2-Ausstoß, der irrt. In Indone-
sien und Brasilien werden Tausende Hektar Regenwald
gerodet, um Energiepflanzen anzubauen. Das lässt CO2-
Werte ansteigen und ist deshalb umweltpolitisch Wahn-
sinn. Da helfen auch keine Zertifikate über nachhaltigen
Anbau von Energiepflanzen. Das Beispiel Brasilien ver-
deutlicht dies. Dort drängt der Anbau von Zuckerrohr
und Soja zur Energiegewinnung die Weideflächen für
das Vieh immer tiefer in die Urwälder ab. Kleinbauern
werden vertrieben. Diese indirekte Vertreibung lässt sich
mit keinem Zertifizierungssystem verhindern.
Wenn wir unseren CO2-Ausstoß wirklich senken wol-
len, müssen wir zum Beispiel strikte CO2-Grenzwerte
für Neuwagen festlegen. Die Bundesregierung aber
spielt den Handlanger der Autolobby, die keine Ver-
schärfung will. Beenden Sie Ihre Blockadehaltung in der
EU endlich und setzen Sie sich für eine Senkung der
CO2-Autogrenzwerte ein! Das wäre ein echter Beitrag
im Kampf gegen den Klimawandel.
Trotz all der genannten Kritikpunkte am Agrosprit
will die EU-Kommission die Beimischung von Bioetha-
nol weiter drastisch anheben. Die Linke hat heute als
erste Fraktion einen Antrag vorgelegt, diesen Irrsinn zu
beenden. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung, damit wir
das Getreide nicht mehr im Tank verbrennen, sondern
die Bäcker damit das Brot für die Welt backen.
Danke.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Helmut Heiderich.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Jahre-lang war es ruhig um das Thema Biosprit. Jetzt steht esplötzlich wieder auf der Tagesordnung, und so ist esauch kein Wunder, dass es dazu einen Antrag der Linkengibt.
Die Zuspitzung auf „Teller statt Tank“ ist natürlichsehr geeignet, sofort öffentliche Entrüstung hervorzuru-fen, und der Kollege hat eben auch alles getan, um diesnoch weiter zuzuspitzen.
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23702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Helmut Heiderich
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Nur, dieser Antrag ist zwar sehr umfangreich, aber insich selbst widersprüchlich. Ihre Überschrift ist schlichteine Mogelpackung.
– Ja, ich erläutere es Ihnen gerade. – Schauen Sie sicheinmal Punkt 8 Ihres Antrags an. Dort formulieren Sie,die in Deutschland zur Verfügung stehenden Flächensollen zur Einspeisung von Biogas ins Erdgasnetz geför-dert werden.Das heißt, Sie selber wollen nicht, dass die Agrarflä-chen für den Anbau von Lebensmitteln, sondern für An-bau von Energiepflanzen – und damit Biogas – genutztwerden sollen.
Das heißt, Ihr Antrag müsste nicht „Teller statt Tank“,sondern in Wahrheit „Biogas statt Biosprit“ heißen,
aber dem werden wir so nicht zustimmen können.
Meine sehr verehrten Kollegen, zunächst einmal dieFrage: Wie sind wir eigentlich in die heutige Situationgekommen? Dazu möchte ich Ihnen gerne zwei Zitatevorlesen. Im Jahre 2005 sagte der damalige Bundes-minister für Umwelt auf dem Internationalen Fachkon-gress für Biokraftstoffe wörtlich:Der Acker wird zum Bohrloch des 21. Jahrhun-derts, der Landwirt wird zum Energiewirt.Seine Kollegin aus dem Agrarministerium hat wörtlichergänzt:Wir wollen Landwirten den Weg für den Einsatzvon Biokraftstoffen ebnen und deren Markteinfüh-rung beschleunigen.Heute wollen diese beiden Spitzengrünen bei ihrerKandidatentour durchs Land nichts mehr davon wissen.Heute heißt es bei Frau Künast – wörtlich –:Wir waren immer gegen E 10.
Und Herr Trittin möchte jetzt gerne Blumen statt Mais.Meine sehr verehrten Damen und Herren, so viel zu denSpitzenkandidaten der Grünen zum Thema Biosprit.
Damit es auch ganz klar ist: Für uns geht Nahrungeindeutig vor. Ich sage ganz deutlich: Es ist für uns, fürmich ein Armutszeugnis für die Industriegesellschaftenund für die gesamte Entwicklungspolitik, dass wir demMillenniumsziel 2000, nämlich die Bekämpfung desHungers, bis heute keinen Schritt nähergekommen sind.Noch immer ist 1 Milliarde Menschen pro Tag auf derSuche nach Nahrung. Das – nicht die vorgeführte Dis-kussion um Biosprit – ist das wahre Problem. Denn daszeigt doch: Hunger gab es vor Biosprit, Hunger gibt eszu Zeiten Biosprits, und Hunger wird es leider – das be-fürchte ich – auch nach Biosprit geben.
Warum ist es so? Weil wir in den letzten 15 Jahren dieFörderung der Agrarpolitik und der Landwirtschaft indiesen Ländern finanziell auf die Hälfte zurückgefahrenhaben. Damit sich die Sozialdemokraten auch erinnernkönnen: Unter Wieczorek-Zeul ist dieser Bereich ausdem Budget des Bundes fast völlig herausgestrichenworden. – Das sind die Realitäten, vor denen wir stehen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, trotz G-8-Be-schluss in L’Aquilla 2009, wo man sich verpflichtethatte, 22 Milliarden Dollar für die Förderung der Ernäh-rungssicherung weltweit bereitzustellen, sind wir immernoch kaum weiter. Deutschland hat seinen Part geleistet,nämlich 2,1 Milliarden Dollar gezahlt. Aber von den an-deren Zusagen sind bisher erst knapp 50 Prozent einge-löst worden. Auch da liegen wir weit hinter dem Ziel zu-rück.Eine andere Frage möchte ich noch kurz ansprechen:Wozu brauchen wir überhaupt Biosprit? Das Argumentdafür heißt CO2-Minderung. Aber auch hier muss mangenau hinschauen. Bei der Verwendung von Ethanol ausZuckerrohr und Zuckerrüben kann man eine CO2-Min-derung eindeutig nachweisen, und auf diesem Feld sindwir auch wesentlich vorangekommen.Sie sprachen gerade von Brasilien. Ich habe jetzt nichtdie Zeit, um ins Detail zu gehen. Dort gibt es sehr posi-tive Entwicklungen. Schauen Sie sich einmal an, wie einLand wie Schweden seine CO2-Neutralität erreichenwill. Es hat massiv Importverträge mit Brasilien ge-schlossen, um Ethanol aus Brasilien nach Schweden zutransportieren. Auf diese Weise will Schweden seineCO2-Neutralität erreichen. Sie sehen: Die Welt ist eineandere als die, die Sie eben dargestellt haben.
Etwas anderes – das sage ich auch – ist die Situationin den USA, wo heute 40 Prozent der Maisernte in dieEthanolfabriken verbracht werden. Dorthin wird derMais allerdings nicht wegen der CO2-Minderung ge-bracht, sondern weil man einmal unter George Bush be-schlossen hat, von Ölzulieferungen autark zu werden.Ich glaube, dahin hätten Sie Ihren Antrag orientieren sol-len. Man kann durchaus darüber nachdenken, ob dieseEntwicklung sinnvoll ist. Da müssten unsere Außenpoli-tiker vielleicht einmal vorstellig werden, um das Themazu diskutieren.Nur sage ich auch: Präsident Obama hat gerade indiesem Sommer wieder eine halbe Milliarde Dollar För-dermittel zusätzlich in diesen Bereich hineingegeben.Also, auch dort haben wir eine völlig andere Situation.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23703
Helmut Heiderich
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Man muss schon genauer hinschauen und darf nicht soplatt darüber hinweggehen.Meine Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen,ist vor allen Dingen eine Verbesserung der Agrarpolitikin den Entwicklungsländern. Wir müssen mit unseremEinsatz dafür sorgen, dass dort Kleinbauern zu Kleinun-ternehmern werden können. Wir müssen dafür sorgen,dass sich die Smallholders, die Kleinfarmer, aus eigenerKraft ernähren können. Das ist die wesentliche Aufgabe,und darüber müssen wir hier diskutieren.
Unsere Koalition – das lassen Sie mich am Ende sa-gen – hat dazu in dieser Legislaturperiode eine Menge anFortschritten gemacht. Wir haben im Ministerium einenneuen Schwerpunkt Agrarpolitik gebildet. Wir habeneine neue Taskforce Agrarpolitik eingerichtet. Wir habendie Zusammenarbeit der beteiligten Ministerien vor Ortdeutlich verbessert.Wir haben in diesem Sommer eine neue Initiative ge-gründet, die DIAE heißt, Deutsche Initiative für Agrar-wirtschaft und Ernährung. Ich durfte in der letzten Wo-che vor Ort in Kenia sein. Ich muss sagen, dieseInitiative ist bereits voll wirksam. Es wird schon EndeOktober eine große Konferenz in Sambia unter derneuen Überschrift German-African Food Initiative ge-ben. Dort sitzen die Bundesregierung, die privaten Un-ternehmen aus Deutschland und die beteiligten Organi-sationen aus Afrika an einem Tisch. Wir sind damit amStart in eine gute Zukunft. So müssen wir die Zukunftgestalten. Wir sollten nicht das Thema, das Sie vorge-bracht haben, scheinheilig diskutieren. Das hilft unsnicht weiter. Das lenkt nur von dem eigentlichen Themaab. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.Schönen Dank.
– Das müssen Sie mit Herrn Niebel klären, nicht mit mir.
Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich glaube, wir müssen über das Themades Anbaus von Biokraftstoffen und dessen Auswirkun-gen auf Umwelt und Ernährungssicherheit sehr differen-ziert reden. Das fällt heute manchmal schwer, weil man,wenn man manchen Schlagzeilen glauben könnte, denEindruck gewinnt, wenn wir E 10 stoppen würden, wäreder Hunger auf der Welt vorbei. Das ist leider nicht so.Wenn es so einfach wäre, würden wir uns alle freuen.Ich sage aber auch gleich zu Anfang, dass wir als So-zialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns schon inder letzten Legislaturperiode, schon vor drei, vier Jahren– meine Kollegin Gabi Groneberg hat das damals mitmir veranstaltet – mit Umweltverbänden und entwick-lungspolitischen NGOs zusammengesetzt haben undsehr früh gesagt haben, der Anbau von Biokraftstoffenbietet Chancen, birgt aber auch Risiken. Deswegen ha-ben wir immer gesagt, er darf auf keinen Fall zulastender Ernährungssicherheit gehen und er darf auch nicht zuökologischen Schäden führen, sprich zur Verdrängungvon Regenwäldern.Darin sind wir uns nach wie vor einig. Deswegen leh-nen wir eine feste Quote wie bei E 10 ab, weil auch wirmit großer Sorge beobachten, dass der Beimischungs-zwang die Probleme nochmals verschärft, wenn auf-grund von Dürren oder anderer Einflüsse ohnehin eineNahrungsmittelknappheit besteht.Was wir aber nicht fordern, ist ein genereller Stoppdes Anbaus von Biokraftstoffen oder für alle Zeiten einImportverbot, egal wie die Rahmenbedingungen sind,weil der Anbau von Biokraftstoffen, wenn er gut ge-macht ist, sowohl dem Klimaschutz als auch den Ent-wicklungsländern und damit der Ernährungssicherheitdienen kann. Denn es gibt nun einmal Flächen, auch inAfrika, die degeneriert sind, auf denen niemand investie-ren würde, um Getreide anzubauen, weil das dort nichtfunktioniert. Wenn auf diesen Flächen Energiepflanzenangebaut und – das ist natürlich eine ganz wichtige Vo-raussetzung – die Erlöse daraus zum Beispiel für die öf-fentliche Daseinsvorsorge, für den Aufbau sozialer Si-cherungssysteme verwendet würden, kann das natürlichauch eine Chance sein. Ich nenne einmal das BeispielBrasilien: Auf dem brasilianischen Markt setzte der Bio-masseanbau in der Vergangenheit durchaus positive Im-pulse: 60 bis 70 Prozent der Autoflotte Brasiliens fährtmit Bioethanol. Dies bot gleichzeitig Einkommenschan-cen für die dortigen Bauern. Deswegen darf man dasnicht schwarz-weiß sehen.Der Kollege Heiderich hat eine Aussage von HerrnSigmar Gabriel aus der Zeit zitiert, als er Umweltminis-ter war. Natürlich war die Aussage richtig. In einerPhase, in der die EU Agrarüberschüsse produzierte, inder wir mit unseren Dumpingexporten die Märkte in denEntwicklungsländern gestört haben, in der wir Butter-berge hatten etc., war es vernünftig, zu sagen: Anstattweiter Flächen stillzulegen, bauen wir auf diesen Flä-chen Energiepflanzen an, um unsere Klimaschutzzielezu erreichen. Hier sehe ich keinen Widerspruch.Man muss sich aber jetzt fragen, wie man verhindernkann, dass in den Entwicklungsländern, in denen derHauptanteil der zukünftigen Biokraftstoffe produziertwerden wird, eine Konkurrenz zur Ernährungssicherheitund zu ökologischen Parametern entsteht. Mit vielem,was im Antrag der Linken steht, sind wir einer Meinung.Wir teilen aber nicht die pauschale Äußerung: Import-verbot und alle Biokraftstoffe sind schlecht.Ich komme zu dem zurück, was ich am Anfang gesagthabe. Es ist mir wichtig, in einer solchen Debatte daraufhinzuweisen, dass es nicht nur einen Faktor gibt, warumdie Menschen zurzeit hungern und die Nahrungsmittel-preise hoch sind. Da ist zum Beispiel auch das Thema
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23704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Dr. Sascha Raabe
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Nahrungsmittelspekulation zu nennen. Diese trägt auchdazu bei, dass die Preise für Nahrungsmittel steigen. VonMinister Niebel hätte ich mir gewünscht, dass er auchdazu einige Worte sagt, statt immer nur zu sagen, E-10-Kraftstoff muss verschwinden. Alle Anträge von unszum Thema Nahrungsmittelspekulation, in denen wirversucht haben, dieses Problem zu regulieren, hat er ab-gelehnt. An dieser Stelle erwarten wir vom Ministermehr, als er bisher getan hat.
Abschließend möchte ich nur sagen – ich kann das inden paar Minuten meiner Redezeit nicht weiter ausfüh-ren –: Das Thema ist zu komplex, um es auf die Alterna-tive „Tank oder Teller“ zu reduzieren. Herr Movassat,ich weiß nicht, wie Sie sich ernähren. Sie sollten sicheinmal überlegen, ob das Thema nicht auch heißenkönnte: Teller oder Trog. Der größte Anteil des Sojage-treides und des Maises geht ja als Futtermittel in dieFleischproduktion. Wir sollten uns alle an die eigeneNase fassen und weniger Fleisch essen. Die Fleischpro-duktion hat einen viel größeren Einfluss auf die Zerstö-rung der Regenwälder in Brasilien, –
Herr Kollege.
– weil dort der Großteil des angebauten Sojas in die
Fleischindustrie und in Indonesien leider immer noch
der größte Teil der Palmölproduktion in die Kosmetik-
industrie geht. Wir müssen also auch andere Dinge be-
denken.
Herr Kollege.
Ich bin mit meiner Redezeit am Ende. Aber lassen Sie
uns bitte alles bedenken und in allen Bereichen gemein-
sam vorgehen.
Danke schön.
Die Kollegin Christiane Ratjen-Damerau hat das Wort
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Der Anbau von Energiepflanzen stellt in Entwicklungs-ländern eine Chance für die dortige Bevölkerung dar. Inländlichen Räumen, die lange ungenutzt und bisher ver-nachlässigt waren, wird investiert. Das verschafft der lo-kalen Bevölkerung Einkommen und gibt wirtschaftlicheImpulse. Wir in der westlichen Welt können durch dieNutzung von Biokraftstoffen unsere Ökobilanz verbes-sern und schaffen damit unseren Landwirten eine zusätz-liche Einnahmequelle.Was jedoch so positiv klingt, hat eine enorme Schat-tenseite. Ob wir durch die Nutzung von Biokraftstoffenunsere Ökobilanz tatsächlich verbessern, ist umstritten.Neueste Studien sprechen sogar davon, dass Biokraft-stoffe dem Klima und der Umwelt mehr schaden als nut-zen. Zudem lässt die steigende Nachfrage nach Agrar-rohstoffen die Nahrungsmittelpreise weltweit steigen.Die Konkurrenz um landwirtschaftliche Flächen wirdgrößer. In einigen Regionen ist sie sogar existenzbedro-hend.Die Nahrungsmittelpreise haben sich durch die dies-jährige Dürre dramatisch entwickelt und werden Exper-tenaussagen zufolge weiter steigen. Die Vorräte an Ge-treide sind laut Weltgetreiderat in den vergangenenJahren stark geschrumpft: von 175 Millionen Tonnen imJahr 2010 auf aktuell nur noch etwa 100 Millionen Ton-nen. Weltweit aber werden inzwischen 150 MillionenTonnen Getreide zur Produktion von Ethanol genutzt.Ohne die Ethanolerzeugung wären also die Getreidela-ger gut gefüllt.Derzeit hungert weltweit über 1 Milliarde Menschen.Dass wir als Nettoimporteure von Weizen auf wertvollenAckerflächen Pflanzen anbauen, aus denen Biosprit oderBiogas hergestellt wird, ist schwerlich vertretbar, nochist es nachhaltig.
Die Ernährung der Menschen steht für uns Liberale im-mer noch an erster Stelle. Ich bin daher dem MinisterNiebel sehr dankbar, dass er die Diskussion zu diesemThema angestoßen und auf europäischer Ebene dazu bei-getragen hat, dass ein Umdenkungsprozess stattfindet.
Die Europäische Kommission reduziert die vorge-schriebene Menge an klassischem Biokraftstoff beiFahrzeugen in einem hohen Maße und erhöht zusätzlichdie Anforderungen an den Anbau von Biomasse. Dochwir müssen noch weitergehen und intelligentere Lösun-gen finden. Langfristig wird Bioenergie nur eine Chancehaben, wenn sie nicht auf den Agrarrohstoffen basiert,die in Konkurrenz zu Nahrungsmitteln von Menschenund Tieren stehen. Derartige Abfallprodukte von Agrar-rohstoffen, auch als Biokraftstoffe der zweiten Genera-tion bezeichnet, werden bislang erst in Pilotanlagen zuEthanol verarbeitet. Bis zu ihrem flächendeckenden Ein-satz werden noch Zeit und weitere Forschungen nötigsein. Dies wollen wir von unserer Seite unterstützen.Bis dahin müssen wir gemeinsam mit der Europäi-sche Union – denn dieses Thema ist national nicht lös-bar – umdenken. Wir brauchen zeitgemäße und globaleUmdenkungsprozesse, bei denen die Subventionspolitikund die Beimischungsquoten diskutiert werden. Brasi-lien könnte hier ein Vorbild sein. Dort wird Ethanol ausZucker nur hergestellt, wenn dieser im Überfluss vor-handen ist, quasi als Reste- bzw. Überschussverwertung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23705
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
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Die Politik ist auch gefordert, den betroffenen Land-wirten und Unternehmen bei ihren Entscheidungen Pla-nungssicherheit zu gewähren. Das bedeutet für uns alsverantwortungsvolle Politiker, dass wir Entscheidungennicht kurzfristig über Bord schmeißen. Wir müssen denMenschen die Möglichkeiten und die Zeit für Neuorien-tierungen geben; diese Zeit sollten auch wir nutzen, umunsere Beschlüsse auf ihre Auswirkungen hin genau zuanalysieren.
Dies ist auch der Grund, warum wir als FDP den Antragder Linken ablehnen. Die von Ihnen geforderten politi-schen Maßnahmen helfen weder Deutschland noch Eu-ropa noch den Entwicklungsländern.Wir benötigen in Deutschland und Europa eine inno-vative Kehrtwende in der Bioenergie. Die neuen Techno-logien bedeuten für uns und insbesondere für die Ent-wicklungsländer neue Chancen, die wir gemeinsam nutzenwollen. Die anfänglich erwähnten 150 Millionen TonnenGetreide, die vermisst werden, stehen dann wieder zurVerfügung. Dies ist ein großer Beitrag zur Bekämpfungdes Hungers weltweit und eine ethische Verpflichtunggegenüber der Welt.Vielen herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Movassat.
Frau Kollegin Ratjen-Damerau, ich stelle fest: In der
Analyse haben wir viele gemeinsame Punkte, anders als
Sie anscheinend mit Ihrem Koalitionspartner. Offen-
sichtlich müssen Sie sich in der Koalition erst einmal in
der Frage der Analyse verständigen.
Am Ende Ihrer Rede haben Sie dann aber etwas ge-
sagt, das ich verwirrend fand. Sie haben gesagt: Wir
müssen die neuen Technologien fortentwickeln. Da
stimme ich Ihnen völlig zu. Aber möglicherweise haben
Sie auch die aktuelle Studie, die von Shell in Auftrag ge-
geben worden ist, gelesen bzw. das Wichtigste aus der
Presse entnommen. Laut dieser Studie sind noch Investi-
tionen in Milliardenhöhe nötig. Das heißt, der Weg, bis
diese zweite Generation von Agrokraftstoffen wirklich
markttauglich ist, ist noch sehr lang. Das kann noch eine
ganze Weile dauern, vielleicht 10 bis 15 Jahre.
Da stellt sich die Frage: Was machen wir bis dahin?
Wollen wir weiter zusehen, wie Menschen hungern müs-
sen, während wir das Bioethanol in unsere Tanks füllen?
Was ist Ihre Lösung konkret zu diesem Problem? Hierzu
hätte ich gerne eine Antwort.
Zur Antwort, bitte schön.
Selbstverständlich habe ich die Studie gelesen. Auch
wenn Sie sagen, es werde noch – ich weiß nicht mehr
genau, von wie vielen Jahren Sie gesprochen haben –
10 oder 20 Jahre dauern, bis die Agrokraftstoffe markt-
tauglich sind, ist das kein Argument, sich nicht für neue
Technologien einzusetzen und neue Entwicklungen vo-
ranzutreiben.
Es war in unserem Leben immer so, dass wir Dinge
neu überdenken mussten, und deshalb müssen wir neue
Entwicklungen vorantreiben. Das machen wir auch in
diesem Fall.
Der Kollege Thilo Hoppe hat jetzt das Wort für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was haben Dirk Niebel und die Linke gemeinsam? Sieneigen bei komplexen Themen – zumindest manchmal –zu sehr einfachen Antworten, die der Herausforderungnicht gerecht werden.
So ist es auch bei der Konkurrenz zwischen Tank undTeller, die es durchaus gibt, die sich aber nicht einfachdurch ein Verbot von Agrotreibstoffen lösen lässt.Ich will hier aber auch gleich zu Beginn meiner Redeselbstkritisch in Bezug auf uns Grüne sein. Es mag sein,dass wir in der Vergangenheit die Chancen der Agro-treibstoffe überschätzt und die Risiken und Nebenwir-kungen unterschätzt haben. Denn vieles von dem, was indem Antrag der Linken an negativen Folgen aufgelistetwird, entspricht durchaus der Wahrheit. Es ist alarmie-rend, dass gerade bei den Großinvestitionen in Land– man kann in diesem Zusammenhang auch von LandGrabbing sprechen – der Anbau von Energiepflanzeneine sehr große Rolle spielt. 40 bis 70 Prozent dieserLand-Grabbing-Flächen werden für die Produktion vonAgrosprit genutzt; diese Flächen gehen also für den An-bau von Grundnahrungsmitteln verloren.Wenn ich jetzt eine andere Relation aufzeige, dannkeineswegs, um die Konkurrenz zwischen Tank und Tel-ler zu bagatellisieren, wohl aber, um eine andere, sehrviel größere Herausforderung in den Blick zu nehmen.Auch wenn die Tendenz steigend ist, so liegt der Anteilder Energiepflanzen auf den genutzten Agrarflächenweltweit zurzeit bei etwa 3 bis 4 Prozent. Das Zehn-fache, mehr als 30 Prozent, wird für den Anbau von Fut-termitteln, überwiegend für die Fleischproduktion, auchbei uns in Europa, genutzt. Die immer stärker werdendeNachfrage nach Fleisch in Schwellenländern wie Chinaverstärkt den Druck auf die Anbauflächen in Entwick-lungsländern – auch in solchen, in denen Hungerherrscht.
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Thilo Hoppe
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Ja, es gibt eine besorgniserregende Konkurrenz zwi-schen Tank und Teller, aber noch eine viel größere zwi-schen Tank und Trog.
Wenn man der Logik der Einfuhr- oder Verkaufsverbotefolgen würde: Vor diesem Hintergrund frage ich HerrnNiebel oder auch die Linken, ob sie auch für ein Import-verbot für Futtermittel oder für ein Verkaufsverbot vonFleisch aus Massentierhaltung stehen.
Ich will nicht in Abrede stellen, dass E 10 auf denPrüfstand gehört.
– Herr Heiderich, diese Bundesregierung hat die Einfüh-rung von E 10 beschlossen, diese schwarz-gelbe Koali-tion.
Wir haben andere Wege bevorzugt. Wir waren für dieNutzung von reinen Pflanzenölen, aber nicht für die Bei-mischungsquoten, durch die zum Beispiel die heimi-schen Ölmühlen aus dem Geschäft gejagt wurden. Eshandelte sich um andere Konzepte. Doch aus der Per-spektive der Vertriebenen, der Kleinbauern, der Hun-gernden und der Viehhirten betrachtet, ist es egal, ob aufdem Land, dass sie verloren haben, jetzt Soja für Futter-mittel oder Energiepflanzen für Agrosprit oder Schnitt-blumen angebaut werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige von Ihnen er-innern sich noch an die große Anhörung aus der letztenWahlperiode, die wir zum Thema Agrotreibstoffe undHunger mit vielen Sachverständigen veranstaltet haben.Drei Ausschüsse waren beteiligt – das war ein Mammut-unternehmen –: Agrarausschuss, Umweltausschuss undEntwicklungsausschuss. Ein Kollege von der CSU – ichsehe ihn gerade nicht – hat zum Schluss das Ergebnissehr schön zusammengefasst. Er hat gesagt: Eigentlichbrauchen wir für alle Agrarimporte aus Entwicklungs-ländern strenge Nachhaltigkeits- und Menschenrechts-kriterien.
– Ja. – Die Zertifizierung einzelner Plantagen reichtnicht aus, weil dadurch die Ausweicheffekte, die indi-rekten Landnutzungskonkurrenzen auf anderen Gebietennicht abgedeckt sind.Wir brauchen also strenge Nachhaltigkeits- und Men-schenrechtskriterien, die die Gesamtpolitik eines Landesunter die Lupe nehmen, die der Frage nachgehen:Kommt es zum Verlust von wertvollen Regenwäldern?Gehen wichtige Flächen für den Anbau von Grundnah-rungsmitteln verloren? Wird das Recht auf Nahrung um-gesetzt? Das führt dann zwangsläufig zum Prinzip desselektiven Marktzugangs. Ich weiß, das ist umstritten,und wir sind von einer Umsetzung noch weit entfernt,aber wenn man tatsächlich das Prinzip „Food First“ ver-folgen will, dann führt daran kein Weg vorbei. „FoodFirst“, also Ernährung zuerst: Demzufolge müssen wirüber andere Handelszugänge debattieren und entschei-den.
Dazu wird unsere Fraktion umfangreiche Vorschläge aufden Tisch legen. Ein einfaches Verbot wird der bestehen-den Herausforderung nicht gerecht.
Norbert Schindler hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf den Tribünen!Meine Damen und Herren im Plenarsaal! Ich bin ange-nehm überrascht, dass relativ viele die Debatte zu die-sem Thema mitverfolgen, obwohl wir alle wichtige Ter-mine haben und es eilig haben, nach Hause zu kommen.Der Antrag der Linken provoziert natürlich.
– Ja, ihr seid ja immer gegen alles.
Und den Grünen rufe ich zu: Die Biokraftstoffquotewurde beschlossen. Und für Sie, Herr Kollege Raabe,Lob und Anerkennung. Es war die AutomobilwirtschaftDeutschlands, die Probleme hatte, beim CO2-Ausstoß inder Premiumklasse auf unter 130 Gramm pro Kilometerzu kommen. Darum ging es bei der Bilanz 2008, zur Zeitvon Bundesumweltminister Gabriel. Die Automobilin-dustrie hat gedrückt wie die Bulldozer, und die Politikhatte die Sache dann alleine nach Hause zu fahren. Des-wegen wurde die Quote für E 10 früher erhöht, als dieeuropäischen Ziele es vorsahen.Im letzten Winter bzw. Frühjahr kam es dann zur Um-stellung von E 5, das wir alle selbstverständlich tanken,auf E 10. Die Debatte kennen wir. Alle Dieselfahrer tan-ken E 7. Keiner hat sich darüber aufgeregt. Dann wurdedieses Thema im Sommerloch unnötigerweise besetzt.
Die vermeldeten Fakten stimmen aber nicht. Tatsacheist, dass wir mit dem System REDcert alle Nachhaltig-keitskriterien der EU hinsichtlich Biokraftstoffquote er-füllen. Das ist belegt.
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Norbert Schindler
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Wir sind damals bei der Debatte davon ausgegangen,dass stillgelegte Flächen zur Energieproduktion genutztwerden sollten. 8 bis 10 Prozent der Flächen in der Euro-päischen Gemeinschaft waren stillgelegt. Deshalb war eslogisch und richtig, dieses Potenzial zu nutzen. Natürlichbleibt Nahrungsmittelerzeugung, worauf über 90 Pro-zent des Getreideanbaus sowohl in Deutschland als auchin Europa entfallen, das oberste Ziel.Grundsätzlich ist aber festzuhalten – das sagt jeder,der sich auf dem Markt ein bisschen auskennt –: Ein gu-ter Preis mobilisiert die Produktion. Dieses Jahr habenwir wieder Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse– Stimmungspreis ist immer das Getreide – wie vor30 Jahren. Das Preisniveau von vor 30 Jahren haben wirjetzt wieder erreicht – Gott sei Dank. Wenn der Preisstimmt, animiert das jeden Landwirt weltweit. Wenn derPreis stimmt, dann produziert er.Im Ausland erleben wir Land Grabbing. Staatssekre-tär Peter Bleser war vor einem Jahr in Äthiopien, wo esLand Grabbing gibt. Dort wird von Investoren Land ineiner Größenordnung gekauft, die mindestens der Hälfteder Fläche von Rheinland-Pfalz entspricht. Den Men-schen dort wird das Land unter der Hütte weggenom-men. Das sind Auswüchse, die aufgrund der Nachhaltig-keitskriterien in Europa absolut ausgeschlossen sind.Von daher ist aber darüber zu diskutieren, was in Zu-kunft importiert wird. Dabei geht es um die Frage, wiewir weltweit auf vernünftige Weise zu den Einsparungenbeim CO2-Ausstoß kommen, die wir unbedingt brau-chen. Dabei geht es auch um Verpflichtungen der großenMineralölkonzerne, die über die Einführung von E 10weiß Gott nicht glücklich waren.Es bringt nichts, mit den Kraftstoffen der zweiten Ge-neration abzulenken. Das berühmte Elektroauto war2008/2009 noch in aller Munde; aktuell fördert Toyotadie Entwicklung dieses Elektroautos aber nicht mehr sostark, weil der Entwicklungsprozess insgesamt noch10 bis 20 Jahre dauert.
Zu den Nachhaltigkeitskriterien, die von der Europäi-schen Gemeinschaft jetzt bezüglich der Kraftstoffe derzweiten Generation vorgeschlagen werden – man sagt:Ersatzstoffe bekommen die vierfache Berechnungs-quote –: Da wird ein Trugschluss aus der Humusbilanzgezogen. Unsere Felder brauchen den Humus unbedingt.Ich kann nicht das ganze Stroh und alle Blätter abräumenund die Wurzelreste aus dem Wald räumen; denn dasführt auf den Feldern und in den Wäldern zu einer Verar-mung der Böden. Eine solche Verarmung hat in den letz-ten Jahrhunderten zu Hungersnöten geführt, weil die Bö-den nicht mehr fruchtbar waren. Die Wissenschaft,insbesondere die Chemie, hat unsere Böden wieder ge-sund gemacht. Dabei halfen Düngemittelzusätze, aberauch Humus in Form von Mist. In dieser Debatte denFokus nur auf Kraftstoffe der zweiten Generation zu len-ken, ist nicht richtig. Das ist nicht im Sinne der Sache.Deswegen habe ich große Probleme, das, was in der Eu-ropäischen Kommission in den nächsten drei, vier Wo-chen beschlossen werden soll, zu akzeptieren.Das Thema Zuckerrohr aus Brasilien – auf die Ein-führungsquote hat Kollege Helmut Heiderich hingewie-sen – bietet Potenziale. Das gilt auch für die Zuckerrü-benproduktion in Deutschland. Wenn wir in Europadiese Potenziale nicht nutzen, dann werden China, In-dien und die anderen Schwellenstaaten den Produzentendiese Erzeugnisse aus den Händen reißen. Dort fragtman nicht nach der Gutmenschenpolitik in Europa.Die CO2-Bilanz von Ethanol ist mehr als gut: mehrals 50 Prozent Einsparung. Die CO2-Bilanz von Rapsliegt derzeit bei Verwendung in Mineralöl nur bei 35 bis40 Prozent. In diesem Bereich kam es in den letzten drei,vier Jahren aber zu Verbesserungen; bei den Biokraft-stoffen der ersten Generation haben wir nicht nur bezo-gen auf die industrielle Produktion, sondern auch bezo-gen auf den Vertrieb täglich Verbesserungen. Wirmüssen in der ganzen Debatte auch nüchtern sehen, waswir in den nächsten Jahren nur mit Kraftstoffen der ers-ten Generation bedienen können, weil die zweite nochnicht reif ist.
Herr Kollege.
Vor diesem Hintergrund lobe ich die heutige Debatte.
Der Grundton dieser Debatte war sehr abwägend. Es gibt
ja in der Tat viele Facetten, die zu beachten sind.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Die letzte Facette: In un-
seren Mittelgebirgsregionen, liebe Freunde, –
Herr Kollege.
– wird Raps als Hackfrucht angebaut. Wenn sich die
EU durchsetzt, ist der Rapsanbau unter anderem in die-
sen Regionen Deutschlands tot.
Herr Kollege.
Wir haben mit Rapskuchen Ersatzfutterstoffe, –
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit abgelaufen.
– die viel Proteine und Eiweiß enthalten. Jeder Hektarhierfür ist eine Fläche für Biokraftstoff.
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23708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
(C)
(B)
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist jetzt mehr als weit ab-
gelaufen.
Bedenket alle diese Argumente.
Die Kollegin Gabriele Groneberg hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Teller oder Tank – auf diesen Ausspruchreagiere ich ganz ehrlich, bei aller Liebe, mittlerweileallergisch. Ich kann es bald nicht mehr hören. Dadurchwird die Problematik unzureichend auf ein einzigesSchlagwort verkürzt. In der Sache liegt man völlig dane-ben, wenn man es darauf reduziert. Dann könnte ich inder Tat – genauso wie der Kollege Sascha Raabe – sa-gen: Tank oder Trog. Auch Thilo Hoppe hat darauf hin-gewiesen. Ich habe allerdings andere Zahlen, Thilo, dieweit höher liegen als die Zahlen, die du genannt hast:Annähernd 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächewerden zur Erzeugung von Futtermitteln benötigt.Das ist in dem Fall auch gut so, wenn es sich so ver-hält, dass wir in Deutschland weniger Fleisch essen,während sich in Entwicklungs- und Schwellenländerndeswegen, weil das Existenzminimum steigt, die Men-schen mehr Fleisch leisten können. Das ist zumindest indiesem Punkt eine gute Nachricht. Denn: Wer sichFleisch leisten kann, hat mehr Geld zur Verfügung. Wirmüssen im Zusammenhang mit unserem Fleischkonsumaber auch darauf achten, welche Preise den Bauern ge-zahlt werden; das ist ja teilweise gar nicht auskömmlich.Fleisch scheint oftmals viel zu günstig verkauft zu wer-den.
Ungefähr 70 Prozent der in Bearbeitung stehendenFlächen werden also für den Anbau von Futtermittelngenutzt, aber nur 3 Prozent für den Anbau von Biomassezur Verwendung als Kraftstoff. Ich finde, alleine dieseZahl zeigt, welches Missverhältnis da besteht und dassdie Diskussion „Teller oder Tank“ nicht gerechtfertigtist, da die Dimension eine ganz andere ist. Ich will dasProblem ja nicht verniedlichen – darum geht es nicht –,aber ich will eine differenzierte Betrachtung der Ursa-chen. Dafür sind diese polemischen Schlagwörter über-haupt nicht geeignet.In der Tat: Wir müssen neu darüber nachdenken, wiewir die zunehmende Umwandlung natürlicher Ökosys-teme in Anbauflächen verhindern. Auch bei uns inDeutschland gibt es, wenn auch regional begrenzt, nega-tive Auswirkungen durch die Erzeugung von Biomasse.
Ich weiß durchaus, wovon ich da rede. Ich kenne dasnämlich aus meiner Region. Die buchstäbliche Vermai-sung ganzer Regionen, Herr Kollege Holzenkamp, istein nicht zu übersehender Hinweis darauf. Ich gebe andieser Stelle auch zu: Offensichtlich greift die Nachhal-tigkeitsverordnung nicht.Ebenfalls ist darüber nachzudenken, wie in Zukunftfinanzielle Anreize zur Förderung von erneuerbarenEnergien so gestaltet werden, dass wir nicht einen per-manenten Reparaturbetrieb für die negativen Auswir-kungen an anderer Stelle organisieren müssen. Im Übri-gen entscheidet auch der Markt über den Anbau. Das, fürdas gut gezahlt wird, wird viel lieber angebaut. Machenwir uns da doch nichts vor!
Sicherlich werden wir auch darüber nachdenken müs-sen, ob die zurzeit gültigen Beimischungsquoten so bei-behalten werden sollten, allein schon deshalb, weil dieAkzeptanz der Biokraftstoffe in der Bevölkerung erheb-lich zu wünschen übrig lässt. Die Biomasse aber zu ver-teufeln, wäre geradezu fatal; denn sie bietet eine großeChance für die ländliche Entwicklung, ob bei uns oder inden Entwicklungs- und Schwellenländern.Die Verwendung natürlicher Reststoffe wie zum Bei-spiel Pflanzen- und Holzreste und durchaus auch eineVerwertung von Gülle in einem begrenzten Rahmen istsinnvoll; aber wir sollten eben auch darauf achten, dassErzeugung und Vermarktung vor Ort erfolgen können.Unsere Bauern profitieren davon. Das ermöglicht ihnenein oft dringend benötigtes Zusatzeinkommen. Das giltim Übrigen nicht nur für unsere Landwirtschaft; KollegeRaabe hat das eben deutlich gesagt.Wir brauchen die Biomasse als Teil einer Strategiemit erneuerbaren Energien, um unabhängig von Atom-kraftwerken und weitgehend auch von fossiler Energiezu werden. Ebenso brauchen wir sie im Rahmen der Be-mühungen zum Schutz des Klimas und der Umwelt.Hier besteht Handlungsbedarf. Was passiert aber?Nichts, einfach nichts. Ganz ehrlich, Herr Heiderich,diese Bundesregierung hat keine schlüssigen Konzeptezur Umsetzung der gesetzten Ziele, und sie hat ebensowenig eine Strategie, um die negativen Auswirkungendurch die Erzeugung von Biomasse einzuschränken unddie positiven Aspekte zu unterstützen.
Das fehlt, und das ist in der Tat zu kritisieren.Aber das, was wir im vorliegenden Antrag vorfinden,ist in meinen Augen eine einseitige Negativkampagne.Ich hätte mir gewünscht, in Ihrem Antrag eine sachlicheAuseinandersetzung mit den Fakten vorzufinden. Ganzehrlich, Herr Kollege: Der Akzeptanz erneuerbarerEnergien leisten Sie mit diesem Antrag einen Bären-dienst.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10683 an die Ausschüsse vorgeschla-
gen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind
alle einverstanden. Dann verfahren wir so.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Tierschutzgesetzes
– Drucksache 17/10572 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Stand der Entwicklung des
Tierschutzes 2011
– Drucksache 17/6826 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Landwirtschaftliche Nutztierhaltung tier-
schutzgerecht, sozial und ökologisch gestalten
– Drucksache 17/10694 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Hierzu ist verabredet, ebenfalls eine halbe Stunde zu
debattieren.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Peter Bleser.
Pe
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-raten heute in erster Lesung den Entwurf eines DrittenGesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes. DieserGesetzentwurf dient natürlich in erster Linie der Umset-zung der EU-Versuchstierrichtlinie. Diese Richtlinie hatdas Ziel, den Tierschutz im Hinblick auf Versuchstierezu verbessern und EU-weit gleiche Rahmenbedingungenfür Industrie und Forschung zu schaffen. In Deutschlandgalten schon bisher strenge Regelungen zum Schutz vonVersuchstieren. Diese werden auch in Zukunft beibehal-ten. Durch die Richtlinie kommen nun weitere Anforde-rungen hinzu. Wo die Richtlinie Spielräume lässt, siehtder Gesetzentwurf Regelungen vor, die einen gutenAusgleich zwischen Tierschutz und Forschungsfreiheitschaffen. Das war unser Ziel.
Da ich schon länger Mitglied des Deutschen Bundes-tages bin, weiß ich natürlich, dass wir in den 90er-Jahrenviel intensiver über das Thema Tierversuche diskutierthaben. Ich behaupte einmal, dass unsere Bemühungen,Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu entwickeln, zu hö-herer Akzeptanz geführt haben. Dennoch dürfen wirnicht verschweigen, dass jährlich annähernd 3 MillionenTiere in Tierversuchen verbraucht werden, auch verur-sacht durch die REACH-Verordnung der EuropäischenUnion.Meine Damen und Herren, neben der Umsetzung die-ser Richtlinie sieht der Gesetzentwurf, den wir heute ein-bringen, weitere Maßnahmen im Bereich des Tierschut-zes vor. Dazu gehört unter anderem das Verbot derbetäubungslosen Ferkelkastration ab 2017. Wir sind derMeinung, dass mit der Ebermast, der Immunokastrationoder der Durchführung des Eingriffs unter Narkose Al-ternativen vorhanden sind, die die Belastung der Tierereduzieren. Bis 2017 sind es noch vier Jahre. Ob es dannzu Beginn oder zum Ende des Jahres so weit ist, wird si-cher hier im Bundestag noch zu entscheiden sein. Aberwir rechnen damit, dass bis dahin auch von der Wirt-schaft entsprechende Methoden angeboten werden, dieauf einfache und praktikable Weise eine Kastration unterBetäubung möglich machen.Wir haben darüber hinaus in erheblichem UmfangMittel bereitgestellt, um in der Zucht aufgrund geneti-scher Erkenntnisse die sogenannten Stinker am Schlacht-band ausmerzen zu können, damit bei anderen eine Kas-tration erst gar nicht notwendig wird. Ich sage Ihnen:Kein Landwirt führt gerne eine Kastration bei jungen Fer-keln durch; das ist eine mühsame Arbeit, die unangenehmist. Wir hoffen sehr, dass unsere Bemühungen bis zu die-sem Zeitpunkt zu einer Veränderung führen.Wir werden im Tierschutzgesetz auch die Eigenkon-trolle definieren. Das bedeutet nichts anderes, als dassdie objektive Einschätzung des Befindens der Tieredurch den Betriebsleiter stattzufinden hat und dass einevorausschauende Planung durchgeführt und erforderli-che Maßnahmen getroffen werden müssen, wenn Pro-bleme auftreten. Das sind allerdings für jeden Tierhalterpure Selbstverständlichkeiten. Diese Regelungen belas-ten keinen Tierhalter zusätzlich,
schaffen allerdings die Möglichkeit, dort, wo es Miss-stände gibt – diese gibt es ja ab und an in jedem Berufs-stand –, gesetzlich hart durchzugreifen.
Meine Damen und Herren, die Qualzucht soll, wiebisher, verboten bleiben. Wir haben aber eine Umformu-lierung vorgenommen, nach der ein Ausstellungsverbotfür solche qualgezüchteten Tiere vorgesehen ist. Hierzugab es im Vorfeld der Formulierung des Gesetzentwurfs
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Parl. Staatssekretär Peter Bleser
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erhebliche Diskussionen draußen. Diejenigen, die be-fürchten, dass ihre Zucht nicht mehr möglich sein könnte– insbesondere im Heimtierbereich –, sollten wissen,dass es immer um das individuelle Tier und nie um be-stimmte Rassen oder bestimmte Zuchtbereiche geht. Ichdenke, wir werden hier mit einer entsprechenden Auf-klärung dazu beitragen, dass insbesondere im Heimtier-bereich die Bedingungen, die wir haben, nicht einge-schränkt werden. Allerdings: Da, wo es Auswüchse gibt,muss der Gesetzgeber jetzt handeln, und das haben wirauch wirklich vor. Ich glaube, das ist auch Konsens.Bezüglich der Zirkustiere wollen wir eine Verord-nungsermächtigung auf den Weg bringen, damit dort, woMissstände auftreten, die Länder auch handeln können;denn sie sind für die Umsetzung und den Vollzug desTierschutzgesetzes zuständig. Die Länder, die wild le-bende Tiere im Zirkus nicht mehr haben wollen, werdendie Verantwortung übernehmen müssen, wenn sie ent-sprechende Verbote aussprechen. Wir glauben jedenfalls,dass hier eine Bundesregelung nicht notwendig ist.Für die frei lebenden Katzen wollen wir den Ländernein Instrumentarium an die Hand geben, um bei unkon-trollierter Vermehrung dem Tierwohl entsprechend ein-greifen zu können. Die Unterscheidung zwischen frei le-benden und frei laufenden Katzen ist hier notwendig.Die frei laufenden Katzen haben einen Eigentümer undsind davon nicht betroffen.Ich glaube, ein weiterer Punkt, der im Gesetzentwurfenthalten ist, wird in diesem Haus noch zu Debatten füh-ren. Es geht um das Verbot des zusätzlichen Schenkel-brandes beim Pferd. Wir haben hierzu einen Entwurfvorgelegt.
Nach dem Struck‘schen Gesetz wird letztlich hier imPlenum entschieden werden, ob dieser Passus Rechts-kraft erhält.Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat zu die-sem Gesetzentwurf in sehr ausführlicher Weise Stellunggenommen. Wir haben einige Punkte übernommen, diewir für richtig ansehen. Dazu gehören eine Erlaubnis-pflicht für die Einfuhr von Wirbeltieren – außer Nutztie-ren –, die an andere gegen Entgelt abgegeben werdensollen, eine Erlaubnispflicht für die gewerbliche Ausbil-dung von Hunden und ein Verbot der Auslobung vonTieren als Preise bei Wettbewerben. Ich glaube, das sindgute Vorschläge. Deswegen haben wir sie auch in unse-ren Gesetzentwurf übernommen.Andere Forderungen – insgesamt waren es an die 50 –haben wir nicht übernommen, weil wir hier unsere Zu-ständigkeit nicht gesehen haben und auch nicht die Not-wendigkeit einer Regelung erkannt haben.Neben den Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf gibtes noch weitere Maßnahmen, die die Bundesregierungdurchführt. Zum Beispiel sind eine Haltungsverordnungfür Kaninchen und die Überarbeitung des Säugetiergut-achtens, insbesondere für Zoos, vorgesehen. Hier solltendie Betroffenen wissen: Wir wollen die Zoos in Deutsch-land erhalten. Wir sehen, dass dort sehr verantwortungs-voll und sehr tierfreundlich mit den Tieren umgegangenwird.
Herr Kollege.
Pe
Die Präsidentin piepst schon.
Nein, ich piepse nicht. Ich habe Ihnen ein Zeichen ge-
geben, dass Sie eine Minute über der Zeit sind.
Pe
Ich will nur noch anfügen, dass die Bundesregierung
darüber hinaus – es ist mir wichtig, das noch zu sagen –
ein Forschungs- und Demonstrationsprogramm mit dem
Ziel aufgelegt hat, die tierschutzfreundlichste und mo-
dernste Nutztierhaltung in Europa zu erreichen. Dafür
stellen wir bis zum Jahre 2016 21 Millionen Euro zur
Verfügung. Wir hoffen, dass wir damit mehr als mit Ver-
boten erreichen können.
Herzlichen Dank.
Heinz Paula hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir wissen, dass die Bundesregierung sehr selten gelobtwird – zu Recht.
Ihre Arbeit zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dassman zerstritten und planlos ist und sich permanentenRichtungswechseln aussetzt. Frau Ministerin Aigner isthier weiß Gott keine Ausnahme. Im Gegenteil! Es ist in-zwischen fast legendär: Mittlerweile hat sie den TitelAnkündigungsministerin.
Vor einem Jahr erschien der Tierschutzbericht derBundesregierung. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:Damals kam bei mir eine gewisse Hoffnung auf, dasssich hier endlich einmal etwas bewegt, dass sich dieseBundesregierung und diese Regierungskoalition endlicheinmal gegen die immer gleich jammernden Lobbyistendurchzusetzen vermögen. Denn es steht auf 62 Seitenschwarz auf weiß wirklich alles, was die Situation unse-
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Heinz Paula
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rer Tiere anbelangt. Dazu kann ich nur sagen: Kompli-ment an die Mitarbeiter, die das Ganze erarbeitet haben.Bei mir war, wie gesagt, eine gewisse Hoffnung da,dass sich jetzt endlich etwas bewegt. Dann allerdingskam die sogenannte Novelle des Tierschutzgesetzes. Da-mit wird man sehr schnell, sehr brutal auf den Boden derRealität zurückgeholt. Von all den guten Ansätzen imTierschutzbericht findet sich in der Novelle das Allerwe-nigste wieder. Nach den Ausführungen des Staatssekre-tärs Peter Bleser muss ich feststellen: Das Ganze kommtsogar noch schlimmer; darauf werde ich später eingehen.Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen. BeimThema Tierversuche finde ich es zunächst einmal posi-tiv, dass die EU-Tierversuchsrichtlinie entsprechendumgesetzt werden soll und hier die ersten Ansätzevorhanden sind, zum Beispiel bei der Umsetzung des3-R-Prinzips – Sie kennen das –: vermeiden, vermin-dern, verbessern. Gut so! Aber wieso wird dann kein kla-rer gesetzlicher Auftrag zur Förderung und Verbreitungvon 3-R-Methoden und von tierversuchsfreier For-schung direkt im Tierschutzgesetz als Vorrangziel veran-kert? Meine Sorge ist: Im Verlauf des Verfahrens wirddas Ganze auf dem Verordnungsweg sehr schnell ver-schüttgehen, und damit wäre eine Riesenchance vertan.
Da wir gerade beim Tierelend sind: Die Bundesregie-rung benennt im Tierschutzbericht in der Tat alle Pro-bleme, die wir haben, etwa die betäubungslose Kastra-tion und das Kupieren von Schwänzen bei Ferkeln. Sieverweist auf die Diskussion über die Käfighaltung vonLegehennen. Auch der völlig überflüssige und schmerz-hafte Pferdeschenkelbrand soll verboten werden. DieBundesregierung, Herr Staatssekretär, scheint alle Pro-bleme wirklich zu kennen. Aber was macht sie konkretdaraus? Schlicht und ergreifend nichts! Das ist leider diebrutale Wahrheit.
Ferkel sollen doch tatsächlich erst in Zukunft nichtmehr betäubungslos kastriert werden. Man stelle sichvor: Millionen von Ferkeln werden bis 2017 sinnlostraktiert, obwohl es – Herr Staatssekretär hat darauf hin-gewiesen – eine Fülle von Ersatzmethoden gibt, die umein Vielfaches tiergerechter wären. Schweine, Geflügel,Rinder werden für die Haltung entsprechend „zurechtge-stutzt“, und zwar mit dem Segen der Bundesregierungund der schwarz-gelben Koalition. Es wird weiterhinignoriert, dass die Tiere in Deutschland völlig unnötigAngst und Schmerzen ausgesetzt sind.Einzig beim Schenkelbrand schien doch tatsächlichdie Vernunft Einzug zu halten und hier ein entsprechen-des Verbot auszusprechen. Aber, Kolleginnen und Kolle-gen, ich muss einmal ganz ehrlich sagen: Hier ist einVertreter der Bundesregierung anwesend. Seine Ministe-rin schlägt vor, den Schenkelbrand zu verbieten. Dannaber wird vom zuständigen Staatssekretär die Gültigkeitdes Struck’schen Gesetzes betont: Schauen wir einmal,ob das Ganze in dieser Form irgendwann rechtskräftigwird. – Ja, wo leben wir denn hier eigentlich, wenn sichdie Regierung derartig selbst zerlegt? Ich kann nur sa-gen: Kompliment, Herr SchenkelbrandbeauftragterStier!
Mir scheint, Sie haben gute Arbeit geleistet. Aber ichsage Ihnen ganz ehrlich: Auch da sind Sie absolut aufdem Holzweg.
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen.Es ist zunächst einmal richtig, dass der Tierschutzberichtder Bundesregierung alle Probleme im Bereich der ge-samten Produktionskette der landwirtschaftlichen Nutz-tiere anspricht. Zu lange Transportwege sollen vermie-den werden – das können Sie auf Seite 16 des Berichtsnachlesen –, die Schlachtung soll tierschutzgerechter er-folgen. Jetzt stellt sich wieder die spannende Frage: Wasmacht die Bundesregierung? In diesem Bereich wie üb-lich nichts! Es gibt faktisch keine Begrenzung der abso-luten Tiertransportdauer. Wir hören immer wieder vonFrau Ministerin Aigner, dass Deutschland Vorbild imBereich des Tierschutzes wäre. Ich frage mich: Wo sindwir denn angesichts dieser unsäglichen, miserablen Ar-beitsbedingungen im Bereich der Schlachtbetriebe Vor-bild?
Das Ausland betreibt im Grund genommen einenSchlachttourismus nach Deutschland. Wir kennen dochdie Situation in den Schlachthöfen: Akkordarbeit undHungerlöhne. Bei über 59 Millionen getöteten Schwei-nen im Jahr ist die Fehlerquote in den Schlachtanlagenbei der Betäubung derartig hoch, dass man im Grundenur von einem Skandal sprechen kann.
Kurz gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU und FDP: Sie verweigern die Chancen, dieSie hätten, komplett. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ichbin etwas überrascht. Wann öffnen Sie endlich die Au-gen? Ihre eigenen Minister in den Landesregierungenhaben über 50 Änderungsvorschläge im Bundesrat ein-gebracht. Einige wenige werden angenommen. Das istauch gut so; das lobe ich ausdrücklich. Aber das Grosfällt komplett unter den Tisch, nämlich wenn es darumgeht, konkrete Verbesserungen durchzuführen, zum Bei-spiel bei tierschutzwidrigen Amputationen und Manipu-lationen wie Schnabelkürzen.Wie Sie wissen, richtet sich der Verbraucher inzwi-schen komplett anders aus. Das zeigen auch UmfragenIhres eigenen Ministeriums. Die Handelskette Rewezum Beispiel setzt sehr stark auf die Verantwortung ge-genüber den Tieren. Selbst Wiesenhof geht mit der Pri-
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23712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Heinz Paula
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vathofhaltung neue Wege, die wir nur unterstützen kön-nen.
Das sind Ansatzpunkte, durch die sich etwas in dierichtige Richtung bewegen kann. Aber dazu ist es auchnotwendig, dass die Bundesregierung endlich in derWirklichkeit ankommt und die Themen, die in der Öf-fentlichkeit breit diskutiert werden – bewusste Ernäh-rung, tierschonende und nachhaltige Landwirtschaft –,entsprechend Einzug finden.Allerdings kommen einem manchmal Zweifel, wennman sieht, was von der Regierungskoalition vorgelegtwird. Ich habe hier zum Beispiel ein Papier zur Positionder CDU/CSU gegenüber der Landwirtschaft mitge-bracht. Die sieben Seiten sprechen Bände.
Noch dünner geht es wohl nicht. Darin steht, dass derTierschutz einzig und allein – wie heißt es so schön? –mehr Werbung bedarf. Die Agrarforschung wird zwarauch erwähnt, aber die Öffentlichkeitsarbeit scheint Ih-nen einer der wichtigsten Punkte zu sein. Ansonstenkann ich im Sinne von Tierschutz nicht viel aus diesemPapier herauslesen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Men-schen in unserem Land kennen die wirklichen Problemeim Bereich des Tierschutzes. Im Gegensatz zur Bundes-regierung und zu der sie tragenden Regierungskoalitionwerden die Wählerinnen und Wähler die Konsequenzendaraus ziehen: Steinbrück wählen.Ich bedanke mich sehr herzlich.
Der Kollege Hans-Michael Goldmann hat jetzt das
Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gestern Morgen beim Frühstück des Deutschen Tier-schutzbundes sagte Herr Schröder, der neue Präsidentdes Tierschutzbundes: Tiere haben keinen Preis; Tierehaben einen Wert.
Das ist die Botschaft, die wir mit der Novelle des Tier-schutzgesetzes untermauern.
Ich will damit nicht sagen, dass wir in all den Punk-ten, die den einen oder anderen bewegen, gleich die Wei-chen in die Richtung stellen, was langfristig sicherlichnötig ist. Aber lassen Sie uns erst einmal in die Arbeiteinsteigen, Herr Paula. Lassen Sie uns erst einmal dieparlamentarische Beratung vollziehen. Dann machen wireine Anhörung, in der wir uns von Fachleuten sagen las-sen, was bei den einzelnen Paragrafen zu verbessern ist.Dann versuchen wir, das hinzubekommen, was wir ges-tern Abend im Plenum erlebt haben – bei Bussen imFernverkehr scheint das leichter zu sein –: eine gemein-same Lösung des Parlaments. Denn es macht keinenSinn, dass wir im Deutschen Bundestag einen Gesetzent-wurf verabschieden, der dann in den Ländern auf andereMehrheiten trifft oder auf kommunaler Ebene auf Ableh-nung stößt.Deswegen schlage ich vor, einmal zurückzublicken:Wir haben damals den Grundgedanken des Tierschutzesins Grundgesetz eingebracht, und nun gehen wir daran,das umzusetzen. Jetzt geht es um die Frage: Was ist Tier-wohl? Ich meine, dass der Gedanke der Eigenkontrolle,der im Gesetzentwurf verankert worden ist, richtig ist.Bauern wissen, was ihren Tieren guttut. Daran kann keinZweifel bestehen.
Kein Bauer ist sozusagen so blöd, nicht das Wohl seinesTieres im Blick zu haben. Er weiß, dass er sonst als Tier-halter nicht erfolgreich ist. Das ist eine Grundkenntnis.
Reden wir über ethische Grenzen. Damit bin ich so-fort einverstanden. Wir können auch über Qualzucht re-den, aber qualifiziert. Was bisher in § 11 b des Gesetz-entwurfs steht, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Die Unterscheidung zwischen „wenn damit gerechnetwerden muss“ und „wenn züchterische Erkenntnissevorliegen“ wird auch vom Wissenschaftlichen Dienstsehr kritisch beurteilt. Ich bin strikt dagegen, die Qual-zuchtverantwortung nur im Hinblick auf die züchteri-schen Überlegungen der Rassegeflügelhalter aufzuneh-men; das kann nicht sein. Aber wir dürfen sie auch nichtaußen vor lassen. Ich glaube, da sind wir uns einig.Wir sollten da herangehen und schauen, wie die Ös-terreicher Qualzucht definieren.
Da können wir vielleicht von anderen lernen, und dannmachen wir ein richtig gutes Gesetz.Wir müssen aber auch fair sein und zur Kenntnis neh-men, dass alle anderen Länder in Europa – außer viel-leicht die Niederlande oder Österreich – die betäubungs-lose Kastration erst 2018 oder noch später verbietenwollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23713
Hans-Michael Goldmann
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Wir sind Vorreiter in diesem Punkt.Wir sind auch Vorreiter bei den Haltungssystemen –auch wenn das dem einen oder anderen nicht gefällt. InDeutschland dürfen weniger Tiere auf einem Quadrat-meter gehalten werden als in Italien, Spanien oder denNiederlanden. In Deutschland dürfen weniger Kilo-gramm auf einem Quadratmeter gezüchtet werden als inanderen Ländern.Wenn wir zu schnell voranschreiten, werden massivEier aus den Ländern importiert werden, in denen dieTiere nicht so gehalten werden wie bei uns.
Dann sagen unsere Geflügelhalter: Was ist denn da los?Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass die Märkte ka-puttgemacht werden! – Das muss man alles vernünftiggegeneinander abwägen.
Wir unterhalten uns auch über Entwicklungen imKleintier- und Haustierbereich. Zum Beispiel ist die Si-tuation von Katzen in bestimmten Bereichen nicht inOrdnung. Darum kümmern wir uns und finden gemein-same Lösungen: chippen und registrieren. Aber wir müs-sen auch gemeinsam Mittel bereitstellen, damit die Re-gistrierungen wirklich erfolgen können. Nur so könnenwir den Tierheimen helfen.Außerdem unterhalten wir uns über Schenkelbrand.Wenn es tierschutzrechtlich nicht möglich ist, denSchenkelbrand weiter zu setzen, weil ein Chip das er-füllt, was wir vom Schenkelbrand erwarten, dann dürfenwir nicht mehr brennen. Das ist ganz einfach.
Nebenbei: Wenn wir das nicht hier im Parlament ent-scheiden, dann entscheidet es ein Gericht.
Das, denke ich, wollen wir aber nicht. Deswegen müssenwir das fachlich sauber abarbeiten.Jetzt will ich noch etwas zu den Versuchstieren sagen.Liebe Freunde, an diesem Thema arbeite ich schon ei-nige Jahrzehnte. Ich hatte auch eine Tierarztausbildung,und wir wissen ja, Wilhelm Priesmeier, was wir damalsmit den Ratten bei den Versuchen gemacht haben. Eswill doch keiner den Tierversuch um des Tierversuchswillen, sondern wir wollen Tierversuche nur an be-stimmten Stellen, aber wir wollen auch die Alternativen.Wir wollen, dass der Wissenschaftler sich immer dannfür die Alternative entscheidet, wenn sie für das Ver-suchsergebnis, das Zuchtergebnis oder das Forschungs-ergebnis sinnvoll ist.Dafür müssen wir Geld bereitstellen. Herr Paula, manmuss doch auch einmal anerkennen, dass mit diesemHaushalt zum ersten Mal überhaupt Mittel in beachtli-cher Höhe für die Forschung in diesen Bereichen zurVerfügung gestellt werden.
Lassen Sie uns das gemeinsam ausbauen und die For-schung vertiefen. Denn wir wissen alle, dass die For-schungsgrundlagen für die Entscheidungen, die wir imTierschutzbereich treffen, verschwindend gering sind.Wir wissen in vielen Bereichen nicht, wie sich das aus-wirkt, wenn wir zum Beispiel auf das Kupieren vonSchwänzen verzichten. Wir wissen nicht, ob die Schädendann nicht möglicherweise sogar größer sind, weil dieTiere nicht mehr so miteinander umgehen, wie wir esuns wünschen.Deswegen bin ich bei der ersten Beratung dieses Ge-setzes ganz gelassen. Wir werden ein gutes Gesetz– nach Möglichkeit gemeinsam – auf den Weg bringen,und wir wollen ein Gesetz, was auf Dauerhaftigkeit an-gelegt ist. Denn es hat keinen Sinn, jetzt ein Gesetz zumachen, das schon in allernächster Zeit korrigiert wer-den muss. In diesem Sinne wünsche ich uns eine guteBeratung.Herzlichen Dank.
Alexander Süßmair hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Zum einen debattieren wir heuteüber den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-rung des Tierschutzgesetzes, zum anderen über einenAntrag der Linken zur landwirtschaftlichen Nutztierhal-tung. Eine solche Änderung ist dringend nötig, weil dasdeutsche Tierschutzrecht im Hinblick auf Tierversuchebis Ende November dieses Jahres an strengere EU-Stan-dards angepasst werden muss. Die Regierung hat sich daleider sehr viel Zeit gelassen.Tierschutz hat in der letzten Zeit stark an Bedeutungin der Öffentlichkeit gewonnen – und das ist auch richtigso –: zum einen durch Debatten über die Notwendigkeitvon Tierversuchen und Diskussionen über Wildtiere imZirkus, Delfinarien oder Brandzeichen bei Pferden, zumanderen wegen Missständen bei der Nutztierhaltung inder Landwirtschaft.Immer mehr Menschen lehnen die Art und Weise ab,wie heute Tiere für die Produktion von Lebensmittelngehalten werden. In einer Emnid-Umfrage vom Mai die-ses Jahres gaben 85 Prozent der Befragten an, dass sieden verantwortungsvollen Umgang mit Tieren in derLandwirtschaft für wichtig erachten.
Allerdings war nur ein Drittel der Befragten davon über-zeugt, dass Landwirtinnen und Landwirte tatsächlichverantwortungsvoll mit den Tieren umgehen.
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23714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Alexander Süßmair
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Gerade die Nutztierhaltung wurde in den vergangenenJahren stark industrialisiert. Bäuerinnen und Bauern sindeinem gnadenlosen Kostendruck ausgesetzt worden:durch Arbeitsteilung, immer stärkere Intensivierung undKonzentration der Nutztierhaltung auf immer engeremRaum sowie Dumpingpreisschlachten der Lebensmittel-industrie. Dabei ist das Wohl der Tiere häufig auf derStrecke geblieben. Die Tiere sind zur Ware verkommen,und Tierschutz ist für viele Erzeuger zum existenzbedro-henden Kostenfaktor geworden. Genau hier müssen wiransetzen, wenn wir ernsthaft etwas für mehr Tierschutztun wollen.
Tierschutz darf nämlich nicht Profitinteressen unter-geordnet werden, und Tierhalter, die höhere Tierschutz-standards einführen und das Tierwohl verbessern, dürfenmit den Kosten nicht alleine gelassen oder im Wettbe-werb benachteiligt werden. Hier, Kollege Goldmann, istder Gesetzgeber – genauso wie bei den Käfighennen –gefordert. Es kann nicht sein, dass zum Beispiel Länder,die die von uns vereinbarten höheren Standards nicht er-füllen, Eier nach Deutschland exportieren. Da sind wird’accord: Das darf es nicht geben. Das müssen wir ver-bieten.
Für uns von der Linken sind folgende zehn Punkte be-sonders wichtig: erstens dass die Tiere nicht länger andie Haltungssysteme angepasst werden, sondern die Hal-tungssysteme an die Tiere, also kein Schwänzekneifenmehr bei Schweinen, kein Schnäbelstutzen mehr beiHühnern;
zweitens dass Tiere nicht mehr aufgrund ihres Ge-schlechts getötet werden, wie zum Beispiel bei Legehen-nen; drittens dass unverzüglich die betäubungslose Fer-kelkastration verboten wird;
viertens dass zum Wohl der Tiere und der BeschäftigtenAkkordarbeit in Schlachthöfen und Dumpinglöhne ver-boten werden;
fünftens dass der Schenkelbrand bei Pferden – hierherrscht große Einigkeit, abgesehen von der Union –verboten wird; sechstens dass die Haltung von Wildtie-ren in Zirkussen untersagt wird; siebtens dass es klareRegelungen zum Verbot von Qualzucht – das wurde be-reits angesprochen – gibt; achtens dass ein Verbandskla-gerecht für Tierschutzverbände und -stiftungen – dennTiere können ihre Interessen nicht selbst vertreten – ein-geführt wird;
neuntens dass der Bund und die Länder sich an den Kos-ten der kommunalen Tierheime beteiligen müssen undzehntens dass Tiertransporte grundsätzlich auf vier Stun-den begrenzt werden.
Für mich und meine Partei ist klar: Eine humanisti-sche Gesellschaft wird auch daran gemessen, wie sie mitden Tieren umgeht. In diesem Sinne werden wir uns indie Beratungen konstruktiv einbringen.Vielen Dank.
Friedrich Ostendorff hat jetzt das Wort für Bünd-nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die Amtszeit von Ministerin Aigner neigt sichdem Ende zu. Sie sitzt auf gepackten Koffern und istquasi schon in Richtung Bayern unterwegs. Nur einederartig schwache, bedeutungslose Ministerin kann ei-nen derart bedeutungslosen Gesetzentwurf zu einem sobedeutsamen Thema wie dem Tierschutz vorlegen.
Wie kann es sein, dass nach Jahren voller Ankündi-gungen und Eigenlob beim Tierschutz ein so schwacherGesetzentwurf herauskommt, Frau Aigner? Wie kann essein, dass wir Sie erst darüber aufklären müssen, woüberall auf der Welt Ihr Kollege Rösler bei uns verbo-tene Hühnerkäfige mit Hermesbürgschaften, also mitSteuergeld, fördert? Herr Rösler gibt sich damit der Lä-cherlichkeit preis. Wie kann es sein, dass die Geflügel-wirtschaft schon jetzt diese Koalition auffordern muss,endlich gesetzgeberisch tätig zu werden, um den Anti-biotikamissbrauch einzudämmen?
Wie kann es sein, dass am vergangenen Mittwoch sogardie Geflügelbarone hier im Bundestag die Kennzeich-nung von Verarbeitungseiern fordern und zeitgleichStaatssekretär Bleser hier im Parlament erklärt: „Kenn-zeichnung geht überhaupt nicht, machen wir nicht“? Wiekann es sein, dass Ihnen nach jahrelanger Diskussionzum Tierschutz nichts weiter einfällt als eine 5-Millio-nen-Euro-Nebelkerzenkampagne für die heutige Formder Tierhaltung? Das, was Sie heute als Gesetzentwurfvorlegen, ist wie immer: zu wenig, zu spät, zu schwach.
Dieses Gesetz schützt die 800 Millionen Nutztiere nicht.Das Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration ab2017 kommt viel zu spät. Weitere 100 Millionen Ferkelwerden der schmerzhaften Kastration ohne Betäubungausgesetzt. Das Ausstellungsverbot für Qualzuchten istrichtig, aber viel zu wenig. Qualzuchten gehören schlichtverboten.
Tiere dürfen nicht so gezüchtet werden, dass sie amEnde ihrer Mast nicht mehr stehen können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23715
Friedrich Ostendorff
(C)
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Auch was Sie beim Thema Tierversuche und Zirkus-tiere vorlegen, ist einfach zu wenig. Die einzig wirklicheVerbesserung, die im Gesetzentwurf steht, ist das Verbotdes Schenkelbrands bei Pferden. Leider wissen Sie sogut wie ich, dass es unter Ihren Agrarrambos längst be-schlossene Sache ist, dass dieses Verbot gekippt wird,damit zur Steigerung des Verkaufspreises dieser Tiereweiterhin der „Hannoveraner Mercedesstern“ einge-brannt werden kann, was zu Verbrennungen dritten Gra-des führt.
Auch an allen anderen tagtäglichen Verstümmelungenwird Ihr Gesetz nichts ändern. Das Schleifen der Zähnevon Ferkeln, das Kürzen ihrer Ringelschwänze oder dasKupieren der Schnäbel von Geflügel wird weitergehenwie gehabt, auch wenn es längst verboten ist. Aber dieseAmputationen und Manipulationen an den Tieren müs-sen beendet werden.
Als große Fans der Massentierhaltung verfolgen Sievon der Koalition nach wie vor einen grundsätzlich fal-schen Ansatz. Ihr Maßstab ist die Anpassung der Tierean arbeitsarme Haltungssysteme, unser Maßstab hinge-gen ist der Anspruch der Tiere auf Wohlbefinden in einerartgerechten Haltung.
Der Bundesrat hat sehr gute Vorschläge gemacht. Sielehnen diese mit hanebüchenen Erklärungen ab. Angeb-lich hatten Sie keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Eswäre der Sache äußerst dienlich, wenn Sie endlich IhrenPrivatkrieg gegen den Bundesrat beenden würden.
Das müssen Sie aber nicht unbedingt, wenn Ihnen dasso schwer fällt; denn wir helfen Ihnen. Wir haben Ihnendie Arbeit abgenommen und ein Tierschutzgesetz einge-bracht, in dem es tatsächlich um Tierschutz geht.
Unser Tierschutzgesetz hilft den Tieren jetzt und nichterst in zehn Jahren und nimmt keine falsche Rücksichtauf Schenkelbrenner, Qualzüchter und Massentierhalter.
Unser Tierschutzgesetz ist allein und kompromisslosdem Tierschutz verpflichtet. Der Wert und nicht derPreis der Tiere steht für uns Grüne und viele Tierschüt-zer im Fokus.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werbe dafür:Nehmen Sie endlich Ihre Verantwortung gegenüber demMitgeschöpf Tier wahr. Nehmen Sie auch Ihre Verant-wortung gegenüber dem Grundgesetz wahr. Nehmen Siesich Zeit zur Beratung. Nehmen Sie sich ein Herz, undstimmen Sie für unser grünes Tierschutzgesetz; denn esist ein Gesetz für echten Tierschutz in Deutschland.
Dieter Stier hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorlie-gende Entwurf der dritten Novelle des Tierschutzgeset-zes soll mit einer Vielzahl von neuen Regelungen zueiner weiteren Erhöhung der nationalen Tierschutzstan-dards beitragen. Ich habe es an dieser Stelle bereitsmehrfach gesagt, und ich beginne auch heute damit:Deutschland nimmt bereits jetzt in Sachen Tierschutzeine Führungsrolle in Europa ein.
Die Nutztierhalter in Deutschland haben in den ver-gangenen Jahren klaglos die Weiterentwicklung derTierhaltung finanziell gestemmt. Sie stehen aber mittler-weile in einem immer größer werdenden Konflikt zwi-schen Wettbewerbsdruck und stärkeren Tierschutzmaß-nahmen. Bisher werden die Landwirte hier einseitig zurKasse gebeten, eine Überwälzung von Zusatzkosten fürhöhere Tierschutzstandards auf den Verbraucher ist bis-her nicht möglich. Die Verbraucher sind nach meinerBeurteilung auch nicht bereit, für vermeintlich besserenTierschutz tiefer in die Tasche zu greifen.Eine einseitige Erhöhung der Tierschutzvorgabenohne Kompensation für die Nutztierhalter in unseremLand lehne ich ab.
Wir alle sollten uns die Frage stellen, wie viel Tierschutzwir uns in Deutschland leisten können, wollen und werdas alles bezahlen soll.
Ich stelle hier die Frage, Herr Ostendorff: Könnenund wollen wir ständige Verschärfungen dem Geldbeuteldes Verbrauchers und dem Steuerzahler zumuten?
Können und wollen wir den tierhaltenden Betrieben be-denkenlos immer weitere zusätzliche Auflagen zumu-ten?
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Dieter Stier
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Sollten wir uns nicht vielmehr die Frage stellen, wie vielan Tierschutz überhaupt notwendig ist?
Ich meine, dass einzelne Forderungen von Unkennt-nis der jeweils Rufenden zeugen. Wir Unionspolitikerbefürworten einen wissenschaftlich basierten Tierschutz.Wir treffen unsere Entscheidungen auf der Grundlagevon Forschungsergebnissen zu Tierschutzfragen und aufder Grundlage von beruflichem Sachverstand.
Ideologien und populistische Emotionalität gehörennicht in diese Debatte.
Mit der Energiewende der Bundesregierung und demvorgezogenen Atomausstieg haben Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von Bündnis 90/Grüne, wohl Ihrwichtigstes Wahlkampfthema verloren.
Es hat für mich den Anschein, dass Sie krampfhaft nacheinem Ersatzthema, auch nach einer neuen Daseinsbe-rechtigung suchen und dabei auf das Tierschutzthemagekommen sind. Ich frage Sie: Gehen Ihnen denn dieThemen aus?
Haben Sie denn keine anderen Botschaften für die Men-schen in unserem Land?
Sie benutzen Emotionen und auch teilweise Unwissen-heit der Menschen, um Stimmung gegen die Tierhalterund den ländlichen Raum zu machen und damit Wähler-stimmen zu gewinnen.
Sie debattieren auf dem Rücken der fleißig arbeitendenLandwirte und Tierhalter. Ich finde das unanständig.
Meine Damen und Herren, notwendig ist diese Tier-schutznovelle, da die EU-Tierversuchsrichtlinie in natio-nales Recht umzusetzen ist. Die Bundesregierung hat ei-nen Entwurf vorgelegt, welcher diese Zielsetzung zumgroßen Teil erfüllt, in einigen Bereichen jedoch auchdeutlich überzogen ist.
Über das Ziel hinaus schießt aus meiner Sicht defini-tiv das Verbot des Schenkelbrands beim Pferd.
Hierdurch würde ein tierzüchterisches Kulturgut zer-stört, welches für die deutsche Pferdezucht bisher einAushängeschild war und weiterhin eine sichere und auchpreiswerte Kennzeichnung gewährleistet.
Deshalb setzen wir uns im Schulterschluss mit den Tier-zuchtverbänden für den Erhalt dieser Form der Tier-kennzeichnung im laufenden Verfahren ein.
Wildtiere im Zirkus. Über das Ziel hinaus schießtauch eine Verordnungsermächtigung, die das Zurschau-stellen bestimmter Wildtiere in Zirkusbetrieben verbie-ten soll. Auch hier setzen wir auf wissenschaftlicheErkenntnisse. Sollte sich in solchen Gutachten heraus-stellen, dass die Haltung und der Transport bestimmterTiere nicht den tierschutzrechtlichen Anforderungen ge-recht werden, dann werden wir in letzter Konsequenzauch Verbote bestimmter Wildtiere in Zirkusbetriebenmittragen. Ohne wissenschaftlich basierte Ergebnisseund nur aufgrund von Emotionen gibt es für uns jedochkein Handlungserfordernis.Wir wollen keine Qualzucht. Deshalb prüfen wir hier,ob die bestehende Rechtslage ausreicht.Wir akzeptieren das Einschreiten gegenüber der un-kontrollierten Vermehrung von streunenden Katzen inbestimmten Regionen Deutschlands. Die Landesregie-rungen sollen durch die Tierschutznovelle die Möglich-keit erhalten, Verordnungen zu erlassen, die den freienAuslauf von unkastrierten Hauskatzen verbieten. Wiesich hier die Kontrolle darstellen soll, ist mir persönlichjedoch noch nicht klar.Wir akzeptieren im Grundsatz auch die Abschaffungder betäubungslosen Ferkelkastration, wobei für michebenfalls noch nicht ganz einsichtig ist, warum Deutsch-land mit dem um ein Jahr vorgezogenen Datum auf EU-Ebene mal wieder der Klassenstreber sein muss,
womit unseren Bauern Wettbewerbsnachteile drohen.Ich hätte mich gefreut, wenn die Schweinehalter erst ab2018 – das wäre die Eins-zu-eins-Umsetzung – zurKasse gebeten werden würden.Wir begrüßen zudem die vorgesehenen betrieblichenEigenkontrollen für den Umgang mit Nutztieren; eineVerordnungsermächtigung dazu lehnen wir jedoch ab.Auch darf diese Maßnahme nicht zu überbordender Bü-rokratie führen.Wir unterstützen auch den verbesserten Schutz derVersuchstiere, insbesondere die Regelungen für die Ver-wendung von Affen. Vergessen, meine Damen und Her-ren, dürfen wir jedoch nicht: Tierversuche dienen derGrundlagenforschung und der Forschung im Hinblick
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Dieter Stier
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auf die menschliche Gesundheit, und ich glaube, diewollen wir alle.
Meine Damen und Herren, wir werden eine Anhörungzu diesem Gesetzentwurf durchführen. Ich freue michauf die inhaltliche Auseinandersetzung mit Ihnen in Sa-chen Tierschutz. Vielleicht bekommen wir in diesemHerbst auch eine Antwort auf die Frage, ob 30 000 Bio-hähnchen unter den Begriff „Massentierhaltung“ fallenoder nicht.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagenauf den Drucksachen 17/10572, 17/6826 und 17/10694an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesord-nung stehen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 46 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Ulrike Gottschalck, HeinzPaula, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDFlugzeugbesatzungen und Reisende vorkontaminierter Kabinenluft schützen– zu dem Antrag der Abgeordneten MarkusTressel, Cornelia Behm, Harald Ebner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKontaminierte Kabinenluft in Flugzeugenunterbinden– Drucksachen 17/7611, 17/7480, 17/9451 –Berichterstattung:Abgeordneter Torsten StaffeldtEine halbe Stunde Aussprache ist vorgesehen. – Da-mit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.Ich gebe das Wort dem Kollegen Peter Wichtel für dieCDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach der ersten Beratung im vergangenen Jahr kommenwir heute zur abschließenden Behandlung der Anträgeder Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD. LassenSie mich, wie letztes Jahr auch, vorab klar sagen, dassdie Bundesregierung ihrer Verantwortung im Bereichdes Luftverkehrs nachkommt und die Bürger unabhän-gig davon, ob sie als Passagiere an Bord sind oder zurFlugzeugbesatzung gehören, mit einer überaus verant-wortungsbewussten Luftverkehrspolitik begleitet. DieSicherheit des Luftverkehrs und der Ausschluss gesund-heitlicher Gefährdungen genießen vor allen anderen Be-langen die mit Abstand höchste Priorität.
Die beiden vorliegenden Anträge zur Thematik derGeruchsbelästigung und der Kontamination der Kabi-nenluft in Flugzeugen unter anderem durch Ölrück-stände stellen das Sicherheitsbewusstsein der Bundes-regierung allerdings infrage. Es wird behauptet, dassderartige Zwischenfälle allgemein gefährlich seien unddarüber hinaus in der jüngsten Vergangenheit vermehrtaufgetreten seien.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an dieserStelle zunächst verdeutlichen, dass es in der Vergangen-heit unterschiedliche Gründe für Geruchsbelästigungenin den Flugzeugkabinen gab und nicht alle Geruchsbe-lästigungen auf Öldämpfe zurückzuführen waren. Es gabimmer wieder andere Ursachen: Küchendämpfe, defekteKaffeemaschinen, verschmorte Kabel und Kunststoff-verkleidungen waren für diese Gerüche verantwortlich.Dementsprechend haben die zuständigen Behörden aufnationaler und internationaler Ebene keinen Handlungs-bedarf gesehen.Die weltweit für die Sicherheit zuständige Luftfahrt-organisation ICAO hat sich im Oktober 2010 mit derThematik beschäftigt und keinen Anlass gesehen, sichweiter damit zu beschäftigen; sie hat die bestehendenVerfahren für in Ordnung befunden. Dasselbe gilt für dieeuropäische Organisation, die EASA, die nach umfas-senden Konsultationen zur Kabinenluft keine konkretenHinweise auf eine Gesundheitsgefährdung von Passagie-ren oder Besatzungsmitgliedern gefunden hat. Auch dieErkenntnisse des Luftfahrt-Bundesamtes und der Bun-desstelle für Flugunfalluntersuchung gaben keinen An-lass, die Einschätzung zu ändern.Wichtig ist, dass es in Form der EU-VerordnungNr. 996/2010 ein gesetzlich verankertes, sicheres Melde-verfahren gibt; die Betroffenen sind verpflichtet, den zu-ständigen staatlichen Stellen schwere Störungen zu mel-den. Die Meldepflichten und die Verfahren im Falleeiner Störung sind also in Ordnung. Die Meldepflichtenmüssen natürlich von den Luftverkehrsunternehmen undden Besatzungen wahrgenommen werden. Sollten dieUnternehmen hingegen die Meldepflicht vernachlässi-gen und ihr nicht zur Genüge nachkommen, muss diesKonsequenzen nach sich ziehen.Auch hier war die Bundesregierung überaus aktiv.Das in Deutschland zuständige Luftfahrt-Bundesamt hatvor zwei Jahren bei Inkrafttreten der besagten Verord-nung bewusst den Kontakt zu den Luftfahrtunternehmenaufgenommen und auf die Einhaltung der Meldepflich-ten hingewiesen. Zudem wurde das Leitungspersonal derUnternehmen durch Informationsveranstaltungen seitens
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Peter Wichtel
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des LBA weiter sensibilisiert und so auf eine Verbesse-rung des Meldeverfahrens auch im Hinblick auf konta-minierte Kabinenluft hingewiesen.
Es gilt, noch einmal deutlich zu betonen, dass es sei-tens der zuständigen Behörden ein intaktes, funktionie-rendes Meldeverfahren gibt. Missstände und Fehlstände,die mitgeteilt werden, können also bearbeitet werden. In-wiefern nun beispielsweise der Flug von Germanwingsim Dezember 2010 – seit dem Frühstücksfernsehenheute dürfen wir ja diese Begleitmusik zu den beidenvorliegenden Anträgen erleben –
tatsächlich zu dem führte, was wir heute diskutieren,bleibt der Untersuchung durch die Bundesstelle für Flug-unfalluntersuchung vorbehalten; wir müssen die Be-richte abwarten.Ich denke, wir sollten dementsprechend handeln,wenn wir tatsächlich feststellen sollten, dass bestimmteDinge nicht gemeldet worden sind. Ich kann mir nichtvorstellen, dass der Captain nicht selbst noch an Borddie Flugunfallmeldung vorgenommen und dementspre-chende Hinweise gegeben hat. Dennoch kann ich schonheute sagen, dass es sicher unakzeptabel wäre, wenn vonder Firma und den Betroffenen keine Meldung gemachtworden wäre.Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen. DieKabinenluft und das aktuelle Thema sind in guten Hän-den. Die Meldepflichten und die Meldewege sind inOrdnung. Ich denke, dass die Anträge der SPD und derGrünen, die Messverfahren und alle möglichen Dingebeinhalten, hinfällig sind und nicht gebraucht werden.Deswegen werden wir sie ablehnen.Vielen Dank.
Der Kollege Hans-Joachim Hacker hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Wichtel, es ist erschütternd: Sie sin-ken ja heute unter das Niveau der ersten Beratung,
bei der die Kollegin Schäfer eingeräumt hat: Wir habenhier ein Problem. – Ich komme nachher auf ihre Redenoch zu sprechen. Sie hat das eingeräumt. Eingeräumthaben das auch alle Experten in der Anhörung des Tou-rismusausschusses am 21. September 2011. Unbestrittenerfordert es dieses Thema, dass wir handeln. Ich frageSie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, undich frage auch Sie, Herr Mücke, als Vertreter der Bun-desregierung: Warum tun Sie eigentlich nichts?Herr Wichtel, wenn hier heute über Begleitmusik ge-sprochen wird, dann finde ich das ignorant. Das ist men-schenverachtend. Nach den Berichten waren wahr-scheinlich Menschen in einer Gefahrensituation. Einesolche Gefahrensituation existierte nicht nur bei diesemFlug, sondern auch bei anderen Flügen. Ich finde es un-erhört, dass Sie hier von Begleitmusik sprechen.
Was ist denn seit dem 21. September 2011 geschehen?Wir haben eine klare Bewertungslage. Die Experten ha-ben in ihren Bewertungen zur Situation weitestgehendeinheitlich votiert. Selbst die Vertreter der Flugzeugin-dustrie haben gesagt: Wir haben hier unstreitig ein Pro-blem – auch wenn es unterschiedlich beleuchtet wurde –für Gesundheit und Leben von Besatzungsmitgliedernund Passagieren.Es wurde nichts getan. Die Koalition hat das ausge-sessen. Wir haben Anträge gestellt, die wir hätten präzi-sieren können. Wir haben da auch keine hundertprozen-tige Übereinstimmung mit dem Antrag der Grünen. Dashätte man alles harmonisieren können. Sie haben abernichts gemacht; das ist der Vorwurf. Die Bundesregie-rung hat auch nichts gemacht, Herr Mücke; das ist derVorwurf. Sie verhalten sich hier wie die drei bekanntenAffen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.
Worauf warten Sie eigentlich? Warten Sie darauf,dass die Industrie dieses Problem allein löst, ohne politi-sche Begleitung, zu der wir verpflichtet wären? Ich willIhnen nicht unterstellen, Herr Mücke, dass Sie möchten,dass wir alle durch einen Vorfall aufgeschreckt werden.Den wünschen wir uns alle nicht, und den mag sichheute auch keiner vorstellen.Deswegen sage ich: Sie können das Problem im Mo-ment nicht lösen, aber Sie können einen Weg für die Lö-sung des Problems eröffnen, und diesen Weg zeigen diebeiden Anträge der Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD auf. Sie sagen, es bestehe kein Lö-sungsbedarf, es sei Begleitmusik. Herr Wichtel, das istunerhört.
Unerhört ist es auch, Herr Staffeldt, wenn Sie von derFDP davon sprechen,
es werde – ich zitiere aus Ihrer Rede in der ersten Bera-tung; wir befinden uns in der Beschlussfassung – Hyste-
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Hans-Joachim Hacker
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rie verbreitet. Wer verbreitet hier Hysterie, und wer willabwiegeln?
– Wir verbreiten keine Hysterie. Wir beziehen uns aufganz klare Erkenntnisse der Experten und darauf, wasdie Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung monatlichpräsentiert. Lesen Sie doch einmal die Berichte der Bun-desstelle.
Dann werden Sie klüger. Sie brauchen nicht unbedingtdie Zeitungartikel zum Beispiel aus der Welt von gesternzu lesen, wobei das die Spitze der Unerträglichkeit war.Sie haben gesagt, Sie bräuchten keine Auswertungder Sachverständigenanhörung. Das sei Hysterie. Ich be-ziehe mich auf die Aussagen von Cockpit, ich beziehemich auf die Aussagen der Expertin Frau Dr. Michaelis,die feststellte,
dass es eine wachsende Anzahl von Berichten der Bun-desstelle für Flugunfalluntersuchung und anderer Stellengibt, die deutlich zeigen, dass die Belastung mit konta-minierter Kabinenluft eine Gefahr für die Sicherheit dar-stellt. Wer wollte das hier eigentlich infrage stellen? Daskann doch keiner ernsthaft infrage stellen.Die Kollegin Anita Schäfer – ich komme noch einmalauf die erste Beratung zurück – hat eingeräumt, dass esein Problem mit kontaminierter Kabinenluft gibt. Wennman die Rede von Frau Schäfer noch einmal nachliest,dann spürt man in jeder Zeile das schlechte Gewissen,das Frau Schäfer hatte, als sie ihre Rede hielt. Sie räumtezwar das Problem ein, war aber nicht bereit, einem Lö-sungsweg zuzustimmen, der in den beiden Anträgen auf-gezeigt wird.
Selbst das hätten Sie nicht machen müssen. Denn Siehätten einen Antrag mit einem ähnlichen Inhalt, mit ei-nem Lösungsvorschlag einbringen und die Bundesregie-rung zum Handeln auffordern können. Das haben Sienicht getan. Sie haben vertuscht.
Sie haben das Problem herunterspielen wollen. ZumThema Kabinenluft sagt die FDP – Herr Staffeldt, hörenSie einmal zu –,
bezogen auf die Sicherheit gebe es keinen Vorfall, dereine sofortige oder generelle Vorschriftenänderungrechtfertige.Sie beziehen sich immer auf Untersuchungen von eu-ropäischen und internationalen Stellen.
Ich sage Ihnen: Sie sind ignorant, wenn Sie die Unter-suchungsergebnisse der Bundesstelle für Flugunfallun-tersuchung nicht ernst nehmen. Ich könnte Ihnen jetztMonat für Monat die Beispiele aufzeigen.
Die Ergebnisse müssten Sie doch haben. Die müssten Ih-nen doch vorliegen.Es gibt zum Beispiel eine Meldung vom 6. März2012. Dabei geht es um einen Vorgang in Miami: starkerÖlgeruch im Cockpit, Kopfschmerzen, Herzrasen, Be-nommenheit bei den Piloten. Das ist ein Vorfall.
Ein zweiter Vorgang: Es war wieder eine Störung. Eskam auch zu einer Rauchwarnung im Cockpit und imBereich der Kabine. Das war am 12. März.Am 16. März meldet die Bundesstelle für Flugunfall-untersuchung – dies ist eine deutsche Dienststelle, HerrStaffeldt; das war nicht in irgendeinem Land der DrittenWelt – einen weiteren Vorfall: stark fauliger Geruch,starke Kopfschmerzen, Unwohlsein in einer Boeing.
Dann gibt es einen Bericht vom 26. April. Ich will esnicht näher beschreiben. Start war in Moskau, und eskam zu den gleichen Erscheinungsformen. Es gab einenVorfall am 3. Juni und eine schwere Störung – zumGlück ohne Verletzte –
am 5. Mai 2012 in Palma de Mallorca. Bei den beidenPiloten kam es zu heftiger Müdigkeit. In der Folgewurde eine automatische Landung durchgeführt.Ich frage Sie: Wie gehen Sie eigentlich mit demThema Sicherheit um? Wie gehen Sie mit dem Thema„Gesundheit und Leben von Passagieren und Besat-zungsmitgliedern“ um?
Sie zeigen hier eine bodenlose Ignoranz. Das Nichthan-deln der Bundesregierung ist unerträglich.
Herr Mücke, zu dem jüngst vermeldeten Vorgang– ich beziehe mich auf die Welt vom gestrigen Tage – hat
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Hans-Joachim Hacker
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Ihr Haus mitgeteilt, man wisse von dem Vorfall nichts,eine Abstimmung zwischen dem Bundesverkehrsminis-terium und der BFU über die Veröffentlichung oder dasEinleiten von Untersuchungen finde nicht statt. Hierwurde vorhin von Herrn Wichtel erzählt, da gebe es soeine tolle Kontaktreihe zwischen dem Bundesministe-rium und der BFU. Asche! Nichts ist da. Keine Kon-takte!
Schlafen der Bundesregierung! Tiefschlaf im Sommerist dort zu verzeichnen.
Es wurde dann gefragt, ob das Ministerium dasThema kontaminierte Kabinenluft überhaupt verfolgenwürde.
Da erklärt die Vertreterin des Bundesverkehrsministe-riums, das Thema kontaminierte Kabinenluft – ich zi-tiere sinngemäß – würde nicht in ihrem Hause, sondernin den zuständigen europäischen und internationalenGremien behandelt.Gut, das können Sie auch machen. Aber nehmen Siedoch erst einmal die Berichte der deutschen Stelle zurHand. Es ist unbestritten, dass wir hier eine extreme Ri-sikosituation haben. Wenn Sie schon der Meinung sind,Sie können den beiden Anträgen der Opposition nichtzustimmen, dann nehmen Sie das Problem selbst in dieHand. Es ist ein Problem, das seit Jahren bekannt ist, undSie schwitzen jahrelang, ohne dass irgendetwas dabeiherauskommt.
Ich spreche dabei, Herr Mücke, auch ganz konkret denBundesverkehrsminister an.
Herr Kollege.
Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer ist der Haupt-
verantwortliche für Sicherheitsfragen im Luftverkehr. Er
ist nicht nur zuständig –
Herr Kollege.
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – für
Kfz-Ortskennzeichen und ähnliche Späße, sondern er ist
der Verantwortliche für Luftverkehrssicherheit. Das, was
Sie in den letzten Jahren geliefert haben, ist ein schwerer
Verstoß gegen die Wahrnehmung von Pflichten der Bun-
desregierung in diesem Bereich.
Herr Kollege.
Ich hoffe, dass Sie aus der heutigen Debatte klüger
werden und endlich Aktivitäten zeigen.
Der Kollege Torsten Staffeldt hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wenn wir hier über Kontami-nation reden, kann man dem Kollegen Hacker nur zu-stimmen: Offensichtlich ist er kontaminiert und hat be-reits den Tunnelblick.
Meine Damen und Herren, ich möchte versuchen, vonder reinen Polemik, die wir eben gehört haben, ein wenigwegzukommen und zu dem eigentlichen Thema zurück-zukommen. Wir haben zwei unterschiedliche Themen.Zum einen haben wir seit gestern den Bericht der Bun-desstelle für Flugunfalluntersuchung vorliegen, seltsa-merweise erst seit gestern.
Dort wird über eine Problematik berichtet – den Berichthabe ich im Übrigen gelesen, lieber Kollege Hacker –,die nach all dem, was ich gelesen habe, mit dem, was Siein Ihrem Antrag angesprochen haben, überhaupt nichtszu tun hat. Dort geht es nicht um eine Kontamination– in diesem Fall nicht der Kabinenluft, sondern derCockpitluft – durch Ölrückstände von den Turbinen,sondern es geht um die Problematik, dass offenbar Ent-eisungsflüssigkeit in den Luftkreislauf gelangt ist unddiese Enteisungsflüssigkeit ausschließlich bei der Cock-pitbesatzung zu Problemen geführt hat.
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Torsten Staffeldt
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Ich habe noch vorhin mit Airbus und anderen telefo-niert, um mich dazu ein bisschen schlauzumachen. Esgibt die Vermutung, dass diese Enteisungsflüssigkeit so-zusagen in Pfützen liegen geblieben ist und ausschließ-lich in den Cockpitbereich gelangt ist, was zu den be-kannten Problemen geführt hat. Übrigens hat sichGermanwings dazu auch erklärt.
Die Aufklärung über das Thema, das heißt der ganzeProzess, ist völlig transparent. Dass man gerade jetztversucht, das Ganze wieder aufzuhängen,
zeigt eigentlich nur, wie gut sich die Opposition mit eini-gen speziellen Medien, die auf diesem Gebiet einenKreuzzug betreiben – so möchte ich fast sagen –, ausei-nandersetzt und wie kampagnenfähig sie ist. In diesemFall muss ich anerkennend sagen: Da machen Sie einegute Kampagne. Aber in der Sache ist das leider völligdaneben.Der Vorfall bei Germanwings im Zusammenhang mitder Enteisungsflüssigkeit hat mit dem, was in den Anträ-gen steht, nichts zu tun. Deswegen sollten Sie diesenVorfall auch nicht als Aufhänger nutzen.
Die grundsätzliche Problematik, wenn man sich damiteinmal beschäftigt, liegt darin, dass wir bei den Ver-kehrsflugzeugen ein Drucksystem, eine Druckkabine ha-ben. Sie erinnern sich, ich bin auch Pilot, ich kenne michalso auch von der fachlichen Seite ein bisschen aus. Ge-rade bei den großen Verkehrsflugzeugen haben wir inden entsprechenden Höhen einen Außendruck, der einÜberleben gar nicht zulassen würde. Aus diesem Grundbrauchen wir ein Überdrucksystem.
Da dieses Überdrucksystem zuverlässig sein muss, wirddie Luft als sogenannte Zapfluft aus den Turbinen gene-riert. Denn wenn es in der Druckkabine keine Luft gäbe,würden die Menschen dort sterben. In diesen Höhen be-steht ein Außendruck von 200 Millibar, das würde keinMensch überleben.
– Das ist unstreitig, danke. Das freut mich.Es ist sicherlich auch unstreitig – hier geben Sie mirsicherlich auch recht –,
dass diese Zuverlässigkeit extrem wichtig ist. Die Zuver-lässigkeit bei einer Turbine ist mindestens genauso hoch.Die Sicherheitsproblematik im Hinblick auf die Zapfluftoder die Außenluft, auf die Luft, die wir in der Kabinebrauchen, können wir am ehesten lösen, indem wir dieLuft dort anzapfen, wo die Zuverlässigkeit mindestensgenauso hoch ist, nämlich bei der Turbine.Sie haben sich offensichtlich über die Luftmengenkeine Gedanken gemacht. Dort wird – das steht im Pro-tokoll des Tourismusausschusses – etwa 1 KubikmeterLuft pro Sekunde – das muss man sich einmal überlegen– durch die Kabine gejagt. Das heißt, wenn es dort – wasleider vorkommt – zu sogenannten Fume Events kommt,das heißt, wenn gelegentlich eine Dichtung defekt istoder bei einem Lastwechsel etwas Öl mitgerissen wird,dann kommt es zu einer extrem starken Verdünnung. Zudiesem Thema möchte ich Professor Dr. Jürgen Büngeraus dem Protokoll des Ausschusses zitieren. Er sagt: Beiall diesen Konzentrationen muss man aus toxikologisch-medizinischer Sicht sagen: Dies ist sicher nicht die Ursa-che für die Gesundheitsbeschwerden. – Das sagt ein Pro-fessor.
Herr Kollege Hacker, Sie haben darauf hingewiesen,dass alle Experten gesagt hätten, dass es ein Problemgibt. Hier haben wir aber den ersten Experten, der sagt,dass das nicht das Problem sei.
Kommen wir zu dem, was wir im Moment in den Me-dien erleben. Dort zeigt sich Alarmismus und Hysterie.Insofern gilt das, was ich in meiner ersten Rede gesagthabe, auch in diesem Fall. Ich erinnere an den BFU-Be-richt von gestern und die heutige Berichterstattung. DieOpposition betätigt sich wieder einmal als Brandstifter
und versucht, die Bundesregierung und den Staatssekre-tär Mücke völlig unzulässigerweise anzugreifen.Der Kollege Wichtel hat dazu alles Notwendige ge-sagt, nämlich dass wir über die EASA, über die FAA undüber die ICAO die entsprechende Mechanismen haben.Natürlich ist es so, lieber Kollege Hacker – das gilt auchfür alle anderen –, dass es bei technischen Systemen im-mer Restrisiken gibt. Das wissen wir. Das ist der Preis,den wir für Fortschritt und Wohlstand zu zahlen haben.
Die Anzahl der Problematiken, die wir haben, ist sogering und auch die Kontamination ist so gering, dassman davon ausgehen kann, dass es keine größeren Pro-bleme gibt. Die Anzahl der Vorfälle liegt unterhalb derWahrnehmungsgrenze. Da wir schon beim Thema Wahr-nehmung sind: Wahrnehmungsprobleme haben offen-sichtlich auch Sie und versuchen, daraus ein Problem zugenerieren, das in dieser Form gar nicht vorhanden ist.Aus diesem Grunde werden wir Ihrem Antrag auch nichtstattgeben. Das können Sie sich denken.Ich möchte nichtsdestotrotz darauf hinweisen, dassdie Luftfahrtindustrie natürlich daran arbeiten muss, an-
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dere Systeme zu entwickeln. Wenn es dort ein Restrisikogibt, sollte man generell überlegen, ob man es nicht aus-schalten und mit anderen Systemen arbeiten kann. Ichbin mir sicher, dass die Luftfahrtindustrie daran intensivarbeitet.Ein Abschlusssatz, liebe Frau Präsidentin, weil meineRedezeit abgelaufen ist: Wer glaubt, dass beim Fliegenjedes Unwohlsein aufgrund der Kabinenluft entsteht, derglaubt auch, dass das Problem verschwindet, wenn manbeim Flug das Fenster öffnet.Vielen Dank.
Herr Kollege Staffeldt, ich will Sie gerne darauf hin-
weisen, dass ich der Überzeugung bin, dass der Vorwurf
an einen Kollegen, dass er wohl kontaminiert sei, jen-
seits der sachlichen Auseinandersetzung zu sein scheint.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Thomas Lutze für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir diskutieren heute ein Problem, das weltweit fast je-
den Tag Millionen Menschen betrifft. Es ist ein Problem
sowohl der Sicherheit als auch des Verbraucherschutzes.
Vor einem Jahr – das ist bereits gesagt worden – hat
sich der Tourismusausschuss in einer öffentlichen Ex-
pertenanhörung mit dem Thema kontaminierter, also
verunreinigter, Kabinenluft auseinandergesetzt, und
zwar sehr umfangreich. Seitdem hat es wieder mindes-
tens ein Dutzend bekannte Störfälle mit kontaminierter
Kabinenluft gegeben. Damit verbunden waren Krank-
heitsfälle von Piloten und Passagieren. Ich sage ganz
deutlich: Glücklicherweise ist dieses Thema in den letz-
ten Tagen wieder von den Medien aufgegriffen worden.
Dass sich eines der betroffenen Ministerien mit dieser
Thematik auseinandergesetzt hat, mit Experten gespro-
chen oder Forschungsaufträge vergeben hat, war bisher
nicht bekannt. Die Regierung arbeitet offensichtlich
nach dem Prinzip: abwarten und aussitzen. Solange Sie
von dritter Seite nicht zum Handeln gezwungen werden,
passiert offenbar nichts.
Das aerotoxische Syndrom, verursacht durch das
hochgefährliche Nervengift TCP im Motoröl und die
Ansaugung der Kabinenluft über die Motoren, ist seit
Anfang der 50er-Jahre bekannt. Das gefährliche Zapf-
luftsystem ist beim Flugzeugturbinenbau weit verbreitet.
Hintergrund war und ist die möglichst hohe Kostener-
sparnis beim Flugzeugbau.
Dabei standen von Anfang an Alternativen zur Verfü-
gung. Auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Als
Alternativen gibt es heute zwei Flugzeugmotorentypen,
entwickelt von den Firmen Rolls Royce und General
Electric. Das von Boeing hergestellte Flugzeug B787,
auch Dreamliner genannt, ist der weltweit einzige Flug-
zeugtyp in dieser Größenordnung, der mit alternativen
Triebwerken ausgestattet ist. Hierbei wird auf das Zapf-
luftsystem verzichtet und die Kabinenluft separat ange-
saugt.
Interessant daran ist, dass dieser Motor ursprünglich
für den Airbus A350 entwickelt wurde. Dieser Flug-
zeughersteller – der zweitgrößte weltweit – verfolgte
diese Entwicklung aber nicht weiter und verlor das Inte-
resse daran. Stattdessen fliegt Airbus weiterhin mit den
umstrittenen Turboprop-Maschinen, also mit Motoren,
bei denen für die Klimaanlage Zapfluft verwendet wird.
Hier können, wie bereits geschildert, giftige Öldämpfe in
die Kabine gelangen.
Fest steht, dass die aufgetretenen Gesundheitsgefähr-
dungen von Passagieren, Flugbegleitern und Piloten
durch das Einatmen giftiger Gase offenbar auch aus
Gründen der Kostenersparnis billigend in Kauf genom-
men wird.
Spätestens seit der besagten Expertenanhörung und
den beiden Anträgen von Grünen und SPD hat die Bun-
desregierung nun Kenntnis davon. Es liegt an ihr und an
den beiden Koalitionsfraktionen, der weiteren Gefähr-
dung der Gesundheit und der Flugsicherheit entgegenzu-
wirken.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, darauf
hinzuwirken, dass die Flugzeugindustrie für alle zukünf-
tig zu entwickelnden Flugzeugtypen alternative und un-
bedenkliche Technologien verwendet. Bis dieser Prozess
abgeschlossen – das wird Jahrzehnte dauern – und Reali-
tät am Luftfahrthimmel ist, müssen schnellstmöglich ge-
eignete Filteranlagen entwickelt und eingebaut werden.
Flugsicherheit und Gesundheit dürfen keine Kostenfrage
sein.
Herr Hacker, Herr Tressel, wir werden Ihren Anträgen
zustimmen.
Vielen Dank.
Der Kollege Markus Tressel hat das Wort für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Union und von der FDP, was haben Sie eigent-lich gegen mehr Gesundheitsschutz und gegen mehrArbeitsschutz für die Beschäftigten unserer Fluggesell-schaften? Warum machen Sie sich hier über die Be-troffenen lustig?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23723
Markus Tressel
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In meinem Büro sind in den letzten Wochen undMonaten Hunderte von Anrufen eingegangen. Ich weiß– das haben Sie in der ersten Lesung auch schon gemacht –,dass Sie den Leuten vorgeworfen haben, sie seien psy-chisch irgendwie beeinträchtigt, aber nicht aufgrundkontaminierter Kabinenluft erkrankt.Wir haben gestern den Bericht von der BFU bekom-men. Das ist kein Bericht, den die Grünen oder die SPDverfasst haben, sondern der kommt von der Bundesstellefür Flugunfalluntersuchungen. Wenn Sie uns einen gro-ßen Einfluss auf diese Stelle zubilligen, dann freue ichmich darüber, aber das ist doch nicht realistisch.Herr Staffeldt, Sie haben sich hier explizit über dieBetroffenen lustig gemacht.
– Natürlich hat er sich lustig gemacht. Das ist doch derSache überhaupt nicht zuträglich.
Es gibt einen Fall, bei dem ein Kopilot flugdienstun-tauglich wurde.
Wenn Sie sich den Bericht des Kapitäns anschauen, dannsehen Sie, dass sogar der Kapitän selbst gesagt hat, erhalte es für unwahrscheinlich, dass dies auf das Entei-sungsmittel zurückzuführen sei.
Das hat doch nichts mit verbrannten Brötchen zu tun,Herr Wichtel, sondern das hat mit von vielen Organisa-tionen festgestellten Beeinträchtigungen zu tun. Das nor-wegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt hat festge-stellt, dass damit auch im Normalbetrieb neurotoxischeStoffe in die Kabinenluft gelangen können. Dieses Insti-tut ist doch keine Organisation der Grünen. Es gibt eineGesundheitsgefahr für Crew und Passagiere. Deshalbgibt es auch ein ernstzunehmendes Risiko für die Flugsi-cherheit. Das haben wir bei diesem Fall explizit gesehen.Wir haben auch gesehen: Es ist beileibe kein Einzel-fall, über den wir hier sprechen. Alleine 67 Fälle im Zu-sammenhang mit Öldämpfen sind in den vergangenendrei Jahren amtlich erfasst worden. Davon wurden 9 alsschwere Störungen klassifiziert, bei denen Crewmitglie-der ausgefallen sind oder Piloten Sauerstoffmasken zie-hen mussten. Das sind nur die amtlich erfassten Fälle.Die Vereinigung Cockpit – auch nicht im Verdacht, denGrünen besonders nahe zu stehen –
hat auf einer Fachtagung des Umweltbundesamtes imMai von 360 registrierten Fume Events alleine bei einerAirline gesprochen.
Herr Tressel?
Ja, bitte?
Die Zwischenfrage von Herrn Staffeldt möchten Sie
zulassen? – Bitte schön.
Liebe Kollegin Mortler, ich will jetzt nicht darauf ein-
gehen – –
Die Kollegin Mortler sitzt da drüben, ich bin der Kol-
lege Tressel.
Entschuldigung, Herr Tressel. – Ich will jetzt nicht
darauf eingehen, was Sie in Bezug auf „lustig machen“
gesagt haben. Ich möchte auf das eigentliche Thema ein-
gehen.
Sowohl der Antrag der Grünen als auch der Antrag
der SPD beziehen sich auf Ölrückstände. Sie haben den
BFU-Bericht zitiert. Ich möchte Sie darauf hinweisen,
dass das BFU zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das
Ölproblem nichts damit zu tun hat. Im Bericht des BFU
steht:
Nach der Landung wurde das Flugzeug von der
Technik des Luftfahrtunternehmens überprüft.
Nach Angaben der Techniker war der außerge-
wöhnliche Geruch noch 15 Minuten nach dem Ab-
stellen des Flugzeuges und bei geöffneten Cockpit-
Fenstern deutlich wahrnehmbar. Er wurde als mit
hoher Wahrscheinlichkeit von Enteisungsflüssigkeit
stammend befunden, Öl-, Treibstoff- oder elektri-
scher Geruch wurde von den Technikern definitiv
ausgeschlossen.
Lieber Kollege Tressel – jetzt habe ich mir Ihren Namen
auch gemerkt –, wie stehen Sie dazu? Was hat das mit
Ihrem Antrag zu tun?
Ich habe das vorhin bereits ausgeführt, lieber HerrKollege Staffeldt. Der Kapitän dieses Fluges hat in sei-nem Bericht, der diesem Bericht zugrunde liegt und dermir auch vorliegt, ausdrücklich gesagt, er schließt Entei-sungsmittel als Ursache dafür aus. Warten wir einmal ab,was letztendlich im Bericht stehen wird.Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen – offenbarhaben Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen –: Wirbeziehen uns eben nicht nur auf Öldämpfe, sondern auchauf andere Stoffe.
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23724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Markus Tressel
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Der Tagesordnungspunkt heißt „Kontaminierte Kabinen-luft in Flugzeugen unterbinden“, und Kontaminationkann schließlich auch durch andere Gefahrenstoffe ent-stehen. Wir werden sehen, was die BFU letztendlich her-ausfindet. Ich kann es nur nochmals sagen: Der Kapitändieses Flugzeuges, ein erfahrener Kapitän, auch auf die-sem Flugzeugmuster, hat ausgeschlossen, dass es sichum Enteisungsmittel handeln kann. Zudem stellt sichauch die Frage, wieso das Enteisungsmittel bei ausge-schalteter Klimaanlage – wie Sie dem Bericht auch ent-nehmen können – erst am Ende des Fluges in das Flug-zeug gelangt ist und nicht bereits beim Start desFlugzeuges.
Ich habe es vorhin bereits gesagt: Die VereinigungCockpit hat auf einer Fachtagung des Umweltbundesam-tes im Mai von 360 registrierten Fume Events allein beieiner Airline gesprochen. Bei einer anderen Airline gabes 60 Vorfälle.Herr Wichtel, Sie sind vorhin auf die Meldepflichteingegangen. Ich habe eine parlamentarische Anfrage andie Bundesregierung gestellt. In der Antwort wurde mirbestätigt, dass ein Vorfall zum Beispiel erst auf Nach-frage der Behörde gemeldet wurde. Wo kommen wirdenn da hin, wenn Behörden jetzt schon nachfragenmüssen, ob es in den Flugunternehmen einen Vorfallgab? Das ist ein etwas seltsames Verständnis.Die FAA – die Bundesluftfahrtbehörde der USA – hateingeräumt, dass die Belastung mit Öldämpfen dieCockpitbesatzung und die Flugsicherheit beeinträchtigenund somit zu einer unsicheren Betriebslage führen kann,während das Luftfahrt-Bundesamt und die EASA so tun,als ginge sie das alles nichts an. Das sage ich in allerDeutlichkeit. Es ist jetzt an der Zeit, endlich zu handeln.Wir haben in unserem Antrag einen praktikablen Vor-schlag gemacht, der niemanden überfordert. Wir be-schreiben darin einen Weg, wie wir uns diesem Problemverantwortlich nähern können. Es geht doch nicht da-rum, die Airlines in irgendeiner Weise an den Pranger zustellen,
wie immer behauptet wird, sondern es geht um denSchutz der Reisenden, um die Flugsicherheit und damitauch um die Geschäftsgrundlage der Airlines.
Wir brauchen endlich neurotoxisch unbedenklicheJet-Öle. Ich weiß nicht, was aus Ihrer Sicht dagegenspricht, das so zu machen. Wir brauchen effektive Warn-anlagen. Ich verstehe nicht, was dagegen spricht, dieseeinzubauen. Wir brauchen effektive Zapfluftfiltersys-teme, damit die schlimmsten Stoffe gar nicht erst in dieKabine gelangen können. Auch hier spricht aus meinerSicht nichts dagegen, diesen Weg konsequent zu be-schreiten.
Wir brauchen einen klaren Rechtsrahmen und durch-setzungsfähige Behörden, die dafür sorgen, dass die Re-geln eingehalten werden. Dass dies bisher offenbar nichtder Fall war, zeigt, dass bisher noch kein Bußgeld ver-hängt wurde, dass die Behörden bei den Airlines anrufenmussten, um herauszufinden, ob es einen Zwischenfallgab.Ich sage Ihnen: Sie nehmen die Sorgen und Nöte derBetroffenen nicht ernst, und Sie nehmen auch die be-gründete Besorgnis bezüglich der Sicherheit des Luft-verkehrs nicht ernst. Ich hoffe, dass Sie noch zur Besin-nung kommen und unserem Antrag zustimmen werden,damit wir endlich einen ordentlichen Weg beschreitenkönnen, um dieses Problem zu lösen.Vielen Dank.
Jetzt hat Marlene Mortler das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wer den Kollegen von der Opposition auf-merksam zugehört hat – das habe ich –, könnte glauben,dass man das Fliegen sofort einstellen muss bzw. wenn,dann nur noch mit dem Dreamliner fliegen sollte.
Ich will die Sache nicht verharmlosen, sondern ganz klarsagen: Gesundheit und Sicherheit im Bereich Flugver-kehr sind uns allen wichtig, ebenso wichtig wie den Da-men und Herren von der Opposition.
Wer als Unbedarfter die Schlagzeilen heute Morgengelesen hat – Germanwings vertuschte Beinahe-absturz –, war zunächst erschrocken. Ich auch. Ichdachte: Ein neuer Fall. Dieser „neue“ Fall – ich sage dasin Anführungszeichen –, über den wir hier reden, gehtauf das Jahr 2010 zurück. Das möchte ich an dieserStelle noch einmal klarstellen.
Über diesen Fall ist in unserer Anhörung am 21. Septem-ber 2010 diskutiert worden, Kollege Hacker. Das wurdeprotokolliert. Ich zitiere: Ein Airbus der Germanwingsentging knapp einer Katastrophe während der Landung
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Marlene Mortler
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in Köln/Bonn, nachdem Öldämpfe in das Cockpit ein-drangen. – Das heißt: Das ist nichts Neues.
Nun fragt man sich natürlich: Ist es reiner Zufall, dassdas Ganze ausgerechnet heute, mit dieser Debatte hoch-gezogen wird?
Ich sage es noch einmal: An Sicherheit und Gesundheitam Boden und in der Luft wollen wir nicht rütteln.Herr Kollege Tressel, Sie haben einen Punkt heraus-gegriffen und gesagt: Ich bin dafür, dass es neue, bessereJet-Öle gibt.
Ich erinnere mich an die Frage, die ich in der Anhörunggestellt habe. Sie haben nämlich im Vorfeld für ein Ölgeworben, das weder untersucht noch zertifiziert ist. Da-mit haben Sie einfach einmal einen Versuchsballon stei-gen lassen.
Möchten Sie die Zwischenfrage zulassen?
Ich finde, wir müssen bei diesem Thema ernst blei-
ben.
Wir müssen die wenigen Fälle, die es gibt, weiterhin
ernst nehmen, aber wir dürfen nicht so tun, als ob Luft-
fahrt-Bundesamt, die Bundesstelle für Flugunfallunter-
suchungen und die internationalen Behörden am Punkt
null stünden.
Ich glaube, so viel können wir sagen: Die Behörden ar-
beiten, egal auf welcher Ebene sie angesiedelt sind. Der
Zwischenbericht der BFU von heute ist wichtig für un-
sere weitere Arbeit. Dies ist aber nur ein Zwischenbe-
richt. Ich denke, wir müssen fair sein und den Ab-
schlussbericht abwarten. Diesen müssen wir dann
auswerten.
Frau Kollegin, Herr Tressel möchte Ihnen eine Zwi-
schenfrage stellen oder eine Zwischenbemerkung ma-
chen.
Jetzt nicht mehr. Wir wollen ja alle fertig werden.
Das würde ja auch keine neuen Erkenntnisse bringen.Ich sage es noch einmal: Wir brauchen eine seriöseund objektive Aufklärung und keine Panikmache.
Auch der Verkehrsausschuss, der diesbezüglich feder-führend ist, hat sich mit dem Thema beschäftigt. Ichhabe unsere Anhörung zu diesem Thema erwähnt. Ichdenke auch an die Anfragen, die an die Bundesregierunggestellt worden sind, und die Antworten darauf. Auchhier erkennt man einen roten Faden:
Man nimmt das Thema ernst, aber man kann nicht aufBasis von Spekulationen antworten.Ich glaube, jetzt ist nahezu alles gesagt. Daher darfich deshalb abschließend an die Verantwortlichen appel-lieren – das sage ich ganz ernsthaft –:
Wenn es Fälle gibt – wir haben vom Kollegen Wichtelgehört, dass es ein gesetzlich verankertes Meldeverfah-ren gibt –, dann müssen diese nicht nur gemeldet wer-den, sondern auch anstandslos verfolgt werden.Noch eines, weil hier immer wieder die VereinigungCockpit zitiert wird, die ich für ihre Arbeit sehr schätze:Auch ich bin Vielflieger. Ich habe mit unzähligen Ste-wardessen, mit Flugbegleitpersonal, aber auch mit Pilo-ten gesprochen, auch in meiner Verwandtschaft, und diehaben mir von ähnlichen Fällen nicht berichtet. Ichdenke, man muss die Kirche im Dorf lassen. Wir habenes in Deutschland – ich kenne die genaue Zahl nicht –mit Millionen von Flugbewegungen zu tun. Trotzdemglaube ich, ist die Branche selber – sie ist für mich eineZukunftsbranche – gefordert, alles zu tun, um ihre Ma-schinen mithilfe der Produzenten nach neuester Technikund nach neuesten Möglichkeiten auszustatten, um zu-kunftsfähig zu bleiben.In diesem Sinne bedanke ich mich ganz herzlich. Sehrgeehrte Frau Präsidentin, ich habe meine Redezeit heuteetwas besser eingehalten als sonst.
Ich bin für den heutigen Tag die letzte Rednerin. Ich darfIhnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wunderschö-
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23726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012
Marlene Mortler
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nes Wochenende wünschen. Das nächste Mal streitenwir uns dann wieder.Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Ich lege Wert darauf, dass wir noch über die Be-
schlussempfehlungen des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung abstimmen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9451, den An-
trag der SPD auf Drucksache 17/7611 mit dem Titel
„Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter
Kabinenluft schützen“ abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen und Ablehnung der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/7480 mit dem Titel „Kontami-
nierte Kabinenluft in Flugzeugen unterbinden“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfeh-
lung bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen ange-
nommen. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben
dagegen gestimmt. Die Fraktion der SPD hat sich enthal-
ten.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-
nung. Ich empfehle Ihnen, den restlichen Tag, das Wo-
chenende sowie die gewonnenen Einsichten zu genie-
ßen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 17. Oktober 2012, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.