Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen allen ei-nen guten Morgen und uns die zur Vorbereitung des Wo-chenendes angemessenen Temperaturen bei den heuteanstehenden Beratungen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 e auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten UweSchummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten WilliBrase, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDNeue Dynamik für Ausbildung– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaPieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPDie duale Berufsausbildung in Deutschlandkontinuierlich verbessern– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
tion der LINKENStatt Ausbildungspakt – Für eine umlagefi-nanzierte berufliche Erstausbildung– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Krista Sager, Grietje Bettin, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNENBerufsausbildung umfassend sichern– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungBerufsbildungsbericht 2005– Drucksachen 16/543, 16/235, 16/1215/5285, 16/1258 –
gierungBerufsbildungsbericht 2006– Drucksache 16/1370 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Tourismusc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweSchummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase,Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPDWeiterentwicklung der europäischen Berufs-extbildungspolitik– Drucksache 16/2996 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Erste Beratung des von den AbgeordnetenCornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs ei-tundzwanzigsten Gesetzes zur Ände-s Berufsbildungsgesetzessache 16/2540 –2, 16/198,nes Achrung de– Druck
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5674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Präsident Dr. Norbert LammertÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugende) Beratung des Antrags der Abgeordneten PriskaHinz , Britta Haßelmann, Ekin Deligöz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENNeue Wege in der Ausbildung – Strukturenverändern– Drucksache 16/2630 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wirhaben im Jahresvergleich 400 000 Arbeitslose wenigerals unter der Vorgängerregierung. Wir haben – das gehtaus der Statistik hervor – 100 000 junge Arbeitslose un-ter 25 Jahren weniger. Das ist ein Erfolg der jetzigen Re-gierung.Unerträglich für uns alle – das zeigt auch die Vielzahlder Anträge zur beruflichen Bildung aus allen Fraktio-nen – ist aber, dass sich die Ausbildungsplatzlücke indiesem Berufsbildungsjahr weiter vergrößert hat. EineUrsache liegt darin, dass es in diesem Jahr bei den Aus-bildungsverträgen erstmals mehr Altbewerber als Neu-zugänge aus den Schulen gibt. Etwa 500 000 junge Men-schen, die vor zwei oder drei Jahren aus den Schulenentlassen wurden und sich in Warteschleifen befandenbzw. Ersatzmaßnahmen wahrgenommen haben, suchenderzeit einen Ausbildungsplatz. Es gibt etwa 1,3 Millio-nen Schulabgänger bis 29 Jahre, die noch gar keine Qua-lifizierung erfahren haben. Wir erwarten aufgrund derEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt, dass diese Vielzahljunger Menschen jetzt einen Ausbildungsplatz findet.Was in zehn Jahren an Missständen und Problemen indiesem Bereich entstanden ist, kann aber auch die besteRegierung nicht in zehn Monaten abarbeiten.Mit dem Antrag „Neue Dynamik für Ausbildung“wollen wir die Strukturen in der beruflichen Ausbildungverändern. Wir sagen klar Ja zum Ausbildungspakt.Wenn eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen dazuführt, dass es nicht genügend Ausbildungsplätze gibt,dann muss eine Vielzahl von Akteuren daran mitwirken,diese Strukturen zu verbessern.hwVespwgrnmdgotwGmsRdt–mchb–FgssgfbWDDczdlu
Ich weiß, Herr Tauss. Wir werden das sicherlich ge-einsam angehen. Aber wir müssen zuerst das anpa-ken, was auf Bundesebene zu regeln ist. Wir dürfenierbei nicht auf andere verweisen. Wir versuchen, dieestehenden Probleme zu lösen.
Wenn Herr Tauss klatscht, dann Vorsicht!Ich habe bei einer Lossprechungsfeier im Handwerkolgendes erlebt: Von 30 jungen Menschen hatte zu Be-inn der Ausbildung ein Drittel keinen Hauptschulab-chluss. Aber am Ende hatten sie nicht nur den Haupt-chulabschluss durch ausbildungsbegleitende Hilfenemacht, sondern auch eine hervorragende Gesellenprü-ung abgelegt und die Lossprechungsfeier exzellent vor-ereitet. Sie haben den beruflichen Einstieg geschafft.ir müssen in Potenziale investieren und versuchen,efizite zu beheben.Ein Wort des Lobes: Die Wirtschaft investiert ineutschland jährlich 30 Milliarden Euro in die berufli-he Ausbildung und damit mehr als Bund und Länderusammen. Das gibt es in kaum einem anderen Landieser Erde. Diese von der Wirtschaft erbrachte Leistungiegt im Interesse der jungen Menschen, der Gesellschaftnd der Wirtschaft.
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Uwe SchummerUnbefriedigend ist bislang die Berufsberatung.3 000 Berufsberater bei der Bundesagentur für Arbeitstehen etwa 1 Million Schulabgänger gegenüber. Ange-sichts dieses Missverhältnisses ist es offenkundig, dasseine erfolgreiche Vermittlung nicht gelingen kann. Wirmüssen daher die Berufsberatung verstärkt an die Schu-len verlagern sowie eine langfristige Qualifizierung undBeratung durchführen, die durch externe Kräfte unter-stützt wird.Ein weiterer Punkt ist die Aufstockung der Mittel fürEinstiegsqualifizierungen. Wir wissen, dass 60 Prozentderjenigen, die eine Einstiegsqualifizierung – ein Kinddes Ausbildungspaktes – erfolgreich abschließen, in einedreijährige berufliche Ausbildung weitervermittelt wer-den. Diese betriebliche Ausbildungszeit wird bei derNachvermittlung angerechnet. Dieses Instrument ist sinn-voll und hilft, den Berg an Schulabgängern abzuarbeiten.
Was die Qualifizierung und die berufliche Ausbildungauf europäischer Ebene angeht, möchte ich auf Ministe-rin Schavan verweisen. Sie wird in ihrer Rede denSchwerpunkt darauf legen.Ich möchte in diesem Zusammenhang aus der Berli-ner Rede „Bildung für alle“ unseres BundespräsidentenHorst Köhler zitieren:Auch darum ist das Bildungswesen Sache des gan-zen Volkes. In den Familien, im Kindergarten, inder Schule, der Lehrwerkstatt und der Universitätentscheidet sich, in welcher Gesellschaft wir künf-tig zusammenleben …So ist es.Wir fordern daher in dem fraktionsübergreifendenAntrag „Neue Dynamik für Ausbildung“ einen Bil-dungspakt, der bei der Erziehung der Eltern beginnt,sich in den Kindergärten sowie bei der allgemeinen, be-ruflichen und schulischen Bildung fortsetzt und auch dieBerufsausbildung und die Weiterbildung – Stichwort„lebenslanges Lernen“ – einbezieht.Das ist die Aufgabe, die wir in diesem Haus fraktions-übergreifend zu erledigen haben. Ich bitte um Ihre Un-terstützung.
Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Probleme sind bekannt, beschrieben
im Berufsbildungsbericht 2006. Hier heißt es:
Rund 9 % einer Alterskohorte verlassen bundesweit
die Hauptschule ohne Abschluss, rund 22 % der bei
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Zweitens stelle ich fest, dass die Mittel für den Bereich,
der so enorm wichtig ist, nämlich die überbetriebliche
Ausbildung, in der Verantwortung der rot-grünen Koali-
tion von 70 Millionen Euro 1998 auf zuletzt 25 Millio-
nen Euro reduziert worden sind.
Genau dort, wo Ausbildungsverbünde und Ausbildungs-
allianzen notwendig gewesen wären, haben Sie geknif-
fen.
– Sie müssen sich nur den Haushalt anschauen.
Diejenigen von den Schülern – wir haben gerade die
Hauptschule angesprochen –, die es nicht geschafft ha-
ben, auch und gerade die 240 000 Berufsschüler ohne
Abschluss, brauchen eine zweite Chance. Wir haben die-
ses Jahr einen traurigen Negativrekord vorzuweisen.
Zum ersten Mal übersteigt die Zahl der Altbewerber um
einen Ausbildungsplatz die Zahl der Neubewerber. Es
gibt 51 Prozent Altbewerber. Wo ist denn jetzt die Exzel-
lenzinitiative Weiterbildung? Wo ist der Leuchtturm
„Zweite Chance“? Wo ist die Eliteberufsschule, die die-
sen jungen Menschen im Rahmen der dualen Ausbil-
dung hilft? Die Bundesregierung, die vollmundig die
Weiterbildung als vierte Säule des Bildungssystems pro-
klamiert, muss endlich in die Gänge kommen.
Konkret heißt dies: Die Bundesagentur für Arbeit
wird ihrer Aufgabe nicht gerecht, noch nicht einmal an-
satzweise. In den letzten zwei Jahren sind zwei Drittel
der Weiterbildungsmaßnahmen gekürzt worden. Die
Nachqualifizierung, die Förderung der Weiterbildung
herunterbrechen, Bürokratie abbauen, Aufgaben an die
Jobcenter vor Ort und die Gemeinden delegieren – das
schafft Nähe und das bringt junge Menschen, Betriebe
und Schulen zusammen. Das schafft auch die Ausbil-
dungsmöglichkeiten, die wir vor Ort brauchen. So sieht
eine offensive Weiterbildung konkret aus.
Die überbetriebliche Ausbildung habe ich schon an-
gesprochen. Gerade die kleinen und mittleren Betriebe
sind es, die über 80 Prozent der Ausbildungsplätze stel-
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Herr Kollege Meinhardt, darf auch Frau Kressl Ihnen
ine Zwischenfrage stellen?
Natürlich darf auch die Kollegin aus meiner Heimat-
tadt eine Zwischenfrage stellen.
Frau Kressl, bitte.
Herr Meinhardt, würden Sie bitte zur Kenntnis neh-en, dass sich das Thema „Generation Praktikum“Herr Müntefering hat es zu Recht in die Diskussion ge-racht – auf die ungute Praxis von Unternehmen bezieht,
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Nicolette Kressljungen Menschen trotz einer akademischen Ausbildungnur noch unbezahlte, womöglich aufeinander folgendePraktika anzubieten.
Das, was Sie unzulässigerweise oder vielleicht in-kompetenterweise vermischen, bezieht sich auf den Be-reich der Einstiegsqualifikation. Hinsichtlich der Ziel-gruppe – Hauptschulabgänger, im Moment noch deutlichzu viel Realschulabgänger – geht es darum, Ausbil-dungsreife zu vermitteln. Unterlassen Sie es bitte, zweiunterschiedliche Dinge zu vermischen und auf diese Arteinen Eindruck zu erwecken, der überhaupt nicht ge-rechtfertigt ist!
Frau Kollegin Kressl, es ist durchaus verständlich,
dass Sie Ihrem Minister zur Seite stehen.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Ihr Minister
und damit auch Ihre Fraktion zur Kenntnis nehmen müs-
sen, in welcher Art und Weise in diesem Land politische
Diskussionen geführt werden.
– Moment, Moment.
Ich halte es bestimmt nicht für die richtige Vorgehens-
weise, zum einen Unternehmen an den Pranger zu stel-
len, gerade diejenigen, die mit ihren Praktika dabei hel-
fen, jungen Menschen eine Ausbildungsperspektive zu
geben, und zum anderen, Praktika als alternativlos dar-
zustellen, weil man selbst nicht dafür sorgt, dass es auf
dem Markt genug Lehrstellen gibt.
– Ganz ruhig!
Sehr geehrte Frau Kollegin Kressl, wir schaffen es,
5 Prozent der jungen Menschen ohne Schulabschluss zu
einem Einstiegspraktikum zu verhelfen. In der Regel
werden 60 Prozent dieser Praktikanten übernommen.
Durch dieses Programm kommen also gerade einmal
3 Prozent der Jugendlichen ohne Schulabschluss in eine
Ausbildung. Wir brauchen in diesem Land wirklich
keine Debatte über die neue soziale Frage, über Unter-
schichten oder über Klassengesellschaften. Das Ganze
ist eine Frage der Politik und die Politik, die hier betrie-
ben wird, ist einfach eine schlechte Politik.
Das Aktionsprogramm einer großen Ausbildungsko-
alition wäre eigentlich recht einfach: Hauptschüler quali-
fizieren, überbetriebliche Ausbildung stärken,
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usbildungsallianzen fördern, die schon existierenden,
ielfältigen guten Beispiele sich zum Vorbild nehmen,
usbildung endlich flexibler, modularer gestalten und
or allem einen Schritt in Richtung Teilabschlüsse zulas-
en. Denn mit Teilabschlüssen, mit Teilqualifikationen,
it neuen Berufsbildern, die nicht mehr so theoriebelas-
et, sondern praktisch orientiert sind, schaffen wir neue
ukunftschancen für junge Menschen, die in Ausbil-
ungsverhältnisse wollen.
So bekommen junge Menschen eine richtige Perspek-
ive. Um es mit den Worten unseres Bundespräsidenten
u sagen:
Alle diese Menschen haben Anspruch darauf, dass
unser Land die besten Voraussetzungen für Bildung
schafft.
Dafür kommt es auf uns alle an, auf unsere Einstel-
lung, auf unsere Anstrengung, auf unser Vorbild.
Bildung für alle – das gelingt am besten, wenn sich
alle dafür einsetzen, wenn wir alle uns bewegen.
Was hindert uns? Auf geht’s!
Nun hat Frau Kressl für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esst so: Frühe Förderung, Bildung und Ausbildung sowieebenslanges Lernen sichern den Menschen eine Per-pektive, und zwar häufig besser – gerade in letzter Zeitaben wir darüber gesprochen – als reine Sozialtrans-ers. Im Bereich der frühen Förderung und frühen Bil-ung sowie im Bereich der Ausbildung haben wirchritte nach vorn getan, aber bei weitem noch nicht ge-ügend.
Das wird uns deutlich, wenn wir überlegen, was wirrauchen, um die Situation weiter zu verbessern. Zu-ächst einmal müssen wir eine richtige Analyse machen.ir müssen uns darüber im Klaren sein, wer Verantwor-ung für welche Bereiche trägt und wer überhaupt hand-ungsfähig ist,
m dann gemeinsam zu überlegen, welches die richtigenchritte sind.Lassen Sie mich zuerst etwas zur Analyse sagen. Imereich der Ausbildung verfügen wir im Moment übereine endgültigen Zahlen. Das war zu diesem Zeitpunktislang in jedem Jahr der Fall. Die Zahlen sind auch des-egen unklar, weil sich bei der statistischen Erfassunger Ausbildungsplätze und Bewerber durch die Bun-esagentur für Arbeit Veränderungen ergeben haben. Ichabe das hier schon einmal erwähnt. Wir vermuten
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Nicolette Kresslbeispielsweise, dass die Quote der Unternehmen, dieAusbildungsplätze bei der Agentur melden, kleiner ge-worden ist, wodurch die statistische Lage für uns unkla-rer wird. Das ändert aber nichts daran, dass sich der Aus-bildungsmarkt in einer extrem angespannten Lagebefindet. Wir sind dafür verantwortlich, im Interesse derjungen Menschen zu überlegen, was wir noch tun kön-nen.
Was wissen wir im Moment? Herr Schummer hattedas schon angedeutet. Wir sind in diesem Jahr aller Vo-raussicht nach zum ersten Mal in der Situation, dass esmehr Bewerberinnen und Bewerber aus den vergange-nen Schuljahren gibt, nämlich im Moment 385 000, alsBewerber aus dem laufenden Jahr. Das ist für die Ana-lyse ganz wichtig, weil dies nämlich deutlich macht,dass wir nicht darauf setzen dürfen – wir dürfen uns aufdieser Hoffnung nicht ausruhen –, dass aufgrund der de-mografischen Entwicklung in den nächsten Jahren eineEntlastung auf dem Ausbildungsmarkt eintreten wird.Wir werden in den kommenden Jahren genauso gefor-dert sein wie in diesem Jahr und in den vergangenen Jah-ren. Das ist für die Analyse entscheidend und wichtig.
Dies bedeutet, dass wir drei Hauptaufgaben haben.Erstens. Mit Volldampf muss in die Nachvermittlunggegangen werden. Es wird entscheidend darauf ankom-men, den jungen Leuten, die jetzt noch einen Ausbil-dungsplatz suchen, ein Angebot machen zu können.
Zweitens. Wir werden uns mit der Frage auseinandersetzen müssen, was wir für die so genannte Bugwelle– ein sehr technischer Begriff –, also für die jungenMenschen, die sich nach mehreren Warteschleifen jetztwieder bewerben, anbieten können. Sie fordern dies völ-lig zu Recht. Wir verlangen schließlich von ihnen, dasssie sich qualifizieren. Also müssen wir uns um dieseFrage ganz besonders kümmern.
Drittens. Wir haben uns um mittelfristig wirksameStrukturen zu bemühen. Dazu gehört die Frage des Euro-päischen Qualifikationsrahmens, dazu gehört auch dieFrage der weiteren Förderung von Ausbildungsverbün-den. Herr Meinhardt, die Unterstellung, in den letztenJahren seien diese Programme nicht aufgestockt worden,ist falsch. Gerade in diesen Bereich haben sowohl FrauBulmahn als auch Frau Schavan kreative Lösungen, Un-terstützung und Geld gegeben.
Lassen Sie mich zum zweiten Punkt, zur Frage derVerantwortung, kommen. Wir haben uns in Deutsch-land für ein duales Ausbildungssystem entschieden.Deshalb kann und darf Verantwortung nicht weggescho-ben werden. Schon das Bundesverfassungsgericht hatffDssAgwdWatsuagzwnePddwdrqldIvAAEdf
In diesem Zusammenhang noch etwas zum Themappelle an Unternehmen. Es muss noch einmal deutlichesagt werden, dass es nicht nur um die soziale Verant-ortung geht, sondern auch um die Verantwortung fürie ökonomische Zukunft des Landes.
ir wissen doch, dass wir, wenn heute nicht genügendusgebildet wird, nicht genügend Fachkräfte in den Un-ernehmen haben werden. Von Unternehmens- und Wirt-chaftsseite wird von der Politik immer verlangt, mittel-nd langfristige Konzepte aufzulegen. In diesem Bereichber müssen wir genau das von der Wirtschaft verlan-en. Zu den mittel- und langfristigen Unternehmenskon-epten gehört, jetzt auszubilden, um sich später nichtieder bei der Politik beschweren zu müssen, warumicht genügend Fachkräfte vorhanden sind. Das mussinmal sehr deutlich gesagt werden.
Zur Frage der öffentlichen Verantwortung. Als derakt 2004 abgeschlossen worden ist, haben wir als Bun-esregierung uns mit finanziellen Mitteln sehr stark iniesen Pakt eingebracht. Das will ich noch einmal er-ähnen, weil es sonst immer so aussieht, als gescheheas alles nur von Unternehmensseite. Wir haben uns be-eit erklärt, auf Bundesregierungsseite die Ausbildungs-uote deutlich zu erhöhen, was auch passiert ist. Vor al-em aber haben wir uns bereit erklärt, die Finanzierunger Einstiegsqualifikationen zu übernehmen.
ch sage es noch einmal: Es ist sträflich, die Schaffungon Einstiegsqualifikationen zu verwechseln mit dembsolvieren von einem Praktikum nach dem anderen imnschluss an ein Studium.
s geht darum, junge Menschen an betriebliche Ausbil-ungspraxis zu gewöhnen.
Frau Kollegin Kressl, gestatten Sie eine Zwischen-
rage der Kollegin Hirsch?
Natürlich.
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Danke schön, Frau Kressl. – Sie haben sicherlich
Recht damit, dass man Praktika nach dem Studium nicht
mit dem Vorstoß zur Ausweitung von Einstiegsqualifi-
zierung vergleichen kann. Wie stehen Sie dann aber zu
der Aussage des verantwortlichen Staatssekretärs in der
Fragestunde vergangener Woche, es sei durchaus legitim
und nicht verwerflich, dass Unternehmen über die Ein-
stiegsqualifizierung Jugendliche erst einmal ausprobie-
ren? Aus unserer Sicht geschieht genau das, wenn junge
Menschen nach dem Studium in die Praktika-Warte-
schleife gestellt werden. Dazu hätte ich von Ihnen gerne
eine Aussage.
Frau Hirsch, ich will Ihnen sehr deutlich sagen: Fürmeine Fraktion war ich diejenige, die in den Jahren 2003und 2004 den Gesetzentwurf zur Ausbildungsumlagemit vorbereitet hat.
Ich weiß sehr genau, wie wir in den Gesprächen überden Ausbildungspakt die Einstiegsqualifikationen ent-wickelt haben. Dabei ging es nie um ausprobieren; viel-mehr haben wir uns sehr ernsthafte Sorgen um die Fragegemacht, was mit Jugendlichen – wir können und dürfennicht leugnen, dass es solche Jugendliche gibt – passiert,die noch nicht ausbildungsreif sind und die beispiels-weise – ich mache es jetzt einmal so banal – lernen müs-sen, was es für Konsequenzen hat, wenn man morgensnicht zur Arbeit kommt.Für uns als diejenigen, die die Einstiegsqualifikatio-nen mitentwickelt und mitfinanziert haben, war das Hin-führen zur Ausbildungsreife der Hauptgrund. Für unswar es ganz bestimmt nicht das Ausprobieren. Für dasHinführen zur Ausbildungsreife bin ich ganz ausdrück-lich; denn aufgrund der Thematik der Altbewerber wis-sen wir, dass es notwendig ist, sehr viele dieser Altbe-werber in die betriebliche Praxis zu führen. Deshalbunterstützen wir ausdrücklich die Aufstockung des EQJ-Programms. Doch dabei geht es, wie gesagt, nie vorran-gig um ein Ausprobieren.
Lassen Sie mich noch einen dritten Punkt ansprechen.Wir müssen Lösungen angehen. Die Antworten in die-sem Bereich brauchen eine sehr differenzierte Bewer-tung, weil wir auf der einen Seite unsere öffentliche Ver-antwortung wahrnehmen wollen und müssen, auf deranderen Seite aber nicht das passieren darf, was ich vor-hin beschrieben habe, nämlich dass der Staat schlei-chend immer mehr Verantwortung für den Ausbil-dungsbereich übernimmt, was in Wirklichkeit ja schonlängst passiert ist. Dazu muss man wissen, dass in Bundund Ländern für diesen Bereich über die Finanzierungvon Warteschleifen inzwischen 6 Milliarden Euro jähr-lich ausgegeben werden. Bei allem, was wir tun, müssenwir jetzt darauf achten, dass nicht wir sämtliche Verant-wortung übernehmen und damit zulassen, dass anderedmdadlidgdfbmlnnßwwKdmahsßmbbmePuddiwgwEDsdgu
Ich will die Fraktion der Grünen – das erlaube ich mir –n etwas erinnern. Als wir über die Umlage diskutiertaben, war es die Grünen-Fraktion, die sich, als wir ge-agt haben: „Wir wollen auch überbetriebliche und au-erbetriebliche Plätze aufnehmen“, geweigert hat, dieseit aufzunehmen, und darauf bestanden hat, dass das nuretriebliche Plätze sein dürfen. Ich bitte Sie einfach, jetztei dem Antrag zu bedenken, welche Diskussion wir da-als hatten.Weil ich glaube, dass wir wirklich etwas tun und nochinmal genau schauen müssen: „Wie können wir dasroblem der Bugwelle lösen, den Abbau der Bugwellenterstützen?“, will ich zusammenfassend wie folgt plä-ieren: Es wäre schön, wenn wir alle der Versuchung wi-erstehen würden, uns die jetzige Situation gegenseitigmmer nur um die Ohren zu schlagen. Es wäre schön,enn wir gemeinsam hier überlegen könnten: Welcheezielten Maßnahmen brauchen wir gerade für Altbe-erberinnen und Altbewerber? Ich bin davon überzeugt:ine sachliche, nüchterne Bewertung der Situation, eineiskussion über Vor- und Nachteile verschiedener Lö-ungen würde am allerbesten einen Beitrag dazu leisten,ass den jungen Menschen tatsächlich eine Perspektiveegeben wird; so würde ihnen nicht vorgeführt, dass wirns politisch nur die Situation um die Ohren schlagen.Vielen Dank.
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5680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Das Wort hat nun Cornelia Hirsch für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was heute Morgen vorgetragen wurde, halte ich für rela-tiv unerträglich.
Sie alle haben bisher zu Recht zugegeben, dass die Aus-bildungssituation in diesem Jahr dramatisch ist. Aberwas wird in der Konsequenz gemacht? Was wird von Ih-nen vorgeschlagen? Man macht irgendwelche Neben-schauplätze auf, setzt dann aber doch im Wesentlichenauf eine Politik des „Weiter so“. Das halten wir als Frak-tion Die Linke für falsch.
Schon letztes Jahr mussten wir im Koalitionsvertraglesen, dass die große Koalition am Ausbildungspaktfesthalten will. Sie werden auch in diesem Jahr nichtmüde, immer wieder zu betonen, wie erfolgreich dieserPakt doch sei. Wir haben für Ihre Auffassung wirklichkein Verständnis mehr. Wie kann man denn einen Paktals erfolgreich bezeichnen, dessen Ergebnis augen-scheinlich ist, dass die Ausbildungssituation mit jedemJahr dramatischer wird?
Der Pakt ist gescheitert – ohne Wenn und Aber. Ermuss beendet werden. Dann wäre der Weg für einenNeuanfang in der Berufsbildungspolitik frei.
Frau Kressl, Sie schütteln lächelnd den Kopf. Es warmir klar, dass Sie davon nichts wissen wollen.
Die Tausenden von Jugendlichen, die ohne Ausbildungs-platzangebot auf der Straße stehen, fragen sich zu Recht,was denn ihre Perspektive ist. Sie wollen am Pakt fest-halten, nachdem wir drei Jahre lang erfolglos an die Be-triebe appelliert haben, doch bitte, bitte mehr Ausbil-dungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Nachdem Sie immer wieder gesagt haben, wie wichtigdoch eine freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaftist, entwickeln Sie den Pakt in der Art und Weise weiter,dass Sie noch ein bisschen lauter appellieren und dassSie noch etwas häufiger betonen, wie großartig die frei-willige Selbstverpflichtung der Wirtschaft an dieserStelle ist. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das funk-tioniert nicht. Das müssten Sie sich endlich eingestehen.
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ie Jugendlichen sind selbst schuld an der Misere.
as kann man beliebig variieren. Man kann zum Bei-piel sagen, die Jugendlichen seien nicht ausbildungsfä-ig. Man kann sagen, die Vergütung sei zu hoch. Manann sagen, die Mitbestimmungsrechte seien zu umfas-end. Dieser Unfug gipfelt dann für gewöhnlich im Vor-chlag der Fraktion der FDP, man möge doch bitte dreiuszubildende für den Preis von zwei einstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, über was diskutie-en wir hier eigentlich? Wir diskutieren doch über dieusbildung von jungen Menschen. Bei Ihnen hört sichas aber eher nach Sonderangeboten im Sommerschluss-erkauf an.
as wird aber der Situation von jungen Menschen nichterecht.
it Ihrer Politik treten Sie die Rechte von jungen Men-chen mit Füßen. Das sollte sich kein Jugendlicher län-er gefallen lassen.
Wir haben zur heutigen Beratung einen Gesetzent-urf eingebracht, in dem wir eine klare Alternative zuhrer Politik vorschlagen. Die Linke fordert die Einfüh-ung einer gesetzlichen Ausbildungsumlage.
mlage heißt – Frau Kressl hat schon darauf hingewie-en –, dass Betriebe, die nicht ausbilden, zur Kasse gebe-en werden sollen und dass diejenigen Betriebe, die aus-ilden, dabei unterstützt werden.
as ist nicht nur einfach und gerecht, sondern es würdeuch den Rückzug der Arbeitgeber aus der betrieblichenusbildung, den wir schon seit Jahren beobachten, stop-en. Dieser wichtige Schritt muss daher endlich gegan-en werden.Man fragt sich natürlich, was eigentlich gegen diemlage spricht. Da können wir von den Kolleginnennd Kollegen aus der SPD teilweise hören, diese Forde-ung mache keinen Sinn, denn in der großen Koalitionit der Union sei sie ohnehin nicht umsetzbar. Wir hal-en diese Behauptung für sehr scheinheilig.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5681
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Cornelia HirschFrau Kressl hat bereits darauf hingewiesen, dass siesich noch gut an die Debatte im Bundestag erinnert, inder es um die Einführung einer gesetzlichen Ausbil-dungsumlage ging. Sie hat aber nicht darauf hingewie-sen, dass es allen voran die SPD, gemeinsam mit denGrünen, war, die dieses Gesetz dann im letzten Momentbis zur Unkenntlichkeit verwässert hat. Statt der Umlagewurde der Ausbildungspakt vorgeschoben. Wir halten esfür sehr verlogen, dass Sie damals vor der Arbeitgeber-seite eingeknickt sind und jetzt versuchen, sich mit Ihrerunsozialen Politik hinter der Union zu verstecken.
Herr Tauss, die Union macht es Ihnen leicht, dass Siesich mit Ihrer unsozialen Politik hinter ihr versteckenkönnen; denn sie ist in ihrer Ablehnung einer Ausbil-dungsumlage sehr direkt. Der Kollege Dobrindt wirdnachher in der Debatte noch sprechen. Ich erinnere hieran seine Aussage in der Debatte im Frühjahr. Er hat da-mals zu unserer Forderung nach einer Ausbildungsum-lage gesagt: Freiheit und Selbstbestimmung sind wichti-ger als Zwangsvorgaben und alles, was sich die Linkesonst noch so ausdenkt.
– Ich hatte erwartet, dass Sie an dieser Stelle klatschen.Aber Sie sollten einmal genau sagen, von welcher Frei-heit Sie an dieser Stelle eigentlich reden.Was hat es denn bitte schön mit Freiheit und Selbst-bestimmung zu tun, wenn Jugendliche ohne Perspektivein eine Warteschleife nach der anderen gesteckt werden?
Was hat es mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun,wenn gewerkschaftliche Rechte eingeschränkt werden?Für die Linke steht fest: Für die große Mehrheit derMenschen und eben auch für die Tausenden von Jugend-lichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, ist Ihre Frei-heit eigentlich das genaue Gegenteil von Freiheit undSelbstbestimmung.
Ihre Freiheit ist die Freiheit für die Großunternehmen,sich immer weiter aus der Ausbildung zurückziehen.
Ihre Freiheit ist die Freiheit für die Arbeitgeber, dieRechte der Beschäftigten und Auszubildenden abzu-bauen. Diese Freiheit wollen wir nicht.
Immer mehr Menschen spüren, wie falsch und verlo-gen Ihr Gerede von Freiheit ist, und sie wehren sich ge-gen diese Politik. Für morgen hat der DGB in Berlin,Stuttgart und weiteren Städten Demonstrationen ange-kündigt.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-esregierung hat aus unserer Sicht beim Thema Ausbil-ung bislang leider versagt.Wir hatten die Diskussion um den Ausbildungspaktnd die fehlenden Ausbildungsplätze bereits vor einemahr und seitdem verkündet die Bundesregierung uner-üdlich: Der Pakt wird weiterentwickelt, es gibt einrogramm „Zweite Chance“, es wird strukturelle Verän-erungen in der beruflichen Bildung geben und eine bes-ere Integration von Jugendlichen mit Migrationshinter-rund. Es wäre gut gewesen, wenn sich die Ministerinchavan oder Wirtschaftsminister Glos so richtig in dieache reingekniet hätten, um diese Ziele auch in dem ei-en Jahr zu erreichen.Aber wie ist die Situation, die wir jetzt haben? Der In-ovationskreis der Bundesbildungsministerin tagt undagt. Bislang wurde noch nicht einmal ein Zwischen-rgebnis bekannt gegeben. Das Pakttreffen endet jedesal ohne Ergebnis, das heißt, ohne dass neue Instru-ente entwickelt und vereinbart wurden. Durch diesentätigkeit über ein Jahr hinweg gibt es in diesem Jahrehr Altbewerberinnen und -bewerber und damit einerößere Anzahl unversorgter Jugendlicher, die auf einenusbildungsplatz warten. Die Nachvermittlung hat jetztegonnen. Es ist fraglich, wie viele bei dieser Nachver-ittlung überhaupt noch eine Chance bekommen wer-en. Derzeit gibt es die Befürchtung, dass mehr als die1 400 Jugendlichen übrig bleiben, die im letzten Jahrnversorgt geblieben sind. Das wären diejenigen, die unsächstes Jahr wieder begegnen, zusätzlich zu denen ausen Warteschleifen.Dieses Thema gehört auch in die Debatte um die Ar-utsentwicklung, die begonnen hat. Denn diese Jugend-ichen bleiben direkt am Beginn ihres Berufslebens ohneerspektive und viele geraten in eine resignative Hal-ung, wenn sie von einer Warteschleife in die andere ge-chickt werden.Was macht der Wirtschaftsminister? Er hat in der Re-ierungsbefragung am Mittwoch erklärt: Die Lage istesentlich besser, als sie zum Teil in der Presse darge-tellt wird. Das ist schlicht und ergreifend Realitätsver-eigerung.
s ist Schönfärberei, wenn man nur darauf verweist,ass es mehr betriebliche Ausbildungsplätze gibt, dennie betrieblichen Ausbildungsplätze sind insgesamt
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Priska Hinz
– über alle Betriebe und Branchen hinweg gesehen – lei-der auch in diesem Jahr noch einmal zurückgegangen.
Ohne die kleinen und mittleren Betriebe – das mussman deutlich sagen – wäre es noch viel schlimmer. Sieerfüllen ihre Pflicht, sie zeigen Verantwortlichkeit. Des-wegen ist an dieser Stelle durchaus ein Dankeschön andiese Betriebe zu richten. Viele große Unternehmen, vorallem die DAX-Unternehmen, kommen dieser Verant-wortung aber nicht nach. Ich finde, hier muss weitererpolitischer Druck aufgebaut werden. Für jedes großeUnternehmen muss gelten: Es ist unanständig, nicht aus-zubilden, dafür aber die Vorstandsgehälter zu erhöhen.
Wir haben grüne Vorschläge zur Verbesserung der be-ruflichen Ausbildung.Kurzfristig wollen wir aus den Überschüssen derBundesagentur für Arbeit 50 000 Plätze schaffen. Da-rüber sind sich selbst Ministerpräsident Koch und derDGB einig. Manchmal gibt es seltsame Allianzen; diekann man sich aber zunutze machen.
Wir wollen strukturelle Veränderungen. Alle berufs-vorbereitenden Maßnahmen müssen zertifiziert werden,damit die Ausbildung darauf aufbauen kann. Sonst ha-ben wir im nächsten Jahr wieder zusätzliche Altbewer-ber.Die EQJ-Programme müssen für die Zielgruppe derbenachteiligten Jugendlichen zur Verfügung stehen. Eskann nicht angehen, dass in der Mehrzahl Jugendlichemit Realschulabschluss oder höherem Abschluss in dieseEinstiegsqualifizierungen gehen. Die Richtlinien sehenvor, dass vor allen Dingen Hauptschüler und solche, dieSchwierigkeiten haben, mithilfe dieser Programme einenEinstieg finden. Die EQJ-Programme müssen mit Be-rufsschulunterricht versehen und zertifiziert werden, da-mit es für die weiteren Ausbildungsschritte anerkanntwerden kann.
Auf diesen Gebieten hat die Bundesregierung nochNachholbedarf. Wenn sie den nicht aufholt, werden dieEQJ-Programme ins Leere laufen.
Wir wollen in Berufsschulen Produktionsschulen in-tegrieren, die gerade lernschwächeren Schülern eineChance bieten können. Diesen Schülern, die oft schlichtund einfach schulmüde sind, nützt es nichts, wenn sie invollschulische Ausbildungsgänge geschickt werden.Diese Schüler können über die Praxis an die Theoriever-mittlung herangeführt werden. Hiermit könnte man eineneue Form der Dualität von Ausbildung erproben, näm-lich indem solche Produktionsschulen bei der Auftrags-vcaEBEDsJIsnc–öwJnr–dEszsdmetScJdezS
ch freue mich sehr auf die Anhörung im Bildungsaus-chuss, weil wir dort wahrscheinlich zu einer großen Ei-igkeit kommen. Es ist notwendig, dass in der berufli-hen Bildung bald mit Modularisierung begonnen wird.
Nein, das ist überhaupt nicht neu. Sie lesen unsere Ver-ffentlichungen anscheinend nicht, Frau Flach. – Wirollen die Modularisierung der Lernschritte, damit alleugendlichen tatsächlich eine Chance haben, bis zu ei-em guten Ausbildungsende zu kommen.
Die Hilfen zur Berufsorientierung und die Berufsbe-atung müssen verbessert werden. Wir müssen überlegen auch das ist notwendig –, in welchen Zukunftsfeldernas Ausbildungsangebot ausgebaut werden muss. Dasrziehungswesen und der Bereich der Pflege sind klassi-cherweise keine dualen Ausbildungsgänge.Hier brauchen wir Gehirnschmalz. Wir stehen gerneur Verfügung, um Ihnen auf die Sprünge zu helfen, ent-prechende Programme zu entwickeln. Sie aber habenie Verantwortung, die Gewerkschaften, die Unterneh-en und die Länder im Pakt zusammenzubringen undin umfassendes Konzept vorzulegen. Dieser Verantwor-ung sind Sie bislang nicht nachgekommen. Ich fordereie auf: Schauen Sie sich unsere Vorschläge an und ma-hen Sie sie sich zu Eigen. Dann stehen wir im nächstenahr auf jeden Fall viel besser da. Knien Sie sich jetzt inie Sache rein, damit die Jugendlichen in Deutschlandine Chance haben, bis zum Ende der Nachvermittlungs-eit einen Platz zu finden.Danke schön.
Das Wort hat nun die Bundesministerin Dr. Annettechavan.
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Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, dass sich dieGrünen so intensiv mit der beruflichen Bildung beschäf-tigen und Vorschläge zu diesem Thema vorlegen. Siewerden mir aber nicht verübeln, dass ich sage: Sie hattenziemlich viel Zeit, nämlich sieben Jahre, um zu verhin-dern, dass dieser Regierung jetzt die Vermittlung einerso großen Gruppe an Altbewerbern als Aufgabe gestelltwird. Das sollten Sie nicht vergessen.
Ich halte die Modularisierung für richtig. Ich werdegleich darauf zurückkommen. Ich sage mit Blick auf Sie,Frau Hirsch: Es ist ein ziemlich schräger Vorschlag, denAusbildungspakt abzublasen.
Wir sollten uns am frühen Morgen nicht so furchtbardarüber echauffieren. Wir alle sehen die Situation, in derwir uns befinden, gleichermaßen. Die Zahlen sind klar.Wir haben ein Plus an zur Verfügung gestellten Ausbil-dungsplätzen.
Das zeigt, dass es so wichtig war, einen Ausbildungspaktabzuschließen.Die Bilanz in diesem Jahr hat zwei Seiten: Licht undSchatten. Auf der Lichtseite gibt es bei den Industrie-und Handelskammern ein Plus der Ausbildungsverhält-nisse in Höhe von 4 Prozent. Selbst beim Handwerk– das wurde eben gesagt – gibt es trotz Arbeitsplatzver-lusten ein Plus von 1,6 Prozent. Die Schattenseite ist,dass es einen deutlichen Anstieg der Bewerbungen gibt.Deshalb steigt die Zahl derer, die nicht versorgt sind.
Darüber streitet niemand. Deshalb rate ich uns allen: La-mentieren, Appellieren und wechselseitige Schuldzu-weisungen helfen überhaupt nicht weiter.
Wir stecken mitten in vielen wichtigen Initiativen, mitdenen sich im Laufe der Jahre vieles verändern wird. Ichnenne Ihnen ein paar, die nicht erst in Vorbereitung, son-dern längst in der Durchführung sind.
Erstens das Programm „Jobstarter“. Wir haben dieMittel dafür auf 125 Millionen Euro erhöht. Wir habendamit die Zahl der Projekte in der zweiten Förderrundeverdoppelt. Das ist ein ganz wichtiges Strukturpro-gramm.
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Drittens sind 13 000 Stellen seitens der Bundesregie-ung in den neuen Ländern zusätzlich geschaffen wor-en. Nach jetzigem Stand – wir haben gestern im Haus-altsausschuss darüber gesprochen – werden diese3 000 Stellen auch besetzt.Viertens sind 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätzeereinbart worden. Staatssekretär Storm aus meinemaus hat gemeinsam mit Frau Staatsministerin Böhmerit Verbänden von Unternehmern ausländischer Her-unft eine Vereinbarung getroffen. Denn wir wissen,ass Jugendliche mit Migrationshintergrund von diesemroblem besonders betroffen sind und dass es hier be-onders wichtig ist, eine Ausbildungskultur in den Un-ernehmen zu entwickeln, die Möglichkeiten zur Ausbil-ung haben, aber bisher die duale Ausbildung so nochicht kennen. Auch das ist ein Fortschritt.
Ich sage noch einmal: Wer immer rät, den Ausbil-ungspakt abzuschaffen oder ihn nicht mehr so wichtigu nehmen, unterschätzt die Bedeutung des Themas.ieles wurde bewirkt. Jedem muss klar sein, dass wirier letztlich über einen Teil des Generationenvertragesprechen. Deshalb muss der Pakt über 2007 hinaus ver-ängert werden.
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Bundesministerin Dr. Annette SchavanAuch auf Länderebene geschieht vieles. Heute ist inden Zeitungen zu lesen: Der nordrhein-westfälische Ar-beitsminister hat angekündigt, dass in der Nachvermitt-lungszeit seitens des Landes 3 000 zusätzliche Lehrstel-len geschaffen werden.
– Wenn es um Nordrhein-Westfalen geht, klatscht FrauFlach; das finde ich Klasse.Die Brisanz dieses Themas muss angesprochen wer-den. Niemand von uns sollte dieses Problem, das seitvielen Jahren zu beobachten ist, kleinreden. In dieserZeit war fast jede der hier vertretenen Parteien – außerden Linken – auch einmal an der Regierung beteiligt.Daher muss man feststellen: Die Verantwortung für dieZahlen, um die es geht, können wir unter uns aufteilen.Ich kenne sogar Wirtschaftsminister von der FDP – esgibt zwar nicht mehr viele, aber zumindest einen kenneich noch –, für die dasselbe gilt.
– Ja, nur gute.
– Geschenkt.Nun komme ich auf die Altbewerber zu sprechen.Dieses Problem lässt sich in der Tat nicht allein durchden Ausbildungspakt lösen. Dahinter verbergen sichnämlich noch ganz andere Probleme. Deshalb haben wirauch hier die notwendigen Schritte auf den Weg ge-bracht. Wir müssen auf dieses Thema spezifische Ant-worten finden.Erstens. Es muss uns in den nächsten Wochen gelin-gen, einen Überblick über die tatsächlichen Zahlen, nachMöglichkeit heruntergebrochen auf die Ebene der Re-gionen, zu bekommen. Wenn zum Beispiel im eigenenWahlkreis 100 Jugendliche noch nicht mit einem Ausbil-dungsplatz versorgt sind, dann werden sie eingeladen. Eskommen allerdings nur 50 von ihnen.
Wir müssen klären, warum das so ist. Was steckt dahin-ter? Was ist mit den anderen 50 Jugendlichen, die dieEinladung nicht annehmen? Haben sie sich inzwischenanders entschieden? Schlagen sie eine andere Bildungs-biografie ein bzw. machen sie an einer anderen StelleStation? Wir brauchen, heruntergebrochen auf die ein-zelnen Agenturbezirke, genauere Zahlen darüber, wel-cher Jugendliche für eine Vermittlung zur Verfügungsteht.Zweitens. Die strukturelle Modernisierung, FrauHinz, ist eingeleitet. Die entsprechenden MaßnahmenltIRdnsdzdWsdfBstwuszgnugzpQdpCrbmddDgkbsfdaz–n
Frau Hinz, genauso ist es bereits: Im Rahmen des In-ovationskreises geschieht genau das, was Sie fordern.
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
Da sitzen die Länder, da sitzen sämtliche Sozialpartner,da sitzt die Bundesregierung, da sitzen alle an einemTisch und lamentieren nicht herum, sondern sind längstdabei, zu überlegen, wie wir den Einstieg in eine struktu-relle Modernisierung schaffen, um die Zukunftschancender jungen Generation zu verbessern, wo sie nicht gutsind, bzw. sie zu sichern. Das ist das, was wir alle wol-len. Das gehört zu unseren vornehmsten Aufgaben.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Willi
Brase das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Manchmal muss manüber die Vergangenheit reden. Wenn ich mich richtig er-innere, haben wir mit unserem Jugendsofortprogrammknapp 60 000 vollwertige Ausbildungsplätze geschaffen.
Das, Frau Schavan, war eine positive Leistung der altenBundesregierung, um das hier einmal deutlich zu sagen.
Hochinteressant ist, dass wir im Zusammenhang mitdiesem Programm von einigen heftig dafür kritisiertworden sind,
dass wir mit Geld der öffentlichen Hand zusätzlicheAusbildungsplätze schaffen. Dass jetzt, wo MinisterLaumann in NRW das Gleiche macht – den ich dabeiausdrücklich unterstütze –, geklatscht wird, das hat einGeschmäckle.
Lassen Sie mich etwas zu § 43 Abs. 2 Berufsbil-dungsgesetz sagen, demzufolge auch Bewerber, die einevollzeitschulische Berufsausbildung absolviert haben,die Kammerprüfung ablegen dürfen. Das ist damals vonbestimmter Seite massiv gefordert worden,
auch von den Kolleginnen und Kollegen, die an einerBerufsschule als Lehrer tätig sind. Heute, in der Umset-zung, stellt sich genau das Gegenteil dar: Man hält sichsehr zurück. Denn wenn wir wollen, dass öffentlich fi-nanzierte und betriebliche Ausbildung gleichwertig sind,muss auch die öffentlich finanzierte so etwas wie Be-tRzAirMnvgDRfWgwggd–Sd6gWs–amnnbZowtÄnw
Meine Bitte, die ich ein Stück weit an die Länderichte, ist, diesen Weg mitzugehen. Denn das ist eineöglichkeit, Altbewerbern und Altnachfragern eine ver-ünftige Chance zu geben, eine qualifizierte Ausbildungon drei oder dreieinhalb Jahren – wo es nicht anderseht, auch nur von zwei Jahren – zu bekommen.
ie Bedingungen haben wir hier im Parlament durch dieeform des Berufsbildungsgesetzes gemeinsam geschaf-en.
Herr Meinhardt, ich möchte etwas zum EQJ sagen.ir haben uns seinerzeit, was den Ausbildungspakt an-eht, in dieser Frage sehr vorsichtig positioniert, weilir nicht genau wussten, ob eigentlich die Personen-ruppen angesprochen werden, die aus unserer Sicht an-esprochen werden müssen, oder ob wieder eine Ver-rängung stattfindet. Die bisherigen Untersuchungenzum Ruhrostgebiet gibt es eine von der Hans-Böckler-tiftung, ferner gibt es eine von der GIB – besagen, dassie Grundannahme Klebeeffekt wohl richtig ist. Nahezu0 Prozent werden in eine betriebliche Ausbildung über-ehen.
ir erleben aber die Verdrängung von sehr guten Haupt-chülern durch Realschüler.
Dazu komme ich noch, Herr Tauss, nicht so schnell!Wir haben mit dem Berufsbildungsgesetz die Berufs-usbildungsvorbereitung in den Betrieben ausdrücklichit auf den Weg gegeben. Ich sehe das EQJ als Vormaß-ahme, als Vorschritt, dorthin zu kommen. Derzeit fi-anzieren wir es noch über die Bundesagentur für Ar-eit. Man könnte, wenn es um Verantwortlichkeiten unduständigkeiten geht, auch einmal darüber diskutieren,b das nicht die Unternehmen machen müssten und obir als öffentliche Hand uns nur dann engagieren soll-en, wenn junge Leute keinen Abschluss haben oderhnliches. Das wäre eine Weiterentwicklung, die demach meiner Auffassung Rechnung tragen würde.
Wir haben das IAB-Betriebspanel zu Rate gezogen,eil es immer wieder heißt, es gibt nicht genügend
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Willi BraseUnternehmen, die ausbilden. Wenn man sich diesesBetriebspanel anschaut, dann stellt man fest, dass je nachGröße immer noch zwischen 5 und 30 Prozent der Un-ternehmen, die ausbildungsfähig sind, nicht ausbilden.
Interessant ist es, einmal zu schauen, welche Rechts-form die Unternehmen haben, die ausbilden, und welcheRechtsform die Unternehmen haben, die nicht ausbilden.Unabhängig davon erwarten wir als SPD-Fraktion, dassbeim Innovationskreis bei Frau Ministerin Schavan end-lich genau der Frage auf den Grund gegangen wird, wiewir an die 20 bis 25 Prozent der Unternehmen heran-kommen, die ausbilden könnten, es aber nicht tun, damitsie endlich auch ausbilden. Dann würde es in unsererGesellschaft ein Stück weit besser aussehen.
Wenn Sie vor Ort nachschauen und mit Ihren Kam-mern reden, also mit den zuständigen Stellen, dann wer-den Sie feststellen, dass jede zuständige Stelle in derLage sein wird, einigermaßen verlässlich zu beziffern,welches Potenzial dort noch vorhanden ist. Deshalbbleibe ich dabei: Wir erwarten und erhoffen Antwortenvom Innovationskreis, sodass wir hier ein Stück weitnach vorne kommen.Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen habenwir intensiv über Schichten, über Arme und über Ausge-grenzte in dieser Republik diskutiert. Mir ist ein, wie ichfinde, sehr nachdenklich machendes Interview mit demSoziologen Professor Heinz Bude zur Kenntnis gelangt.Es zeigt ein wenig, wie schwierig die Diskussion ist. Erist nach der Debatte über eine Klassengesellschaftgefragt worden und er verweist darauf, dass bei Umfra-gen von Berufsschullehrern mit ausbildungsmüdenJugendlichen Folgendes zum Ausdruck kommt: Sie ha-ben das Gefühl, dass sie vielleicht etwas tun können,dann aber nicht übernommen werden. Was nutzt ihnenalso eine Ausbildung und was bringt sie ihnen eigent-lich?Wenn diese Sichtweise, dass nicht mehr vermitteltwerden kann, was es eigentlich noch bringt, Leistung zuerbringen, und wo man diese Leistung danach umsetzenkann, in Teilen der jungen Generation vorherrscht, dannhaben wir in unserer Gesellschaft insgesamt eine Mengedafür zu tun, sie zu verändern. Das bedeutet: Wenn wires nicht schaffen, dass genügend betriebliche Ausbil-dungsplätze zur Verfügung gestellt werden, dann müssenwir auch zusätzliche Mittel in die Hand nehmen – dieshat meine Kollegin Nicolette Kressl bereits gesagt –, umsie mit genau den Maßnahmen zu erreichen, die ihnentatsächlich helfen. Da helfen auch keine dauerhafte Dis-kussion und keine Umlagefinanzierung.
Bis wir so etwas auf den Weg gebracht haben, sind dieseJugendlichen noch fünfmal enttäuscht worden.
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Ich will die Vergangenheit jetzt nicht zu sehr in Haftungnehmen.
Aber wir haben bei der Novellierung des Berufsbil-dungsgesetzes ganz hervorragend zusammengearbeitet.
Das war quasi ein Probelauf der neuen Freundschaft, diewir inzwischen pflegen.Aber eines muss man schon sagen: Das Gezappel inIhrer Fraktion, bis wir den Ausbildungspakt endlich be-schlossen hatten, hat schon für Unsicherheit gesorgt.
Das hat nicht unbedingt dazu beigetragen, neue Ausbil-dungsplätze zu schaffen. Aber wir sind uns einig, dassdie Situation momentan nicht zufriedenstellend ist. DieAusbildungslücke ist uns allen mit Sicherheit viel zuhoch. Es fehlen 34 000 Lehrstellen. Das ist kein schönesErgebnis. Das erfordert von uns allen noch große An-strengungen.Ich erinnere an die Debatte, die wir Anfang diesesJahres geführt haben. Wer hätte in der damaligen Situa-tion gedacht, dass wir überhaupt einmal so weit kom-men? Dahinter stehen riesige Anstrengungen einer Viel-zahl von Unternehmen und auch einer ganzen Reihe vonMittelständlern, die sich maßgeblich bemüht haben,neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Auf die seltsameneue Unterschichtsdebatte will ich nicht näher eingehen.Aber eines ist klar: Bei der Diskussion um Lehrstellengeht es nicht nur um einen Ausbildungsplatz für jungeMenschen. Vielmehr geht es für diese jungen Menschenum einen Platz in unserer Gesellschaft. Diesen müssenwir bereitstellen.Dass wir und die Unternehmen es nach großen An-strengungen geschafft haben, die Ausbildungslückestark einzuschränken, hat etwas mit dem Wachstum inder Bundesrepublik zu tun. Der Wirtschaftsminister pro-gnostiziert ein Wachstum von 2,5 Prozent. Die ansprin-gende Konjunktur wirkt langsam auch auf dem Ausbil-dbnhgCWfaAgsdDEtbnirdLdpSnsamgddsssosnBMgdvkwvlhLs
Liebe Kollegin Sager, ich spreche Sie an, weil Sie amittwoch dieser Woche in der Regierungsbefragung ge-enüber dem Bundesminister Glos dargestellt haben,ass die vollzeitschulische Ausbildung zurzeit nur inier Bundesländern stattfindet und nicht in allen 16. Ichann Ihnen dazu sagen: Wir haben in der Debatte, dieir geführt haben, als wir das Berufsbildungsgesetz no-elliert und diese Möglichkeit geschaffen haben, natür-ich maßgeblich den Osten dieses Landes vor Augen ge-abt. Dort, wo auch bei größten Anstrengungen keineehrstellen im Betrieb eingerichtet werden konnten,ollte eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen werden,
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Alexander Dobrindtnämlich die vollzeitschulische Ausbildung. Diese waraber nie als gleichwertige Alternative zur dualen Ausbil-dung gedacht und das darf sie auch nie werden.
Wenn man darüber debattiert, sollte man nicht bekla-gen, dass es jetzt eine Welle von Altbewerbern gibt. Da-ran zeigt sich, dass es zur dualen Ausbildung in Betriebund Schule keine echte Alternative gibt. Vollzeitschuleund Ähnliches sind nur Hilfskonstrukte, die im Zwei-felsfall nur die zweitbeste Lösung sind. Deswegen wol-len wir die vollzeitschulische Ausbildung nicht zum Re-gelfall machen.
Ich glaube, an dem, was Frau Ministerin Schavan gesagthat, ist deutlich geworden: Wir brauchen einen Mix anMaßnahmen. Wir sind dabei, diesen Mix anzupassenbzw. zu kreieren. Ich glaube, dass wir letztlich zu einerguten Situation in der Ausbildungsfrage kommen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung auf Drucksache 16/1258. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in
Kenntnis des Berufsbildungsberichtes 2005 auf Druck-
sache 15/5285 die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/543 mit
dem Titel „Neue Dynamik für Ausbildung“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ange-
nommen.
Unter Nr. 2 der Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss in Kenntnis des genannten Berufsbildungsbe-
richts die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/235 mit dem Titel „Die duale Berufs-
ausbildung in Deutschland kontinuierlich verbessern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Be-
schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss in Kenntnis des Berufsbildungsberichts
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/122 mit dem Titel „Statt Ausbildungs-
pakt – Für eine umlagefinanzierte berufliche Erstausbil-
dung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Diese Be-
schlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
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Sie haben unseren Antrag, in dem wir die Einführungeiner Mindestlohnregelung gefordert haben, in namentli-cher Abstimmung abgelehnt und waren nicht dazu zu be-wegen, die von uns vorgetragenen Argumente anzuneh-men. Es ist zu erwarten – das hat insbesondere KollegeNiebel schon angekündigt –, dass auch der vorliegendeAntrag abgelehnt wird.
Mittlerweile haben Sie eine Armutsdebatte geführt,die nach dem bekannten Muster verlaufen ist. Zunächstwurde darüber schwadroniert, ob man den Begriff Unter-schichten verwenden dürfe.
Nachdem diese Debatte beendet war, haben Sie sich ge-genseitig die Schuld an der negativen Entwicklung zuge-schoben, die Hartz IV in unserer Bevölkerung verursachthat.Wir, die Fraktion Die Linke, glauben, dass solche De-batten zu einer immer stärkeren Politikverdrossenheitbeitragen. Es wäre konsequent, wenn Sie die entspre-chenden Schlüsse aus dieser Debatte ziehen würden. Dashieße erstens, die Hartz-IV-Gesetze zu novellieren, undzweitens, den gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro proStunde in Deutschland einzuführen.
Wir haben heute Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer eingeladen, die zu den derzeitigen Bedingungen ar-beiten. Sie erhalten zum Beispiel Stundenlöhne von5,86 Euro, 5,19 Euro und 6 Euro. Ich habe einen Lohn-zettel mitgebracht. Vielleicht kann dieses Beispiel etwasbei Ihnen bewegen, Herr Niebel, wenn es Sie interes-siert, wie es den Menschen draußen geht. Da arbeitet je-mand 40 Stunden pro Woche für einen Nettolohn von797,19 Euro. Es ist doch eine Schande, wenn jemand inDeutschland 40 Stunden in der Woche arbeiten muss unddafür nur knapp 800 Euro netto bekommt.
Stellen Sie sich vor, was das bedeutet, wenn jemandarbeitslos wird, oder wie sich das später auf die Renteauswirkt. Es ist ein Ausdruck von Gefühllosigkeit, dieseBedingungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und nichtendlich auch bei uns eine gesetzliche Regelung einzu-führen, die es bereits in den meisten europäischen Län-dern gibt.
Was bilden wir uns eigentlich ein, dass wir diese gesetz-liche Regelung, die in allen anderen europäischen Län-dern funktioniert, in Deutschland nicht einführen?Nun komme ich zu den Argumenten, die immer wie-der vorgebracht werden. Das ist erstens das Standard-argument der FDP und der CDU/CSU, es würdenArbeitsplätze vernichtet.IhdKedESS1wtndakZAfwuiswwceZvtggfnssvhmdtbrS
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Aber Sie glauben, dass Sie es besser wissen. Welch eineVolksvertretung ist das, die in wichtigen sozial- undsteuerpolitischen Fragen ständig gegen die Mehrheit desVolkes stimmt? Darüber sollten Sie einmal nachdenken!
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass60 Prozent der deutschen Bevölkerung dafür eintreten,dass es in Deutschland eine ähnliche Regelung betref-fend den Mindestlohn gibt wie in vielen europäischenNachbarstaaten. Vielleicht wäre es heilsam – das wärewahrscheinlich der einzige Weg, Sie zum Einlenken zubringen –, wenn wir – merken Sie auf! – unsere Diätenan Mindestlöhne koppelten.
– Es ist wunderbar, dass Ihnen das nicht passt und Siesich aufregen.shtzHzvs–ßdRmddnCDKhkzwvtskgsSb
Herr Kollege Lafontaine, erlauben Sie mir bitte zweiinweise. Erstens. Ein Antrag auf Neuregelung der Be-üge der Abgeordneten im Sinne der von Ihnen geradeorgeschlagenen möglichen Regelung wurde mir von-eiten der Fraktion Die Linke bislang nicht vorgelegt.
Ich entscheide selber, was geht.Zweitens. Nach einer Reihe von entsprechenden Äu-erungen in den letzten Tagen gibt es einen hinreichen-en Anlass, darauf hinzuweisen, dass Sie natürlich jedesecht haben, jede Mehrheitsentscheidung dieses Parla-entes zu kritisieren, dass aber die Behauptung, dass dasemokratiefeindlich sei, mit unserem Selbstverständnis,ass Mehrheiten darüber entscheiden, was gelten soll,ur schwer zu vereinbaren ist.
Das Wort hat nun der Kollege Gerald Weiß für dieDU/CSU-Fraktion.Gerald Weiß (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenamen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herrollege Lafontaine hat eben von Hybris gesprochen. Daat ein Fachmann für Hybris gesprochen.
Er sollte zur Kenntnis nehmen: Die Mehrheit des Vol-es wollte keine Linke und wollte nicht die linken Re-epte. Wenn uns jetzt eine linke Rezeptur vorgelegtird, nähern wir uns diesem Thema trotz des Entreeson Lafontaine ganz sachlich und nicht kulturpessimis-isch. Wir wollen uns mit Ihren Argumenten auseinanderetzen.Die Frage nach dem existenzsichernden Arbeitsein-ommen ist eine ganz alte Frage und leider wieder eineanz neue Frage. Man muss die Frage stellen, wie wir esicherstellen, dass die Menschen von ihrer Arbeit iminne des Mottos „anständiger Lohn für anständige Ar-eit“ leben können. Wir sind überzeugt, dass die Ant-
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Gerald Weiß
wort der Linken eine falsche Antwort ist und dies auchin diesen vier Monaten, Herr Lafontaine, geblieben ist.
Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist keine ge-eignete Methode, um das Problem zu lösen.
Ich will mich diesem Thema nicht kulturpessimistischnähern, sondern mit einigen Hoffnung gebenden Daten,die die Rahmenbedingungen für die Lohnfindung undfür die Einkommenspolitik unserer Tage nach einemJahr großer Koalition bilden. Das Sozialprodukt in die-sem Jahr wird nicht um 0,00 Prozent wachsen, sondernes wird voraussichtlich um 2,4 Prozent zunehmen, unddas nach Jahren der Stagnation. Gegenüber dem Vorjahrgibt es über 200 000 sozialversicherungspflichtig Be-schäftigte mehr. Wir haben mehr als 400 000 Arbeitsloseweniger als im vergangenen Jahr. Wir haben 33 Prozentmehr offene Stellen. Die Wirklichkeit ist besser als diePlanung – eine Welturaufführung. Das hat schon mit derArbeit der großen Koalition in den vergangenen zwölfMonaten zu tun.
Warum sind die Daten, die ich eben nannte, Schlüs-selzahlen? Ich wäre Herrn Lafontaine dankbar, wenn erzuhören würde, so wie auch ich ihm, obwohl es manch-mal schwer fiel, zugehört habe. Wenn es mehr Wachs-tum gibt, gibt es mehr Arbeit. Wenn es mehr Arbeit gibt,gibt es die Chance auf bessere Löhne. Unbestreitbar ist,dass das Wachstum des Sozialprodukts im Allgemeinenund die Produktivitätszunahme im Besonderen Orientie-rungswerte, wahrscheinlich die wichtigsten, für Lohn-verhandlungen sind. Wir dürfen uns zurechnen – ichnenne nur das Stichwort 25-Milliarden-Programm –,dass, wenn auch nicht zur Gänze, die Arbeit der Bundes-regierung ganz wesentlich dazu geführt hat, dass dieseSchlüsseldaten der Volkswirtschaft in diesem Landeheute besser sind, als sie vor 24 oder 30 Monaten waren.Die Opposition mag sich prüfen, wie sie argumentierenwürde, wenn die Zahlen anders lauten würden, nämlichMinuswachstum, noch mehr Arbeitslose und ein nochhöherer Verlust an sozialversicherungspflichtiger Be-schäftigung. Dann wäre es die Schuld der Regierung.Also darf man beim Gegenteil auch annehmen, dass esdas Verdienst der Regierung ist, wenn wir endlich Lichtam Ende des Tunnels sehen und auf einem besserenWege sind.Natürlich reicht es nicht, mehr Spielraum für bessereLöhne und für mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Wir wis-sen, dass wir Arbeitsmarktpolitik als Flankenschutzbrauchen, dass wir unter den Stichworten Kombilohn,50 plus usw. in ganz bestimmten Feldern Handlungsbe-darf haben, dass wir in manchen Branchen, insbesonderein arbeitsintensiven mittelständischen Betrieben, Pro-bleme mit Dumpinglöhnen, Billiglohnkonkurrenz undschmutzigem Wettbewerb haben. Darauf müssen wirspezifische Antworten geben.
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Gerald Weiß (CDU/CSU):Ihre Frage nach dem Staat, Herr Gysi, ist für Sie ty-isch.
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Gerald Weiß
Nur ein etatistischer Kopf kann eine solche Frage gebä-ren. Wir müssen uns doch zuerst fragen: Was kann dasTarifsystem leisten? Herr Lafontaine hat eben gesagt:Man schiebt den Gewerkschaften die Verantwortungzu. – Das war doch grotesk. In Deutschland tragen dieGewerkschaften doch zusammen mit den Arbeitgeberndie Verantwortung für die Lohnfindung.
Der Staat soll sich nur einmischen – das antworte ich Ih-nen –, wenn die Tarifparteien mit dieser Aufgabe nichtfertig werden.
Ich habe das Zutrauen, dass die Tarifparteien ihrerVerantwortung gerecht werden, eine praxisorientierteWürdigung der Umstände in der jeweiligen Branche undin der jeweiligen Region an den Tag legen und die rich-tige Antwort geben. In der Regel können Tarifparteiendifferenzierter und damit besser vorgehen, als es derStaat jemals tun könnte.Herr Gysi, jetzt dürfen Sie sich setzen.
Der DGB fordert einen gesetzlichen Mindestlohn von7,50 Euro, der Wirtschaftsweise Bofinger 4,50 Euro,Herr Lafontaine und Herr Gysi fordern 8 Euro. Ange-sichts dessen muss man doch fragen, wie diese undiffe-renzierte Antwort auf ein differenziertes Problem wirkenwird. Was bedeutet das für die Chemie? Im günstigstenFalle gar nichts; aber mit einiger Wahrscheinlichkeitwürde dies für die Kolleginnen und Kollegen in dieserBranche bei den Tarifverhandlungen erschwerend wir-ken. Lassen wir den Staat außen vor!Unsere Ziele lauten: Ausländische Anbieter müsseneingebunden werden. Dumpinglöhne und Schmutzkon-kurrenz müssen verhindert werden.
Es darf kein System entstehen, durch das Menschen indie Arbeitslosigkeit gedrängt werden. Wir brauchen einepraktikable und realitätsnahe Lösung.
– Ich habe hier doch beschrieben, welchen Weg wir be-schreiten. Für die Gebäudereiniger schaffen wir eine ent-sprechende Regelung über das Entsendegesetz. Wir wer-den in der großen Koalition gemeinsam prüfen, ob wirdies auch für andere Branchen machen können.
Ich weiß natürlich, dass man hier am Ende einer so-zialethischen Orientierung folgen muss.
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Vor 75 Jahren hat Papst Pius XI. gesagt: An erstertelle steht dem Arbeiter ein ausreichender Lohn zu füreinen und seiner Familie Lebensunterhalt.
araus müssen wir gemeinsam die richtigen Konsequen-en ziehen. Nell-Breuning sagte: Für die große Mehrheiter Menschen, die vom Arbeitslohn leben müssen, musselten, dass der Lohn für den Lebensbedarf der Familieusreicht. – Das ist die christlich-soziale Absage anworking poor“. Wir müssen dieses Ziel in richtigereise mit den richtigen Methoden ansteuern.
ie wählen den falschen Weg. Ich bin überzeugt, dassir mit der großen Koalition den richtigen Weg gehen.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,
DP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esar zu erwarten, dass die seit Anfang dieser Woche lau-ende Diskussion über eine Unterschicht in Deutschlandn die Debatte über einen Mindestlohn einfließen würde,achdem Hubertus Heil und gestern auch der Kollegeysi einen Zusammenhang zwischen prekären Lebens-agen und dem Fehlen von Mindestlöhnen hergestellt ha-en.Alle mir bekannten Studien beweisen jedoch, Herrollege Lafontaine, dass das größte Armutsrisiko nichtn niedrigen Löhnen, sondern in Arbeitslosigkeit besteht.
eshalb muss unsere Hauptanstrengung darauf gerichtetein, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren undie nicht aus dem Arbeitsmarkt auszugrenzen. Mit derinführung von Mindestlöhnen wird aber genau dieusgrenzung geschehen. Vor allem Jugendliche, Lang-eitarbeitslose und Geringqualifizierte werden es nacher Einführung von Mindestlöhnen schwer haben, einenrbeitsplatz zu finden – ich sage Ihnen auch wieso, Herrollege Gysi –, weil die zu zahlenden Löhne aus demegenwert der von ihnen produzierten Güter und er-rachten Dienstleistungen nicht mehr gedeckt werdenönnen. Das kann sich auf Dauer kein Unternehmen
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5693
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Dr. Heinrich L. Kolbleisten. Es wird entweder solche Arbeitsplätze abbauenmüssen oder selbst vom Markt verschwinden.
– Herr Kollege Gysi, hören Sie bitte zu oder stellen SieIhre Frage. Vielleicht kann ich sie gleich beantworten.
Es besteht bereits Einvernehmen über die Zulassung
einer Zwischenfrage. – Bitte schön, Herr Kollege Gysi.
Nachdem in Großbritannien der gesetzliche Min-
destlohn eingeführt worden ist, war zwei Jahre später die
Arbeitslosenquote um die Hälfte gesunken. Wie erklären
Sie sich das? Es ist also das Gegenteil dessen eingetre-
ten, was Sie hier beschreiben.
Das hängt mit dem Zeitpunkt zusammen. Der gesetz-
liche Mindestlohn wurde in einer länger anhaltenden
Aufschwungphase eingeführt und hat deswegen nicht in
dem Maße geschadet, wie das sonst der Fall gewesen
wäre.
Eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch
deutlich machen, Herr Kollege Gysi. Sie haben, so
glaube ich, wenn Sie über Mindestlöhne reden, immer
ausbeuterisches Lohndumping vor Augen: Jemand zahlt
einen niedrigen Lohn, obwohl er eigentlich einen höhe-
ren zahlen könnte. – So etwas mag es geben. Ich meine
aber, dass sich in weiten Bereichen der Wirtschaft die Si-
tuation anders darstellt. Dort besteht kein Spielraum, um
die Löhne auf eine gesetzlich vorgeschriebene Mindest-
höhe anzuheben.
Ich möchte nun noch auf die Anmerkung des Kolle-
gen Lafontaine eingehen, der hier die Honorarordnun-
gen kritisiert hat. – Sie dürfen sich gerne setzen, Herr
Kollege Gysi.
Es besteht ein Unterschied zwischen Umsatz und Ge-
winn; das ist Ihnen sicherlich nicht entgangen. Eine Ho-
norarordnung regelt, wie bestimmte Leistungen abge-
rechnet werden können, wie also beispielsweise ein
Architekt einen Planungsauftrag, den er erledigt hat, ab-
rechnen kann. Hierbei geht es aber nicht um das Ein-
kommen des Architekten. Darin werden Sie mir sicher-
lich Recht geben. Von dem Umsatz muss er vielmehr
seine Büromiete und die Computer, auf denen er seine
CAD-Programme – auch diese kosten Geld – betreibt,
bezahlen. Er muss seine Mitarbeiter entlohnen und seine
sonstigen Kosten bestreiten. Am Ende bleibt, wenn er im
Jahresverlauf hinreichend Einnahmen erzielt hat, um
seine Fixkosten zu decken, möglicherweise – ich wün-
sche es ihm – ein angemessenes Einkommen übrig. Von
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ch frage Sie: Was macht der Friseur im Erzgebirge, der
isher, tarifvertraglich vereinbart – mit zwei Unterschrif-
en, nämlich von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite –,
,80 Euro oder 4 Euro pro Stunde zahlt, wenn jetzt ein
indestlohn von 8 Euro, wie es Ihren Vorstellungen ent-
pricht, kommt?
Das kann doch nicht funktionieren. Diese Arbeits-
lätze werden in absehbarer Zeit verloren gehen, weil
ie Leistung künftig in Schwarzarbeit erbracht werden
ird. Deswegen erweisen Sie der Bevölkerung in den
euen Bundesländern einen Bärendienst, weil Sie mit Ih-
em Antrag am Ende zu mehr Arbeitslosigkeit beitragen
erden.
Herr Kollege Kolb, möchten Sie den Dialog mit dem
ollegen Gysi noch eine Weile fortsetzen?
Sehr gerne. Ich wüsste nicht, was ich lieber täte.
Sie haben mir eine Frage gestellt; eigentlich müsstech jetzt darauf antworten. Weil das aber nicht erlaubt ist,uss ich die Antwort in eine Frage kleiden.
Würden Sie beachten wollen, dass erstens ein Friseur-eister, wenn sein Konkurrent erstmalig einen gesetzli-hen Mindestlohn bezahlen müsste, dasselbe tun müsste,it anderen Worten also die Gleichheit der Wettbewerbs-hancen beibehalten bliebe, dass wir zweitens für dieleinen Unternehmen in den strukturschwachen Regio-en – auch im Osten – Übergangszeiten etc. vorge-chlagen haben, um die angesprochenen Schwierigkei-en zu überwinden, und dass es drittens wichtig bleibt,eides unter einen Hut zu bringen, anstatt immer nur dieine Seite zu sehen und zu sagen, es interessiere nicht,as Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-and verdienen? Diese Frage stelle ich einmal ganz unab-ängig davon, dass ich zu Ihren anderen Punkten natür-ich auch noch etwas sagen könnte, mir das abererkneife.
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Herr Kollege Gysi, wir haben beide einen etwas
schütteren Haarwuchs – Sie vielleicht noch etwas mehr
als ich.
Trotzdem werden Sie, denke ich, gelegentlich zum Fri-
seur gehen und dort, so wie ich das tue, Gespräche füh-
ren. Dann wissen Sie, dass schon heute die Dienstleis-
tung Haareschneiden massiv von der Konkurrenz in
Schwarzarbeit bedroht ist.
Natürlich gibt es keine offiziellen statistischen Zahlen
dazu. Aber jeder, der die Situation auch nur ein bisschen
beobachtet, weiß, dass ein Großteil dieser Dienstleistun-
gen mit der Schere heute schon nebenbei im Haushalt
von Dritten gegen Entgelt erledigt wird. Wenn Sie diese
Situation noch verschärfen wollen, dann müssen Sie in
der Tat genau das fordern, was Sie jetzt fordern. Aber
damit helfen Sie den Menschen nicht.
Mit der Bitte um Verständnis – wir haben uns ja auf
gewisse Redezeiten verständigt – nun die ultimativ letzte
Zwischenfrage, die sich hoffentlich nicht auf Haarwuchs
bezieht; denn in diesem Punkt fühle ich mich irgendwie
auch betroffen.
Herr Präsident, ich weiß schon, welche Themen ich
vermeide.
Meine Frage bezieht sich auf die Schwarzarbeit. Inso-
fern hatten Sie ja in gewisser Weise Recht. Aber
Schwarzarbeit ist doch in gewisser Weise wie Diebstahl.
Ich verstehe Ihre Aussage nicht. Das muss man bekämp-
fen. Wir können doch nicht sagen, wir müssten Waren-
häuser schließen, weil dort geklaut wird.
Schwarzarbeit gilt es zu bekämpfen, damit das nicht zur
Methode wird. Sie aber benutzen die Kriminalität, um
eine gesetzliche Regelung abzulehnen. Entschuldigung,
aber das ist doch indiskutabel!
Herr Kollege Gysi, Sie sollen mir nicht das Wort im
Munde verdrehen. Ich bin der Letzte, der der Schwarz-
arbeit das Wort reden würde. Wir müssen gemeinsam ein
Interesse daran haben, zu weniger Schwarzarbeit zu
kommen. Dass wir Schwarzarbeit haben, hat Ursachen.
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Wenn das dann immer noch nicht reicht, weil ein be-
timmter Lohn aus betriebswirtschaftlichen Gründen
icht gezahlt werden kann, dann muss der Staat bei Be-
ürftigkeit ergänzend einen Transfer gewähren. Dazu
aben wir Liberalen mit dem Bürgergeld einen ganz
onkreten Vorschlag gemacht: eine negative Einkom-
ensteuer, die sozusagen zum Netto hinzukommt, wenn
as erzielte Einkommen nicht ausreicht. Das ist der Weg,
en wir gehen müssen. Ich möchte Sie – bei aller Be-
riebsblindheit, die Sie haben – auffordern, einmal da-
über nachzudenken, ob das nicht ein Weg sein könnte.
Herr Präsident, ich bitte Sie, kurz die Uhr anzuhalten.
ür mich waren als Redezeit vier Minuten vorgesehen,
ie haben mir aber acht Minuten gegeben. Das würde
edeuten, dass der Kollege Niebel nichts mehr sagen
ürfte.
ch bitte Sie daher, mir von den noch zur Verfügung ste-
enden 4:56 Minuten nur noch die 56 Sekunden zu las-
en, damit der Kollege Niebel noch eine Chance hat.
Herr Kollege, das wäre natürlich viel einfacher gewe-
en, wenn Sie das Plenum jetzt nicht ausdrücklich auf
ie Lage aufmerksam gemacht hätten.
Wir sind aus den genannten Gründen gegen Mindest-öhne. Wir glauben, dass wir in der Vergangenheit ge-ernt haben, dass überproportionale Lohnerhöhungen,nsbesondere Sockellohnanhebungen, dazu geführt ha-en, dass geringqualifizierte Beschäftigte aus dem Ar-eitsmarkt verdrängt wurden.
as ist doch das Problem. Da bei Geringqualifiziertenie Arbeitslosenquote heute bereits 25 Prozent beträgt,
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Dr. Heinrich L. Kolbist es das Gebot der Stunde, diese Problemlage nichtweiter zu verschärfen.Der Herr Kollege Brandner hat vor kurzem gesagt:Wer einen existenzsichernden Mindestlohn will, der istgut beraten, vorab keine Zahl festzulegen. – Dann bleibtam Ende doch das offenkundige Dilemma: Ein Mindest-lohn, der zu niedrig angesetzt wird, ist wirkungslos. Einzu hoher Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze.Ich sage Ihnen voraus: Das Einzige, was mit der Ein-führung von Mindestlöhnen einen Aufschwung erlebenwird, Herr Kollege Gysi, ist leider die Schwarzarbeit inDeutschland. Deswegen sollten wir bei dem Vorschlag,den uns die Linke hier unterbreitet hat, sehr vorsichtigsein.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Nahles,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirbrauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil 2,7 Millio-nen Menschen trotz Arbeit – nicht wegen Arbeitslosig-keit, Herr Kolb, sondern trotz Arbeit – arm sind. Daskönnen wir nicht akzeptieren.
Wir brauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil esschön und gut ist, über prekäre Arbeitsverhältnisse zu re-den,
aber es den Menschen nicht hilft, wenn daraus keineKonsequenzen gezogen werden. Eine der Konsequenzenist, dass sich Menschen Auge in Auge mit ihrem Arbeit-geber gegen Lohndrückerei wehren können. Dafür brau-chen sie eine Haltelinie nach unten. Auch das ist einganz zentraler Grund für Mindestlöhne.
Wir brauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil esnicht angehen kann, dass mittlerweile 1 Million Men-schen, die arbeiten, aufstockend noch Arbeitslosen-geld II bekommen müssen, von denen die Hälfte sogarsozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, wobei ge-rade in den letzten Monaten der Anteil derjenigen, diesozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und oben-drauf ALG II bekommen, gestiegen ist. Das heißt dochnichts anderes, als dass sie so wenig für ihre Arbeit be-kommen, dass der Staat einspringen muss. Aber das istnicht unsere Aufgabe. Das muss von der Wirtschaft fürdie geleistete Arbeit erbracht werden.AuwggbdzkkeUw–WDnlDHeIdzDGed
uch ordnungspolitisch kann ich das nicht akzeptieren.Wir brauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil wirnsere Hausaufgaben machen müssen. In drei Jahrenird es die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europaeben. Deutschland ist ein Land, das an neun Staatenrenzt. Wir müssen an dieser Stelle wahrnehmen, was esedeutet, wenn wir keine Haltelinien und Mindeststan-ards definieren. Da hilft es wirklich wenig, in Studienu schauen, sondern da hilft einfach schlichtes Nachden-en darüber, Herr Kolb, was uns passiert, wenn wireine Mindeststandards einführen.Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin das ebenfallsinsieht; das sage ich auch an meine Kollegen dernion. Ich zitiere aus einem Interview der „Wirtschafts-oche“ mit ihr. Darin hat sie gesagt:Und dann gibt es ja in 19 europäischen Ländernauch schon einen Mindestlohn: von 1 500 Euro mo-natlich in Luxemburg bis 116 Euro wegen der niedrigen Lebenskosten –in Lettland. Daran kann ich nicht einfach vorbeige-hen und den Bürgern sagen, Mindestlohn ist ord-nungspolitisch unsinnig. Punkt! Das würde keinerbegreifen.o die Frau Bundeskanzlerin Recht hat, hat sie Recht.
eswegen sind wir uns an der Stelle, denke ich, auch ei-ig.Wir brauchen aber nicht nur Mindestlöhne, wir wol-en auch Mindestlöhne.
as ist deswegen gut zu wissen, weil hier von Ihnen,err Lafontaine, lieber Oskar,
in Popanz aufgebaut wurde. Dazu kann ich nur sagen:ch habe die letzten neun Monate damit verbracht, miten Einzelgewerkschaften ein gemeinsames Konzeptum Mindestlohn zu erarbeiten.
as ist gelungen. Es gibt eine gemeinsame Position desewerkschaftsrats und der SPD, einen Zweistufenplan.
Die Gewerkschaften haben es nicht als Belastungmpfunden, sondern es war ihr ausdrücklicher Wunsch,ass wir sie als Tarifpartner bei der Findung von
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Andrea NahlesMindestlöhnen in Deutschland nicht außen vor lassen.Im Gegenteil, wir sagen ganz klar: BranchenspezifischeMindestlöhne gehen vor. – Die Tarifparteien sind mitim Boot. Das ist eine gemeinsame Position. Man kannhier also nicht so tun, als ob die Gewerkschaften und dieWelt darauf warten, dass die staatliche Ebene einfachmal einen Mindestlohn festsetzt. Das kann ich nicht fürgut befinden. Wir haben starke Tarifparteien, die imÜbrigen, Herr Gysi, weitaus stärker als diejenigen inEngland sind. Wir sollten sie daher in diesen Prozesseinbinden und nicht gegen sie arbeiten und über ihreKöpfe hinweg entscheiden.
Wir wollen Mindestlöhne. Das Entsendegesetz solldazu auf alle Branchen ausgedehnt werden; das ist einAngebot. Das bedeutet, dass sich die Tarifpartner zusam-mensetzen müssen. Die Chance besteht, dass es am Endebranchenspezifische Mindestlöhne gibt und nicht einenpauschalen Mindestlohn über alle Branchen hinweg.Weil wir die Äußerungen der BDA und speziell dievon Herrn Göhner, die wir regelmäßig vernehmen müs-sen, kennen, sage ich aber auch, dass die Blockade derArbeitgeber dann ein Ende finden muss, wenn absehbarist, dass es in bestimmten Branchen – im Gebäudereini-gerhandwerk hat man sich geeinigt; hoffentlich gibt esauch bald im Bereich der Zeitarbeit eine allgemeinver-bindliche Regelung – zu keiner Vereinbarung kommt.Die Branchen, die sich noch weigern, werden am Endegegen die Interessen ihrer Arbeitnehmer handeln und mitKonkurrenz, die Dumpinglöhne zahlt, zu tun haben. Andieser Stelle muss sich die Politik einschalten. Gesetzli-che Mindestlöhne müssen da greifen, wo es keine bran-chenspezifischen Vereinbarungen gibt. In diesem abge-stuften Verfahren, das ein gangbarer Weg ist, haben wiruns sehr gut positioniert.
Wir brauchen Mindestlöhne. Wir von der SPD wollenMindestlöhne. Wir haben einen gangbaren Weg aufge-zeigt. Aber was die Linkspartei heute vorschlägt, gehtleider nicht. Sie sollten sich lieber zusammensetzen undnoch einmal darüber diskutieren. Sie schlagen vor, dassein Mindestlohn in Höhe von 8 Euro gesetzlich vorge-schrieben werden soll. Dabei haben Sie aber das Gefühl,dass diese Grenze willkürlich sein könnte. Sie trauenalso Ihrer eigenen Festlegung nicht. Deswegen schlagenSie einen komplizierten Apparat vor, mit dem Ausnah-men und Stufenpläne ermöglicht werden sollen.Obwohl Sie einerseits den Gesetzgeber auffordern, ei-nen Mindestlohn von 8 Euro festzulegen, wollen Sie an-dererseits eine unabhängige Kommission, sozusageneinen Alibi-Mindestlohnrat, einrichten, die die Modalitä-ten organisieren soll. Ich schlage Ihnen vor: Verabschie-den Sie sich von Ihrer populistischen Forderung nach8 Euro Mindestlohn! Gehen Sie den Weg, den wir vor-schlagen!
Auch das ist der britische Weg. Wir sollten es lieber denTarifpartnern und den Wissenschaftlern überlassen, zubdsnfmeKSDaDwnKelgwkgsldItwb
Frau Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischen-
rage des Kollegen Dreibus?
Selbstverständlich. Eine Frage von Herrn Dreibus ist
ir immer willkommen.
Kollegin Nahles, nach Ihren Äußerungen habe ich
ine Frage, auf die man zwei Antworten geben kann.
önnen Sie bitte versuchen, mir zu erklären, an welcher
telle sich unser Antrag von dem unterscheidet, was der
GB-Bundeskongress im Mai beschlossen hat und was
lle Einzelgewerkschaften bis auf eine innerhalb des
GB öffentlich zu ihrem Konzept gemacht haben, und
ieso der von uns vorgeschlagene Weg aus Ihrer Sicht
icht funktionieren soll?
Herr Dreibus, zunächst muss ich sagen: Wenn Sieonzepte abschreiben, dann bitte richtig.
Als erstes Beispiel dafür fällt mir ein, dass 7,50 Euroin anderer Betrag ist als 8 Euro.Außerdem sagen Sie, dass von den 8 Euro Mindest-ohn nicht abgewichen werden kann und eine unabhän-ige Kommission eingerichtet werden soll. Der DGBill aber, dass die Tarifpartner eingebunden werden.Ein weiterer entscheidender Punkt ist: Der DGB willeine Ausnahmeregelung für ganze Branchen. Sie schla-en aber ein Stufenkonzept vor, weil Sie anscheinend einchlechtes Gewissen haben und befürchten, ein Mindest-ohn von 8 Euro sei nicht verkraftbar. Das ist aber nichter Vorschlag des DGB. Wenn Sie es wollen, kann ichhnen das gerne belegen.
Es ist legitim, wenn Sie Konzepte abkupfern. Sie soll-en aber zur Kenntnis nehmen, dass der DGB sehr genaueiß, dass eine Regelung bei den Tarifpartnern am Endeesser aufgehoben ist als im Parlament. Andernfalls
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Andrea Nahleswürde die Gefahr bestehen, dass vor einer Wahl ein biss-chen mehr Mindestlohn versprochen würde und nach derWahl ein bisschen weniger Mindestlohn herauskäme.Das ist auch meine Überzeugung.
Ich denke, wir sollten uns aufmachen, einen zeitli-chen Rahmen und ein Verfahren miteinander zu verein-baren. Das geht auch an den Koalitionspartner. Wir be-finden uns jetzt im Herbst in einem Verfahren, in dem esdarum gehen muss, über Niedriglohnbereich, Minijobs,Hinzuverdienstmöglichkeiten, Kombilohn und Mindest-lohn zusammen zu diskutieren. Das tun wir gerade auch.
– Das muss man zusammen diskutieren.Aber machen wir uns nichts vor, hier gibt es offen-sichtlich Differenzen. Ich sage aber auch: Wenn SieKombilohn wollen, dann wollen wir Mindestlohn. Ausunserer Sicht ist auch notwendig, dass wir das nicht aufdie lange Bank schieben. Es darf allein schon deshalbnicht auf die lange Bank geschoben werden, weil es indrei Jahren die Arbeitnehmerfreizügigkeit geben wird.
Deshalb wünschen wir uns in diesem Herbst konkreteVereinbarungen mit Ihnen, bei denen wir auch bereitsind, Kompromisse einzugehen, aber an dem Ziel einesMindestlohnes werden wir auf keinen Fall rütteln wol-len. Es müssen an dieser Stelle alle das Wohl der Bevöl-kerung im Auge behalten.Ich sage ganz offen: Mich überzeugen die Argumenteder FDP hier nicht.
Sie stellt sich zwar scheinheilig hin und bejammert dieSchwarzarbeit. Wenn man das aber weiterdenkt, was Sieimmer vorschlagen, dass Löhne genau wie Produkte le-diglich dem Marktpreis unterworfen sind, dann kommtals Pointe dabei raus: Lohn null Euro und der Staat be-zahlt die Miete.
Das können wir aufseiten der SPD nicht akzeptieren,denn wir wollen, dass es faire Löhne für gute Arbeitgibt, damit die Leute davon leben können. Das, was Sievorschlagen, ist eine Spirale, die keine Grenze nach un-ten kennt.
Ich sage auch ausdrücklich: Ich empfinde es mittlerweileals Lohndeflation, was wir hier im Land haben. Diemuss gestoppt werden.Vielen Dank.
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ch möchte Ihnen sagen, dass sich das Problem in dientgegengesetzte Richtung entwickelt. 1996 waren esoch 15,9 Prozent, in Zahlen 3,3 Millionen Menschen,ie unterhalb der Niedriglohnschwelle gearbeitet haben.nzwischen ist die Zahl auf 18,4 Prozent oder 3,6 Millio-en Menschen angestiegen. Herr Weiß, wir haben einenrheblichen Handlungsdruck. Wenn Sie hier so tun, alsei das bisschen Aufschwung die Lösung des Problems,eigt das, dass Sie sich mit der Problematik nicht ernst-aft auseinander gesetzt haben.
Herr Weiß, die Anwendung des Arbeitnehmerentsen-egesetzes auf zwei von über 1 000 Branchen reichticht aus, um das Problem zu lösen; das hätte auch Papstius nicht zufrieden gestellt.
n diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal sa-en, über welche Lohnhöhe wir überhaupt reden. Wir re-en zum Teil über Löhne, die unterhalb von 4 Euro dietunde liegen.
Jetzt noch einmal speziell an die Kolleginnen undollegen von der CSU: Herr Söder hat in der Debattem Hartz IV und im Rahmen der Armutsdebatte gesagt,an müsse das ALG II absenken, weil es sonst keinennreiz gebe, eine Arbeit aufzunehmen.
ch gebe hier einmal Folgendes zur Kenntnis: Die Hans-öckler-Stiftung hat herausgefunden, dass über 2 Millio-en Menschen, die aufgrund ihres geringen Einkom-ens einen Anspruch auf Aufstockung über das ALG IIätten, ihren Anspruch nicht wahrnehmen. Und Sie füh-en Missbrauchsdebatten! Ich frage die christliche Par-ei: Wie weit wollen Sie die Mindestabsicherung ab-enken? Es geht um Löhne von weniger als 4 Euro.nter welche Schwelle wollen Sie diese Menschen drän-en? Darauf möchte ich, insbesondere von den Kollegenon der CSU, einmal eine Antwort haben.
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5698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Brigitte PothmerHerr Kolb, Sie erwecken immer den Eindruck, alswären Löhne oberhalb dieses niedrigen Niveaus nicht zuzahlen, weil die Produktivität das nicht hergibt. Neh-men Sie zur Kenntnis, dass im Niedriglohnbereich imWesentlichen keine unqualifizierten Menschen arbeiten,sondern fast 80 Prozent dieser Menschen haben einequalifizierte Ausbildung und einige haben sogar ein Stu-dium absolviert.
Da liegt doch der Gedanke nahe, dass es nicht nur umdie Produktivitätsrate der Menschen, sondern um ganzfieses Lohndumping geht.
Die FDP sagt doch auch sonst nicht: Staatliche Ein-griffe? Niemals! Wenn es darum geht, Apotheker zuschützen oder mittelalterliche Handwerksordnungen auf-rechtzuerhalten, dann regeln Sie sich doch dumm unddämlich. Wenn es um Ihre Klientel geht, fordern Siestaatliche Eingriffe, dann stellen Sie sich vor Ihre Klien-tel.
Hier wollen Sie doch nur deshalb keine Regelung, weilIhnen diese Gruppe von Menschen nichts wert ist.
Jetzt noch einmal kurz zu Frau Nahles. In der Be-schreibung der Problemlagen sind wir uns einig.
Sogar was die Lösung des Problems angeht, sind wir unsrelativ nahe.
Das Problem ist, dass Sie in der letzten Debatte ange-kündigt haben, dass im September Vorschläge vorgelegtwürden. Wir haben jetzt Ende Oktober. Das Laub fällt.
Frau Nahles, der Herbst geht zu Ende. Sie inszenierenDebatten über Armut, tun aber nichts gegen Armut. Die-sen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.
Sie weisen auf den Koalitionspartner und auf das, wasdie Kanzlerin gesagt hat, hin. Das ist doch Pfeifen imWalde. Das wissen Sie doch selber. Die CDU/CSU willeinen Kombilohn und Sie wollen einen Mindestlohn.Diese beiden Grundgedanken stehen sich unversöhnlichgbwWEMmsIzfgDnPGdnCwfDpCDthsud
ch glaube, der Versuch, das zusammenzubringen, wirdu ähnlichem Schrott führen wie bei der Gesundheitsre-orm, wo Sie versucht haben, Kopfpauschale und Bür-erversicherung zusammenzubringen.
as ist wahrlich nicht im Sinne der Betroffenen.Eine vernünftige Lösung wird insbesondere deshalbicht gelingen, weil es Ihnen nicht in erster Linie um dierobleme der Menschen geht, sondern um die eigeneneländegewinne. Das steht einer produktiven Lösungieser Probleme entgegen.
Ich sehe vor meinem geistigen Auge folgendes Sze-ario: Die SPD steigt in das Mindestlohnmodell. DieDU/CSU steigt in das Kombilohnmodell. Beide rasenie wild aufeinander zu. Dabei kommt ein großer Hau-en Schrott heraus.
en versuchen Sie uns hinterher als glänzenden Kom-romiss zu verkaufen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
DU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenamen und Herren! Liebe Kollegen von der Linksfrak-ion, festgebissen an Ihrem einzigen Thema,
aben Sie sich nunmehr schon zum zweiten Mal in die-er Legislaturperiode einen Antrag zum Mindestlohnnd neue Begriffe wie „dualer Mindestlohn“ und „Min-estlohnrat“ ausgedacht.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5699
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Paul Lehrieder
Bei Stellung des Antrags müssen jedoch die früherenund aktuellen Gewerkschafter aus den Reihen derWASG, die in der diffusen Konstellation mit der PDSheute als Linkspartei firmieren, geschlafen haben, oder,um es noch deutlicher zu sagen: Sie befinden sich sicher-lich längst im Winterschlaf.
Elf von 54 Mitgliedern Ihrer Fraktion haben einen ge-werkschaftlichen Hintergrund.Ich erlaube mir, zunächst aus einem nur wenige Tagealten Interview zu zitieren – ich werde Ihnen am Endedes Zitats mitteilen, wer der Interviewte ist –:Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn würdedie Tarifautonomie im Kern beschädigen. Das istmit uns nicht zu machen. … Der Mindestlohn istvon herausragender Bedeutung, eben weil es amEnde um die Zukunft der Tarifautonomie geht. Wirbefürchten, dass mit einem einheitlichen branchen-übergreifenden gesetzlichen Mindestlohn unser Ta-rifsystem ausgehöhlt wird. … Auch die IG BAUund die IG Metall hatten den Mindestlohn ur-sprünglich abgelehnt. Wir hatten da eine gemein-same Position.
Diese Linien haben dann die beiden Gewerkschaf-ten verlassen.Frau Nahles, Sie haben das gerade schon festgestellt.Dieses Zitat ist von niemand anderem als HubertusSchmoldt, einem Zeitgenossen, der wahrlich nicht imVerdacht steht, Hofberichterstattung für die CDU/CSU-Fraktion betreiben zu wollen.
Vielmehr ist er jemand in den Reihen der Gewerkschaf-ten – er ist Chef der Chemiegewerkschaft –, der zumin-dest in der Lage ist, den noch vorhandenen Realitätsbe-zug offen auszusprechen.
Ich darf ein weiteres Zitat bringen. Es ist gerade ein-mal zwei Stunden alt. Um 9.40 Uhr fragte Frau CorneliaHirsch von der Linkspartei an diesem Pult: „Was hat esmit Freiheit … zu tun, wenn gewerkschaftliche Rechteeingeschränkt werden?“Ja, was wollen Sie denn? Auf der einen Seite be-schneiden Sie die Gewerkschaften in ihren Rechten mitIhrer Forderung nach einem Mindestlohn. Auf der ande-ren Seite wollen Sie starke Gewerkschaften. Das passtdoch nicht zusammen.
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Ich weiß.Neun Monate sind ein Zeitraum, in dem man, biolo-isch betrachtet, etwas zustande bringen kann, das Handnd Fuß hat.
ir hoffen, dass Ihre Gespräche mit den Gewerkschaf-en ähnlich erfolgreich sind.Frau Pothmer, Sie haben mich angesprochen.
ie haben gefragt, wie sich das christliche Selbstver-tändnis mit meiner Ablehnung des Mindestlohnes ver-inbaren lässt. Sofern Mindestlohn zur Verlagerung, zurbschaffung von Arbeitsmöglichkeiten für gesellschaft-ich Schwache und Geringqualifizierte führt – Frauothmer, passen Sie auf –,
st es der christliche Auftrag, diese Arbeitsplätze zuchützen. Ich komme im Detail noch darauf zurück.Völlig diametral zur hier vorgetragenen Auffassunger Chemiegewerkschaft steht nunmehr ein erneuter An-rag der Linkspartei. Dahinter steckt nichts Neues. Esandelt sich bedauerlicherweise um dieselbe Realitäts-erne, die wir seit langem von Ihnen gewohnt sind. Mitlten Rezepten aus der SED-Zeit,
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Paul Lehrieder40 Jahre Staatswirtschaft, werden Sie die ProblemeDeutschlands nicht lösen können.
Sie haben die Existenz von Mindestlohn in 18 von25 EU-Staaten als Argument angeführt. Dieses Themaverdient es, dass man einmal genauer hinblickt. ZumBeispiel im Fall Frankreich, das so hoch gelobt wurde,kann ich dem Argument beim besten Willen nicht fol-gen. Man kann gut beobachten, was passieren würde,wenn sich der Wunsch der Linkspartei erfüllen sollte.Der französische Mindestlohn, SMIC, liegt derzeit bei8,25 Euro und wird jährlich angepasst. Dabei wird nichtnur die Teuerungsrate aufgeschlagen, sondern auch dieHälfte des Kaufkraftzuwachses des vom Arbeitsministe-rium festgestellten Durchschnittslohns. Ich gehe davonaus, dass Sie dies wissen. Betriebsgrößen und Produkti-vitätsentwicklung in den einzelnen Branchen werdenhierbei jedoch überhaupt nicht berücksichtigt. Seit 2002stieg der Mindestlohn in Frankreich – auch aufgrund an-derer, zum Teil populistischer Maßnahmen – auf dieseWeise um 20 Prozent.Die Folgen: Vor allem auf dem Niedriglohnsektorwurden viele Arbeitsplätze vernichtet. Unternehmenverlagerten ihre Fertigung ins Ausland. Die Eintritts-schwelle in den Arbeitsmarkt steigt immer weiter. DerStaat bezahlt: für eine Erhöhung des Mindestlohns um1 Prozent etwa 750 Millionen Euro, weil im GegenzugAusgaben gesenkt und Sozialausgaben ausgeweitet wer-den, und für Arbeitsgelegenheiten auf dem so genanntendritten Arbeitsmarkt, die er schaffen muss, um den durchden Mindestlohn arbeitslos gewordenen Personen – inder Regel handelt es sich um niedrig Qualifizierte, aberauch um Jugendliche – eine Beschäftigung zu bieten.Nein, meine Damen und Herren, das wollen wir nicht.Auch das Beispiel England, das Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Linksfraktion, angeführt ha-ben, kann nicht überzeugen. Das Centre for EconomicPerformance der London School of Economics bei-spielsweise untersucht seit 1999 die gesamtwirtschaftli-chen Effekte des britischen Mindestlohns. Es hat festge-stellt, dass die Einführung der Mindestlöhne auf dieBeschäftigungsmöglichkeiten von Geringverdienern nureine sehr begrenzte Wirkung hatte.Wenn Sie schon auf unsere Nachbarn verweisen, hätteich mir gewünscht, von Ihnen auch etwas zur Situationin Dänemark, Norwegen, Schweden oder Österreich zuhören.
Diese Länder sind nämlich auch ohne gesetzlichen Min-destlohn beschäftigungspolitisch erfolgreich. Ein Min-destlohn, wie Sie ihn wollen, ist nicht sozial gerecht. Erwürde nur Schaden anrichten. Sie müssen auch beden-ken, dass die Einführung eines flächendeckenden Min-destlohns Hunderttausende Mini- und Midijobs gefähr-den würde.Ich würde zwar gerne noch einige andere Punkte an-sprechen. Aber wie ich sehe, läuft meine Redezeit all-mrDwfuKDsEldFHKDsILdnhSHcDdspAmsggdba
Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Niebel von der
DP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen underren! Dank der vorzüglichen Interaktion zwischen denollegen Gysi und Kolb kann ich mich nun auf andereinge konzentrieren, die Herr Kolb leider noch nicht an-prechen konnte. Herr Kollege Gysi, dafür danke ichhnen außerordentlich. Der Vortrag des Kollegenafontaine motiviert mich natürlich ganz besondersazu. Denn seit dem 1. Juni dieses Jahres, als hier eineamentliche Abstimmung zum diesem Thema stattfand,at sich an der Situation nichts Wesentliches verändert.
Herr Lafontaine, wenn ich mich recht entsinne, warenie derjenige, der damals auf dem Mannheimer Parteitagerrn Scharping als SPD-Vorsitzenden politisch gemeu-helt hat.
ass Herr Scharping Brutto und Netto nicht unterschei-en konnte und Sie Umsatz und Gewinn nicht unter-cheiden können, das sagt einiges über Ihren wirtschafts-olitischen Sachverstand aus.
llerdings stellt sich die Frage, ob der Sozialdemokratieit dem damaligen Wechsel der Parteivorsitzenden tat-ächlich gedient war.
Weil ich zur Kenntnis genommen habe, dass Sie sichestern von mir angegriffen fühlten, aber im Rahmen derestrigen Aktuellen Stunde keine Zwischenfrage stellenurften, möchte ich Ihnen diese Gelegenheit heute ge-en. Ich denke, es ist bemerkenswert, dass Sie sich hierls Rächer der Enterbten darstellen und so tun, als woll-
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Dirk Niebelten Sie Geringverdienern oder arbeitslosen Menscheneine Hilfestellung geben, während ein Mitglied des saar-ländischen Landesvorstands der Linkspartei, Ihre Frau,Herr Lafontaine – das spreche ich noch einmal an, damitSie heute Ihre Zwischenfrage stellen können –, in der„Süddeutschen Zeitung“ zitiert wird. Dieses Zitat lautetwie folgt:Durch umfassende staatliche Familienberatunglasse sich die „Reproduktion des asozialen Milieus“begrenzen.Ich bin der festen Überzeugung: Wenn jemand Gering-verdiener, Arbeitslose oder Menschen, die eine An-triebsschwäche haben, als „asoziales Milieu“ bezeichnet,das sich durch Familienberatung verhindern ließe, dannwirft das ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise,wie Sie tatsächlich über die Menschen denken, für dieeinzutreten Sie vorgeben.
Herr Kollege Niebel, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Lafontaine?
Selbstverständlich. Um dem Kollegen die Möglich-
keit zu geben, eine Zwischenfrage zu stellen, habe ich
mir erlaubt, dieses Thema heute noch einmal anzuspre-
chen.
Vielen Dank, Herr Kollege Niebel. Das ist sehr fair
von Ihnen. Aber noch viel fairer wäre es gewesen, wenn
Sie korrekt zitiert hätten. Meine Frau hat sich mit der Si-
tuation von Kindern auseinander gesetzt, die verwahrlo-
sen und misshandelt oder gar umgebracht werden. In
diesem Zusammenhang sprach sie von „asozialem Mi-
lieu“. Wenn Sie dieses Zitat derart verfälschen, wie Sie
es getan haben, dann sollten Sie sich schämen!
Herr Kollege, auch wenn ich in Ihren Ausführungenkeine Frage erkennen konnte, möchte ich Ihnen gerneantworten. Ich berufe mich auf Seite 6 der „Süddeut-schen Zeitung“ vom 18. Oktober dieses Jahres. Selbst-verständlich werde ich diese Passage dem Protokoll zurVerfügung stellen, sodass Sie dieses korrekte Zitat nach-lesen können. Aber ich muss Ihnen sagen: In der Diskus-sion über vermeintlich neue Unterschichten bzw. ineinem solchen Klassenkampf – das würden Sie wahr-scheinlich eher postulieren wollen – ist es außerordent-lich verwerflich, über Menschen, die in diesem Land nurgeringe Chancen haben, in einer derartigen Terminolo-gie zu reden. Das lehnen wir strikt ab.
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och wenn die Produktivität einer Arbeit nicht die Kos-en des entsprechenden Arbeitsplatzes erreicht, wirdiese Arbeit in der legalen Wirtschaft bzw. im Inlandicht mehr angeboten. Genau darum geht es hier.
Ich finde es bemerkenswert, wenn zwei IG-Metall-unktionäre wie Herr Dreibus und Frau Nahles versu-hen, einen Gewerkschaftstag im deutschen Parlamentachzuvollziehen. Genauso finde ich es bemerkenswert,enn zwei Koalitionspartner wie Union und SPD in derrage eines Mindestlohns einen Kompromiss zu findenersuchen, obwohl sie auch hier völlig unterschiedlicheonzepte haben.
as wird natürlich genauso katastrophal enden wie derersuch, die Bürgerzwangsversicherung mit der Kopf-auschale zusammenzuführen.Herr Müntefering hat erklärt, er will keinen gesetzli-hen Mindestlohn. Die Argumente für einen solchen hatrau Nahles genannt. Man kann sie gut oder schlechtinden – er will ihn nicht.
Auch Herr Glos sagt, er will keinen gesetzlichen Min-estlohn. Er argumentiert exakt wie ich: weil dadurchie Chancen für gering Qualifizierte auf Arbeit und da-it ihre Möglichkeiten der Teilhabe in diesem Land ver-chlechtert werden.Lassen Sie uns den Menschen mit einem Steuer- undransfersystem aus einem Guss die Möglichkeit geben,ntsprechend ihrer Produktivität wieder mitzumachenm Arbeitsmarkt. Früher gab es in fast jedem mittlerenetrieb eine Art Faktotum, einen Menschen, der auf-rund langjähriger Erfahrung vielseitiges Wissen hatnd unentbehrliche Hilfstätigkeiten ausführt, etwas posi-iv Besetztes. Jemanden, der solche Hilfstätigkeitenusführt, gibt es heute nicht mehr, weil ein entsprechen-er Lohn von den untersten Tariflohngruppen nicht mehr
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Dirk Niebelabgebildet wird. So jemand könnte von der Produktivitäther vielleicht 3 bis 4 Euro verdienen. Wenn Sie die Mög-lichkeit schaffen, dass diese Menschen wieder Arbeitfinden, und zwar indem Sie ihren Lohn mit dem Systemeiner negativen Einkommensteuer kombinieren, wie wires mit unserem Bürgergeld vorschlagen, haben wirviele positive Effekte, die die psychosozialen Folgekos-ten der Langzeitarbeitslosigkeit minimieren.
Wir haben eine höhere Wertschöpfung, weil der Menschetwas verdient. Er selbst fühlt sich besser, weil er etwasverdient und etwas ausgeben kann. Und dieser Menschist den ganzen Tag beschäftigt und hat keine Zeit mehrfür Schwarzarbeit. Geben Sie sich einen Ruck! LassenSie die Konzepte der Vergangenheit! Machen Sie nichtnoch einmal die gleichen Fehler! Diese Konzepte habenzur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit offensicht-lich nicht funktioniert. Man kann nicht immer mehrStaatsknete verteilen.
Man muss neue Wege gehen. Wir brauchen ein inte-griertes System aus Steuern und Transferleistungen.Dazu haben wir einen konkreten Vorschlag gemacht –im Gegensatz zur SPD, deren Vertreter die einzigen sind,die sich mit dieser Thematik offenkundig noch nie be-schäftigt haben. Kehren Sie um! Geben Sie den Men-schen die Möglichkeit, mitzutun!Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anette Kramme von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen undKolleginnen! Herr Lafontaine, ich erinnere mich nursehr ungern an Ihre Zeit als Finanzminister,
das Amt, das Sie als Bettvorleger verlassen haben. Frü-her haben Sie wenigstens noch argumentiert, heute sindIhre Darstellungen nur noch billig. Sie praktizieren denPopulismus, den Sie uns vorwerfen.
Meine Damen und Herren, hören Sie genau zu:Wer heute Mindestlöhne fordert, kann morgen denBrotpreis durch den Staat festlegen lassen.
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er solche Sprüche klopft, der liebt die Menschen nicht,ondern verachtet sie.
Lassen Sie mich eine kurze Zeitreise machen. Am8. Oktober 1961 hat Deutschland zusammen mit ande-en Mitgliedstaaten des Europarates die Europäischeozialcharta unterzeichnet. Darin geht es auch um dennspruch auf einen gerechten Verdienst. Mit Art. 4 ver-flichteten sich die Vertragsparteien damals, das Rechter Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen,elches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einenngemessenen Lebensstandard zu sichern. Heute, fastuf den Tag genau 45 Jahre später, setzen wir uns mitbendiesem Punkt wieder auseinander.Gesetzliche Mindestlöhne gelten in 18 von 25 Mit-liedstaaten der EU. Deutschland ist eines der wenigenänder ohne Mindestlohn und auch ohne Mindestlohn-quivalent. In Skandinavien beispielsweise ist ein ge-etzlicher Mindestlohn nicht vonnöten; denn dorterrscht – glücklicherweise – ein gewerkschaftlicherrganisationsgrad von 80 bis 90 Prozent. Oder nehmenir Österreich als Beispiel: Dort gibt es eine Tarifbin-ung von 98 Prozent durch die Pflichtmitgliedschaft dernternehmen in der Wirtschaftskammer. In Italien be-rägt die durch die Verfassung abgesicherte Tarifbindung0 Prozent.Im Frühjahr 2004 hat die SPD die Debatte über exis-enzsichernde Löhne öffentlich angestoßen. Die Dis-ussion hält seitdem an. Die Bundesregierung hat ange-ündigt, noch in diesem Jahr einen Vorschlag dafür zunterbreiten, wie im Bereich der existenzsicherndenöhne weiter verfahren werden soll. Schon heute wer-en wir durch den vorliegenden Antrag mit einigenahrlich kreativen Ideen zu diesem Thema erfreut.eine Damen und Herren von der Linken, ich hoffe,ass Ihr heutiger Antrag ernst gemeint und nicht wiederur eine Farce ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in zahlreichen Stu-ien wird belegt, dass der Niedriglohnsektor wesentlichrößer geworden ist. In allen Studien wird auf zweibereinstimmende Fakten hingewiesen:Erstens sind im Niedriglohnsektor Millionen von Ar-eitnehmerinnen und Arbeitnehmern erwerbstätig. Dasnstitut für Arbeit und Technik geht davon aus, dassMillionen Menschen und damit knapp 21 Prozent allereschäftigten Niedriglöhne erhalten. Das Deutsche Ins-itut für Wirtschaftsforschung gibt eine ähnliche großeimension an. Auch die Uni Frankfurt kommt in einerntersuchung zum dem Schluss, dass 20 Prozent aller
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Anette KrammeVollzeitbeschäftigen als prekär einzustufende Löhne ha-ben.Zweitens ist es in den letzten Jahren zu einem starkenAnstieg der Beschäftigung im Niedriglohnbereich ge-kommen. So stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung, IAB, für die Jahre 1997 bis 2001 einenAnstieg der Beschäftigung im Niedriglohnbereich von15,6 Prozent auf 17,4 Prozent fest. Eines dürfte durchdiese Zahlen belegt werden: Relevant ist schon langenicht mehr das Ob eines Mindestlohnes, sondern viel-mehr das Wie.Die SPD hat ihre Beschlüsse gefasst. Wir favorisierenein zweistufiges Modell, um sicherzustellen, dass dieMenschen, die in Vollzeit arbeiten, davon auch lebenkönnen.Erste Stufe. Die Lohnfindung ist in Deutschland vorallen Dingen eine Angelegenheit der Tarifvertragspar-teien.
Deshalb sprechen wir uns für eine Ausweitung des Ar-beitnehmerentsendegesetzes auf alle Wirtschaftsbe-reiche aus, um hierdurch branchenbezogene Mindest-löhne zu erreichen, wie dies im Baugewerbe mit großemErfolg praktiziert wird. Ich sage ganz klipp und klar: Dieim Koalitionsvertrag getroffene Festlegung ist nicht aus-reichend.
Zweite Stufe. Für Branchen, in denen es keine Tarif-verträge gibt oder in denen diese nicht greifen, und fürBranchen, in denen in den Tarifverträgen ein gewissesNiveau des Mindestlohnes unterschritten wird, wird eineinheitlicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. DieEinführung erfolgt in einem definierten Übergangszeit-raum. Es dürfte dabei falsch sein, wenn der Gesetzgeberden Mindestlohn unmittelbar selbst festlegt, nach demMotto: Darf es ein bisschen mehr sein, wenn Wahlen an-stehen, und ein bisschen weniger, wenn gerade keineWahlen vor der Tür stehen. – Der Bundestag ist kein Ba-sar, auf dem um die Entgelte der Arbeitnehmer und Ar-beitnehmerinnen gefeilscht werden darf.
Wir sollten uns deshalb an der britischen Low PayCommission orientieren. Es ist schön, dass auch die Da-men und Herren der Linken dies zumindest im Ansatzerkannt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird insbeson-dere von der FDP immer wieder behauptet, Mindest-löhne würden schaden und zu einem drastischen Arbeits-platzabbau führen.
Das ist blanker Unsinn und Panikmache. Nichts weiter!IM4I2m8vbIngzNdvBdLtFeDgkRDRsiD
n Großbritannien zum Beispiel wurde der gesetzlicheindestlohn seit seiner Einführung im Jahre 1999 um0 Prozent erhöht.
m gleichen Zeitraum ging die Arbeitslosigkeit um5 Prozent zurück. Auch durch die Anhebung des Mini-um Wage in San Francisco im Jahre 2004 auf,50 Dollar wurden laut einer Evaluierung keine negati-en Beschäftigungseffekte ausgelöst.Noch ein Wort zur Bundestagsfraktion der FDP. Sieezeichnen Mindestlöhne als maximalen Unsinn.
hre Anhänger sind klüger. Die Zahl der Befürworter ei-es Mindestlohns unter Ihren Anhängern ist in den ver-angenen fünf Monaten um 8 Prozentpunkte auf 44 Pro-ent angestiegen.
ur noch 49 Prozent lehnen eine gesetzliche Regelunges Mindestlohnes ab. Dies entspricht einer Abnahmeon 9 Prozentpunkten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Deutschenundestag ist es Zeit für Mindestlohnregelungen.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von
er CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herrafontaine, Frau Pothmer, ich habe Ihre beiden Redebei-räge mit Geduld angehört. Dabei drängte sich mir dierage auf, ob Ihnen der Name Iwan Petrowitsch Pawlowtwas sagt.
ieser war ein russischer Forscher, der die Theorie auf-estellt hat, dass künstliche Reflexe antrainiert werdenönnen. An dieses Phänomen haben mich Ihre beidenedebeiträge erinnert. Das war wirklich Beißreflex pur.er Hund von Pawlow hatte leider nicht die Gabe, seineeflexe einzustellen. Der Mensch hat Verstand undollte das – jedenfalls in der Regel – können. Na gut!
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Antragst ein weiteres Werk aus der Reihe „Populismus pur“.ies ist besonders bedauerlich, weil das Problem, über
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Gitta Connemanndas wir reden, viele Menschen in diesem Land betrifft,nämlich keine ausreichende Existenzsicherung durch ei-gene Arbeit zu haben. Populismus war aber noch nie ge-eignet, Probleme zu lösen.In Deutschland gibt es mehr als 2,5 Millionen Men-schen, die trotz einer Vollzeitbeschäftigung arm sind.
Sie arbeiten jeden Tag schwer und haben trotzdem keinausreichendes Einkommen.
Ich glaube, wir alle kennen Menschen, denen es so geht:Frisöre, Verkäuferinnen und Floristinnen. Gemäß Tarif-lohn verdienen sie pro Stunde 6,49 Euro, 5,94 Euro oder4,93 Euro. Ich betone: Das sind Tariflöhne im Westen.Wer hart arbeitet, sollte davon leben und eine Familieernähren können. Diese Menschen können es definitivnicht. Damit stellt sich die Frage: Wie lässt sich ihreExistenz sichern? Als eine Antwort auf diese Frage wirdder Mindestlohn diskutiert. Diese manchmal sehr auf-geregte Diskussion wird nicht immer von Sachkenntnisgetragen. Es gibt mehrere Möglichkeiten zur Einführungvon Mindestlöhnen. Wie auch immer: Es bleibt eine aus-schließliche Inanspruchnahme der Arbeitgeber. Die Ver-antwortung für die Existenzsicherung wird den Unter-nehmen aufgebürdet. Dies ist aber eine Aufgabe desStaates. Das sehe ich eben anders als Sie, Frau Nahles.
Aufgabe der Unternehmen ist nicht die Existenzsiche-rung, sondern eine gerechte Entlohnung. Sicher gibt esArbeitgeber, die ihre Arbeitnehmer ausnutzen. AberLohnwucher ist sittenwidrig. Dafür gibt es bereits heuteausreichende Regelungen. Gerade in den kleinen undmittelständischen Betrieben werden Sie keinen Lohn-wucher finden; denn diese Betriebe leben entgegen Ihrerzum Teil sehr verzerrten Wahrnehmung nicht von, son-dern durch und mit ihren Arbeitnehmern.
Wir sprechen – so in meiner Heimat – von Betriebenmit durchschnittlich zwölf Mitarbeitern. Da kennt derBetriebsinhaber jeden Mitarbeiter von Angesicht zu An-gesicht, weiß um seine familiären Verhältnisse. DieseBetriebe haben übrigens nicht das Vermögen der so ge-nannten Globalplayer. Inzwischen gibt es nicht wenigeMittelständler in Deutschland, die ihre Altersversorgungauflösen und ihren privaten Besitz belasten, um ihrenBetrieb, auch im Interesse der Arbeitnehmer, fortführenzu können.
80 Prozent der deutschen Arbeitnehmer werden vondiesem Mittelstand beschäftigt. Am Arbeitsmarkt kannalso nicht bestehen, wer Politik zulasten dieser BetriebemdblhsdsBuwsmksfwtnbdhUafwEkknEmeLNs
Damit würden wir nicht nur die Beschäftigten treffen,ondern wir würden auch denjenigen eine Chance neh-en, die keine Arbeit haben. Ganze Teile unserer Bevöl-erung sind vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Wir müs-en erreichen, dass genau diese Menschen wieder Arbeitinden und eine Perspektive erhalten. Das ist übrigensirklich eine Frage sozialer Gerechtigkeit.
Ein gesetzlicher Mindestlohn wird gering qualifizier-en oder langzeitarbeitslosen Menschen keinen einzigeneuen Arbeitsplatz bringen. Im Gegenteil, er wird Ar-eitsplätze zerstören. Ist er zu niedrig und liegt unterem gezahlten Marktlohn, ist er wirkungslos. Ist er zuoch, vernichtet er Jobs.
nd er entlässt den Staat – ich komme darauf zurück –us einer Verantwortung, die ihn alleine trifft, nämlichür eine Existenzsicherung zu sorgen. Ich zitiere inso-eit den Sachverständigenrat:Die Realisierung von Verteilungs- oder Gerechtig-keitszielen ist ... eine staatliche Aufgabe, die ...nicht ... über Eingriffe in die Lohnfindung in Formgesetzlich vorgeschriebener Mindestlöhne erfolgensollte.
Jemand, der am ersten Arbeitsmarkt nur ein geringesinkommen erzielt, muss unterstützt werden; überhaupteine Frage. Ein Mensch muss von seiner Arbeit lebenönnen. Aber wir können die Gesetze des Marktesicht außer Kraft setzen. Die soziale Verantwortung derxistenzsicherung trifft uns als Staat.Aus diesem Grund müssen wir das Arbeitseinkom-en fördern. Dazu brauchen wir die Kombination ausigenem Arbeitseinkommen und ergänzender staatlichereistung.
ur so kann der Niedriglohnsektor belebt werden. Nuro erhalten gering qualifizierte Arbeitnehmer und Lang-
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Gitta Connemannzeitarbeitslose die Chance auf den Einstieg in den Ar-beitsmarkt. Das ist sozial gerecht.Lassen Sie es mich abschließend mit AbrahamLincoln sagen – und das an die Adresse der Linken –:Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihrdie Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihrenLebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen, in-dem ihr die ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdetkeine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr Klassen-hass schürt.Recht hatte er.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich der Kollegin Angelika Krüger-Leißner von
der SPD-Fraktion das Wort.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat heute wiedereinmal gezeigt, dass man dem Thema Mindestlohn nichtgerecht werden kann, wenn man es sich sehr leichtmacht. – Ich schaue in bestimmte Richtungen.Für mich gab es immer einen guten Grund, dass wir inDeutschland zu diesem Instrument bisher nicht gegriffenhaben, auch um eine starke Tarifautonomie zu erhalten;denn die Lohnbildung zwischen starken Tarifpartnernhat für mich einen hohen Stellenwert und ist das bessereMittel im Vergleich zu einer politischen Festlegung.
Aber die Situation in Deutschland hat sich geändert;das müssen wir feststellen. Der Markt regelt immer mehrdie Tarife und er regelt sie nicht gut. Ich sage: Jede Zeitbraucht ihre Antworten, auch in Bezug auf die Mindest-löhne. Gerade in Ostdeutschland merken wir immermehr, dass tarifliche Löhne nicht eingehalten werden.
Die Tarifbindung liegt in Ostdeutschland mittlerweileunter 45 Prozent. Im Westen sind es noch 63 Prozent,aber mit sinkender Tendenz.Selbst wenn die Tarife eingehalten werden, liegen dieLöhne oft weit unter dem, was einer einigermaßen fairenEntlohnung entspricht:
3,06 Euro für eine Friseurin in meinem HeimatlandBrandenburg, 4,15 Euro für den Wachdienst, um nur ei-nige Beispiele für Dumpinglöhne zu nennen. Das dürfenwir aus meiner Sicht nicht mehr zulassen. Das hat mitWZVtkwscsCCgnkgas3lvcdthmmlaümAdWutsbnmueib
uch wenn die Dramatik der Situation vor allem Ost-eutschland betrifft, sollten wir uns nichts vormachen:ir haben ein Problem, das weiter zunimmt und nachnd nach das ganze Land angeht.
Was wir in der Debatte über die Chancenlosen disku-iert haben, ist richtig und wichtig. Wir haben festge-tellt, dass wir mehr Bildung brauchen. Das stimmt. Wirrauchen mehr zielgerichtete Förderung für den Einzel-en und wir brauchen einen ehrlichen dritten Arbeits-arkt.
Aber wir brauchen auch eine gerechte Entlohnungnd mehr Chancengleichheit und wir müssen das Aus-inanderdriften der Gesellschaft beenden. Das bedeutetn der Konsequenz auch, dass wir einen Mindestlohnrauchen.
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5706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Angelika Krüger-LeißnerIch will eines deutlich sagen: Ich bin für die Vereinfa-chung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen unddie Ausweitung des Entsendegesetzes – ich hoffe, dasswir das als Nächstes gemeinsam mit den Gewerkschaf-ten bei der Zeitarbeit schaffen –, ich bin aber auch fürdie Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohnes, wenner notwendig ist.
Für mich ist das ein gangbarer Weg.Ich halte aber nichts von Festlegungen auf irgendei-nen Betrag nach dem Motto „Wer die höchste Zahl inden Raum wirft, ist am sozialsten“, wie es in dem Antragder Linken der Fall ist.
Eine solche Gleichung geht nicht auf.Ich halte auch nichts von der These, dass sich einMindestlohn und ein Kombilohn generell ausschließenmüssen. Man kann für bestimmte Gruppen beides sehrsinnvoll vereinbaren.Eines steht aber fest: Ein Mindestlohn muss sehrsorgsam eingeführt werden. Minister Müntefering hatmit dem Stufenplan einen sehr guten Vorschlag einge-bracht. Ich meine, dass wir diesen Weg gemeinsam ge-hen sollten.Danke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 16/1878 und 16/2978 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 dauf:15 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-tung gemeinsamer Dateien von Polizeibehör-den und Nachrichtendiensten des Bundes undder Länder
– Drucksache 16/2950 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussVerteidigungsausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän-zung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes
– Drucksache 16/2921 –AWnnNgcrEAMAdwsDw1mgDEtB
Wolfgang Wieland, Volker Beck , ThiloHoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENRechtsschutzlücken bei der Terrorbekämp-fung schließen– Drucksache 16/821 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Wieland, Volker Beck , JerzyMontag, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENAnti-Terror-Gesetze – Zeitliche Befristungbeibehalten und Rechtsschutz der Betroffenenverbessern– Drucksache 16/2081 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keineniderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-er dem Bundesminister Wolfgang Schäuble das Wort.Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In-ern:Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!icht nur die Kofferbomben oder die Anschlagsplanun-en in London zeigen, dass die Bemühungen um die Si-herheit vor den Gefahren des internationalen Terro-ismus auf der Liste der politischen Prioritäten stehen.s gibt sicherlich keine hundertprozentige Sicherheit.ber dies befreit uns nicht von der Notwendigkeit, dasenschenmögliche zu tun. Das wichtigste Instrument,nschläge zu verhindern, ist, rechtzeitig zu wissen, wasie Planungen sind. Deswegen ist Information dasichtigste präventive Mittel, wenn es darum geht, An-chläge zu verhindern und Sicherheit zu gewährleisten.ie Vernetzung von Informationen ist das Wichtigste,enn es darum geht, die Effizienz zu steigern.Die Untersuchungen der Amerikaner nach dem1. September 2001 zeigen: Sie hatten zwar alle Infor-ationen, waren aber nicht in der Lage – wir wären dazuenauso wenig in der Lage gewesen –, sie zu vernetzen.eswegen ist es ein großer Fortschritt, wenn wir nun denntwurf eines Gesetzes zur Errichtung gemeinsamer Da-eien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten desundes und der Länder verabschieden. Hier werden auf
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5707
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäublekluge Weise die Belange des Quellen- und Geheim-schutzes und die Notwendigkeit des Datenschutzes inEinklang gebracht sowie auf intelligente Weise Volltext-und Indexdatei miteinander verbunden.
Ich möchte mich bei allen sehr herzlich bedanken, diean dem schwierigen Prozess der Abwägung zwischenden verschiedenen, gleich wichtigen Gesichtspunktenmitgewirkt haben. Der Quellen- und Geheimschutz istfür die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienstegenauso wichtig wie der Datenschutz für die Funktions-fähigkeit unserer freiheitlich-demokratischen Grundord-nung. Alles muss so verknüpft werden, dass es den An-forderungen der Gewährleistung von Sicherheit gerechtwird. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, den wir mitden Ressorts der Bundesregierung und denKoalitionsfraktionen – bei diesen bedanke ich michherzlich – sorgfältig abgestimmt haben, tragen wir demRechnung. Zukünftig haben alle Sicherheitsbehörden beigesuchten oder verdächtigen Personen unmittelbarenZugriff auf die notwendigen Informationen. Sie wissendann, welche Behörden welche Informationen haben. Esist darauf ausgerichtet, dass die zuständigen Stellen mit-einander kommunizieren, was ganz wichtig ist. Es gibtzudem eine Regelung, die es ermöglicht, dass dies imEilfall auf Knopfdruck funktioniert, sodass wir keineZeit verlieren. Ich glaube, dies ist eine optimale Lösung.Deswegen bin ich froh, dass wir heute diesen Gesetzent-wurf vorlegen. Wir bereiten das Bundeskriminalamt da-rauf vor, dass, wenn das Gesetz in Kraft tritt, wir schnellalles in die Tat umsetzen können, um die Zusammenar-beit voranzubringen.Ich will noch eine Bemerkung zum Terrorismusbe-kämpfungsergänzungsgesetz machen. Wir haben eineEvaluierung der zeitlich befristeten Gesetzgebung vor-genommen und haben festgestellt, dass sie sich im We-sentlichen bewährt hat. Deswegen wollen wir die Gel-tungsdauer verlängern. Wir schlagen aber vor, dies indem einen oder anderen Punkt praxisgerechter zu gestal-ten und die Instrumente des Terrorismusbekämpfungs-ergänzungsgesetzes auch zur Bekämpfung von Extre-mismus einzusetzen, wenn er einen Gewaltbezug hat.Ich glaube, das ist gerade angesichts der Sorgen wichtig,die wir uns über die Zunahme rechtsextremistischer undgewaltbezogener Tendenzen machen.
– Richtig, soweit er einen Gewaltbezug hat.
– Herr Wieland, ich führe gerne eine Debatte darüber, obder gewaltbezogene Rechtsextremismus nicht auch er-fordert, dass wir zu seiner Bekämpfung auch rechtsstaat-liche Instrumente zur Terrorismusbekämpfung einsetzen,wenn wir nicht nur Sonntagsreden halten, sondern vonmontags bis freitags unsere Pflicht wahrnehmen wollen.
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Sie hat sich für die Verbesserung dieses Austauscheseit Jahren eingesetzt. Herr Minister, wenn es denn auch
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Gisela Piltzaus unserer Sicht ein kluger Gesetzentwurf ist, dannwerden wir ihm gerne zustimmen. Im Übrigen sichernwir Ihnen aber auch zu, ihn zügig zu beraten. Da sindwir an Ihrer Seite. Das ist gar keine Frage.
– Wir haben nie etwas anderes gesagt. Das Problem istnur, dass es wegen Maximalforderungen insbesonderekonservativer Innenminister aus einigen Bundesländernin der Vergangenheit nicht gelungen ist, dieses Themafrüher in den Deutschen Bundestag einzubringen.
Das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetzmachen uns deutliche Vorgaben. Hier möchte ich zumeinen das Trennungsgebot hervorheben. Ich möchteheute gar nicht mit den Kollegen der CDU/CSU darüberdiskutieren, ob das im Grundgesetz steht oder nicht.
Wir werden eine Anhörung dazu haben. Ich sage Ihnenschon heute: Selbst wenn es nicht im Grundgesetz steht,ist es für uns ein wichtiges Verfassungsprinzip.
Daher werden wir das ernsthaft prüfen müssen. Wir wer-den diesen Gesetzentwurf zum anderen aber auch amRecht auf informationelle Selbstbestimmung messenmüssen. Wir werden am Ende zustimmen, wenn wir derAnsicht sind, dass dieses Gesetz verfassungsgemäß ist.Wir haben noch einige Probleme mit diesem Gesetz-entwurf. Dass nicht nur wir diese haben, sondern bei-spielsweise auch die Länder Baden-Württemberg undNordrhein-Westfalen, haben die Sitzungen des Rechts-und Innenausschusses des Bundesrates diese Woche ge-zeigt; denn auch dort wurden Anträge gestellt, denenzum Teil im Innenausschuss gefolgt worden ist, zum Teilnicht. Man sieht, dass die IMK-Vereinbarung offensicht-lich doch nicht so eindeutig war und nicht so eindeutigin diesen Gesetzentwurf eingeflossen ist, wie das oft ge-sagt worden ist.
Ein grundsätzliches Problem für uns betrifft dieDatensparsamkeit. Jede Sammlung und Weitergabevon Daten bedeutet einen Eingriff in das Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung und dieser bedarf einer be-sonderen Rechtfertigung. Maßstab ist dabei immer dieEffektivität und Zweckmäßigkeit dieser Speicherungund Weitergabe. Da stellt sich uns insbesondere bei demMerkmal der Religionszugehörigkeit die Frage: Wenndie Erhebung eines Merkmals einen Mehrwert gegennull generiert, brauchen wir es dann wirklich? Das istunser erstes Problem.
Das zweite Problem ist aus unserer Sicht das so ge-nannte Freitextfeld, wo ergänzende Hinweise und Be-wPgEwbqmdrdds–estvthsHRaMgWustw–dtnkAwnsedis
Das ist immer so. Ich muss Ihnen nicht erzählen, wieieses System funktioniert.Ich komme zum Schluss. Nach § 6 Gemeinsame-Da-eien-Gesetz soll auch eine Verwendung der Daten zu ei-em anderen Zweck als zur Aufklärung oder zur Be-ämpfung des Terrorismus zulässig sein. Mit diesemusnahmefall werden aus unserer Sicht die Datenver-endung nochmals deutlich erweitert und das Tren-ungsgebot nochmals ausgehöhlt. Auch das können wiro nicht mittragen.
Ich wiederhole unser Angebot: Wir arbeiten gern aninem verfassungsgemäßen Gesetz mit. Aber wenn esarum geht, dass das Trennungsgebot und das Recht aufnformationelle Selbstbestimmung ausgehöhlt werdenollen, dann können wir diesem Gesetz nicht zustimmen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5709
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Gisela Piltz
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Hofmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Zum ersten Mal in der gro-ßen Koalition legen CDU/CSU und SPD nun gemeinsamGesetze im Bereich der Politik der inneren Sicherheitvor. Anders als auf vielen anderen Fachgebieten, bei-spielsweise bei der Gesundheitsreform oder der Steuer-reform, haben es die Innenpolitiker geschafft, sich zu ei-nigen, ohne ständig negative Schlagzeilen zu liefern.
Natürlich war in den internen Gesprächen – das wis-sen auch wir – lange nicht alles eitel Sonnenschein. Esentbrannte eine intensive Debatte, zum Beispiel über dasTrennungsgebot. Eine solche Debatte gab es auch imPlenum; Frau Piltz hat das ebenfalls angesprochen. Wirhatten auch intensive Diskussionen über die Fragen „In-dexdatei“ und „Volltextdatei“. Wir haben es geschafft,auf der fachlichen Ebene gut zusammenzuarbeiten undzwei gute Gesetzesentwürfe vorzulegen.
Für uns, die SPD, möchte ich betonen: Natürlichbauen wir auf dem Terrorismusbekämpfungsgesetzauf, das wir unter Rot-Grün 2002 geschaffen haben. DieStaatsaufgaben Freiheit und Sicherheit wurden schon da-mals in verfassungsrechtlich gut vertretbarer Weise inEinklang gebracht.
Die Evaluation dieses Gesetzes hat ergeben, dass diegrundsätzliche Regelung angemessen und erfolgreichist,
was sich beispielsweise bei der Aufklärung des Hamas-Finanzierungsnetzwerkes in Europa gezeigt hat. Trotz-dem machten die Sicherheitsbehörden von dem zur Ver-fügung gestellten Instrumentarium nur sehr restriktivGebrauch: insgesamt nur 99 Anwendungsfälle in dreiJahren.Befürchtungen bestimmter Medien und politischerGruppierungen, es könnte zu ähnlichen Überreaktionenkommen, wie ich sie in den USA durch den Patriot Actund weitere Gesetze sehe, sind nicht eingetreten. Diesenerfolgreichen Weg werden wir angesichts der fortbeste-henden Bedrohung durch den internationalen Terroris-mus weiter beschreiten.RedEmvdwdewEir–gSleWrBGzEaSbbmhadawdldrdf
Ich möchte auf Ihren Zuruf „Schuldeingeständnis“ ein-ehen. Wir – Sie und ich, die Grünen ebenso wie diePD und die anderen – versuchen, bei dem Thema Eva-uierung weiterzukommen. Wir alle wissen, dass wir hierrst am Anfang stehen.
ir bemühen uns weiterzukommen und sind auch be-eits einen Schritt weiter.
ei diesem Schritt handelt es sich um etwas Neues undutes. An dieser Stelle können sicherlich auch Sie unsustimmen.Die jetzige Ausgestaltung der Befristungs- und dievaluationsklausel sind das Verdienst der SPD-Fraktion.Bedanken möchte ich mich in diesem Zusammenhanguch bei dem Bundesdatenschutzbeauftragten, Peterchaar, dessen Rat wir im Rahmen der beiden Gesetzge-ungsverfahren mehrmals eingeholt haben, dass er dazueigetragen hat, dass wir dem Datenschutz den ange-essenen Stellenwert einräumen konnten.Festhalten möchte ich aber auch: Die SPD-Fraktionat Wert darauf gelegt, dass die Auskunftsrechte nichtuf den gesamten Extremismus ausgedehnt werden, son-ern nur, soweit ein Bezug zum Terrorismus eindeutiguf der Hand liegt.
Zum Trennungsgebot brauche ich heute wohl keineeiteren Ausführungen zu machen. Das werden wir inen Anhörungen und den Ausschussberatungen sicher-ich noch debattieren müssen. Im Zusammenhang miter Antiterrordatei haben sich das Bundesjustizministe-ium und die Justizministerin, Frau Zypries, große Ver-ienste erworben und rechtsstaatlich einwandfreie Ver-ahrensvorschläge unterbreitet.
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5710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Frank Hofmann
Problematisch fand ich als Vertreter des DeutschenBundestages, der immer gesagt hat: „Hierbei handelt essich um ein Gesetz, das vom Bundestag zu verabschie-den ist“, dass sich die Innenministerkonferenz fürmeine Begriffe zu sehr zu einem Ersatzgesetzgeber auf-schwingen wollte. Das war nicht die richtige Ebene.Wenn es eine Errichtungsanordnung gibt, an der die Län-der mitarbeiten sollen, da sie hierzu etwas zu sagen ha-ben, dann soll das auf dieser Ebene bleiben.
Dem Wunsch der Länder, noch weitere Polizeibehör-den, die Zugang zur Antiterrordatei haben, benennen zukönnen, stehen wir als SPD-Fraktion skeptisch gegen-über. Wir sind noch nicht von der unbedingten Notwen-digkeit überzeugt und wollen noch einmal prüfen, ob wirden Kreis der beteiligten Behörden angesichts des sen-siblen Datenmaterials nicht begrenzen können. Aberselbst bei einer Ausweitung auf andere Antiterrorspe-zialdienststellen wäre klar: Der Schutzmann auf derStraße hat keinen Zugriff auf diese Daten.Wir haben des Weiteren darauf geachtet, dass die An-titerrordatei nicht zu einem Selbstbedienungsladen wird.Die Anfragen sind zu kontrollieren und der Austausch istzu dokumentieren. Für mich bleibt es – anders als diesFrau Piltz sieht – bei dem Grundsatz einer Indexdatei.Die von einigen Bundesländern, insbesondere von Bay-ern und Niedersachsen, favorisierte Volltextdatei hat sichaus meiner Sicht nicht durchsetzen können.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer in denbeiden vorgelegten Gesetzentwürfen Schritte in denÜberwachungsstaat zu erkennen glaubt, muss auch nachden nächsten Anschlägen dazu stehen können. Auch wirwürden gern die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bür-ger um den Datenschutz und um die Grundrechte herumbauen. Das aber geht an der Realität vorbei. Zur Klar-stellung: Die Regierungskoalition hat die Einrichtung ei-ner Antiterrordatei beschlossen, keiner Antibürgerdatei.Eine Analyse des internationalen Terrorismus, die le-diglich das Problem der Überreaktion des Staates thema-tisiert und mit dem Schlagwort „Überwachungsstaat“beschreibt, ist naiv und praxisfremd.
Eine Politik der inneren Sicherheit ist immer eineGratwanderung. Es geht um das Austarieren von Erfor-derlichkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit.Wir glauben, dass dies mit den vorliegenden Gesetzent-würfen gelungen ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der
Fraktion Die Linke.
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ieder geht es um mehr Befugnisse für die Geheim-ienste und um weitere Eingriffe in Grund- und Bürger-echte.Wir haben damals die „Otto-Pakete“ abgelehnt. Ichage es vorweg: Die Fraktion Die Linke wird auch denntwurf des vorliegenden Ergänzungsgesetzes ablehnen.
m Kern geht es dabei um zweierlei: Die so genanntenicherheitsgesetze, die damals befristet wurden, sollenum einen verlängert und zum anderen verschärft wer-en. Ich komme zunächst zur Verlängerung. Dazu mel-en auch die FDP und die Grünen in ihren Anträgenweifel an – zu Recht, finde ich. Denn niemand verlän-ert ein Gesetz oder einen Vertrag, wenn er nicht davonberzeugt ist, dass dieser gut und richtig ist. 2001 und002 wurde deshalb auch versprochen, die „Otto-Pa-ete“ binnen drei oder vier Jahren genau daraufhin zuntersuchen, also – wie es auf Fachdeutsch heißt – zuvaluieren. Diese Evaluierung hat bis heute nicht umfas-end stattgefunden. Es gab lediglich – das hat der Minis-er dargestellt – eine regierungsinterne Überprüfung. Dieatte dann allerdings das zu erwartende Ergebnis: einelbstlob mit – wie der Minister heute sagte – der einender anderen lebensnahen Präzisierung. Eine wirklicheberprüfung von Wirkungen und Folgen der „Otto-Pa-ete“ hat es bis heute nicht gegeben.Doch es gibt zwei Ausnahmen. Das Bundesverfas-ungsgericht hat zwei wesentliche Elemente der Antiter-orpakete als verfassungswidrig kassiert: den großenauschangriff und das Luftsicherheitsgesetz. Das warber bestimmt keine Empfehlung zur Verlängerung undeiterführung dieser Politik, sondern eine Ohrfeige fürot-Grün. Ich sage Ihnen voraus, dass auch Sie sich,enn Sie so weitermachen, in Karlsruhe eine solchehrfeige abholen.
Schon deshalb wird die Linke der Verlängerung nichtustimmen. Das wäre falsch, weil die Gesetze tief in ver-riefte Bürgerrechte ein- und rechtsstaatliche Prinzipienngreifen. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger werdennter Generalverdacht gestellt und entsprechend behan-elt. Das ist das Wesen der alten und der neuen Anti-errorgesetze. Bürgerinnen und Bürger werden nicht alsouverän, sondern als potenzielle Gefahr betrachtet. Dasehnen wir grundsätzlich ab.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5711
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Petra PauDamit bin ich bei den Ergänzungen zum Antiterror-gesetz, die von der Bundesregierung bereits beschlossenwurden und nun von den Unionsparteien und der SPDdem Bundestag vorgeschlagen werden. Zählt man diezahlreichen Einzelvorschläge zusammen, erkennt mandrei große Linien. Linie 1: Die Geheimdienste werdenenthemmt und aufgerüstet. Linie 2: Der Datenschutzwird zum Abschuss freigegeben. Linie 3: Der Abbauvon Bürgerrechten wird grenzüberschreitend forciert.Das sind tiefe Einschnitte – zwar freundlich verpackt,mit Demokratie aber unvereinbar.Ein konkretes Beispiel. Zuweilen wird der Eindruckgenährt, unsere Sicherheitsbehörden seien geradezu ge-lähmt, weil sie über zu wenig Daten verfügten. Ichwollte es nun genauer wissen. Die Bundesregierung hatmir spezifisch und konkret geantwortet – zwar unvoll-ständig, aber immerhin. Demnach gibt es bei den ver-schiedenen Sicherheitsbehörden über 160 spezifischeDateien, die sich auf Kriminalität bzw. Terrorismus be-ziehen. In diesen Dateien gibt es über 60 Millionen Da-tensätze über Personen und Personengruppen, die ver-dächtigt werden. Ich frage Sie: 60 Millionen Datensätze– zumeist geheim gehalten und zugleich legal erhoben –in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern?
Das ist eine Überwachungsqualität, der niemand ernst-haft zustimmen kann, der das Grundgesetz sowie Bür-ger- und Freiheitsrechte ernst nimmt.
Nun wollen Sie zudem noch eine Zentraldatei, diegemeinsam von der Polizei und den Geheimdiensten ge-speist und genutzt wird. Die Linke wird das aus zweiGründen ablehnen. Erstens wird damit – davon warheute schon die Rede – das Trennungsgebot zwischenPolizei und Geheimdiensten unterlaufen. Zweitens ist esegal, wie Sie diese Zentraldatei ausgestalten, als Voll-textdatei, als Indexdatei oder als Mischform: Die Ge-heimdienste werden zum Schluss immer die Deutungs-hoheit über die Polizei haben. Das halte ich für schlichtgrundgesetzwidrig.
Die Linke jedenfalls wird nicht die Geltungsdauervon Gesetzen verlängern, die die Bürgerrechte derart in-frage stellen. Die Linke wird keine Gesetze ergänzen,die so den Rechtsstaat infrage stellen. Wir werden alsonicht die Arbeit jener übernehmen, vor denen uns dieseGesetze angeblich schützen sollen.Abschließend: Sicherheit ist ein hohes Gut. Jede undjeder hat Anspruch darauf.
Natürlich muss der Staat dem entsprechen. Aber sobaldsich die Sicherheit des Staates über die Rechte der Bür-gGBl2g–pPntegdwsdnws–IbnveBkuDdSn
Der gute Otto Schily pflegte nichts zu verschenken; erflegte schon gar nicht den Bürgerinnen und Bürgernakete zu schicken. Das war nicht sein Staatsverständ-is. Von daher: Lassen wir es bei „Kataloge“!Wir haben sie nicht mitgetragen, um, wie Ihre Frak-ion immer falsch kolportiert, vor – Kollege Benneter hatinmal vorgeschlagen, zu sagen: unser aller Otto, deranz Große –
iesem unser aller Schily den Kotau zu machen, sonderneil auch wir der Ansicht waren, dass auf die Globali-ierung auch des Terrors, die wir erlebt haben, nicht nachem Motto „Alles bleibt, wie es ist; wir ändern garichts“ reagiert werden kann, sondern das maßvoll Not-endige getan werden muss. Aus dieser Vergangenheittehlen wir Grüne uns nicht davon. Dazu stehen wir.
Frau Jelpke, anders als der Kollege Grindel werfe ichhnen nicht vor, dass Sie möglicherweise mal den „Ar-eiterkampf“ verteilt haben. Aber dass Sie noch heute,ach 30 Jahren, Leitartikel des „Arbeiterkampfes“ in un-eränderter Form hier vorzulegen pflegen, ist wirklichtwas befremdlich.
Das gilt auch für Frau Pau, die einen völlig abstraktenegriff von Bürgerrechten hat und sich der Notwendig-eit entzieht, dieses Spannungsverhältnis zu definierennd auszuhalten. Wir tun das jedenfalls nicht.Deswegen ärgert es uns wirklich – das sage ich an dieamen und Herren der Sozialdemokratie gerichtet –,ass das, was wir seinerzeit als Begrenzungen undchranken in diese Gesetze hineingeschrieben haben,un von Ihnen einfach weggewischt wird
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5712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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)Wolfgang Wielandund wir dann auch noch begeistert sein sollen, Herr Kol-lege Hofmann.Erstens. Es sollte vor dem Ablauf eine tatsächlicheEvaluierung stattfinden, eine Evaluierung, die dann na-türlich auch zu Ergebnissen führt, aber nicht dazu, dassman sagt: Wir machen alles weiter wie bisher. – Nichtssoll danach wegfallen. Auch Befugnisse, die nie ange-wandt worden sind, sollen bleiben.
Es war im Übrigen eine Selbstevaluierung des Ministe-riums
– ja –, endend am 31. Dezember 2004. Der Bundes-innenminister hat es noch nicht einmal für nötig gehal-ten, das zu aktualisieren. Dann hat man gesagt: Dasganze Instrumentarium bleibt, zum Beispiel der Lausch-angriff zur Eigensicherung der Beamtinnen und Beam-ten. Wie es heißt: nie in Anspruch genommen. Auskunftbei Postdienstleistern: nie in Anspruch genommen. Dasalles soll so bleiben.Das ist so, als ob man eine soziale Einrichtung sichselbst evaluieren lässt. Sie stellt dann fest: Wir habeneine Spätsprechstunde. Da ist in vier Jahren nie einMensch erschienen, aber wir führen sie weiter. Vielleichtkommt ja doch mal irgendjemand.Die Evaluierung, die Sie vorschlagen, ist doch eineReise nach Absurdistan.
Herr Kollege Wieland, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Wiefelspütz?
Gerne. Eine Frage von Herrn Wiefelspütz führt uns
immer weiter.
Bitte schön.
Herr Kollege, die sozialdemokratische Bundestags-
fraktion erwartet von Ihnen, dass Sie diesem Gesetz zu-
stimmen, weil es ein vernünftiges Gesetz ist.
Das ist bis jetzt noch keine Frage.
Ich bitte Sie, zu meinem Hinweis, dass wir von Ihnen
erwarten, dass Sie diesem Gesetz zustimmen, einmal
Stellung zu nehmen.
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arum soll der BND, den man – ich zitiere – als Augias-tall ausmisten müsste, weitere Befugnisse bekommennd warum sollen so, um beim Bild zu bleiben, weitereiecher da hineingetrieben werden? Das darf doch nichtie Antwort auf die Affären der letzten Monate sein.Noch einmal: Zu einem solchen Entwurf, lieber Kol-ege Wiefelspütz, können wir nicht Nein sagen.
Ich meine: nicht Ja sagen. Dieser Gesetzentwurf machtns geradezu sprachlos. Das wäre wohl die richtige Ant-ort.
lle drei Nachrichtendienste, unabhängig von ihrer ei-entlichen Aufgabe, gleich zu behandeln, kann es nichtein.Der entscheidende Punkt ist: Diese Maßnahmen wa-en doch für die Terrorismusbekämpfung vorgesehen.
ntweder man braucht sie zur Terrorismusbekämpfungder man braucht sie zu anderen Zwecken. Der Bundes-nnenminister sagte, es gebe so genannte Mischformen.ie erweitern die Regelungen nicht nur auf islamistischeassprediger und auf Rechtsextreme – das geht rechtlichigentlich nicht –, Sie erweitern auch auf andere Perso-en, unabhängig davon, aus welcher Motivation dieseersonen Gewalt bejahen. Ob gegen Rechts oder gegeninks: Sie beginnen mit Bin Laden und werden irgend-ann bei irgendeinem Sozialforum in der Bundesrepu-lik enden, das zum Beispiel zum Kampf gegen Heu-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5713
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Wolfgang Wielandschrecken aufruft. Diese Erweiterung können wir alsonicht mittragen.
Über die Antiterrordatei haben wir vor drei Wochendiskutiert. Dabei haben wir unsere Bedenken vorgetra-gen. Wir haben die Befürchtung, dass viel zu viele Dateneingestellt werden und dass viel zu viele nicht definiertePolizeidienststellen, Herr Kollege Hofmann, auf dieseDaten Zugriff nehmen können. Dies kann natürlich nichtein Dorfpolizist tun, aber zum Beispiel die zuständigeAbteilung einer Großstadtpolizei.Es droht, dass der Eilfall – er ist als Ausnahmefall ge-dacht – zum Regelfall wird. Denn eine Gefahr für Leibund Leben ist bei terroristischer Bedrohung in der Regelanzunehmen, wie zum Beispiel im Fall der beiden Kof-ferfunde. Es droht also, dass das Umschwenken auf dieVolltextdatei zur Regel wird. Auch das wollen wir nicht.Abschließend will ich sagen: Es ist eine akademischeDiskussion, Kollege Binninger, ob das TrennungsgebotVerfassungsrang hat oder nicht.
Ich will diese Diskussion gar nicht führen. Spannendwird es nur, wenn jemand das Trennungsgebot abschaf-fen will. Erst dann würde sich die Frage stellen, ob dasGebot von der Verfassung geschützt ist. Wir wollen dies.Aufgrund unserer NS-Vergangenheit ist das Trennungs-gebot bei uns schärfer gefasst als in anderen Ländern.Das bedeutet, dass die Nachrichtendienste keine Exeku-tivbefugnisse haben und dass die Polizei keine geheim-dienstlichen Befugnisse hat.Wenn wir jetzt eine Art gemeinsames Notizbuch fürbeide schaffen – das ist ja diese Datei –, dann muss völ-lig klar sein, dass es hier lediglich um Kooperationen,nicht um eine Verschmelzung oder Vermischung geht.Das muss bei der Ausgestaltung klar werden. Wirwollen die parlamentarische Auseinandersetzung in undnach der Anhörung und wir wollen, dass Sie sich nichtdem Änderungsbedarf, den wir hier sehen, verschließen,sondern die Ohren und Ihr Herz öffnen, Herr KollegeWiefelspütz, dann werden wir weitersehen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Herr Kollege Wieland, Sie hatten geradeeinen süßen Versprecher. Das ist nicht weiter schlimm,das ist uns allen schon passiert. Interessant war aber,dass Sie anschließend gesagt haben: „Dieser Gesetzent-wurf macht uns geradezu sprachlos“, aber in der kurzenZeit mehr Vokabeln als jeder andere Redner hier im Par-lament gebracht haben. Sagen wollten Sie aber eigent-lwwdhDsvdfArsßgdwdidDfgmhWhausnzweenVnbhe
Eine Bemerkung zur Kollegin Pau. Was Sie gesagtaben, war wenigstens halb richtig, aber leider nur halb.
ie akustische Wohnraumüberwachung war kein Be-tandteil der beiden „Otto-Kataloge“ und ist auch nichterfassungswidrig. Richtig ist allerdings, dass das Bun-esverfassungsgericht die Voraussetzungen enger ge-asst hat.
uch das Luftsicherheitsgesetz ist nicht verfassungswid-ig. Richtig ist allerdings, dass die umstrittenste Vor-chrift des Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht au-er Kraft gesetzt worden ist.Frau Kollegin Piltz, herzlichen Dank, dass Sie mit soroßer Liebenswürdigkeit auf das starke Engagementer konservativen Innenminister in unserem Land hinge-iesen haben. Es wäre nur schön gewesen, wenn Sie mitazu gesagt hätten, dass die konservativen Innenministern diesem Land diejenigen sind, die bei der Bekämpfunger Kriminalität mit Abstand am erfolgreichsten sind.as sollte man an dieser Stelle auch einmal sagen.
In aller Kürze: Der 20. Oktober 2006 ist ein guter Tagür die innere Sicherheit in Deutschland, weil wirleich zwei wichtige Gesetzgebungsvorhaben mit neuen,it unverzichtbaren Instrumenten für die Sicherheitsbe-örden in unserem Land auf den Weg bringen.Deutschland ist Teil eines großen Gefahrenraumes.ir haben eine anhaltend besorgniserregende Bedro-ungslage und es ist unsere Aufgabe als Parlamentarier,lles zu tun, was menschenmöglich und rechtsstaatlichnbedenklich ist, um die Menschen in unserem Land soicher wie nur möglich vor den Gefahren des internatio-alen Terrors zu schützen.Mit dem Entwurf des Terrorismusbekämpfungsergän-ungsgesetzes machen wir gerade das, was angemahntorden ist, die Evaluierung, die Überprüfung der schonxistierenden Gesetze zur Beantwortung der Frage: Gibts Schutzlücken, die wir schließen müssen? Auch dieeuen Vorschriften werden befristet sein, auch die neuenorschriften werden überprüft werden, im Übrigen nichtur von denjenigen, die die Vorschriften selber geschrie-en haben. Da werden wir auch externen Sachverstandinzuziehen.
Mit der Einführung der Antiterrordatei kommt nunine jahrelange, quälende Debatte zum Abschluss. Wir
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5714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Wolfgang Bosbachhaben in Deutschland auf Bundesebene und auf Länder-ebene 38 Behörden mit Sicherheitsaufgaben. Es geht ge-rade nicht darum, neue Daten zu erheben; es geht nichtdarum, neue Datensammlungen anzuhäufen, sondern esgeht nur um eine bessere Vernetzung dieser Sicherheits-behörden und darum, dass wir zu einem schnelleren Da-tenaustausch kommen.Niemand in der Union und in der Koalition stellt dasTrennungsgebot in Frage. Insbesondere wollen wirkeine Vermischung von nachrichtendienstlichen und po-lizeilichen Kompetenzen.Das so häufig zitierte Gebot der Trennung von Polizeiund Geheimdiensten wird allerdings häufig völlig miss-verstanden. Das Trennungsgebot bedeutet doch nicht einVerbot von Informationsaustausch. Schon nach gelten-der Rechtslage können Behörden selbstverständlich In-formationen austauschen.
Die jüngste Maßnahme in Niedersachsen, die vorläu-fige Festnahme, war nur dank einer engen Zusammenar-beit von Verfassungsschutz und Polizei möglich. Bei-spiel Nena-Konzert in Duisburg: Die Erkenntnissewaren vom Verfassungsschutz gesammelt worden, derZugriff erfolgte selbstverständlich durch die Polizei.Wir wollen gerade nicht den Nachrichtendienstenpolizeiliche Befugnisse übertragen, wir wollen den Poli-zeien keine nachrichtendienstlichen Befugnisse übertra-gen, aber wir wollen auch nicht, dass die 38 Behördenmit Sicherheitsaufgaben nach der Methode arbeiten: Ichweiß etwas, was du nicht weißt. Das Trennungsgebot be-sagt doch nicht, dass sich der Staat künstlich dumm stel-len muss.
Die Behörden müssen die Informationen haben, die siebrauchen, um die innere Sicherheit in Deutschland ge-währleisten zu können.
Wenn der Staat auf all seinen Ebenen all das wüsste,was man auf den einzelnen Ebenen weiß, dann wärenwir viel sicherer, als wir es zurzeit sind.
Wir können doch nur der Hoffnung Ausdruck verleihen,dass die Behörden nicht nebeneinander, sondern mitei-nander arbeiten. Jetzt geben wir ihnen ein Werkzeug füreine bessere Vernetzung der Informationen an die Hand,die insbesondere dann wirksam sein wird, wenn Gefahrin Verzug ist. Es werden keine neuen Daten erhoben. FürFälle der Eilbedürftigkeit haben wir eine besondere Re-gelung vorgesehen.Wir befinden uns nicht auf dem Weg in den Überwa-chungsstaat. Wir wollen keinen Überwachungsstaat.Frau Pau, vor 16 Jahren haben wir Gott sei Dank einenÜberwachungsstaat auf deutschem Boden abgeschafft.
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s wäre gut, wenn man nicht Nein sagt, bloß weil man iner Opposition ist. Je größer die Mehrheit für das Vorha-en im Parlament ist, desto höher ist auch die demokrati-che Legitimation in einem Rechtsstaat.Die beiden Gesetzgebungsvorhaben beweisen, dassie innere Sicherheit bei dieser Koalition in guten Hän-en ist.Danke fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
er FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-en! Zu Beginn dieser Woche haben wir uns alle über dieesorgnis erregende Meldung erschrocken, dass dieahl rechtsextremistischer Gewalttaten stark angestie-en ist. Das hat daran erinnert, dass es einmal ein NPD-erbotsverfahren gegeben hat, das im Wesentlichen da-an gescheitert ist, dass die eine Sicherheitsbehörde nicht
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Dr. Max Stadlerwusste, was die andere gemacht hat. Ein solches Fiaskokönnen wir uns bei der Terrorismusabwehr nicht leisten.
Deswegen sagt die FDP: Im Prinzip ist es richtig undvernünftig, wenn man die vorhandenen Daten bessermiteinander vernetzt.
Dabei sind aber – selbstverständlich – rechtsstaatlichePrinzipien zu beachten. Lieber Kollege Frank Hofmann,in der Rede war vorhin ein Satz, der noch einmal über-dacht werden sollte:Auch wir würden gern die Sicherheit für die Bürge-rinnen und Bürger … um die Grundrechte herumbauen. Das aber geht an der Realität vorbei.Eine solche Position darf nicht Ausgangspunkt einer De-batte über innere Sicherheit im Deutschen Bundestagsein.
Mit diesem sehr schiefen Ansatz gerät man nämlich indie Nähe derer, die die Einhaltung von Grundrechten alsein Hindernis für die innere Sicherheit betrachten. Rich-tig ist doch, dass wir die innere Sicherheit auf denGrundrechten aufbauen müssen. Das ist der richtige An-satz.
Wir haben Zweifel, ob das mit dem Gesetzentwurfzur Errichtung gemeinsamer Dateien gelungen ist. FrauPiltz hat die Kritikpunkte genannt, insbesondere dieMöglichkeit, in einem Eilfall Informationen zu erhalten,die aus guten Gründen bei den Geheimdiensten bleibenmüssten und nicht für die Polizei geeignet sind. DieseMöglichkeit, in Eilfällen die normalen Regeln zu umge-hen, kann so nicht bestehen bleiben.
In der Sachverständigenanhörung muss in dieser SacheKlarheit geschaffen werden. Dort brauchen wir Ände-rungen, um nur einen Punkt zu nennen.Nun haben Sie heute die Verlängerung der so genann-ten Schily-Kataloge mit auf die Tagesordnung gesetzt.Ich halte es für ein unangemessenes Verfahren, zwei sowichtige Gesetzesvorhaben in einer knappen Debatte ab-zuhandeln.
Nur ganz kurz: Kollege Wieland, dass Ihnen ein Lap-sus Linguae unterlaufen ist, erklärt sich daraus, dass Siedem Gesetzentwurf vor fünf Jahren zugestimmt haben.Sie konnten Ihrer Anhängerschaft dies nur plausibel ma-chen, indem Sie gesagt haben: Das Gesetz gilt nur be-fristet und wird später evaluiert.JdiWedzfmiimIgaawkzsSsbdtupmmg
etzt sehen wir: Eine Evaluierung, die derjenige macht,er das Gesetz selber geschrieben hat,
st das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben wird.
ir müssen in Zukunft zu neuen Regeln kommen und zuiner neuen Qualität, also zu einer echten Evaluierung,ie externen Sachverstand und Bürgerrechtler einbe-ieht.
Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischen-
rage des Kollegen Hartmann?
Ja, für die bin ich sehr dankbar. Denn sonst hätte ich
eine Rede jetzt beenden müssen.
Bitte schön, Herr Hartmann.
Herr Stadler, wir arbeiten ja in der Innenpolitik und
m Untersuchungsausschuss gut zusammen. Deshalb hab
ch mit Bedauern gesehen, wie knapp Ihre Redezeit be-
essen ist.
ch möchte Ihnen mit meiner Zwischenfrage die Chance
eben, diese zu verlängern. Ich habe aber natürlich vor
llem und zuerst ein drängendes Fragebedürfnis.
Sie haben darauf hingewiesen, wie kritisch manches
us Ihrer Sicht zu bewerten ist. Ich habe aber auch sehr
ohl verstanden, dass Sie trotz dieser kritischen Anmer-
ungen bereit und willens sind, den Gesetzgebungspro-
ess der grundsätzlichen Notwenigkeit wegen weiter po-
itiv zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund möchte ich
ie fragen: Wir haben den Datenschutzbeauftragten
ehr eng in beide großen Gesetzgebungsverfahren einge-
unden, übrigens auf Bitten des Kollegen Hofmann. Fin-
en Sie es nicht mit uns gemeinsam positiv, dass der Da-
enschutzbeauftragte diesem Gesetzgebungsverfahren,
nd zwar so, wie wir es heute einbringen, grundsätzlich
ositiv und offen gegenübersteht?
Lieber Herr Kollege Hartmann, Ihre Freundlichkeitir gegenüber ist heute wirklich grenzenlos. Sie gebenir Gelegenheit, die Sprache noch einmal auf einenanz wichtigen Punkt zu bringen.
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Dr. Max StadlerSie sagen zu Recht, dass der Datenschutzbeauftragtedem Gesetzgebungsvorhaben im Grundsatz zustimmt.Wir vertreten – Frau Piltz hat es ausgeführt – hinsicht-lich der Zentraldatei die Auffassung, dass ein Index dasRichtige ist, weil man das System nicht komplett änderndarf. Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschlanddürfen viel – und dies ohne richterliche Erlaubnis. DiePolizei ist dazu berufen, konkrete Gefahren abzuwehren,und sie unterliegt bei ihren Eingriffen engen Grenzen,insbesondere sind vielfach richterliche Vorbehalte zu be-achten. Solche Systeme kann man nicht beliebig vermi-schen.
Es muss bei den bewährten Regeln des Datenaustau-sches bleiben. Eine solche neue Datei kann, wie KollegeBosbach versprochen hat, eigentlich nur den Sinn haben,dass die Technik verbessert
und der Austausch schneller wird. Aber die grundlegen-den Prinzipien müssen erhalten bleiben. Ihre Frage gibtmir Anlass, noch einmal darauf hinzuweisen, dass diesnach Meinung der FDP im bisherigen Entwurf nicht ge-währleistet ist.Um Ihre Frage umfassend zu beantworten,
weise ich darauf hin, dass ein letzter Punkt ebenfallsnoch nicht gewährleistet ist. Er ist aber ganz entschei-dend. Durch das, was von der großen Koalition vorge-schlagen wird, bekommen die Geheimdienste im Ver-gleich zu dem, was Herr Schily seinerzeit im Eiltempodurchgesetzt hat, noch mehr Eingriffsbefugnisse. Es istdoch das Logischste auf der Welt, dass man als Gegen-gewicht die Kontrolle der Geheimdienste verbessernmuss.
Ich verstehe nicht, Herr Kollege Hartmann, warumsich die große Koalition weigert, sich den entsprechen-den Gesetzentwürfen der Opposition anzuschließen. DieFDP hat längst dem Entwurf eines Gesetzes zur Kon-trolle der Geheimdienste eingebracht. Wenn Sie den Ge-heimdiensten erneut weitere Befugnisse übertragen wol-len, wäre jetzt der richtige Moment, auch ihre Kontrollezu verbessern. Denn das ist dringend notwendig.
Damit ist Ihre Frage, wie ich glaube, umfassend beant-wortet.swdrsKnivzvrsDhddiudundptBJBgsBdDvz
Herr Kollege Stadler, nach dieser, wie es die Ge-
chäftsordnung vorschreibt, kurzen und präzisen Ant-
ort bitte ich Sie, zum Schluss zu kommen.
Mein Schlussgedanke lautet: Wir müssen uns des Ge-
ankens bewusst werden, dass es auch einen Grund-
echtsschutz durch Verfahren gibt. Dieser Grundrechts-
chutz durch Verfahrensbestimmungen bzw. durch
ontrolle ist in den vorliegenden Gesetzentwürfen noch
icht hinreichend berücksichtigt. Deswegen müssten wir
n den Ausschüssen noch jede Menge Nachbesserungen
ornehmen, wenn wir am Ende des Gesetzgebungspro-
esses tatsächlich zustimmen können sollen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter
on der SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Terror macht Angst. Ter-oristen wollen Angst machen. Terroristen wollen verun-ichern. Terroristen wollen Überreaktionen provozieren.as sind die Hintergründe dieser Gefahren- bzw. Bedro-ungslage. Die große Koalition hat mit Außenmaß unden richtigen Mitteln getan, was notwendig ist. Auch beiieser Koalition ist die innere Sicherheit unseres Staatesn guten Händen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, welche Reaktionennsere demokratische Verfassung von uns verlangt. Voner Opposition wird immer wieder behauptet, wir würdennsere Verfassung infrage stellen bzw. die Bürgerrechteicht in ausreichendem Maße berücksichtigen.Ich meine, gerade bei diesem Thema geht es darum,ass der Staat die Bürgerrechte sichert und seiner Ver-flichtung nachkommt, die Bürger zu schützen. Dadurchut er genau das, was ihm die Verfassung vorschreibt: dieürgerrechte zu gewährleisten.Dass wir unsere Bürger schützen, ist unbestritten.etzt geht es um die Frage, wie wir die Sicherheit derürger am sinnvollsten schützen können. Nicht die Bür-er sind die potenzielle Gefahr, Frau Pau. Vielmehr müs-en wir jetzt die potenzielle Gefährdung der Bürger imlick haben.Mit unseren Gesetzentwürfen sorgen wir dafür, dassas Erforderliche und das Verhältnismäßige getan wird.as, was erforderlich und verhältnismäßig ist, ist aucherfassungsgemäß. Wir lassen nicht zu, dass die Gren-en zwischen Strafverfolgung, polizeilicher Gefahrenab-
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Klaus Uwe Benneterwehr, Geheimdienst und Militär planiert werden. Man-che Kollegen sprechen in dieser Diskussion vom Krieg.Sie meinen, bei der Bekämpfung des Terrors müsstenmilitärische Grundsätze gelten. Das ist aber nicht derFall. Der BND ist und bleibt ein Auslandsgeheimdienst.Ihm werden keine zusätzlichen Befugnisse übertragen.Die Behauptung – verschiedentlich wurde sie hier aufge-stellt –, der BND dürfe nun all das, was der Verfassungs-schutz bisher im Inland tun durfte, auch tun, ist falsch.
Der BND bekommt kein Fahrrad, sondern höchstenseine Klingel, um hier tätig werden zu können.
– Für Sie bekommt er eine Luftpumpe.
Der BND und die Geheimdienste bekommen keine Ein-griffsbefugnisse, sondern lediglich Auskunftsbefug-nisse. Diese Befugnisse können sie nicht verpflichtenddurchsetzen. Auch darauf haben wir ganz besonders ge-achtet.Nun komme ich auf das Trennungsgebot zu spre-chen. Was ist das Trennungsgebot? Es ist nicht entschei-dend, ob es sich dabei um eine verfassungsrechtlicheVorschrift handelt oder nicht. Das Trennungsgebot be-sagt, dass die Geheimdienste gerade keine operativenEingriffsbefugnisse bekommen dürfen,
und zwar deshalb, weil sie sehr weit im Vorfeld Informa-tionen einholen dürfen und mit diesen Informationen an-ders umgehen dürfen, als das die Polizei ohnehin nur beikonkretem Tatverdacht tun darf.
Herr Kollege Benneter, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Wieland?
Bitte.
Bitte, Herr Wieland.
Herr Kollege Benneter, stimmen Sie mir zu, dass der
Verfassungsschutz nach der alten Gesetzeslage nur Aus-
kunftsrechte hatte, aber keine -pflichten statuiert wur-
den – mit einem gewissen Erstaunen wurde vom Bundes-
innenministerium festgestellt, dass immer Auskunft er-
teilt wurde, auch wenn es keine Verpflichtung dazu gab –,
und dass das Recht, von Finanzdienstleistern, von Ban-
ken, von Telekommunikationsunternehmen Auskunft zu
verlangen, nun auch den anderen Nachrichtendiensten
eingeräumt werden soll?
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Herr Kollege Benneter, erlauben Sie auch eine Zwi-
chenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Herr Kollege Benneter, es ruft mich auf den Plan,ass Sie sagen, diese Befugnisse gelten nur für die Be-ämpfung des internationalen Terrorismus. Haben Siechon einmal einen flüchtigen Blick auf § 3 Abs. 1 desundesverfassungsschutzgesetzes geworfen?
ie wollen mit Ihrem Terrorismusbekämpfungsergän-ungsgesetz erreichen, dass all diese Befugnisse – die,ie vorher geschaffen worden sind, und die, die jetzt zu-ätzlich geschaffen werden sollen – nicht nur bei der Be-ämpfung des internationalen Terrorismus gelten, son-ern beispielsweise auch bei der Überwachung undufklärung von Bestrebungen von Gewaltbefürworternm Inland, was mit Terrorismus überhaupt nichts zu tunat. Der Kollege Wieland hat bereits darauf hinge-iesen, dass auf dieser Grundlage in der Vergangenheitn Deutschland immer wieder Organisatoren von De-onstrationen
der Vereine, von denen man angenommen hat, dass inhnen Befürworter von Gewalt verkehren, überwachtorden sind. Geben Sie mir deshalb Recht, dass schonie Überschrift des Gesetzes, die Sie offenbar gelesenaben und aufgrund deren Sie vermuten, dass es sich umin Terrorismusbekämpfungsgesetz handelt, ein Etiket-enschwindel ist? Denn unter diesem Etikett verbirgtich etwas ganz anderes: dass die Befugnisse der Ge-eimdienste erheblich ausgeweitet werden, auch aufiele andere Gebiete der Gefahrenabwehr.
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Herr Kollege Ströbele, Sie werden verstehen, dass ich
Ihnen nicht Recht gebe in dem, was Sie mir da in den
Mund legen wollen.
Wir von der SPD haben gerade im Vorfeld sehr genau
darauf geachtet, dass es hier keine Vermengung, keine
Vermischung gibt, dass hier nicht planiert wird, dass Ex-
tremismus und Terrorismus nicht zusammengeworfen
werden.
Sie müssen den Gesetzestext einmal genau lesen! Dann
werden Sie feststellen, dass für die Anwendung zwei Vo-
raussetzungen vorliegen müssen: internationaler Terro-
rismus und Gewaltbezogenheit. Das betrifft beispiels-
weise auch islamistische Hassprediger, die wir zum
Vorfeld des Terrorismus zählen. Deshalb sind auch sie
Gegenstand der Bekämpfungsstrategie.
Ich habe darauf hingewiesen: Verfassungsmäßigkeit
liegt vor, wenn etwas verhältnismäßig und erforderlich
ist. Erforderlich ist es, möglichst frühzeitig vollständige
Informationen aus allen möglichen Quellen zu bekom-
men. Erfolgreich ist nur die Terrorismusbekämpfung, die
dem Terror einen Schritt voraus ist, sowohl bei der Prä-
vention als auch bei der Recherche und der Aufklärung.
Wir müssen diesem Netzwerk des Terrors ein Netzwerk
der Sicherheit gegenüberstellen. Das tun wir mit diesen
beiden Gesetzen.
Noch einmal: Wir werden keine neuen Daten erhe-
ben, sondern alle bisher schon bei den 38 nebeneinan-
derher arbeitenden Behörden vorhandenen Daten sollen
nach Verabschiedung der Gesetzentwürfe aufgrund der
technischen Möglichkeiten lediglich schneller abgerufen
werden können und verfügbar sein. Nur das wird in die-
sem Gesetz geregelt.
Zu den Erweiterungen. Das Bundesverfassungsge-
richt hat uns gerade in diesen Tagen bestätigt, dass die
Regelungen über den IMSI-Catcher, mit dem Mobilte-
lefone abgehört und Standorte erforscht werden können,
verfassungsgemäß sind. Verfassungsgemäß ist eben das,
was zur Terroristenabwehr erforderlich ist, und das tun
wir in diesem Zusammenhang.
Die Regelungen über die Sicherstellung bei einem
Geldwäscheverdacht – bei einem solchen Verdacht kön-
nen wir natürlich tätig werden – erweitern wir jetzt auch
auf die Fälle, in denen es um einen Terrorismusverdacht
geht, sodass wir dann auch hier entsprechend vorgehen
können. Gerade hier spielen Finanzquellen ja immer
eine große Rolle.
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ir erweitern, aber wir verschärfen nicht.
ir werden das künftig auch noch besser evaluieren. Ich
äume Ihnen gerne ein, dass das noch nicht ausgereicht
at. Es waren ja auch nur drei Jahre.
Denken Sie aber immer daran: Optimale Sicherheit
edeutet auch ein großes Stück Freiheit. Wer Angst hat,
st unfrei. Deshalb müssen wir die Erforderlichkeit und
ie Verhältnismäßigkeit immer im Auge behalten. Da-
urch werden wir dann auch die Bürgerrechte sichern.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
DU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Mehr sehr verehrtenolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die heutige De-atte zeigt, dass die große Koalition allen Unkenrufenum Trotz handlungs- und entscheidungsfähig ist.
Nachdem in der letzten Legislaturperiode keine Eini-ung erzielt werden konnte, ist es jetzt in weniger als ei-em Jahr gelungen, sich auf zwei wichtige Gesetzent-ürfe zur Gewährleistung der inneren Sicherheit zuinigen. Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetznd das Gemeinsame-Dateien-Gesetz sind zwei wichtigeeilensteine, um Deutschland sicherer zu machen.urch das Gemeinsame-Dateien-Gesetz wird endlich er-öglicht, dass alle Sicherheitsbehörden des Bundes under Länder wissen können, was sie wissen müssen.Der Föderalismus in Deutschland ist ein Markenzei-hen und hat sich bewährt. In der Vergangenheit hat sichber gezeigt, dass durch die Zersplitterung – es gibt ins-
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Stephan Mayer
gesamt 38 Sicherheitsbehörden des Bundes und der Län-der – gewisse Probleme in der Praxis auftauchen. Hierbeimuss uns eines klar sein: Auch durch eine gemeinsameAntiterrordatei werden wir nicht zu 100 Prozent vor al-len Gefahren des internationalen Terrorismus geschützt.Es wäre falsch und unehrlich, zu suggerieren, dass diePolitik ein Allheilmittel hat, um jegliche terroristischenAngriffe auszuschließen. Für eines müssen wir aber Ga-rant sein: Eine effiziente und umfassende Bekämpfungdes internationalen und insbesondere des islamistischenTerrorismus darf nicht daran scheitern, dass einer Sicher-heitsbehörde Informationen nicht zur Verfügung stehen,die eine andere Sicherheitsbehörde hat.Durch die nunmehr konzipierte Antiterrordatei wirdden Sicherheitsbehörden in Deutschland das notwendigeRüstzeug geboten, um präventiv, zielgenauer und infor-mierter arbeiten zu können. Gleichzeitig aber wahrt siein angemessener und ausgewogener Art und Weise dieberechtigten Interessen der einstellenden Sicherheitsbe-hörden und des Quellenschutzes sowie selbstverständ-lich die erforderlichen Vorgaben des Datenschutzes.Dennoch halte ich es für enorm wichtig, dass man inbegründeten Fällen bestimmten Staatsschutzbehördender Länder den Zugriff auf die vorhandenen Erkennt-nisse erlaubt; denn gerade die Aufklärung krimineller is-lamistischer Strukturen sowie die Bearbeitung herausra-gender Staatsschutzdelikte erfordert es, dass man beiVorliegen einer unmittelbaren Gefahr im Einzelfallsehr zügig und ohne Zögern die Kenntnisse der örtlichenPolizeivollzugsdienste mit den Kenntnissen der überört-lichen Staatsschutzdienste vereinigen kann.Gerade die Gott sei Dank fehlgeschlagenen Koffer-bombenattentate in Dortmund und Koblenz haben ge-zeigt: In Zukunft werden im Bereich des islamistischenTerrorismus immer mehr kleine autonome Gruppierun-gen eine Rolle spielen, die zum Beispiel durch Selbstra-dikalisierung entstehen und die sich aus Personen zu-sammensetzen, die bisher entweder gar nicht oder kaumauffällig in Erscheinung getreten sind. Es muss deshalbunbedingt gewährleistet sein, dass zum Beispiel die In-formation, dass einer der drei dringend Tatverdächtigender Kofferbombenattentate vor wenigen Monaten nochals Rädelsführer einer Demonstration in Kiel gegen dieMohammed-Karikaturen in Erscheinung getreten ist, al-len Sicherheitsbehörden in Deutschland sehr zügig undin geeigneter Weise zur Verfügung steht.Da derzeit und aller Voraussicht nach auch in dennächsten Jahren und Jahrzehnten im Bereich des Terro-rismus die größte Gefahr für die westliche Zivilisationvom islamistischen Terrorismus ausgehen wird, ist esebenso notwendig und angebracht, dass zu den erweiter-ten Grunddaten, die in der Antiterrordatei abgerufenwerden können, auch das Merkmal der Religionszuge-hörigkeit zählt.Einen weiteren wichtigen gesetzlichen Pfeiler stelltdas Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz dar. Die-ses Gesetz ist die sachgerechte, konsequente und erfor-derliche Fortsetzung der bisherigen Terrorismusbekämp-fungsgesetze aus dem Jahr 2002, die sich generellbhfBwhzmtAvudfhmßrtseungASsshaSnFmkshmS
So ist es richtig, dass nunmehr auch dem Bundesver-assungsschutz zur Aufklärung verfassungsfeindlicherestrebungen im Inland diese Befugnisse eingeräumterden können. Gerade das Beispiel der Hasspredigerat gezeigt, dass es häufig einen fließenden Übergangwischen Extremismus und Terrorismus gibt. Es mussöglich sein, den Personen, die mit ihrer fundamentalis-ischen und der westlichen Welt gegenüber hasserfülltengitation bisher unbedarfte und unauffällige Personenerhetzen, mit den gleichen polizeilichen Präventions-nd Aufklärungsmaßnahmen begegnet werden kann wieen terrorverdächtigen Personen selber.Das Gesetz muss in meinen Augen auf jeden Fall inünf Jahren auf seine Praxistauglichkeit und Effizienzin überprüft werden. Die Frage ist allerdings, ob manit einer Befristung der Geltung des Gesetzes den gro-en Sicherheitsinteressen Deutschlands und der Bürge-innen und Bürger in ausreichendem Maße Rechnungrägt.Die Begriffe Freiheit und Sicherheit stehen, wiechon erwähnt, in einem demokratischen Rechtsstaat ininem interessanten Spannungsverhältnis. Eines solltens allerdings klar sein: Trotz des vorhandenen Span-ungsverhältnisses bedingen sich Freiheit und Sicherheitegenseitig.
uch Sicherheit ist ein elementares Bürgerrecht. Ohneicherheit gibt es kein Leben in Freiheit. Die beiden Ge-etzentwürfe, die wir heute in erster Lesung behandeln,tellen einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Sicher-eit in Deutschland dar. Ich kann deshalb nur an Sie alleppellieren: Unterstützen Sie diese Gesetze mit Ihrertimme, um die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
un der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel von der SPD-
raktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginneiner Ausführungen zum Gemeinsame-Dateien-Gesetzann ich meinen Vorrednern nur zustimmen. Der An-chlag vor wenigen Wochen in unserem eigenen Landat uns die Gefahr des internationalen Terrorismus un-ittelbar vor Augen geführt. Auch die Anschläge inpanien und Großbritannien haben auf furchtbare Weise
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Dr. Carl-Christian Dresselgezeigt, dass sich Europa insgesamt im Fadenkreuz derTerroristen befindet.Damit haben wir leider einen guten Grund dafür, unsmit dem Thema zu beschäftigen. Ich denke, wir stimmenim ganzen Haus überein, dass das Bedrohungspoten-zial, das vom internationalen Terrorismus ausgeht, sichin den letzten Jahren nicht verringert, sondern vergrößerthat.Deutschland ist Teil eines weltweiten Gefahrenrau-mes. Auch die Meinung der Öffentlichkeit ist ein wichti-ger Indikator für die tatsächliche Bedrohung. Die Angstvor Terror ist stark angestiegen. Eine Meinungsumfragevon Allensbach vom 17. Oktober dieses Jahres belegt,dass die Furcht vor Terroranschlägen in Deutschlandgrößer ist als je zuvor. Die Terroristen haben das Ziel,Terror – lateinisch für: Furcht – zu verbreiten, also er-reicht. Wenn man bedenkt, dass das Sicherheitsbedürfniseines der wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschenist, ist es gerade unsere Pflicht als Staat, allen Bürgerin-nen und Bürgern Sicherheit zu gewähren, und zwar – dassage ich gerade in Ihre Richtung, Frau Pau – unabhängigvom Geldbeutel.
Dazu gehört für mich, dass unsere Sicherheitsbehör-den auf Instrumente zugreifen können, die sie in dieLage versetzen, vernetzt der erhöhten Gefahr durch dennicht minder vernetzt operierenden internationalen Ter-rorismus effektiv zu begegnen. Zu beachten ist dabei dieVerhältnismäßigkeit. Eine angemessene Sicherheitspo-litik beeinträchtigt die Freiheitsrechte nur so viel wie nö-tig und so wenig wie möglich. Dem Bereich des Daten-schutzes kommt dabei eine zentrale Stellung zu.Mit dem im Gesetzentwurf vorgesehenen Verfahrenwird – das sage ich im Gegensatz zu Ihnen, HerrWieland – die geplante Datei aus den Grunddaten beste-hen, die abgerufen werden können. Andererseits gibt esdie so genannten erweiterten Grunddaten, die auch Tele-kommunikationsanschlüsse, Bankverbindungen und – nursoweit im Einzelfall erforderlich – die Religionszugehö-rigkeit beinhalten. Diese Daten können aber nur auf An-frage im Einzelfall durch die speichernde Behörde unterBeachtung der geltenden Übermittlungsvorschriftenweitergeleitet werden.
Machen wir uns nichts vor: Die Übermittlung vonDaten ist bei Zusammenarbeit zwischen Nachrichten-diensten und Polizeibehörden bislang schon im Einzel-fall möglich, wie Herr Bosbach vorhin richtig ausgeführthat. Dafür gibt es bereits Vorschriften. Wir müssen nurdie Vernetzung ermöglichen, damit von diesen Vor-schriften zugunsten der Bürgerinnen und Bürger Ge-brauch gemacht werden kann.
Dies erfolgt durch eine Indexdatei und das ist gut so.Frau Pau, mir ist es nicht egal, ob eine Indexdatei oderetfhtwwmdaumzztdzwkwKndavfmsg
Ebenso darf es nicht sein, dass jede Sicherheitsbe-örde unbeschränkten Zugriff auf alle vorhandenen Da-en hat. Auch in Zukunft wird nicht jeder alles wissen,ird es auch keinen Teil geben, der alles weiß, sondernird jeder wissen, was er wissen muss, um den Terroris-us zu bekämpfen.Wir versetzen durch das Gemeinsame-Dateien-Gesetzie Sicherheitsbehörden in die Lage, unter strikter Be-chtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Planungennd Vorbereitungshandlungen im Bereich des Terroris-us rechtzeitig aufzudecken und eine effektive Arbeitum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Landesu leisten. Lassen Sie uns auch in den künftigen Bera-ungen die Grundlage der Verhältnismäßigkeit nicht ausen Augen verlieren. Ich bin mir sicher, dass wir damitu einem guten Ergebnis kommen werden, genau so wieir mit dieser Vorlage schon einen guten Start hinbe-ommen haben,
ofür ich mich bei den Innen- und Rechtspolitikern deroalitionsfraktionen und auch bei den zuständigen Mi-isterien herzlich bedanke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufen Drucksachen 16/2950, 16/2921, 16/821 und 16/2081n die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsseorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/821 sollederführend im Ausschuss für Menschenrechte und Hu-anitäre Hilfe beraten werden. Sind Sie damit einver-tanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun-en so beschlossen.Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 26:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Errichtung und zur Regelung der Aufga-ben des Bundesamts für Justiz– Drucksache 16/1827 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/3009 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Ole SchröderDr. Carl-Christian Dressel
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsSabine Leutheusser-SchnarrenbergerWolfgang NeškovićJerzy MontagNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Parlamentarischen StaatssekretärAlfred Hartenbach.A
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der Gesetzentwurf zur Errichtung des Bundesamts für
Justiz ist für mich sehr erfreulich,
und zwar deshalb, weil wir das „Richtfest“ für eine Bun-
desbehörde feiern, die zum Zuständigkeitsbereich des
Bundesministeriums der Justiz gehört.
Ich danke allen Damen und Herren Abgeordneten, die
ihren Beitrag dazu geleistet haben und noch immer leis-
ten. Mein besonderer Dank gilt nicht Ihnen, Herr
Wieland; er gilt aber den Abgeordneten des Haushalts-
ausschusses, die die Ampel schnell auf Grün gestellt ha-
ben, und vor allem den Abgeordneten des Rechtsaus-
schusses, die das für die Justiz wichtige Vorhaben
konstruktiv gefördert haben.
Auch beim Bundesinnenministerium möchte ich mich
ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit bei den Vor-
bereitungen bedanken. Mein Dank gilt auch den Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern in unserem Haus, die die-
ses Vorhaben gut und gründlich vorbereitet haben.
Wir schaffen indes keine neue Behörde mit völlig
neuen Aufgaben. Es gibt nur ein neues Dach. Das Bun-
desamt für Justiz wird Aufgaben gebündelt wahrneh-
men, die bisher auf unterschiedliche Stellen verteilt wa-
ren. Damit wollen wir die jeweilige Kernkompetenz
stärken und Verfahrensabläufe optimieren – ganz im
Sinne des Programms der Bundesregierung „Moderner
Staat – Moderne Verwaltung“. Diese Umstrukturie-
rung wird zudem finanzneutral im Bundeshaushalt voll-
zogen werden. In einer Zeit knapper Kassen ist dieser
Aspekt nicht unerheblich.
Das Bundesamt für Justiz wird im Kern sämtliche
Aufgaben der Dienststelle Bundeszentralregister des
Bundesgeneralanwalts übernehmen, zum Beispiel die
Führung verschiedener Register. Dazu kommen Aufga-
ben, die derzeit noch vom Bundesjustizministerium erle-
digt werden, wie etwa das Verkündungs- und Bekannt-
machungswesen.
Die Verwaltungsaufgaben können zum Teil von Be-
diensteten unserer jetzigen Dienstelle Bonn wahrgenom-
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Wir unterstützen das Vorhaben, das Bundesamt fürJustiz in Bonn anzusiedeln. Ich erinnere daran, dass dasBundeszentralregister damals im Rahmen des Berlin/Bonn-Gesetzes – das war quasi ein Tauschgeschäft –nach Bonn gekommen ist. Das hatte auch mit der dama-ligen Aufgabenverteilung des Bundesministeriums derJustiz zu tun. Das Berlin/Bonn-Gesetz gilt nach wie vor.Das mag man kritisieren, aber das ist nun einmal dierechtliche Grundlage. Da das Bundeszentralregister inZukunft Nukleus des Bundesamtes für Justiz ist – über300 Stellen des Bundeszentralregisters werden beimBundesamt für Justiz angesiedelt –, ist es nach unsererMeinung richtig, es in Bonn zu belassen. Es wäre jeden-falls teurer geworden, das Bundeszentralregister und daszu errichtende Bundesamt für Justiz, wie vorgeschlagen,in Berlin oder in einem der neuen Bundesländer anzusie-deln. Das hätte natürlich Kosten des Umzugs mit sichgebracht. Jetzt aber wurden nicht von vielen Stellenviele Aufgaben nach Bonn verlagert, sondern die meis-ten Aufgaben waren schon dort angesiedelt. Daher sagenwir in diesem Punkt: Jawohl, der Standort Bonn ist ge-rechtfertigt. – Ich will am Rande bemerken, dass unsererMdOdwAHkfoStIwBwhdeAdJCDhadeBuwZnaghdaawfabgb
Für uns ist ganz entscheidend, dass der Grundsatz deraushaltsneutralität nicht nur jetzt, sondern auchünftig Maßstab bei der Entwicklung des Bundesamtesür Justiz ist. In diesem Zusammenhang hat uns Abge-rdneten nicht gefallen, dass bis zur letzten Sekunde eintreit innerhalb der Bundesregierung zwischen dem Jus-iz- und dem Innenministerium stattgefunden hat. Dasnnenministerium wollte vielleicht gerne Aufgaben los-erden, aber keine Stellen übertragen. Das hätte dasundesverwaltungsamt vielleicht etwas geschmälert; icheiß es nicht. Es gab ein Gezerre über viele Wocheninweg. Jetzt hat man einen Kompromiss gefunden. Ober mit diesem geteilten In-Kraft-Treten, das im Gesetz-ntwurf vorgesehen ist, so glücklich ist, bezweifle ich.ber insgesamt – das habe ich dargelegt – stimmen wirem Gesetzentwurf zur Errichtung des Bundesamts fürustiz zu.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder für die
DU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenamen und Herren! Wir von der CDU/CSU-Fraktionaben uns dem Bürokratieabbau verschrieben und das istuch mein ganz persönliches Anliegen. Jetzt wird mitem vorliegenden Gesetz das Bundesamt für Justiz, alsoine neue Behörde, gegründet. Da mag sich mancherürger zu Recht fragen, was das mit weniger Bürokratiend mit schlankem Staat zu tun hat und vor allen Dingenas das kosten wird.Lassen Sie uns diese Punkte im Einzelnen betrachten.uerst die Frage, ob die neue Behörde mit dem Ziel ei-es schlanken Staates zusammenpasst. Schauen wir unsls Erstes an, was die Behörde machen soll, welche Auf-aben das Bundesamt für Justiz erledigen soll. Die Be-örde wird vor allen Dingen bestehende Aufgaben ausem Bundesjustizministerium und vom Generalbundes-nwalt übernehmen. Hinzu kommen einzelne Aufgabenus dem Zuständigkeitsbereich anderer Bundesressortsie beispielsweise die Zwangsvollstreckung. Wir schaf-en hier also keine zusätzliche Bürokratie. Das Bundes-mt für Justiz wird lediglich Aufgaben übernehmen, dieisher von anderen Stellen ausgeführt wurden. Im Ge-enteil: Wir verschlanken die Institutionen, die Aufga-en an das Bundesamt abgeben. Wir gestalten Strukturen
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Dr. Ole Schröderübersichtlicher als bisher. Im Laufe der Jahre haben dasMinisterium und der Generalbundesanwalt mehr oderweniger wahllos administrative Tätigkeiten übernom-men bzw. übernehmen müssen, obwohl diese eigentlichnicht richtig zu den einzelnen Institutionen passten.Dazu kommt, dass sowohl europäisches als auch in-ternationales Recht in den vergangenen Jahren stetig anBedeutung hinzugewonnen hat, und zwar durch die vo-ranschreitende europäische Integration, durch eine zu-nehmende internationale Verflechtung der Wirtschafts-räume und durch die wachsende Mobilität der Men-schen. Diese Entwicklung erfordert immer stärker, dassdie Vertragspartner bzw. die Mitgliedstaaten zentraleAnlaufstellen bzw. eine internationale Kontaktstelle fürden grenzüberschreitenden Rechtsverkehr benennenkönnen. Das gilt natürlich auch für Deutschland. Einezentrale Anlaufstelle ist wichtig für die ausländischenInstitutionen, sie ist aber auch besonders wichtig für dieBürgerinnen und Bürger unseres Landes, die sich andiese Stellen wenden wollen oder wenden müssen.Betrachten wir beispielsweise die Aufgabe im Bereichdes Auslandsunterhaltsrechts. Bisher sind zuständig:das Bundeszentralregister nach dem Auslandsunterhalts-gesetz, das Bundesverwaltungsamt für eingehende Ersu-che nach dem Gesetz zum UN-Unterhaltsübereinkom-men und – nach demselben Abkommen – die Länder fürdie ausgehenden Ersuche.Eine solche Verteilung von Kompetenzen in einemRechtsbereich ist doch von niemandem zu verstehen. Esmacht keinen Sinn, dass nach dem Gesetz die 16 Länderfür ausgehende Ersuche zuständig sind, während derBund für eingehende Ersuche zuständig ist. Genausowenig sinnvoll ist es, die Regelung der Zuständigkeitendavon abhängig zu machen, aus welchem Land ein Ge-such gestellt wird. Bei Ersuchen aus den USA und Süd-afrika war bisher der Generalbundesanwalt zuständig.Bei Ersuchen aus Mexiko, Brasilien oder europäischenLändern ist das Bundesverwaltungsamt der richtige An-sprechpartner. Das macht keinen Sinn.Wir alle profitieren von der Zusammenführung derAufgaben: die Bürger, die dann wissen, an wen sie sichwenden sollen, und der europäische und internationaleRechtsverkehr durch einen einheitlichen Ansprechpart-ner. Wir erreichen durch einen Gleichlauf der Verfahreneben auch Synergieeffekte: Die Verfahren können be-schleunigt werden; Sach- und Personalkosten könneneingespart werden.Neben den Auslandsunterhaltsangelegenheiten wirddem Bundesamt für Justiz noch eine Reihe weiterer Auf-gaben übertragen, die zum Teil bereits genannt wordensind. Ich denke, wir können hier auf eine detaillierteAufzählung verzichten.Lassen Sie mich aber noch auf zwei ganz wesentlicheBereiche eingehen:Erstens. Das Bundesamt für Justiz wird die Aufgabender Dienststelle Bundeszentralregister, die bisher vomGeneralbundesanwalt erfüllt worden sind, übernehmen.Aufgrund der Aufgabenübertragung kann die dortigeDienststelle komplett aufgelöst werden. Die Neuorgani-saFnhARVibKpbBtWf4cühEhBdsmaslzdAwstAvJnhAüDJbBEatker
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Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schröder, Sie haben völlig Recht. Wir reden von
Bürokratieabbau. Es ist aus finanziellen Gründen not-
wendig, jeden Euro zweimal anzuschauen, bevor man
ihn ausgibt. In dieser Situation bedarf es einer besonde-
ren Rechtfertigung, ein neues Bundesamt zu schaffen.
Wir haben uns im Rechtsausschuss den Stellenkegel
genau angeschaut. Wir haben feststellen können, dass
keine neuen Stellen geschaffen werden. Sämtliche Stel-
len werden durch Umstrukturierungen dem neuen Bun-
desamt zugeschlagen. Selbst der Leiter, also der Präsi-
dent, des neuen Bundesamts, verursacht keine
zusätzliche finanzielle Belastung des Haushaltes, da
seine Stelle aus Stellen des Bundeszentralregisters ge-
schaffen wird. Mit diesem Bundesamt sind keine neue
Bürokratie und keine Mehrausgaben verbunden.
Man muss sich auch der Frage stellen, ob es richtig
und notwendig ist, ein solches Bundesamt zu errichten.
Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine natio-
nale Anlaufstelle für diverse neue Aufgaben, die uns
sowohl im völkerrechtlichen Verkehr als auch in der
Europäischen Union zuwachsen. Es ist richtig, diese na-
tionale Anlaufstelle in Form eines Bundesamts zu orga-
nisieren.
– Danke, Herr Kollege Wieland.
Es ist auch richtig, dass wir sowohl das Bundesjustiz-
ministerium als auch den Generalbundesanwalt von den
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W1) Anlage 2
Die einzelnen Punkte, die Aufgabenbereiche, die in
iesem neuen Bundesamt zusammengefasst werden,
ind schon aufgeführt worden. Die Zustimmung zur Er-
ichtung dieses neuen Bundesamtes fällt mir umso leich-
er, als sie mit einem positiven Lerneffekt bei den Kolle-
innen und Kollegen von der Fraktion der CDU/CSU
erbunden ist. Meine Damen und Herren von der SPD-
raktion, Sie werden sich daran erinnern, dass die Union
n den letzten Legislaturperioden immer wieder vehe-
ent dagegen gewettert hat, dass Entschädigungen für
pfer rechter Gewalttaten gewährt werden. Nun stel-
en wir fest, dass die große Koalition einmütig die Be-
ältigung der Aufgabe der Entschädigung der Opfer
echter Gewalt dem neuen Bundesamt für Justiz zuwei-
en will. Damit erkennen Sie gleichzeitig die Notwen-
igkeit dieser Aufgabe an.
ch bin sehr zufrieden, dass Sie insofern wieder an die
atsächlichen Probleme und Aufgaben, die im justiziel-
en Bereich wahrzunehmen sind, herangekommen sind.
Es gibt über die Aufgaben, die im Bundesamt zusam-
engeführt werden sollen und in diesem Gesetz schon
ufgeführt sind, hinaus weitere Aufgaben. Eine haben
ir Grünen schon parat. Die Grünen haben heute der
ffentlichkeit ein Gesetz zur Reform der Telekommuni-
ationsüberwachung in Deutschland vorgestellt. Die sta-
istische Erfassung der Telekommunikationsüberwa-
hung in Deutschland und die Aufarbeitung der Daten
ur Präsentation beim Bundestag bewerkstelligt zurzeit
och die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele-
ommunikation, Post und Eisenbahnen. Es ist durchaus
innvoll, auch diese Aufgaben dem neuen Amt zu über-
ragen.
In diesem Sinne sage ich: Wir wünschen dem neuen
undesamt eine gute Arbeit, ein gutes Gelingen. Wir als
rüne werden dem Gesetzentwurf selbstverständlich zu-
timmen.
Danke.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kolleger. Carl-Christian Dressel für die SPD-Fraktion dasort.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5725
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
am 1. Januar des kommenden Jahres das Gesetz über die
Errichtung des Bundesjustizamts – mit, wie ich denke,
breiter Mehrheit in diesem Hause beschlossen – in Kraft
tritt, wird am Standort Bonn zunächst einmal nichts an-
deres geschehen, als dass dort Türschilder ausgewech-
selt werden. Es entfällt das Schild „Der Generalbundes-
anwalt beim Bundesgerichtshof“ und es kommt das
Schild „Bundesjustizamt“. Das ist auch schon alles, was
man in Bezug auf den Standort sagen kann. Die nahezu
400 Beschäftigten des Bundeszentralregisters als Bonner
Dienststelle des Generalbundesanwalts werden weiter in
Bonn arbeiten können. Wer, wie im Ausschuss gesche-
hen, irgendwelche Benachteiligungen der neuen Bundes-
länder oder die Nichteinhaltung des Koalitionsvertrages
vermutet,
handelt nur populistisch. Wir schaffen keine neue Bun-
desbehörde. Wir bündeln nur Zuständigkeiten in einem
Haus.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang am Rande
bemerken, dass ich es, gerade im Hinblick auf die Schaf-
fung von neuen Stellen, gut finde, dass Potsdam, wie
diese Woche beschlossen, Sitz der Bundesstiftung für
Kultur wird. So realisiert man die Vorgaben des Koali-
tionsvertrages. Damit können wir zufrieden sein.
Zufrieden sein können wir auch damit, dass die ange-
sprochene Umstrukturierung im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Justiz kostenneutral im Bun-
deshaushalt vollzogen wird. Weder werden neue Stellen
geschaffen, noch werden Stellenhebungen durchgeführt.
Meines Erachtens ist das, was wir im Geschäftsbereich
des Bundesministeriums der Justiz schaffen, vorbildlich
für die Aufteilung der Aufgaben zwischen Bonn und
Berlin: Die politisch-steuernden Funktionen werden in
Berlin wahrgenommen, während das Bundesjustizamt in
Bonn – zusammengesetzt aus den Zuständigkeiten des
Generalbundesanwalts, den Zuständigkeiten des Bun-
desverwaltungsamts und den Exekutivzuständigkeiten
des Justizministeriums – arbeitet.
Das Bundesjustizamt wird verschiedene Zuständig-
keiten haben: als zentrale Verwaltungsbehörde für den
grenzüberschreitenden Rechtsverkehr, aber auch als
Vollzugsbehörde für andere Aufgaben. Wir als Deut-
scher Bundestag sind vor wenigen Wochen den ersten
Schritt gegangen, indem wir im Gesetz über das elektro-
nische Handels- und Unternehmensregister bereits die
Zuständigkeit des Bundesjustizamts festgeschrieben ha-
ben.
Jetzt gehen wir zusammen den zweiten Schritt, indem
wir dieses Bundesjustizamt errichten.
Ministerium und Generalbundesanwalt werden sich
dann auf die Kernkompetenzen konzentrieren können.
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Stokar von Neuforn, Kai Gehring, Monika Lazar,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENDatenschutzaudit umsetzen – Gütesiegelstärkt Bürgerrechte und schafft Akzeptanz fürwirtschaftliche Innovationen– Drucksache 16/1499 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten GiselaPiltz, Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDatenschutz-Audit-Verfahren und Daten-schutz-Gütesiegel einheitlich regeln– Drucksache 16/1169 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medien
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Vizepräsidentin Petra PauNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minutenerhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion des Bünd-nisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerDeutsche Bundestag hat sich bereits im Jahre 2003 aufein Datenschutzaudit verständigt. § 9 a des Bundesda-tenschutzgesetzes sieht vor, dass die näheren Anforde-rungen an die Prüfung und Bewertung eines Auditver-fahrens durch ein besonderes Gesetz geregelt werdensollen. Dieser klare Auftrag des Bundestages wurdevon der Exekutive bis heute nicht umgesetzt.Ich bekenne offen: Es hat hier auch unter Rot-Grünbedauerlicherweise nicht die erforderlichen Fortschrittegegeben. Der ehemalige Bundesinnenminister OttoSchily hat jede Modernisierung im Datenschutz blo-ckiert und die SPD musste beim Thema Datenschutz im-mer wieder neu zum Jagen getragen werden, sodass wirdurch die Neuwahl in die Situation gekommen sind, dasswir das Informationsfreiheitsgesetz zwar geschafft ha-ben, das Thema Datenschutzaudit aber bedauerlicher-weise wieder einmal liegen blieb.Wir wollen das Thema Datenschutzaudit nicht ad actalegen; ganz im Gegenteil: Wir suchen neue Bündnispart-ner. Im Bereich der Wirtschaft haben wir sie längst ge-funden. Auch ohne bundesgesetzliche Regelung entwi-ckeln sich Gütesiegel für den Datenschutzbereich. Sohat sich beispielsweise die Firma Coca-Cola durchTÜViT zertifizieren lassen. Das Gütesiegel „quid!“– Qualität in Datenschutz – wurde in einem von derBundesregierung geförderten Forschungsprojekt entwi-ckelt. Es entstehen derzeit auch aktuell immer neueIT-Sicherheitszertifikate.Angesichts entsprechender Bemerkungen aus denReihen der SPD, die ich auf dem Weg hierher gehörthabe, könnte man sich die Frage stellen: Wofür brauchenwir noch eine gesetzliche Regelung, wo doch der Marktsich die erforderlichen Zertifikate selbst schafft? Abergenau an dieser Stelle liegt das Problem. Was fehlt, sindanerkannte Kriterien für das Datenschutzaudit. EinWildwuchs an Zertifikaten nutzt weder der Wirtschaftnoch wird dadurch das notwendige Vertrauen der Ver-braucherinnen und Verbraucher geschaffen. Wenn dieserWildwuchs so weitergeht, dann gibt es vielleicht dem-nächst ein Gütesiegel aus den USA, worauf steht: DieFluggastdaten sind bei der CIA in den besten Händen. –Solche Gütesiegel wollen wir nicht. Wo Datenschutzdraufsteht, muss erkennbar und verlässlich Datenschutzdrin sein.
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Für die Unionsfraktion hat das Wort die Kollege
eatrix Philipp.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen underren! Frau Stokar, ich konnte vorhin Ihrer Rede – ichekenne, dass das öfter der Fall ist – phasenweise zu-timmen.
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Beatrix Philipp
Ich will aber nicht allzu viel Hoffnung wecken.
Wir sollten uns weiterhin an der Sache orientiert aus-einander setzen.Sie wissen auch, dass ich immer für das Zuschüttenvon Gräben bin. Vielleicht könnte man das durch die vonIhnen angeregte Anhörung erreichen. Es war aber auchwieder nur so halb richtig. Richtig ist, der Deutsche Bun-destag hat sich 2003 darauf verständigt, aber nur mitMehrheit. Wir sind schon damals – wie Sie sich sicher-lich erinnern können – gegen das jetzt zur Diskussionstehende Datenschutzaudit gewesen, weil wir gesagt ha-ben, es wird in erheblichem Maße den Mittelstand unddie Industrie belasten. Und nach wie vor sind wir derAuffassung, dass es Dinge gibt, für die wir keine Ge-setze brauchen, die von den Betroffenen im Zweifelsfallalso selbst geregelt werden können. Das wird sicherlich– da stimmen wir zu – in der Ausschussberatung nocheinmal eine Rolle spielen.Es ist sicher auch immer interessant, wenn nach undnach der Sand im Getriebe der letzten Regierungskoali-tion sichtbar wird. Das ist sicher interessant, aber es istnicht immer zielführend und manchmal auch nicht nach-vollziehbar.Die Bedenken, die es dagegen gegeben hat, diesesAusführungsgesetz zu schaffen, teilen wir heute nochimmer. Wie gesagt, im Jahr 2000/2001 sind ausführlicheDebatten über diesen § 9 a BDSG geführt worden. Ichglaube, im Moment müssen wir alles andere tun, als diemittelständische Wirtschaft, die es in den meisten Fällenbetrifft, zusätzlich zu belasten.Sie haben darauf hingewiesen, was wir damals mitge-tragen haben:Zur Verbesserung des Datenschutzes und der Da-tensicherheit können Anbieter von Datenverarbei-tungssystemen und -programmen und datenverar-beitende Stellen ihr Datenschutzkonzept sowie ihretechnischen Einrichtungen durch unabhängige undzugelassene Gutachter prüfen und bewerten lassensowie das Ergebnis der Prüfung veröffentlichen.
Damit sind wir völlig einverstanden. So weit, so gut.Dann heißt es aber weiter:Die näheren Anforderungen an die Prüfung … so-wie die Auswahl und Zulassung der Gutachter wer-den durch besonderes Gesetz geregelt.Das haben wir schon damals nicht für richtig gehaltenund eigentlich haben sich die Bedingungen, die damalsdazu geführt haben, dass wir Nein gesagt haben, eherverschärft, wenn ich mir im Augenblick die Situation an-schaue.kl–SwbDZshsnrclWhßinKdtfss–zDAtWfuzfgISFeb
Jawohl, das ist gut. Mit dieser Inaussichtstellung habenie vier Jahre lang gelebt und das eigentlich nicht er-ähnt, nun sollen wir aber unverzüglich Ihre Hausaufga-en machen.
as ist eigentlich nicht so ganz in Ordnung.Was könnte in solchen Anregungen denn stehen?weifellos Bewertungsmaßstäbe, die dazu geeignetind, dass der Verbraucher etwas mehr Sicherheit – Sieaben das Vertrauen genannt – empfindet. Dagegen isticherlich überhaupt nichts zu sagen. Wir wehren unsur dagegen, dass staatlicherseits, vonseiten der Regie-ung, ein Gesetz mit diesem Inhalt, wie Sie es angespro-hen haben, erlassen wird.Wir sind in Sachen Datenschutz auch kein Entwick-ungsland. Ich denke, das muss man auch einmal sagen.ir haben Kontrollinstanzen, wir haben Aufsichtsbe-örden, die kontrollieren. Wir haben in großen und grö-eren Firmen betriebliche Datenschutzbeauftragte, diehrer Aufgabe sehr intensiv und verantwortungsvollachkommen. Also würde damit so etwas wie eine dritteontrollinstanz geschaffen werden. Das halten wir vorem Hintergrund des angestrebten Abbaus von Bürokra-ie für nicht ganz richtig.Ich habe heute Morgen die Debatte aufmerksam ver-olgt und dabei gedacht: Es gibt zwischen Ihnen und unschon einen wesentlichen Unterschied in der Auffas-ung, wie man mit Daten und Datenschutz umgeht.
Das ist wirklich so. Das hat sich heute Morgen bis hinur Debatte über die Terrorismusbekämpfung gezeigt.atenschutz ist für mich immer noch eine Frage derbwägung. Vielleicht ist es hier oder da tatsächlich nö-ig, diese Abwägung anders vorzunehmen. Oder besser:ir nehmen sie anders vor als Sie und sind im Zweifels-all bereit, im Sinne der Terrorismusbekämpfung hiernd da Einschränkungen der persönlichen Freiheit hin-unehmen, wenn das tatsächlich zu mehr Sicherheitührt.Vielleicht müssen diese Dinge mehr offen ausgetra-en werden. Wir sind dafür, dass man die Wirtschaft, diendustrie auffordert, sich in diesem Sinne mehr derchaffung eines Gütesiegels zu öffnen, als das bisher derall ist. Ich stimme Ihnen auch zu, um Wildwuchs kanns dabei nicht gehen.Ich denke, darüber werden wir uns in der Ausschuss-eratung intensiv austauschen. Diesem Antrag auf
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Beatrix PhilippAusschussberatung werden wir selbstverständlich auchzustimmen.Vielen Dank.
Die Kollegin Gisela Piltz hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sprechen heute über ein Versäumnis der letzten Bun-desregierung; das ist schon mehrfach angesprochen wor-den. Es droht aber immer mehr zu einem Versäumnisdieser Bundesregierung zu werden.Bereits im Jahr 2001 – auch das wurde schon ausge-führt – wurde das Datenschutzaudit als bloße Pro-grammnorm in das Bundesdatenschutzgesetz aufge-nommen. Damit kann es aber leider nicht umgesetztwerden. So ist das im Leben. Bereits im Dezember 2004hat es in diesem Hause zu diesem Thema einen aus mei-ner Sicht ziemlich eindeutigen – einstimmigen – Be-schluss gegeben. Für diejenigen, die ihn vergessen ha-ben, lese ich ihn mit Ihrer Genehmigung vor. InDrucksache 15/4597 steht:Der Deutsche Bundestag erwartet, dass die Bundes-regierung noch in dieser Legislaturperiode ein Aus-führungsgesetz zu § 9 a des Bundesdatenschutzge-setzes vorlegt, damit dieses wichtige Element derjüngsten Novellierung nicht weiter leer läuft. Dabeiist einer möglichst unbürokratischen Lösung derVorzug zu geben, die sich an den realen Interessender Anbieter und Verbraucher orientiert.Das war aus meiner Sicht – wenn ich das so sagen darf –eine ganz große Koalition für das Datenschutzaudit unddas Datenschutzgütesiegel.
Heute wurde oft gesagt: Im Prinzip wollen wir es;aber nicht so. Ich sehe keinen Grund, warum wir nichteinen für alle gangbaren Weg finden sollten. Aus meinerSicht spricht nichts dagegen.
Es ist eine Sache, dass die letzte Bundesregierung dasnicht geschafft hat. Frau Stokar, Sie dürfen es mir nichtübel nehmen, dass ich es lustig finde, dass Sie – ebensowie wir – einen Antrag gestellt haben; schließlich konn-ten Sie das bei Herrn Schily lange nicht durchsetzen. Ichhabe eine Ahnung, warum das so war.
– Damit endet sie nicht. Wenn man sich aber an das erin-nert, was in der letzten Legislaturperiode passiert ist undwmTösDoGssbItMvdlTSehdaaszgkWmGlwvSgsus–tShgmza
ie haben wir häufig nicht gehört. Die FDP stand damitft alleine. Das wissen Sie genau.
Aus unserer Sicht sind ein Datenschutzaudit und einütesiegel sinnvoller denn je; denn immer mehr Men-chen tummeln sich im Internet. Das Datenschutzgüte-iegel hat zwar nicht nur mit dem Internet zu tun; wirrauchen es aber insbesondere für Transaktionen imnternet. Wenn wir wollen, dass die Menschen das In-ernet nutzen – übrigens möchte auch der Staat, dass dieenschen das Internet nutzen, um über E-Governmentiele Behördengänge zu sparen –, dann macht es Sinn,afür zu sorgen, dass die Nutzer sich mittels eines simp-en Verfahrens darüber informieren können, ob ihreransaktionen sicher sind. Dafür könnte dieses Siegelorge tragen. Deshalb unterstützen wir das.Dem Gütesiegel wird häufig entgegengehalten, dasss zu viel Bürokratie mit sich brächte. Frau Philipp, dasaben auch Sie vorhin gesagt. Wenn wir ein typischeutsches Verfahren installieren würden, wenn wir eslso überfrachten würden, wäre das der Fall. Ich glaubeber, dass man auch ein relativ einfaches Verfahren in-tallieren kann: Man kann klare Kriterien setzen, die ein-uhalten sind. Ich glaube, dass wir ein solches Genehmi-ungsverfahren, das nicht typisch deutsch ist, erfindenönnen.Ein solches Verfahren wäre flexibel und würde dieirtschaft wenig belasten. Eines ist klar: Die FDPöchte den Mittelstand nicht weiter belasten. Ganz imegenteil: Wir wollen dem Mittelstand – überhaupt al-en deutschen Unternehmen – eine Chance bieten; dennir halten es für einen Wettbewerbs- und Innovations-orteil, wenn deutsche Unternehmen mit einem solcheniegel werben können.Dass das geht und dass die Welt davon nicht unter-eht, zeigen die Erfahrungen, die man in Schleswig-Hol-tein gesammelt hat. Schleswig-Holstein hat als erstesnd einziges Bundesland ein solches Ausführungsge-etz.
Private können aber darauf zurückgreifen. Es ist in ers-er Linie nur für staatliche Stellen. Aber wenn privatetellen für den Staat arbeiten, können sie das ebenso er-alten.Von daher denke ich, dass die Welt nicht untergegan-en ist. Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn ein Landit einem solchen Gesetz Erfahrungen gemacht hat, dieeigen, dass es geht. Wir halten es für sinnvoll, das jetztuch für private Unternehmen möglich zu machen. Ich
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Gisela Piltzglaube, dass nichts dagegen spricht. Wenn ich die Redevon Frau Philipp richtig verstanden habe, dann kommeich zu dem Schluss, dass wir uns in einem Berichterstat-tergespräch darüber verständigen sollten, wie wir mitdem Thema umgehen. Denn ich finde, es sollte nicht da-ran scheitern, dass die einen es so und die anderen es an-ders verstehen. Wir sollten im Interesse des Datenschut-zes und der Nutzer ein solches Siegel einführen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Michael
Bürsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies istder Tag der großen Gemeinsamkeiten. Nicht nur bei derDebatte über das Bundesamt für Justiz, sondern auchhier werden wir feststellen, dass es inhaltlich keine ent-scheidenden Meinungsunterschiede gibt, allenfalls Un-terschiede hinsichtlich des Zeitpunkts. Datenschutz – dasind wir uns alle einig – ist einerseits eine sehr wichtigeMaterie, andererseits leider auch eine sehr komplexe.
Deshalb richte ich im Voraus eine grundsätzliche Be-merkung an Frau Kollegin Stokar und an die Adresse derFDP. Bei der Diskussion über Regelungen zum Daten-schutz, wie sie heute auf der Tagesordnung stehen, sindvor allem Gründlichkeit und Genauigkeit geboten.Schließlich geht es um ein essenzielles Bürgerrecht, daswir mühsam erkämpft haben, nämlich um die informa-tionelle Selbstbestimmtheit des einzelnen Bürgers undder einzelnen Bürgerin. Diese Selbstbestimmtheit ist inunseren Augen – zumal wir heute in einer Wissensge-sellschaft leben – zentraler Bestandteil der subjektivenFreiheitsrechte und deshalb ein besonders schützenswer-tes Gut.Die Wissens- und Informationsgesellschaft ist da-durch charakterisiert, dass in ihr ein immer größerer Da-tenstrom in Bewegung gerät, der durch sämtliche Berei-che des modernen Lebens fließt und immer mehrInformationen über den einzelnen Menschen – als Kon-sument oder als Kunde – erfasst werden. Die zuneh-mende weltweite Vernetzung von Computern erhöhtganz wesentlich die Möglichkeit von Datenmissbrauchund -manipulation. Sie stellt für den Einzelnen einekaum noch zu überblickende Gefahr für die Souveränitätseiner Handlungen und Entscheidungen dar.
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Das führt mich zu meinem zweiten Punkt, der ausem ersten folgt: Datenschutz darf für Unternehmen undienstleister in Zukunft nicht mehr als Verhinderungs-der Abschreckungsinstrument gelten. Vielmehr – da-auf hat der Datenschutzbeauftragte wiederholt hinge-iesen – müssen die positiven Aspekte des Datenschut-es als Bestandteil der Qualität der angebotenenienstleistungen betont werden.Das Datenschutzaudit muss sich aus meiner Sicht zuinem echten Standortvorteil für Unternehmen entwi-
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Dr. Michael Bürschckeln. Wirtschaftlicher Erfolg muss sich unmittelbar ausder Freiwilligkeit solcher Datenschutzmaßnahmen erge-ben. Die Frage nach Art und Umfang eines Daten-schutzauditgesetzes muss daher besonders genau geprüftwerden.An genau dieser Stelle setzen wir mit unseren nochbestehenden Bedenken an. Sie sind nicht inhaltlicher,sondern im Wesentlichen zeitlicher Natur. Zum Gesetz-gebungsverfahren gehört unermüdliche Überzeugungs-arbeit: in der Politik, in der Wirtschaft und natürlichauch innerhalb der Verwaltung. Schließlich ist es dieVerwaltung, die für die Umsetzung zuständig ist.Frau Kollegin Stokar, aufgrund unserer Erfahrungenmit dem Informationsfreiheitsgesetz wissen wir: Es hatlange gedauert – das ist unbestritten –, aber letztendlichhaben wir gesiegt. Wir haben ein Gesetz zustande ge-bracht. Sechs Jahre sind zwar eine lange Zeit, aber derErfolg hat uns Recht gegeben.
Wir haben diese Zeit genutzt, um auch die Verwaltungdavon zu überzeugen, dass dieses Vorhaben sinnvoll ist.Denn es nützt nichts, wenn man es mit einer Verwaltungzu tun hat, die eine Maßnahme nicht unterstützen will.
Kollege Bürsch, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Stokar zulassen?
Ich nehme gerne eine Zwischenfrage von Frau Stokar
und auch von jedem anderen Mitglied dieses Hohen
Hauses entgegen. Frau Kollegin, da wir in der vorigen
Koalition zusammengearbeitet haben, freue ich mich na-
türlich ganz besonders auf Ihre Frage.
Herr Kollege Bürsch, nachdem die SPD-Fraktion das
Datenschutzauditgesetz unter Rot-Grün sieben Jahre
lang trotz inhaltlicher Debatten blockiert hat – darauf
hatte ich hingewiesen – und Sie sich heute hier hinstellen
und sagen, für die SPD-Fraktion sei noch nicht der rich-
tige Zeitpunkt gekommen, frage ich Sie: Könnten Sie
mir mitteilen, wann in etwa die SPD Ihrer Meinung nach
in der Lage sein wird, im Hinblick auf ein modernes Da-
tenschutzauditgesetz eine Entscheidung zu treffen?
Frau Kollegin, ich kann Ihnen mit nur einem einzigen
Wort antworten: bald.
Gut Ding braucht Weile. Wie es auch beim Informa-
tionsfreiheitsgesetz der Fall war, haben wir die Zeit sinn-
voll genutzt. Wir nutzen sie auch weiterhin. Momentan
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Zusammengefasst möchte ich sagen: Gerne schließen
ir uns inhaltlich dem Ansinnen der Grünen, der Libera-
en und all derer in diesem Hohen Hause, die den Daten-
chutz hochhalten wollen, an. Aber wie schon beim In-
ormationsfreiheitsgesetz brauchen wir noch Zeit, um
irklich alle, die dieses Gesetz anwenden sollen, ins
oot zu holen. Denn wenn es um die Abwehr von un-
iebsamen Gesetzen geht, zeigt sich, wie viel Fantasie
ine Verwaltung haben kann; das wissen wir. Ich kann
as aufgrund meiner zehnjährigen Verwaltungserfahrung
estätigen.
Das Motto im Hinblick auf das Datenschutzauditge-
etz, das wir alle wollen, lautet: Ende gut, alles gut, und
as bald.
Der Kollege Jan Korte spricht nun für die Fraktion
ie Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das,as ich jetzt sage, kann man als Mitglied der Linksfrak-ion nicht oft sagen: Heute liegen zwei überraschendute Anträge vor, die wir aus vollem Herzen unterstüt-en.Die Kollegin Piltz hatte Recht – ich habe im Protokollachgesehen –: Im Jahre 2001 gab es in diesem Hauseine regelrechte Aufbruchstimmung, als man sich vor-ahm, Europas modernstes Datenschutzrecht zu schaf-en. Allein seine Umsetzung funktioniert nicht; das müs-en wir heute erneut zur Kenntnis nehmen. Auch imebruar 2005, als es um den 19. Tätigkeitsbericht desatenschutzbeauftragten ging, waren die Erwartungenoch. Es ist einstimmig beschlossen worden, noch in der5. Wahlperiode, ein Ausführungsgesetz vorzulegen.eschehen ist nichts.
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Jan KorteDas betrifft nicht nur das Auditgesetz, sondern auch dasGendiagnostikgesetz und den Arbeitnehmerdaten-schutz. Da fragt man sich schon, ob das nicht Systemhat. Offensichtlich will die Mehrheit dieses Hauses esnicht.SPD und Grünen muss ich in diesem Falle zur Seitestehen: Dass es in der 15. WP nicht geklappt hat, einAusführungsgesetz zu verabschieden, hat etwas damit zutun, dass diese Wahlperiode – zum Glück – wesentlichkürzer ausgefallen ist. Deshalb haben Sie dies nichtmehr umsetzen können; das will ich zu Ihren Gunstengerne anmerken.Zu den beiden Anträgen. Ich finde, dass das ThemaDatenschutz nach wie vor aktuell ist, weil viele Unter-nehmen personenbezogene Daten ihrer Kunden mit tech-nischen Mitteln verarbeiten müssen. Insbesondere diekleinen Unternehmen dürfen den Schutz dieser Datennicht als lästige Behinderung ihrer Geschäftstätigkeitwahrnehmen, sondern müssen ihn als Qualitätsmerkmalund als Vermarktungschance begreifen. Gerade die klei-nen und mittleren Unternehmen werden dankbar dafürsein, wenn sie vorbildlichen Schutz der ja wirklich sen-siblen Daten ihrer Kunden durch ein Gütesiegel doku-mentieren können. Das ist ein konkreter Vorteil gegen-über den großen Konzernen, wenngleich diese das unterfinanziellen Gesichtspunkten schon jetzt realisieren kön-nen.
– Danke.Ich bin mir sicher, dass das Niveau des Datenschutzesdadurch insgesamt steigen wird und dass die Menschenin diesem Lande dadurch für die Bedeutung des Daten-schutzes insgesamt stärker sensibilisiert werden. Nichtzuletzt sind die Verbraucherinnen und Verbraucher dieNutznießer eines geregelten Auditverfahrens mit ver-gleichbaren Standards. Anhand eines Auditsiegels erhältjeder Bürger die Möglichkeit, konkret zu prüfen, ob der,dem er Zugriff auf seine schützenswerten Daten zu ge-währen gedenkt, ein seriöser Geschäftspartner ist. Auchdeswegen ist dieser Vorschlag sinnvoll.Ich glaube, über das, was der Kollege Bürsch gesagthat, herrscht Einigkeit in diesem Hause. Deswegen freueich mich, dass auch wir von der Linksfraktion heute ge-meinsam mit allen anderen Fraktionen diesen beidenAnträgen zustimmen können.
Das ist eine schöne Sache. Es wäre allerdings schön,wenn das öfter so wäre.
– Das liegt nicht an uns, das hängt von der Qualität des-sen ab, was uns vorgelegt wird.
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Ich schließe die Aussprache, muss allerdings den Kol-egen Korte enttäuschen: Heute kann nicht einstimmigbgestimmt werden, weil interfraktionell vorgeschlagenst, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/1499 und6/1169 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-chüsse zu überweisen – es sei denn, es kommt jetzt ausem Plenum der Vorschlag, anders zu verfahren.
Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-ungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 d auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Katherina Reiche ,Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-neten Marco Bülow, Dirk Becker, PetraBierwirth, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDDeutschlands Verantwortung national undinternational mit einer umfassenden Strategiezur biologischen Vielfalt wahrnehmen– Drucksache 16/1996 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht der Bundesregierung zur Lage derNatur– Drucksache 15/5903 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
SportausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismus
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Vizepräsidentin Petra Pauc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Cornelia Behm, UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENNationale Biodiversitätsstrategie zügig vor-legen– Drucksache 16/1497 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
SportausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismusd) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Rainder Steenblock,Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENVerstöße gegen FFH-Richtlinie umgehendabstellen– Drucksache 16/1670 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch dazu höreich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bundes-minister Sigmar Gabriel das Wort.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Überden Bericht der Bundesregierung zur Lage der Natur unddie dazu vorliegenden Anträge wird heute gemeinsamberaten. Ich glaube, es ist sinnvoll, darauf hinzuweisen,dass der Bericht der Bundesregierung zur Lage zur Naturnoch aus der letzten Legislaturperiode stammt. EinemAuftrag des Parlaments folgend wurde damit erstmalsauf der Basis aktueller naturwissenschaftlicher Dateneine politische Bewertung durch die Bundesregierungvorgenommen.Im Ergebnis wird in diesem Bericht eine ganze Reihevon Hausaufgaben formuliert, die wir noch zu erledigenhaben. Ich nenne die wichtigsten: Es wird die Entwick-lung einer nationalen Strategie zum Schutz der biolo-gischen Vielfalt gefordert, es wird die Dringlichkeit desSchutzes des nationalen Naturerbes unterstrichen und eswird gefordert, Deutschland solle mehr Verantwortungim internationalen Naturschutz wahrnehmen.Ich will zu diesen Hausaufgaben nur so viel sagen:Wir haben diese nationale Strategie zum Schutz der bio-logischen Vielfalt erarbeitet. Sie befindet sich derzeit inder Ressortabstimmung. Wir werden darüber im Hausesrtn1mtRzusg–sdrVs–mwVtseTwzwfDMsoSBdsDtFdh
Es ist selten, dass Sie von den Grünen als Erstes klat-chen, aber ich glaube, es gibt noch genug Themen, überie wir miteinander debattieren müssen.Ich finde, es war eine gute Entscheidung der Bundes-egierung, die nächste UN-Konferenz zur biologischenielfalt nach Deutschland einzuladen. Im Jahre 2008ind wir Gastgeber.
Jetzt klatschen die Bonner zuerst. – Ich glaube, wennan so etwas tut, dann ist es auch richtig, darauf hinzu-eisen, dass das Gastgeberland natürlich eine besondereerantwortung dafür hat, im eigenen Land dazu beizu-ragen, dass die vorhandene Artenvielfalt nicht mehr sotark bedroht wird. Deswegen will ich zu Beginn gernein paar Bemerkungen dazu machen.Schauen Sie sich um! Wir diskutieren über dieseshema und mit einigen wenigen Ausnahmen, über dieir Fachpolitiker uns sicher ganz besonders freuen, sit-en im Wesentlichen die Fachpolitiker hier. Ich glaube,ir müssen zugeben, dass das Thema biologische Viel-alt, Artenvielfalt nicht im Mittelpunkt der öffentlichenebatte steht. Wir haben nicht den Eindruck, dass vieleenschen Verständnis dafür haben.Wann regen sich die Menschen bei uns auf? Das tunie, wenn sie merken, dass Wilderer in Afrika Elefantender Löwen töten, weil das für uns natürlich wichtigeymboltiere sind. Wenn es bei uns aber darum geht, einiotop zu schützen, dann macht man sich schnell überen Feldhamster oder die Mopsfledermaus lustig, weilie uns weniger interessieren. Man muss offen sagen:er Schutz unserer kleinen Biotope ist im Kern der Auf-rag, den wir in unserem Land zu erfüllen haben. Dereldhamster und die Mopsfledermaus oder auch Bruno,er Bär, sind eben die Tiere, die wir bei uns zu schützenaben.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5733
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Bundesminister Sigmar GabrielEs ist sehr schwer, den Afrikanern klar zu machen,dass sie ihre Elefanten und Löwen nicht töten sollen,wenn bei uns der erste Braunbär, der um die Eckekommt, erschossen wird.
– Ja, ich hatte viel Verständnis für die schwierige Lagedes Kollegen Schnappauf, trotzdem ist das internationalschwer zu verstehen, was durch die entsprechenden Dis-kussionen deutlich wird. – Für die Afrikaner und dieAsiaten ist es auch schwer zu verstehen, dass wir ihnenimmer kluge Ratschläge geben, wie sie die von uns sosehr geliebten Großtiere doch bitte schützen sollen,wenn sie gleichzeitig sehen, dass die Artenvielfalt beiuns dramatisch abnimmt, weil wir für die bei uns heimi-schen Arten relativ wenig tun und weil wir nicht bereitsind, sie zu schützen.Dass die Artenvielfalt bei uns zurückgeht, wird durchein paar Zahlen, wie ich finde, dramatisch deutlich:Weltweit gibt es 400 000 bis 450 000 Pflanzen- und Pilz-arten. In Deutschland haben wir ganze 7 Prozent davon.Man muss wissen, dass von den Biotopen, die wir fürden Schutz dieser Pflanzen und Pilze haben, über60 Prozent bedroht sind. Weltweit gibt es über1,4 Millionen Tierarten. In Deutschland haben wir weni-ger als 4 Prozent davon. Davon sind mehr als 36 Prozentvom Aussterben bedroht.Das heißt, wenn wir über Artenvielfalt und Biodiver-sität reden, dann reden wir gleichzeitig über eine drama-tische Lage in unserem Land. In Europa ist sie übrigensnicht viel anders. Wir sind weit davon entfernt, die 2010-Ziele zum Stopp des Rückgangs der weltweiten Arten-vielfalt in unserem eigenen Land und in Europa zu errei-chen. Wenn wir es mit dem Thema ernst meinen, dannmüssen wir es schaffen, dass das öffentliche und auchdas politische Interesse über die Fachpolitik hinausgeht.Wir können jetzt eine Menge über den Antrag derGrünen zur FFH-Richtlinie und über den Antrag derKoalitionsfraktionen diskutieren. All das wird geduldi-ges Papier bleiben, wenn es uns nicht gelingt, beimnächsten Mal eine Öffentlichkeit zu erreichen, die überdie hier im Parlament Anwesenden hinausgeht, was auchmit der Tageszeit zusammenhängt, zu der wir über die-ses Thema diskutieren.
– Ich sage das durchaus selbstkritisch. Diese Kritik istnicht an einen Einzelnen gerichtet. Aber wir müssen einegrößere Öffentlichkeit erreichen, sonst haben wir mitdiesem Thema keine Chance und sonst bleibt all das,was wir sagen und aufschreiben, relativ bedeutungslos.Man kann zu diesem Thema unterschiedliche Zu-gänge finden. Vielleicht ist der Zugang, den wir traditio-nell wählen, an das Verständnis zu appellieren und dieBedeutung der Schöpfung hervorzuheben, wichtig. Aberer ist nicht schlagkräftig genug, um andere davon zuüberzeugen, dass dieses Thema über die Fachpolitik hi-nsefhgngmmaZdzdmGacssRvvgddöaueLnrEtwhseglUtinC–md
enn davor können wir uns nicht drücken.
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5734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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)Bundesminister Sigmar GabrielWenn man sehr viel Wasser nutzen muss, um aus ei-ner Kartoffel ein bisschen Stärke für die chemischeIndustrie zu gewinnen, und wenn es in Zukunft eine Kar-toffelsorte gibt, bei der nicht die Gefahr der Ausstäu-bung oder der Kontamination auf andere landwirtschaft-liche Flächen besteht und die auch nicht dieMikroorganismen in der Erde verändert, bei der manaber gleichzeitig weniger Wasser braucht, um sogarmehr Stärke für die chemische Produktion bereitzustel-len, dadurch weniger Abwasser verbraucht und damitdie Umwelt weniger belastet. Dann müssen wir zumin-dest darüber reden, ob es sich nicht lohnt, diesem For-schungsprozess nachzugehen.
– Ich sage nicht, dass man darüber nicht unterschiedli-cher Auffassung sein kann. Aber man kann dieser Fragenicht ausweichen, wenn man weiß, dass aus 6,5 Milliar-den irgendwann 9 Milliarden Menschen werden.
– Die Frage, ob wir dieses Wissen nur dazu benutzen, esuns gegenseitig vorzuhalten, sagt auch etwas über dieErnsthaftigkeit der Debatte aus.Mir geht es in der Sache um Folgendes: Wenn wirmerken, dass wir mit dem altruistischen Zugang, die Ar-tenvielfalt zu schützen, nicht weit genug gekommensind, müssen wir einen zweiten Zugang, nämlich ökono-mische Vernunft, bei der Frage anmahnen, ob wir zulas-sen, dass die Artenvielfalt immer geringer wird. Dennwenn die Intelligenz der Natur in Zukunft stärker genutztwerden soll, dann darf man natürlich nicht die Dumm-heit begehen, den Bestand der Natur ständig zu verrin-gern, wodurch immer mehr Pflanzenarten, immer mehrTierarten, immer mehr Fläche, immer mehr Biotope ver-loren gehen,
sondern dann muss ein ökonomisches Interesse beste-hen, die Artenvielfalt zu erhalten. Ich sage das selbstver-ständlich nicht, um damit eine Ökonomisierung herbei-zuführen, bei der nur noch das Bestand hat, was einemwirtschaftlichen Verwertungsinteresse entspricht.
Herr Minister Gabriel, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Koppelin – was auch ermöglichen
würde, die Redezeit genauer einzuschätzen?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Wenn ich erst den Gedanken zu Ende führen darf,
gerne.
Ich meine ausdrücklich nicht, dass man die Rechtfer-
tigung des Naturschutzes aus sich selbst heraus an die
Seite stellen und nur noch ökonomisches Verwertungsin-
teresse im Blick haben sollte. Aber mich bedrückt, dass
diese Diskussion die Mitte der Gesellschaft noch lange
nicht erreicht hat. Deshalb müssen wir dafür Sorge tra-
gen, dass bei der Frage, ob wir die Artenvielfalt erhalten
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Bitte schön, Herr Koppelin.
Herr Bundesminister, da mir an Ihrer Rede auffällt,
ass überwiegend nur CDU/CSU und FDP klatschen:
ann es sein, dass die SPD-Fraktion das, was Sie sagen,
och nicht begriffen hat?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
chutz und Reaktorsicherheit:
Nein, die SPD-Fraktion hat das von mir so oft gehört
nd so viel Beifall geklatscht, dass sie sich derzeit mit
reundlicher Zustimmung zufrieden gibt. Das ist der ein-
ige Grund, Herr Kollege Koppelin.
Ich habe gedacht, die Ernsthaftigkeit der Debatte ist
urch Ihre Anwesenheit größer. Manchmal nützt natür-
ich Anwesenheit allein nichts, Herr Koppelin; man
uss auch versuchen, in die Sache einzusteigen.
Meine Damen und Herren, ich habe – das sage ich in
ller Offenheit – jetzt nichts von dem vorgetragen, was
ir das Haus klugerweise zu dem Thema aufgeschrieben
at. Ich könnte eine Menge zur FFH-Richtlinie und zu
nderen Themen sagen. Ich bin froh, dass wir es ge-
chafft haben, dass die Klagen zurückgenommen worden
ind, dass wir alle pünktlich gemeldet haben und dass
ir Natura 2000 erreicht haben. Das ist übrigens auch
in Erfolg der großen Koalition, in sehr vertrauensvoller
usammenarbeit mit den Ländern. Auf diese Ausführun-
en verzichte ich jetzt und gebe sie notfalls zu Protokoll,
alls dazu die Chance besteht.
Ich wäre aber dankbar, wenn Sie mithelfen würden,
ie entscheidende Menschheitsfrage, wie wir mit unserer
iologischen Vielfalt in den kommenden Jahren umge-
en, mehr in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen und
ielleicht etwas ernsthafter mit dem Thema umzugehen,
ls sich nur gegenseitig vorzuwerfen, wer gerade
latscht und wer nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Minister, es geht nicht, dass Sie Ihre Rede zurotokoll geben. Aber ich denke, die Werbung war soeutlich, dass die Kollegen, die das alles nachlesen wol-en, sich Ihr Manuskript gern bei Ihnen abholen.
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Vizepräsidentin Petra PauDas Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst fürdie FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieSorge um die sich beschleunigende Abnahme der Arten-vielfalt ist groß. Die Abnahme betrifft alle Regionen die-ser Welt. Es geht um den Erhalt der Biodiversität. Das istein schweres Wort. Wenn ich damit vor Ort argumen-tiere, dann fragen alle Hörer erst einmal: Was, bitteschön, ist das denn? – Ich denke, wir sollten, um dasThema ein bisschen unter die Leute zu bringen, diesenBegriff vielleicht nur in den Fachgremien benutzen. Ichspreche jetzt – ich hoffe, ich halte es durch – von der Ar-tenvielfalt.Das ist auch für die FDP ein wichtiges Thema. Wirhaben uns diesbezüglich gerade in dieser Sitzungswochemit den Naturschutzverbänden getroffen, um herauszu-finden, was für sie die Topthemen sind. Dabei wurdedeutlich, dass auch dieses Thema bei ihnen einTopthema ist.Ich will jetzt keine Zahlen nennen, wie groß der Ver-lust ist oder wie weit wir bereits von der Substanz leben,sondern ich will nur darauf hinweisen, dass wir von derSubstanz leben und dass wir dafür sorgen müssen, dassdieser Zustand gestoppt wird. Um das wirklich zu schaf-fen, bedarf es sehr starker Anstrengungen. Der Ministerhat den Erfolg eben schon zumindest mit einem Frage-zeichen versehen. Die Bundeskanzlerin hat angekündigt,den Schutz der biologischen Vielfalt unter der EU-Rats-präsidentschaft ab 2007 und der Führung des G-8-Gip-fels zu einem Topthema zu machen.Ich möchte – aus nationaler Sicht betrachtet – daraufhinweisen, dass es zum guten Stil gehört – das gilt zu-mindest für die Liberalen –, sich mit Vertretern von wis-senschaftlichen Einrichtungen zu treffen, um das eigeneWissen zu komplettieren. Wir haben in diesem Sommerwissenschaftliche Einrichtungen insbesondere an derKüste besucht, um uns über die Meere zu informieren.Dort ist das Hauptaugenmerk zunächst einmal darauf ge-richtet, die Artenvielfalt zu dokumentieren; denn dieMeere sind noch weitgehend unerforscht.Ich bin von den Wissenschaftlern darauf hingewiesenworden, dass wir Politiker unser Hauptaugenmerk weni-ger auf Grenzwerte oder Konzentrationen als auf Wir-kungsketten im Ganzen richten sollten. Das bedarf einesregen Dialogs und Kontakts mit den Fachleuten.
Deutschland wird im Mai 2008 die neunte CBD-Ver-tragsstaatenkonferenz der Vereinten Nationen ausrich-ten. Ich hatte die Möglichkeit, an der siebten Konferenzin Malaysia teilzunehmen. Ich kann bezeugen, dass dieVerhandlungsführung der deutschen Mitarbeiter dort einsehr hohes Ansehen genossen hat. Das wünsche ich mirauch für die Zukunft. Wir waren dort Ansprechpartnerfür viele kleinere Nationen. Ich denke, wir waren insbe-sondere deswegen so interessant für die anderen, voratnkEegnNFrklzbstbLlDImgaPscwsdsscGeesnizthrlsBSgpw
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Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen istdas härteste Thema überhaupt. Die Natur braucht unsnicht, aber wir brauchen die Natur. Ich könnte jetzt leichtund locker einige Gefährdungen aufzählen, denen unserenatürlichen Lebensgrundlagen heutzutage ausgesetztsind. Ich könnte die Degradierung von Ökosystemennennen, auf die Zerstörung der Regenwälder hinweisen,die Überfischung der Meere anprangern, die Folgen desKlimawandels analysieren sowie auf das größte Arten-sterben seit der Zeit der Dinosaurier eingehen. Diese undandere Gefährdungen werden aber bei allen möglichenGelegenheiten und zur Genüge aufgezählt. Ich will dasnicht wiederholen. Zwar müssen wir – selbstredend – dieGefährdungen beim Namen nennen, brauchen wir diffe-renzierte wissenschaftliche Fakten über die Natur, dieÖddrcnsmStiEzdnbsWcuGzWhwsEaeuksgbrtmwBrkeSNvEüzrstu
Das Leitplankenkonzept des Wissenschaftlicheneirats der Bundesregierung Globale Umweltverände-ungen, WBGU, ist in meinen Augen ein solcher zu-unftsorientierter Ansatz. Oft wird davon gesprochen,inen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen deschutzes der Natur und den berechtigten Interessen derutzung zu finden. Das klingt zunächst gut und ist beiielen Einzelentscheidungen auch der richtige Weg. Dierfahrung lehrt aber, dass allzu oft die Natur angesichtsbermächtiger Interessen im Endeffekt den Kürzerenieht und ein vermeintlich gerechter Ausgleich der Inte-essen einer Prüfung am Prinzip der Nachhaltigkeit nichttandhält, weil der Naturhaushalt eben doch derart belas-et wird, dass zukünftigen Generationen Entwicklungs-nd Nutzungsmöglichkeiten genommen werden. Das
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Marie-Luise DöttLeitplankenkonzept des WBGU sieht demgegenübervor, Grenzen zu definieren, deren Überschreitung jetztoder in der Zukunft intolerable Folgen mit sich bringt.Das Überschreiten dieser Leitplanken in dem Bereichder Nichtnachhaltigkeit sollte dabei so weit wie möglichverhindert werden. Ich halte das deshalb für einen zu-kunftsorientierten Ansatz, weil innerhalb der Leitplan-ken breite Entwicklungsspielräume eröffnet werden.Dieses Konzept, auf den Schutz der Ökosysteme ange-wandt, braucht keine Katastrophenszenarien, sondernöffnet den Blick für eine nachhaltige Zukunft. Genau dasist es, was wir brauchen.
Eine der zentralen Forderungen, also gewissermaßeneine Leitplanke, die sich daraus für die globale Ebene er-geben und die auch der WBGU formuliert hat, ist, reprä-sentative Ausschnitte aller großen Ökosysteme der Erdezu schützen. Hierfür wird ein Netzwerk von Schutzge-bieten benötigt, das repräsentative Beispiele aller natür-lichen Ökosystemtypen der Erde einschließt. Wir tragenin Deutschland beispielhaft mit der Sicherung des natio-nalen Naturerbes zu einem solchen globalen Schutzge-bietsnetz bei. Darauf können wir stolz sein. Wir leistendamit auch einen Beitrag zum Schutz des Klimas; dennein erheblicher Teil des Kohlenstoffs ist in den Wäldern,den Mooren und auch in den tierischen Organismen ge-bunden. Wenn wir diese schützen, verhindern wir zu-gleich die Freisetzung des darin gebundenen CO2 unddamit eine Verschärfung des Treibhauseffektes. Mit gu-tem Recht kann man diese Zusammenhänge sehr kurzzusammenfassen: Naturschutz ist Klimaschutz.Dies gilt natürlich ganz besonders dort, wo immernoch in erschreckend hohem Maße und oft mit wachsen-der Tendenz Raubbau an der Natur betrieben wird.Die CO2-Mengen, die durch die Abholzung des Regen-waldes oder durch die Vernichtung von Mooren und an-deren Feuchtgebieten freigesetzt werden, tragen ganz er-heblich zum Treibhauseffekt bei. Diesen Ländern dabeizu helfen, die Ursachen für den Raubbau zu überwinden,ist also nicht nur eine moralische Pflicht; es ist in unse-rem ureigenen Interesse. Wir müssen unserer internatio-nalen Verantwortung gerecht werden, die wir als großeIndustrienation haben. Dazu gehört, dass wir zuerst un-sere Hausaufgaben machen. Nur dann können wir mitRecht von anderen fordern, ihre Verantwortung ebenfallswahrzunehmen.
Ich weiß, dass das von manchen nicht gerne gehört wird.Aber wir müssen, wie ich schon sagte, in unserem urei-genen Interesse Vorreiter, Beispielgeber und Vorbild beider Verwirklichung des Prinzips der Nachhaltigkeit sein.
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen überdie biologische Vielfalt, die viel zitierte CBD, ist einmodernes Instrument des Naturschutzes, weil es denSchutz der biologischen Vielfalt und ihre nachhaltigeNtssbnldghwsurzzdtSwudgeRDndUwdsdlhcUGwzEKWstHDbc
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Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Lutz
Heilmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Dött, ich muss Sie leider enttäuschen: Ichbin weder Ökofundamentalist noch Pessimist. Ich binOptimist. Ich liebe das Leben und ich liebe meine Fami-lie.
Sie haben den herausragenden Stellenwert des Natur-schutzes gerade deutlich gemacht. Ich möchte nur daranerinnern, dass wir hier am 30. Juni eine Föderalismus-reform verabschiedet haben, die den Naturschutz in dieKleinstaaterei zurückgebracht hat. Wir werden derDinge harren, die da auf uns zukommen.Doch nun zu dem, was ich eigentlich sagen wollte.Am Donnerstag titelte die „Süddeutsche Zeitung“ aufSeite 2: „Tropennächte in Freiburg“. Am Mittwochkonnte man ebenfalls in der „Süddeutschen Zeitung“ le-sen, dass uns langfristig um bis zu 50 Meter steigendeWasserspiegel erwarten werden. Wissen Sie, welcheAuswirkungen sich daraus für das Land Schleswig-Hol-stein, das Land zwischen den Meeren, ergeben? EinBeispiel: Der Bungsberg bei Lübeck hat eine Höhe voncirca 140 Metern über dem Meeresspiegel. Herr KollegeLiebing – ich weiß, Sie wohnen auf Sylt –, haben Siesich schon mal nach einer neuen Wohnung umgeschaut? –Ich möchte zukünftig keinen anderen Wahlkreis haben.Ich möchte weiterhin in Schleswig-Holstein aktiv sein.Darum müssen Maßnahmen ergriffen werden, die si-cherstellen, dass wir weiterhin dort leben können.Angesichts der Auswirkungen des Klimawandelswird die heutige Debatte der Thematik nur zum Teil ge-recht. Lassen Sie mich dazu einige grundsätzliche Ge-danken äußern. Es wurde bereits gesagt: Die Natur istunsere Lebensgrundlage; der Mensch ist Teil der Natur.Die Natur schützt unser Leben und das Leben der nach-folgenden Generationen. Sie ist auch – der Bundesminis-ter hat schon darauf hingewiesen – ein wichtiger Roh-stofflieferant. Bei einer weiteren Schädigung der Naturdurch Artenvernichtung, durch Zerstörung von Lebens-räumen sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen. Las-sen Sie uns deshalb gemeinsam daran arbeiten, der Natureine Chance im Klimawandel zu geben!Wird die derzeitige Politik der Bundesregierung denvor uns liegenden Aufgaben gerecht? Ich sage: Nein.Vielmehr liefert sie Stoff für ein Drama nach Shakespeare.Herr Minister, Sie sprachen die ökologische Vernunft an.Vor Ort lassen Sie das vermissen. Gerade auch Politikeraus Ihrer Partei betreiben zum Beispiel in Lübeck denAusbau des Flughafens und damit eine weitere Ein-schränkung von FFH-Gebieten.Nun einige Gedanken zur Biodiversitätsstrategie.1993 hat die Bundesrepublik Deutschland die Konven-tion aus dem Jahr 1992 unterschrieben. Jetzt haben wirdiTszbDfdtnmduwudtmaesugwrHmudnsvbsBgLtfEns–tAl
üsste sich an Recht und Gesetz halten und das Urteilmsetzen, obwohl ich mir angesichts der von der Bun-esregierung zu dieser Thematik vorgelegten Eckpunkteicht sicher bin, ob das der Fall sein wird. Sie wollenich Zeit nehmen bis zum Jahre 2007 – allein diese Zeit-erzögerung macht deutlich, dass meine Zweifel wohlerechtigt sind –, obwohl – das ist für mich nicht ein-ichtig – nach Einschätzung der Bundesregierung dasundesnaturschutzgesetz lediglich in fünf Paragrafeneändert werden muss.Zurück zum Antrag der Fraktion der Grünen.
iebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen Frak-ion, das Bundesnaturschutzgesetz, das Sie einst als Er-olg Ihrer Regierungszeit betitelten, ist, wie gerade vomuGH festgestellt wurde, ein Freifahrtschein zur Ver-ichtung von Arten. Das sollte Ihnen zu denken geben.Ich appelliere an Sie: Hören Sie auf, an dem Ast zuägen, auf dem wir sitzen! Lassen Sie uns gemeinsamdie Betonung liegt auf „gemeinsam“ – endlich effek-ive Schritte zum Schutz der Natur und zum Schutz derrtenvielfalt tun. Dazu gehören zum Beispiel eine wirk-iche Vernetzung von Schutzgebieten im Rahmen von
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Lutz HeilmannNatura 2000, eine wirklich anspruchsvolle Biodiversi-tätsstrategie, eine Verringerung der Flächenversiegelungund vieles andere mehr.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu tun.Lassen Sie uns ganz einfach anfangen!Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth für die Frak-tion des Bündnisses 90/Die Grünen.Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Liebeverbliebenen Kolleginnen und Kollegen hier im Raum!Liebe Gäste auf den Tribünen! Dass in ungefähr 490 Ta-gen die Bundesrepublik Gastgeberin der 9. Vertragsstaa-tenkonferenz zum Übereinkommen über die BiologischeVielfalt ist, ist mehrfach erwähnt worden und keinem imRaum neu. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass indiesen 490 Tagen rund 49 000 Arten diesen Erdball ver-lassen haben werden. Sie verschwinden – Sie beschrie-ben es vorhin – mit all ihrem Potenzial, mit allem, wasmit Blick auf nachwachsende Rohstoffe und medizini-sche Anwendung in ihnen steckt, mit ihrer Schönheit undmit ihrer Vielfalt. Während in den letzten 200 MillionenJahren ungefähr 90 Arten pro 100 Jahre ausgestorbensind, schaffen wir heute 100 Arten an einem Tag.Ich denke, diese Zahlen haben deutlich gemacht, wiegroß der Handlungsdruck ist; denn das kann nicht gutgehen. Ich frage Sie, Frau Dött, welche fundamentalisti-schen Zukunftspessimisten Sie eigentlich gemeint ha-ben. Auf jeden Fall haben die es nicht zu verantworten,dass wir an diesen Punkt gekommen sind, an einenPunkt, der wahrlich bedenklich ist. Angesichts der Situa-tion, in der wir uns befinden, finde ich die Debatte, diewir hier führen, teilweise ziemlich oberflächlich.
– Warum beschwören Sie denn immer wieder diesesFundamentalistenbild, wenn es darum geht, Dinge ernst-haft beim Namen zu nennen und zu sagen, wie kritischeine Situation ist? Es hilft nichts, nur zu sagen, soschlimm werde das alles schon nicht, wir würden dieKurve noch kriegen.Wir wissen, dass der Klimawandel eines der größtenProbleme für die Artenvielfalt ist. Es wird wärmer. Vie-len Pflanzen mag das gut gefallen – die Stechpalme istRichtung Norden unterwegs; das ist schön –, anderenwird es zu warm. Sie verlassen diese Erde, weil sie denKlimawandel nicht überstehen. Die Arten, die nicht auf-grund der Folgen des Klimawandels sterben oder sichzurückziehen müssen, verschwinden, weil ihnen die be-stäubenden Insekten fehlen oder weil wir ihre Lebens-räume komplett vernichten. Auch da gehen wir munterzur Sache.WdepEgsturbpdkumrDwmrwtRbfwAgmdeTsIFwiddd
Es heißt also, mit den Herausforderungen umzugehennd solche Debatten ernsthaft zu führen. Deshalb ist esichtig, dass der Staatssekretärsausschuss im Jahre 2005eschlossen hat, die Biodiversität zum Schwer-unktthema der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie füras Jahr 2006 zu machen. Nur so ist diese Nachhaltig-eitsstrategie wirklich komplett. Dieses Thema gehörtnbedingt dazu.Herr Heilmann, Sie haben gefragt, was wir bisher ge-acht haben. Das Bundesnaturschutzgesetz war einiesengroßer Fortschritt.
ie Punkte, an denen nachgebessert werden muss, habenir schon damals angesprochen. Es ist doch völlig nor-al, dass man an einem bestehenden Gesetz Verbesse-ungen vornimmt. Wer damals die Debatte miterlebt hat,eiß, was für ein elementarer Fortschritt das Bundesna-urschutzgesetz war.
eden Sie mit den Verbänden! Sie werden es bestätigtekommen.
Die große Koalition, die sich jetzt mit dem Thema be-asst, fängt ja nicht bei null an. Es gab ja bereits den Ent-urf einer Biodiversitätsstrategie aus dem August 2005.llerdings muss ich sagen, dass das Arbeitsklima derroßen Koalition im Moment von einer ziemlichen Ge-ächlichkeit gekennzeichnet ist. Ich glaube nicht, dassas an Ihnen liegt, Herr Minister. Es ist bestimmt nichtinfach – Sie deuteten das auch schon an –, dieseshema zwischen den Ressorts zu verhandeln. Wir müs-en aber mehr daraus machen, als nur darüber zu reden.ch war dabei, als die Bundeskanzlerin in Bonn zu demestakt „100 Jahre Naturschutz als Staatsaufgabe“ eine,ie ich fand, wunderbare Rede gehalten hat. Nur habech leider den Eindruck, dass das Beste an der Rede ist,ass man sie zitieren kann. Ich habe nicht den Eindruck,ass das Gesagte bereits Grundlage des Regierungshan-elns ist.
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Undine Kurth
Wenn wir uns als Gastgeber der 9. Vertragsstaaten-konferenz nicht blamieren wollen, dann müssen wir dadeutlich mehr Druck machen, mehr Tempo vorlegen.Wie gesagt, Herr Minister, unsere Unterstützung habenSie dabei. Wir wissen, dass das nicht leicht sein wird,aber natürlich wenden wir uns auch an Sie und sagen: Damuss einfach mehr Druck in die Hütte.
Es ist schon mehrfach erwähnt worden: Es ist nichtSache der anderen, nicht der Dritten und Vierten Welt,der Entwicklungsländer, uns die Biodiversität zu erhal-ten. Das ist, bitte schön, unsere ureigene Aufgabe. Damüssen wir vorbildlich vorangehen. Wir können nichtvon anderen verlangen, etwas zu tun, wozu wir nicht be-reit sind.
Wir brauchen zum Beispiel eine Entkopplung vonWirtschaftswachstum und Bodenverbrauch. Das istallen klar. Aber wenn wir das Ziel, das wir immer propa-gieren, nämlich im Jahr 2020 den täglichen Flächenver-brauch auf 30 Hektar reduziert zu haben – nicht mehr,wie heute, 100 Hektar, sondern nur noch 30 Hektar amTag zu verbrauchen –, wirklich erreichen wollen, dannmüssen wir endlich in die Puschen kommen.Es gibt noch mehr solcher Themen.Wenn wir alle ernst meinen, dass uns der Erhalt derArtenvielfalt am Herzen liegt, dann müssen wir uns fra-gen lassen, warum wir es nicht einmal hinbekommen,gemeinsam so einfache Anfangsschritte wie den, einVerbot des Imports von Wildvögeln zu erlassen – jederweiß, wie viele Arten dadurch gefährdet werden, wasdas für riesige Entnahmen aus der Natur sind –, zu be-schließen, oder warum wir nicht einmal ein Urwald-schutzgesetz hinbekommen.
Leider haben Sie, meine Damen und Herren von der gro-ßen Koalition, dem nicht zugestimmt.Frau Brunkhorst, Sie haben richtigerweise angespro-chen, dass wir relativ wenig über das maritime Lebenwissen. Es ist ein großer, unbekannter Kontinent. Trotz-dem sind wir nicht in der Lage, die Schleppnetzfische-rei zu verbieten. Wir wissen überhaupt nicht, was wir daanrichten, aber machen fröhlich weiter. Dann können wiruns diese Bekenntnisreden hier sparen. Entweder sindwir bereit zu handeln, oder wir lassen es.
Richtigerweise ist angesprochen worden, dass es einschwer zu vermittelndes Thema, ein sperriges Thema ist.Die 9. Vertragsstaatenkonferenz ist eine wunderbare Ge-legenheit, eine Kommunikationsstrategie vorzulegen,die mehr Menschen erreicht und die dieses wichtigeThema stärker in das Bewusstsein vieler holt, vor allemin das Bewusstsein der Entscheider in den anderen Häu-sern; denn was uns unter den Begriffen der – angebli-chen – Entbürokratisierung, der Vereinfachung und derVerschlankung an Zurückfahren von Standards und Zu-rPsIsmceAwkwbBumlDauenBWginslidzdhSdnrssgei
Ich will es einmal anders deutlich machen: Natur-chutz und biologische Vielfalt sind nicht nur ein politi-ches Thema. Dieses Thema berührt die Menschheit ins-esamt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zurwähnen, dass sich mehr als 5 Millionen Ehrenamtlichen diesem Bereich in NGOs organisieren. Wenn man
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5741
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Dirk Beckerständig sagt, es sei viel zu wenig passiert, dann ist es dasfalsche Signal an diese Menschen. Man sollte vielmehrbetonen, dass diese Menschen dazu beigetragen haben,dass wir auf einem guten Weg sind und dass bereits eineMenge erreicht wurde. Dieser Punkt kommt mir zu kurz.
Ich komme jetzt zum eigentlichen Thema, nämlichzum Schutz der biologischen Vielfalt.
Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heilmann?
Bitte.
Herr Kollege Becker, Sie konnten meiner Rede ent-
nehmen, dass die Linke die Umsetzung von konkreten
Maßnahmen fordert. Es geht zum Beispiel um die Ver-
netzung im Rahmen von Natura 2000, die Rückführung
der Flächeninanspruchnahme und eine anspruchsvolle
Biodiversitätsstrategie. Was die Regierungskoalition in
ihrem Antrag gefordert hat, reicht da nicht aus.
Herr Kollege, Sie sprachen gerade von Natura 2000.In diesem Zusammenhang sollten Sie Folgendes zurKenntnis nehmen: Wir haben 13 Prozent der Landflä-chen – das sind ein Drittel der AWZ – unter Schutz ge-stellt. Damit haben wir mehr getan, als es unserer Ver-pflichtung entspricht. Das ist ein Erfolg der Politik.
Wenn Sie sich daran beteiligen möchten, dann nehmenwir Sie gerne mit ins Boot.Ansonsten haben Sie immer nur Gedanken zu Anträ-gen der anderen Fraktionen von Ihnen geäußert. Ich habevermisst, dass Sie Ihre eigenen Positionen dargestellt ha-ben. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen. Vielleichthabe ich aber auch ein Nickerchen gemacht und es des-wegen nicht mitbekommen.
– Danke.Ich möchte wieder zu meinem Beitrag zurückkehren.Wir haben in allen Beiträgen etwas über die Bedeu-tung der biologischen Vielfalt gehört. Wir wissen, dassder Verlust der biologischen Vielfalt neben der Bedro-hung durch den Klimawandel die größte umweltpoliti-sche Gefährdung und Herausforderung ist. Herr MinisterGabriel hat zu Recht die Frage gestellt: Wer nimmt dasThema überhaupt in angemessener Weise wahr? Wirführen hier eine Fachdebatte unter Umweltpolitikern.Wir führen auch Debatten mit den NGOs. Aber die Bür-gerinnen und Bürger, auf deren Verhalten es maßgeblichankommt, haben wir sicherlich noch nicht so erreichenkNIDwkNbdtuksbMhdAdAbrszenmvnSesgrkgdw–ghIzmw
Wir müssen uns die Frage stellen, was die Politik tunann, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass eineotwendigkeit für die Änderung von Verhaltensmusternesteht. Herr Gabriel hat zu Recht darauf hingewiesen,ass es in Deutschland auf diesem Gebiet noch viel zuun gibt. Gleichwohl glaube ich, dass die Situation fürns Politiker, unabhängig von unserer Auffassung, rechtomfortabel ist, weil die Menschen in Deutschland hin-ichtlich dieses Themas aufgeklärt sind.Das ist in anderen Ländern nicht der Fall. Ich weißeispielsweise nicht, wie man in einem Land, in demenschen vielleicht vom Raubbau an der Natur ab-ängig sind, diesen Menschen erklären will, warum sieas unterlassen müssen; denn es geht um ihre Existenz.uf diese Frage müssen wir den Menschen in Peru, In-onesien oder wo auch immer eine Antwort geben. Ohnelternativen für die Existenzsicherung aufzuzeigen, ha-en wir hinsichtlich des Naturschutzes gerade im Be-eich der Urwälder – Frau Kurth hat das Thema Urwald-chutzgesetz bereits angesprochen – kaum eine Chance,u einem Umdenken zu bewegen. Das gilt erst recht fürine Änderung der Verhaltensweisen.Über das Urwaldschutzgesetz diskutieren wir heuteicht. Daher will ich dazu nur eine kurze Bemerkungachen. Sie kennen sicherlich die Argumente. In demon Ihnen vorgeschlagenen Urwaldschutzgesetz ist eineicht kontrollierbare Zertifizierung enthalten.
ie bringt einen enormen Aufwand mit sich und bedarfiner sehr langen Umsetzungszeit. Dafür ist die Bereit-chaft zur Mitarbeit der Staaten, in denen es Urwälderibt, notwendig. Das heißt, wir brauchen eine breite Be-eitschaft auf internationaler Ebene. Deutschland alleineann hier keinen ausreichenden Beitrag leisten.Wir haben klar gesagt, dass das FLEG in der derzeiti-en Ausgestaltung nicht ausreichend ist. Aber wir wer-en uns für eine Verbesserung einsetzen. Dazu stehenir.
Das ist eine Behauptung. Das von Ihnen vorgeschla-ene Zertifizierungssystem würde daran nichts ändern.Ich möchte jetzt ganz konkret auf Maßnahmen einge-en. Was wollen wir tun? – Wir haben mit der CBD einnstrument, das ohne Frage eine Menge Schwierigkeitenu bewältigen hat. Wir kennen die Probleme, im Rah-en der CBD zu Ergebnissen zu kommen. Fakt ist, dassir zwei wichtige Ziele haben. Wir haben vereinbart, bis
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5742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Dirk Beckerzum Jahr 2010 den Verlust an biologischer Vielfalt si-gnifikant zu reduzieren. Auf EU-Ebene wird dieses Zieldahin gehend konkretisiert, den Verlust bis dahin ganzeinzuschränken. Für uns Sozialdemokraten ergeben sichdaraus resultierende Verpflichtungen und Verantwortun-gen für die Politik in diesem Land, und zwar auf dreiEbenen: Das ist die nationale Ebene, das ist die Ebeneder EU und das ist die internationale Ebene.Ich möchte ganz kurz einige Punkte aufgreifen:NATURA 2000 habe ich erwähnt. Herr MinisterGabriel, in dem Bericht zur Lage der Natur, den wir inBonn in einer öffentlichen Ausschusssitzung schon hin-reichend beraten haben, haben Sie einige Punkte deut-lich gemacht. Den Stopp des Flächenverkaufs und dasnationale Naturerbe haben Sie selbst erwähnt. Ichmöchte zwei weitere Bereiche aufgreifen, nämlich dieNotwendigkeit der Verringerung des Flächenverbrauchsvon derzeit rund 100 auf 30 Hektar täglich bis zumJahr 2020, aber auch die Stärkung der Agrarumweltpro-gramme, die wir aufgelegt haben, sowie die Erarbeitungder nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt.Ich darf Ihnen namens meiner Fraktion für den vorge-legten Bericht danken. Er ist umfangreich, und ichdenke, er ist trotz aller aufgeworfenen Probleme auch fürdie weitere Arbeit motivierend. Zumindest werden wirihn so aufnehmen.
Auf EU-Ebene – damit komme ich zu Ihnen, FrauKurth – sehen wir sehr wohl die Notwendigkeit, zu Ver-besserungen bei FLEGT zu kommen und möglicherweiseauch im Rahmen von bilateralen Abkommen mit den be-troffenen Staaten den Urwaldschutz voranzubringen. Wirsehen ähnliche Notwendigkeiten zur Verringerung derEinfuhr bedrohter Tierarten und Pflanzen – da sind wirüberhaupt nicht auseinander –, aber auch zum Ausbau deseuropäischen Schutzgebietnetzes NATURA 2000 und zuweiteren Maßnahmen zum Schutz der Meeresumwelt,die in der Diskussion häufig leider viel zu kurz kommt.Wenn man bedenkt, welchen Anteil die Meere an der ge-samten Oberfläche haben, bedarf es auch hier weitererAnstrengungen.Der letzte Blick geht natürlich auf die internationaleHerausforderung, die sich auch der BundesrepublikDeutschland stellt. Zum einen möchte ich ganz bewusstden Bereich der verstärkten Entwicklungszusammen-arbeit nennen. Ich verweise hier auf unseren Koalitions-vertrag, in dem wir uns klar zu dem VN-Ziel bekannt ha-ben, nämlich bis 2010 mindestens 0,51 Prozent desBruttonationaleinkommens für diesen Bereich auszuge-ben. Mir ist es wichtig, das hier ausdrücklich zu erwäh-nen.
Herr Kollege Becker, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage, dieses Mal von der Kollegin Bulling-
Schröter?
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ch denke, wir werden im Interesse der Sache diese Ar-
umente auch austauschen. Aber das machen wir be-
anntermaßen immer intern, wir Sozialdemokraten tun
o etwas ja nie öffentlich.
Abschließend noch zur Rolle Deutschlands im Jahr
008, wenn wir die neunte Vertragsstaatenkonferenz zu
ast haben.
Kollege Becker, das schaffen wir nun wirklich nicht
ehr. Das Leuchten da sagt Ihnen ganz deutlich etwas.
inden Sie bitte einen letzten Satz!
Ich werde den letzten Satz finden. – Im Jahr 2006 ha-en wir die Welt zu Gast bei Freunden begrüßt. Es gingm die schönste Nebensache mit dem größten Medien-nteresse. 2008 wird das anders sein. Das Medieninte-esse ist geringer, die Sache umso bedeutender. Durchine engagierte Politik wollen wir unserer Verantwor-
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Dirk Beckertung für den Schutz der biologischen Vielfalt und damitunserer Verantwortung für nachfolgende Generationensowie für einen gerechten regionalen Ausgleich gerechtwerden.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und Ihnen,Frau Präsidentin, für Ihre Geduld.
Kollege Becker, ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zu
mehreren Premieren. Sie haben heute Ihre erste Rede im
Plenum des Bundestages gehalten und dabei gleich alles,
was einem während einer Rede widerfahren kann, erlebt:
Zwischenfragen, auf die Sie geantwortet haben, Zwi-
schenfragen, die Sie zurückgewiesen haben, und Zwi-
schenrufe, die es eigentlich gar nicht gibt, weil auf der
Regierungsbank Ruhe zu herrschen hat.
Alles Gute für die weitere Arbeit!
Für die Unionsfraktion hat nun das Wort der Kollege
Dr. Christian Ruck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Becker hat in seiner Jungfernrede noch etwas geschafft:
Er hat in einer umweltpolitischen Debatte das Gewicht
der Entwicklungspolitik erwähnt. Ich bin froh darüber,
dass auch ich, wenngleich zu später parlamentarischer
Stunde, im Kreise vieler altbekannter Kollegen Umwelt-
politiker einige entwicklungspolitische Ausführungen
machen darf.
Ich glaube, dass wir, wenn es um biologische Vielfalt
geht, die alte Rio-Connection, die Phalanx zwischen
Entwicklungs- und Umweltpolitikern, wieder zum Le-
ben erwecken müssen. 80 Prozent der Tier- und Pflan-
zenarten – das wurde schon gesagt – leben in 15 Top-
Zentren der Biodiversität, die sämtlich in Entwicklungs-
ländern liegen: von Bolivien und Brasilien über Kenia
und Südafrika bis nach Indonesien und zu den Philippi-
nen.
Umweltpolitisch sind die Entwicklungsländer so-
wohl Opfer als auch Täter. Bei der Klimaverschlechte-
rung, die immer noch mehrheitlich durch Industrieländer
entsteht, sind sie Opfer. Sie sind auch Opfer mancher
kontraproduktiven Regelungen im Welthandelssystem.
Auf der anderen Seite sind sie aber auch Täter, wenn es
um mangelnden politischen Willen der Entscheidungs-
träger zum sorgfältigen Umgang mit natürlichen Res-
sourcen geht, wenn es um Korruption, schlechte Regie-
rungsführung usw. geht.
Fest steht: Die flächendeckende Umweltzerstörung
in Entwicklungsländern läuft nahezu ungebremst weiter
und nimmt dramatische Formen an. Die Hälfte des ur-
sprünglichen tropischen Regenwaldes ist inzwischen
vernichtet. In manchen Ländern sind es schon fast
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Vielen Dank, Herr Kollege, für diese Möglichkeit.Angesichts dessen, was Sie gerade schildern – dieseussagen teilen wir vollständig –, möchte ich an Sie dierage richten, ob es vor dem Hintergrund des Geschil-erten nicht vielleicht doch richtig gewesen wäre, derlugticketabgabe zuzustimmen, um wenigstens einisschen mehr Geld für die so dringend benötigte Ent-icklungszusammenarbeit zu bekommen und um dieänder, von denen Sie gerade berichten – sie sind in ho-em Maße betroffen und auch in hohem Maße Täter –,arin zu unterstützen, hier Abhilfe zu schaffen?
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5744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
)
)
Frau Kollegin, die aktuelle Diskussion über die Flug-
ticketsteuer wurde erst vor zwei Wochen durch den ei-
nen oder anderen Antrag bereichert. Wir haben unsere
Meinung dazu breit dargelegt. Sie lautet, dass wir durch-
aus offen sind für alles, was uns dazu verhilft, den ver-
sprochenen Anteil in Höhe von 0,5 Prozent des Bruttoin-
landsproduktes im Jahr 2010 zu erreichen. Wir sind
durchaus offen, aber diese Maßnahmen müssen erstens
wirklich etwas erreichen und zweitens realisierbar und
vernünftig sein.
Es stellt sich die Frage: Sind wir da allein oder wie
viele schließen sich uns an?
Das muss geklärt werden. Das andere ist: Sie, die Grü-
nen, haben sehr auf das französische Modell rekurriert.
Das französische Modell ist – das ist die Meinung inner-
halb der Koalition – für uns untauglich; denn dabei
kommt zu wenig heraus. Deswegen muss man einige
ernsthafte Detailfragen stellen. Ich sage aber noch ein-
mal: Wir sind für alles offen, was dazu führt, dass wir bis
2010 das, was wir versprochen haben, auch mit Ihrer
Unterstützung, umsetzen.
In diesem Sinne lassen Sie mich noch einmal darauf
zurückkommen, dass wir international gute Ansätze ha-
ben. Ich darf an dieser Stelle sagen, dass es hervorra-
gende öffentliche Projekte gibt, bei denen wir mit NGOs
zusammenarbeiten und die wirklich funktionieren. Aber
die Trendumkehr ist nicht in Sicht. Da dürfen wir uns
nichts vormachen.
Immer dann, wenn die Rezepte bekannt sind, aber
nicht richtig umgesetzt werden, müssen wir politische
Strukturen überwinden oder verbessern. Dazu viel-
leicht noch einige Stichworte: Die Entwicklungspolitik
wurde ja schon erwähnt. Wir müssen die Entwicklungs-
politik weltweit effizienter gestalten. Wir brauchen eine
bessere internationale Arbeitsteilung. Wir müssen noch
einmal über Schlüsselsektoren – kein Gießkannenprin-
zip – sprechen. Was befördert Entwicklung? Was beför-
dert ländliche Entwicklung? Was können wir tun, um
Kapazitäten aufzubauen? Und vor allem: Was können
wir tun, um entweder Good Governance, gute Regie-
rungsführung, zu erzwingen oder langfristig schlechte
Regierungsführung zu transformieren? Das ist ganz
wichtig. Denn es bedeutet, die Entscheidung in die Län-
der selbst zu tragen und sie selbst zu verantwortungsbe-
wusstem und umweltbewusstem Handeln zu befähigen.
Das muss uns gelingen. Dazu müssen wir einen Beitrag
leisten.
– Das machen wir schon, aber wir müssen es – das sage
ich ausdrücklich – weltweit effizient gestalten. Die Ar-
beitsteilung funktioniert international eben nicht, zum
Beispiel nicht zwischen uns und der EU, zwischen uns
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Wir müssen die Schwellenländer beim Schutz der
atürlichen Ressourcen mehr als bisher in die Pflicht
ehmen. Das gilt auch, wenn man sich vergegenwärtigt,
uf welche Art und Weise zum Beispiel die Volksrepu-
lik China in Afrika auftritt. Darüber müssen wir mit
en Schwellenländern reden.
Wir müssen die großen Konzerne in die Verantwor-
ung nehmen, vor allem diejenigen, die in sehr natursen-
iblen Bereichen agieren. Ebenso müssen wir die WTO-
erhandlungen zu einem Abschluss bringen, der ein
ehr an Umwelt- und Ressourcenschutz und eine Ver-
esserung der Armutsbekämpfung bedeutet.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass in die-
em Haus in den letzten Wochen und Monaten andere
hemen im Vordergrund standen. Dabei ging es von der
ituation im Irak bis zum Libanoneinsatz der Bundes-
ehr.
Kollege Ruck, wie der Kollege Becker schon be-
erkte, bin ich ein sehr geduldiger Mensch.
Jawohl.
Aber ich finde, jetzt sollten Sie zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich bin im Sinkflug.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5745
)
)
Dr. Christian RuckDie größte tickende Zeitbombe ist die Verwüstungunseres Planeten. Um diese Entwicklung zu vermeiden,sollten wir im Rahmen der G 8, im Verlauf unserer EU-Ratspräsidentschaft und auf der im Jahre 2008 in unse-rem eigenen Land stattfindenden Vertragsstaatenkonfe-renz einen neuen Anlauf nehmen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/1996, 15/5903, 16/1497 und
16/1670 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 sowie Zusatz-
punkt 14 auf:
29 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Eckpunktevereinbarung zum Einsatz von
Erntehelfern in der Landwirtschaft grundle-
gend überarbeiten
– Drucksache 16/2685 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Ulrike Höfken, Kerstin Andreae, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Qualifizierung statt Quoten – Vermittlungs-
agenturen für landwirtschaftliche und andere
grüne Berufe
– Drucksache 16/2991 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Auch
dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Geisen für die FDP-
Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnenund Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Wir debat-tieren heute über einen Antrag der FDP zum Einsatz vonErntehelfern in der Landwirtschaft. Darin fordern wiretDuidsmOodasdebagsnBdskDmzvbDDdditGFVtsSkWMb
roße Mengen Spargel und Erdbeeren mussten auf deneldern bleiben, weil nicht genügend Erntehelfer zurerfügung standen. Auch die Weinlese wird beeinträch-igt. Ich frage Sie von der CDU/CSU und der SPD: Sollich dieses Trauerspiel im nächsten Jahr wiederholen?ollen Spargel, Erdbeeren, Kirschen und Gemüse imommenden Jahr erneut auf den Feldern vergammeln?ie sollen die Sonderkulturbetriebe ihre Chancen amarkt nutzen, wenn ihnen die erforderlichen Saisonar-eitskräfte fehlen?
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5746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Dr. Edmund Peter GeisenLeider hält die Bundesregierung halsstarrig an ihremKurs in Richtung noch mehr Staatswirtschaft fest. Dasist falsch und für die FDP völlig inakzeptabel.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal vor allem an dieVertreter von CDU und CSU appellieren, ihren Wortenendlich Taten folgen zu lassen. Die Agrarpolitiker derUnion haben wie die der FDP das Scheitern der Eck-punkteregelung immer wieder beklagt. In dieser für dieLandwirtschaft zentralen Frage darf es aber nicht weiterbei Worten bleiben – die Kontingentierung muss endlichweg.
Anders als bei den bürokratischen und finanziellen Be-lastungen, die aus dem Scheitern des bilateralen Abkom-mens mit Polen resultieren, liegt die Verantwortung indieser Frage einzig und allein bei Schwarz-Rot. Sie al-leine haben zu verantworten, dass es hierfür noch immerkeine praxisgerechte Lösung gibt.
Auch der vorliegende Antrag von Bündnis 90/DieGrünen ist unserer Meinung nach nicht zielführend. Ichmeine, wir haben Agenturen genug und auch genügendfreie Plätze zur Qualifizierung im Agrarbereich; das istnachweislich so. Was wir brauchen, sind eben Saison-arbeitskräfte. Dauerarbeitskräfte haben hier keine Zu-kunft. Die Zeit der allgemeinen Handarbeitsstufe ist vor-bei; das müssten Sie alle wissen. Und das ist auch gut so.So viel zum Grünen-Antrag.Die verschärfte Eckpunkteregelung ist das Werk derMinister Müntefering und Seehofer.
Es wird allerhöchste Zeit, dass diese praxisfremde undunternehmensfeindliche Kontingentierung korrigiertwird. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koali-tion, zwingen Sie Ihre Minister, die Wirklichkeit in derLandwirtschaft anzuerkennen und den Weg für Korrek-turen endlich frei zu machen!Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Gitta
Connemann.
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Die Bundesregierung erklärte aber auch – das schei-en Sie überhört zu haben, Herr Dr. Geisen –, dass es da-urch nicht zu Einbußen bei der Aufgabenerledigung
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5747
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Gitta Connemannkommen darf. Das war keine leere Ankündigung; dennschon in der Saison hat die Bundesregierung durch dasBundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz und das Bundesministerium für Ar-beit und Soziales die Regelung im Sinne der Betriebeverbessert und zum Beispiel durch eine Härtefallrege-lung ergänzt. Ein Monitoring wird durchgeführt.Die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeitsverwal-tung und der Betriebe haben zu einem Teilerfolg auf demWeg zu mehr Beschäftigung geführt. Laut den Ergebnis-sen der ersten Befragungswelle zur Saisonbeschäftigungin der Landwirtschaft wurde bei immerhin 63 Prozentder befragten Betriebe eine ausreichende Anzahl inländi-scher Bewerber vorgeschlagen. Das ist ein Teilerfolg,den es nach dem Willen der FDP-Fraktion nicht gebenwürde; denn diese will eine vollständige Abschaffungder Neuregelung. Dies ist umso unverständlicher, als dervereinbarte Monitoringprozess noch gar nicht abge-schlossen ist.
Die Ergebnisse der zweiten Befragungswelle werdenerst am Montag vorgestellt.
Es geht der FDP also offensichtlich nicht um die Sache,sondern um reine Opposition.
Insoweit trifft ein Wort des Schriftstellers Hans Kasperzu, der den Begriff Opposition einmal wie folgt definierthat:Stets anderer Meinung zu sein ist das Gegenteil da-von, eine eigene Meinung zu haben.
Genauso empfinde ich Ihr Verhalten. Meine Damenund Herren von der FDP-Fraktion, damit dienen Sie derSache der Landwirtschaft übrigens nicht. Diese hat be-rechtigte Anliegen, die aber nur ernst genommen wer-den, wenn sie auch seriös begleitet werden.Es gibt offensichtlich Handlungsbedarf. Die bereitszitierte Befragung hat nämlich auch ergeben, dass37 Prozent der Betriebe keine Vorschläge auf ihre Ver-mittlungsgesuche erhielten. Die Erfahrungen sind regio-nal sehr unterschiedlich. In vielen Gebieten Ostdeutsch-lands konnte das benötigte Kontingent inländischerSaisonarbeitskräfte erfüllt werden. In einigen RegionenWest- und Süddeutschlands gab es dagegen erheblicheProbleme.Dafür gibt es Gründe. Die Zahl der zur Verfügung ste-henden Arbeitslosen ist regional unterschiedlich. Außer-dem ist der Anbau von Sonderkulturen in bestimmtenRegionen konzentriert. Und: Die Bereitschaft zu einerArbeitsaufnahme ist offensichtlich nicht überall gleichausgeprägt.GuswattVnmfSF2msdwsdAgSaütfBkwbptIzdtadtvlciFmekbaot9
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5748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
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Wir können es uns nicht gefallen lassen, dass diese Ar-beit grundsätzlich nicht von Deutschen verrichtet wird.Körperliche Arbeit ist wertvoll. Sie ist notwendig undvor allem ehrbar.
Dieser Umdenkungsprozess kann aber nicht allein aufKosten der landwirtschaftlichen Betriebe vorangetriebenwerden. Diese müssen verlässliche Personalplanungenvornehmen können. Deshalb müssen wir die bestehen-den Teilprobleme lösen. Die vorliegenden Anträge tra-gen dazu allerdings nicht bei. Wir werden sie deshalbbeide ablehnen.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Über das Thema Saisonarbeitmüssen wir sehr differenziert und gleichzeitig grundsätz-lich diskutieren.Es geht um eine existenzielle Frage im ländlichenRaum, nämlich Arbeitsplätze. Ich nenne hier einmal dieZahl 400 000. Das ist nach Schätzungen der IG BAU dieAnzahl der Arbeitsplätze, die im ländlichen Raum unter-dessen nur noch zeitweise zur Verfügung stehen. DieseArbeitsplätze sind aus verschiedenen Gründen – einigesind schon genannt worden – für den heimischen Ar-beitsmarkt wenig attraktiv. Dafür haben sie zu einer eu-ropaweiten Wanderarbeiterbewegung beigetragen, undzwar mit allen gesellschaftlichen Konsequenzen, überdie wir einmal reden müssten.Es gibt noch mehr Zeitarbeitsplätze im ländlichenRaum; es gibt sie im Tourismus, in den Hotels und inden Restaurants. Was bedeutet Saisonarbeit? Saisonar-beit stellt keine Lebensperspektive dar; denn sie bieteterstens keine soziale Absicherung, zweitens keine Al-terssicherung und ist drittens auch für den Moment oftnicht existenzsichernd. Sie ist prekär, wie man heutesagt. Trotzdem teile ich das Anliegen, dass diese400 000 Arbeitsplätze wieder dem heimischen Arbeits-markt zugänglich gemacht werden müssen. Wenn diesdas Anliegen der Eckpunkteregelung ist, dann unter-stützte ich sie insoweit. Aber eine Quotenregelung alleinist keine Lösung.Die Vermittlungsprobleme allerdings nur mit Faulheitoder fehlender Leistungsfähigkeit einheimischer Ar-beitskräfte zu erklären, ist nahezu absurd. Denn schauenwir uns doch einmal die Erntehelferjobs an: 3,50 Euroim Osten, 5 bis 6 Euro im Westen sind unter bundesdeut-sarrgpSmkgInEELw11PAldooaaiWwbtbnszbDtgHeWd
Trotz der beschriebenen Bedingungen gibt es auchute Erfahrungen mit der Vermittlung von Erntehelfern.ch kenne zum Beispiel Brandenburger Betriebe, dieicht nur 10 Prozent, sondern 100 Prozent einheimischerntehelfer beschäftigen, auch heutzutage. Von gutenrfahrungen hat mir im August auch die Fachagentur fürandwirtschaft bei der BA in Eberswalde berichtet. Dorturden 118 Saisonarbeitskräfte regional vermittelt und28 nach Hessen. 90 Prozent blieben zwei Monate,0 Prozent sogar vier Monate. Außerdem kenne ich dasrojekt „Agrotime“ in Potsdam, wo bis zumugust 2006 220 Erntehelfer vermittelt wurden. Dortag die Abbrecherquote unter 10 Prozent.Es liegt also wohl auch an der Durchführung und aner Betreuung der Erntehelfer und der Betriebe,
b die Eckpunkteregelung zu einem Desaster geführt hatder nicht.Aber seien wir einmal ehrlich: Die fehlende Aussichtuf reguläre Beschäftigung zwingt Menschen in Saison-rbeit, obwohl sie keine soziale Perspektive bietet. Dasst ein Grund dafür, dass die Erfahrungen in Ost undest so unterschiedlich sind. Aber genau das ist dieirkliche Herausforderung: Wie können wir Saisonar-eit mit einer sozialen Perspektive verbinden? Wir soll-en im Ausschuss einmal über französische Arbeitge-erzusammenschlüsse diskutieren. Diese teilen sichicht nur die Maschinen – das ist ja auch bei uns üblich –,ondern sie beschäftigen auch Personal gemeinsam, undwar ganzjährig und sozial abgesichert, trotz Saisonar-eit.
as ist zum Vorteil für beide Seiten.Die vielfältigen Tätigkeiten in den verschiedenen Be-rieben sind eine permanente Weiterbildung: Im Frühjahreht es in die Gärtnerei, im Sommer aufs Feld, imerbst in die Baumschule und im Winter in die Holz-rnte oder ins Sägewerk. Das sind nur einige Beispiele.enn es einmal gar nichts zu tun gibt, werden Weiterbil-ungen organisiert.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5749
)
)
Dr. Kirsten TackmannIm Jahr 2004 gab es in Frankreich 4 100 solcher Ar-beitgeberzusammenschlüsse allein in der Landwirt-schaft.
Kollegin Tackmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Geisen?
Ja, selbstverständlich.
Frau Tackmann, wie stellen Sie sich bei der hohen
Technisierung und Automatisierung auch in der Land-
wirtschaft und eher einer Zunahme dieser Technisierung
konkret vor, eine größere Anzahl von Arbeitskräften in
Einsatz zu bringen? Wollen Sie bestimmte Tätigkeiten
wieder auf eine andere Arbeitsebene bringen? Können
Sie ein Beispiel nennen?
– Es gäbe zum Beispiel die Handarbeit. Aber ich kann
mir nicht vorstellen, wie Sie 400 000 Arbeitnehmer wie-
der in die Landwirtschaft bringen wollen.
Mir geht es darum, dass man mit einer Verstetigung
der Arbeitsverhältnisse Menschen eher motivieren kann,
eine solche Arbeit aufzunehmen, als es vielleicht der
Fall ist, wenn sie die Aussicht haben, nur zwei Monate
oder vielleicht sogar nur einen Monat Spargel zu ste-
chen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was in
Frankreich möglich ist, hier nicht möglich sein soll.
Frankreich hat keine weniger technisierte Landwirt-
schaft; dort gibt es genau die gleichen Strukturprobleme.
Ich denke, wenn das in Frankreich möglich ist, müsste
das auch in Deutschland möglich sein. Es liegt eher an
den gesetzlichen Bedingungen als an fehlendem Willen
und fehlenden Möglichkeiten, wenn das hier nicht funk-
tioniert.
Eine weitere Zwischenfrage lasse ich nicht zu, Herr
Geisen. Sie haben der Kollegin Tackmann schon gehol-
fen, dass ich ihre Rede nicht ab- oder unterbrechen
musste. Aber nun muss sie zu ihrem Schlusssatz kom-
men.
Ich komme zu meinem Schlusssatz. – Jedenfalls ha-
ben die Arbeitgeber in den Arbeitgeberzusammenschlüs-
sen offensichtlich auch große Vorteile; denn sie haben
Personal, das sich dem Betrieb verbunden fühlt, auf das
sie jederzeit zugreifen können und das für die Arbeiten
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Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
robinski-Weiß.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!iebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn fachfremde Le-erinnen und Leser die Presseartikel zum Thema Saison-rbeitskräfte in der Landwirtschaft verfolgen, dannönnten sie leicht vermuten, die Landwirte, Verbände,ie Regierung, aber auch wir übten uns in Prozentrech-ung. Varianten wie „80 + 10 + 10“ oder „90 + 10“ geis-ern als Kurzform durch die Presse und spalten die Ein-eweihten in Befürworter oder Gegner.Dabei geht es doch um Arbeitsplätze. Ein Blick inie aktuelle Statistik zeigt, dass die Arbeitslosenzahlenesunken sind. Dennoch hatten wir im September immeroch 4,23 Millionen Arbeitslose. Es gibt deshalb keinenrund, in unseren Anstrengungen nachzulassen, Ar-eitssuchende wieder in Beschäftigung zu bringen.Ende 2005 hat – das ist bereits ausgeführt worden –as Bundesministerium für Arbeit und Soziales gemein-am mit den Verbänden der Landwirtschaft und des Gar-enbaus sowie der IG BAU Eckpunkte für die verstärkteermittlung von inländischen Arbeitskräften in die Sai-onbeschäftigung festgelegt. Die Agenturen für Arbeitnd die Arbeitsgemeinschaften erhielten das Rüstzeug,m die Integration von Arbeitslosen so effektiv wieöglich zu unterstützen. Denn das unbestrittene Zielar und ist es, den landwirtschaftlichen Betrieben wei-erhin die notwendige Sicherheit für ihre Personalpla-ung zu bieten, damit sie ihre Ernten zuverlässig undhne Schäden einbringen können.
Herr Geisen, ich kann den von Ihnen genannten Hor-orzahlen nicht folgen.In Prozenten ausgedrückt wurden jedem Betrieb0 Prozent statt wie bisher nur 68 Prozent mittel- undsteuropäische Saisonarbeitskräfte ohne vorherige Prü-ung von Vermittlungsmöglichkeiten inländischer Kräfteewilligt. Weitere 10 Prozent des Bedarfs können durchusländische Arbeitskräfte gedeckt werden, wenn nachrüfung des Bedarfs durch die Arbeitsagenturen keinenländischen Arbeitssuchenden zur Verfügung stehen.Ganze 10 Prozent des bisherigen Arbeitskräftebedarfsollen durch die Gewinnung von inländischen Arbeits-räften ausgeglichen werden. Auch hier wurde nach-eislich ein flexibles Verfahren angeboten. Trotz der ho-en Arbeitslosenzahlen wurden dieses Ziel und der Wegahin seit der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers
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5750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006
)
)
Elvira Drobinski-Weißvon vielen als untragbar, ja sogar als Zumutung zurück-gewiesen. Nur wenige haben ihre Verantwortung auchgegenüber der Gesellschaft erkannt und sind aktiv ge-worden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Geisen?
Es ist gleich 15.45 Uhr und ich halte den Antrag der
FDP-Fraktion ohnehin für überflüssig. Ich möchte keine
Zwischenfrage zulassen, sondern mit meiner Rede fort-
fahren.
Es ist viel einfacher, die Einmischung des Staates in
die Wirtschaft und in den Arbeitsmarkt zu beklagen,
Herr Geisen. Die inländischen Arbeitssuchenden wurden
schnell mit Attributen wie unmotiviert, unflexibel und
faul abgeurteilt. Regelmäßig vor, während und erst recht
nach der Ernte wurde gefordert, die Eckpunkteregelung
abzuschaffen oder wenigstens gründlich zu überarbeiten.
Dass es auch andere Beispiele gibt – die Arbeitsagen-
turen, Arbeitsgemeinschaften oder die zugelassenen
kommunalen Träger arbeiten erfolgreich mit den Arbeit-
gebern zusammen und die Landwirte haben sehr wohl
deutsche Erntehelfer gefunden, die flexibel sind und auf
die sich die Landwirte verlassen können –, wird leider
weniger lautstark propagiert.
Solche Beispiele kann ich Ihnen aus meinem Wahlkreis,
der Ortenau, nennen. Die Arbeitsfördergesellschaft Orte-
nau hat sich weder von Unkenrufen noch von früheren
Misserfolgen abschrecken lassen. Dank einer intensiven
Auswahl geeigneter Arbeitsloser, Trainingsmaßnahmen
und Praktika – das ist schon erwähnt worden – konnten
viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsver-
hältnisse abgeschlossen werden. Ich will auch einmal
Zahlen nennen. 600 Arbeitssuchende wurden von der
kommunalen Arbeitsförderung in der Ortenau für den
Einsatz in der Landwirtschaft vorgeschlagen. Immerhin
wurden davon 168 Praktikanten rekrutiert. 118 gingen
schließlich – das sind fast 70 Prozent – ein sozialversi-
cherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ein. Na-
türlich sind im Laufe der Zeit einige wieder ausgeschie-
den. Dennoch ist die Zahl derjenigen in einem
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis groß
geblieben. Ähnliche Erfahrungen hat der Maschinen-
und Betriebshilfsring Breisgau in Baden-Württemberg
gemacht. Positive Erfahrungen gibt es auch in anderen
Regionen. Ganz wichtig ist – das ist schon ausgeführt
worden –, dass 72 Prozent der befragten Landwirte mit
den inländischen Saisonarbeitskräften zufrieden waren
und wieder auf diese zurückgreifen würden.
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Ganz gewiss nicht, Herr Geisen.
Eines ist bereits klar geworden: Für die regional un-
enügende Deckung des Arbeitskräftebedarfs sind nicht
llein die Kontingentierung der ausländischen Saisonar-
eitnehmer oder mangelnde Vermittlungsbemühungen
er Arbeitsagenturen verantwortlich.
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir an dem
iel der verstärkten Vermittlung inländischer Arbeits-
uchender in die landwirtschaftliche Saisonarbeit fest-
alten. Ich gehe sogar so weit und sage, dass die Kontin-
entierung weitaus besser und erfolgreicher ist als ihr
uf; denn ohne sie hätte kaum ein Arbeitgeber den
chritt gewagt, wieder verstärkt inländische Arbeits-
räfte zu beschäftigen. Schon aus diesem Grund sollten
ir an einer Kontingentierung festhalten. Schließlich
eht es hier um Menschen, die dadurch einen Arbeits-
latz finden und in ihrem Wertegefühl wieder gestärkt
erden.
Herr Kollege Geisen, das Gesetz ist nicht praxisfremd
nd ist alles andere als ein Ausdruck von Planwirtschaft.
ir lehnen deshalb den Antrag der FDP ab. Gestatten
ie mir abschließend die Bemerkung, dass Ihnen Ihr An-
rag nicht so wichtig gewesen zu sein scheint. Zu diesem
chluss komme ich, wenn ich sehe, dass von 61 FDP-
bgeordneten gerade noch zwei Abgeordnete – vorhin
aren es noch drei – übrig geblieben sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken für dieraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Oktober 2006 5751
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Frau Connemann hat zwar in ih-
rer Rede Einsicht gezeigt. Aber im Wahlkampf hat die
CDU/CSU den Bauern noch vollmundig billige Arbeits-
nieren kann, haben die Beispiele, die die Kollegen ge-
bracht haben, gezeigt.
kräfte aus dem Osten versprochen, während Bauernver-
bandspräsident Sonnleitner die Bauernbefreiung ausge-
rufen hat. Herausgekommen sind eine Eins-zu-eins-
Umsetzung der europäischen Regelung betreffend das
Sozialrecht sowie eine Quote.
Aber nun verlangt die FDP, im Tourismus, in der Gas-
tronomie – das sind riesige Bereiche – und in der Land-
wirtschaft ausländische Saisonarbeitskräfte, wie Sie
schreiben, wieder ungehemmt einsetzen zu können. Ich
finde, das missachtet ganz massiv die Situation von Mil-
lionen von Arbeitslosen und von Ausbildungssuchenden
in unserem Land.
Gerade heute Morgen ist doch darüber gesprochen wor-
den. Es sind nicht nur die 400 000, die in der Landwirt-
schaft arbeiten, sondern es sind noch viel mehr im Tou-
rismus und in der Gastronomie. Die FDP verweist ferner
auf die niedrigen Löhne in der Landwirtschaft, was übri-
gens nur zum Teil zutrifft. Hier würden die Einführung
von Mindestlöhnen oder auch Qualitätsanforderungen
bei der Unterbringung sehr viel weiter führen und der
richtigere Weg sein.
Richtig ist jedenfalls, dass die Eckpunkte nicht so er-
folgreich sind, wie sie vielleicht sein könnten, würde
daraus etwas anderes gemacht. Es gibt in der Landwirt-
schaft und den grünen Berufen, den verwandten Berei-
chen, einen wachsenden Bedarf nach qualifizierten und
motivierten Fachkräften. Das trifft auf die saisonale
Beschäftigung zu, aber das trifft auch auf Dauerarbeits-
verhältnisse zu; denn die Landwirtschaft spezialisiert
sich weiter. Auch nach Saisonarbeitskräften ist die
Nachfrage vielfältig. Es geht nicht nur um das Spargel-
stechen, sondern es geht auch um die Weinlese, den
Rebschnitt, den Obstbau, die Baumschulen, den Zier-
pflanzenbau, Garten- und Landschaftsbau, Holzwirt-
schaft und um Arbeitsplätze in der Tierhaltung. Das ist
ein ganz breites Spektrum von Einsatzmöglichkeiten.
Bei intelligenter Vermittlung – da sehen wir Bedarf,
nachzubessern; sowohl Frau Connemann als auch Frau
Drobinski-Weiß haben das im Prinzip angedeutet – und
ausreichender Qualifizierung entstehen auch Perspekti-
ven für eine ganzjährige Beschäftigung. Deswegen ist
das Ziel, das mit den Eckpunkten verbunden ist, wirklich
richtig. Es hapert an der Umsetzung. Dass das funktio-
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
uf den Drucksachen 16/2685 und 16/2991 an die in der
agesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
ind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
nserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
estages auf Mittwoch, den 25. Oktober 2006, 14 Uhr,
in.
Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise und ein er-
olgreiches und hoffentlich auch erholsames Wochen-
nde.
Die Sitzung ist geschlossen.