Gesamtes Protokol
Guten Mor-
gen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff-
net. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P.
und der PDS
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeind-
lichkeit, Antisemitismus und Gewalt
– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Nachhaltige Bekämpfung von Extremis-
mus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Vogt
, Ernst Bahr, Eckhardt Barthel
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Annelie
Buntenbach, Cem Özdemir, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeind-
lichkeit, Antisemitismus und Gewalt
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hildebrecht
Braun , Ernst Burgbacher, Paul K.
Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Rechtsextremismus entschlossen bekämp-
fen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Petra Pau, Sabine Jünger, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der PDS
Handeln gegen Rassismus, Antisemitismus,
Fremdenfeindlichkeit und daraus resultie-
render Gewalt
– Drucksachen 14/5456, 14/4067, 14/3516,
14/3106, 14/4145, 14/5695 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Sebastian Edathy
Hartmut Büttner
Annelie Buntenbach
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
b) Beratung des Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung des politischen Extremismus
– Drucksachen 14/295, 14/1556 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Vogt
Dietmar Schlee
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Die Zahl der rechtsextremistisch mo-tivierten Straftaten ist im Laufe des vergangenen Jahresenorm gestiegen. 1999 sind 10 000 Fälle registriert wor-den. Im Jahr 2000 waren es 16 000. Dabei ist die Zahl dererfassten Gewalttaten von 746 auf 998 Fälle angewach-sen. Eine Zunahme ist auch bei der Zahl der ge-waltbereiten Rechtsextremisten zu verzeichnen. Im Jahre1999 waren es nach amtlichen Erkenntnissen 9 000, imletzten Jahr waren es 9 700.Seit dem Sommer des letzten Jahres führen wir inDeutschland verstärkt eine öffentliche Debatte über dasThema Rechtsextremismus. Zunehmend wurde wahrge-nommen, dass Rechtsextremismus kein Randproblem ist,sondern eine zentrale Herausforderung unserer Demokra-tie.
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162. SitzungBerlin, Freitag, den 30. März 2001Beginn: 9.00 UhrWer, wie es Rechtsextremisten tun, die Würde anderer,insbesondere die Würde Schwächerer, mit Worten und Ta-ten in den Schmutz zieht, der stellt eine wesentlicheGrundlage unseres Gemeinwesens in Frage.Ich möchte an dieser Stelle all jenen Bürgerinnen undBürgern danken, die in den vergangenen Monaten bun-desweit deutlich gemacht haben, dass sie in den Angriffenauf Minderheiten, ob auf Obdachlose, ob auf Behinderte,ob auf nicht oder vermeintlich nicht Deutsche, das sehen,was sie sind: nämlich Angriffe auf die Demokratie und da-mit auf die Bürgergesellschaft als Ganzes.
Ich habe mich in den vergangenen Monaten öfter ge-fragt, was eigentlich erschreckender ist: die Steigerungder Zahl der rechtsextremistischen Aktivitäten inDeutschland oder die Tatsache, dass wir dem Rechtsex-tremismus in Deutschland in den Jahren zuvor offenbar zuwenig Beachtung geschenkt haben.
1998 zum Beispiel gab es 11 000 rechtsextremistischeStraftaten in Deutschland und keine breite öffentliche De-batte, keinen Aufschrei der Empörung im Land. Hattenwir damals, bei täglich rund 30 Straftaten, kein Problemmit dem Rechtsextremismus? Wer in den vergangenenMonaten behauptet hat, das Thema Rechtsextremismuswerde dramatisiert, sollte sich selbst fragen, ob er es inden Jahren zuvor nicht völlig unterschätzt oder im Ein-zelfall möglicherweise sogar bagatellisiert hat.
Das Nicht-wahrhaben-Wollen, das Wegschauen hat imletzten Jahr ein Ende gefunden und das ist gut so.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Rechtsex-tremismus als eine Herausforderung unserer Demokratiebetrachten, dann müssen wir als Demokraten bestrebtsein, eine gemeinsame Antwort auf diese Herausforde-rung zu geben. Dieses Thema eignet sich nicht für partei-politische Profilierung. Es muss vielmehr das Ziel sein,über die Parteigrenzen und hier im Bundestag über dieGrenzen zwischen Mehrheits- und Minderheitsfraktionenhinweg eine Verständigung zu erreichen.
Alle Fraktionen haben im letzten Jahr Anträge vorge-legt und darin Wege zur Auseinandersetzung mit demRechtsextremismus in Deutschland beschrieben. Ichfreue mich darüber, dass heute vier von fünf Fraktionendes Bundestages, nämlich SPD, Bündnis 90/Die Grünen,F.D.P. und PDS, einen gemeinsamen Antrag mit dem Ti-tel „Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit,Antisemitismus und Gewalt“ zur Abstimmung stellen.
Wir haben bei der Erarbeitung dieses Antrages sehrheftig und zugleich konstruktiv miteinander diskutiert mitdem Ziel – es wurde erreicht –, einen Text zu erstellen, derdifferenzierte Ansätze für die Bekämpfung des Rechtsex-tremismus aufzeigt, einen Text, der in mehr als 20 Punk-ten ein ganzes Bündel von erforderlichen Maßnahmen be-schreibt. Dabei stand im Vordergrund, Maßnahmen derIntervention, des staatlichen Eingreifens nicht wenigerAufmerksamkeit als Maßnahmen der Vorbeugung rechts-extremistischer Entwicklungen und Maßnahmen zurStärkung der Zivilgesellschaft zu schenken.Es ist wichtig – es ist sogar unabdingbar –, die Wahr-nehmung des staatlichen Gewaltmonopols sicherzustel-len und die Handlungsmöglichkeiten von Rechtsextre-misten einzuschränken. In diesem Zusammenhang be-grüße ich unter anderem den verstärkten Einsatz des Bun-desgrenzschutzes auch in Form einer vermehrten Unter-stützung der Länderpolizeien. Ebenso ist der Antrag aufein Verbot der NPD ein sinnvoller und notwendiger Be-standteil einer Gesamtstrategie gegen den Rechtsextre-mismus.
Zugleich muss man sich vor Augen halten, dass einDrittel der NPD-Mitglieder zwischen 16 und 25 Jahre altist. Das heißt für mich und meine Fraktion: Mindestensebenso wichtig wie die Bekämpfung rechtsextremisti-scher Erscheinungsformen ist die Vorbeugung. Wir wol-len in Deutschland vermehrt sichergestellt wissen, dassKindern und Jugendlichen demokratische Orientierungvermittelt wird.
Wir wollen, dass rechtsextremistischen Gruppen und Ver-einigungen nicht allein mit Mitteln der Verbotspolitik ent-gegengewirkt wird, sondern auch dadurch, dass wir ihnenden Zulauf nehmen, indem wir verstärkt darauf achten,Heranwachsende bei ihrer Entwicklung zu demokrati-schen Staatsbürgern zu begleiten und sie dabei nicht al-leine zu lassen. Es geht darum, nicht allein Symptome,sondern Ursachen zu bekämpfen.Es ist gut, dass wir im laufenden Bundeshaushalt nichtzuletzt für Projekte der demokratischen Jugendarbeit zu-sätzliche Mittel in einer erheblichen Größenordnung be-reitgestellt haben. Allein im Haushalt des Bundesjugend-ministeriums sind es 40 Millionen DM im Jahr 2001. Esist gut, dass die Bundeszentrale für politische Bildung un-ter der Leitung von Thomas Krüger das Thema Rechtsex-tremismus zu einem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit erklärthat.
Es ist gut, dass mehr und mehr Bundesländer daraufachten, dass Schulen mehr sein müssen als Orte zur Ver-mittlung von Sachwissen, dass jede Schule zugleich eineSchule der Demokratie sein muss, ein Ort, an dem neben
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Sebastian Edathy15802
Mathematik, um ein Beispiel zu nennen, auch Erziehunggeleistet wird, Erziehung zu einem jungen demokrati-schen Staatsbürger, der innerlich so gefestigt ist, dass erdie Herabsetzung anderer für seine eigene Bestätigungnicht nötig hat.
Die Erstellung des fraktionsübergreifenden Antragswar von dem Ziel geprägt, nicht den kleinsten, sondernden größtmöglichen gemeinsamen Nenner der vier betei-ligten Fraktionen zu finden und dabei auf Leerformeln zuverzichten. Ich glaube, das Ergebnis, das wir heute demBundestag vorlegen, kann sich sehen lassen, wobei wir si-cherstellen müssen, dass das gerade von diesem Pult ausoft bemühte Wort von der Nachhaltigkeit der Politik auchfür den Umgang mit Rechtsextremismus in Deutschlandgilt.
Unser Antrag ist dafür eine gute Grundlage. Ich be-dauere es außerordentlich, dass sich die CDU/CSU-Frak-tion sehr schnell aus den Gesprächen über einen gemein-samen Antrag des Deutschen Bundestages zurückgezogenhat und stattdessen einen eigenen Antrag vorlegt.
– Wenn er besser wäre, könnten wir ihm zustimmen. DieElemente, die in Ihrem Antrag gut sind, sind auch in unse-rem enthalten, darüber hinaus enthält unserer aber noch ei-niges mehr. Deshalb ist unser Antrag auch der geeignetere.
Ich habe in den letzten Tagen mehrfach die Behaup-tung gehört und gelesen, die Union habe sich wegen derBeteiligung der PDS dem fraktionsübergreifenden An-trag nicht anschließen können. Das ist so nicht richtig.
Ich will in diesem Zusammenhang einer möglichen Le-gendenbildung vorbeugen. Bevor es nämlich zu konkre-teren Gesprächen gekommen ist, Herr Kollege Büttner,hat die Union als Voraussetzung für einen gemeinsamenAntrag zweierlei zur Bedingung erklärt, und zwar zum ei-nen, dass sich ein Antrag gegen Rechtsextremismus auchmit dem Linksextremismus in Deutschland beschäftigenmüsse. Man müsse also einen Antrag – so wie Sie es auchgetan haben – allgemein zum Thema politischer Extre-mismus stellen.Es kann keinen Zweifel daran geben, dass wir uns alsDemokraten, als Mitglieder des Deutschen Bundestagesdarüber einig sind, grundsätzlich gegen Extremismus je-der Art zu sein. Wer aber angesichts von 16 000 rechtsex-tremistischen und 3 000 linksextremistischen Straftatenim letzten Jahr in Deutschland nicht zur Kenntnis nimmt,dass wir im Bereich des Rechtsextremismus ein beson-ders gravierendes, ein spezifisches Problem haben, wirdSchwierigkeiten haben, mit diesem Problem angemessenumzugehen.
Man muss Probleme, die man lösen will, beim Namennennen. Ich habe vor einigen Jahren in meinem heutigenWahlkreis Zivildienst in einer Klinik für Alkoholabhän-gige geleistet. Ich kann Ihnen darüber berichten: Dieschwierigsten Patienten, die die Klinik immer wieder auf-suchen mussten, waren diejenigen, die nicht eingesehenhaben, dass sie ein Problem mit dem Alkohol hatten.Wenn wir nicht deutlich sagen, dass wir in Deutschlandein Problem mit dem Rechtsextremismus haben, werdenwir Schwierigkeiten haben, dieses Problem zu lösen.
Der zweite Punkt, den die Union zur Bedingung ge-macht hat, war – Sie können das im Antrag derCDU/CSU-Fraktion nachlesen – eine ganze Reihe vonForderungen nach Verschärfungen im allgemeinenStrafrecht, im Jugendstrafrecht und im Versammlungs-recht. Alle Fraktionen, mit Ausnahme der Union, sind derfesten Überzeugung, dass die bestehenden Instrumentedes Rechtsstaates ausreichend sind, wenn sie angewendetwerden.
Im Grunde genommen findet sich im Antrag derCDU/CSU selbst der Hinweis darauf, worauf es an-kommt. Es heißt dort – man muss wissen, dass der Antragschon einige Monate alt ist – wörtlich:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, die Prüfung des Verbots der NPD schnell zuEnde zu führen und bei Vorliegen der Voraussetzun-gen, die einen Verbotsantrag rechtfertigen bzw. not-wendig machen, diesen unverzüglich zu stellen.Meine Damen und Herren von der Union, ich kann esIhnen nicht ersparen: Sie erheben in dem Antrag, den Siehier zur Abstimmung stellen, die Forderung nach einemVerbotsantrag gegen die NPD, wie er nach Art. 21 desGrundgesetzes möglich ist und wie er auch erfolgt ist. ImDezember letzten Jahres haben Sie aber genau das, wasSie in dem Antrag fordern, im Bundestag abgelehnt.
Von der Regierung etwas zu fordern, was man selbst nichtzu tun bereit ist, und nach Verschärfung von Gesetzen zu ru-fen, anstatt die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten an-zuwenden und auszuschöpfen, das passt nicht zusammen.
Herr Kol-lege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des KollegenBosbach?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Sebastian Edathy15803
Da ich mit meiner Redezeit
fast zu Ende bin, bin ich für die Zwischenfrage sehr dank-
bar.
Herr Kollege
Edathy, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die politische Haltung, die die Union in den letzten Wo-
chen zu diesem Thema eingenommen hat, exakt dem ent-
spricht, was Sie gerade aus unserem Antrag vorgelesen
haben? Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, ge-
meinsam mit den Bundesländern – nur sie verfügen über
das gesamte Tatsachenmaterial – Befunde zusammenzu-
tragen, um die Frage zu beantworten, ob das vorhandene
Tatsachenmaterial ausreicht, damit ein Verbotsantrag in
Karlsruhe hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
Es hat eine Bund-Länder-Kommission gegeben, die das
Tatsachenmaterial zusammengetragen hat. Anschließend
sind Bundesrat und Bundesregierung gemeinsam zu der
Überzeugung gelangt, dass ein Antrag geboten ist und
hinreichende Erfolgsaussichten haben wird.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in
der entsprechenden Debatte des Deutschen Bundestages
ausdrücklich zum Ausdruck gebracht haben, dass wir die
Anträge von Bundesregierung und Bundesrat begrüßen,
es aber nicht als notwendig erachten – es ist übrigens das
erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land –, dass auch der Deutsche Bundestag als dritte Pro-
zesspartei in Karlsruhe auftritt?
Herr Kollege Bosbach, ich
kann Ihnen bestätigen, dass Ihre Fraktion im Dezember
des letzten Jahres nicht dafür gestimmt hat, dass der Deut-
sche Bundestag einen Antrag auf Verbot der NPD stellt.
Ich kann Ihnen ebenfalls bestätigen, dass ich es nur als ein
strategisches Manöver betrachte, wenn Sie als Parlamen-
tarier von der Regierung politische Leistungen fordern,
die Sie selber mit zu erbringen nicht bereit sind. Das ist
das Problem.
Ich möchte zwar nicht sagen, dass der Antrag der
Union völlig ungeeignet ist.
Aber wir haben – das habe ich schon betont – die we-
sentlichen Dinge, die gut sind, in unseren Antrag über-
nommen. Dazu gehört übrigens auch die Aussage aus
Ihrem Antrag, Herr Marschewski, die mir besonders gut
gefallen hat – ich zitiere wörtlich –: „In der Sprache der
öffentlichen Debatte sollten wir entschlossen, aber diffe-
renziert und sensibel sein“. Ich hätte mir gewünscht, dass
Sie das in der gestrigen Debatte über den Nationalstolz
beherzigt hätten.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Ganz im Sinne der Forderung der Union nach einem
sensiblen Umgang enthält unser fraktionsübergreifender
Antrag den Satz:
Der Deutsche Bundestag fordert die demokratischen
Parteien in Deutschland auf, Wahlkämpfe nicht auf
dem Rücken von Minderheiten bzw. Menschen an-
derer Herkunft zu führen.
Ich würde mich freuen, wenn wenigstens dieser Satz die
Unterstützung der Union finden würde, und zwar im Inte-
resse eines friedlichen Zusammenlebens in Deutschland,
das zwar niemals konfliktfrei sein kann, das aber gewalt-
frei sein muss. Diesen Konsens der Demokraten sollten
wir mit unseren heutigen Entscheidungen unterstreichen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Schäuble von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Edathy, der Anfang Ihrer Ausführungen warganz in Ordnung, obwohl ich gleich eine Bemerkung zurGemeinsamkeit und zum Wettbewerb machen möchte,der ja zur Demokratie dazugehört. Aber als Sie aus demAntrag der Unionsfraktionen vorgelesen haben, um un-sere Haltung zum NPD-Verbot deutlich zu machen, habenSie verschwiegen – das war ein kleiner Mangel –, dassdieser Antrag vom 11. September 2000 stammt, also langevor der Debatte und der Entscheidung über das NPD-Ver-bot gestellt wurde. Sie haben damals im Innenausschussnicht zugestimmt, aus unserem Antrag eine Beschlussemp-fehlung zu machen. Jetzt zitieren Sie aus unserem Antragvom September. Ihr Hinweis, dass nun Ende März 2001sei, ist zwar zutreffend. Aber wir haben unseren Antragviel früher im Innenausschuss und im Plenum des Bun-destages eingebracht als Sie Ihren. Darauf hätten Sie hin-weisen sollen, als Sie aus unserem Antrag zitiert haben.Zweite Bemerkung – ich möchte das wiederholen, wasschon der Kollege Bosbach gesagt hat –: Wir sind derMeinung, dass das Bundesverfassungsgericht den An-trag auf Verbot der NPD prüfen und über ihn entscheidenmuss. Wir haben den gemeinsamen Antrag von Bundes-regierung und Bundesrat unterstützt. Über die Frage, obder Bundestag zusätzlich einen Antrag stellen sollte und
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ob dadurch eventuell missverständliche Eindrücke überdas Verhältnis der Verfassungsorgane erweckt werden,zum Beispiel, dass es mehr auf Mehrheiten als auf eineverfassungsmäßige Überprüfung durch ein unabhängigesGericht ankommt, kann man unterschiedlicher Meinungsein und wir waren auch unterschiedlicher Meinung da-rüber. Im Übrigen sind auch die vier Fraktionen, die dieBeschlussempfehlung gemeinsam vorgelegt haben, indieser Frage – wenn ich mich nicht sehr täusche – unter-schiedlicher Meinung. Also bauen Sie keinen Popanz auf.Dritte Bemerkung. Wir sind uns über das Ziel derBekämpfung von Extremismus, Gewalt und Fremden-feindlichkeit einig. Aber es gehört zu einer Demokratiedazu, dass man über den Weg, wie die gemeinsamen Zieleerreicht werden können, unterschiedlicher Meinung seinkann. Es ist ja geradezu ein Merkmal des Extremismus,den wir gemeinsam bekämpfen, dass er andere Meinungennicht akzeptieren will, dass er seine Meinung und das, waser für richtig hält, zur allein und ewig gültigen Meinungmachen will, dass er deshalb die Freiheit und die Pluralitätdes demokratischen Meinungsaustausches beseitigenwill und dass er die Reversibilität von Ergebnissenbekämpfen will. Also lassen Sie uns die Möglichkeit, un-terschiedliche Meinungen zu haben, als das demokratischePrinzip und als das, was Grundlage für den demokrati-schen Wettbewerb ist, bitte gemeinsam verteidigen. Las-sen Sie uns nicht sagen, Gemeinsamkeit bedeute, dass wiralle in jeder Frage einer Meinung sein müssen.
Ich habe an den Beratungen im Innenausschuss nichtteilgenommen.
– Ich bin auch gar nicht Mitglied des Innenausschusses.Aber es wird ja erlaubt sein, trotzdem zu dem Thema zusprechen, wenn man von der Fraktion darum gebetenwird.Ich will Ihnen sagen, was mir am Antrag der CDU/CSU besser gefällt als an der gemeinsamen Beschluss-vorlage der anderen Fraktionen. Sie beschränken sich inIhrem Antrag im Wesentlichen auf die Aufzählung vonMaßnahmen, die bereits beschlossen und in Kraft gesetztworden sind. Eine solche Aufzählung mag etwas Nützli-ches und Gutes sein, aber wenn wir Beschlüsse im Deut-schen Bundestag fassen, sollten wir uns schon um dieDinge kümmern, die zusätzlich geschehen sollten. Dazusteht in Ihrem Antrag gar nichts,
in unserem stehen eine Reihe von konkreten Maßnahmen.
Wir schlagen auch auf dem Gebiet des Strafrechts kon-krete Maßnahmen vor; vielleicht geht es aber um diesesGebiet gar nicht so sehr. Sie sollten noch einmal darübernachdenken, ob uns nicht eine Änderung des Versamm-lungsrechts – schauen Sie sich einmal auch die verwal-tungsgerichtliche Rechtsprechung dazu an – im Kampfgegen diese Erscheinungen, die wir gemeinsam verurtei-len und erfolgreicher bekämpfen wollen, wirklich helfenkönnte. Ich halte diesen Weg für richtig.
Es gibt doch das Problem, dass wir extremistische, frem-denfeindliche, gewalttätige Exzesse alle miteinander ver-achten, ihnen aber in der Öffentlichkeit ein Maß an Be-achtung schenken, das falsch ist. Vielleicht sollten wirweniger beachten und mehr verachten.
– Nein, überhaupt nicht.Lassen Sie uns doch einen Moment darüber nachden-ken, ob es wirklich richtig ist, hinzunehmen, dass einerMinderheit von gewalttätigen und extremistischen Men-schen durch die Wahl eines bestimmten Demonstra-tionsortes – in der Nähe des Reichstagsgebäudes gibt essolche Lokalitäten – ein Maß an öffentlicher Aufmerk-samkeit zuteil wird, das ihr in der Sache überhaupt nichtzusteht. Deswegen sage ich noch einmal, dass wir fürVerachten und nicht für ein Übermaß an Beachtung seinsollten. Wir treiben das durch ein Übermaß an medialerAufmerksamkeit und Hysterie doch eher hoch. Das hatmit Wegsehen überhaupt nichts zu tun.
– Entschuldigung, Herr Kollege Schmidt.
– Sebnitz steht für ein Übermaß an Hysterie.Glauben Siedenn nicht, dass Sie möglicherweise das Gegenteil vondem erreichen, was Sie beabsichtigen, wenn Sie durchmediale Übertreibungen den Eindruck erwecken – –
– Entschuldigung, eine Sekunde; wir reden über die Not-wendigkeit einer Änderung des Versammlungsrechts. Wirdürfen rechtsextremistische, fremdenfeindliche und ähn-liche Exzesse nicht noch durch ein unverhältnismäßigesMaß an öffentlicher Aufmerksamkeit fördern. Man mussdoch einmal einen Moment selbstkritisch darüber nach-denken, was in unserem Lande los ist. Immerhin hat es diegesamte Öffentlichkeit für möglich gehalten, dass in ei-nem Schwimmbad in einer Kleinstadt ein Kind umge-bracht worden ist und dass alle zugeschaut haben. InWirklichkeit ist nichts Derartiges geschehen. Wenn dasnicht ein Übermaß an medialer Hysterie ist, das uns An-lass zum Nachdenken geben muss – wir dürfen eben nichtdas fördern, was wir in Wirklichkeit gar nicht wollen –,dann weiß ich nicht mehr, was Argumente sollen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Dr. Wolfgang Schäuble15805
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht durch ein Über-maß an Betroffenheit den Eindruck erwecken, als würdedie Realität von den Verantwortlichen – das betrifft nichtnur die Politik, sondern zum Teil auch die Medien – indiesem Lande nicht mehr wahrgenommen.Es gab schlimme Vorfälle und wir müssen sie mit allerEntschiedenheit bekämpfen.Ich stimme Ihnen in Ihrem Lob für Polizei und Justiz– sie ist, was die Bearbeitung der Verfahren angeht, deut-lich schneller geworden; das ist der richtige Weg, dasmuss man wirklich einmal sagen – völlig zu. Wir habenlange darüber gestritten, ob man solche Erscheinungenmit Mitteln der Polizei und der Justiz bekämpfen kann.Heute sind wir uns darüber einig, dass dieser Weg richtigist. Wir wären noch einen Schritt weiter, wenn wir auchdas Versammlungsrecht stärker nutzen würden. Aber da-rüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich be-gründe, warum wir unseren Antrag für besser als Ihrenhalten.Ich bin im Übrigen schon der Meinung, dass wir auf-passen müssen. Im Augenblick macht uns der Rechts-extremismus sehr viel mehr Sorge als andere Erschei-nungsformen; das ist gar keine Frage. Dennoch ist dieDifferenzierung zwischen rechts und links immer proble-matisch. Wir sollten dabei bleiben, dass wir Extremismusund Gewalttätigkeit in jeder Form mit aller Entschieden-heit bekämpfen
und nicht das eine durch das andere legitimieren. Ich habein der Beschlussempfehlung beispielsweise gelesen, dassfür die Opfer rechter Gewalt zusätzliche Mittel vorgese-hen werden sollen. Ich bin der Meinung: Wir sollten denOpfern jeder Form von Gewalt entsprechende Hilfen zu-kommen lassen.
Das ist ein Fehler Ihrer Beschlussempfehlung.Es gibt eine Reihe von Punkten, an denen man sehr ge-nau belegen kann, warum unser Antrag besser ist undwarum wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen, sondernan Sie appellieren, unserem Antrag zuzustimmen.Ich spreche jetzt ein wenig als Baden-Württemberger:Wir haben in meinem Heimatland Baden-Württembergneun Jahre lang das Problem gehabt, dass die Republi-kaner im Landtag vertreten waren. Wir sind sehr froh,dass dies seit dem vergangenen Sonntag nicht mehr so ist.
Ich bin mir in der Einschätzung ziemlich sicher, dass die-ses für viele überraschende Ergebnis deswegen erreichtworden ist, weil wir in Baden-Württemberg die wesent-lichen Probleme gelöst haben, die die Menschen beifrüheren Wahlen fälschlicherweise veranlasst haben, dieRepublikaner zu wählen. Das Wichtigste ist also das Lö-sen von Problemen.Deutschland ist ein offenes, ausländerfreundliches undtolerantes Land. Wir sollten unter allen Umständen ver-hindern, dass durch eine einseitige Berichterstattung beider großen Mehrheit unserer Bevölkerung ein falscherEindruck von der Wirklichkeit unseres Landes erzeugtwird.
Ich bin dafür – darin sind wir uns einig –, dass wir Miss-stände und Fehlverhalten mit aller Entschiedenheitbekämpfen. Aber ich bin dagegen, dass wir den Eindruckerwecken, dass überall in Deutschland Minderheiten undAusländer von der Mehrheit der Bevölkerung verfolgtoder diskriminiert werden. Das Gegenteil ist der Fall.Deswegen sage ich noch einmal: Wir sind ein ausländer-freundliches, tolerantes Land und wir wollen es auch inder Zukunft bleiben. Wir müssen alles daransetzen, dassdas geschieht. Das heißt: Wir müssen die Probleme lösen.Wir sind dafür, im Bundestag und im Bundesrat eineGesetzgebung zu einer umfassenden Zuzugsregelung zumachen. Die CDU/CSU wird Vorschläge dazu vorlegen.Wir arbeiten intensiv daran. Dass es durch die Änderungdes Asylrechts gelungen ist – ich habe dafür, das ist inOrdnung, viel Kritik aushalten müssen; das gilt auch fürandere Personen, auch aus Ihren Reihen –, die Zahl derAsylanträge von einstmals 400 000 pro Jahr auf unter100 000 pro Jahr zurückzuführen, ist ein entscheidenderBeitrag dazu, dass Toleranz und Ausländerfreundlichkeitin unserem Land erhalten bleiben.
Wer die Probleme nur hoch redet und sie nicht löst, derwird das Gegenteil von dem erreichen, was er will.Ich bin sehr sicher – ich sage das ganz ruhig; ich weiß,dass das bei Ihnen nicht nur Freude hervorruft –, dass wirfür Toleranz und Integration in unserem Lande einen un-verzichtbaren Beitrag geleistet haben, indem wir Sie, dieSozialdemokraten, davon abgebracht haben, den Unfugeiner doppelten Staatsangehörigkeit für alle einzubür-gernden Personen einzuführen. Sie hätten damit der Inte-gration und der Toleranz in unserem Lande einen Bären-dienst erwiesen.
Wer die Probleme nicht löst, sondern – zum Zweckedes Hervorrufens von Betroffenheit und notfalls der par-teipolitischen Profilierung – ausnutzt,
der fördert in Wahrheit weder Toleranz noch Integrationnoch Mäßigung, sondern das Gegenteil.
– Sie haben in vieler Hinsicht bemerkenswerte Debatten-beiträge geleistet. – Ich glaube, dass es sehr viel besser ist,wenn der Rechtsstaat mit einer gewissen ruhigen, gelas-senen Würde und Autorität handelt. Das ist besser als ein
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Dr. Wolfgang Schäuble15806
Übermaß an Betroffenheitsrhetorik, wodurch die Pro-bleme nicht wirklich gelöst werden.Wir sollten die Situation mit Augenmaß betrachten.
Ich sagte vorhin schon, dass Verachtung wichtiger ist alsein Übermaß an öffentlicher Aufmerksamkeit. JungeMenschen neigen manchmal dazu zu provozieren. Siewollen Aufmerksamkeit erregen, was ihnen auf dieseWeise leicht gelingt.
Ich komme auf die Debatte um die nationale Identitätzurück, die wir gestern geführt haben und die wir weiterführen müssen. Wenn wir den Rechtsextremen überlassenwürden, sich der nationalen Identität anzunehmen – meinFraktionsvorsitzender hat gestern sehr Bemerkenswertesund Richtiges dazu gesagt –
– er hat in diesem Zusammenhang sogar Walter Jens zi-tiert; das war in diesem Fall angemessen und richtig –,dann wäre dies ein Förderprogramm für Rechtsextreme.Ich sage noch einmal: Herr Trittin treibt mit seiner Hal-tung, die er schriftlich bestätigt hat, die Menschen eherzu den Rechtsextremen, anstatt die Rechtsextremen wir-kungsvoll zu bekämpfen. Diese Haltung ist deshalb falsch.
Im Übrigen müssen wir den jungen Menschen, dieglauben – was falsch ist –, das Nationale würde inDeutschland nicht ernst genommen, sagen: Es hat nie-mand mehr Schande über die Deutschen gebracht als dieNazis mit ihren grauenvollen Verbrechen. Auch dasgehört zu den Wahrheiten, die man den jungen Menschenimmer und immer wieder sagen muss.
Wenn wir Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Ge-walt bekämpfen wollen, ist es am wichtigsten, dass wirmit Maß und Würde, aber auch mit Autorität und Konse-quenz handeln.
– Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Frau Kollegin,auf die Frage, ob ausgerechnet die PDS besonders geeig-net ist, im Kampf gegen den Extremismus an vordersterFront zu stehen, heute keine Ausführungen zu machen.Aber angesichts Ihres Zurufs bin ich versucht, dies zu tun.
– Dieser Zuruf ist ja noch bemerkenswerter.
Er zeigt nämlich, dass die Sozialdemokraten mehr alszehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch be-haupten, in Wahrheit sei die CDU für die Verhältnisse inder DDR verantwortlich gewesen. Sie machen sich schonein wenig lächerlich.
– Das sind Ihre Vorwürfe.Ich habe am Anfang in Erwiderung auf Ihren Kollegen,der vor mir gesprochen hat, gesagt: Extremismus zeichnetsich gerade dadurch aus, dass er den Wettbewerb ver-schiedener politischer Ideen und Lösungsmöglichkeitenverhindert. Genau in diesem Sinne war das kommunis-tische Zwangssystem in der DDR extremistisch. An die-ser Tatsache kommen Sie nicht vorbei. Die Menschen ha-ben dieses System in einer friedlichen Revolutionabgeschafft. Sie sollten sich daher nicht als die wahrenKämpfer gegen den Extremismus bezeichnen. Das ist einbisschen viel der Ehre.
Ich bin für die Gemeinsamkeit der Demokraten. Diesebeinhaltet im Wesentlichen, dass wir im Falle unter-schiedlicher Meinungen um die richtige Lösung streiten.Ich stelle daher fest: Der Antrag der CDU/CSU ist besser.Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie ihm zu!
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbachvom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Rechtsextremismus ist eine Herausforderung für alle de-mokratischen Parteien. Herr Schäuble, wenn Sie ange-sichts der Tatsache, dass im letzten Sommer endlich dieSpitze des Eisbergs in das Blickfeld der Öffentlichkeitgerückt wurde, von einem Übermaß an Betroffenheit undvon Medienhysterie sprechen,
dann finde ich das Ausmaß an Ignoranz und Zynismus,das sich darin zeigt, erschreckend.
Es ist leider – das wissen Sie genauso gut wie ich – einFaktum, dass es in Deutschland, gerade in den fünf neuenLändern, immer noch Gebiete gibt, in denen sich Men-schen mit dunkler Hautfarbe, Flüchtlinge, Obdachlose,Homosexuelle und andere wegen der akuten Bedrohungdurch rechtsextreme Gewalt nicht frei bewegen können,ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Sie wissen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Dr. Wolfgang Schäuble15807
dass es solche Zonen gibt. Eine Demokratie, die sich ernstnimmt, muss sich daran messen lassen, ob sie den Min-deststandard, Bewegungsfreiheit für alle – auch für Min-derheiten – sicherzustellen, erfüllt.
Deswegen bin ich sehr froh, dass SPD, Bündnis 90/DieGrünen, F.D.P. und PDS es geschafft haben, zu einem ge-meinsamen Antrag zur Bekämpfung von Rechtsextremis-mus zu kommen. Umso bedauerlicher ist es, dass sich dieCDU diesem Konsens bislang nicht angeschlossen hat.
In dem Antrag haben wir uns auf einen Minimalkonsensgeeinigt; er geht allerdings in der Substanz sehr weit undkann sich deshalb sehen lassen. Selbstverständlich gibt esin allen Fraktionen Forderungen, die darüber hinausge-hen. Die Unionsparteien sind in diesem Bereich keines-wegs ein Einzelfall. Für mich ist es unverständlich,warum Sie, meine Damen und Herren von der Unions-fraktion, sich selbst von diesem demokratischen Konsensausschließen.Die Rahmenbedingungen für Rechtsextremismus ent-stehen in der Mitte der Gesellschaft. Rechtsextreme set-zen in Gewalt um, was an den Stammtischen – aber leidernicht nur dort – geredet wird.
Die Opfer rechtsextremer Gewalt sind Menschen, die zumTeil auch von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Ge-rade die Politik muss hier ihre Verantwortung ernst neh-men. Wir müssen eine umfassende Integrationspolitikbetreiben. Dazu gehört auch ein sensibler sprachlicherUmgang mit Minderheiten und Themen der Asyl- undMigrationspolitik. Dabei geht es nicht um die Frage, ob,sondern um die Frage, wie darüber geredet wird. Ich bindeswegen besonders froh, dass wir unter den vier betei-ligten Fraktionen zu der Übereinkunft gekommen sind,Wahlkämpfe nicht mehr auf dem Rücken von Minderhei-ten und Menschen anderer Herkunft zu führen. Ichmöchte die Unionsparteien ausdrücklich einladen, sichdoch zumindest diesen Punkt zu Eigen zu machen.
Wir haben es beim Rechtsextremismus nicht mit einemabgrenzbaren Problem irgendwo am Rande der Gesell-schaft zu tun. Es gibt Berichte, die Rechtsextremismusvor allem im Osten als Mainstream unter Jugendlichenoder als Alltagskultur beschreiben. Es wäre daher eineIllusion, zu glauben, es gäbe Patentrezepte oder schnelleund einfache Lösungen. Wir werden in dieser Auseinan-dersetzung einen langen Atem brauchen und, wie ichfürchte, nur in seltenen Fällen kurzfristig sichtbare Er-folge präsentieren können. Obwohl wir also keinen Kö-nigsweg vorschlagen können, haben wir in unserem An-trag drei Handlungsfelder aufgezeigt, in denen man zukonkreten Ergebnissen kommen kann:Erstens ist dies die Stärkung der Zivilgesellschaft. Eskommt nicht allein darauf an, repressiv gegen Rechtsex-treme vorzugehen, sondern auch darauf, die demokrati-sche Gesellschaft zu stärken und Zivilcourage zu fördern.
Die Debatten, die wir hier seit dem letzten Sommer überRechtsextremismus geführt haben und die sich konkret indiesen Anträgen niedergeschlagen haben, haben bereitsdazu beigetragen, dass viele Menschen das Problem er-kannt und dazu Stellung bezogen haben. Wir wollen dieseAuseinandersetzung weiterführen und verstetigen. Demdienen die Maßnahmen in der politischen Bildung, zumBeispiel durch die Bundeszentrale für politische Bildung,zur Qualifizierung in der Jugendarbeit und zur Stärkungder demokratischen Jugendkultur. Wir hoffen vor allem,durch die Modellprojekte der mobilen Beratungsteamsneue Wege zu finden, wie man rasch und adäquat an denStellen reagieren kann, wo die Menschen vor Ort, in derSchule, im Jugendzentrum und auf der Straße, konkret mitrechtsextremer Gewalt konfrontiert werden.Das zweite Handlungsfeld betrifft die Integration unddie Stärkung der Position von Minderheiten, die Opferrechtsextremer Gewalt werden. Dabei handelt es sich– wie ich vorhin schon sagte – oft um Gruppen, die auchvon der Gesellschaft ausgegrenzt werden und nicht seltenim Alltag Diskriminierung erfahren. Die Änderung desStaatsangehörigkeitsrechts und die geänderten Regelun-gen zum Arbeitsverbot für Asylbewerber waren Schrittein Richtung zu mehr Integration. Dem müssen nun wei-tere folgen, zum Beispiel das Antidiskriminierungsgesetz.
Wir haben mit den im Antrag enthaltenen Maßnahmen ei-nen Schwerpunkt auf den besseren Schutz der Opfer ge-setzt. Dem dienen die Opferberatungsstellen, durch diesoziale, rechtliche und psychische Unterstützung geleistetund vermittelt werden soll, und der Härtefonds zur un-bürokratischen Entschädigung.Drittens kommen wir nicht umhin, den Aktionsradiusvon Rechtsextremen einzuschränken. Dazu bedarf es aberkeiner neuen Gesetze, denn Bedrohung, Körperverlet-zung, Brandstiftung, Totschlag und Mord sind hinreichendstrafbewehrt. Es kommt darauf an, im Vorfeld aktiv zuwerden. Darum setzen wir uns für die präventive Bestrei-fung von Orten ein, die als Treffpunkt rechtsextremer Ge-walttäter bekannt sind und von denen bekanntermaßen Ge-walt ausgeht. Die bestehenden Gesetze müssen nicht nurangewandt, sondern auch rasch angewandt werden. Dasheißt keineswegs, dass es fragwürdige Schnellverfahrengeben soll, sondern heißt, dass Prozesse zu Gewaltstrafta-ten justizorganisatorisch vorgezogen werden müssen, da-mit die Täter nicht erst Jahre später und oft nach einerganzen Reihe weiterer Straftaten verurteilt werden.Ich will damit nur andeuten, dass es eine ganze Reihevon Möglichkeiten gibt, die Strafverfolgung zu intensi-vieren, ohne allgemeine Bürger- und Bürgerinnenrechteeinzuschränken, wie die Unionsparteien und vorhin auchwieder Herr Schäuble hier am Pult vorgeschlagen haben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Annelie Buntenbach15808
Das wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Wenn wirnämlich die Gesellschaft mobilisieren wollen, dann brau-chen wir nicht weniger, sondern mehr demokratischenHandlungsspielraum. Je mehr Menschen auf die Straßegehen, sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen, Zi-vilcourage zeigen und sich einmischen, desto geringer istder Aktionsradius für rechtsextreme Gewalttäter.
Ich sehe keinen Grund, warum sich die Unionsparteiendiesem Konsens verweigern. Sie wenden mit diesem Ver-halten ihren ständigen Vorwurf, der Rechtsextremismuswürde parteipolitisch funktionalisiert, gegen sich selbstund begeben sich damit ins politische Abseits.Ich will die Nationalstolzdebatte hier nicht weiter-führen, möchte aber noch einmal klar sagen: Wer die Pa-rolen von Rechtsextremen und Nazis übernimmt, dergräbt ihnen nicht das Wasser ab, sondern gießt es auf ihreideologischen Mühlen.
Wer sich undifferenziert zu Deutschland bekennt und sagt„Ich bin stolz, Deutscher zu sein“, der meint die ganzedeutsche Geschichte. Darum ist das eine Parole derRechtsextremen. Demokraten sollten sich davor hüten,sie zu kolportieren.
Wir können den Rechtsextremismus nämlich nichtbekämpfen, indem wir auf seine Parolen ein anderes Eti-kett kleben, sondern nur, indem wir ihm demokratischeWerte und demokratisches Handeln entgegensetzen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang
Gerhardt von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Bundesinnenminister hatden Verfassungsschutzbericht 2000 vorgelegt, der einesteigende Zahl rechtsextremistisch motivierter Straf- undGewalttaten schildert. Es wird festgestellt, dass das Perso-nenpotenzial nicht steige, sondern eher zurückgehe, aberauch, dass sich in dem vorhandenen Personenpotenzial dieBereitschaft, Gewalt anzuwenden und aggressiver zu rea-gieren, erhöht habe. Die gewaltbejahenden Äußerungenwürden deutlicher und vielfältiger.Die kulturelle Revolution von rechts, wie es derVerfassungsschutzbericht ausdrückt, über Konzertveran-staltungen, über die Gruppenszene gelinge nicht, sonderngehe eher zurück. Die Bedeutung des Internets aber steige.Es gebe noch keine ausreichende Reaktion auf die Dimen-sion des Missbrauchs dieses Mediums.All das unterstreicht, dass wir eine sehr differenzierteReaktion brauchen.
Deshalb will ich daran erinnern: Meine Fraktion, dieF.D.P., hat am 5. April des vergangenen Jahres einen An-trag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus einge-bracht. Ich muss mich heute im Nachhinein wundern, wiegering die Reaktion auch in diesem Haus auf diesen Vor-gang war.
Alles bis zu der Bemerkung – und zwar ohne Ansehen ei-ner bestimmten Fraktion –, ob denn wirklich Bedarf be-stünde, darüber ausführlich zu diskutieren, klingt mirnoch sehr in den Ohren.Die Bundesregierung hat natürlich – das sollten wir ausdem parteipolitischen Streit heraushalten – mit einerSumme von Maßnahmen reagiert, auch, was im Übrigensehr erfolg-reich war, in Richtung eines Verbots rechtsex-tremer Organisationen, soweit man verwaltungsmäßigselbst entscheiden konnte, bis hin zur Vereinheitlichung derKriterien für die Erfassung rechtsextremistischer und anti-semitischer Straftaten, um überhaupt ein Lagebild zu be-kommen – das ist eine notwendige Aufgabe –, und zur Ver-stärkung im Bereich der politischen Bildung. Aber – umauch das hier zu sagen – das bleibt doch alles sehr im Be-reich traditioneller Maßnahmen. Das ist eine Hausaufgabe,die man zu erledigen hat.Selbst die Fragestellung, wie man zu dem Antrag aufVerbot der NPD steht – wir müssen sie heute nicht aus-führlich diskutieren, sondern kommen ein anderes Maldarauf zurück –, ist eine traditionelle Reaktion. Die Bun-desregierung ist der Überzeugung, er entfalte große Sym-bolkraft und nehme den Nährboden in Form einer organi-satorischen Hülle weg. Aber es gibt viele organisatorischeHüllen und viele Parteien, in die die Wölfe wie in einenSchafspelz sofort wieder schlüpfen können.
Im Übrigen werden wir das Argument, man nehme mitgroßer Symbolkraft eine organisatorische Hülle weg, er-neut besprechen, wenn das Bundesverfassungsgericht amEnde entschieden haben wird. Denn darauf darf manheute ja aufmerksam machen: Bei aller Überzeugung undGlaubenskraft der Bundesregierung – ihre Glaubenskraftist ja auch in vielen anderen Bereichen größer als das, wasan Ergebnissen tatsächlich zutage tritt – entscheidet amEnde Karlsruhe.
Ob Karlsruhe das so bewerten wird wie die Bundesregie-rung, das lassen wir heute einmal völlig außerhalb dieserDebatte. Entschiede das Gericht aber anders, hätte dieBundesregierung mit diesem Vorgehen eher die andereSeite gestärkt, als dass ihr mit großer Symbolkraft dasWasser abgegraben würde.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Annelie Buntenbach15809
Manche Reaktionen der Bundesregierung sind alsorichtig, manche sind im Streit. Bedauerlicherweise habenSie, liebe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sich trotzdes gemeinsamen Antrags bei den Haushaltsberatungendafür entschieden, einen Antrag der F.D.P. abzulehnen,der 300 Millionen DM für Maßnahmen der politischenBildung, Sozialarbeit und kommunalen Jugendarbeit vor-sah. Mir fehlt dafür das Verständnis;
denn wenn man gemeinsame Aktionen will, dann sollteman auch parteienübergreifend die Souveränität haben,solchen Maßnahmen zuzustimmen.Aber auch ein solches Programm verbliebe natürlicham Ende im Bereich traditioneller Maßnahmen. Es reihtesich in gewaltige Kraftanstrengungen ein, könnte aberwahrscheinlich auch nicht bis zum Kern vorstoßen. Die-sen Kern möchte ich jetzt einmal an zwei Punkten zu be-schreiben versuchen.Ich habe im letzten Jahr Schulen besucht und werde dasauch fortsetzen. Wenn Schülerinnen und Schüler einementgegentreten, dann spürt man, dass sie im Hinblick aufdiesen katastrophalen Abschnitt deutscher Geschichtezwei Sachverhalte bemerken. Sie beklagen manche Un-terrichtserteilung als schlichte Unterrichtung über einenAbschnitt deutscher Geschichte, ohne dass sie ausrei-chendes persönliches Engagement der Lehrerinnen undLehrer spürten, als handelte es sich bei diesen Unterrich-tungen um etwas Ähnliches wie die Erteilung des Mathe-matikunterrichtes oder die Lektüre eines Buches imDeutschunterricht. Sie vermissen ein Stück erzieherischerQualität in der Begleitung des Unterrichtsstoffes. Auf deranderen Seite beklagen sie genauso eine pädagogischePenetranz mit intellektuellem Rohrstock bei der Vermitt-lung dieses katastrophalen Abschnitts deutscher Ge-schichte, und zwar so stark, dass sie ihren Protest dagegenerregt.
Die pädagogische Qualität und die Fähigkeit von Leh-rerinnen und Lehrern, das zustande zu bringen, wasWolfgang Schäuble eben erwähnt hat, nämlich den Schü-lerinnen und Schülern zu vermitteln, dass niemand andersals die Nazis Schande über das deutsche Volk gebracht ha-ben, sind nicht so ausreichend ausgeprägt, dass sie sichder jungen Generation mitteilten.
Weil ich diese Gegenreaktionen erlebe, stelle ich mirdie Frage, welche erzieherischeQualität im Hinblick aufsolche Schlüsselszenen des Unterrichts an deutschenSchulen zu entwickeln ist. Viele Familien glauben, siekönnten sich mit dem Hinweis darauf, dies sei Sache derSchule und der Politik, heraushalten. Das dürfen wir nichtzulassen. Das ist nicht die Chefsache des Bundeskanzlersoder der MdBs aus allen Fraktionen, das ist die Chefsachejeder Mutter und jedes Vaters in einer deutschen Familie.Dem darf sich niemand entziehen.
Um auf die gestrige Debatte zurückzukommen: DasStolzsein auf irgendetwas hat zwei ganz unterschiedlicheGrundlagen. Eine liegt darin, dass es oft als Kompensa-tion individueller Schwächen oder schwieriger Lebenssi-tuationen empfunden wird, dass man sich eine Erlösungs-ideologie sucht und ihr nachläuft. Ideologen – jetzt mussich allerdings sagen: von links und rechts – nutzen solcheSituationen immer in ungemein starkem Maße. Welt-anschauungstransporteure waren und sind immer dadurchgekennzeichnet, dass sie Menschen schwacher intellektu-eller Qualität für sich gewinnen.Beide Vorgänge zeigen einen unglaublichen Bedarf anwirklicher erzieherischer Qualität. In die deutsche Bil-dungspolitik darf man wohl wieder die Erkenntnis ein-führen, dass es in ihr nicht nur auf die Dauer von Schul-zeiten, auf die wettbewerbsfähige Hochschullandschaftund darauf ankommt, ob man die Kinder mit fünf odersechs Jahren einschult und ob für die Kindergärten Bei-träge gezahlt werden müssen oder nicht. In die Bildungs-politik in einer Demokratie muss die notwendige Erzie-hung zur Demokratie und zum verantwortungsbewusstenUmgang mit der Freiheit sowie die Wertevermittlungeinziehen. Diese Überzeugung muss man dann auch überdie Fraktionen hinweg vertreten.
Die gestrige Diskussion hat im Übrigen das ganze Di-lemma deutlich gemacht. Es soll doch niemand glauben,dass man allein mit diesem Hinweis auf den katastropha-len Abschnitt der deutschen Geschichte kulturelle Bin-dungen, das Empfinden der sprachlichen Heimat derDeutschen in europäischer Einbettung beseitigen könnte.Das sind ganz natürliche menschliche Regungen. Esreicht nicht aus, ihnen nur mit „political correctness“ ge-genüberzutreten. Die Sprache als Heimat, die Kulturge-schichte des Lernens in Deutschland – das überwindet,weil wir Menschen sind, auch diesen katastrophalen Ab-schnitt.Den Gefahren, die darin stecken, vorzubeugen undWirkung zu erzielen, darauf kommt es an. Das ist ganz ent-scheidend. Das heißt, wir dürfen ganz bestimmte zivilisa-torische Tugenden nicht dem Amüsierbetrieb preisgeben.
Das sage ich jetzt aber auch einmal zur anderen Seite.Den Fingerzeig derjenigen, die gestern ihren Zeigefingernach rechts erhoben haben und sich sogar dazu verstiegenhaben zu sagen, die Mitte in Deutschland reagiere manch-mal fahrlässig so, dass sie rechts begünstigt, würde ichgerne entgegennehmen, wenn sie sich genauso stark überden zivilen Ungehorsam von links, über die Blockadenauf Schienen, über die Aufforderung „Macht kaputt, waseuch kaputt macht“ ereifern. Leider jedoch wendet dieseSeite eine Sprache an, die den Menschen nicht mehr klarvermittelt, dass Gewalt kein legitimes Mittel zur Durch-setzung politischer Ziele ist.
Die Herausforderung besteht darin, Gesetz und Rechtund ganz bestimmte Tugenden auch gegen die eigenenEmotionen und eigenen Vorstellungen gelten zu lassen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt15810
Deswegen hört sich meine Fraktion ungern an, wenn unsvon ganz linker Seite moralisierend erzählt werden soll,wie man Rechts besser begegnet. Jeder muss an seinerStelle das Notwendige tun.
Wolfgang Schäuble hat – darauf will ich abschließendaufmerksam machen – zu Recht das Ergebnis der baden-württembergischen Landtagswahl hinsichtlich des Ab-schneidens der Republikaner begrüßt und gewürdigt. Die-ses Ergebnis freut uns alle.Folgendes will ich auch nach außen sagen: Bürgerin-nen und Bürgern waren sich nicht zu fein, zur Wahl zu ge-hen. Das war im Übrigen auch schon einen Wahlsonntagvorher Gott sei Dank bei der hessischen Kommunalwahlder Fall. Ich will hier ausdrücklich den Bürgerinnen undBürger danken, die nicht nur in Zimmern, in intellektuel-len Kreisen auch uns Bundestagsabgeordneten immer er-zählen, was unsere Sache sei. Ich will denen danken, diedann auch zur Wahl gehen und die Rechten nicht wählen,
weil es auch manchmal ein Stück politischen Hochmuts inDeutschland gibt, sich zu fein zu sein, zur Wahl zu gehen,
von der Politik gar nichts mehr zu halten, dann aber zu rä-sonieren, was dabei herauskommt, wenn andere für einenentscheiden, weil man selbst nicht hingegangen ist.
Diesen Bürgerinnen und Bürgern, die zur Wahl gegangensind, sollten wir unseren Dank sagen.Zum Abschluss eine Überzeugung:
Herr Kol-
lege Gerhardt, Sie haben Ihre Redezeit schon weit über-
zogen. Ich bitte Sie zum Schluss zu kommen.
Die erste deutsche
Demokratie hatte eine so schöne Verfassung wie die uns-
rige. Die Weimarer Verfassung war freiheitlich und
rechtsstaatlich. Der Vorteil der zweiten deutschen Demo-
kratie, den wir jetzt erleben: Sie hat eine genügende An-
zahl von Persönlichkeiten und Bürgern, die auch zur Ver-
fassung stehen. Darauf kommt es an.
Herr Präsident, es tut mir wirklich Leid, aber das
musste ich noch sagen.
Als
nächster Redner hat Kollege Roland Claus von der PDS-
Fraktion das Wort.
Guten Morgen, meine Damenund Herren! Herr Präsident! Selbstverständlich begrüßtdie sozialistische Opposition im Deutschen Bundestag
das Zustandekommen dieses Antrages.
Ich will Ihnen sagen, warum uns das so wichtig ist. Anvorderster Stelle steht dabei die Tatsache, dass all die ak-tuellen Vorgänge, über die wir hier zu reden haben, mit derhistorischen Einzigartigkeit der Verbrechen des NS-Re-gimes in Verbindung stehen. Hier leistet dieser Beschlusseinen Beitrag gegen das Vergessen, und das ist gut so.
Meine Damen und Herren, wir sind in einer Situation,in der die Formel „Wehret den Anfängen!“ nicht mehr zu-trifft. Hier will ich mich auch gegen die Einschätzung desKollegen Schäuble wenden. Es geht nicht um einzelneVorfälle. Es ist deshalb auch nicht richtig, wenn Sie hierein Übermaß an Beachtung kritisieren. Es gibt eine schlei-chende Akzeptanz des rechten Geistes in diesem Lande.
Mich machen mehr als die offenen und in die Medien ge-ratenden Ereignisse und Vorfälle immer Ereignisse, dienicht in den Zeitungen stehen, betroffen. Ich möchte Ih-nen von einem berichten. Vor einigen Jahren komme ichin einen Jugendklub. Einige 14-jährige Jungs sitzen dortmit der „Bild“-Zeitung, die gerade darüber berichtete,dass Harald Juhnke in den USA einen Farbigen als „Nig-ger“ bezeichnet hatte und über die Folgen, die das nachsich zog. Die jungen Leute können die Welt nicht verste-hen und stellen die Frage: „Was wollen die denn über-haupt von dem Alten? Das ist doch ein Nigger!“ Dasheißt, in deren Bewusstsein ist überhaupt kein Unrechts-verständnis dafür enthalten. Deshalb sagen wir auch: Ge-gen Nazis in den Köpfen hilft am meisten Bildung undAufklärung.
Wir haben es inzwischen mit einem Einzug rechtenGeistes in die Alltagskultur zu tun. Ich könnte Ihnen Re-gionen in Sachsen oder im Ostharz nennen, wo das be-drohliche Ausmaße angenommen hat. Ich verwahre michauch dagegen, von einer „rechten Szene“ zu sprechen.Das hat immer etwas Verharmlosendes, so etwas wie:Auch das kommt in der Meinungsvielfalt vor.Deshalb müssen wir uns mit aller Konsequenz diesenAufgaben stellen. Ich meine, der vorliegende Antrag istein großer Schritt. Er ist natürlich für alle Beteiligten einKompromiss. Auch das Ja der PDS-Fraktion ist ein kriti-sches Ja. Es wird Ihnen nicht anders gegangen sein, als SieTeile unserer Forderungen aufgenommen haben. Deshalbmöchte ich den Kolleginnen und Kollegen, die am Zu-standekommen dieses Kompromisses mitgewirkt haben,auch aus der Sicht unserer Fraktion ein sehr herzlichesDankeschön sagen.
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Dr. Wolfgang Gerhardt15811
Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich das an die-ser Stelle meiner Kollegin Ulla Jelpke gegenüber beson-ders tun will, die sich diesem Thema bereits besonderslange und besonders intensiv zuwendet.
Bekanntlich standen am Anfang Anträge aller Fraktio-nen. Ich habe mir die Anträge angeschaut. Sie gingensehr weit auseinander. Obwohl ich durch und durch Op-timist bin, habe ich am Anfang nicht daran geglaubt, dassein solcher gemeinsamer Antrag zustande kommt. Mutgemacht hat mir dann die gemeinsame Demonstration, zuder alle im Bundestag vertretenen Parteien aufgerufenhatten und bei der am 9. November des vergangenen Jah-res erfreulicherweise auch Frau Merkel und Herr Stoibernoch dabei waren. Ich möchte aber auch all jenen danken,die sich lange vor der offiziellen Politik diesem Problemzugewandt haben, und finde es deshalb sehr wichtig, dassim gemeinsamen Antrag auch den Initiativen und Ver-bänden gedankt wird, die sich mit Kundgebungen, Ver-anstaltungen und anderem der braunen Pest widersetzthaben.
Ich finde, dass auch ein Dank an viele Künstlerinnenund Künstler angebracht ist, die lange vor der Zeit, zu derwir hier reagiert haben, auf das Problem aufmerksammachten. Nennen möchte ich nur das Engagement vonUdo Lindenberg, von Konstantin Wecker, aber auch vonvielen, vielen namenlosen jungen Bands, die in Veran-staltungen von „Rock gegen Rechts“ aktiv gewordensind.
Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht wundern,dass wir auch angesichts dieses erfreulichen Beschlusseskritisch bleiben. Wir wollen schon Beschlusslage undRealität vergleichen. An einer Stelle wird es da für unsgewissermaßen peinlich. Vorgestern ist der neue Verfas-sungsschutzbericht vorgestellt worden. Darin ist unterdem Thema „Antifaschismus“ bei linksextremistischenOrganisationen der VVN-BdA aufgeführt. Man muss dasnatürlich einmal aussprechen, damit man weiß, um wel-che Organisation es sich handelt. Es ist nämlich die Ver-einigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der An-tifaschisten.Ich habe mir einmal die Begründung hierzu ange-schaut. In der Begründung steht eigentlich nur, dass sieaktiv im Kampf gegen Rechtsextremisten auftreten unddass sie – verkürzt gesagt – gegen eine Gleichsetzung vonlinks und rechts sind. Wenn man diese Maßstäbe aus demVerfassungsschutzbericht anlegt, dann müssten auch dieantragstellenden Fraktionen im nächsten Verfassungs-schutzbericht auftauchen. Wir meinen, dieser Anachro-nismus muss beendet werden.
Wir wollen, dass der Begriff Antifaschismus aus demVerfassungsschutzbericht herausgenommen und in dengesellschaftlichen Wertekanon aufgenommen wird.
Herr Kol-
lege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Büttner?
Aber ja.
Bitte
schön.
Herr
Kollege Claus, Sie haben gerade den neuen Verfassungs-
schutzbericht erwähnt. Würden Sie bitte der deutschen
Öffentlichkeit darstellen, dass Sie als PDS, die Mitan-
tragsteller dieses Antrags ist, dort auch verankert sind. Ich
zitiere wörtlich:
Sowohl im Programm wie auch im Statut der PDS ist
auch die Existenz extremistischer Strömungen in der
Partei verankert.
Sind Sie ein glaubwürdiger Partner?
Herr Kollege, ich habe natür-
lich auch diese Passage im Verfassungsschutzbericht
gelesen. Ich halte sie für genauso tilgungsbedürftig wie
die Passage über die Antifaschistinnen und Antifaschi-
sten.
Da es mir hierbei aber um das gemeinsame Anliegen geht,
habe ich nicht damit angefangen, die vergleichsweise
Kleinigkeit, dass die PDS hierin erwähnt wird, aufzu-
führen. Wir werden das an anderer Stelle tun.
Im Übrigen, Herr Kollege Büttner, wird der anachronis-
tische Beschluss der CDU/CSU-Fraktion, der heißt „nicht
mit der PDS auf eine Drucksache“, seine Tage bald über-
lebt haben; das kann ich Ihnen versprechen.
Herr Kol-
lege Claus, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich will dennoch sagen, dasswir es für einen Mangel halten, dass die Christdemokra-ten diesem Antrag nicht beigetreten sind; denn ich glaubeschon, dass das Problem, mit dem wir es hierbei zu tun ha-ben, angesichts seiner Dimension ohne die große demo-kratische konservative Partei in diesem Lande nicht lös-bar sein wird.Meine Damen und Herren, dieser Beschluss ist ein An-fang und kein Alibi. Vergessen wir nicht: Faschismus und
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Roland Claus15812
Neofaschismus, das sind nicht Meinungen, das sind Ver-brechen.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christel
Hanewinckel von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Bei den Demonstrationenin der DDR im Oktober und November 1989 einte alle– egal, in welcher Stadt und welchen Alters – ein Wunsch.Dieser Wunsch hieß, oft vielfältig plakatiert: keine Ge-walt.Nie hätte ich 1989 geglaubt, dass wenige Jahre späterMenschen in den ostdeutschen Städten gehetzt, totge-schlagen und angebrannt würden wegen ihrer Sprache, ih-rer Hautfarbe oder weil sie obdachlos sind. Ich hätte auchnicht geglaubt, dass ein Gesetz gegen die Gewalt in derErziehung zehn Jahre brauchen würde, ehe es endlich eineMehrheit im Deutschen Bundestag findet. Ich hätte auchnicht geglaubt, dass die DVU in Sachsen-Anhalt 1998 fast13 Prozent der Stimmen bekommen würde. Ich hätte auchnicht geglaubt, dass der Vorsitzende der CDU-Landtags-fraktion in Sachsen-Anhalt Anfang 2001 die Zivilcouragevon Bürgerinnen und Bürgern beschämen würde, indemer die Beendigung der von ihnen initiierten Aktion „Not-eingang“ forderte.Das sind nur einige Beispiele aus ostdeutscher Wirk-lichkeit. Wir kennen die Zahlen. Sie erschrecken; denn esist zum Beispiel kaum vorstellbar, dass 20 Prozent derOstdeutschen eine rechtsextreme Einstellung haben und40 Prozent generell fremdenfeindlich sind. Das ist dieWirklichkeit, Herr Schäuble. Das ist keine Hysterie.Wir wissen auch, dass vor allem junge Menschen,junge Männer – fast noch Kinder – zu rechtsextremen Ge-walttätern werden. Wir wissen, dass es bereits in den Städ-ten der DDR Skins und entsprechende rechtsextremeGruppen gab, deren Existenz aber in der antifaschistischdeklarierten DDR verschwiegen worden ist – das habenalle damaligen Parteien so getan – und nicht offen genanntwerden durfte. Wir wissen auch, dass sich junge und alteMenschen in Ost und West von der Art und Weise anspre-chen lassen, wie sich Politiker diffamierend über Auslän-der und Asylbewerber äußern. Die Landtagswahlen inHessen haben dies gezeigt; sie sind auf dem Rücken die-ser Menschen gewonnen worden.
Doch nicht nur die Zahl der rechtsextremen Straf- undGewalttaten ist gestiegen. Gewachsen sind auch dieintensive öffentliche Debatte und die Bereitschaft, ge-nau hinzusehen, sich gegen rechtsextreme Gewalt,Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einzusetzen,sich in Initiativen zusammenzuschließen und durch De-monstrationen deutliche Zeichen zu setzen.
Gerade in den ostdeutschen Bundesländern gibt es eineganze Reihe von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnenund Lehrern, Kirchengemeinden, Eine-Welt-Vereinenund anderen Organisationen, die in verschiedensten Pro-jekten Integrationsarbeit leisten.Was ist nötig zu tun? Wir haben das in einem gemein-samen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P.und PDS ausführlich beschrieben. Ich nehme jetzt nur ei-nen einzigen Punkt heraus, nämlich den, dass wir denneuen Bundesländern für Initiativen und Projekte, die sichfür Toleranz, Demokratie und Integration einsetzen,10 Millionen DM zur Verfügung stellen:
5MillionenDM für die Präventionsarbeit und 5Millionenfür Initiativen, die Projekte der Opferberatung organisie-ren. Sie wissen, dass weitere 40 Millionen DM zur Verfü-gung gestellt werden; darüber haben bereits andere vormir berichtet.Der CDU/CSU-Fraktion kann ich nur deutlich sagen:Eine Verschärfung des Jugendstrafrechtes brauchen wirganz sicher nicht.
Wir werden unsere Bemühungen lieber darauf konzen-trieren, die jungen Menschen zu erreichen, bevor sierechtsextrem denken und bevor sie Gewalt anwenden.Leider haben Sie sich zum Teil auch im Hinblick auf dasGesetz gegen Gewalt in der Erziehung nicht sehr deutlichgeäußert bzw. dagegen gestimmt.Was wir auch nicht brauchen, ist die Fortführung derDebatte über den Stolz. Genau das ist das falsche Signal.
Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der VergangenheitDeutschlands und seiner Zukunft, die für mich in einemweltoffenen, integrativen Deutschland liegt, ist angesagt.Bei der Diskussion über den Sechsten Familienberichtwerden wir noch ausreichend Gelegenheit haben, uns ge-meinsam zu überlegen, welche notwendigen Schritte wirals Politikerinnen und Politiker des Deutschen Bundesta-ges in diesem Zusammenhang einzuleiten haben.Was wir brauchen, das sind Erwachsene, und zwarnicht nur Mütter und Väter in den Familien, sondern auchPolitikerinnen und Politiker, die in ihren Reden und inihrem Handeln Art. 1 und Art. 3 des Grundgesetzes allenMenschen gegenüber, die in Deutschland leben, erfahrbarmachen.
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Roland Claus15813
Ein Teil derer, die 1989 in der DDR auf die Straße gegan-gen sind, sind nicht direkt zur Durchsetzung dieser beidenArtikel auf die Straße gegangen, sondern deshalb, weil siesich für Freiheit, für Menschenwürde und dafür einsetzenwollten, dass diese Menschenwürde in einem geeintenDeutschland unantastbar bleibt, egal welcher Abstam-mung ich bin, welche Hautfarbe ich habe und welcheSprache ich spreche.Vielen Dank.
Alsnächste Rednerin hat das Wort die Kollegin MarieluiseBeck vom Bündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Kollege Schäuble hat soeben zu Recht gesagt: Wir sindauch ein ausländerfreundliches und weltoffenes Land.Viele Ausländer in diesem Land haben gute Erfahrungenim Zusammenleben mit Deutschen gemacht. Bürgerinnenund Bürger haben diese Sache sozusagen in ihre Hand ge-nommen. Obwohl es keine systematische Integrationspo-litik vonseiten der Bundesregierung und vieler Landesre-gierungen gab, hat es dennoch eine umfangreicheIntegration gegeben, weil die Menschen ihrerseits gehan-delt haben.
Dennoch: Die Wahrheit ist auch, dass sich der über-wiegende Teil der Übergriffe von Rechtsradikalen gegenAusländer richtet, wobei der Begriff Ausländer eigentlichgar nicht mehr trennscharf genug ist. Denn letztlich istunerheblich, ob die Gewalt einen Schwarzen mit oderohne deutschen Pass, ob sie einen eingebürgerten odernicht eingebürgerten Türken bzw. eine Türkin trifft. DieBeleidigungen, die Zurückweisungen, die Ressentimentsund eben auch die Übergriffe richten sich unabhängigvom Pass gegen alles, was fremd und eben anders ist.Damit sind wir beim Kern des rechten Denkens: Esgeht darum, alles das auszumerzen, was nicht in homo-gene Weltbilder passt. Die Moderne ist aber gerade durchden Verlust von Homogenität gekennzeichnet. RechtesDenken heißt aber: Man will alles weghaben, was kom-plex und vielfältig ist. Einfache Weltbilder, vermeintlicheinfache Losungen und Lösungen sollen Schutz vor Ver-unsicherung bieten.Deswegen trifft der Hass auch die Schwulen, die Ob-dachlosen und natürlich vor allem die, die nicht in völki-sches Denken passen, weil sie angeblich gar nicht zumVolk gehören können, da sie woanders herkommen undanders aussehen als diese vermeintlichen Durchschnitts-deutschen, die dem Denken der den rechten Milieus an-gehörenden Menschen entsprechen.Betrachten wir die Historie: Auch die Juden waren Teildes deutschen Volkes. Sie wurden aber zu den anderen ge-macht. Die Rechten machen viele zu anderen undschließen damit alle aus, die aus anderen Ländern nachDeutschland gekommen sind. In unserem Land gibt esaber seit 40 Jahren Zuwanderung. Es ist ein verheeren-des Versäumnis – darüber müssen wir hier auch spre-chen –, dass wir diesen Sachverhalt nicht klar benannthaben und auch nicht gesagt haben, dass mit dieser Zu-wanderung Veränderung, das Auflösen von Homogenität,kulturelle Vielfalt, religiöse Vielfalt und natürlich auchVerunsicherung verbunden sind. Denn Zuwanderungbringt Veränderung, und zwar sowohl für die, die kom-men, als natürlich auch für die, die schon da sind. Das istdie eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen.Wenn wir Botschaften wie „Nur die, die hierher kom-men, müssen sich anpassen und verändern“ senden,nähren wir bei denen, die schon hier sind, eine Illusion da-hin gehend, dass sie sich nicht auf diesen gemeinsamenProzess der Veränderung einlassen müssten. Diese Illu-sion wäre verheerend. Durch Einwanderung kommt es zuVeränderungen. Diesem Prozess kann man als Einwande-rungsgesellschaft nicht entkommen. Wir sind gut beraten,darüber auch offen und ehrlich zu sprechen.
Es tauchen viele neue Fragen auf. Darf eine Frau mitKopftuch in Deutschland Lehrerin im Beamtenverhältnissein? Wie gehen wir mit dem Widerspruch zwischen denTierschutzgesetzen und dem religiösen Gebot desSchächtens um? Gehört ein Muezzinruf in eine bravedeutsche Gesellschaft? All dies sind Veränderungen, vordenen wir stehen. Die Rechten wollen sich diesen Verän-derungen nicht stellen. Sie wollen sie abwehren und ver-sprechen der Bevölkerung: Wir sorgen dafür, dass ihreuch diesen Veränderungen nicht stellen müsst.Nun haben wir in dem heute vorliegenden Antrag vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS festgehal-ten, dass wir keine Wahlkämpfe oder politischen Ausei-nandersetzungen mehr auf dem Rücken von Ausländernbzw. Minderheiten führen wollen. Das ist gut so, wirdaber in der Praxis schwierig, denn es gibt viele politischeBotschaften, die den Bodensatz für rechtes Denken undebendiese Abwehr und Ressentiments bilden. Ich erlebedas in der Praxis täglich. Ich will eine davon nennen.Wenn wir Politiker sagen, nur 3 Prozent der Flücht-linge werden als politische Flüchtlinge anerkannt, deswe-gen sind 97 Prozent Wirtschaftsflüchtlinge, dann nährenwir Vorurteile in der Bevölkerung, dass alle, die hierherkommen, Abzocker seien.
Wenn wir Einwanderungszahlen nennen – 700 000 bis800 000 pro Jahr – und nicht gleichzeitig die Abwande-rungszahlen nennen, die fast genauso hoch sind, nährenwir in der Bevölkerung das Gefühl, es seien zu vieleAusländer im Land. Das hat mit der Realität nichts zu tun.Wenn immer wieder vom Rückzug in Parallelgesell-schaften gesprochen wird, obwohl in deutschen Groß-städten inzwischen jede dritte Ehe binational ist, dann
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Christel Hanewinckel15814
nähren wir die Botschaften, die Ausländer wollten sichgar nicht integrieren, und schüren damit Vorurteile.
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Marieluise Beck, (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja.
Es gibt also jenseits der großen Versprechen viele Bot-
schaften im Kleinen zu überprüfen, die in den politischen
Raum gehen und die den Nährboden für die alltägliche
Ebene von Vorurteilen, Abwertungen, Ressentiments und
Fehlinformationen bilden. Wenn Sie mit Migrantinnen
und Migranten sprechen, werden Sie merken, wie viele
Alltagserfahrungen von Zurückweisung, von Dis-
kriminierung und von Ungleichbehandlung diese ge-
macht haben. Das sollten wir alle sehr ernst nehmen.
Frau Kol-
legin Beck, kommen Sie zum Schluss.
Marieluise Beck, (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ein Gedanke noch.
Wir müssen lernen, dass sich der Spieß langsam dreht.
Es geht nicht mehr darum, möglichst viele Menschen da-
von abzuhalten, nach Deutschland zu kommen. Wir sind
an dem Punkt angelangt, wo die Menschen, obwohl wir sie
in Deutschland brauchen, zum Teil sagen: Schönen Dank,
nach Deutschland wollen wir nicht. Der American Field
Service hat sich an die Ausländerbeauftragte gewandt,
weil zunehmend mehr Austauschplätze, die in Deutsch-
land angeboten werden, von jungen Menschen aus dem
Ausland nicht angenommen werden, weil die Botschaft
nach außen dringt, dass es für Ausländer in Deutschland
zumindest ungemütlich, wenn nicht gefährlich ist.
Das können wir nicht akzeptieren. Daher sollten wir
gemeinsam alles dafür tun, dass diese Botschaft im Aus-
land nicht mehr verbreitet wird.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Nooke
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! VerehrteDamen und Herren! Frau Hanewinckel, ich finde es gut,dass wir diese Debatte zu einem Zeitpunkt führen, zu demin der Öffentlichkeit offenkundig auch über berechtigtenStolz gesprochen wird, ein Deutscher zu sein. Ich finde,wir sollten die Debatte fortsetzen.Ich will unter der Überschrift der heutigen Debatte ei-nen türkischstämmigen Rechtsanwalt aus Berlin zitieren.Mit folgenden Worten war das im letzten „Focus“ zu le-sen:„Alles, was ich habe, und alles, was ich bin, verdankeich zwei Institutionen: meiner Familie und diesemLand.“ Deutschland habe ihm „als Sohn türkischerEinwanderer mit Stipendien ein erstklassiges Stu-dium ermöglicht. Wie könnte ich nicht stolz sein aufein Land, das jedem ungeachtet seiner Herkunft dieseChancen eröffnet.“Mit Blick auf die unsäglichen Ausfälle des amtierendenUmweltministers sagte er:„Leute wie Jürgen Trittin sind heute die wirklichEwiggestrigen – Leute, die nicht wahrhaben wollen,wie sich dieses Land und seine Menschen veränderthaben.“
Auch solche Einschätzungen eines türkischstämmigenEinwanderers gehören genau zu dieser Debatte um Extre-mismus, Gewalt und ausländerfeindliche Übergriffe.Gleichzeitig gehört dazu auch die Erkenntnis, dass ge-gen rechtsextreme Gewalt mit allen zur Verfügung ste-henden Mitteln des Rechtsstaates vorgegangen werdenmuss. Dabei sollten wir uns vom ersten Satz unseresGrundgesetzes leiten lassen, nämlich „Die Würde desMenschen ist unantastbar,“ nicht des Deutschen.
Auch nicht gemeint ist damit, dass wir freundlich zu aus-ländischen Mitbürgern sein sollen, weil sonst keine Inves-toren nach Deutschland und insbesondere in die östlichenBundesländer kommen. Die Würde des Menschen ist ge-setzt. Sie zu achten darf nie, auch in unseren Argumenta-tionsmustern, Mittel für andere Zwecke sein.
In dem zur Abstimmung stehenden Antrag derCDU/CSU-Bundestagsfraktion wird das Gewaltmono-pol des Staates betont. Beides gehört für uns zusammen:ein objektiver Blick auf die Verhältnisse in unserem Landund der Einsatz für die Stärkung der Exekutive. DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion – so heißt es – setzt sichdafür ein:Insbesondere wenn extremistische Gewalttäterzuschlagen, kann und muss der Staat unverzüglichhandeln. Dabei gibt es keinen Grund zum Zögern ausfalsch verstandener Liberalität.Unser Antrag geht mit zahlreichen notwendigen Maßnah-men auch auf die einzige Sprache ein, die gewaltbereiteRechtsextremisten wirklich verstehen: Grenzen rechtzei-tig aufzeigen, das heißt, der Staat muss hart, konsequentund sofort mit repressiven Mitteln einschreiten.Wer bei dieser Sachlage die Union – manchmal mit ne-bulösen Formulierungen, manchmal ganz offen – in dieNähe von rechtsextremistischen Tätern stellen will, dersetzt bei diesem so sensiblen Thema auf Diffamierung despolitischen Gegners. Dahinter zeigt sich meines Erach-tens ein Gedankengut, das nur eine andere Form von Ex-tremismus offenbart.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Marieluise Beck
15815
Für mich als Ostdeutscher war es schon bemerkens-wert, zu beobachten, wie die Diskussion um extremisti-sche Gewalt seit dem Sommer des letzten Jahres geführtwurde. Vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Über-griffe versuchten manche Politiker von SPD, Bündnis90/Die Grünen und PDS, der Union die alleinige Verant-wortung zuzuschieben. Es wurde nichts unversucht gelas-sen, rechts mit rechtsextrem gleichzusetzen. Die Ansich-ten von Konservativen galten als dumpfer Nationalismus.Auch der ursprüngliche Antrag der PDS ist voll von sol-chen Anspielungen und offenkundigen Diffamierungen.Zu Beginn dieses Jahres schwelte im Zusammenhangmit der Vergangenheit hochrangiger Vertreter dieser Bun-desregierung eine geschichtspolitische Debatte. Dabeisollte wieder einmal die Mär kolportiert werden, dassLeute, die in den 70er- und 80er-Jahren das Gewaltmono-pol des demokratischen Rechtsstaats buchstäblich mit denFüßen traten, für die Entwicklung der Demokratie beson-ders wertvoll waren.In der gestrigen Debatte erzählte die Kollegin KerstinMüller von den Grünen wieder diese Geschichte. Gleich-zeitig wollte sie mit einem Nebensatz die 89er in der DDRmit den 68ern des Westens auf eine Stufe stellen. Ich kannnur sagen: Den fundamentalen Unterschied haben Sienicht begriffen.
Wir sprechen hier nicht über die netten, etwas versponne-nen Blumenkinder von 1968, sondern über diejenigen, dieden demokratischen Rechtsstaat des Westens infragestellten und gleichzeitig große Sympathie für die kommu-nistischen Regime hegten.
Vor 1989 hatten viele der so genannten 68er mehr Ge-meinsamkeiten mit den Diktatoren als mit denen, die fürFreiheit und Demokratie kämpften.
Herr Fischer suggeriert die Geschichte, als sei er im-mer ganz friedlich durch das Frankfurter Westend gelau-fen und dabei von Polizisten überfallen und zusammen-geschlagen worden.
Nach entsprechender Nahkampfausbildung musste er sichHelm und Schlagstock zulegen. Ich stelle mir dabei im-mer vor: Wie wäre es denn ausgegangen, wenn ein zorni-ger junger Mann in den 70er-Jahren auf dem Alexander-platz in Ostberlin gestanden und Helm und Schlagstocknur getragen hätte? Was wäre passiert, wenn sich imHerbst 1989 in der Leipziger Innenstadt Demonstranten,bewaffnet mit Helm, Schlagstock und Molotowcocktails,versammelt hätten?
Herr Kol-
lege Nooke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Edathy?
Ich möchte erst zu Ende
reden.
Also
keine Zwischenfrage.
Der Unterschied zwi-schen dem Gewaltmonopol des Staates in der Demokratieund in der Diktatur scheint bis heute nicht klar zu sein. Dieaktuelle Diskussion im Zusammenhang mit Castortrans-porten kann hierbei weiterhelfen.
In einem Klima, in dem alle, die sich nicht als links be-kennen, sofort mit Rechtsradikalen auf eine Stufe gestelltwerden, startete nun Herr Trittin einen Frontalangriff ge-gen die Union.
– Hören Sie bitte zu, auch Frau Beck hat davon gespro-chen. – Da dies wiederum in einem engen zeitlichen Kon-text zu den Landtagswahlen passiert ist, haben Sie dafürdie Quittung präsentiert bekommen. Nun wird der Um-weltminister von seinen Parteigenossen kritisiert, aber inWirklichkeit nur, weil er eine offenkundige Belastung inWahlkämpfen geworden ist.
Mir geht es aber um etwas anderes: Ich finde es be-merkenswert, dass sich nun viele zu Wort melden und einpositives Bekenntnis zu dieser ihrer BundesrepublikDeutschland abgeben. Ich finde es gut, dass Herr Trittinhier zumindest etwas bewirkt hat. Dies ist aus meinerSicht positiv.In der gestrigen Debatte, Frau Beck, ist mir aufgefal-len, dass wenig auf die Kampagne der Bundesregierungfür Ausländerfreundlichkeit und Toleranz eingegangenwurde.
Vor mehreren Monaten wurde von der Bundesregierungauf Plakaten, die zum Beispiel in Berliner U-Bahnhöfengezeigt wurden, mit farbigen Mitbürgern mit dem Satz„Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ geworben.
Bundesminister Trittin hat nicht nur den Generalsekretärder CDU, sondern auch die schwarzen Mitbürger auf denPlakaten, in die Rassismus- und Skinheadecke gestellt.
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Günter Nooke15816
Ich finde, es sollte überlegt werden, ob das nicht nur un-dankbar gegenüber den Menschen ist, die sich bereit er-klären, Werbeagenturen für solche Zwecke zur Verfügungzu stehen, sondern im Gegenteil die gewünschteAusländerfreundlichkeit verhindert.
Lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt anführen:Wenn wir über die Ursachen extremistischer Gewalt re-den, dann gehören für mich die Erfahrungen in der DDRund die Beurteilung der Vergangenheit westdeutscherZeitgenossen unbedingt zusammen.
Herr Kol-
lege Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abge-
ordneten Beck oder wollen Sie grundsätzlich keine Zwi-
schenfrage zulassen?
Nein, ich möchte jetzt
keine Zwischenfrage zulassen.
Wer sein Verhältnis zum Gewaltmonopol des demo-
kratischen Rechtsstaates nicht geklärt hat, ist kein guter
Ratgeber für den Kampf gegen Rechtsextremismus.
Ich bin dagegen, dass die politische Auseinanderset-
zung innerhalb des demokratischen Spektrums weiterhin
nach dem wohlfeilen Links-Rechts-Muster der alten
Bundesrepublik geführt wird. Meine Damen und Herren
von der Koalition und der PDS: Hören Sie damit auf, ein
so genanntes Links-Sein gegen ein so genanntes Rechts-
Sein auszuspielen. Wer das Linke nicht nur als das klei-
nere Übel, sondern das eigentlich Demokratische defi-
niert, leistet dem Kampf gegen den Rechtsextremismus
einen Bärendienst. Das sollten alle wissen. Folgerichtig
steht in unserem Antrag die Forderung nach Toleranz und
Achtung der Menschenwürde an erster Stelle.
Die wehrhafte Demokratie und der wehrhafte Staat sind
die einzige Antwort auf die Untaten von Extremisten.
Ich habe mit Blick auf die in unserem Antrag vorge-
schlagenen Präventivmaßnahmen vom Gewaltmonopol
des Staates in der Demokratie gesprochen. Jeder weiß,
dass die Gewaltbereitschaft nicht nur ein Phänomen der
neuen Länder ist. Wir dürfen die Augen aber nicht davor
verschließen, dass dort besonders akute Probleme beste-
hen. Wir gehen davon aus, dass es für die hohe Zahl ge-
waltbereiter Jugendlicher in den neuen Ländern komplexe
Ursachen gibt. Ein einfaches Patentrezept dagegen wird
es nicht geben.
Deshalb schlagen wir eine Kombination von präven-
tiven und repressiven Elementen vor. In diesem Zusam-
menhang muss es eine engagierte Arbeitsteilung zwi-
schen Bund und Ländern geben. Es kann nicht sein, dass
die Länder nur für die direkte Arbeit vor Ort zuständig
sind, während verantwortliche Bundespolitiker mit Pro-
minenten aus der Showbranche nette Lesungen und
Konzerte besuchen. Ich freue mich über das Engagement
der so genannten Promis, die in Hochglanzbroschüren
mit einem Bekenntnis gegen rechts zitiert werden. Das
allein hat aber bisher noch keinen Gewalttäter von sei-
nem Tun abgehalten. Besuche bei der Polizei vor Ort
würden manchmal mehr helfen. Auch das gehört dazu;
gemeinsame Auftritte mit Prominenten reichen nicht
aus.
Wenn im Zusammenhang mit diesem Thema die neuen
Bundesländer angesprochen werden, darf man nicht über-
sehen, dass die Entwicklungen etwas mit der Geschichte
der DDR zu tun haben. Gleichwohl sollten wir es uns
nicht so leicht machen, dass wir diese Erscheinungen aus-
schließlich als Problem der Ostdeutschen wahrnehmen.
An dieser Stelle – insbesondere, weil ich eingangs über
das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats
gesprochen habe – will ich noch auf einen Punkt im
ursprünglichen Antrag der PDS eingehen. Es heißt dort:
„Im Osten wirkt sich aus, dass 1990 ein Wertesystem zu-
sammenbrach.“
Meine Damen und Herren von der PDS, von welchem
Wertesystem reden Sie eigentlich? Reden Sie wirklich
über die DDR, die im Grunde genommen eine weitgehend
ausländerfreie Zone gewesen ist? Reden Sie über ein Wer-
tesystem, in dem den Menschen im Zusammenhang mit
dem Wort Israel – das war obligatorischer Schulstoff und
Honecker unterstützte Arafat bei der Ausbildung von Ter-
roristen gegen die Juden in Israel – ausschließlich nega-
tive Assoziationen vermittelt wurden?
Herr Kol-
lege Nooke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Reden Sie wirklich über
die reale DDR, in der nahezu keine Ausländer lebten?
Wenn Ausländer zeitweise ins Land geholt wurden,
dann nur deshalb, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht
wurden.
Den vietnamesischen Frauen war es beispielsweise
verboten, schwanger zu werden. Wenn sie es doch wur-
den, mussten sie abtreiben. Wenn sie sich weigerten ab-
zutreiben, wurden sie auf eigene Rechnung in ihr Hei-
matland zurückverfrachtet und waren dort geächtet.
Außerdem waren sie kaserniert untergebracht.
Herr Kol-lege Nooke, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.
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Günter Nooke15817
Ich denke, unter diesen
Bedingungen konnten wir den Antrag nicht gemeinsam
mit der PDS stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den anderen
Fraktionen, unter diesen Umständen muss ich doch die
Frage stellen, ob die Kollegen von der PDS es bis heute
nicht besser verstanden haben oder bis heute heucheln.
Deshalb machen wir nicht mit.
Danke.
Für die
Bundesregierung hat jetzt das Wort der Parlamentarische
Staatssekretär Professor Dr. Eckhart Pick.
D
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die heutige Debatte ist wichtig. Selbst wenn es
keinen gemeinsamen Antrag gegeben hat, ist es wichtig,
heute Gesicht zu zeigen und deutlich zu machen, dass der
Bundestag gegen jede Form von Gewalt ist und dass Ta-
ten von Rechtsextremisten, wie wir sie in der Vergangen-
heit kennen gelernt haben, die Prinzipien unserer Verfas-
sung verletzen. Die Rechtsextremisten treten die Würde
des Menschen buchstäblich mit Füßen. Aus diesem
Grunde dürfen wir Rechtsextremismus und Fremden-
feindlichkeit keinen Raum geben. Wir müssen rechtsex-
tremen Gewalttätern Taten entgegenstellen.
Um das Klima für ein friedliches Zusammenleben der
Menschen in Deutschland zu verbessern, haben das Bun-
desministerium des Innern und das der Justiz gemeinsam
das „Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen
Extremismus und Gewalt“ initiiert. Mittlerweile haben
sich über 800 Organisationen und Initiativen diesem
Bündnis angeschlossen.
Dieses Bündnis macht für alle sichtbar: Unsere Verfas-
sung lässt rechtsextremer Gewalt, Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit keinen Raum. Durch vielfältige öf-
fentliche Aktionen wird das immer wieder in Erinnerung
gerufen. Gerade der gesellschaftliche Beitrag ist für mich
ganz wichtig, um Extremismus und Fremdenfeindlichkeit
in der Bevölkerung dauerhaft zu bekämpfen.
Häufig werden die Ursachen für Gewalt aber schon
ganz früh gesetzt. Wir wissen, dass Kinder, die geschla-
gen wurden, später selbst häufig Gewalt als Mittel zur
Lösung von Konflikten einsetzen. Um rechtsextreme
Jugendgewalt zu bekämpfen, muss Gewalt in der Erzie-
hung generell geächtet werden.
Hier hat die Bundesregierung mit dem vom Bundestag be-
reits beschlossenen Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der
Erziehung einen wichtigen Beitrag geleistet. Aber auch
der Aktionsplan „Gewalt gegen Frauen“ sowie der
Gesetzentwurf, mit dem Frauen vor Übergriffen ihrer
früheren Partner besser geschützt werden sollen, gehören
in diesen Zusammenhang.
Neben der Prävention gilt aber auch: Rechtsextremis-
tisch motivierte Straftaten müssen angemessen verfolgt
und bestraft werden. Das geltende Strafrecht stellt die not-
wendigen gesetzlichen Instrumente zur Verfügung, um
solche Straftaten angemessen ahnden zu können. Aber
häufig sind rechtsextreme Gewalt, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus auch als Angriff auf die Sicherheit
der Bundesrepublik insgesamt zu werten. Daher ist es gut,
dass der Generalbundesanwalt in entsprechenden Fällen
solche Verfahren an sich zieht, wie es im Fall Eggesin ge-
schehen ist. Seine Zuständigkeit für diesen Fall wurde
vom Bundesgerichtshof ausdrücklich bestätigt.
Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt zu spre-
chen kommen, der vorhin schon angesprochen worden ist,
nämlich die Frage, inwieweit rechtsextremistische
Straftaten, die via Internet verübt werden, in Deutschland
verfolgt werden können, wenn der Täter im Ausland die
Tasten seines Computers drückt. Die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs vom letzten Jahr, dass solche Strafta-
ten auch dann, wenn sie vom fernen Ausland aus began-
gen werden, in Deutschland zu verfolgen seien, ist ein we-
sentlicher Fortschritt, um solche Delikte bestrafen zu
können, und entspricht der von der Bundesregierung
schon immer vertretenen Auffassung.
Meine Damen und Herren, wir müssen auch an die Op-
fer von rechtsextremistischen Taten denken. Deswegen
sind wir dem Bundestag dankbar, dass er dem Bundesjus-
tizministerium entsprechende Mittel zur Verfügung ge-
stellt hat, um in Härtefällen für die Opfer rechts-
extremistischer Gewalt einen zusätzlichen Ausgleich zu
bieten, der über den Rahmen der bisherigen Möglichkei-
ten hinausgeht. Im Moment werden wir von Anträgen
überhäuft; das zeigt, dass das ein richtiger Ansatz des
Bundestages war. Deswegen bedanke ich mich auch an
dieser Stelle noch einmal für diese Tat der Humanität; wir
können den damit verbundenen Auftrag jetzt entspre-
chend ausführen.
Vielen Dank.
Für dieBundesregierung spricht jetzt der Bundesminister OttoSchily.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 200115818
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Gestern habe ich denVerfassungsschutzbericht vorgelegt; ich verweise aufdie dortigen Darstellungen, was die Entwicklung desRechtsextremismus in unserem Lande angeht.Ich stimme Herrn Kollegen Schäuble zu, dass wir unsbemühen müssen, die Fakten richtig darzustellen undauch Steigerungsraten nicht von vornherein so zu ver-stehen, dass sie eine Vermehrung rechtsextremistischerStraftaten in jeder Hinsicht darstellen müssen. Es kann indieser Steigerungsrate auch zum Ausdruck kommen –was ich begrüße –, dass nämlich die Bürgerinnen undBürger aufmerksamer geworden sind und ihr Anzeige-verhalten verändert haben und dass auch die Strafverfol-gungsorgane sehr viel genauer hinsehen. Das wäre danninsoweit ein begrüßungswerter Tatbestand, wenn rechts-extremistische Straftaten aus dem Dunkelfeld in dasHellfeld kommen und die notwendigen Sanktionen er-halten.
Ich habe oft genug über notwendige repressive Maß-nahmen gesprochen. Ich freue mich darüber, dass von al-len Seiten des Hauses das Gewaltmonopol des Staatesangesprochen wird. Selbstverständlich müssen Polizei,Justiz und Staatsanwaltschaft ihre Verantwortungenwahrnehmen; wir müssen auch die Verbotsmaßnahmenkonsequent umsetzen. Wir können auch in aller Offenheitüber die Frage reden, ob das gegenwärtig geltendeVersammlungsrecht veränderungsbedürftig ist odernicht. Nur, Herr Schäuble, Sie müssen beachten, dass dieVerfassung uns sehr enge Grenzen setzt, denn die Ver-sammlungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut. Essteht am Anfang der Demokratie und deshalb müssen wirin dieser Frage sehr sorgfältig vorgehen.
Ich will meine Zeit heute im Wesentlichen dazu nutzen,einige Hinweise zur Prävention zu geben, ohne Anspruchauf Vollständigkeit. Was rechtsextremistische Sachver-halte angeht, müssen wir, glaube ich, ein wenig tiefer ge-hen. Ich meine, wir haben auch eine Verantwortung fürunser Handeln, wir haben aber auch eine Verantwortungfür unser Denken und unsere Sprache. Es gibt einen Zu-sammenhang zwischen dem Denken und der Wirklich-keit. Man kann es vereinfacht so sagen: Die Gedankenvon heute sind die Tatsachen von morgen. Wer den Men-schen nur als beliebig manipulierbares Zellgewebe ver-steht, muss sich nicht wundern, wenn das an andererStelle zur geistigen Verwüstung und seelischen Verwahr-losung führt. Die Würde des Menschen, meine Damenund Herren, darf nicht eine hohle Phrase sein, sondernverweist auf Erkenntnisfragen, denen wir uns stellen müs-sen.Wir haben auch eine Verantwortung für die Bilder.Wenn tagtäglich Kindern und Jugendlichen im Fernsehen,in Videos, in Filmen die brutalsten Gewaltszenen entge-gengebracht werden, können wir nicht überrascht sein,dass Jugendliche und Kinder der Gewalt verfallen.
Wenn über das Internet die abscheulichste rechtsextre-mistische Propaganda verbreitet wird, darf sich niemanderstaunt zeigen, dass diese Propaganda in Gewaltakten inder Wirklichkeit ankommt.Zu den wichtigsten Maßnahmen der Prävention, meineDamen und Herren – ich glaube, das ist unsere gemein-same Überzeugung – gehört das Engagement für Er-ziehung. Und lassen Sie mich etwas jenseits meiner Zu-ständigkeiten an dieser Stelle sagen: Wir müssen dem Bil-dungs- und Wissenshunger der Kinder und Jugendlichen,der durchaus vorhanden ist, mehr entgegenkommen, alses bisher der Fall ist.Und ich will nun ein Beispiel unter vielen nennen – dasmögen Sie als eine Simplifizierung der Debatte missver-stehen –: Gehen Sie einmal in die Amerika-Gedenkbi-bliothek in Berlin – eine sehr gute Bibliothek für Kinderund Jugendliche – und schauen Sie einmal, wie diese Bi-bliothek unter Geldmangel leidet, was die Kinder und Ju-gendlichen dort vorfinden, wie sie Schlange stehen müs-sen und wie eine solche Bibliothek ausgestattet ist. Dasmag für Sie vereinfachend sein. Aber wenn wir den Kin-dern kein Bildungsangebot machen, dann müssen wir unsnicht wundern, wenn die Kinder geistig und seelisch ver-wahrlosen.
Ich habe das oft wiederholt. Ich will auch an der Stellesagen: Wer in der Erziehung von Jugendlichen und Kin-dern die musische Erziehung vernachlässigt,
der muss sich nicht wundern, wenn dabei kaltherzige undbrutale Charaktere herauskommen.
Aus das ist wichtig. Ich bin sehr dafür, dass jedes Kind ei-nen Zugang zum Computer hat. Aber vielleicht wäre esauch gut, wenn jedes Kind Zugang zu einem Musikin-strument hätte.
Wir müssen uns für Begegnung engagieren. Wir allewissen aus unserer Erziehung und aus unserer Jugendzeit,dass einfach die Begegnung mit Menschen fremder Her-kunft eine ganz entscheidende ist. Deshalb unterstütze ichden Vorschlag des niedersächsischen JustizministersPfeiffer, dass wir den Jugendlichen in den neuen Bundes-ländern mehr Begegnungen mit Fremden ermöglichenmüssen. Wir brauchen ein großes Programm des Jugend-austausches für die neuen Bundesländer.
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Wichtig ist auch – das ist ebenfalls eine präventiveMaßnahme –, dass wir bei diesem Thema zusammenblei-ben, dass es den Konsens der Demokratinnen und Demo-kraten gibt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle allenFraktionen dafür danken, dass sie sich gemeinsam zu-sammengeschlossen haben und im „Bündnis für Demo-kratie und Toleranz – gegen Extremismus und Ge-walt“ engagieren. Es heißt übrigens nicht „gegen rechtenExtremismus und Gewalt“, sondern „gegen Extremismusund Gewalt“. Dafür bedanke ich mich bei allen Fraktio-nen, dass sie sich in diesem Bündnis engagieren.
Bei aller Polemik, die auch ich kenne und die man er-tragen muss, sollten wir uns bemühen, dass die Fairnessin der demokratischen Auseinandersetzung die Oberhandbehält und dass wir uns trotz unterschiedlicher Meinun-gen wechselseitig Respekt entgegenbringen. Bekanntlichhat das Bundesinnenministerium eine Plakatkampagneim Zusammenhang mit diesem Bündnis gestartet. Auf denPlakaten heißt es: „Du willst RESPEKT. Ich auch.“ Sosollte auch die Haltung unter den Fraktionen sein.
Wir sollten uns vielleicht auch um die Fähigkeit zum In-nehalten und zur Selbstprüfung bemühen. Es ist vielleichtgar nicht schlecht, wenn jeder versucht, vor der eigenen Türzu kehren. Deshalb meine ich den Hinweis nicht unterlas-sen zu sollen, dass wir uns um die Genauigkeit derWort-wahl kümmern müssen. Ich stimme Herrn Nooke zu, wenner sagt: Das Thema ist nicht Kampf gegen rechts, sondernKampf gegen Rechtsextremismus, ganz eindeutig.
Es steht außer Zweifel, dass man eine rechte Positioninnerhalb des demokratischen Bogens vertreten kann. Daswerde ich nie infrage stellen. Wenn jemand den Satz sagt,er sei stolz, ein Deutscher zu sein, sollten wir ihm nichtunterstellen, dass er damit etwa zum Ausdruck bringenwill, er sei auch auf das stolz, was sich an schlimmen Din-gen in der deutschen Geschichte zugetragen hat.
– Vorsicht, Herr Marschewski, klatschen Sie nicht zufrüh. –An die Adresse der rechten Seite des Parlaments fügeich hinzu: In Deutschland führt jede Politik, die auch nur denAnschein des Nationalismus annimmt, ins Verderben.
Dazu hat Sebastian Haffner, dessen Patriotismus überjeden Zweifel erhaben ist, etwas aufgeschrieben, was alsMahnung dienen kann. Erlauben Sie mir, Ihnen das vor-zutragen. Er schreibt:Nationalismus als nationale Selbstbespiegelung undSelbstanbetung ist sicher überall eine gefährlichegeistige Krankheit, fähig, die Züge einer Nation zuentstellen und hässlich zu machen, genau wie Eitel-keit und Egoismus die Züge eines Menschen entstel-len und hässlich machen.Aber nirgends hat diese Krankheit einen so bösarti-gen und zerstörerischen Charakter wie gerade inDeutschland, und zwar, weil gerade Deutschlands in-nerstes Wesen Weite, Offenheit, Allseitigkeit, ja in ei-nem bestimmten Sinne Selbstlosigkeit ist. Bei ande-ren Völkern bleibt Nationalismus, wenn sie davonbefallen werden, eine nebensächliche Schwäche, ne-ben der ihre eigentlichen Qualitäten erhalten bleibenkönnen. In Deutschland aber, wie es sich trifft, tötetgerade Nationalismus den Grundwert des nationalenCharakters.Dies erklärt, warum die Deutschen – in gesundem Zu-stand zweifellos ein feines, empfindungsfähiges undsehr menschliches Volk – in dem Augenblick, wo sieder nationalistischen Krankheit verfallen, schlechthinunmenschlich werden und eine bestialische Hässlich-keit entwickeln. Ein Deutscher, der dem Nationalis-mus verfällt, bleibt kein Deutscher mehr.Das sollten wir uns alle merken.Vielen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Ich möchte noch eine Bemerkung zur Debatte machen.Es ist heute aufgrund bestimmter Umstände dazu gekom-men, dass am Schluss der Debatte zwei Mitglieder derBundesregierung hintereinander gesprochen haben.
Das ist nicht erwünscht. Unsere Geschäftsordnungsieht gemäß § 28 Abs. 1 ausdrücklich vor, dass nach derRede eines Mitglieds der Bundesregierung eine abwei-chende Meinung zu Wort kommen soll. Ich möchte daherdie Parlamentarischen Geschäftsführer bitten, in Zukunftdafür zu sorgen, dass die Rednerreihenfolge – unabhängigvon den Wünschen der Mitglieder der Bundesregierung –entsprechend festgelegt wird. Vielen Dank für Ihr Ver-ständnis.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Bundesminister Otto Schily15820
Es liegt eine Erklärung zur Abstimmung der KolleginUlla Jelpke nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wirzu Protokoll nehmen.1)Wir kommen zu den Abstimmungen.Tagesordnungspunkt 14 a: Beschlussempfehlung desInnenausschusses auf Drucksache 14/5695. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-fehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen derSPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der F.D.P. und derPDS „Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit,Antisemitismus und Gewalt“, Drucksache 14/5456. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussemp-fehlung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/DieGrünen, der F.D.P. und der PDS gegen die Stimmen derCDU/CSU bei einer Enthaltung aus den Reihen der PDSangenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages derFraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „NachhaltigeBekämpfung von Extremismus, Gewalt und Fremden-feindlichkeit“, Drucksache 14/4067. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen derCDU/CSU und bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktionen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen „Gegen Rechtsextremismus,Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt“ fürerledigt zu erklären, Drucksache 14/3516. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung einstim-mig angenommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe dseiner Beschlussempfehlung den Antrag der Fraktion derF.D.P. mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossenbekämpfen“ für erledigt zu erklären, Drucksache14/3106. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe eseiner Beschlussempfehlung den Antrag der Fraktion derPDS mit dem Titel „Handeln gegen Rassismus, Antisemi-tismus, Fremdenfeindlichkeit und daraus resultierenderGewalt“ für erledigt zu erklären, Drucksache 14/4145.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist ebenfalls einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung desInnenausschusses zu dem Antrag der Fraktion derCDU/CSU „Bekämpfung des politischen Extremismus“,Drucksache 14/1556. Der Ausschuss empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 14/295 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmender CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
Gerichtsvollzieherkostenrechts – GvKostR-NeuOG –– Drucksachen 14/3432, 14/4913, 14/5385,14/5685 –Berichterstattung:Abgeordneter Eckart von KlaedenWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Dasist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung ge-wünscht? – Das ist auch nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über dieÄnderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschussesauf Drucksache 14/5685. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim-men aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS an-genommen; die PDS hat dagegen gestimmt.Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
des Gesetzes über die Verarbeitung und Nut-zung der zur Durchführung der Verordnung
Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten
– Drucksachen 14/4721, 14/5142, 14/5384,14/5686 –Berichterstattung:Abgeordneter Wilhelm Schmidt
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Dasist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge-wünscht? – Das ist auch nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über dieÄnderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschussesauf Drucksache 14/5686? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmigangenommen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Großen Anfrage der Fraktion derPDSKriegsbilanz– Drucksachen 14/3047, 14/5677 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehnMinuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms15821
1) Anlage 2Ich eröffne die Aussprache. Für den Antragsteller, diePDS-Fraktion, hat als erster Redner der Kollege WolfgangGehrcke das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hält als
ihr Fazit des Krieges fest, der Sturz von Milosevic habe
den Weg für eine friedliche multiethnische Entwicklung
des Balkans geöffnet. Damit rechtfertigt die Bundesregie-
rung den Krieg.
Das ist falsch und dürftig. Selbst wenn man einen Zu-
sammenhang zwischen dem Sturz von Milosevic und dem
NATO-Krieg unterstellt – dem ist nicht so.
In Jugoslawien hat das Volk und haben nicht die Bomben
der NATO Milosevic abgewählt. Das ist die Wahrheit, die
man hier festhalten muss.
Selbst wenn man einen Zusammenhang unterstellt,
zeigt ein Blick auf Mazedonien, den Kosovo, Südserbien,
ein Blick auf erneute Flucht, Vertreibung und Gewalt,
dass der Krieg viel zerstört und nichts gelöst hat.
Richtiger wäre aus meiner Sicht die Bilanz: Die Bundes-
regierung steht vor den Trümmern ihrer Balkanpolitik.
Außenminister Fischers Kriegsbilanz ist die Erkennt-
nis, man habe zu spät militärisch eingegriffen. Was heißt
denn das? Das kann man doch nur so verstehen, dass die
Schwelle zum Krieg, die Schwelle für militärisches Ein-
greifen gesenkt werden soll. Das muss man ablehnen, da-
gegen muss man sich einsetzen.
Wir schlussfolgern das Gegenteil. Menschenrechte,
Frieden und gute Nachbarschaft auf dem Balkan können
nicht durch Krieg erzwungen werden. Wir brauchen nicht
mehr Militär, wir brauchen mehr Politik, wir brauchen die
Mitsprache der Bevölkerung, auch unserer Bevölke-
rung, über die Außenpolitik.
Mit dem Krieg gegen Jugoslawien hat die Bundesre-
gierung dreifach Recht gebrochen: das Völkerrecht, in-
ternationale Verträge wie den Zwei-plus-Vier-Vertrag,
und das Grundgesetz, unsere Verfassung. Auch das muss
hier festgehalten werden.
Wir halten als Bilanz fest: Am Ende der Nachkriegszeit
hat Deutschland seine Größe und Souveränität nicht dazu
genutzt, das Recht zu stärken, sondern dazu, das Recht
des Stärkeren durchzusetzen.
Das ist auch Inhalt der neuen NATO-Strategie, die wir
abgelehnt haben. Die Bundesregierung hat viele und im-
mer wieder neue, andere Gründe für den Krieg angeführt.
Bündnistreue oder Bündnisverpflichtungen waren eine
Konstante. Richtiger wäre aber: Ohne die Zustimmung
der Bundesregierung hätten andere europäische Staaten
nicht mitgemacht. Selbst die Weltmacht USA hätte ohne
europäischen Partner keinen Krieg auf unserem Konti-
nent geführt.
Auf die Bundesregierung kam es an. Sie war das Züng-
lein an der Waage. Deswegen trägt sie auch eine beson-
dere Verantwortung für den Krieg, aus der sie keiner ent-
lassen wird.
Auf die Frage der PDS nach den zivilen Opfern des
Krieges antwortete die Bundesregierung, dazu lägen ihr
keine Erkenntnisse vor.
Die NATO hat atomar abgereicherte Munition benutzt.
Jeder weiß, dass sie Städte, Märkte, Brücken, einen Fern-
sehsender, sogar Flüchtlinge bombardiert hat. Menschen
wurden zu Kollateralschäden. Menschen – Serben, Alba-
ner wie das Volk der Roma, dessen Exodus aus dem Ko-
sovo mit dem Krieg begonnen hat –, das waren die Opfer
des Krieges und über diese muss hier geredet werden.
Wir halten fest: Die NATO hat das so genannte huma-
nitäre Kriegsrecht gebrochen, etwa die Haager Land-
kriegsordnung oder die Genfer Konvention. Einige
hier im Bundestag und in der Bundesregierung, Herr
Außenminister, haben versucht, die PDS als Komplizen
Milosevics abzustempeln, wider besseres Wissen. Es
war und ist bekannt: Die PDS hat den Nationalismus
Milosevics öffentlich kritisiert, die Menschenrechtsver-
letzungen, die Vertreibung, den Mangel an Demokratie.
Wir waren und sind Gegner des Nationalismus, ob er nun
serbisch, kroatisch, albanisch oder – das füge ich hinzu –
deutsch ist. Der wie immer begründete Nationalismus
findet unsere Gegnerschaft.
Aber wenn wir schon in der Geschichte des Krieges
zurückgehen: War der serbische, albanische oder kroati-
sche Nationalismus nicht auch eine der Folgen der Zer-
schlagung Jugoslawiens und der Preis dafür? Daran war
Deutschland nicht unbeteiligt. Krieg ist der Nährboden
für Nationalismus. Ich fürchte, dieser Krieg gegen Jugo-
slawien trägt den Keim neuer Kriege in sich, wenn wir
nicht dagegen kämpfen.
Die PDS – lassen Sie mich das abschließend sagen –
war und ist gegen den Krieg. Wenn wir in diesem Hause
schon über Stolz reden, dann sage ich dazu: Darauf bin ich
stolz.
Herzlichen Dank.
Alsnächster Redner hat der Kollege Dr. Eberhard Brecht vonder SPD-Fraktion das Wort.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms15822
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es istdurchaus legitim, wenn man nach zwei Jahren eine Bilanzdes Kosovo-Konflikts vorlegt und darüber debattiert,was herausgekommen ist, zumal in der Öffentlichkeit dieBeteiligung Deutschlands an dieser Auseinandersetzungdamals hoch emotional diskutiert worden ist, da doch dieNATO zum ersten Mal mit Beteiligung der deutschenBundeswehr interveniert hat. Wenn wir ehrlich sind – ichkenne viele Stellungnahmen aus diesem Haus –, ging derRiss nicht nur durch die öffentliche Meinung, sondernmitunter durch uns selbst.Eine Bilanz, Herr Gehrcke, kann jedoch nur dann einenAnspruch auf Redlichkeit erheben, wenn sie auch die Al-ternative des Weiterverhandelns mit Milosevic bis zumTag X und des Nichthandelns der NATO einbezieht.
So muss man sich unvoreingenommen auch die Fragestellen, ob denn Slobodan Milosevic, der immerhin derHauptverantwortliche für die Vertreibung von Millionenvon Menschen und für mehr als 100 000 Tote auf demBalkan war, ohne äußeren Druck mit der Vertreibung undErmordung von Kosovo-Albanern aufgehört hätte. Dasgehört zur Redlichkeit dazu.
Aber redlich kann auch nur eine Bilanz der NATO-Luft-angriffe sein, wenn man sich seriöser Quellen bedient. Ichempfehle Ihnen den ausführlichen OSZE-Bericht „Ko-sovo/Kosova. As Seen, As Told“ und den Bericht der In-dependent International Commission on Kosovo, die miteiner Vielzahl von Menschenrechtsorganisationen vor Ortzusammengearbeitet hat. Herr Kollege Lippelt hat in derletzten Debatte darauf hingewiesen, mit welch hochrangi-gen Leuten diese Kommission besetzt ist. Ferner denke ichan seriöse Berichterstatter des öffentlichen Fernsehens undder Zeitungen wie Matthias Rüb, die seit Jahren fundierteBerichte über den Balkan liefern und sehr viel zur Infor-mation beigetragen haben. Im Gegensatz zu diesen gründ-lichen Recherchen werden die Bürgerinnen und Bürgerunseres Landes derzeit mit einer Desinformationskampa-gne konfrontiert – ich will nicht sagen: von ihr überrollt –,die nicht nur von einigen Enthüllungsjournalisten, sondernauch von der PDS getragen wird.
Herr Gehrcke, Sie haben eben die Richtigkeit IhrerThesen anhand der Antworten der Bundesregierung aufIhre Große Anfrage zu untermauern versucht. Ich werdemich dagegen einmal mit Ihren Fragestellungen befassen,die fast interessanter sind. Sie verraten nicht nur dieIgnoranz der PDS gegenüber den von mir erwähntenQuellen – viele Ihrer Fragen wären ja schon beantwortetgewesen, wenn Sie einmal in sie hineingeschaut hätten –,
sondern sie verraten auch eine erstaunliche ideologischeBefangenheit beim Herangehen an dieses Problem.
Da wird zum Beispiel mit Hinweis auf das von serbi-scher Seite massiv verletzte Holbrooke-Milosevic-Ab-kommen im Oktober 1998 und auf die Verhandlungen inRambouillet im Februar 1999 – Stichwort Annex B – derPopanz aufgebaut, die Bundesrepublik sei zusammen mitder NATO geradezu darauf versessen gewesen, in diesenKrieg einzugreifen. Dagegen sprechen eindeutig die vonder Bundesregierung zum wiederholten Male vorge-brachten Fakten, über den Ablauf der Verhandlungen inRambouillet.Herr Gehrcke, wenn Sie der Bundesregierung nichttrauen und ihr Unwahrheit unterstellen, dann fragen Siesich doch einmal, was eine rot-grüne Regierung bewegenkann, einen solchen Schritt zu machen. Glauben Sie denn,ein Finanzminister, dem die Bürger jeden Tag sagen, ermüsse den Haushalt konsolidieren, gibt freiwillig765 Millionen DM für ein solches Engagement aus? Ichwill gar nicht davon reden, welcher Betrag für UNMIK,den Stabilitätspakt, die Hilfsorganisationen und auch dieFlüchtlinge aufgewendet worden ist. Und was soll einAußenminister Fischer von den Grünen, der von einermehr pazifistischen Basis getragen wird, davon haben,sich auf ein solches Abenteuer einzulassen?Meine Damen und Herren von der PDS, ich werde ein-fach den Verdacht nicht los, dass zumindest einige von Ih-nen noch der alten leninschen Imperialismustheorie an-hängen. Ich habe ja vor 30 Jahren auch noch lernenmüssen, dass die BRD die aggressivste Form des Impe-rialismus Europas ist. Entschuldigen Sie, ich glaube, dahaben Sie noch etwas zu lernen.Lassen Sie mich aus der Palette der PDS-Unterstellun-gen noch eine weitere herausgreifen. Ihr Vorwurf, die in-ternationale Gemeinschaft betreibe eine antiserbischePolitik, gipfelt in der in einer Ihrer Fragen enthaltenen Be-hauptung, die NATO habe einen Krieg gegen das serbischeVolk geführt und dabei gezielt serbische Krankenhäuser,Schulen und Altersheime als Angriffsziele ausgewählt.Meine Damen und Herren, wenn dies so wäre, müssteich mich über Ihre Großzügigkeit wundern, zusammenmit einigen hundert Kriegsverbrechern in diesem Parla-ment weiterhin Politik zu machen.
Im Übrigen ist eine solch ungeheuerliche Behauptung fürmich neu. Ich habe dies bisher nur aus den Reihen desMilosevic-Clans gehört. Auch bei den vielen Gesprächenin Montenegro und auch in Serbien habe ich einen solchenVorwurf – bei aller Kritik an der NATO – noch nie gehört.Betrachten Sie doch einmal die angesichts der massi-ven Luftangriffe relativ niedrige Zahl ziviler Opfer, auchwenn natürlich jedes Opfer schlimm genug ist. Es gingder NATO um das Ende der hunderttausendfachen Ver-treibung von Kosovo-Albanern, um ein Ende der ethnisch
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motivierten Morde und um die Voraussetzungen für dieDurchsetzung der in der Charta von Paris niedergelegtenWerte wie Demokratie und Minderheitenschutz.Noch mehr wird die These der PDS durch das Verhal-ten der Europäischen Union nach der Demokratisierungin Serbien, also nach dem Sturz von Milosevic, widerlegt.Mit der raschen humanitären Hilfe für die serbischeBevölkerung und auch mit der sofortigen EinbeziehungSerbiens in den Stabilitätspakt haben wir uns – umgekehrt –bei den Nachbarstaaten Jugoslawiens sogar den Vorwurfeingehandelt, wir würden den einstmals verlorenen SohnBelgrad nun mit Zuwendungen überschütten. Ich glaube,diese Aussage spricht für sich.Meine Damen und Herren, Sie werden sich nicht wun-dern, dass meine Bilanz unseres Balkan-Engagements et-was anders aussieht als die von Herrn Gehrcke. Wir habenals Europäer und als Deutsche eine bittere Lektion lernenmüssen: Wo Diktatoren vom Krieg mehr profitieren alsvom Frieden, sind als Ultima ratio Zwangsmaßnahmenerforderlich, damit anschließend Frieden in einem zivilenAufbauprozess langsam wieder wachsen kann. Ich unter-streiche das, was unser Kollege Schwarz-Schilling immerwieder behauptet hat: Es hätte vermutlich weitaus weni-ger Opfer und weitaus weniger Hass gegeben, wenn derals Kriegsverbrecher angeklagte Slobodan Milosevicschon früher hätte gestoppt werden können.
Herr Kol-
lege Brecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Dr. Grehn?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Brecht, Sie ha-
ben in Ihren Ausführungen sehr deutlich darzustellen ver-
sucht, dass die Einschätzung der PDS, von der Sie anneh-
men, dass sie Hintergrund der Fragen sei, eine völlig
abgehobene Beurteilung allein seitens der PDS sei.
Ich frage Sie: Haben Sie die WDR-Sendung hierzu ge-
sehen? Sind Sie der Meinung, dass das eine Sendung war,
die auf der Grundlage der PDS-Positionen stattgefunden
hat oder dass gar die PDS dies initiiert hat?
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass es eine völlig unab-
hängige Einschätzung gibt, die sich von dem, was Sie bis-
her dargestellt haben, unterscheidet?
Lieber Herr Grehn, wir
haben über diese WDR-Sendung schon einmal an einem
Freitag hier im Bundestag diskutiert. Sie haben in der
Zwischenzeit vielleicht auch in der Presse gelesen, wie
diese Sendung zustande gekommen ist.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle klipp und klar: Wenn ich
WDR-Intendant wäre, würde ich mich von diesen beiden
Herren trennen, denn ihre Arbeit steht nicht in Überein-
stimmung mit dem Ethos eines Journalisten.
Herr Grehn, ich kann Ihnen die Belege bringen, wie zum
Beispiel Herr Loquai zu diesen Aussagen zu Racak ge-
kommen ist und wie die Befragung von Herrn Werth und
von Herrn Angerer bei Racak gewesen ist. Das alles ist
dokumentiert. Ich glaube, der WDR sollte die Kraft ha-
ben, sich von solchen Journalisten zu trennen.
Eine zweite Lektion: Die Überwindung des Hasses und
der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen im Kosovo
werden der internationalen Gemeinschaft mehr Zeit, mehr
Kraft und möglicherweise auch mehr Finanzen abverlan-
gen, als wir dies am Anfang angenommen haben. Die Al-
ternative wäre das Wiederaufflammen des Krieges, und
zwar nicht in einem so begrenzten Maß, wie es jetzt in Süd-
serbien und Mazedonien geschieht, sondern in einem größe-
ren Maße. Ich glaube, von diesen Folgen wäre auch
Deutschland unmittelbar und mittelbar betroffen. Daher gilt
an dieser Stelle mein Dank allen, die daran beteiligt sind,
diesen zivilen Aufbauprozess voranzutreiben; aber nicht nur
der Dank, sondern auch die Ermutigung zum Weitermachen
für die KFOR-Truppe, für die zivile Verwaltung der
UNMIK, für das Stabilitätspakt-Team um Bodo Hombach
und für die vielen vor Ort tätigen Hilfsorganisationen.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Christian Schmidt für die Frak-
tion von CDU/CSU.
Herr Präsi-dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich kann auf ei-niges, was Kollege Brecht gerade vorgetragen hat,zurückgreifen und im Sinne der demokratischen Gemein-samkeit nahtlos daran anschließen.Es ist schon bizarr – da gebe ich Ihnen Recht –: DieseGroße Anfrage der PDS und die Fragen, worauf eineFleißarbeit des Auswärtigen Amtes folgte, belegen fürmich zweifelsfrei, wes Geistes Kind die Fragesteller sind.Man braucht nicht zwischen den Zeilen zu lesen, um zuerkennen, mit welcher Einseitigkeit die notwendigeNATO-Intervention im Frühjahr 1996 hinterfragt wird.Wenn die PDS als Nachfolgepartei der SED mit ihrereigenen Vergangenheit ähnlich kritisch umginge und dazuFragenkataloge erstellen würde, wären wir bei der Aufar-beitung unserer jüngsten Vergangenheit wesentlich wei-ter.
Außerdem vermisse ich – der Kollege Gehrcke ist vor-sorglich schon darauf eingegangen, wahrscheinlich weiler befürchtet hat, dass diese Frage gestellt wird, und siewird gestellt – in diesem Katalog die Frage, inwieweit der
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Bundesregierung Erkenntnisse darüber vorliegen, wiesehr der Belgrad-Besuch des Kollegen Gysi dazu beige-tragen hat, dass Milosevic das Gefühl haben konnte, esgebe in Deutschland Sympathien für seine politische Po-sition, und der Konflikt dadurch noch verlängert wurde.
Auch die rot-grüne Bundesregierung war im Frühjahr1999 im Vorfeld der Kosovo-Intervention hinsichtlich ih-rer eigenen politischen Prinzipien und ihrer politischenVergangenheit in einer bizarren Situation, musste sie dochden ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr in deren Ge-schichte unter Zuhilfenahme sehr überzogener Argu-mente begründen. Bewaffnete Konflikte waren aber – daswollen wir doch noch einmal festhalten – immer besten-falls eine Tragik, schlimmstenfalls eine Katastrophe, aberauf jeden Fall eine Kapitulation der Politik vor der blan-ken Gewalt.Letztlich ist auch im Kosovo-Konflikt die Politik anihre Grenzen gestoßen und es bedurfte des Einsatzes vonGegengewalt, um Milosevic an seinem gewalttätigenWerk der Zerstörung zu hindern. Ob nun die „ethnischenSäuberungen“ ganzer Landstriche bereits den Tatbestanddes Völkermords erfüllt haben, darüber mögen sich dieJuristen streiten. Ich will es dahingestellt sein lassen. Tat-sache bleibt, dass es angesichts der Gefahr für die Men-schen dort, aber auch für unsere eigene europäische Si-cherheit und Stabilität nicht zugelassen werden konnte,dass dieser Mann zum vierten Mal ungestraft einen Kriegim früheren Jugoslawien anzettelt.
Daher dürfen Ursache und Wirkung, Täter und Opfernicht verwechselt werden. Der Krieg begann nicht mitdem Eingreifen der NATO, sondern mit der rücksichtslo-sen Durchsetzung der Politik des Milosevic-Regimes seitBeginn der 90er-Jahre.Die militärische Intervention der NATO war die Ul-tima Ratio aufgrund der strikt ablehnenden Haltung Ser-biens in Rambouillet. Das war kein Zwang zum Ab-schluss, sondern das war das letzte Angebot.Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es nochder alte Bundestag war, der nach der Wahl am 27. Sep-tember 1998 im Oktober zusammengetreten ist, um denActord, das heißt die grundsätzliche Bereitschaft derNATO, sofort zuzuschlagen, unterstrichen und genehmigthat. Wir alle haben damals zugestimmt. Die damals nochnicht im Amt befindliche Bundesregierung war sicherlichfroh, dass sie keine eigene Mehrheit sammeln musste,sondern dass die alte Mehrheit des 13. Bundestages bereitwar, diesen Schritt, der nicht ohne Probleme war und beidem viel bedacht werden musste, mitzugehen. Es bleibtanzuerkennen, dass dann, als Monate später in Rambouil-let der letzte Versuch gescheitert war, dieser Weg konse-quent fortgeführt wurde. Wäre das nicht passiert, wäre daseine Einladung für alle weiteren Aggressionen nicht nurin Südosteuropa gewesen. Es ist nicht auszumalen, wasdann passiert wäre.Um nicht missverstanden zu werden, sage ich: Wirsperren uns nicht gegen eine Bilanz, sondern wir halteneine solche für sinnvoll und notwendig. Sie wird im Laufeder nächsten Jahre auf der Grundlage vieler Beiträge er-stellt werden müssen. Letztendlich wird auch die Ge-schichtsschreibung, werden die Journalisten und auch Po-litiker und vor allem Betroffene immer wiederreflektieren müssen, welche Lektion wir aus dem Ko-sovo-Konflikt gelernt haben. Aber wir sind nicht bereit,bei dem Versuch der PDS mitzumachen, diese Vorge-hensweise im Sinne einer einseitigen Abrechnung und un-ter Ausblendung der Umstände und Ursachen, die zur In-tervention der NATO geführt haben, zu diffamieren.Europa und die westliche Welt hatten sich gegen dieDenkschule entschieden, die es ja auch schon bei vorher-gehenden Jugoslawienkonflikten gab, und die da heißt:Lasst sie sich doch auskämpfen!
– Jawohl, ausbluten. – Diese Frage ist in offenen Gesell-schaften, die demokratisch verfasst sind und auf be-stimmten Grundwerten und Grundprinzipien beruhen,nicht mit einer Handbewegung zu beantworten. Wir ste-hen in Verantwortungen, die wir wahrnehmen müssen.Das heißt auch, dass wir Diktatoren oder jenen, bei denendie Gefahr besteht, dass sie ihr Land diktatorisch umge-stalten, dann Einhalt gebieten müssen, wenn es für diedort lebenden Menschen um die blanke Existenz geht.
Davon allein darf man sich allerdings nicht leiten las-sen. Dazu kommen müssen nicht nur eine objektiveNotwendigkeit, sondern hinsichtlich des hohen eigenenRisikoeinsatzes auch die Angemessenheit und die Er-folgsträchtigkeit der Maßnahmen. Etwas nur deshalb zutun, damit etwas getan wird, ist kontraproduktiv.Gegenüber den Soldaten, die uns im Sinne dessen, dasswir darüber entscheiden, ob sie in den Einsatz gehen odernicht, anvertraut sind, haben wir eine Fürsorgepflicht. Wirmüssen entscheiden, ob es tatsächlich notwendig ist, sieGefahren auszusetzen.
In die Abwägung muss auch explizit die eigene Inte-ressenlage einbezogen werden. Das darf nicht mit eineregozentrischen Bewertung der Risikolage verwechseltwerden. Aber wir müssen auch bereit sein, zu sagen, dasses im Kosovo nicht nur um humanitäre Fragen im enge-ren Sinne ging, sondern auch um die Stabilität bei uns bishin zu der Festellung, dass massive Flüchtlingsbewegun-gen, die immer Not und Elend mit sich bringen, verhin-dert werden müssten, indem für die Leute die Möglichkeitgeschaffen wird, in ihrer Region zu bleiben.An der Bereitschaft, diese Dinge zu artikulieren und zudefinieren, hat es der Bundesregierung – aus bekanntenGründen – allerdings manchmal gefehlt. Man flüchtetesich in die Überhöhung und hat sich deswegen auch vor-halten zu lassen, dass die Klarheit der Information überHintergründe und Tatsachen zum Teil gelitten hat. Man-ches von dem, was in dem inkorrekten Beitrag des WDR
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zur Sprache gekommen ist, wäre vielleicht nicht so leichtzur Sprache zu bringen gewesen, wenn nicht ab und an derEindruck entstanden wäre, dass man überzogen hat oderversucht hat, Leute mit nicht ganz korrekten Informatio-nen zu überzeugen. Diesen Vorwurf muss die Bundesre-gierung aushalten. Es ist nur anzumahnen, dass sie das beibevorstehenden Konflikten nicht wieder in ähnlicherWeise tut. Sie wird deswegen in diesen Fragen die Unter-stützung des Hauses behalten, wenn sie einen entspre-chenden Antrag stellt. Ich weise darauf hin, dass wir jabald über die Verlängerung des Kosovo-Mandats werdendiskutieren müssen. Aber ich erwarte, dass die Bundesre-gierung ihr Verhalten hier ändert.
Lassen Sie mich noch kurz auf die aktuelle Situationeingehen. Wir müssen klären, ob wir die geeigneten In-strumente zur Hand haben, den Frieden in dieser Regionnachhaltig abzusichern. Ich habe nicht den Eindruck, dassBodo Hombachs Stabilitätspakt ausreicht, dort Nach-haltigkeit zu sichern. Ich will nicht sagen, dass das einfalscher Ansatz war. Es war die Rückkehr zur Politik.Aber dies genügt offensichtlich nicht. Denn gerade mitBlick auf die Entwicklungen in Mazedonien müssen wirüber die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an derKFOR, über den Appell an die USA – ich hoffe, dass derBundeskanzler dies bei seinem gestrigen Besuch in denUSA getan hat –, dass Europäer und Amerikaner inner-halb der NATO gemeinsam handeln, und über die Rück-kehr der Flüchtlinge sowie die Gewährung eines sicherenUmfeldes diskutieren. Wir müssen auch darüber spre-chen, was noch politisch Not tut, damit wir in dieser Re-gion nachhaltige Ansätze durchsetzen können, die jetztschon wieder in der Gefahr sind zu zerbrechen.Ich glaube nicht daran – viele in diesem Hause tun dieswohl auch nicht –, dass es mit den Scharmützeln um Te-tovo herum sein Bewenden haben wird. Alle Kriege inJugoslawien haben mit solchen Scharmützeln angefangen.Es ist zwar noch nicht nach zwölf; aber es ist dringend not-wendig, dass wir versuchen, das, was wir in diesem Zu-sammenhang tun können, gemeinsam umzusetzen.Wir müssen darüber sprechen, ob beispielsweise dasKonzept der nur teilweisen Entwaffnung, also der fakti-schen Nichtentwaffnung, der UCK nicht dazu geführt hat,dass die mazedonisch-albanische Irredenta aus dem Ko-sovo heraus unterstützt wird. Ich gestehe zu, dass es keinePatentrezepte gibt. Aber wir müssen wohl darüber disku-tieren, wie wir in Zukunft robuste – vielleicht sogar nochrobustere – Mandate schaffen. Ich meine nicht, dass wirdie Art und Weise, wie bereits jetzt bestehende Mandatezustande gekommen sind, auf Mazedonien übertragensollten. Ich bin sehr skeptisch, ob der bisherige Weg, zusagen: „Wir lassen den Konflikt entstehen und schlichtendann den Streit“, funktioniert.Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit kurz von einemErlebnis berichten, das mich diese Woche sehr bewegthat: Hier vor diesem Haus, vor unserem Parlament, sprachmich am Mittwoch nach der Ausschusssitzung ein alba-nischsprachiger Journalist an – der eine oder andere kenntihn – und fragte nach der Position der CSU hinsichtlichder Sprachenfrage an der Universität in Skopje. Er stelltemir die Frage, ob wir nicht auch der Meinung seien, dassdie Albaner ein Recht darauf hätten, dass Albanisch dortals Sprache zugelassen wird, und ob die Albaner nichtauch das Recht hätten, als Staatsvolk in Mazedonien an-gesehen zu werden. Dies sind an sich Fragen, deren Be-antwortung aus unserer europäischen Vorstellung herausgar nicht problematisch ist. Ja, man müsste über dieseFragen sprechen.Ich habe dem Fragesteller sehr deutlich geantwortet,dass Fragen des Zusammenlebens, das verbesserungsbe-dürftig ist, die eine Sache sind, dass aber die gegenwär-tige verrückte und unvorstellbare Meinung in verwirrtenKöpfen, man müsse diese Probleme mit Gewalt lösen, un-verantwortlich ist. Ich habe ihn gebeten, zu berichten,dass es in Deutschland ein helles Entsetzen darüber gibt,dass Menschen in dieser Region nach vier Waffengängeninnerhalb von zehn Jahren immer noch meinen, mit derWaffe in der Hand ihre Überzeugungen und Wünschedurchsetzen zu müssen,
und dass sie bei diesem Vorgehen nicht mit der Unterstüt-zung des Westens rechnen können. Ich habe ihm gesagt,dass ich für meine Fraktion ganz klar sagen kann, dass wirauf eine politische Lösung setzen.Ich gehe davon aus, dass das auch für alle anderen indiesem Hause gilt.
Keiner der an diesem Konflikt Beteiligten sollte im Hinter-kopf damit rechnen, dass dann, wenn es schlimme Ent-wicklungen gibt, die NATO kommt und ihn wieder heraus-holt. Nein, den Frieden müssen zuallererst die Menschen indiesem Lande selber schaffen.
Wir können nur helfen und gute Dienste leisten. Das al-lerdings müssen wir tun.Ich bedanke mich.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Winfried Nachtwei.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! SeitWochen und Monaten erleben wir im Kosovo und in denAnrainerregionen des Kosovo eine gefährlich zuneh-mende Gewalt. Da stellt sich natürlich die Frage: Was sollin einem solchen Moment eine Debatte über den Kosovo-Krieg vor zwei Jahren? Die Antwort darauf ist einfach:
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weil die Beschäftigung mit den Erfahrungen des Kosovo-Krieges sehr hilfreich ist, um zu einer wirksameren Kri-seneindämmung und Gewaltvorbeugung zu kommen.
Die erste Kriegsbeteiligung der BundesrepublikDeutschland war eine historische Zäsur und – wir erin-nern uns deutlich – heiß umstritten, auch hier im Haus,aber vor allem in der Gesellschaft.Was die Aufarbeitung des Kosovo-Krieges angeht,so haben wir, wie ich meine, einen unübersehbaren Nach-holbedarf; denn auf der einen Seite steht die Verdrängungdurch die Gesellschaft, aber auch durch die Politik, undauf der anderen Seite eine rechthaberisch orientierte Aus-einandersetzung. Was verhältnismäßig zu kurz kommt, istdie schlichte, aber äußerst schwierige Suche nach derWahrheit. Vorhin sind – auch vom Kollegen Brecht – sehrwichtige, unabhängige Kommissionsberichte von derOSZE und von der Independent International Commis-sion on Kosovo genannt worden, die bei dieser Wahr-heitssuche sehr hilfreich sein können. Auch die heute zurDiskussion stehende Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der PDS soll einen Beitrag zur Wahr-heitsfindung leisten.In der letzten Zeit sind zunehmend Publikationen er-schienen, in denen bestritten wird, dass damals, Anfang1999, eine humanitäre Katastrophe gedroht hat. In diesenPublikationen wird behauptet, es habe einen schlimmenBürgerkrieg gegeben, der aber keine – vor allen Dingendurch das Milosevic-Regime verursachte – humanitäreKatastrophe hervorgerufen habe.
Die Antwort der Bundesregierung macht zu Recht ei-niges deutlich, nämlich dass Krieg und Vertreibung imKosovo nicht erst am 24. März 1999 begannen,
sondern dass der Nährboden der Gewalt durch das serbi-sche Apartheidregime gegen die Kosovo-Albaner seit An-fang der 90er-Jahre gelegt wurde.
Es gab also einen Vorlauf von ungefähr zehn Jahren.
Nach diesen unabhängigen Untersuchungsberich-ten begannen die offenen Kämpfe und gezielten Vertrei-bungen ungefähr im März 1998 mit sehr vielen Vertriebe-nen und mit auf ungefähr 1 000 geschätzten getötetenZivilisten auf kosovo-albanischer Seite. Es gab ungefähr400 000 bis 500 000 Flüchtlinge und Vertriebene. EineWiederverschärfung der Kämpfe und Vertreibungen gabes seit Anfang 1999. Auch dies ist vom UNHCR und an-deren eindeutig belegt.Schließlich gab es die Erinnerung der Staatengemein-schaft, geteilt von der Mehrheit dieses Hauses, an denBosnienkrieg, wo die Staatengemeinschaft zu spät ge-kommen war und – daran denken viele heute nicht –200 000 Menschen umgebracht worden sind.
Das steckte uns allen in den Knochen.
Allerdings wird auch immer deutlicher, dass das Kon-fliktmuster der Kämpfe und bewaffneten Auseinander-setzungen im Kosovo komplexer war, als es damals teil-weise in der Öffentlichkeit verbreitet wurde oder als esheutzutage von manchen Kritikern des NATO-Kriegesbehauptet wird. Die Bundesregierung deutet in ihrer Ant-wort dieses komplexere Konfliktmuster an, indem darinvon dem bekannten Schema des unverhältnismäßigenVorgehens serbischer Sicherheitskräfte als Reaktion aufUCK-Aktivitäten die Rede ist.In dem vorhin schon genannten WDR-Film wird dasBeispiel des Ortes Rogovo gebracht, wo am 29. Ja-nuar 1999 24 tote Kosovo-Albaner gefunden wurden. Indem WDR-Film wird behauptet, das seien schlimme, abernormale Bürgerkriegsauseinandersetzungen gewesen. Ichhabe noch gestern mit einem deutschen Polizeibeamtengesprochen, der dort bis zum Erstellen des Abschlussbe-richtes ermittelt hat, der nach Den Haag gegangen ist. Erhat gesagt: Als sie dort hinkamen, hätten sie einen totenserbischen Polizisten, sechs UCK-Kämpfer und darüberhinaus viele eindeutig willkürlich exekutierte Zivilperso-nen gefunden. – Der Fall Rogovo ist beispielhaft für dasübliche Konfliktmuster. Von der Independent Internatio-nal Commission on Kosovo wird das zusammengefasstmit der Beschreibung: ein Gemenge von bewaffnetemAufstand, staatlicher Aufstandsbekämpfung und Krieg,der so genannten ethnischen Säuberung, gegen die Zivil-bevölkerung.
– Wenn man genauer hinhört, weiß man, was ich eben ge-sagt habe.Die bemerkenswerte BBC-Dokumentation „Bombenund Moral“ konstatiert, das sei eine bewusste Eskalations-strategie der UCK gewesen, die terroristische Antiterror-einsätze der serbischen Kräfte bewusst einkalkuliert habe.Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob die Staaten-gemeinschaft das damals gebührend berücksichtigt hat.Zu den Kriegsopfern und den Kriegsschäden! DieWahrnehmung der Kriegsopfer und Kriegsschäden fälltoffenkundig schwer, und zwar einmal wegen objektiverErmittlungsprobleme, aber auch wegen gegenläufigerInteressen, die die Wahrnehmung erschweren. Für eineDemokratie sollte eine offene Erfassung der Kriegsopferaller Seiten selbstverständlich sein. Gestützt auf die Un-tersuchung verschiedener internationaler Organisationenmacht die Bundesregierung konkrete Angaben zu den
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Winfried Nachtwei15827
Flüchtlingszahlen und zu den Gesamtopferzahlen auf ko-sovo-albanischer Seite. Zwischen März und Juni 1999sind schätzungsweise 10 000 Menschen im Kosovo vonden serbischen Kräften umgebracht worden. Diese Zahl istein Abgleich der Informationen verschiedenster Menschen-rechtsorganisationen. Wenn wir die geringe Bevölkerungs-zahl des Kosovo mit jener der Bundesrepublik vergleichen,dann wird deutlich, wie gigantisch die Opferzahlen waren.Allerdings muss ich auch sagen, dass die Angaben derBundesregierung in ihrer Stellungnahme zu den Opfernund Schäden der NATO-Luftangriffe dürftig sind. Siekönnten durchaus ausführlicher sein, wenn man sich ein-fach auf die Angaben der Independent International Com-mission on Kosovo stützen würde; diese hat dazu einigeAusführungen gemacht, zum Beispiel auch zu den Zer-störungen von Brücken und Industriebetrieben.Zu den Kriegsergebnissen: Erklärtes Ziel der NATO-Luftangriffe war die Verhinderung einer humanitärenKatastrophe, also einer Neuauflage der Kämpfe und Ver-treibungen des Jahres 1998 auf schlimmerem Niveau;denn damit – das hatten wir gleichzeitig im Kopf – drohteein Flächenbrand in der ganzen Region und deren umfas-sende Destabilisierung. Dieser umfassende regionaleFlächenbrand wurde eindeutig verhindert. Das Problemdaran ist allerdings, dass das eine unsichtbare Wirkungwar. Das erste Ziel, die Verhinderung der humanitären Ka-tastrophe, wurde offenkundig verfehlt. Ich glaube, vordieser ernüchternden Feststellung sollten wir uns nichtdrücken.Zuletzt zu den Schlussfolgerungen: Die Antwort derBundesregierung ist ein Beitrag zur Aufarbeitung des Ko-sovo-Krieges. Diese Aufarbeitung ist damit selbstver-ständlich keineswegs abgeschlossen. Schon angesichtsder Begrenztheit der Fragestellungen und ihrer großenVoreingenommenheit bleiben viele Fragen offen.
Es wäre enorm interessant, der Frage nachzugehen, wel-che Friedenschancen bestanden. Man sollte also nocheinmal genauer untersuchen, ob mit der OSZE-Missionvom Oktober 1998 bis zum März 1999 alle Möglichkei-ten ausgereizt worden sind.
– Gut, das sind aber Fragen, die man noch einmal genauerbearbeiten sollte.Man hat auf jeden Fall Konsequenzen daraus gezogen,nämlich durch den Aufbau schnell verfügbarer zivilerKräfte gerade für solche Missionen. Bisher gibt es in derBundesrepublik im Unterschied zu etlichen anderenNATO-Staaten keine umfassende – ich betone: umfas-sende – Überprüfung und Bilanzierung des Kosovo-Krie-ges und der deutschen Beteiligung daran. Notwendig istmeiner Meinung nach ein gesamtgesellschaftlicher Auf-arbeitungsprozess, zu dem Bundestag, Bundesregierungund relevante gesellschaftliche Kräfte, zum Beispiel Me-dien und Kirchen, beitragen sollten.Gehört werden sollten vor allem auch die vielen Frauenund Männer, die im Rahmen von Beobachtungs- und Frie-densmissionen im Kosovo waren und bisher – so habe icherfahren – kaum gefragt wurden.
Ein solcher gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitungs-prozess ist notwendige Voraussetzung, um angemessenesicherheits- und friedenspolitische Konsequenzen ausdem Kosovo-Krieg ziehen zu können, der für uns alle si-cherlich kein Modell, sondern abschreckendes Beispielist.Danke schön.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Die Bilanz eines Krie-ges zu ziehen ist für den Bundestag eine ungewohnte Auf-gabe. Schließlich hat sich die deutsche Bundeswehrerstmalig seit ihrem Bestehen an einem Friedenseinsatzunter Kriegsbedingungen beteiligt.Ich möchte das Ergebnis der Überlegungen an dieSpitze stellen: Selten hat es in der Geschichte ein mi-litärisches Eingreifen gegeben, bei dem die insgesamtpositive Bewertung deutlicher auf der Hand liegt als imKosovo-Konflikt. Ich will folgende Punkte herausstellen:Erstens. Seit dem Eingreifen der NATO im Kosovomüssen die Millionen von Menschen in der Region, dienicht Serben sind, nicht mehr in Angst vor serbischer Ag-gression leben. Das ist das wichtigste Ergebnis. Bosnier,Albaner, Ungarn, aber auch Kroaten, Slowenen und Bul-garen leben als friedliche Nachbarn zu einem friedlichenSerbien. Großserbische Bestrebungen und damit einher-gehende Bedrohungen der nationalen Identität der Nach-barn, aber auch des Lebens der Menschen in diesen Län-dern sind Vergangenheit.Zweitens. Eine Million Kosovo-Albaner, die von Ser-ben vertrieben oder vergewaltigt wurden, die im Winterim Wald vor marodierenden Banden paramilitärischerserbischer Verbände Schutz suchen mussten, können ru-hig in ihrem Land leben.
Sie waren die am meisten betroffenen Opfer serbischerAggression seit 1988, als dieser unselige Milosevic, ge-tragen von der zwanghaften Vorstellung, Kosovo-Albanerseien Menschen minderen Rechts, die auf eigentlichurserbischem Territorium – so sah er damals die Dinge –nichts zu suchen hätten, mit der Unterdrückung begann.Drittens. Es ist gelungen, diesen geschundenen Men-schen, deren Häuser gebrandschatzt und deren Felder ver-mint wurden, ihre Heimat wiederzugeben. Sie haben erst-malig eine Chance, ein freies Land mit Zukunft
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Winfried Nachtwei15828
aufzubauen. Dies ist die direkte Folge des NATO-Ein-greifens in Jugoslawien.
Viertens. Dass in Serbien und im Kosovo jetzt demo-kratische Strukturen entweder schon bestehen oder imEntstehen begriffen sind, ist eine weitere direkte Folgedes NATO-Militärschlags. Es glaube doch keiner, dass esder Diktator Milosevic, der die Presse und die elektroni-schen Medien seines Landes beherrschte, zugelassenhätte, dass die Bürger seines Landes objektiv informiertund aufgrund dieser Informationen zu einer anderen poli-tischen Haltung gekommen wären. Er säße nach wie vorim Sattel und würde nicht nur sein Land, sondern auch dieNachbarländer terrorisieren. Dieser Spuk ist nun vorbei.
Fünftens. Der gesamte Balkan hat seit dem Kosovo-Krieg eine völlig neue Perspektive. Das Heranrücken andie Europäische Union gibt den jungen Menschen imBalkan Zuversicht und eine Perspektive für das Verblei-ben im Lande. Anstelle der totalen Depression und Zu-kunftslosigkeit ist Hoffnung auf den Anschluss an dieStandards der westlichen Welt getreten. Dies betrifft alleLänder des Balkans und stellt eine Wende zum Besserenvon größter Tragweite dar.
Sechstens. Der Balkan ist seit Jahrhunderten ein Kon-fliktherd erster Ordnung. Seit eineinhalb Jahren bestehtdie Aussicht, dass eine gerechte Friedensordnung an dieStelle des Rechts des jeweils Stärkeren tritt.Siebtens. Wir alle wissen, dass Millionen Kosovo-Al-baner – auch das sollten wir im Kopf haben –, die ihr Landwegen der serbischen Aggression verlassen mussten,nicht etwa in Mazedonien oder in Albanien gebliebenwären. Sie wären als Flüchtlinge nicht zuletzt in unserLand gekommen und hätten die Integrationsfähigkeit undIntegrationsbereitschaft in Deutschland schlichtweg über-fordert. Was das für das friedliche Zusammenleben derMenschen in unserem Land bedeutet hätte, mag sich jederselbst ausdenken. Um es etwas konkreter zu sagen: Esglaube keiner, es wäre gelungen, die Republikaner ausdem Landtag von Baden-Württemberg herauszuhalten,wenn wir zusätzlich eine halbe Million Kosovo-Albanerim Lande gehabt hätten.
Achtens. Auch international hat das Eingreifen derNATO langfristige Wirkungen. Der Sicherheitsrat derVereinten Nationen ist handlungsfähiger geworden. Ichglaube, die Annahme, dass die Grundsätze der Charta derUN wieder stärker als die nationalen Interessen zweierständiger Mitglieder im Mittelpunkt stehen, dürfte zutref-fen. Haben vor dem NATO-Angriff noch Russland undChina in völliger Verkennung ihrer Verantwortung alsMitglieder des Sicherheitsrates letztlich Milosevic unter-stützt, so wissen sie spätestens seit dem Eingreifen derNATO, dass sie durch ihr Veto nicht mehr Nothilfe zu-gunsten geschundener und unterdrückter Völker verhin-dern können. Die NATO hat sich als einzige funktionie-rende Ordnungsmacht erwiesen, die bereit und in derLage ist, Völkermord entgegenzutreten. Russland undChina wissen nun, dass sie sich durch ein Veto gegen hu-manitäre Hilfe nur blamieren, ohne den Gang der Ge-schichte aufhalten zu können.Dieser außerordentlich positiven Bilanz steht natürlichgegenüber, was wir auf der Minusseite verbuchen müs-sen: So sind bei den NATO-Angriffen und bei Aktionender serbischen Streitkräfte circa 500 Menschen ums Le-ben gekommen. Natürlich bedauern wir das sehr, wissenaber, dass für diese Verluste an Menschenleben Milosevicverantwortlich ist. Bedenken wir bitte auch, wie vieleweitere unschuldige Menschen dem Terror der verblende-ten Serben zum Opfer gefallen wären, wenn wir nicht ge-handelt hätten.Es wurden Einrichtungen in Serbien und im Kosovozerstört, die nur mit viel Geld und viel Energie wieder auf-gebaut werden können. Die Bevölkerung von Serbien hateinen großen Preis für die schreckliche Politik ihres frühe-ren Diktators zahlen müssen. Der Westen, insbesonderedie Europäische Union und unser eigenes Land, steht hin-ter der neuen demokratischen Regierung. Wir werden al-les tun, um den Wiederaufbau – nicht nur bis zum frühe-ren Standard, sondern in Richtung des Niveaus von ganzWesteuropa – zu unterstützen.
Wir müssen aber einräumen, dass trotz aller Bemühun-gen der KFOR-Streitkräfte, insbesondere auch der deut-schen Soldaten, Serben und andere Minderheiten im Ko-sovo in Angst vor Kosovo-Albanern leben. Wir müssenauch feststellen, dass viele Serben aus dem Kosovo ge-flohen sind und fliehen mussten, weil sie Angst um Leibund Leben hatten. Sie zahlen den größten Preis für dieVerbrechen, die Milosevic zu verantworten hat.Meine insgesamt positive Bilanz des Kosovo-Kriegesmarkiert aber nicht das Ende der Akte Kosovo. Esherrscht nicht etwa Frieden, sondern nur Abwesenheit vonKrieg. Ich selbst habe mehrfach – im Verteidigungsaus-schuss und darüber hinaus – gefordert, mit der konkretenFriedensarbeit zu beginnen. Es darf nicht sein, dass in denMedien vor Ort weiterhin gegen die andere Bevölke-rungsgruppe gehetzt wird und dass das Ziel eines multi-ethnischen Kosovo in Zeitungen durch die Förderung vonVorurteilen und von Hass konterkariert wird.
Frieden muss in den Köpfen und in den Seelen derMenschen wachsen. Deshalb ist es vordringlich, dass inden Kindergärten und Schulen die Fähigkeit zum Friedenerlernt und geübt wird. Hier ist UNMIK gefordert.Deutschland muss diese Entwicklung sehr aufmerksambeobachten. Es darf nicht sein, dass mehrere tausend deut-sche Soldaten unter schwierigen Bedingungen, auch inden kommenden Jahren, im Kosovo Dienst tun, um Frie-den möglich zu machen, während vor Ort die Entwick-lung zum Frieden durch friedensunfähige Nationalistengefährdet wird. Wir wollen, dass der Kosovo und die an-grenzenden Regionen nicht nur geographisch ein Teil Eu-ropas sind, sondern dass die Menschen im Balkan ein Teil
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unseres Europas werden, das für Menschenrechte, Frie-den und Wohlstand für alle steht.Vielen Dank.
Ich gebe
dem Kollegen Gernot Erler für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Zwei Jahre nach dem Krieg fällt einepolitische Bilanz ambivalent aus. Es gibt positive Ent-wicklungen: Jede Bilanz muss mit einem Hinweis auf dieRückkehr von mehr als 900 000 Flüchtlingen beginnen.Die gewaltsame Vertreibung war Auslöser der militäri-schen Intervention. Die angestrebte Rückkehrmöglichkeitist erzwungen worden und die meisten Flüchtlinge habenvon dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.Auch die Bedingungen für Frieden und Stabilität in derRegion sind verbessert worden. Ich verweise auf die poli-tische Entwicklung in Kroatien und den politischenWechsel in Jugoslawien, der ganz wichtig war. Ich erin-nere daran, dass es hier immer einen breiten Konsens da-rüber gab, dass die Beendigung des Regimes Miloseviceine Voraussetzung – wenn auch kein Automatismus – fürStabilität und Frieden in der Region des Balkans ist.Zu der positiven Kriegsbilanz gehört nach unserer Auf-fassung auch der Stabilitätspakt. Er hat dafür gesorgt,dass die meisten Länder der Region die Vorteile von Ko-operation materiell schätzen gelernt haben. Die Tendenzzur Kooperation scheint sich inzwischen zu verselbst-ständigen. Kürzlich hat der Sonderkoordinator der EU fürden Balkan, Bodo Hombach, den Fachausschüssen desDeutschen Bundestages berichten können, dass die grenz-überschreitende Zusammenarbeit inzwischen zum Regel-fall geworden ist. Das ist ein sehr wichtiger Effekt des Sta-bilitätspaktes.
Wir dürfen allerdings die Augen nicht davor ver-schließen, dass wir noch weit von einer nachhaltigenFriedensordnung für die ganze Region entfernt sind.Hauptgrund dafür ist, dass eine weit verbreitete Krankheitnoch nicht besiegt ist. Diese Krankheit besteht darin, dassnoch immer auf eine gewaltsame Lösung der ethnischenProbleme gesetzt wird. Milosevic hat das im Kosovo-Krieg getan, von 1991 bis 1998 mit struktureller Gewaltund mit dem Ziel der Vertreibung, danach mit der An-wendung von physischer, brutaler und blutiger Gewalt.Das konnte nur durch eine militärische Intervention been-det werden.Herr Kollege Gehrcke, auch wenn Sie hier fünfmal die-selbe Rede halten: Sie werden nur dann einen Schritt wei-terkommen, wenn Sie die Frage beantworten, welchedenkbare Alternative es zu dieser Form der Beendigungder Vertreibung gegeben hätte. Diese Antwort haben Sienie gegeben.
Allerdings muss man auch feststellen: Jede militärischeIntervention lässt sich auf ein Versagen der Präventionzurückführen.
Das hat zu Konsequenzen in der Arbeit der Bundesregie-rung und in der Prioritätensetzung der Koalitionsfraktio-nen geführt. Das kann man hier allerdings nicht aus-führen.Zur Kriegsbilanz gehört auch die logische Erkenntnis:Wenn die gewaltsame Lösung von ethnischen Problemenzu dieser militärischen Intervention geführt hat, nämlichzum Kosovo-Krieg, dann können gewaltsame Lösungenvon ethnischen Problemen auch nicht Grundlage einerFriedensordnung für diese Region sein.
Wir beobachten Besorgnis erregende Fehleinschätzungeneines Teils der Albaner im Kosovo und neuerdings auchin Mazedonien. Auf diese müssen wir eine klare Antwortgeben. Wenn eine Minderheit militanter Albaner im Ko-sovo weiter Jagd auf Vertreter anderer Minderheitenmacht und andere militante Albaner im Presevo-Tal undanderswo versuchen, Grenzen gewaltsam zu verändern,während uns gleichzeitig moderate albanische Führer sa-gen: „Ihr könnt das ganze Problem nur dann lösen, wennihr ganz schnell die Selbstständigkeit des Kosovo ermög-licht“, dann können wir nur antworten: Diese faktischeDoppelstrategie dient nicht den albanischen Interessenund wird nicht zum Ziel führen.
Es gibt keinen anderen Weg als die Beendigung derGewalt, die Normalisierung des Zusammenlebens ver-schiedener ethnischer Bevölkerungsteile, die Respektie-rung der Grenzen und den Aufbau einer demokratischenZivilgesellschaft.
Diese alternativlosen Prinzipien gelten nicht nur im Koso-vo, sondern auch für Mazedonien. In Mazedonien lebennach der letzten Volkszählung von 1994 450 000Albaner.Wahrscheinlich sind es heute mehr. Das bedeutet, dass Ma-zedonien nur dann eine Zukunft hat, wenn Slawo-Mazedo-nier und Albaner nach den eben genannten Prinzipien zu-sammenleben und wenn sie gemeinsam Transformationund Aufbau im Rahmen einer fairen Aufgabenteilunggestalten.
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Hildebrecht Braun
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Leider fehlen dafür im Augenblick noch viele Vorausset-zungen. Es geht nicht an, dass in der Verfassung von Ma-zedonien steht, dass Mazedonien ein Nationalstaat desmazedonischen Volkes sei, ohne dass auch nur mit einemWort auf die Albaner hingewiesen wird, die einen großenAnteil an der mazedonischen Bevölkerung ausmachen. Esgeht nicht an, dass der Anteil der Albaner in Verwaltung,Regierung, Wirtschaft und im Bildungswesen weiterhinso gering wie bisher bleibt. Das gilt auch für die Lokal-verwaltung. Deswegen mahnen wir entsprechende politi-sche Veränderungen natürlich an. Gleichzeitig müssenwir aber denen oberhalb von Tetovo, die glauben, mit Ge-walt solche Veränderungen herbeiführen zu können, ganzklar sagen, dass so nur Gegengewalt und nichts andereserreicht wird und dass das nicht zu den notwendigen Ver-änderungen in Mazedonien führen wird. Im Gegenteil:Gerade jetzt, unter dem Druck von Gewalt, können solcheVeränderungen nicht stattfinden.Bei aller Mahnung an die Verhältnismäßigkeit derGegengewalt muss deswegen von dieser Debatte eindeu-tig das Signal ausgehen: Die wichtigste Voraussetzungdafür, dass die Bilanz insgesamt besser wird, ist eine Be-endigung dieser weiteren Versuche, die tatsächlich vor-handenen ethnischen Probleme gewaltsam lösen zu wol-len. Das ist aussichtslos.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der
Kollege Dr. Christian Schwarz-Schilling für die Fraktion
von CDU und CSU das Wort.
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Inder Beantwortung der Großen Anfrage ist zu Recht daraufhingewiesen worden, dass der Krieg in Kosovo der vierteKrieg im ehemaligen Jugoslawien in weniger als einemJahrzehnt gewesen ist. Wir haben Anfang der 90er-Jahreüberall den Zusammenbruch des Kommunismus und dieBefreiung der unterjochten Völker, auch in Osteuropa, er-lebt. Die Tragik des ehemaligen Jugoslawien beruhte da-rauf, dass dort die Uhren zurückgestellt worden sind. Dortgab es einen Kommunisten, der seine Ideologie ganz flugsvon der kommunistischen Doktrin hin zur Doktrin desNationalismus und des ethnischen Absolutismus verän-derte. Jeder weiß noch, was er sagte: „Wo ein Serbe lebt,dort ist Serbien.“ Das ist die absolute Verkehrung dessen,was Zusammenleben verschiedener Rassen und Völkerzum Ziel hat.Der Bürgerkrieg, der dann über ein ganzes Jahrzehntgegen die eigene Bevölkerung geführt wurde, war inso-fern eine logische Konsequenz dieser verhängnisvollen,verbrecherischen Ideen. Daher ist die Situation, dass einean sich vernünftige Diskussion durch eine Große Anfrageveranlasst worden ist, in der sich der Antragstellerbemüht, die NATO als Täter in diesem Krieg und diejeni-gen, die die NATO zu bekämpfen hatte, als Opfer hinzu-stellen, nun wirklich absurd. Dass Antworten auf die um-fangreichen Fragen gefunden werden müssen, die Sie,meine Damen und Herren von der PDS, gestellt haben– wie viele Menschen sind hier und dort als Tote oder Ge-schädigte zu verzeichnen? –, ist ganz klar; auch wir wol-len das alles gerne wissen. Aber der Duktus Ihrer Anfragewar, die Rollen von Tätern und Opfern zu verdrehen; dasist doch die wirkliche Lage.
Man bekam bei Ihrer Anfrage das Gefühl, als ginge esum die Frage, wie viele Opfer es sein müssen, damit wirlegaliter einen Eingriff unternehmen dürfen.
Sie müssen sich einmal die Frage stellen, wo IhreStimme – die der PDS und die von Herrn Gysi – eigent-lich war, als zum Beispiel die Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina niedergemetzelt worden ist.
Damals gab es keinen Eingriff und keine Intervention.Stattdessen haben wir zugeschaut – leider Gottes zulange! –, wie dort systematisch eine Bevölkerung, auchFrauen und Kinder, in einem Ausmaß, wie man es damalskaum für möglich gehalten hatte, niedergemacht wurde.Während des Bosnien-Krieges sind – die Zahlen könnenSie sich alle aus dem Internet besorgen – allein in 61 Ge-meinden 150 000 Menschen getötet worden; darunter wa-ren 17 000 Kinder, allein in Sarajevo mehr als 1 000. Esgab 175 000 Schwerverletzte in den Krankenhäusern; dieUngezählten außerhalb der Behandlungszentren sind da-bei noch gar nicht eingeschlossen. Die Gesamtzahl derdurch diesen Krieg Schwerversehrten und Behindertenliegt bei 70 000. 50 000 Kinder wurden physisch verletzt,von den psychischen Folgen ganz zu schweigen. 1,2 Mil-lionen Menschen wurden zu Flüchtlingen außerhalb desLandes und 1,3 Millionen Menschen wurden innerhalbvon Bosnien-Herzegowina von Hof und Heim vertrieben.800 Moscheen wurden zerstört. – Sie wollten Zahlenhören. Das sind Zahlen.Wo war Ihre Stimme? Was haben Sie damals unter-nommen? Sie wissen, dass das Bewusstsein dafür, dass soetwas in Europa passieren kann und wir deshalb eingrei-fen müssen, zu Beginn noch nicht ausgeprägt genug war.Der Fehler war, den Geschehnissen nicht von Anfang anentgegengetreten zu sein; der Fehler war nicht, dort über-haupt eingegriffen zu haben.Zu den von mir vorgetragenen Zahlen kam es, ohnedass eine einzige NATO-Bombe gefallen war. Haben Siesich das einmal überlegt? In Ihren Reden zeigen Sie mitdem Finger auf die NATO und sagen nichts zu dem, wasnicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ unendlichschwerwiegender als das ist, was Sie hier anzuprangernversuchen. Ich kann nur sagen: Wer ernst genommen wer-den will, wer glaubwürdig sein will, der hätte seineStimme wirklich erheben müssen, als die Menschen inSrebrenica und in Bihac um Hilfe riefen. Um zu erfah-ren, was dort geschieht, habe ich mich bemüht, mit denMenschen vor Ort über Satellitentelefon zu sprechen. An
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Gernot Erler15831
diesem Punkt hat Europa versagt. In diese Wunde könn-ten Sie Ihren Finger legen. Aber in dieser Zeit habe ichvon der PDS nichts gehört; Sie haben geschwiegen.Sie gehen einen anderen Weg. Sie orientierten sich ins-gesamt nicht an der Wahrheit. Sie wollen nicht zur Kennt-nis nehmen, dass dieser Mann, Milosevic, dabei war– dies war nicht nur eine Idee –, in brutalster Art undWeise Völkermord zu betreiben. Die Erfahrung des20. Jahrhunderts war doch, dass Verbrecher dieser Art,wenn sie denn Diktatoren geworden sind, das tun, was sieankündigen. Die Demokratien haben das nie für möglichgehalten. Das war schon bei Chamberlain und Daladier inMünchen der Fall. Genauso war es bei Hitler während sei-nes gesamten Werdegangs, bei Stalin und bei Mao Tse-tung. Niemand glaubte, dass sie tatsächlich tun, was sieankündigen: die Ausrottung ihrer Feinde.Als Milosevic in Bosnien-Herzegowina mit dem Völ-kermord begann, da haben Sie geschwiegen. Es war ge-radezu rührend, wie Sie der NATO den Vorwurf des Völ-kerrechtsbruchs und weitere schlimmste Vorwürfegemacht haben und – nebenbei – mitteilten, dass Sie auchHerrn Milosevic zu kritisieren haben. Es ist ja furchtbarnett, dass auch Sie sich zu seinen Kritikern zählen. Wahr-scheinlich ist er ein Freund von Ihnen! Man muss einmaldas, was Sie der NATO vorwerfen, mit dem vergleichen,was Sie Herrn Milosevic vorwerfen. Dass Sie ihn kriti-sieren, besagt gar nichts. Wir kritisieren uns auch imBundestag. Wenn man sich betrachtet, von welcherEbene aus Sie über Herrn Milosevic sprechen, dann weißman – das ist eine interessante Sache –, wes Geistes KindSie sind.
Ihre so genannte Kriegsbilanz ist in vergangenheitsori-entierter Blindheit und, so möchte ich sagen, systemkon-former Naivität kaum zu schlagen. Am Ende der Einlei-tung Ihrer Kriegsbilanz werfen Sie der westlichen Weltvor, das Kosovo-Problem trotz des brutalen und rechts-widrigen Einsatzes immer noch nicht gelöst zu haben. Siemachen sich die Auffassung zu Eigen, dass die NATObzw. KFOR und UCK dabei behilflich waren, ein Systemdes Terrors zu etablieren. Sie wagen es sogar, für Ihre Be-weisführung im Hinblick auf die Geschehnisse im Ko-sovo den Genozid an den Juden mit heranzuziehen.Wahrscheinlich werden Sie auch noch die jüngsten Ge-schehnisse in Mazedonien so uminterpetieren, dass Siezu der Auffassung gelangen: Hätte man damals die Oppo-sition in Serbien nicht derart unterstützt, dann wäre mannicht so frech geworden, in Mazedonien einzugreifen,und man hätte sich mehr auf die bisherige Auseinander-setzung konzentrieren müssen. Man kann, was den Zu-sammenhang von Ursache und Wirkung angeht, immermanipulieren; das haben Sie hier vorgeführt.Sie haben eines nicht begriffen und Sie wollen es auchnicht begreifen: Die Flucht und Ermordung der Kosova-ren, die Vertreibung der Juden, Aschkali und Roma sinddie Folgen von Totalitarismus und Hass der Menschen,die manipuliert und instrumentalisiert worden sind, undnicht die Folgen der Bomben der NATO gewesen. Eswurde eben schon darauf hingewiesen: Diese Gräueltatenwurden vor dem Eingreifen der NATO begonnen.Während es die Friedensgespräche mit Karadzic inGenf gab, wurde schnell die Eroberung von ganz Bos-nien-Herzegowina vorangetrieben. Je länger die Verhand-lungen dauerten, desto mehr breitete sich der Totalitaris-mus aus. Genau denselben Ablauf gab es zum Teilwährend der Gespräche in Rambouillet. Trotz der Tatsa-che, dass Vorbereitungen für die Eroberung des Kosovogetroffen wurden und es eine militärische Ausrichtung inRichtung Süden gab, wollen Sie uns erzählen, dass dieseEntwicklung durch die Bomben der NATO ausgelöstwurde. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen sagenmuss: Was ist das für eine historische Lüge!
Die UN-Resolution 1244 als Reaktion der westlichenWelt kam zu spät, nachdem etliche Friedensverträge mitdiesem Diktator, der bei den Verhandlungen mit am Tischsaß, geschlossen, aber nicht eingehalten worden sind. Wirhaben nicht glauben wollen, dass diese Gespräche nichtzu einem Ende des Krieges und des Hasses führten, son-dern dass sie ein neuer Ausgangspunkt von Krieg undHass waren.
Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist, dass wir Dikta-toren so früh wie möglich entgegentreten müssen. Sha-kespeare hat einmal gesagt: Wenn sich Feuer ungehindertin der Fläche ausbreitet, reichen die Wasser der Flüssenicht, um es zu löschen. – In dieser Lage befanden wiruns. Wir wussten überhaupt nicht mehr, wie wir das Feuereindämmen konnten. Wir haben nicht etwa zu früh oderzu unüberlegt gehandelt. Wie viele Überlegungen habenwir angestellt – die Frage, ob wir eingreifen dürfen, wurdeim Sicherheitsrat verhandelt –; was wurde nicht alles aufden Konferenzen, beispielsweise der Londoner Kon-ferenz, besprochen! Die gesamte Europäische Union warinvolviert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
Ja.Ich möchte Ihnen ganz klar sagen: Wir sind entschlos-sen – wir müssen dies mit aller Macht tun –, in der Zu-kunft brutalen Diktatoren und Mördern rechtzeitig entge-genzutreten, die ihre Ideen mit Gewalt umsetzen.
Wenn wir das nicht tun, können wir die Friedlichen, dieauf unserer Seite stehen, niemals zu einem demokrati-schen Aufbau bewegen.
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Dr. Christian Schwarz-Schilling15832
Wir werden auch in diesem Jahrhundert solchen Diktato-ren mit aller Macht entgegentreten müssen, wenn wir denFrieden auf dieser Welt erhalten wollen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Bundesaußenminister, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ent-scheidung über Krieg und Frieden ist die schwerste poli-tische Entscheidung, die politisch Verantwortliche – bei unssind es die Parlamentarier – treffen können. Ich halte es des-wegen für richtig und wichtig, solche Entscheidungen auchim historischen Rückblick immer wieder zu überprüfen. Da-her hoffe ich, dass dies nicht die letzte Debatte über diesesThema ist. Für mich persönlich war es die schwerste Ent-scheidung, an der ich in meinem bisherigen politischen Le-ben mitzuwirken hatte. Dies gilt unabhängig davon, dass ichzu diesem Zeitpunkt Bundesaußenminister war. Ich habenämlich als Oppositionsabgeordneter der Actord-Entschei-dung – dem Befehl zur Inkraftsetzung des NATO-Operati-onsplans „Allied Force“, in der letzten Legislaturperiode zu-gestimmt, weil ich von meiner früheren Position, dass mannicht eingreifen solle, seit Srebrenica unter dem Eindruckeiner Gewaltpolitik, die vor Massenmord und vor Massen-vertreibung zum Zwecke der gewaltsamen Änderung derGrenzen nicht zurückschreckt, nicht mehr überzeugt war.Im Zuge der Eroberung der UN-Schutzzone in Srebrenica,in die die Menschen geflüchtet waren, für deren körperlicheUnversehrtheit die internationale Staatengemeinschaft dieGarantie übernommen hatte, wurden alle Männer undmännlichen Heranwachsenden ermordet und ihre Leichenin Massengräbern verscharrt.Ich war, wie auch Sie, vorher über Jahre Nichtinter-ventionist. Ich begreife das heute im Rückblick als Fehler.Insofern sollte man diese Debatte – ich bedauere es, dassdas nicht geschieht – ehrlich führen, und zwar ausgehendvon den möglichen Alternativen. Vor allen Dingen solltenwir uns nicht gegenseitig falsche Motive unterstellen.
Ich bedauere es, dass die PDS eine große Chance ver-tan hat; da kann ich Dr. Schwarz-Schilling nur zustim-men. Sie hat nämlich in der gesamten Anlage der GroßenAnfrage Täter und Opfer verkehrt. Das ist, wie ich glaube,der Grundfehler. Warten wir einmal die weitere Entwick-lung ab. Die Akten des Internationalen Kriegsverbrecher-tribunals zum Beispiel werden von Ihnen nicht herange-zogen. Diese sind zugänglich, darin könnte man schonheute Erstaunliches finden. Milosevic wird vor Gerichtkommen, und eines Tages auch vor ein internatio-nales Gericht. Dann werden die Akten insgesamt geöffnetwerden.
Das wird sehr bitter für Sie werden.Der Kern dieses Konfliktes geht meines Erachtens aufeine historisch-politische Frage zurück, die im 19. und im20. Jahrhundert in ganz Europa virulent war. Gerade wirDeutschen haben dieses gespürt. Die Frage des deutschenNationalstaates hat zu zwei Weltkriegen geführt. Bis zurWiedervereinigung, zum deutsch-polnischen Grenzver-trag und zum Zwei-plus-Vier-Vertrag hingen Stabilitätund Sicherheit in Europa von der zentralen Frage ab, wel-che Position Deutschland einnimmt. Mit der Anerken-nung unserer Ostgrenze und damit der polnischen West-grenze wurde diese definitiv entschieden. ÄhnlicheKonflikte gibt es noch heute auf dem Balkan. Hier liegtder Kern des Problems in der Bildung neuer National-staaten nach dem Untergang des alten Jugoslawiens,das – ich bedauere es – leider nicht reformfähig war. Mirwar schon damals klar, dass hiermit ein enormes Risikoverbunden war. In dieser Frage liegt in der Tat ein riesigesGewaltpotenzial. Das ist ja auch aus der europäischen Ge-schichte des 19. und 20. Jahrhunderts ersichtlich.Es wurde jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dassdieser Krieg nicht am 24. März 1999 begann. Er begannin Slowenien, führte über Kroatien und Sarajevo nachBosnien. Eigentlich liegt sein Ursprung schon in der Auf-hebung des Autonomiestatus des Kosovo bzw. nochfrüher in der Erklärung der serbischen Akademie 1986.Das dürfen wir nicht vergessen.
Wir tun Serbien wirklich keinen Gefallen – ich sage dasals jemand, der die traditionelle Einteilung in Kroaten undSerben nicht für richtig hielt –, wenn wir diese teilweiseauch in der demokratischen Opposition noch vorhandeneVorstellung von Serbien als Opfer durch Positionen, wiesie die PDS vertreten hat, unterstützen. Serbien muss ausseiner Sichtweise herausfinden; es wird herausfinden, dabin ich mir sicher, und seinen Platz – einen guten – inner-halb der europäischen Völkerfamilie einnehmen.Dieser Krieg begann also nicht am 24. März 1999, son-dern früher. In diesem Zusammenhang wird eine ent-scheidende Frage von Ihnen nicht beantwortet, nämlich,ob eine Einbindung Milosevics bei einer Lösung für diegesamte Region mit einer europäischen Perspektive ohneGewalt möglich war. Sie hätten Recht, wenn eine Lösungohne Gewalt möglich gewesen wäre. Hier ist das Äußers-te versucht worden. Dayton stellte leider einen unzurei-chenden Schritt dar. Ich kritisiere nicht diejenigen, die fürdas Abkommen von Dayton verantwortlich sind. Aber dieZeichen zur Zeit von Dayton – kluge Leute haben dies da-mals gesagt – haben bereits auf einen Konflikt im Kosovohingedeutet. Christian Schwarz-Schilling hat das geradenoch einmal angesprochen. Ich hätte mir gewünscht, dassdie Resolution 1244, die dann unter der deutschenG-8-Präsidentschaft in Köln realisiert wurde, bereits einJahr früher zustande gekommen wäre. Wer hat dennRussland wieder ins Boot geholt? Wer hat denn dem Si-cherheitsrat wieder seine Handlungsfähigkeit zurückge-geben?
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Dr. Christian Schwarz-Schilling15833
– Entschuldigung, die Verantwortung dafür können Sieaber nicht nur auf einer Seite abladen. Ich hätte mir auchgewünscht, Russland – das habe ich in Moskau im inter-nen Gespräch selbstverständlich auch gesagt – konstruk-tiv und gestaltend im Sinne von Kriegsprävention tätiggeworden wäre und von einem Veto im Sicherheitsrat Ab-stand genommen hätte. Das wäre richtig gewesen.
Das stellt aber keine Schuldzuweisung, weder an die einenoch an die andere Seite dar, sondern ist eine realistischeBeschreibung.Ich war unmittelbar nach Ende des Krieges in Belgradund konnte feststellen, dass man dort zehn Jahre verlorenhatte. Die Situation war genauso wie 1990 in einigen an-deren Wendedemokratien. György Konrad hat gesternAbend gesagt, dass es dort heute noch so aussieht wie1990 in anderen Volksdemokratien nach dem Ende derSowjetherrschaft. Genauso war es damals auch dort, dassnämlich plötzlich Leute aus der Opposition höchsteStaatsämter einnahmen.Das heißt, es sind zehn verlorene Jahre für ein Land,das, dem damaligen Ostblock nicht zugehörend, von einerkommunistischen Parteiendiktatur – unter Tito und da-nach – regiert wurde. Bei diesem Land, das im Grundegenommen am weitesten entwickelt war, die größten Po-tenziale hatte, ist diese zehnjährige Tragödie des Rück-falls in eine nationalistische Politik, in einen Prozess derSelbstblockade und teilweisen Selbstzerstörung eingetre-ten. Ich bin froh, dass die demokratische Revolution inBelgrad jetzt eine europäische Entwicklung ermöglicht.Die entscheidende Frage ist für mich: Wogegen habenwir dort gekämpft? Wir haben, nachdem alle politischenMöglichkeiten ausgelotet waren und es nicht mehr andersging, gegen einen gewaltsamen Nationalismus und Ge-walt gekämpft. Wofür haben wir dort gekämpft? Wir ha-ben für die europäische Integration dieser Region, für Ge-waltverzicht und friedliche Lösungen gekämpft. Genaudies ist die Perspektive, die wir dann mit dem Stabilitäts-pakt, mit der Sicherheitspräsenz in der Region umgesetzthaben. Wir werden dort selbstverständlich keinen Groß-nationalismus, weder einen großserbischen noch einengroßalbanischen noch sonst irgendeinen, akzeptieren dür-fen und wir werden dort keine Unterdrückung von Min-derheiten zulassen dürfen.
Zur Zeitperspektive von 18 Monaten möchte ich Siean die Zeit 18Monate nach dem 8. Mai 1945 erinnern. Ichfrage mich manchmal, ob wir angesichts der Zerstörungund des Hasses in den richtigen Dimensionen denken. Am8. Mai 1945 haben in Europa die Waffen geschwiegen.Wo stand dieses Europa 18 Monate danach? Glaubt mandenn allen Ernstes, man könnte solche historischen Kon-flikte in so kurzen Zeiträumen überwinden und nicht nurden realen Wiederaufbau, sondern auch eine Orientierungauf europäische Integration und Gewaltverzicht in denKöpfen und Emotionen erreichen? Ich glaube das nicht.Deswegen ist langfristiges Engagement notwendig.Man kann doch die ganzen positiven Veränderungen se-hen. Ich hätte mir gewünscht, dass die internationale Staa-tengemeinschaft schon 1992 so weit gewesen wäre, wiesie es heute ist, und dass sie schon 1992, spätestens abernach der völligen Zerstörung von Vukovar in Ostslawo-nien, dem heutigen Kroatien, oder allerspätestens nachder Zerstörung von Dubrovnik entsprechend reagierthätte, nämlich geschlossen und entschlossen zu sagen,dass eine gewaltsame, großnationalistische Politik nichtakzeptiert wird, sondern in dem Fall interveniert wirdbzw. sich alle am Verhandlungstisch wiederfinden,
um eine friedliche, gewaltfreie Lösung der Probleme her-beizuführen, unter Anerkennung der Grenzen, die nichtgewaltsam verändert werden dürfen, und auf der Grund-lage von Gewaltverzicht, auf der Grundlage des Schutzesder Minderheiten.
Aber dies hätte, wenn Sie „sehr richtig“ sagen, nur funk-tioniert, wenn wir damals bereit gewesen wären, auch dienotwendige Militärpräsenz ins Spiel zu bringen. Das eineohne das andere – das ist die bittere Wahrheit – hätte esnicht gegeben.Deswegen bin ich froh, dass wir heute in Mazedonienin einer anderen Lage sind. Die Probleme sind mitnichtengelöst; das innerethnische Gleichgewicht zu erhalten istextrem schwierig. Aber es ist völlig klar: Wir haben dortnicht gegen einen großserbischen Nationalismus undseine Gewaltpolitik gekämpft, um einen anderen Großna-tionalismus wirken zu lassen,
sondern wir wollen die gesamte Region an Europa heran-führen. Die Frage der territorialen Integrität Mazedoni-ens, auch die Frage der Multiethnizität Mazedoniens istfür uns von entscheidender Bedeutung, genauso wie dieUmsetzung der Resolution 1244 im Kosovo die Grund-lage sein muss.Die Probleme sind noch nicht gelöst und sie werdenohne die beteiligten Völker nicht lösbar sein. Aber – dassage ich in Richtung CDU/CSU; ich weiß, dass nicht allebei Ihnen diese Meinung vertreten, aber manche, ich habees gerade gestern wieder gelesen – ich halte überhauptnichts davon, dass wir uns jetzt mit einem Berliner Kon-gress oder, wie es Lord Owen vorgeschlagen hat, einerBerliner Konferenz – in Erinnerung an die BerlinerKonferenz zu Bismarcks Zeiten – zur Neuordnung desBalkans aufhalten. Die heutige Perspektive heißt Europa.Das ist der entscheidende Punkt. Wenn wir nicht bereitsind, diese europäische Perspektive in der ganzen Regionunter der Beteiligung der dortigen Verantwortlichen undVölker langfristig zu organisieren, dann werden wir in dieUntiefen des Nationalismus und eines blutigen Nationen-schaffens hineingeraten.Deswegen dürfen wir, wenn wir darüber nachdenken,eine Gesamtlösung zu erreichen – in der Tat sind die Fra-gen um Bosnien-Herzegowina, um Montenegro, um das
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Presevo-Tal in Südserbien oder um Mazedonien nochnicht gelöst –, nicht damit beginnen, Grenzen zu verän-dern und Ähnliches mehr. Wenn wir über eine Gesamtlö-sung sprechen, müssen wir erst einmal die Energien, diedort vorhanden sind, in Richtung Europa kanalisieren.Das heißt, die Grundsätze, mit denen Lösungen gesuchtwerden sollen, sind wichtiger, als heute schon über dieSubstanz der Konfliktlösung zu sprechen. Das ist dasErste.Das Zweite ist, dass man in diesem Rahmen in der Tatso etwas wie eine Konferenz für Sicherheit und Stabi-lität ins Auge fassen sollte, aber nicht in der Perspektivedes 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern in der Per-spektive europäischer Integration. Das ist der entschei-dende Punkt. Dafür gibt es bereits wichtige Elemente– die albanische Regierung und andere haben sich in die-sem Zusammenhang sehr verantwortlich verhalten – mitdem Stabilitäts- und Assoziationsabkommen und mit demStabilitätspakt. Es gibt Möglichkeiten, darüber nachzu-denken, wie weit man in Richtung einer Zollunion geht,um hier auch die ökonomischen Kräfte zu stärken; denndie ökonomische Perspektive ist für politische Stabilitätund Sicherheit von überragender Bedeutung. Die Fragevon Schutzgarantien für Minderheiten, die Frage kultu-reller Autonomierechte und Ähnliches mehr werden mei-nes Erachtens eine entscheidende Rolle bei der Anerken-nung der Grenzen spielen. Dies alles muss auf denPrinzipien des Gewaltverzichts, des Verzichts auf gewalt-same Änderung von Grenzen und des friedlichen Austra-gens aller offenen Fragen und Probleme auf dem Ver-handlungswege gründen und die Perspektive beinhalten,den langen Weg Richtung Brüssel zu gehen. Das scheintmir die Antwort zu sein.Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann wird dieDebatte über die Ursachen dieses Krieges zwar nicht un-wichtig; aber viel wichtiger scheint mir zu sein, dass wirdie historische Chance nutzen, der gesamten Region, dieein Teil Europas ist, den Weg zu einem dauerhaften Frie-den im europäischen Kontext zu ermöglichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! HerrBundesaußenminister, die Antwort auf die Große Anfragestellt eines klar: Eine völkerrechtliche Grundlage für denKrieg gab es nicht; denn in der Antwort auf die diesbe-zügliche Frage sprechen Sie von Ultima Ratio sowie da-von, dass nichts anderes gemacht werden konnte; Sie be-nutzen also das Argument der Alternativlosigkeit. AberSie nennen keinen einzigen völkerrechtlichen Artikeloder Vertrag, auf den Sie sich hätten stützen können, nichteinen! Schauen Sie sich die Antwort an.Nun gibt es in diesem Zusammenhang ja viele Argu-mente. Herr Kollege Brecht hat zum Beispiel in der letz-ten Debatte gesagt, er habe damals dagegen gestimmt,weil er die Bombardierung als illegal, wenn auch niemalsals illegitim empfunden habe. Ich kann nur davor warnen,im Recht diese Unterscheidung zuzulassen.
Wer sagt, etwas möge zwar illegal sein, aber dennoch seies legitim, stellt das Recht völlig auf den Kopf. Das giltfür das innerstaatliche Recht genauso wie für das Völker-recht. Das halte ich für eine fatale Herangehensweise.Immer wieder werden die Kritiker des Krieges vor dieFrage gestellt, welche Alternativen sie anzubieten gehabthätten. Dazu sage ich Ihnen Folgendes:Erstens ist es die Aufgabe von Politik, Alternativen zuschaffen, nicht aber dafür zu sorgen, dass eine Situationentsteht, in der es zumindest scheinbar keine Alternativezu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gibt.
Zweitens hat es selbstverständlich eine Alternative ge-geben. Hier wird etwas Unlauteres gemacht. Man ver-weist – wegen des historischen Zusammenhangs natürlichnicht ganz zu Unrecht – auf die drei vorhergehendenKriege und überträgt die dort begangenen Verbrechen aufdas Kosovo, als seien sie dort schon geschehen oder we-nigstens jederzeit möglich. So einfach ist es natürlichnicht.
– Das hat gar nichts mit Läuterung zu tun; das ist dochQuatsch. – Jeder dieser Kriege hatte einen anderen Cha-rakter; sie hatten auch unterschiedliche Ziele. Vergessenwir doch Folgendes nicht, wenn wir damit schon anfan-gen: Das Auseinanderfallen Jugoslawiens und die Art undWeise, wie dies geschehen ist, waren ein großer Destabi-lisierungsfaktor für den Frieden, die Sicherheit und dieökonomische Entwicklung in Europa. Aber an diesemAuseinanderfallen war ja nicht nur Jugoslawien, sondernwaren auch Regierungen außerhalb Jugoslawiens betei-ligt. Das ist auch eine Wahrheit.
Tudjman war ebenso ein Nationalist wie Milosevic.Aber es wurde – nicht von Ihnen, aber von Ihrer Vorgän-gerregierung – stets zwischen den beiden unterschieden:Der eine blieb immer ein Guter, auch als Kriegsverbrechenin Bosnien-Herzegowina begangen wurden, während derandere zum Ungeheuer hochstilisiert wurde.Ich bin gegen jede Verharmlosung der Verbrechen vonMilosevic. Wir wollen genau wie Sie, dass er dafür zurVerantwortung gezogen wird.
Ich bin aber auch dagegen, ihn durch maßlose Übertrei-bungen sozusagen zu benutzen und zu instrumentalisie-ren,
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um sich durch maßlose Übertreibungen gerade in den ei-genen Reihen eine Zustimmung zu organisieren, von derman befürchtet hatte, sie nicht zu bekommen.
Das zieht sich bis heute durch und wird täglich deutlicher.Auch der Vergleich mit dem Apartheidsystem in IhrerAntwort – es ist mir unangenehm, darauf hinweisen zumüssen – stimmt natürlich nicht. Das wissen Sie doch. Esgab kein Verbot von Eheschließungen. Soweit es Wahlengab, konnten die Angehörigen der Minderheiten daran teil-nehmen. Auf Bänken durften sie auch sitzen. Was sollenalso immer diese unsinnigen Vergleiche? Die tatsächlichenVerhältnisse waren doch schlimm genug. Machen Sie esdoch nicht immer schlimmer, als es in Wirklichkeit war.
Nun noch einige Bemerkungen zu Alternativen.Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einschließlichRusslands und Chinas wäre zu Sanktionen bereit gewe-sen. Es gab vorher praktisch nur Sanktionen im Hinblickauf Rüstungsexporte bzw. Rüstungsimporte. Wirtschafts-sanktionen wurden nicht beschlossen.Darf ich Sie daran erinnern, dass die EuropäischeUnion zwei Wochen nach Beginn des Krieges Sanktionengegen Jugoslawien beschlossen hat? Wer hat denn die Eu-ropäische Union daran gehindert, das drei oder sechs Mo-nate vorher zu tun?
Das hätte erfordert, auf der einen Seite eine Drohungaufzubauen und auf der anderen Seite dann auch eine Per-spektive. Wo war damals das Angebot an die Bundesre-publik Jugoslawien und an Serbien? Es hätte lauten kön-nen: Wenn ihr eine demokratische Entwicklung nehmt, isteuch der Weg nach Europa bis hin zur EuropäischenUnion geöffnet.
Das, was Bismarck noch machte, nämlich mit Zuckerbrotund Peitsche vorzugehen, hat es in diesem Fall nie gegeben.
– Ich will ja nicht sagen, dass ich ein Anhänger Bismarcksbin.
Außerdem hätte man auch in Rambouillet einen unter-zeichnungsfähigen Vertrag vorlegen können. Es ist heuteauch unstrittig, dass der vorgelegte Vertrag dies nicht war.
Insofern glaube ich nicht an die Alternativlosigkeit.Wenn Sie, Herr Schwarz-Schilling, sagen, jetzt wissejeder mordende Diktator, dass die NATO eingreifenwerde, so ist das Unsinn. Wer weiß denn das? Greift dieNATO in Afghanistan ein? Das ist doch alles Quatsch.Das ist eine völlig selektive Wahrnehmung der Welt.
Deshalb, Herr Braun, sage ich Ihnen: Das, was Sie ge-sagt haben, hat mich wirklich erschüttert, weil Sie damitwahrscheinlich sogar einen der wahren Gründe genannthaben. Sie haben gesagt, wenn das so weitergegangenwäre, hätte Deutschland wahrscheinlich 500 000 kosovo-albanische Flüchtlinge aufnehmen müssen. Das hättedazu geführt, dass der Rechtsextremismus in Deutschlanderfolgreich gewesen wäre. Das heißt, weil Sie die Ko-sovo-Albaner nicht in Deutschland haben wollten, mein-ten Sie, man müsse Belgrad bombardieren.
Das ist schon eine sehr merkwürdige Begründung.
Ich nenne Ihnen noch etwas, was mich wirklich ärgert:Das ist die selektive Wahrnehmung auch von Resolutio-nen des UN-Sicherheitsrates.
Erstens hatte die entsprechende Resolution nicht nurForderungen an Jugoslawien gestellt, sondern zum Bei-spiel auch festgelegt, dass die UCK nicht von außen fi-nanziell oder mit Waffen unterstützt werden soll. Das Geldfür die UCK floss die ganze Zeit über, vornehmlich aus derSchweiz und aus Deutschland. Ich kann nicht einschätzen,ob wir nicht in der Lage oder nicht willens waren, die Re-solution umzusetzen. Auf jeden Fall ist es nicht geschehen.Zweitens wurde festgelegt, dass die UCK zu entwaff-nen ist. Das hat nie wirklich stattgefunden.Drittens wurde festgelegt, dass die Grenze zu Mazedo-nien zu schützen ist. Das hat bis heute nicht wirklich statt-gefunden.Im Verfassungsschutzbericht Bayerns war die UCKschon Anfang der 90er-Jahre als extremistische Organisa-tion erfasst. Ich erwähne das nur einmal, weil wir späternicht nur mit ihnen verhandelt, sondern weil wir sie unter-stützt haben, weil sie ausgerüstet worden sind und weil sienatürlich bestimmte Ziele verfolgen – jetzt auch in Süd-serbien und in Mazedonien –, die auch Sie nicht gut-heißen. Ich meine, das hat auch etwas mit diesem Kriegzu tun.Ich sage nicht, dass die Ursache aller Probleme aufdem Balkan der Krieg ist. Ich sage nur: Dieser Krieg warnicht nur völkerrechtswidrig, sondern er hat auch die dor-tigen Probleme nicht gelöst, sondern sie zum Teil ver-schärft. Er hat das militärische Denken weiter geschürt,statt nach politischen Lösungen zu suchen.
Das ist meine Kernkritik.
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Dr. Gregor Gysi15836
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Gysi,
Sie müssten bitte zum Schluss kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lassen Sie mich deshalb als
letzten Satz sagen: Wenn Sie sagen, wir verwechselten
Täter und Opfer, dann verstehe ich das wirklich nicht. Ich
verstehe nicht einmal, was Sie damit meinen.
– Ich will Ihnen das erläutern. – Wenn Sie der Meinung
sind, die NATO ist kein Täter, können Sie doch aber nicht
im Ernst der Meinung sein, sie sei Opfer. Das ist ja wohl
noch absurder.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Franz Thönnes,
Doris Barnett, Klaus Brandner, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Dr. Thea Dückert, Ekin Deligöz,
Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Jobrotation im Arbeitsförderungsrecht veran-
kern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Bessere Erwerbsaussichten für ältere Arbeit-
nehmer durch bessere Qualifizierung
– Drucksachen 14/5245, 14/2909, 14/5608 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Adolf Ostertag
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kol-
legin Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Es handelt sich hierbei um einen Rednertausch
innerhalb der Koalition; das ist abgesprochen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wir, die Koalitionsfraktionen, bringen heute einenAntrag zur Einführung der Jobrotation als ein Regel-instrument in der Arbeitsmarktpolitik ein. Dies ist ein wei-terer Baustein der dringend notwendigen Modernisierungder Arbeitsmarktpolitik.Die 90er-Jahre waren ein Zeitraum, in dem die Bun-desrepublik Deutschland im Bereich der Arbeitsmarktpo-litik den Schlaf der Gerechten geschlafen hat, in dem inunseren Nachbarländern schon längst begonnen wurde,die Arbeitsmarkpolitik zu modernisieren. Modernisierenin diesem Sinne heißt, Instrumente zu entwickeln, die sichauf die Entwicklungen in den Unternehmen einstellen, beidenen sich Qualifikation als ein wesentliches Schlüssel-merkmal herausstellt, bei denen Qualifikation über dasgesamte Arbeitsleben immer wieder nachgebessert wer-den muss.Die in der Bundesrepublik Deutschland angewandteTechnik ist innerhalb von zehn Jahren bereits zu 80 Pro-zent überlebt. Das bedeutet Druck auf die kleinen undmittleren Unternehmen, auf die Großunternehmen, aberinsbesondere auch auf die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer, sich dieser Situation anzupassen. Weil dieseEntwicklungen in den letzten zehn Jahren verschlafenwurden, ist heute die Situation dadurch gekennzeichnet,dass einerseits hohe Arbeitslosigkeit und andererseitsFachkräftemangel herrscht. Es gibt Fachkräftemangelim IT-Bereich und an den Schulen, während auf der an-deren Seite 88 000 Elektriker Beschäftigung suchen, fürdie aber nur 20 Stellen angeboten werden.Dies alles wirft Schlaglichter auf die Entwicklung, diedeutlich machen, dass Qualifikation auf der Seite der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf der Seite derBetriebe oft nicht zusammenpasst. Gleichzeitig beschleu-nigt sich die technische Entwicklung. Das heißt, die Qua-lifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mussauch im Arbeitsprozess selbst weitergeführt werden. Da-her hat das Bündnis für Arbeit, wie ich finde, völlig zuRecht darauf hingewiesen, dass wir von einer Arbeits-marktpolitik abgehen müssen, die immer erst agiert, wenndas Kind in den Brunnen gefallen ist. Wenn zum Beispielhohe Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen ist, müssenwir eine Arbeitsmarktpolitik in Angriff nehmen, die vor-beugt im Sinne sowohl der Verhinderung von Langzeitar-beitslosigkeit als auch der Qualifizierung der in den Be-trieben Beschäftigten.
Aus diesem Grund haben wir uns bei unseren Nachba-rinnen und Nachbarn in Dänemark etwas abgeschaut,nämlich das Instrument der Jobrotation. In Dänemarkwird Jobrotation schon seit 1993 praktiziert. Dort werdenin einer intelligenten Art und Weise zwei Elemente ver-bunden. Wir unterstützen gerade die kleinen und mittlerenBetriebe bei der betrieblichen Qualifikation ihrer Be-schäftigten. Wir machen für diesen Zeitraum das Ange-bot, Langzeitarbeitslose beispielsweise als Stellvertreterund Stellvertreterinnen in die Betriebe zu holen, im Be-trieb quasi on the job weiterzuqualifizieren und sozialver-sicherungspflichtig zu beschäftigen. Damit schlagen wirzwei Fliegen mit einer Klappe: Wir helfen den Betriebenund wir reduzieren die Langzeitarbeitslosigkeit.
Das ist nicht der Stein der Weisen; denn die Arbeits-marktpolitik kennt keinen Stein der Weisen und keinen
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Königsweg, weil wir in der Arbeitsmarktpolitik sehr un-terschiedliche Maßnahmen zusammenfügen müssen. DieErfahrungen in Dänemark und auch in der Bundesrepu-blik Deutschland, Nordrhein-Westfalen beispielsweise,wo so etwas schon ausprobiert worden ist, zeigen: Es kön-nen mehr als 60 Prozent der Arbeitslosen, die auf dieseWeise in Betriebe integriert werden, anschließend dortbleiben.
Von diesen 60 Prozent
wiederum sind 40 Prozent Langzeitarbeitslose. Das istwirklich ein großartiger Erfolg. In Dänemark sind sogar80 Prozent der so beschäftigten Arbeitslosen in den Be-trieben weiter beschäftigt worden.Dies ist ein erster Schritt, ein Element zur Modernisie-rung der Arbeitsmarktpolitik, die überfällig ist. Wir wer-den die nächsten Schritte tun. Wir werden noch vor derSommerpause eine Reform der Kernelemente des SGB IIIvorlegen, bei denen es um die aktive Arbeitsmarktpolitikgeht.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Birgit Schnieber-Jastram für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wunderemich schon sehr, dass Sie es, nachdem Sie unseren Antragzur Einführung der Jobrotation ein Jahr lang im Aus-schuss haben schmoren lassen, jetzt mit Ihrem Antrag soeilig haben. Aber Sie müssen das verlorene Jahr einStückchen einholen. Wir begrüßen das. Lieber späte Ein-sicht als keine Einsicht. Lernfähigkeit, wenn auch nur indiesem einzelnen Punkt, ist immer lobenswert.Sie werden mir auch heute nicht glauben, wenn ichsage, dass wir der schnelle Igel und Sie der eingebildete,aber dröge Hase sind. Jedenfalls waren wir da, wo Sieheute sind, schon vor einem Jahr.
Wenn wir den deutschen Arbeitsmarkt einmal im inter-nationalen Maßstab betrachten, dann wird schnell klar,dass die Regierung Schröder zulasten von 5,7 Millionenoffiziellen und verdeckten Arbeitslosen den begriffsstut-zigen Hasen darstellt und unsere europäischen Partner dereinfallsreiche Igel sind. Frau Dr. Dückert, Sie haben eseben schon gesagt: Unsere Nachbarländer haben Moder-nisierung und Deregulierung der Arbeitsmarktpolitiklängst durchgeführt, während Arbeitsminister Riesternoch immer nach Wegen sucht, den institutionalisiertenStillstand als Reform zu verkaufen. Die Arbeitsmarktpo-litik des Hauses Riester ist ineffizient, behäbig und ein-fallslos.
Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Denn das be-stätigen Ihnen die OECD und der Wirtschaftsweise Pro-fessor Siebert. Wenn Ihnen diese Fachleute nicht reichen,dann glauben Sie doch einfach den Zahlen, die dieschlechte Bilanz der Schröder-Regierung eindeutig bele-gen. Schauen Sie doch einmal auf die Eurostat-Statisti-ken, die aufgrund einheitlicher und anerkannter Kriterienerstellt werden: Wir liegen bei der Arbeitslosenquote beizwölf ausgewerteten Ländern auf dem neunten Platz, ei-nen Prozentpunkt hinter Belgien, das im letzten Jahrzehntnun wirklich einen ziemlich schwierigen Umstrukturie-rungsprozess zu durchlaufen hatte.
Ich nenne Ihnen einmal die Erfolgsdaten der anderen:Niederlande 2,8 Prozent, Portugal 4,4 Prozent, Dänemark4,7 Prozent, Schweden 5,4 Prozent. Die Miss-erfolgsbilanz der Regierung Schröder in Deutschland lau-tet: 7,8 Prozent. Führen Sie sich das zu Gemüte und fei-ern Sie hier nicht Erfolge. Beim Grand Prix desArbeitsmarktes bekommt die Regierung Schröder eindeu-tig null Punkte.
Es ist kein Zufall, Frau Dr. Dückert, dass Sie hier dieEinführung der Jobrotation in Deutschland als ein Kern-stück der geplanten Reform des SGB III verkaufen wol-len.
In Dänemark, dessen Idee der Jobrotation die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lange vor Ihnen übernommenhat, ist dieses Instrument nur ein Baustein unter vielen.Dort gibt es schon lange begleitend etwa eine obligatori-sche und gezielte Qualifizierung sowie eine Verpflichtungzur Arbeitsannahme nach drei Monaten.Die Riester-Baustelle hingegen versucht, mit diesemeinen Baustein das gesamte Gebäude der Arbeitsmarkt-politik zu renovieren. So sieht das Ergebnis dann auchaus: Liebe Kollegen von der Regierungskoalition, dieFassade Ihrer angeblichen Erfolge auf dem Arbeitsmarktbröckelt.
Es war schon sehr kennzeichnend, dass wir soeben inder Rede von Frau Dr. Dückert wieder kein einziges Wortzum Arbeitsmarkt Ost gehört haben. Sie versuchenschon gar nicht mehr, die Risse auf der Ostseite zu repa-rieren. Ich frage Sie: Was tun Sie für die gut 20 ProzentErwerbslosen in den neuen Ländern?
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Dr. Thea Dückert15838
Durch das bislang schützende Dach aus Konjunktur undDemographie regnet es inzwischen bedenklich herein.Denn die Wirtschaftsaussichten werden düsterer und ob-wohl jährlich 200 000Arbeitnehmer mehr in Rente gehenals nachkommen, verbesserten sich die Arbeitsmarktzah-len nicht mehr.Die Fenster, durch die Sie die Erfolge unserer Nach-barn wahrnehmen können, haben Sie mit ideologischenBrettern zugenagelt.
Deshalb sehen Sie nicht, welche Ideen man hat und wel-che Erfolge in Europa in der Arbeitsmarktpolitik erzieltwerden. Dort findet nämlich die Modernisierung statt,während niemandem im Hause Riester zum Thema „Re-form des Arbeitsmarktes“ irgendetwas einfällt.Was macht der Bundeskanzler stattdessen? – Er plau-dert im so genannten Bündnis für Arbeit am grünen Tischmit den Tarifparteien über Arbeitsplätze. Die Erwerbslo-sen in Deutschland haben die Hoffnung auf dieses Tee-trinken mit Gesprächen zum Thema Arbeit längst auf-gegeben. Neu ist in der Tat, dass bei diesem Teetrin-ken ziemlich viel Porzellan zerschlagen wird: DieGewerkschaften haben den Ausstieg aus der Tarifrundeangekündigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vomBündnis 90/Die Grünen, in den Vorschlägen, die Sie seitkurzem als Reform der Arbeitsvermittlung verkaufenwollen, steckt absolut nichts Neues. Sie machen den Leu-ten wirklich etwas vor. Wenn Sie mir als Rednerin derOpposition nicht glauben, dann glauben Sie doch immer-hin einem Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit. Der hatzu Ihren Vorschlägen nur einen Satz gesagt: „Im Prinzipsteht dies alles schon im Sozialgesetzbuch III.“ Das wis-sen Sie – auch Sie, Herr Andres – so gut wie wir alle, diesich mit dieser Materie beschäftigen.Die Bundesanstalt für Arbeit hat wirklich Recht:Wiedereingliederungspläne für Langzeitarbeitslose wer-den in § 6 des SGB III gefordert. Eine Sperrfrist für Lohn-ersatzleistungen bei Verweigerung zumutbarer Arbeitexistiert bereits heute im geltenden Recht.
Nachdem uns die Bundesregierung jahrelang Münch-hausengeschichten über die angeblich so großen Erfolgedes JUMP-Programms, über den angeblich so erfolgrei-chen Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit, über dieChefsache Ost, von der heute überhaupt niemand mehrspricht, und über den Arbeitsmarkt in den neuen Ländernerzählt hat, greift sie jetzt in die Märchenkiste. Was Sie,Herr Andres, vor kurzem als Schritte zur Reform desArbeitsförderungsgesetzes vorgestellt haben, erinnertstark an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“: keineSubstanz, nichts Neues, nichts Greifbares! Sie hoffen,dass niemand merkt, dass die Regierung mit ihrer Ar-beitsmarktpolitik nackt dasteht. Sie sollten das in IhrenReihen wirklich einmal hinterfragen.
Was mich am meisten verwundert, ist die Tatsache,dass sich die Bundesregierung im Vorfeld der Äußerun-gen des Staatssekretärs Andres überhaupt nicht mit derBundesanstalt für Arbeit abgestimmt hat. Auch da hat derSprecher der Bundesanstalt für Arbeit angesichts der – ichzitiere – „wenig konkreten“ Aussagen des Staatssekretärserklärt, es sei wirklich zweifelhaft, ob die Arbeitsämter je-mals die ihnen zugedachte Aufgabe leisten können. Manmuss dabei wissen, dass jeder Arbeitsvermittler bereitsheute zwischen 600 und 800 Arbeitssuchende betreut. InZukunft sollen nach den Vorstellungen der Bundesregie-rung für 1,4 Millionen Langzeitarbeitslose noch sogenannte maßgeschneiderte Wiedereingliederungspro-gramme ausgearbeitet und überprüft werden.
Das ist absurd und jenseits jeder Realität. Hätten Sie dochvorher einmal die Bundesanstalt für Arbeit gefragt, Siehätten wahrscheinlich einen solchen Schnellschuss nichtlosgelassen.Meine Vermutung, wie diese völlig unausgegorenenVorschläge aus dem Hause Riester zustande gekommensind, ist folgende: Die Bundesregierung hat endlich ge-merkt, dass ihre Arbeitsmarktpolitik völlig ineffektiv istund dass sie von den Reformvorschlägen der Oppositionüberholt wird. Deshalb musste schnell irgendein Vor-schlag her, so einfallslos und praktisch undurchführbar erauch sein mochte.
So kamen die Äußerungen von Staatssekretär GerdAndres zustande. Sie waren mit heißer Nadel gestrickt,geltendes Recht wurde neu verpackt und in der Praxis sindsie kaum durchführbar. So sehen diese Vorschläge aus.
Die Bundesregierung tut so, als würde sie dem Arbeits-markt einen Turbomotor einbauen, dabei hat sie geradeerst entdeckt, dass es nicht nur zwei Getriebegänge gibt,sondern dass man auch in den dritten Gang schalten kann.
Ich sage Ihnen: Ein modernes Getriebe hat fünf Gängeund 5,7Millionen offene und verdeckte Arbeitslose habenein Recht darauf, dass Sie das endlich erkennen und beimArbeitsmarkt hoch schalten und durchstarten.
Übernehmen Sie doch unsere Vorschläge und gehenSie die notwendigen Reformen energisch an: SetzenSie die 43 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik endlich
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Birgit Schnieber-Jastram15839
effektiv ein und verzichten Sie auf Ihre Gießkannenpro-gramme ohne Erfolgskontrolle! Sie wissen genau, dass das,was Sie in diesem Bereich machen, völlig ineffizient ist.
Schaffen Sie rasch die Voraussetzungen für eine Zu-sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe!
Bieten Sie endlich Anreize zur Arbeit und helfen Sie Ge-ringqualifizierten, in Arbeit zu kommen.
– Frau Dr. Dückert, ich kann es nicht mehr hören. – BauenSie endlich die Überregulierung des Arbeitsmarktes ab –wir messen Sie an Ihren Versprechen –,
damit in Deutschland zusätzliche Arbeitsplätze entstehen!
Sie tun trotz vollmundigster Versprechen nichts. Sie ver-lassen sich bei der Arbeitsmarktpolitik nur auf den Be-völkerungsrückgang und die Konjunktur.
Immer mehr Menschen erkennen, was auch die Wo-chenzeitschrift „Die Zeit“ vor einiger Zeit schrieb:Die SPD versteht zu wenig von der neuen Arbeits-welt. Sie hat ihre Chance zur Reform verpasst.
Ihr Rückgriff auf Ideen der Opposition von vor einem Jahrund Ihr Alibi-Reförmchen des Arbeitsförderungsgesetzesbelegen dies sehr deutlich.Ich freue mich, den Abgeordneten Andres in Ihren Rei-hen zu begrüßen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt erteile ich dem
Abgeordneten Gerd Andres zu einer Kurzintervention das
Wort.
Das, was Sie als langjähriger Ar-
beitsvermittler von sich geben, kann man in den Zeitun-
gen nachlesen. Darauf brauche ich nicht zu reagieren.
Frau Schnieber-Jastram, Sie haben mich angespro-
chen. Darauf möchte ich kurz reagieren. Die Debatte ist
nicht wegen meiner öffentlich gemachten Äußerungen
anberaumt worden. Ich habe übrigens sehr bedauert, dass
es in der letzten Sitzungswoche nicht zu einer Aktuellen
Stunde über dieses Thema gekommen ist, denn darin hätte
ich Ihnen einiges dazu gesagt.
Sie haben natürlich völlig Recht damit, dass bestimmte
Dinge im SGB III stehen. Aber ich möchte Sie darauf hin-
weisen, dass es Kann-Regelungen sind. Machen Sie sich
einmal die Mühe, bei der Bundesanstalt für Arbeit nach-
zufragen, wie viele Eingliederungsvereinbarungen es
gibt. Mit dem Hinweis, es stehe schon im Gesetz, werden
Sie nicht weit kommen.
Ich möchte noch eine weitere Bemerkung machen. Sie
haben mehrfach das Bild vom Hasen und Igel benutzt.
Dazu kann ich nur sagen: gut gebrüllt. Sie haben aber lei-
der viel zu kurz gedacht. Wenn Sie sich einmal an die ei-
gene Nase fassen, werden Sie feststellen, wie viele Ar-
beitslose, insbesondere jugendliche Arbeitslose, und
welch verpfuschte Arbeitsmarktpolitik Sie uns hinterlas-
sen haben. Ich kann mit Stolz und Überzeugung sagen,
dass diese Bundesregierung hier eine Menge auf den Weg
gebracht hat.
Unter Ihrer Regierungszeit sind die Zahlen der Lang-
zeitarbeitslosen, der jugendlichen Arbeitslosen und der
Arbeitslosen allgemein Jahr für Jahr bis auf Rekordhöhe
im Jahre 1998 angestiegen. Bei uns geht die Arbeitslosig-
keit zurück.
Ich halte das für einen ganz wichtigen Erfolg.
Im Sommer werden wir eine schöne Reform des
SGB III machen. Dann werden Sie sich wundern. Bis da-
hin können Sie das, was Sie hier heute erzählt haben, noch
einmal nachlesen und darüber nachdenken.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Schnieber-Jastram, bitte.
Es tut mirfür die Kollegen fast ein bisschen Leid, dass ich Ihre Zeitnoch länger in Anspruch nehmen muss.
Herr Andres, Sie machen ein zweites Mal den Fehler,dass Sie so tun, als ob Ihre Arbeitsmarktpolitik in Ord-nung sei. Sie ist nicht in Ordnung. Es gibt im Osten eineeklatante Zunahme der Arbeitslosigkeit. Ich habe bisher
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Birgit Schnieber-Jastram15840
vermisst, dass diese Bundesregierung dazu klar Positionbezieht.
Hinsichtlich der Arbeitsmarktdaten haben Sie von derRegistrierung der 630-Mark-Verhältnisse und von demdemographischen Faktor profitiert, der bewirkt, dass jähr-lich rund 200 000 Menschen in den Ruhestand gehen,ohne dass entsprechender Nachwuchs da ist.Um einen Bereich haben Sie sich aber fast nicht ge-kümmert, nämlich um die Langzeitarbeitslosen. Wir müs-sen diesen Leuten helfen, in Arbeit zu kommen. Es reichtaber nicht, immer mehr Geld in Systeme zu stecken, son-dern man muss schauen, mit welcher Effizienz dieses Geldin den Systemen verwendet wird, wo es landet und ob esdazu führt, dass sich Langzeitarbeitslose am Ende immerauf der Drehscheibe von Qualifizierung und ABM befinden.
Das ist die Situation. Das müssen auch Sie zugestehen.Ich will das Hase-und-Igel-Spiel gar nicht gerne spielen.Ich will Ihnen sagen, worum es uns geht: darum, diesenMenschen zügig zu helfen und nicht so zu tun, als ob dieslängst passiert sei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Debatten-
redner ist der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich habe gerade eben gedacht: WennFrau Schnieber-Jastram diese Rede zwischen 1987 und1989 im Deutschen Bundestag gehalten hätte, hätte Sievon der SPD-Fraktion mit Sicherheit tosenden Beifall er-halten.
Sie hätte damals tolle Chancen gehabt, die Projekte, diesie jetzt anspricht, in praktische Politik umzusetzen.
Da war der Akku bei ihr aber leer.Lassen Sie mich grundsätzlich sagen: Es war viel Rhe-torik und äußerst wenig Inhalt. Mit Ihrem Beitrag habenSie vielleicht genug heiße Luft ablassen können, um IhreFraktion zu erwärmen. Sie haben aber keinen einzigenkonstruktiven Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit ge-leistet.
Sie haben auch – das will ich Ihnen deutlich sagen – dieErfolgsbilanz der jetzigen Regierung beim Abbau der Ar-beitslosigkeit völlig ignoriert.Da Sie hier Beispiele aus dem Ausland vorgetragen ha-ben, will ich Ihnen die Zahlen von 1996, zur Zeit derCDU/CSU- und F.D.P.-Regierung, nennen: Arbeitslosen-quote 10,4 Prozent, 37,27 Millionen Beschäftigte. EinJahr später, 1997, während Ihrer Regierungsarbeit, wardie Arbeitslosenquote um 1 Prozent auf 11,4 Prozent ge-stiegen; das war ein Abbau der Zahl der Erwerbspersonenum 100 000. Wir haben 1998 die Regierungsverantwor-tung übernommen und haben 1999 die erste Jahresbilanzvorlegen können: Arbeitslosigkeit 10,5 Prozent, Aufbauder Beschäftigung um 600 000 auf 37,94 Millionen. Dassind Erfolgszahlen, die sich sehen lassen können.
Das setzt sich dann auch im Jahre 2000 fort: Die Arbeits-losenquote sinkt um 0,9 Prozent – von 10,5 Prozent auf9,6 Prozent –, ein erneuter Anstieg der Zahl der Erwerbs-personen um 400 000 ist zu verzeichnen, eine MillionArbeitsplätze sind hinzugekommen. Das ist etwas ganzanderes als das, was Sie hier darstellen. Sie malenschwarz. Ich sage es noch einmal: Sie haben Sprechbla-sen losgelassen, haben damit aber nicht einem einzigenArbeitslosen geholfen, in ein neues Beschäftigungsver-hältnis zu kommen.
Wenn man einen Blick in die aktuellen Zeitungen wirft,dann könnte man in der Tat zu dem Eindruck gelangen,dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leicht ist; dennglaubt man selbst ernannten Experten, dann lässt sie sichhervorragend auf statistische Weise bekämpfen. Man be-reinigt nur die offizielle Arbeitslosenzahl um all dieje-nigen, die angeblich aus verschiedenen Gründen Arbeitsuchen, und schon wäre die Arbeitslosenzahl halbiert.Dann aber würden dieselben Gazetten ein Geschrei überTaschenspielertricks und Milchmädchenrechnungen an-stimmen. Dann würde plötzlich auch wieder die stille Re-serve erwähnt. Es würden die erwähnt werden, die in Qua-lifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen sind. Eswürde plötzlich ein ganz anderes Bild gezeichnet werden.Deshalb sage ich hier heute ganz deutlich: Mit solchen Ta-schenspielertricks lässt sich die Arbeitslosigkeit nichtbekämpfen.
Die anderen Schlagzeilen der letzten Wochen lauten:Mehr Druck auf Arbeitslose, Zuckerbrot und Peitsche, dieDaumenschrauben gegenüber Arbeitslosen wieder anzie-hen. – Das sind im Kern mittelalterliche Methoden, mitdenen in der Öffentlichkeit ein Zerrbild über die Arbeits-losigkeit dargestellt wird, aber nicht ein einziger zusätzli-cher Arbeitsplatz geschaffen worden ist.
Es ist eben ein neoliberaler Trugschluss, dass man nurmehr Druck auf Arbeitslose ausüben muss, damit sie vor-handene Arbeitsplätze auch annehmen. Sie wissen, dassdas Unsinn ist. Sie wissen, es fehlen Arbeitsplätze, nichtArbeitswillige. Zuckerbrot und Peitsche – das ist nicht so-zialdemokratische Politik. Damit lässt sich die Arbeitslo-sigkeit jedenfalls nicht senken.
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Birgit Schnieber-Jastram15841
Seit dem Regierungswechsel – ich habe die Zahlen an-gesprochen – können wir eine äußerst positive Bilanz vor-legen. Wir werden diesen erfolgreichen Weg zum Abbauder Arbeitslosigkeit natürlich weiter fortsetzen. Wir wer-den auf diesem Erfolgsweg weiterkommen, indem wireine Vermittlungsoffensive starten,
die jetzt ganz konkret angegangen wird.Sie, liebe Frau Schnieber-Jastram, schlagen stattdessenden Aufbau einer Arbeitslosenpolizei vor. Ich sage dazu:Anstatt die Vermittlungs- und Qualifizierungsbemü-hungen der Arbeitsämter zu stärken, wollen Sie dafür sor-gen, dass der Missbrauchsverdacht und die Ressourcender Arbeitsämter – –
– Ich habe die Vorschläge von Herrn Merz gelesen. Wol-len Sie sich von dem, was Ihr Fraktionsvorsitzender dazugesagt hat, distanzieren? Das ist ja noch schöner. Es isthoch interessant, dass Sie sich von Ihrem Fraktionsvorsit-zenden distanzieren wollen. Wir stellen das fest. Sie wer-den dann also gemeinsam mit uns die Arbeitsmarktpolitikoffensiv angehen und sich von Ihren Irrwegen distan-zieren.Die CDU hat auf diesem Gebiet, wie ich es einschätze,doch einige Schwierigkeiten. Ich will es deutlich sagen:Wenn sie mit dieser Missbrauchsdebatte fortfährt, dannmüsste ich fragen: Was macht sie eigentlich, wenn dieSteuerfahndung jeden Unionspolitiker durchleuchtet,weil einige wenige Kollegen bei der Verbuchung vonSpenden nicht korrekt gehandelt haben?
– Das ist nicht unverschämt, sondern das ist der Kern des-sen, was Sie durch Ihr Zündeln bezüglich der Nichtar-beitswilligkeit von Arbeitslosen an den Tag legen.
Auch der zweite Vorschlag Ihrer Fraktion geht fehl,weil Sie vorschlagen, in den neuen Bundesländern – dashabe ich sehr wohl gelesen – arbeitsrechtliche Regelun-gen außer Kraft zu setzen, um zum Beispiel Sozialdum-ping, Tarifdumping und Niedriglöhne zu ermöglichen.Glauben Sie etwa ernsthaft, dass mit diesen Mitteln einZuwachs an Beschäftigung erzielt werden kann? Sie ha-ben den Menschen im Osten vor 1998 etwas vorgemachtund Ihr Ehrenvorsitzender a. D. hat blühende Landschaf-ten versprochen. Das war eine Fehleinschätzung. Dafürmüssen Sie sich auch heute in die Verantwortung nehmenlassen.
Wenn es nämlich ein Erfolg versprechender Weg wäre,dass mit Tarif- und Sozialdumping neue Arbeitsplätze ent-stehen könnten, dann müssten wir im Osten das Paradiesin dieser Republik vorfinden. Das muss einmal ganz deut-lich gesagt werden.
Das Leitbild sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitiklautet: fördern und fordern. Die Reihenfolge war ganz be-wusst gewählt: erst das Fördern, dann das Fordern. DieKoalitionsfraktionen haben sich in dieser Legislaturpe-riode darauf verständigt, das Arbeitsförderungsrechtwirksamer auszugestalten. Dabei sollen möglichst vieleMittel von passiven in aktive Leistungen umgeschichtetwerden.
Besondere Bedeutung haben die Beschäftigung vonFrauen und eine bessere Verzahnung mit regionaler Struk-turpolitik. Soweit unsere grundsätzlichen Ziele.Zur Umsetzung haben wir gesagt: Eine Reform desSGB III braucht eine gründliche Vorbereitung. Anderer-seits bestand aber auch Handlungsdruck. Ich habe auf dieDaten zu Beginn der Regierungsübernahme hingewiesen.Deshalb haben wir aufgrund der hohen Dimension derJugendarbeitslosigkeit, die keinen Aufschub duldete,sofort gehandelt, haben das JUMP-Programm aufgelegtund es erfolgreich fortgesetzt. Im Übrigen haben wir auchden Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, das Sieals Teestunde bezeichnen, zustande gebracht.
Die entsprechenden Zahlen machen heute deutlich, dassdas Bündnis für Arbeit ein erfolgreiches Projekt dieserBundesregierung ist.
Die Vorschriften, die Sie uns hinterlassen haben, warenteilweise schlicht verfassungswidrig. Ich will hier nur dasStichwort Einmalzahlungen bringen. Auch hier haben wirsofort gehandelt. Wir haben verfassungsmäßiges Rechtgeschaffen. Seit Jahresanfang ist gesetzlich sichergestellt,dass Sozialbeiträge auf Weihnachts- und Urlaubsgeldtatsächlich zu höheren Lohnersatzleistungen führen. Füreinen Empfänger von Arbeitslosengeld bedeutet dies imDurchschnitt 8 Prozent mehr Geld in der Börse. Das istgerecht. Das ist notwendig.
– Herr Niebel, ich höre gerade, dass Sie die Leistungen imKern senken wollen.
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Klaus Brandner15842
Das ist keine sozialdemokratische Politik. Sie wollen dieLeistungen senken. Das haben Sie gerade gesagt. Daswerden wir den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Landdeutlich machen.
Lassen Sie mich einen dritten Punkt ansprechen: Siehaben Vorschriften geschaffen, die aus meiner Sicht un-sinnig sind und im Übrigen die Vermittlungsbemühungender Arbeitsämter lähmen. Ich will das Stichwort Melde-fristen für Arbeitslose aufgreifen. Wir haben diese unsin-nige Regelung aus dem Arbeitsförderungsgesetz gestri-chen, weil wir nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Zeitfür aktive Vermittlungsgeschäfte brauchen.Deswegen haben wir, viertens, auch aus dem Bündnisfür Arbeit wichtige Impulse aufgenommen. Ich nenne dasBeispiel Altersteilzeit. Das Gesetz zur Altersteilzeit, dasSie 1997 verabschiedet haben, war ein Fehlschlag und Siewissen das, Frau Schnieber-Jastram. Ihre Maßnahme hatdazu geführt, dass weniger als 5 000 Beschäftigte pro Jahrdie Möglichkeiten des Gesetzes in Anspruch genommenhaben, weil Ihr Gesetz eben nicht praxistauglich war. Wirhaben es verbessert. Wir wissen heute, dass durch das Al-tersteilzeitgesetz viele junge Menschen erstmals eine Be-schäftigungsmöglichkeit erhalten haben. Insofern ist auchdieses Instrument – ein Ergebnis aus dem Bündnis für Ar-beit – erfolgreich.Ich will als fünften Punkt ansprechen: Die jetzige Bun-desregierung hat die Ausgaben für die aktive Arbeits-marktpolitik auf hohem Niveau verstetigt. Das war einWahlversprechen und wir haben es gehalten. In diesemJahr stehen allein 44 Milliarden DM – also 6 Milliar-den DM mehr als 1998 unter Ihrer Regierung – für aktiveArbeitsmarktpolitik zur Verfügung. Die Arbeitslosenzah-len sind deutlich gesunken, weil wir noch mehr finanzi-elle Mittel für ein hohes Aktivierungsniveau einsetzen.Das zeigt: Wir haben mit der Stop-and-go-Politik der Vor-gängerregierung Schluss gemacht, die für den Arbeits-markt keine verlässliche Planungssicherheit geschaffenhat.
Schauen Sie sich einmal die Datenlage an: Sie haben 1997den Haushalt stark aufgestockt, um im Wahlkampfjahr1998 massenhaft ABM-Stellen schaffen zu können, damitdie Arbeitsmarktmisere verschleiert wird.
Lassen Sie mich klar sagen: Wir sind nicht für Stroh-feuer, sondern für eine verlässliche, konkrete und konti-nuierliche Arbeitsmarktpolitik. Dazu müssen die Mittel,die zur Verfügung stehen, auf hohem Niveau verstetigtwerden.
Wir sind, im Gegensatz zu Ihnen, eine Reform desArbeitsförderungsgesetzes angegangen, eine Reform,die im nächsten Jahr umgesetzt wird. Bei dieser Reformgeht es nicht darum, kurzfristig mehr Geld in die Bundes-anstalt für Arbeit zu pumpen, sondern darum, dauerhaftdie Möglichkeiten der Arbeitsförderung zu verbessern.Wir werden dazu noch vor der Sommerpause – das ist un-sere Absicht – einen Gesetzentwurf vorlegen. Wir wollendabei gute Beispiele aus unseren Nachbarländern, die hierschon mehrfach angesprochen worden sind, aufgreifen.Die Förderung von Jobrotation ist eines dieser erfolgrei-chen Beispiele. Über unseren Antrag hierzu werden wirim Anschluss an die Debatte abstimmen.
Von Jobrotation ist in den letzten Monaten vielfach dieRede gewesen. Meine Koalitionskollegin, Frau Dückert,hat es angesprochen, Frau Schnieber-Jastram. Ich willdazu ganz deutlich sagen: Dieses erfolgreiche Instrument– in den Nachbarländern, aber auch bei uns in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern erprobt – ist einBaby, das viele Väter und Mütter hat.
Weil das so ist, hat keiner der hier Anwesenden einen An-spruch auf ein alleiniges Copyright in Bezug auf diese Ak-tivitäten. Arbeitgeber und Gewerkschaften wollen mehrJobrotation.
– Ihr Antrag – das müssen Sie den Bürgerinnen und Bür-gern sagen – ist eingeschränkt und zielt auf ältere Be-schäftigte ab. Unser Antrag geht erheblich weiter und istdamit erheblich zukunftsweisender. Sie müssen die Öf-fentlichkeit darüber aufklären, welche Elemente Ihr An-trag tatsächlich enthält. Er unterscheidet sich von dem,was wir vorgelegt haben, doch ganz erheblich, FrauSchnieber-Jastram.
Ich bin froh, dass die Opposition heute dafür ist. DieUnion ist allerdings nur zaghaft dafür; ich habe es bereitsangesprochen.
– Sie sind deswegen nur zaghaft dafür, weil Sie ja nur be-fristete Modellprojekte, begrenzt auf ältere Arbeitslose,fordern. In diesem Zusammenhang sollten sich die Christ-demokraten dieses Hauses ein Beispiel an Ihren Freundenan Rhein und Ruhr nehmen, die dort zusammen mit denSozialdemokraten eine Initiative zur Jobrotation in NRWausdrücklich unterstützen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Klaus Brandner15843
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brandner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir werden im Arbeitsförde-
rungsgesetz vieles ändern, was insbesondere den Bereich
Jobrotation betrifft, das heißt, wir wollen Beschäftigte für
Weiterbildungszwecke freistellen und deren Arbeitsplätze
mit Arbeitslosen befristet besetzen. Sie sollen Lohnkos-
tenzuschüsse erhalten. Wir wollen keine Beschäftigung
zweiter Klasse. Wir wollen insbesondere auch nicht in das
Tarifgefüge eingreifen. Vielmehr wollen wir
sozial abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse durch das
Jobrotations-Programm schaffen. Bei der Jobrotation
werden zwei Ziele miteinander verknüpft, nämlich einer-
seits Arbeitslosen neue Chancen zu eröffnen und anderer-
seits den in den Betrieben Beschäftigten die Möglichkeit
zur Weiterbildung zu geben.
Lassen Sie mich als letzten Gedanken sagen: –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, das
muss wirklich ein kurzer Gedanke sein. Sie hatten ausrei-
chend Redezeit.
– Nach Untersuchungen wer-
den im Jahr 2005 80 Prozent der Arbeitnehmer Ausbil-
dungen haben, die älter als zehn Jahre sind. Gleichzeitig
werden 80 Prozent der Technologien jünger als zehn Jahre
sein. Das zeigt die Bedeutung des lebenslangen Lernens –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brandner, das ist unfair gegenüber den anderen Kollegin-
nen und Kollegen.
– und die Notwendigkeit fle-
xibler Instrumente zur Förderung der beruflichen Weiter-
bildung. Diese Ziele verfolgen wir.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dirk Niebel für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-gen! Selbstverständlich werde ich das verbotene Wortnicht benutzen. Aber Herr Brandner war mit seinen Aus-führungen so weit weg von der Wahrheit, dass es schwie-rig sein wird, das in dreieinhalb Minuten richtig zu stel-len.
Herr Brandner, beim besten Willen, eines muss man klar-stellen, weil Sie hier versuchen, alte und von Ihrer Seitegerne gepflegte Vorurteile weiterhin zu verbreiten: DieF.D.P. ist unter anderem deshalb die Partei der sozialenVerantwortung, weil wir dafür sorgen wollen, dass es sichwieder mehr lohnt, zu arbeiten als nicht zu arbeiten. Des-wegen müssen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, ge-schaffen und erhöht werden.
Ein Sozialhilfeempfänger kann, wenn er arbeitet, imHöchstfall 275 DM dazuverdienen. Sie müssen die Frei-beträge erhöhen, damit der Anreiz, eine Tätigkeit, auchwenn sie schlechter bezahlt ist, aufzunehmen, deutlichstärker wird, als in der Arbeitslosigkeit und im System derTransferleistungen zu verharren.Herr Kollege Brandner, man muss ganz klar feststel-len: Es lebt sich in diesem Land zwar nicht komfortabelvon Sozialhilfe. Aber man muss dafür sorgen, dass sichArbeit lohnt. Derjenige, der arbeitet, muss mehr in der Ta-sche haben als derjenige, der nicht arbeitet. Wenn Sie be-haupten, wir wollten die Sozialleistungen kürzen, dannsage ich Ihnen ganz klar: Das ist falsch. Das Lohnab-standsgebot lässt sich dadurch einhalten, dass man dieEinkommen der Arbeitnehmer von Steuern und Abgabenentlastet, dass man also dafür sorgt, dass derjenige, der be-schäftigt ist, mehr von dem hat, was er sich erarbeitet hat,und nicht dadurch, dass man denjenigen, die ohnehin fastnichts haben, noch etwas wegnimmt.
– Herr Brandner, Sie hatten Zeit genug, zu reden.Herr Kollege Andres, Sie haben richtigerweise auf dieVeröffentlichungen der letzten Wochen hingewiesen undunter anderem auf einen Bericht im „Focus“ von letztemMontag angespielt, in dem es um das Pro und Kontra hin-sichtlich der Meldepflicht geht. Sie haben festgestellt– das stimmt auch –, dass ich mehrere Jahre Arbeitsver-mittler gewesen bin, ehe ich in den Deutschen Bundestaggewählt worden bin. Deswegen nehme ich mir auch dasRecht heraus, meine Fachkompetenz, die ich mir auf die-sem Gebiet erworben habe, in die politische Arbeit einzu-bringen.Sie schlagen uns verschiedene Wundermittel aus derrot-grünen Mottenkiste vor, die alle in höchstem Maßepersonalintensiv sind. Der Einarbeitungsplan bedingtebenso wie die Jobrotation die Erhebung eines umfassen-den Bewerberprofils. Qualifizierungsnotwendigkeitenmüssen erkannt werden. Die Menschen müssen währendund auch nach der Vermittlung betreut werden, also auchdann, wenn sie eine Stellvertreterstelle bekommen haben.Der Arbeitsvermittler muss sich ein Bild von dem zu ver-mittelnden Arbeitslosen machen können. Das kann er sichnur ganz schwer machen, wenn er 600 bis 800 arbeitsloseMenschen betreut und wenn der Arbeitslose, wie von Ih-nen beschlossen, noch nicht einmal die Pflicht hat, einmalin drei Monaten zu seinem Arbeitsvermittler zu gehen.Das ist doch völlig widersinnig. Sie müssen bedenken,wie arbeitsintensiv die Tätigkeiten sind, die Sie von denArbeitsvermittlern verlangen.Als Erstes müssen Sie vermittlungsfremde Tätigkeitenabbauen. 685Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit be-
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schäftigen sich mit nichts anderem als mit der Erteilungvon Arbeitsgenehmigungen. Die Zahl der Vermittler, diedas Prüfverfahren durchführen, ist darin noch nicht ent-halten. Herr Jagoda und Herr Bsirske fordern schon mehrBeamtenstellen für die Bundesanstalt für Arbeit. GehenSie doch einmal andere Wege: Machen Sie eine Aus-schreibung und vergeben Sie den Auftrag an Externe. Las-sen Sie Privatleute das Profiling, das Coaching und dasControlling durchführen. Vielleicht erreichen Sie danneher einen Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt, der dazuführt, dass die tatsächlich Benachteiligten vernünftig be-treut werden.
Das von Ihnen vorgeschlagene Instrumentarium istnicht neu. Sowohl der Eingliederungsplan als auch dieSanktionen, die bei Ablehnung zumutbarer Beschäftigungoder Qualifizierung verhängt werden, stehen schon imGesetz. Neu ist nur – das muss man festhalten; das befür-worten wir ausdrücklich –, dass sich insbesondere die So-zialdemokratie zu diesem Instrumentarium bekennt.Wir müssen zu einem Punkt kommen, an dem es selbst-verständlich ist, dass derjenige, der eine Leistung von derAllgemeinheit bezieht, auch grundsätzlich selbst die Be-reitschaft hat, eine Gegenleistung zu erbringen. Die kanndarin bestehen, eine Tätigkeit aufzunehmen; die kanndarin bestehen, in Qualifizierungsmaßnahmen zu gehen;die kann darin bestehen, gemeinnützige Arbeit zu leisten;mit Sicherheit gehört aber dazu, wenigstens einmal alledrei Monate zu seinem Arbeitsvermittler zu gehen, damitder bei 600 bis 800 zu betreuenden Personen überhauptweiß, mit wem er es zu tun hat. An diesem Punkt sind Siemit Ihrer Politik bisher auf dem falschen Weg.
Der Bundeskanzler hat sein Ziel, auf 3,5 Millionen Ar-beitslose zu kommen, außerordentlich niedrig angesetzt.Das schafft er auf jeden Fall – selbst wenn er unter einemStein sitzt und nicht regiert – schon allein aufgrund derdemographischen Entwicklung. Sie wollen sich jederzeitan Ihrem Erfolg in diesem Punkt messen lassen. Das wer-den wir tun; dem müssen Sie sich stellen. Sie brauchenaber nicht mit Spielchen aus der Statistik zu kommen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Klaus Grehn für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Frau Kollegin Schnieber-Jastram,ich würde gerne bei Ihrem Bild mit dem Autofahren blei-ben. Ich habe in den Jahren Ihrer Regierungszeit das Ge-fühl gehabt, Sie haben mit dem Versprechen des ehemali-gen Bundeskanzlers, die Zahl der Arbeitslosen zuhalbieren, den fünften Gang einlegen wollen. Doch an-statt im fünften Gang loszufahren, hat das Auto gebockt,ist zurückgerollt und den Arbeitslosen über die Füße ge-fahren,
weil Sie alle Bedingungen für die Arbeitslosen verschärfthaben.
Was die Regierungskoalition nunmehr vorgelegt hat –Jobrotation –, ist zwar nicht in ihrem Garten gewachsen,aber auch Sie, meine Damen und Herren von der Regie-rungskoalition, legen – um bei dem erwähnten Bild zubleiben – sozusagen den ersten Gang ein, haben aber dieKupplung noch getreten. Nehmen Sie den Fuß von derKupplung.
– Ja, Sie haben den Gang drin. Nehmen Sie das Bein vonder Kupplung!
Sie haben jetzt angekündigt, Sie würden den Fuß vonder Kupplung nehmen, indem Sie das SGB III novellierenwollen. Aber das scheint mir auch so eine Geschichte zusein! Wenn daraus das wird, was der Herr StaatssekretärAndres verkündet hat, wenn es sich also – obwohl es dochum Rechte und Pflichten geht – auf eine Verschärfung derPflichten beziehen wird, dann wird das sehr problematisch.
– Na ja, gut, Herr Brandner, ich beziehe mich auf den Jah-reswirtschaftsbericht 2001.
– Nein, da steht drin, dass die Bereitschaft der Arbeitslo-sen zur Arbeitsaufnahme durch entsprechende Anreize er-höht und die Beschäftigungsfähigkeit verbessert werdensollen. Nun beantworten Sie mir doch einmal die Frage,für wie viele der Arbeitslosen das zutrifft und was Sie ei-gentlich bei den anderen machen, die keinen Anreiz, son-dern bloß einen Arbeitsplatz brauchen.
Darauf haben Sie keine Antwort.Wir stimmen der Jobrotation natürlich zu, weil damit– wie gesagt – der erste Gang drin ist. Wir hoffen, dass Sieall jene, die zu der Lösung des Problems der Arbeitslo-sigkeit, die nach wie vor unerträglich hoch ist, etwas zusagen haben, bei der Vorbereitung der Novellierung desSGB III an den Tisch holen, dass Sie zu einem Vorschlagkommen, der akzeptabel ist und nicht nur in der Über-nahme alter Ideen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Dirk Niebel15845
sondern darin besteht, dass Sie eigene Wege, und zwarneue und angemessene, beschreiten und dass Sie nicht imeigenen Saft weiterschmoren. An diesem Punkt ist mo-mentan nichts zu hören und nichts zu sehen. Deswegenbleibt es dabei, dass die Arbeitslosen und ihre Organisa-tionen nach Ihren Äußerungen, Herr Staatssekretär, genaudas Gleiche wie bei der Vorgängerregierung befürchten,nämlich dass die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosig-keit bekämpft werden, dass sie also vom Regen in dieTraufe kommen und erneut der Bekämpfung unterliegen,statt dass ihnen neue Arbeitsplätze angeboten werden.Gestern Abend haben wir ja gemeinsam in einer Rundegesessen. Ich habe Ihnen dabei Vorschläge unterbreitet;Sie haben darauf eher ideologisierend geantwortet. Las-sen Sie das! Lassen Sie uns lieber in die Sachdiskussioneinsteigen! Dann können wir uns mit Sachargumenten ge-genseitig befruchten und zu Ergebnissen kommen, diedem Land gut tun und die den Arbeitslosen gut tun.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Ich rufe die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
zialordnung, Drucksache 14/5608, auf. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Jobrotation im
Arbeitsförderungsrecht verankern“, Drucksache 14/5245.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der CDU/CSU mit dem Titel „Bessere Erwerbsaus-
sichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere
Qualifizierung“, Drucksache 14/2909. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Frak-
tion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Wöhrl, Dr. Heinz Riesenhuber, Gerda Hasselfeldt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Steuerliche Rahmenbedingungen für die Ge-
währung von Aktienoptionen an Mitarbeiter
verbessern
– Drucksache 14/5318 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Keine Steuer beim Aktientausch
– Drucksache 14/3009 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Dr. Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-legen! Wir reden in Deutschland seit über einem Jahr überAktienoptionen. Professor Schindler, Sprecher einer Ini-tiative von 40 Unternehmen aus dem IT-Bereich, hatschon vor einem Jahr gefordert, dass die Aktienoptionenin Deutschland so besteuert werden, dass wir im interna-tionalen Vergleich konkurrenzfähig sind.Wir waren voller Zuversicht, als der StaatssekretärSiegmar Mosdorf im Frühling letzten Jahres eine energi-sche Initiative der Bundesregierung angekündigt hat. Wirwaren noch hoffnungsvoller, als wir zu unserer Freude be-merkten, dass der hochverehrte Herr Bundeskanzler imSommer des vergangenen Jahres angekündigt hat, dieseAngelegenheit zur Entscheidung zu führen und im Bünd-nis für Arbeit zu behandeln. Die damals eingesetzte Ar-beitsgruppe ist für uns bis heute nicht erkennbar. Wir wa-ren glücklich, als wir gehört haben, dass unsere Kollegin,die Parlamentarische Staatssekretärin Wolf, im Januardieses Jahres die Verbesserung der Besteuerung von Ak-tienoptionen zum Thema gemacht hat.
Der BDI hat mit großem Fleiß seine Hausaufgaben ge-macht und im September ein Konzept vorgelegt. DerDIHT hat sich eindeutig geäußert. Das Deutsche Aktien-institut hat sich kürzlich in gleicher Art und Weisegeäußert. Die Bundesregierung hat mit großer Zuversichtdargestellt, was sie tun will. Aber Sie wissen: Ein großerdeutscher Philosoph hat einmal festgestellt: „Mögen tätenwir schon wollen, aber dürfen haben wir uns leider nichtgetraut.“ Das war eine der bedeutenden Aussagen vonKarl Valentin.
Wir haben im Vertrauen auf die Bundesregierung ge-glaubt, ein Antrag sei nicht nötig. Heute legen wir unse-ren Antrag vor. Ein breiter Konsens, der anscheinend dieVoraussetzung für ein markiges Handeln der Bundesre-gierung ist, zeichnet sich zwischen den Betroffenen, denSachverständigen und den Verbänden ab. Die Bundesre-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Dr. Klaus Grehn15846
gierung, die den Konsens braucht, bevor sie „springt“,kann jetzt also in der Tat handeln.Die Angelegenheit ist dadurch vorangebracht worden,dass der Bundesrat inzwischen einen Beschluss gefassthat. Dieser Beschluss, dessen Inhalt sich mit dem unseresAntrages deckt, war eindeutig und einstimmig. Wir stel-len mit Freude fest, dass die Bundesratsvorlage vonRheinland-Pfalz eingebracht worden ist. Dort regierenderzeit SPD und F.D.P. Es gibt also einen Konsens zwi-schen CDU/CSU, F.D.P. und SPD. Damit ist die Grund-lage für ein mutiges, entschlossenes und tatkräftiges Han-deln der Bundesregierung gegeben.Was wollen wir? Wir wollen, dass Mitarbeiter in einemwachsenden Maße Anteilseigner werden. Das ist ein altesThema. Den Durchbruch auf ganzer Linie haben wir ei-gentlich noch nicht geschafft. Vor fast 40 Jahren habe ichüber dieses Thema mit Schorsch Leber – er war damalsAbgeordneter aus meinem Wahlkreis – diskutiert. Er hatdieses Ziel mit Vehemenz vertreten; doch er scheiterte amWiderstand der Gewerkschaften. Jahre später hat Profes-sor Burgbacher – er stand den Arbeitgebern nicht fern –die Sache mit Vehemenz vertreten; doch er scheiterte amWiderstand der Arbeitgeber. Es ist schon wahr, dass sichdie ganze Angelegenheit nur mühsam und schrittweise indie richtige Richtung entwickelt hat. Diese kleinenSchritte sind aber nicht ausreichend. Entscheidend ist,dass wir jetzt weiter vorankommen.Wo müssen wir ansetzen? Mitarbeiter müssen Anteils-eigner werden. Dann sind sie sehr stark daran interessiert,dass ihre Unternehmen erfolgreich sind. Sie können dannan diesem Erfolg teil haben. Das gilt besonders für diejungen und innovativen Unternehmen, die am NeuenMarkt gelistet sind. Das sind Firmen im Bereich des In-ternet, der Software und der Biotechnologie, die mit einerganz neuen Strategie den Technologietransfer aus derWissenschaft in die Märkte organisieren. Hierin liegt diegrößte Chance unserer Wirtschaft. Bisherige Mechanis-men des Technologietransfers aus der Wissenschaft warennur begrenzt erfolgreich. Diese Firmen organisieren jetztden Transfer auf direkte Weise. Dabei kämpfen die ein-zelnen Mitarbeiter um Erfolge. Wir müssen ihnen helfen,in diesem Wettbewerb erfolgreich zu sein.
Die neuen Unternehmen haben Kompetenz und Enga-gement, aber sie haben kein Geld; sie leben davon, diebesten Köpfe aus unserem Land und aus anderen Ländernals Mitarbeiter zu gewinnen. Diese Spezialisten sind fle-xibel; sie sind in den verschiedensten Ländern zu Hause.Die entscheidende Frage lautet daher: Können wir Bedin-gungen bieten, die so gut sind wie die in anderen Län-dern? In Bezug auf Aktienoptionen muss man feststellen,dass die Situation bei uns ungünstiger ist als in anderenLändern.Wie sieht der Vergleich mit anderen Ländern aus? Mankann die Steuersysteme der Länder untereinander nurschlecht vergleichen, weil sie völlig unterschiedlich sind.Auch können wir feststellen, dass in den einzelnen Steuer-systemen Aktienoptionen ganz unterschiedlich behandeltwerden. Beispielsweise erfolgt in Belgien zum Zeitpunktder Gewährung der Option eine Besteuerung mit 7,5 Pro-zent. Dieser Steuersatz erhöht sich geringfügig, wenn dieAktie länger gehalten wird. Wir haben hier also eine früh-zeitige und günstige Besteuerung. In Großbritannien liegtdie „capital gains tax“ – ich will jetzt nicht die Son-dervorschriften erläutern – bei 20 Prozent. Trotz der un-terschiedlichen Ansätze handelt es sich um sehr attraktiveKonstruktionen in diesen Ländern.Wir aber haben immer noch einen viel zu hohen Spit-zensteuersatz. Selbst nach der „kühnen“ und „energi-schen“ Steuerreform der Bundesregierung ist er mit knappunter 50 Prozent noch beachtlich. Hinzu kommt noch derSolidaritätszuschlag und bei manchen die Kirchensteuer.Die Steuern läppern sich auf rund die Hälfte des Einkom-mens zusammen. Unsere im Vergleich zu anderen Län-dern nicht übermäßig attraktiven Bedingungen bergen dasRisiko, dass die guten Leute abwandern oder dass deut-sche Firmen, wie es schon geschehen ist, einen neuenStandort in anderen Ländern suchen, um dort die gutensteuerlichen Rahmenbedingungen zu nutzen. Dieser Vor-gang ist unerfreulich und ärgerlich.
Man kann in diesem Zusammenhang über verschie-dene Konstruktionen sprechen. Es ist unter psychologi-schen Gesichtspunkten schon verständlich, dass vor eini-ger Zeit viele Menschen glaubten, Aktienoptionen seiennichts anderes als eine Lizenz zum Gelddrucken; denn eswar schon faszinierend zu beobachten, wie der NeueMarkt bis zum März des vergangenen Jahres immer neueHöchststände erreichte. Es ist klar, dass man angesichtsdieser Entwicklung auf die Idee kam, einen immer größe-ren Anteil des Einkommens auf Aktienoptionen umzu-schichten, um Steuern zu sparen. Diese Psychologiemüsste auch ein tüchtiger Finanzstaatssekretär verstehen.Dass aber die Entwicklung der Aktienmärkte nicht nurin eine Richtung geht, sondern dass die Aktienkurse auf-grund der komplexen Marktsituation auch fallen können,wie es zurzeit mit einer gewissen Nachhaltigkeit der Fallist, das ist die andere Seite der Medaille.
Aktienoptionen sind nicht nur ein Teil des Einkommensim klassischen Sinne; ein Arbeitnehmer setzt nämlich einTeil seines Einkommens einem Risiko aus. Wenn er Pechhat, verringert sich im Falle sinkender Aktienkurse derWert dieses Teils.
Gerechterweise muss man in die Überlegung die Tat-sache einbeziehen, dass es sich nicht um ein klassischesEinkommen handelt und somit ein Sondertatbestand ge-geben ist. Wir müssen also eine Lösung finden, die demRisiko des Arbeitnehmers gerecht wird.
Wie wollen wir das angehen? Sich in diesem schwieri-gen Gelände auf ein Modell festzulegen ist heikel, denndann muss man über die Details sprechen. Es ist nichtAufgabe des Bundestages, die Arbeit der tüchtigen
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Dr. Heinz Riesenhuber15847
Beamten zu erledigen. Wir sollen die politische Richtungbestimmen und Eckpunkte vorgeben, und die Beamtenwerden dann schon mit der großen Weisheit, die ihnen Ei-gen ist, einen vorzüglichen Weg finden, das umzusetzen.Ob die Unterscheidung zwischen handelsfähigen undnichthandelsfähigen Optionen nötig ist, scheint mir ehereine technische als eine politische Frage zu sein. Dassman die Wahlfreiheit des Besteuerungszeitpunktes ge-währt, scheint mir allerdings eine vernünftige Regelung.So kann man nämlich entscheiden, ob die Aktienoptionenzum Zeitpunkt der Gewährung oder der Ausübung derOption besteuert werden sollen. Die beiden Beispiele ausGroßbritannien und aus Belgien, die ich eben gebrachthabe, zeigen, welche Bandbreite bei diesem Modell mög-lich ist.Wichtig ist, dass wir insgesamt konkurrenzfähige Steu-ersätze – in welcher Konstruktion auch immer – gegen-über den Bedingungen in anderen Ländern bekommen.Schließlich muss es zunächst europäisch und dann auchinternational so geregelt werden, dass es beim Übergangeines Mitarbeiters von einem Land ins andere Land – auchhierzu gibt es konkrete Vorschläge, die europäisch abge-stimmt worden sind – keine Steuerprobleme bei der Mit-nahme der Optionen gibt. Ob man jetzt in dem Land be-steuert wird, wo die Option gewährt wurde, oder in dem,wo die Option ausgeübt wird, ist nicht der Streitpunkt. DieHauptsache ist, dass wir ein konkurrenzfähiges Steuersys-tem aufbauen, in dem die Sache mit einfachen und klarenVorschriften geregelt wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, derNeue Markt befindet sich in einer schwierigen Phase.Aber in schwierigen Zeiten ist es sinnvoll, ein wenig zuhelfen. Auch wenn die Optionen, die früher bei Höchst-kursen gewährt wurden, heute nicht mehr sehr viel wertsind, so haben doch die Leute, die heute Aktienoptionenbekommen, die Chance, dass die Kurse vom heutigen Le-vel aus wieder steigen. Somit ist dieses Gesetz auch at-traktiv, wenn das Geld am Neuen Markt knapp wird.Schließlich müssen wir die Innovationen, die von Neu-gründungen ausgehen, stärken. Dazu braucht man ent-sprechende Rahmenbedingungen. Hier könnte die Bun-desregierung eine gute Tat vollbringen. Gestern hatte mandie große Freude, in der Diskussion zu hören, dass mannur stolz sein darf auf das, was man selber gemacht hat.Das ist zwar nicht mein Standpunkt, aber es mag für dieDamen und Herren zur Linken, die damit sehr vertrautwaren, als vorzüglicher Grundsatz dienen. Machen Sie et-was, damit auch Sie ein wenig stolz auf unser Land seinkönnen. So kommen wir zusammen und werden in schö-ner Brüderlichkeit durch neue Gesetze vereint, die unse-rer Wirtschaft helfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Nina Hauer.
Frau Präsidentin! Verehrte Damenund Herren! Mich freut, dass mittlerweile auch die CDUzur Anhängerin der wachsenden Mitarbeiterbeteiligunggeworden ist.
Wir behandeln dieses Thema schon länger. Genau deshalbhaben wir die Besteuerung und die Möglichkeiten der ma-teriellen Beteiligung durch Aktien, Aktienoptionen oderanderes auch zum Thema im Bündnis für Arbeit gemacht.Es ist natürlich richtig, dass gerade viele der kleinen Un-ternehmen und der jungen Start-ups, die sich im Momentin vielen Bereichen so hoffnungsvoll gründen, ihre In-nenfinanzierung nur dadurch gewährleisten können, dasssie Aktien ausgeben oder ihren Mitarbeitern Aktienoptio-nen gewähren. Sie wollen diesen kleinen Start-ups helfen,aber in Ihrem Antrag wird deutlich, dass Sie nicht wissen,wie. Es wird auch deutlich, dass Sie nicht wissen, was Siewollen. Die von Ihnen genannten Beispiele sind nämlichTeil einer breiten Angebotspalette von Möglichkeiten.Darüber reden wir jetzt einmal.
In der Schweiz werden Aktienoptionen zum Zeitpunktder Gewährung besteuert. Wenn Sie die Option nicht aus-üben, haben Sie einen persönlichen Nachteil, da Sie trotz-dem der Steuer unterworfen wurden. Dies scheint mir einModell zu sein, welches für uns nicht sinnvoll ist.
Das andere gern genannte Beispiel betrifft die Situa-tion in den USA. Dort gibt es sehr wenige Aktienoptio-nen – das sind die, bei denen der Marktpreis sofort fest-stellbar ist –, die schon bei der Gewährung besteuertwerden. Dabei besteht also dasselbe Problem wie in derSchweiz. Sie bekommen die Aktienoption und sind dannsteuerpflichtig. Wenn Sie sie nicht ausüben, haben Sieeine Steuer auf etwas gezahlt, was Sie am Ende nicht alsGewinn verbuchen können.
Die andere Möglichkeit ist, dass Sie erst steuerpflich-tig werden, wenn Sie die Aktie veräußern. Dafür nennenSie die USA als leuchtendes Beispiel. Da kann ich Ihnennicht folgen. In den USA gibt es eine Spekulationsfrist,die genauso lang wie bei uns in Deutschland ist, nämlichzwölf Monate. Wenn Sie Ihre Aktien innerhalb dieserzwölf Monate verkaufen, sind Sie voll steuerpflichtig zumEinkommensteuersatz, genauso wie in der Bundesrepu-blik auch. Wenn Sie danach veräußern, müssen Sie in denUSA nur noch 20 Prozent Ihres Gewinns versteuern. Indiesem Fall ist Deutschland ein leuchtendes Beispiel,denn das ist in Deutschland steuerfrei.Deshalb erscheinen uns die beiden in Ihrem Antrag ge-wählten Länder nicht als Beispiele dafür geeignet, wie wirin Deutschland Aktienoptionen besteuern sollten.
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Dr. Heinz Riesenhuber15848
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten 1998, kurz vorder Bundestagswahl, zur Motivation der Abgeordnetender CDU/CSU-Fraktion Optionen auf Ihre Umfrage-ergebnisse im März 2001 erhalten.
Sie wären jetzt pleite und die Optionen wären nicht mehrbesonders viel wert.
Aber nach Ihrem Schweizer Modell hätten Sie sie bereitsversteuert und dadurch Verluste gemacht. Die Steuern, dieSie gezahlt hätten, hätten Sie vielleicht dazu nutzen kön-nen, das riesige Haushaltsloch, das Sie uns hinterlassenhaben, zu stopfen.Daran können Sie sehen, dass eine Option auf die Zu-kunft immer auch ein Risiko birgt. Wir wollen nicht, dassder Mitarbeiter dieses Risiko in jeder Hinsicht alleine zutragen hat. Es gibt eine Menge Mitarbeiter, für die die Ak-tienoptionen in der Tat eine Möglichkeit darstellen, dieviele auch nutzen.
Aber es gibt gerade jetzt viele in den neuen oder auch inden alten Unternehmen, die – nachdem sie sich daraufverlassen haben, dass sie ihre Optionen, die einmal vielwert waren, ausüben können, in der Hoffnung, dass sie ih-nen Reichtum bescheren – in die Röhre gucken, weil dieKurse fallen und die Optionen nicht ausgeübt werden, so-dass die Option, die als Ersatz für Gehalt zugeteilt wurde,eigentlich nichts wert ist.Es ist also noch immer ein Geschäft für Mitarbeiter, dieein besonders hohes Einkommen haben. Dafür ist es auchgut. Aber es ist kein Weg, der ohne weiteres für alle Mit-arbeiter gangbar ist. Damit würde man manchen dem Ri-siko aussetzen, sein Gehalt auf die Zukunft zu setzen, aberkeinen Gewinn für sich verbuchen zu können.
Als Grund für die bessere Besteuerung der Aktienop-tionen nennen Sie auch die Mitarbeitermotivation. Ich binmir nicht sicher, ob es in den mittelständischen Unterneh-men, in denen es keine Aktienoptionen geben kann, keinemotivierten Mitarbeiter gibt. Aber ich hoffe, dass Sie da-mit nicht meinen, dass, wenn die Kurse fallen, auch dieMotivation fällt. Wenn die Motivation so unmittelbar andas Risiko des Kurses gebunden ist, kann das ja passieren.Wir sind froh, wenn Sie mit uns über Motivation undmehr Beteiligung von Mitarbeitern reden wollen,
weil wir das so verstehen, dass Sie mit uns endlich auchüber die Gestaltung der Reform des Betriebsverfassungs-gesetzes reden wollen.
Denn dabei geht es vor allen Dingen um mehr Motivationfür Mitarbeiter, um mehr Beteiligung,
um mehr Teilhabe am Sagen und im Bündnis für Arbeitjetzt auch um mehr Teilhabe am Haben.
Wir wollen mehr Chancen für die Teilhabe,
und das heißt nicht Optionen auf Teilhabe in der Zukunft,sondern heißt die sichere gesetzliche Garantie, dass Mit-arbeiter durch mehr Beteiligung am Sagen und Haben inihren Unternehmen motiviert werden. Das halten wir fürden richtigen Weg. Wenn Sie sich daran beteiligen wollen,dann erwarten wir in diesem Sinne von Ihnen konstruk-tive Vorschläge.
Jetzt bin ich einmal gespannt, wie die F.D.P. nachherbei ihrem Antrag argumentieren wird.
Sie fordert, den Aktientausch im Falle der Unterneh-mensübernahme steuerfrei zu stellen, wenn ein Aktionär,der Aktien in einem bestimmten Unternehmen hält, anderezum Tausch angeboten bekommt. Mich freut, dass Sienach Ihrem anfänglichen Widerstand gegen die gesetzlicheRegelung von Übernahmen überhaupt jetzt eine gesetzli-che Regelung in diesem Bereich wollen. Deswegen bitteich Sie, abzuwarten, bis wir im parlamentarischen Bera-tungsprozess bei diesem Punkt sind. Die Besteuerung vonAktien beim Aktientausch ist im Einkommensteuerrecht jageregelt; wir sehen uns also nicht einer Situation gegen-über, die eine sofortige Regelung erforderlich macht, weiletwas Neues auf uns zukommt.Ich habe den Eindruck, dass sich die F.D.P. mit ihremAntrag dafür entschuldigen will, dass sie auf der Fehlein-schätzung beharrte, wir brauchten keine gesetzliche Rege-lung der Unternehmensübernahmen in Deutschland, wo-mit sie dazu beigetragen hat, dass viele deutscheUnternehmen in eine schwierige Lage gebracht wurdenund noch werden. Wir wissen diesen Versuch einer Ent-schuldigung zu schätzen. Aber wir wollen diese Anträgedann mit Ihnen im parlamentarischen Prozess beraten,wenn wir zuvor die Meinung von Experten haben einho-len können.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner istder Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die F.D.P.-Frak-tion.
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Nina Hauer15849
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchteich auf den F.D.P.-Antrag zum Aktientausch im Zusam-menhang mit Unternehmensübernahmen eingehen, aufden Frau Hauer gerade Bezug genommen hat. Wir habenuns übrigens nicht grundsätzlich gegen ein Übernahme-gesetz gewandt,
sondern wir haben nur gesagt, dass man erst einmal wis-sen muss, was man regeln will, was man für regelungs-notwendig hält und welche Interessen dort geschütztwerden müssen, bevor man sich an die Gesetzgebungmacht,
anstatt auf jeden Fall etwas regeln zu wollen und erst danndarüber nachzudenken, was man regeln will.
Das war die erste Diskussion. Sie ist ruhiger gewordenund jetzt auf einem vernünftigen Wege. Aber wir müssennun von der Bundesregierung allmählich hören, was sietun will; denn bald beginnt das nächste Wahljahr und dannwird sie nicht mehr agieren können, sodass wieder vielZeit verloren gegangen sein wird.Jedenfalls ist an der Übernahme von Mannesmanndurch Vodafone – das war der die Öffentlichkeit am meis-ten interessierende Vorgang – offensichtlich geworden,dass es immer mehr üblich wird, für die Übernahme vonAktien wiederum Aktien als Kaufpreis zu gewähren.Heute ist dieser Vorgang steuerpflichtig. In unseren Au-gen ist dies aber kein steuerpflichtiger Vorgang, da keinBarzufluss für den Betroffenen entsteht; er hat keinen Ge-winn. Wenn die an einem solchen Aktientausch Beteilig-ten der Meinung sind, dass das gewählte Tauschverhältnisdas richtige sei, dann heißt dies ja, dass es dem Marktwertentspricht. Er bekommt zum gegenwärtigen Zeitpunktkeinen höheren Wert als den Marktwert und deswegen istdas kein besteuerungspflichtiger Vorgang.
Langer Rede kurzer Sinn: Man sollte klarstellen, dass diesnicht zu versteuern ist; damit wäre wieder Rechtssicher-heit geschaffen.Nun komme ich zu dem Antrag der CDU/CSU, in demeine sehr viel kompliziertere Frage angesprochen ist.Zunächst einmal möchte ich Frau Hauer sagen, dass – Siesind ja noch nicht so lange im Parlament; vielleicht wer-den Sie in Zukunft länger als Herr Riesenhuber und ich imParlament sein – sich die SPD in der Vergangenheit ge-rade in der Frage der Vermögensbeteiligung immer aufdie Position von Tariffonds, also von gewerkschaftsge-bundenen Fonds, zurückgezogen hat. Das wollten wirnicht, weil es sozusagen Gesellschaftspolitik durch dieHintertür gewesen wäre.
Wir wollten hingegen den Weg eröffnen, tatsächlich zumehr individueller Beteiligung der Arbeitnehmer am Un-ternehmenserfolg, aber auch am Unternehmensvermögenbzw. Unternehmenskapital zu kommen.
In der Zeit der alten Koalition sind eine ganze Reihevon Gesetzen verabschiedet worden, insbesondere diedrei Finanzmarktförderungsgesetze, mit denen wir denWeg in die Aktiengesellschaft eröffnet haben und dieMöglichkeiten eröffneten, den Beteiligten Aktienoptio-nen zu geben. Das ist im Aktienrecht dann auch technischeinfach zu handhaben.Nun stellt sich die Frage, wann der besteuerungs-pflichtige Vorgang entsteht. Entsteht er bei der Ge-währung der Option oder bei der Ausübung der Option?Wann entsteht ein besteuerungsfähiger Gewinn? DieseFragen sind tatsächlich nicht einfach zu beantworten.
– Einen kleinen Moment, Herr Tauss. Beschäftigen Siesich erst einmal selbst mit dem Problem, bevor Sie andereauffordern, Vorschläge zu unterbreiten.
Dazu gehört schon ein bisschen Sachverstand, nicht nurdie dummen Sprüche, die Sie hier immer machen.
Das Problem ist, dass im Moment der Gewährung ei-ner Aktienoption noch nicht klar ist, welchen Wert siedem Betroffenen vermittelt; denn dahinter stehen Börsen-entwicklungen, die hoch und runter gehen können. Daserleben wir ja tagtäglich.
Wenn Sie also im Zeitpunkt der Gewährung versteuern– zu welchem Preis auch immer; es ist eine offene Frage,ob er überhaupt feststellbar ist –, dann kann es sein, dasses eine Scheinbesteuerung ist, weil der Wert der Optionanschließend dramatisch sinkt und zum Schluss vielleichtgar nichts mehr wert ist. Dann wäre der Arbeitnehmer derBetrogene; denn er hat eine Hoffnung auf etwas gehabt,was sich am Ende als Luftnummer herausstellt und nichtsmehr wert ist. Diese Erwartung ist aber schon real ver-steuert worden.Wenn Sie es umgekehrt machen, wenn Sie den Gewinnbei der Ausübung der Option als Lohn versteuern – wasnach meiner Auffassung dem heutigen Steuerrecht ent-sprechen würde –, dann hätten Sie natürlich unter Um-ständen eine sehr hohe Steuerpflicht, die die Attraktivitätdieses Instruments dramatisch senken würde.Nun kann man so vorgehen, wie es Herr Riesenhuberzu überlegen gegeben hat, indem man ein Wahlrecht ein-räumt. Man kann aber auch vielleicht so vorgehen – dasist ein Weg, den ich im Moment präferieren würde, aberauf den ich mich nicht festlege, weil das eine noch offene
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Diskussion ist –, dass man bei Ausübung der Option be-steuert, aber dann zu einem begünstigten Steuersatz.Dafür würde sich der hälftige Durchschnittssteuersatz an-bieten, den wir auch in anderen Bereichen des Steuer-rechts schon heute haben
– Leo Dautzenberg
[CDU/CSU]: Wieder haben!)und bei der Steuerreform im Vermittlungsverfahren – auchunter Mitwirkung der F.D.P. – wieder eingeführt haben.Das wäre ein Weg. Die Richtschnur für die Entschei-dung müsste sein, wie wir mit diesem Optionsrecht im in-ternationalen Wettbewerb stehen. Unsere Mitarbeiter sol-len weder besser noch schlechter als in anderen Wett-bewerbsländern behandelt werden, sondern etwa auf glei-chem Niveau. Da es dort, wie Frau Hauer schon darstellte,unterschiedlichste Regelungen gibt, muss man einen Mit-telweg anpeilen oder man muss darauf drängen, dass manzumindest in der Europäischen Union zu einer Richtliniekommt, die diesen Bereich einigermaßen einheitlich re-gelt; denn nur so ist die von uns angestrebte Wettbe-werbsneutralität zu erzielen.Die Motivation, der Reiz, die Attraktivität der Optionmuss erhalten und gesichert werden. Wir müssen im in-ternationalen Wettbewerb ein faires Verfahren erreichen.Darüber sollten wir diskutieren. Ich bin sehr daran inte-ressiert, die Vorschläge von Herrn Diller zu hören.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht Kollegin
Dr. Thea Dückert für die Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Ein-schätzung ist meiner Meinung nach klar: Ein zentrales Zielund ein wichtiger Inhalt der Regierungspolitik ist dieSchaffung und die Sicherung vor allem auch von hochqualifizierten Arbeitsplätzen. Das muss ein ganz wesentli-ches Element der Politik sein, nicht zuletzt auch deshalb,weil diese Arbeitsplätze immer auch eine Voraussetzungdafür sind, neue Arbeitsplätze im Bereich weniger qualifi-zierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen.Die Realität sieht im Moment so aus – das wird allge-mein bedauert, muss aber anerkannt werden –, dass wirgerade im Bereich von hoch qualifizierten Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern, zum Beispiel im BereichInformationstechnik oder Biotechnologie, häufig Schwie-rigkeiten haben, Arbeitsplätze überhaupt zu besetzenoder – das ist auch ein wesentliches Problem – diese hochqualifizierten Arbeitskräfte zu halten. Die Mitarbeiterbe-teiligung ist ganz sicherlich ein wesentliches Element, einwesentlicher Ansatz, den Unternehmen gerade in den ge-nannten Bereichen die Möglichkeit zu geben, Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in hoch qualifizierten Berei-chen zu halten und die Kosten dafür auf einen vernünf-tigen Umfang zu begrenzen.Ich will hinzufügen, dass das Element der Beteiligungbreiter Schichten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern– also nicht nur der hoch qualifizierten Arbeitskräfte – amProduktivkapital für uns ein wesentlicher Beitrag dazu ist,die soziale Marktwirtschaft im modernen Sinne zu stärken,weil mit der Mitarbeiterbeteiligung neue Management-strukturen, die beispielsweise mit abgeflachten Hierarchienarbeiten oder auch Teamarbeit mehr in den Mittelpunkt stel-len, zukünftig vernünftig begleitet werden können. Deswe-gen ist diese Debatte, die auch hier geführt wird, notwen-dig. Sie ist bereits im letzten Jahr vom Bündnis für Arbeitaufgegriffen worden. Dazu gehört nicht einfach nur der ge-samte Komplex der Mitarbeiterbeteiligung, sondern auchdie Frage der Besteuerung von Aktienoptionen.Ich meine, es ist unumstritten, dass das bisherige Ver-waltungshandeln und die bisherige Rechtsprechung ge-rade hinsichtlich der Besteuerung von Aktienoptionennicht zufriedenstellend sind. Ich muss auch sagen, dass ichdie Behandlung von Aktienoptionen als eine bloße Chanceim Hinblick auf die Besteuerung von Arbeitnehmeraktien,wie wir sie heute vorfinden, nicht zwangsläufig für ver-nünftig halte und dass die Rechtssicherheit der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer, aber auch der Unternehmenaufgrund der gültigen Rechtslage nicht optimal ist.Nun hat sich in der Praxis ein ganzes Set von unter-schiedlichen Optionsmöglichkeiten entwickelt, auch soetwas wie virtuelle stock options, alle mit dem Ziel, Un-wägbarkeiten in der Bilanzierung oder aber auch Nach-teile im internationalen Vergleich abzufedern. Verbindli-che Auskünfte seitens der Oberfinanzdirektionen wurdenaber zurückgenommen. Dieser Zustand ist mittelfristignicht zufriedenstellend.Herr Riesenhuber und Herr Solms, Sie lassen in IhrenAnträgen mehr Fragen offen, als Sie beantworten.
– Die richtigen Fragen, Herr Kollege Riesenhuber, sindbei dieser Regierung schon angekommen.
Sie wurden auch ins Bündnis für Arbeit eingebracht.Ich möchte die Fragen noch einmal aufgreifen, die Siestellen, und auf die Antworten gefunden werden müssen.Was wollen Sie? Wollen Sie eine Anfangsbesteuerung?Wollen Sie eine Endbesteuerung? Wollen Sie die Gleich-behandlung mit Einkünften aus Kapitalvermögen? WollenSie steuerliche Privilegierung? Das alles ist offen. Insofernist dies ein netter Anlass zur Diskussion. Aber ich meine,dass der Antrag der CDU/CSU in keiner Weise weiterhilft.
Allein die Überlegung, dass wir einen ganzheitlichenAnsatz brauchen, während auch heute noch die steuerli-che Privilegierung von Führungskräften beim Erwerb vonAktien gilt,
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Dr. Hermann Otto Solms15851
scheint mir nicht auszureichen. Das ist eine sehr einseitigeSicht; denn die Beteiligung von Mitarbeiterinnen undMitarbeitern muss breitflächiger angegangen werden.Auch der internationale Vergleich – das hat KolleginHauer schon gesagt – hilft hier nicht weiter. Man weißnicht ganz genau, was Sie wirklich vorschlagen, zum Bei-spiel die capital gain tax als einen umfassenden Ansatz, jaoder nein? Sie müssen da schon deutlicher werden.Das Problem ist, dass die Realität nicht einfach Lösun-gen auf dem Tablett präsentiert. Wir haben gesehen, dass diein Großunternehmen vorgesehene Anfangsbesteuerung bei-spielsweise bei Daimler-Chrysler im letzten Jahr dazu ge-führt hätte, dass Aktienoptionsprogramme überhaupt nichtwahrgenommen worden wären. Wir wissen auch, dass Start-ups die Besteuerung bei der Ausübung der Option – daskann man verstehen – nicht sonderlich gern sehen.Ich will damit sagen, dass Sie wie wir an einem Punktangekommen sind, wo eines ganz deutlich wird: Es gibtkeine einfachen Lösungen, wir brauchen differenzierteLösungen. Dazu ist auch noch eine längere Diskussionnötig. Das, was der Bundesminister für Wirtschaft im letz-ten Jahr im Bündnis für Arbeit hinsichtlich eines Wahl-rechts vorgeschlagen hat – Sie haben das auch zitiert –, istsicher ein vernünftiger Ansatz, über den wir weiter disku-tieren müssen. Es macht sicher Sinn, die Detaildiskussionim Bündnis für Arbeit sehr aufmerksam zu führen.Es macht aber überhaupt keinen Sinn, von Ihrer Seitejetzt einzuklagen, dass wir uns an den Empfehlungen derOECD orientieren sollten; denn sie ist selbst noch nicht soweit. Sie ist gerade in einem Zustand des fact finding beigrenzüberschreitenden Besteuerungsfragen. Wir wissennicht einmal, ob die OECD die Grundsatzfrage, nämlichdie schwierige Frage einer Harmonisierung insgesamt,wird lösen können. Eine Orientierung an den Punkten, dieSie in Ihrem Antrag vorschlagen, scheint mir doch ver-fehlt zu sein.Wir wissen auch, dass die Präsidentin des Bundesfinanz-hofes für die zweite Jahreshälfte eine Grundsatzentschei-dung in Sachen Aktienoptionsbesteuerung angekündigt hat.Ich rate davon ab, hier – wie Sie es gerne möchten –Schnellschüsse zu produzieren. Aus Sicht meiner Frak-tion ist es vielmehr notwendig, dass die Bundesregierungim Herbst die Prüfung von adäquaten Regelungen stärkervoranbringt. Dieses Sammelsurium von Textbausteinen,das Sie in Ihrem Antrag geliefert haben, hilft da nicht wei-ter. Vielleicht können Sie Ihre Anträge in der Folgezeit et-was präzisieren. Das würde die Diskussion voranbringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Kollegin
Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion, hat ihre Rede zu Proto-
koll gegeben.1) – Ich sehe Einverständnis im Hause.
Deshalb spricht jetzt der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
Es hat sich einwenig eingebürgert, dass man im Laufe seiner Rede einkleines Bekenntnis abgibt. Herr Riesenhuber hat vorhinvon Stolz geredet. Das will ich auch tun. Früher wäre ichstolz darauf gewesen, ein Schweizer Konto zu haben.Heute, muss ich sagen, bin ich stolz darauf, kein Schwei-zer Konto zu haben.
Insofern sieht man, dass sich das mit dem Stolz im Laufeder Zeit wandeln kann.Ich möchte zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktioneine Vorbemerkung machen. Der Antrag geht von Voraus-setzungen aus, die man möglicherweise noch einmalüberprüfen muss; denn rein logisch ist es so – das ist be-kannt –, dass von falschen Voraussetzungen ausgehendsowohl Wahres als auch Falsches abgeleitet werden kann.Deshalb ist es immer äußerst gefährlich, eine gute Impli-kation auf einer falschen Voraussetzung zu gründen.Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass eine hohe Ge-winnerwartung auch realisiert wird. Seit zwei oder dreiJahren aber merken wir, dass das a priori nicht der Fall ist.Ich glaube, das muss man kritisch hinterfragen. HerrRiesenhuber ist in seiner Rede darauf eingegangen. Aller-dings findet sich das in den vielen Thesen in Ihrem Antragnicht explizit wieder.Ferner gehen Sie davon aus, dass wir weltweit genugqualifizierte Arbeitskräfte hätten, wenn wir doch nur aminternationalen Markt mit stock options entsprechend gutoperieren würden. Ich sage Ihnen: Das ist weder eine not-wendige noch eine hinreichende Bedingung. Zumindestnotwendig, vielleicht sogar hinreichend wäre es aber,wenn wir noch einmal etwas genauer über die Ausbildungin diesem Land nachdenken würden; denn davon hängtab, ob wir hier gute Arbeitskräfte haben oder nicht.
Der Kollege Riesenhuber hat auch gesagt – das möchteich unterstützen –, dass Mitarbeiter Anteilseigner werdensollten. Das heißt, er hat das SPD-Programm gelesen.
Nun ist es ein bisschen einfach, zu sagen, das sei eine guteIdee, aber sie lasse sich nur schwer realisieren, sodass wirdas Ganze an die Beamten weitergeben müssten in derHoffnung, sie würden das Problem schon lösen. Ichglaube, damit würden wir es uns eine Spur zu einfach ma-chen.Wenn man sich ein bisschen mit den Details befasst,dann merkt man, dass es sehr kompliziert ist. Dieser Mei-nung ist auch Herr Solms; denn wie wir eben in der Ar-beitsgruppe besprochen haben, hat sich Herr Solms alleOptionen offen gehalten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Dr. Thea Dückert15852
1) Anlage 3Er hat gesagt, wir sollten den Reiz der Optionen steigern.Jetzt frage ich, ob es ökonomisch wirklich klug ist, denReiz dieser Optionen durch steuerpolitische Maßnahmenzu steigern. Wäre es nicht viel wichtiger, die Attraktivitätdieser Optionen dadurch zu steigern, dass wir eine ver-nünftige Unternehmenspolitik machen, die verhindert,dass die Arbeitnehmer neben ihrem Vermögen auch nochden Arbeitsplatz verlieren?
Die Hoffnung auf diese Optionen birgt das große Ri-siko, dass man neben seinem Vermögen auch noch denArbeitsplatz verliert mit der besonderen Qualität, dassman als stock options holder auf die Entscheidungen, diein diese Misere führen, möglicherweise überhaupt keinenEinfluss hat. Das halte ich für ein sehr großes Problem. Inden letzten zwei Jahren haben viele Arbeitnehmer ge-sehen, dass dieses Risiko kein theoretisches ist, sondernganz real für sie große Verluste bedeuten kann.Es gibt da einen Zusatztrick, nämlich dass die Mana-ger, die stock options halten, das umsatzabhängige Ein-kommen definieren. Damit können sie einen dritten He-bel gegenüber den Arbeitnehmern in Gang setzen. Dashalte ich für eine extrem große Gefahr.Das belgische Beispiel, das Sie, Herr Riesenhuber, an-geführt haben, halte ich für besonders schwierig. Für dasSchweizer Modell gilt das ebenso. Denn da wird manmöglicherweise für ein Einkommen Steuern zahlen, dasman niemals realisieren kann, ohne dass es zurückgezahltwird. Das halte ich für eine sehr gefährliche Sache.
Noch eine weitere Bemerkung: Sie sagten, dass wir be-reits seit einem Jahr über stock options sprechen. Das istnur bedingt richtig; es ist ungefähr um den Faktor 300falsch. Denn wir sprechen ja schon seit Mai 1998 überstock options. Mit Ihrem Gesetz zur Kontrolle und Trans-parenz im Unternehmensbereich, dem KonTraG, wurdenja stock options erlaubt. Insofern ist Ihr Antrag von einergewissen Ehrlichkeit geprägt. Denn Sie sagen jetzt: Die-ses Gesetz war nicht hinreichend. Sie haben vergessen, er-gänzend steuerpolitische Maßnahmen so zu formulieren,dass die Optionen die Attraktivität erlangen, die Sie ihnenheute gerne geben würden.
Es ist bedenkenswert, dass Sie nach drei Jahren immernoch nicht beschreiben können, wie Sie die wesentlichenGesetzesvorhaben formulieren würden. Das ist natürlichnicht ganz unverständlich. Denn der einfache Hinweis inIhrem Antrag auf internationale Zusammenhänge isteinfach nicht zielführend.
Wir wissen doch, dass in den USA und in Großbritan-nien im Vergleich zu Zentraleuropa völlig andere Unter-nehmensphilosophien vorzufinden sind. Wir haben an-dere Bilanzierungsgrundsätze. Bei uns gibt es imAktienbereich eine andersartige Behandlung von Ver-äußerungsgewinnen, die in Deutschland nach einem Jahrimmerhin steuerfrei sind. In sehr vielen anderen Ländernwird auf Kapitalerträge eine so genannte capital gain taxerhoben, was für die stock options holders einen großenNachteil bedeutet. Wir haben aber auch eine ganz andereAktienkultur. Insofern war es sicher ganz sinnvoll, diesesGesetz damals zu verabschieden.Wir müssen feststellen, dass auch heute noch die Idee,solche Wetten auf die Zukunft abzuschließen, eher im ge-hobenen Management zu Hause ist als bei den Arbeitneh-mern, die wir sehr gern stärker an den Unternehmen be-teiligt sehen würden.
– Wenn es so wäre, dass man das eine tun kann, ohne dasandere zu lassen, dann wären wir für irgendeinen kon-struktiven Vorschlag Ihrer Seite sehr dankbar gewesen.Sie hätten nicht nur den Hinweis geben sollen, dass dieBeamten das schon richten werden.
Man sollte auch noch ein paar Fallunterscheidungenvornehmen, die Sie, wenn die Vorschläge in Zusammen-arbeit mit den Beamten erarbeitet werden, etwas genaueransehen sollten. Neben den klassischen stock options ha-ben wir die virtuellen. Allein der Begriff deutet schon da-rauf hin, dass wir uns hier im Wesentlichen im Bereich desWettens und Hoffens befinden. Immerhin ist das ja eineMöglichkeit, um einen Aktienkauf zu tätigen, bei dem vonvornherein klar ist, dass der Arbeitnehmer ökonomischäquivalent durch Geld abgefunden wird und diesenAktienkauf niemals realisieren wird.Wir müssen auch noch einmal genauer schauen, wiesich die genannten Vor- und Nachteile auf Arbeitgeberund Arbeitnehmer verteilen. Natürlich, der Arbeitnehmerpartizipiert, wie Sie schreiben, an der positiven Kursent-wicklung. Aber er partizipiert eben auch an dem extremhohen Risiko einer negativen Kursentwicklung. Sie sa-gen, die Motivation steige durch die Hoffnung auf einepositive Kursentwicklung. Aber was passiert denn? Ichkenne Betriebe, in denen die Mitarbeiter jeden Morgenzuerst einmal im Internet nachsehen, wie die eigene Un-ternehmensaktie steht. Die gehen dann, wenn die Aktiegefallen ist, total motiviert an die Arbeit und sagen: Jetztwollen wir einmal so richtig gegen unseren Aktienverfallanrennen!Ich kann Ihnen sagen, dass das in einem Betriebäußerst demoralisierend wirkt. Dass der Arbeitgeber da-bei einen Liquiditätsvorteil hat, das ist eindeutig gegeben.Wir müssen darüber nachdenken, ob die Risikoverteilungund die Vorteilsnahme zwischen Arbeitgeber und Arbeit-nehmer gerecht verteilt sind. Wie schon gesagt, geht derArbeitnehmer ein größeres Risiko ein. Oft ist es auch so,dass durch Revisionsklauseln in Bezug auf einen Arbeits-platzwechsel die Option verfällt und dadurch natürlich dieFlexibilität des Arbeitnehmers eingeschränkt wird.Insofern lohnt es sich, genauer darüber nachzudenken,warum es eigentlich keinen Sinn macht, die Besteuerung
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von Aktienoptionen heute zu verändern, und zwar sowohlaus allokationspolitischen Gesichtspunkten – Aktienop-tionen als Lohnbestandteile – als auch aus distributions-politischen Gesichtspunkten, nämlich unter der Fra-gestellung: Wer hat eigentlich den größeren Nutzen, eherdie tendenziell höher verdienenden oder eher die ten-denziell niedriger verdienenden Mitarbeiter eines Be-triebes? Die Antwort darauf habe ich implizit bereits ge-geben.Wir wissen jedenfalls, dass Aktienoptionen im Ver-gleich zu normalen Gehaltszahlungen steuerlich wederbegünstigt noch benachteiligt werden. An dieser Neutra-lität der Besteuerung bezüglich verschiedener Entloh-nungsformen wollen wir festhalten.Wer ein wenig die Mathematik bemüht, wird schnellerkennen, dass unter Einschluss der Parameter Gehalt,Nettoeinkommen, Unternehmensteuersatz – Körper-schaftsteuer plus Gewerbesteuer –, Zeitdifferenz zwi-schen Einräumung und Ausübung der Option, Einkom-mensteuersätze und Zinssatz eine notwendige Bedingungist, dass der Unternehmensteuersatz und der Einkommen-steuersatz des Mitarbeiters annähernd gleich sein müssen.Wer diese Überlegung richtig wertet, muss erkennen, dassmit der drastischen Steuersenkung, die wir bis zum Jahre2005 abschließen werden, eine riesengroße Gestaltungs-möglichkeit dahin gehend besteht, schon jetzt den Lohn inOptionen umzuwandeln und diese Optionen im Jahre2005 zu einem dann sehr viel niedrigeren Einkommen-steuersatz zu realisieren. Dies ist fiskalpolitisch natürlichein sehr großes Risiko. Hierfür noch weitere Steuervor-teile zu verschaffen wäre volkswirtschaftlich absolut kon-traproduktiv.Deshalb halten wir diesen Antrag gegenwärtig für nichtzielführend. Vielleicht erkennt die CDU/CSU, dass ihrAntrag inzwischen aufgrund der auf dem Neuen Marktgewonnenen Erkenntnisse obsolet geworden, also veral-tet ist, und trifft die kluge Entscheidung, ihn einfachzurückzuziehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Otto Bernhardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den beidenAnträgen, die wir jetzt behandeln, geht es um steuer-rechtliche Fragen im Zusammenhang mit Aktien.Zunächst komme ich zu dem Antrag der Freien Demo-kraten, der letztlich darauf hinausläuft, dass Aktientauschim Rahmen von Unternehmensübernahmen steuerfreiwird. Herr Solms hat die Argumente vorgetragen. Wirkönnen den Argumenten folgen und werden diesem An-trag unsere Zustimmung geben.Der sicher umfangreichere Antrag ist unser eigener.Darin geht es um die steuerlichen Rahmenbedingungenfür die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter.Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass dieses In-strument der Aktienoptionen in den letzten beiden Jahrensehr stark an Bedeutung gewonnen hat.
Zurzeit gibt es in Deutschland etwa 300 Aktiengesellschaf-ten, die ihren Mitarbeitern solche Optionen eingeräumt ha-ben. Es ist vielleicht interessant, darauf hinzuweisen, dassetwa 200 dieser Firmen am Neuen Markt notiert werden.Die Aussage, dies werde im Wesentlichen nur Führungs-kräften eingeräumt, ist – zumindest bezogen auf den NeuenMarkt – so nicht richtig. Etwa zwei Drittel der Optionen,die dort gegeben werden, stehen allen Mitarbeitern offen.
Unser Antrag läuft darauf hinaus, die steuerlichen Rah-menbedingungen zu verbessern und dafür ein Gesetz ein-zubringen. Nun wird hier kritisiert, dass wir nicht selbsteinen Gesetzentwurf eingebracht haben. Aber hierbeihandelt es sich um eine Materie, die manche Diskussionerfordert. In dieser Debatte sind sowohl von unserer Seiteals auch vonseiten der F.D.P. Ansatzpunkte für einen sol-chen Gesetzentwurf genannt worden. Wir haben etwavorgeschlagen, ein Wahlrecht, bezogen auf den Zeitpunkt,wann versteuert wird, einzuführen. Herr Solms hat vorge-schlagen, den halben Steuersatz zu nehmen. Ferner gibt esdie Idee – die bei uns diskutiert wird –, ob dann, wenn mansich dafür entscheidet, dass die Besteuerung zum Zeit-punkt der Ausnutzung der Option erfolgen soll, vielleichtdas Halbeinkünfteverfahren gelten soll. Das alles sindkonkrete Ansatzpunkte, die diskutiert werden müssen.Die Diskussion hat für mich gezeigt: Die freien Demo-kraten sind dafür, in dieser Richtung tätig zu werden. DieGrünen sind nachdenklich und sagen: Hier besteht der Be-darf, etwas zu tun. Die erste Rednerin der SPD, die Kol-legin Hauer, brachte kritische Ansatzpunkte, bei denenvielleicht noch etwas passieren müsse. Der letzte Redner,Herr Binding, hat ganz klar gesagt: Wir sehen keine Not-wendigkeit zum Handeln.Jetzt kommt Ihr Fehler. Ich weiß, Sie sind kein Mannder Wirtschaft. Ich glaube, Sie haben hier etwas nicht ver-standen, Herr Binding. Sie sagen, es gebe im Grunde ge-nommen keinen Unterschied zwischen einem Einkom-men in Form einer Option und einem ganz normalenEinkommen; deshalb müsse dieses Einkommen auchganz normal versteuert werden, wie es heute der Fall ist.Wenn Sie auch nur eine Stellungnahme eines Fachmannesdurchgelesen hätten, dann wüssten Sie, dass es zumindestzwei Gesichtspunkte in der Diskussion gibt, die verdeut-lichen, dass man diese Einkommensarten unterschiedlichbehandeln sollte.Der eine Punkt: Wenn ich hundert Mark Lohn be-komme, dann sind mir diese hundert Mark sicher. Wennich aber auf einen Teil meines Lohnes verzichte und dafüreine Option bekomme, dann – das zeigt die aktuelleEntwicklung am Aktienmarkt – kann das null werden. Dasheißt, unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit bietet sichdurchaus eine unterschiedliche Besteuerung an.
: Sie haben
in diesem Moment bereits Verzicht geübt, das istdas Problem! Die Zuflussfragen haben ich garnicht behandelt! Vorsicht!)
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Lothar Binding
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Es gibt einen zweiten Punkt, den Sie wahrscheinlichauch nicht kennen. Wenn es darum geht, Gewinne zu ver-steuern, dann wissen Sie – hoffentlich; Sie sitzen ja imFachausschuss –, dass ein privaterAnlegerKursgewinnenach einem Jahr überhaupt nicht versteuern muss. Diessind zwei Punkte , die zumindest in der Fachwelt zu demziemlich übereinstimmenden Urteil führen: Hier sollteman etwas verändern.Wenn Sie einmal einen Blick über die Grenzen der Bun-desrepublik hinaus werfen, werden Sie merken, dass Ak-tienoptionen kein deutsches Instrument sind. Sie werden infast allen Industrieländern angewandt. Wir stellen fest,dass Aktienoptionen in fast allen dieser Länder steuerlichgünstiger behandelt werden als bei uns.
– In fast allen. Sie können zwei Länder nennen, in denendas nicht so ist.Deshalb sage ich abschließend ganz deutlich: Es ist nuneinmal ein Kampf um Führungs- und Fachkräfte derWirtschaft ausgebrochen. Im Rahmen der Globalisierungist dies ein internationaler Kampf. Um diese Fachkräfte zugewinnen, misst man dem Thema Aktienoptionen weltweiteine immer höhere Bedeutung zu. Hier hat Deutschlandzurzeit einen Standortnachteil. Mit unserer Initiative wol-len wir erreichen, dass dieser Nachteil aufgehoben wird.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5318 und 14/3009 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe Einverständnis im ganzen Hause. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt, den TOP 19,
auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Horst Friedrich ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Sonderprogramm zur Sicherung und Erhöhung
des Niveaus der Landes- und Hochschulbiblio-
theken am Wissenschafts- und Forschungsstand-
ort Deutschland
– Drucksache 14/5105 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. – Auch hier
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
F.D.P.-Fraktion ist die Kollegin Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir sind beim letzten Tages-ordnungspunkt und es geht wieder einmal um den Hoch-schulstandort Deutschland. Als die F.D.P.-Fraktion sichdem Thema der Situation der deutschen Hochschulbiblio-theken gewidmet hat, waren wir uns nicht ganz darüber imKlaren, was für eine Welle der Entrüstung das bei den Be-troffenen auslösen wird. Fakt ist, dass viele Bundesländerihrer Verpflichtung zu einer ausreichenden Finanzierungder Landes- und Hochschulbibliotheken nicht mehr in er-forderlichem Umfang nachkommen. An den Bibliothekenwird gespart. Das hat katastrophale Folgen, nicht nur fürdie fach- und sachgerechte Ausstattung der Bibliotheken,sondern eben auch für die Attraktivität des Wissen-schaftsstandortes Deutschland.
Deswegen haben wir Ihnen einen Antrag vorgelegt, dermit „Sonderprogramm zur Sicherung und Erhöhung desNiveaus der Landes- und Hochschulbibliotheken“ über-schrieben ist. Wir wollen, dass die Auffassung nicht nurder Bundesvereinigung der deutschen Bibliothekenver-bände, sondern auch der Hochschulrektorenkonferenz indiesem Hohen Hause Gehör findet; denn am Beispiel derBibliothekenfinanzierung wird deutlich, welche katastro-phalen Folgen selbst eine nur geringfügige Senkung desEtats haben kann.
Parallel zu diesem Prozess verläuft nämlich die Ver-teuerung wissenschaftlicher Zeitschriften, bedingt auchdurch den hohen Wechselkurs des Dollars. Nicht zu ver-gessen sind die gestiegenen Abgaben der Hochschulen andie GEMA und die Verwertungsgesellschaft Wort. Jedeeingesparte Mark bekommen die Bibliotheken an denHochschulen dreifach zu spüren. Das muss geändert wer-den.
Völlig zu Recht – das sehen wir genauso – erinnert derPräsident der Hochschulrektorenkonferenz, ProfessorLandfried, daran, dass die Finanzierung der Universitäts-bibliotheken den Hochschulen obliegt und deren Finan-zierung natürlich in die Zuständigkeit der Länder fällt.Mit anderen Worten: Die Länder nehmen in der Tat in die-sem Bereich im Moment ihre Aufgaben nicht genügendwahr. Aber ich kann diese Aussage auch nicht verallge-meinern. Nachdem im Land Hessen das Bund-Länder-Hochschul-Sonderprogramm ausgelaufen ist, hat die Wis-senschaftsministerin bereits im letzten Jahr eine eigeneInitiative gestartet und ein Bibliotheksförderprogrammmit einem Budget von 2,5 Millionen DM aufgelegt.
Das ist die eine Seite der Medaille. – Es gibt ein paar guteBeispiele, Kollege Tauss.
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Otto Bernhardt15855
Die andere Seite der Medaille ist aber, dass die großenDefizite in den Hochschulbibliotheken nicht allein da-durch gedeckt werden können, dass strukturstärkere Län-der aus ihren Haushalten die Finanzierung vornehmen,während strukturschwache Länder beim Thema Wissen-schaftsstandort Deutschland zurückfallen.Wir ergreifen in unserem Antrag Partei für die Landes-bibliotheken. Das wissen Sie. Ich will nur ein Beispielnennen: Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin hatallein in diesem Jahr ein Defizit von 2,4 Millionen DM.Das heißt, es kann immer weniger aktuelle internationaleForschungsliteratur beschafft werden. Längst hat Berlinseinen herausragenden Standort als führende Bibliothekdieser Welt nach New York und Paris verloren. Die Di-rektorin hat es so kommentiert: „Wir sind nur noch lächer-lich.“Die Vernachlässigung der Bibliotheken führt aber auchzu längeren Studienzeiten; denn ohne Bücher und Fach-zeitschriften kann ein ordentliches Studium nicht absol-viert werden. Auch das Niveau der Lehre kann nicht aufinternationalem Niveau gehalten werden. Das alles sindAlarmsignale. Deswegen haben wir vorgeschlagen, dassdie Bundesregierung ab dem Jahr 2002 im Bundeshaus-halt finanzielle Mittel in Höhe von 120 Millionen DM imEinzelplan 30 bereitstellt und für das Jahr 2001 ein So-fortprogramm mit 80 Millionen DM auflegt.Jetzt werden mich meine Kollegen von der Regie-rungskoalition – für die Regierung, aber auch für unsin der Opposition ist dies wichtig – fragen: Wie finanzie-ren wir das? Wir sind uns als Bildungspolitiker alle einig,dass wir bei der Wissenschaftspolitik Prioritäten setzenmüssen. Ich nenne als erstes Argument: Das Glück, daspassende Buch aus einer deutschen Bibliothek zu be-kommen, darf nicht der richtigen Zahl auf einem Glücks-rad überlassen werden. Zweites Argument – das ist mirwichtiger –: Unser Sonderprogramm braucht keine Son-dermittel des Bundes, sondern es soll vernünftig in dasHochschulbauförderprogramm des Bundes bzw. in an-dere Wissenschafts- und Forschungsförderprogrammeeingefügt werden.
Dies ist ein vernünftiger Finanzierungsvorschlag, auchunter dem Aspekt, dass die Mittel, die wir im Hochschul-bauförderprogramm eingestellt haben, von einigen Bun-desländern nicht abgerufen werden.Als Letztes will ich sagen: Die deutschen Bibliothekenhaben einen Verfassungsauftrag, der sich in Art. 5 Abs. 1des Grundgesetzes widerspiegelt und als Meinungs- undInformationsfreiheit erklärt wird. Ich zitiere:Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schriftund Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sichaus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zuunterrichten.Wir haben die Aufgabe, dafür die Rahmenbedingungen zuschaffen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wir sind hier imHause, Frau Pieper, alle der Meinung, dass für Wissen-schaft, Forschung und Lehre in Deutschland nicht genuggetan werden kann. Die Universitäts- und Landesbiblio-theken gehören als integraler Bestandteil der Wissen-schaft zu den unverzichtbaren Einrichtungen, die For-schung und Wissenschaft fördern und die Studierendenbei ihrem Bemühen um Erkenntnisse unterstützen. Sie be-dürfen deshalb der bildungspolitischen und finanziellenHilfe. Das ist keine Frage.An den Bibliotheken ist aber die technische Entwick-lung derMedien in den letzten Jahren nicht spurlos vorü-bergegangen. Man kann sich eine Unibibliothek heutenicht mehr allein als eine Aneinanderreihung von Regalenvorstellen, in denen verstaubte und ehrwürdige Bücherstehen. Die Förderung von Bibliotheken muss deshalbheute anders aussehen als in der klassischen Zeit, in dernur nach der Vollständigkeit der Bücher und Zeitschriftenin den Regalen oder im Magazin gefragt wurde.Der F.D.P.-Antrag beschreibt im Wesentlichen die rich-tigen Tatbestände dieser klassischen Zeit, verkennt aberdie Problemsituation von heute und vor allen Dingendie Zahlungspflichten, für die allein die Länder zustän-dig sind. Ich sage auch noch etwas zur Kreativität desF.D.P.-Antrages: Dieser Antrag ist mit dem Text einerPresseerklärung des Deutschen Kulturrates vom22. Januar 2001 identisch,
der die Interessen der Verlage vertritt, den Bücher- und Zeit-schriftenbestand der Bibliotheken im Auge hat und, mit ei-nigen wissenschaftspolitischen Schlagworten versehen,dem Deutschen Bundestag vorgelegt wird.Die Interessenvertretung des Deutschen Kulturratesvia F.D.P. ist legitim, hilft aber wenig bei der notwendi-gen Umstrukturierung der deutschen Bibliotheken zunutzerfreundlichen Zentren, in denen mediengestützte In-formationen, die auf die geänderten Bedürfnisse der Stu-dierenden und Lehrenden eingehen, vorhanden sein müs-sen.
Ich will als Beispiel die Universität Hannover an-führen. Diese finanzpolitisch budgetierte Hochschule hatein finanzielles Interesse – sie hat entsprechende Be-schlüsse gefasst –, von jeder Zeitschrift nur noch einExemplar zu abonnieren und es durch Medienpräsenta-tion oder Kopieranforderung in jeder Institutsbibliotheküber Drucker und Bildschirm für nachfragende Nutzerverfügbar zu machen. Die Vernetzung aller norddeut-schen Universitätsbibliotheken ermöglicht eine sofortigeAusleihe aller Zeitschriften und Buchauszüge auch übergroße Distanzen. Das ist eine komfortable Angelegenheit.Die eingeforderte Verbesserung der Lehre an denHochschulen bringt zwangsläufig didaktisch gut aufgear-beitete Materialien hervor, die, von den Dozenten selbst
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Cornelia Pieper15856
hergestellt, an die Studierenden verkauft werden und da-mit den Umfang der Buchausleihe verringern.Dies sind einige Gründe dafür, warum die Ausgabenfür Bücher und Zeitschriften zurückgegangen sind. Ichgehe davon aus, dass diese Entwicklung weitergehenwird. Verlage werden sich in der Präsentation ihrer Pro-dukte auf diese Entwicklung einstellen müssen, anderen-falls werden die Nutzer sie dazu zwingen. Ich glaubenicht, dass der Wissenschafts- und ForschungsstandortDeutschland unter dieser Entwicklung leiden wird, so wiees der F.D.P.-Antrag unterstellt. Ich denke, das Gegenteilist der Fall.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert deshalbschon seit einiger Zeit virtuelle Fachbibliotheken, in dienicht nur Bücher, sondern auch elektronische Medien,Online-Zeitschriften, Internetadressen, Videobänder so-wie Mitschnitte von Vorlesungen und Seminaren einge-stellt sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Eckardt,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ja.
Herr Kollege Eckardt, Sie
reden von virtuellen Bibliotheken. Ich stimme Ihnen in-
sofern zu, als auch die Hochschulbibliotheken online
gehen sollen. Ist Ihnen aber bekannt, dass die Kosten für
Lizenzverträge, die von den Verlagen erhoben werden,
so hoch sind, dass sie das Budget der Hochschulbiblio-
theken derart stark belasten, dass man eben gerade nicht
sparen kann, wenn man die entsprechenden Lizenzen von
den Verlagen erwirbt? Ein Abschluss entsprechender
Lizenzverträge wäre aber notwendig, damit solche virtu-
ellen Bibliotheken, wie Sie sie vorgeschlagen haben, ent-
stehen können.
Frau Kollegin Pieper, es ist
mir natürlich bekannt, dass die Lizenzgebühren deutscher
und ausländischer Verlage sehr hoch sind. Ich denke aber,
dass sich die Verlage entscheiden und entsprechend
umorientieren müssen, ob sie ihre Produkte dauerhaft für
die Zukunft per Medien oder per Bücher präsentieren
wollen. Im Moment tun sie meist noch beides und kom-
men damit in finanzielle Schwierigkeiten, die sie letztlich
zu einer Entscheidung zwingen werden.
Ich denke aber, dass in den nächsten Jahren entspre-
chende Entscheidungen fallen werden. Ich vermute, dass
sich die Verlage fast ausschließlich auf Medienpräsenta-
tionen konzentrieren werden und dass damit das klassi-
sche Buch, das Zweitbuch in deutschen Bücherregalen
– auch in den deutschen Bibliotheken –, auf dem Rückzug
sein wird.
– Das müssen wir abwarten. Vielleicht treffen wir uns in
ein paar Jahren wieder und können dann entscheiden, wer
Recht gehabt hat.
Natürlich sind mediengestützte Informationen sehr
teuer. Natürlich ist auch ein hoher Dollar- und Pfund-
kurs nicht hilfreich. Aber die Formulierung „Die Nutzung
des Internets verschleiert das eigentliche Problem“ hilft in
der Sache wenig weiter. Ein Sonderprogramm des Bundes
für die Bibliotheken, wie von der F.D.P. gefordert, wird
den notwendigen Modernisierungsprozess nicht be-
schleunigen, sondern, denke ich, die bestehende Situation
verfestigen.
Eine koordinierte Erwerbspolitik, eine stärkere Koope-
ration der Verlage und die Nutzung moderner Lieferanten
von Dokumenten und Informationen sind die Wege, auf
denen die deutschen Universitätsbibliotheken voran-
schreiten sollten. Hier haben sie die gemeinsame Hilfe
von Bund und Ländern verdient, die auch geleistet wird.
Ein Sonderprogramm ist dafür nicht sehr hilfreich.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Norbert Hauser für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende Novem-ber 2000 haben die Bibliotheksverbände ein Notpro-gramm zur Rettung der Hochschulbibliotheken von derBundesregierung gefordert. Sie warnten vor einem Aus-bluten der wissenschaftlichen Bibliotheken und appel-lierten, die „Strukturkrise der Bibliotheksetats“ zu über-winden. Seitdem ist aufseiten der Bundesregierung nichtspassiert. Insofern ist der Antrag der Kolleginnen und Kol-legen von der F.D.P.-Fraktion nur folgerichtig.
Dass dieser Antrag überhaupt gestellt werden musste,ist traurig, und zwar deshalb, weil die Bundesregierungund die Koalition die Sorgen und Nöte der Hochschulbi-bliotheken wieder einmal ignoriert haben.
Anstatt diese Sorgen und Nöte ernst zu nehmen, setztdie Bildungsministerin ganz andere Prioritäten. AmDienstag nahm sie sich Guildo Horn zur Hilfe, um dieneue BAföG-Kampagne vorzustellen.
Klamauk statt Programm, so verkauft die Bundesregie-rung ihre Politik. Edelgard haben wir deshalb trotzdemnicht lieb.
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Dr. Peter Eckardt15857
– Herr Catenhusen, Sie sind schon sehr bescheiden ge-worden, wenn es Ihnen reicht, dass man über Sie redet.
Zum Thema „Bildung durch Guildo“ möchte ich einenKommentar aus der „Berliner Morgenpost“ vom 28.März2001 zitieren:Deshalb wird die Kampagne ankommen – und auch,weil sein– gemeint ist Guildo Horn –Bekanntheitsgrad in Deutschland bei 90 Prozent liegt.Womit er weit vor Edelgard Bulmahn liegt. Bei einerrepräsentativen Umfrage konnten sich 10 Prozent anden Namen der aktuellen Bundesbildungsministerinerinnern. Macht zusammen 100 Prozent.Na, wenn das nichts ist. Edelgard Bulmahn und GuildoHorn als Center of Excellence zur Rettung des StandortesDeutschland!
– Herr Tauss ist auch wieder aufgetausst.Meine Damen und Herren von der Koalition, FrauBulmahn gibt sich als Unterstützerin des Projektes „Bil-dung für alle“ und gibt vor, alles besser gemacht zu habenals ihre Vorgänger. Die Wirklichkeit sieht jedoch andersaus. Hören Sie genau zu!Als 1997 Probleme mit der Ausstattung der Hoch-schulbibliotheken auftraten, hat Herr Rüttgers ein 40-Mil-lionen-DM-Sonderprogramm ins Leben gerufen,
das die Bundesländer mit der gleichen Summe unterstützthaben. Sie haben dieses Programm nicht fortgeführt. Siehaben den Bibliotheken mit dieser Entscheidung keineZukunft gegeben, sondern ihnen sogar die Zukunft ge-nommen.
Die Bibliotheksverbände haben mit ihrem Notruf aufden Verfall der Bibliotheken und auf die nicht mehr kor-rigierbaren Folgen von entstandenen Fehlbeständen inden Buch- und Zeitschriftenbeständen hingewiesen. Re-aktion der Bundesregierung: keine. Es gab kein Wort derUnterstützung und kein Sonderprogramm. Es geschaheinfach nichts. Der Unterschied zwischen Rot-Grün undSchwarz-Gelb ist: Die jetzige Bundesregierung redet, diealte hat gehandelt.
Bundesbildungsministerin Bulmahn möchte zwar, dassjeder Schüler einen Laptop bekommt. Aber Bücher undZeitschriften für die Studenten interessieren sie anschei-nend nicht. Am vergangenen Dienstag haben BerlinerSchüler von Frau Bulmahn 250 Computer geschenkt be-kommen, die natürlich nicht Frau Bulmahn und auch nichtdie Bundesregierung, sondern die Firma Siemens bezahlthat. Wie könnte es bei Ihrem Verständnis von Public-Pri-vate-Partnership auch anders sein: Sie lassen sich aufKosten anderer die Siegeskränze winden. Ergebnis: DasLob ist „public“, die Kosten aber „private“.Moderne Technologien allein reichen aber nicht aus.Um sich Wissen anzueignen, braucht man im 21. Jahr-hundert sowohl die elektronischen Medien als auch diePrintmedien.
Dr. Eckhardt, nur beides zusammen führt Wissenschaftlerund Studenten zum Erfolg. In die Welt hinauszusurfen istnicht genug. Nicht alles, was in Fachbüchern und -zeit-schriften steht, ist auch im Internet verfügbar. Wer dieBibliotheken der Hochschulen vernachlässigt, vernach-lässigt damit auch die Wissensvermittlung.
Sie wissen genau, Kollege Dr. Eckhardt, dass Online-recherchen über eine gewisse Zeit funktionieren. WennSie aber wirklich einsteigen und das Wissen durch inten-sivere Recherchen verstärken wollen, dann greifen Siedoch wieder zum Buch und damit zum guten alten Papier,weil es so einfacher als am Bildschirm ist, etwas aufzu-nehmen.Noch schlimmer ist, meine Damen und Herren von derKoalition: Mit Ihrer Politik schaffen Sie Klassenunter-schiede innerhalb der Studentenschaft. Konsequenz:Nachdem man schon im Gesundheitswesen von einerZweiklassenmedizin spricht, folgt nun auch noch das Stu-dium nach dem Geldbeutel. Denn wenn die Bibliothekender Universitäten und Fachhochschulen nur noch unzu-reichend ausgestattet sind, kann nur noch der umfassendwissenschaftlich forschen, der sich Computer, Bücherund Zeitschriften leisten kann. Wer dazu nicht in der Lageist, bleibt auf der Strecke.Hinzu kommt – das sollten wir nicht vergessen – derZeitverlust. Längere Suche und Fernleihe führen nun ein-mal zwangsläufig zu einer Verlängerung der Studienzeit.Diplomarbeiten können durchaus an wissenschaftlicherSubstanz verlieren, wenn nicht alle Quellen immer er-reichbar sind. Wie heißt es in der Broschüre des BMBFanlässlich des Amtsantritts von Ministerin Bulmahn dochso schön:Wer Begabungsreserven erschließen will, werChancengleichheit anstrebt, muss dazu beitragen,soziale Barrieren abzubauen.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen wieder einmal weitauseinander. Frau Bulmahn ist bekannt dafür, Großes an-zukündigen und Kleines zu leisten.
Die Bundesregierung hätte bereits längst handeln kön-nen, wie es die betroffenen Verbände denn auch forderten.Handlungsbedarf gibt es genug; die Zahlen sprechen für
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Norbert Hauser
15858
sich: Circa 30 Prozent der früher in den Hochschulbiblio-theken erhältlichen Zeitschriften wurden inzwischen ab-bestellt, Dr. Rossmann. Fallen bei wichtigen Zeitschriftenein oder mehrere Jahrgänge aus, so ist eine wissenschaft-liche Recherche nahezu unmöglich. Außerdem wer-den die auftretenden Fehlbestände später nicht wiederaufgefüllt und gehen für das Wissen somit verloren.500 000 dringend benötigte Bücher konnten in den letz-ten Monaten nicht beschafft werden. Dies hat für die ver-schiedenen Hochschulbibliotheken unmittelbare Folgen.Beispiel Göttingen: Seit Mai 2000 konnte in Göttin-gen keine Monographie mehr angeschafft werden. Bei-spiel Hamburg: Weil die Hochschulbibliotheken aus-bluten, wurde die Spendenaktion „Ex libris – Wissenspenden“ ins Leben gerufen, die innerhalb kürzester Zeitüber 1 Million DM erbrachte. Beispiel Stuttgart: DieUniversität Stuttgart hat seit Ende der 90er-Jahre rund400 Zeitschriften abbestellt. Beispiel Bonn: In Bonn solldie Landwirtschaftsbibliothek geschlossen und ihre Be-stände sollen zur Zentralbibliothek nach Köln verlagertwerden. Folge: Die weltweit zweitgrößte Spezialbiblio-thek für das Fach Landwirtschaft steht vor dem Aus, ob-wohl gerade sie ein umfassendes Angebot von Büchernaus dem Bereich Lebensmittelsicherheit und -qualität hat.
– In die Zentralbibliothek, Herr Kollege. Sie ist dannkeine Spezialbibliothek mehr. – Vor dem Hintergrund deraktuellen Diskussion über Verbraucherfragen ist das eingeradezu abstruses Ergebnis der Politik im Umgang mitden wissenschaftlichen Bibliotheken.
Natürlich – Dr. Eckardt hat darauf hingewiesen – tra-gen auch die Länder Verantwortung für die Hochschulbi-bliotheken.
Da das so ist, muss man den Ländern die Möglichkeitfür eine entsprechende Finanzierung lassen; man muss ih-nen die Luft zum Atmen lassen. Nach einer Berechnungdieser Bundesregierung führt allein das Steuerbereini-gungsgesetz 1999 in den Jahren 2000 bis 2003 zu einemEinnahmeverlust von fast 2,5Milliarden DM bei den Län-dern.
Angesichts der jetzigen Finanznot in den deutschenHochschulbibliotheken kann man von einer geplantenBüchersammlung nicht mehr sprechen. Eine wirksameErgänzung zum örtlichen Angebot könnte – darüber isteben schon einmal gesprochen worden – eine virtuelleBibliothek sein. Durch hochschulübergreifende Zusam-menarbeit sollten vernetzte, bundesweit zugängliche vir-tuelle Schwerpunktbibliotheken entstehen, die multime-diale Informationen digital abrufbar speichern. Wenn denBibliothekaren das Geld für das Nötigste fehlt, dann kön-nen sie keine neuen Felder erschließen. Die Folge ist auchin diesem Fall, dass der Wissenschaftsstandort Deutsch-land den Anschluss verliert.Die Union hatte bereits am 20. Januar 1999 im Bil-dungsausschuss des Deutschen Bundestages gefordert,die Hochschulbibliotheken als moderne Kommunikati-ons- und Dienstleistungszentren auszubauen. Vertreterder Koalition hatten dies auch zugesagt. Einmal mehr istnichts geschehen.Je länger der Bund bei der Frage der Hochschulbiblio-theken zögert, desto tiefer werden die Lücken im Bestand,die nicht mehr geschlossen werden können. Die Länderkönnen dem Problem nicht allein begegnen; daher mussder Bund in die Bresche springen. Nichtstun führt zu Zeit-verlust. Zeitverlust bedeutet noch stärkere Einschnitte indas Bibliothekssystem. Das Gebot der Stunde heißt, denHochschulen zu helfen. Wenn Sie in Ihren Bibli-otheksbeständen noch ein Stammbuch haben, dannschreiben Sie sich dies dort hinein. Gehen Sie dazu über,die Bibliotheken zu unterstützen, und hören Sie auf, nurdarüber zu reden!Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Reinhard Loske für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst möchte ich etwas zu Herrn Hauser sagen. Ichhabe mir zum Beispiel den Satz „Natürlich ... tragen auchdie Länder Verantwortung für die Hochschulbibliothe-ken“ aufgeschrieben. Ich darf darauf verweisen, dassdafür vor allen Dingen die LänderVerantwortung tragen.
Das sollte man feststellen.Ich möchte auf Guildo Horn eingehen. Musik ist be-kanntermaßen Geschmackssache. Ich kann gut verstehen,dass Sie ein Problem damit haben, dass die Studentinnenund Studenten jetzt mehr Nussecken knabbern können,weil sie zu Ihrer Zeit am Hungertuch nagen mussten.
Nichts gegen Guildo Horn. Wenn Sie einen anderen Ge-schmack haben, dann akzeptieren Sie das bitte.Was die Popularität von Frau Bulmahn betrifft: Um-fragen sind ohnehin immer so eine Sache. Herr Rüttgers
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Norbert Hauser
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war zwar etwas bekannter – er hat wie verrückt auf diePauke gehauen –, aber bildungspolitisch ist dabei nichtsherausgekommen. Frau Bulmahn ist im Auftreten zwar et-was zurückhaltender, sie erreicht aber viel mehr. Diezweite Variante ist mir lieber.
Jenseits der parteipolitischen Auseinandersetzungenist es doch klar, dass die Bildungspolitiker wollen, dassmehr Geld in den Bibliothekssektor fließt, während dieHaushälter sparen wollen. Das ist doch wirklich kein No-vum. Insofern sollten wir uns hier nicht wechselseitig be-schuldigen – Herr Hauser, das geht an Ihre Adresse –, wirließen zu, dass ein bildungspolitisches Proletentum her-anwächst. Wir sind für Bildung. Man muss nur überlegen,wie man sie finanzieren kann und ob es nicht andere Po-tenziale gibt, die man ausschöpfen kann.Eines ist definitiv klar – das kann ich als Hochschul-lehrer sagen –: Die Misere der Hochschulbibliothekenist mindestens schon zehn Jahre alt, vielleicht noch äl-ter. Wir haben es hier also nicht mit einem neuen Phä-nomen zu tun, sondern mit einem Problem, das in denletzten fünf Jahren rasant an Bedeutung zugenommenhat.Im Folgenden möchte ich auf die Gründe der Finanz-probleme eingehen:Erstens. Die alte Vorstellung, dass die neuen Medien,die CD-ROMs, die Computer oder das Internet, das Buchoder die Zeitschrift ersetzen würden, trifft nicht zu.
– Ich rede hier für mich. – Es entwickelt sich eine Paral-lelstruktur, die sogar kostenintensiver ist. Das muss manfeststellen.
Es gibt aber bei den Zeitschriften die Möglichkeit, verstärktdas Internet zu nutzen. Darauf gehe ich nachher noch ein.Zweitens. Auch die ungünstigen Wechselkurse sindproblematisch. Gerade die Preise für die englischspra-chige Literatur steigen, was zu Abbestellungen von Zeit-schriften führt.Drittens. Was die allgemeinen Sparzwänge derHochschulen betrifft, so ist überall zu beobachten, dasszuerst die Sachmittel – vorneweg die Mittel für dieBibliotheken – gekürzt werden. Das führt dazu, dassZeitschriftenabonnements gekündigt werden müssen. Ichkonzediere, dass es sich hierbei um problematische Ent-wicklungen handelt.Aber man muss auch auf folgenden Punkt hinweisen:Man kann zwar durchaus mehr Geld für Bibliotheken for-dern. Aber man muss sich schon fragen, was der Bund undwas die Länder unternehmen. Einfach aus der Oppositionheraus zu fordern, der Bund solle mehr Geld geben, weildie Länder ihrer Aufgabe nicht nachkommen, halte ichnicht für angemessen. Das ist ja nichts anderes als eineForderung nach Ersatzfinanzierung von Landesaufgabendurch den Bund.
Man muss ferner darauf verweisen, dass durch Struk-turveränderungen erhebliche Einsparpotenziale zu rea-lisieren sind; das wurde bereits von den Vorrednern ge-sagt. Diese Einsparpotenziale ergeben sich vor allenDingen aus einer koordinierten Einkaufspolitik der Bi-bliotheken und aus einer gemeinschaftlichen Nutzung desLiteraturbestandes. Man muss – mit Ausnahme derBücher in Präsenzbibliotheken – die Bücher sowieso be-stellen. Daher ist es nicht problematisch, wenn es ein zen-trales Lager gibt und wenn mehrere Universitäten zumin-dest in den Ballungsräumen kooperieren. Es kann mirvöllig egal sein, ob das Buch aus der Bibliothek meinerUniversität oder ob es aus einem Pool stammt. Zentral-archive eröffnen diesbezüglich gute Möglichkeiten. Wasden Erwerb von Lizenzen und die Schaffung von Ein-kaufskonsortien betrifft, gibt es sicherlich noch Möglich-keiten zur effektiven Zusammenarbeit.Langer Rede kurzer Sinn: Der Tenor dieses Antragesist sicherlich zu begrüßen. Obwohl unsere Bibliothekenmehr Geld brauchen, halte ich es aber nicht für richtig, dieVerantwortung allein auf den Bund zu schieben. Wir müs-sen schauen, wie man durch eine effizientere Mittelver-wendung noch mehr herausholen kann, als es heute derFall ist. Das Geld muss eben auch an den richtigen Stel-len ausgegeben werden.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Die CeBIT und die LeipzigerBuchmesse waren gleichermaßen erfolgreich und macheneines deutlich: Auch im Zeitalter von PC und Internet hatdas Buch eine große Zukunft vor sich.
Ein kulturelles Leben ohne Bücher ist und bleibt schlichtunvorstellbar. „Big Brother“ und Co. wie auch GuildoHorn können diese Lücke nicht schließen. Wichtig ist,dass alle Menschen einen breiten Zugang zur Literatur ha-ben. Darin ist die Forderung nach einem ausreichend fi-nanzierten öffentlichen Bibliothekswesen begründet.Das gilt analog für Wissenschaft und Forschung. DieLektüre von Fachbüchern und Fachzeitschriften bestimmtauch im 21. Jahrhundert den Alltag von Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftlern, von Studentinnen undStudenten. Zur aufgabengerechten Infrastruktur einesmodernen Wissenschaftssystems gehört daher die bedarfs-gerechte Bereitstellung von Fachliteratur.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Dr. Reinhard Loske15860
Diese Infrastruktur – da gibt es nichts zu beschöni-gen – ist substanziell gefährdet. Darauf hat jetzt auch derDeutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskul-turverbände, in einer Resolution aufmerksam gemacht.Die Forderung des Deutschen Kulturrats nach einer So-forthilfe des Bundes für die Hochschul- und Landesbi-bliotheken ist als dringender Hilferuf zu verstehen, denwir nicht überhören dürfen.Die Lage der Hochschulbibliotheken ist katastro-phal: Buch- und Zeitschriftenpreise schießen in die Höhe;die öffentlichen Wissenschaftsetats stagnieren. Die Folgesind Verzicht auf wichtige Neuanschaffungen undAbbestellungen von Fachzeitschriften. Auf diese Weiseentstehen Lücken in Bibliotheksbeständen, die auchnachträglich nicht oder nur unter erschwerten Umständengeschlossen werden können.Universitäten, Fach- und Kunsthochschulen suchenheute händeringend Mäzene und Sponsoren, um die Schä-den wenigstens zu begrenzen. So hat mich beispielsweiseein Spendenaufruf der Universitätsgesellschaft Potsdamerreicht, in dem allein für die Universität Potsdam im Jahr2001 über fehlende Mittel in Höhe von 6 bis 7 MillionenDM geklagt wird. So hilfreich privates Engagement imEinzelfall sein mag, so klar ist doch auch, dass sich dasProblem der chronischen Unterfinanzierung der Hoch-schulen auf diese Weise nicht lösen lässt.
Wir können und dürfen den Staat nicht aus einer Ver-antwortung entlassen und wir fordern, dass sich auch derBund dieser Verantwortung stellt.
Der Bund ist mit seiner Steuer- und Finanzpolitik dafürmitverantwortlich, dass viele Länder ihren Bildungs- undWissenschaftsetats den Hahn abdrehen. Der Bund hat da-her die Pflicht, dort Soforthilfe zu leisten, wo irreversibleSchäden der wissenschaftlichen Infrastruktur drohen. DiePDS unterstützt daher die Initiative des Deutschen Kul-turrates und den heute hier behandelten Antrag der F.D.P.-Fraktion.
Ein Umdenken ist auch zur Sicherung der Chancen-gleichheit im Studium dringend geboten. Es ist doch be-reits heute so, dass Studierende, die jeden Pfennig umdre-hen müssen, viel stärker unter dem katastrophalenZustand der Hochschulbibliotheken leiden als jene, diesich fehlende Literatur mal eben im Buchhandel beschaf-fen können. Wenn die neuesten Auflagen von Lehr- undFachbüchern nicht im Bibliotheksregal stehen und Zeit-schriftenaufsätze mühsam und mit ungewissem Erfolgper Fernleihe bestellt werden müssen, schlägt sich dies inden Studienleistungen und auch in der Studiendauer nie-der. Darauf hat Kollegin Pieper schon aufmerksam ge-macht.
Studiengebühren – ich füge ausdrücklich hinzu: auch Be-nutzungsgebühren für Bibliotheksleistungen – verschär-fen das Problem der Chancenungleichheit im Studium zu-sätzlich. Ein Ausbau der Finanzierung von Hochschul-und Landesbibliotheken durch Gebühren wäre also derfalsche Weg.
Meine Damen und Herren, Buchrestauratoren kämpfenerfolgreich dagegen, dass jahrhundertealte Schätze in un-seren Bibliotheken zu Staub zerfallen. Die eigentliche Ge-fahr für den Literaturbestand unserer Bibliotheken gehtallerdings von den Rotstiften der Sparkommissare inBund und Ländern aus. Damit ist die PDS nicht einver-standen. Wir unterstützen daher die Forderung des Deut-schen Kulturrates nach einem Sonderprogramm für dieHochschul- und Landesbibliotheken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren heute Nachmittagin der Tat ein wichtiges Thema an. Ich habe allerdings,Frau Kollegin Pieper, erhebliche Zweifel, ob der F.D.P.-Antrag dem Thema insgesamt gerecht wird. Es ist dochkeineswegs geklärt, dass die Bibliotheksprobleme nur mitGeld zu lösen sind, wie die F.D.P. es hier behauptet. Es istja interessant, wie sich die Zeiten ändern. Nun sagt sie:Wenn ein Problem besteht, soll der Staat dafür Steuermit-tel aufwenden. Bezüglich der Frage der Finanzierung ha-ben Sie nur einen Hinweis im Zusammenhang mit denGewinnmöglichkeiten beim Glücksrad gegeben; das habeich mir aufgeschrieben. Diese müsste aber auf andereFüße gestellt werden.Der Antrag ist zwar in den Punkten, die direkt auf Vor-schläge des Kulturrates zurückgehen, richtig,
– seien Sie doch nicht gleich wieder eingeschnappt –, erbeinhaltet aber darüber hinaus auch noch den einen oderanderen Fehler. In der Begründung steht zum Beispiel,dass die Belastung durch eine Mehrwertsteuer in Höhevon 16 Prozent ein Problem darstelle.
Das ist in diesem Bereich kein Problem; denn für Print-medien gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatz. Diese Un-korrektheiten nehmen dem Antrag leider etwas von seinerErnsthaftigkeit.
Ich habe zwar gesagt, dass Geld nicht alles ist; trotz-dem möchte ich noch einmal auf die Strukturproblemezu sprechen kommen. Die finanziellen Faktoren bis hinzum gestiegenen Dollarkurs sind hier hinreichend be-schrieben worden. Wenn wir aber eine Debatte überdas gesamte Bibliothekswesen führen wollen, müssen wirtiefer gehen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Maritta Böttcher15861
Ihre Behauptung, Frau Pieper, das Internet führe inden Etats der Bibliotheken nicht zu Spareffekten, ist indieser Einseitigkeit übrigens auch nicht richtig.
– Nein, sie ist natürlich nicht richtig. – Selbstverständ-lich führt dies auch zu Spareffekten, aber um diese zu er-reichen, sind vorher Investitionen nötig. Das muss andieser Stelle ganz klar gesagt werden. Aus diesem Grundunterstützt die Bundesregierung mit sehr viel Geld undverschiedenen Programmen einen Ausbau der Möglich-keiten von Bibliotheken, eine Internetpräsenz herzu-stellen.
– Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie etwas wissen wol-len! Der Kollege Dr. Eckardt hat hier beispielsweise dieDeutsche Forschungsgemeinschaft angesprochen, die mitsehr viel Geld virtuelle Fachbibliotheken fördert. Wirkönnen uns doch darüber freuen, dass sich in diesem Be-reich etwas tut.Mit der digitalen Bibliothek entstehen natürlich auchganz neue, vernetzte Informationssysteme. Wir kümmernuns deshalb um Ansätze für künftige derartig vernetzte In-formationssysteme und für die wissenschaftliche Fachin-formation.Frau Kollegin Pieper, Sie wollten, wenn ich das rechtin Erinnerung habe, das alles in der Amtszeit des Kolle-gen Rüttgers, der hier mehrmals zitiert worden ist, HerrHauser, privatisieren. Damals haben Sie auch die elektro-nische Information als gesellschaftliche Aufgabe ausglie-dern wollen. Sie wollten sie an die Verlage verscherbeln.
– Entschuldigen Sie bitte, genau das waren die Pläne, diewir vorgefunden haben. – Das hätte, wie bei den Fach-zeitschriften, möglicherweise dazu geführt, dass die elek-tronische Fachinformation unbezahlbar geworden wäre.
Deshalb haben wir gesagt, wir bremsen das jetzt ersteinmal, wir machen ein Moratorium, privatisieren nichtund holen die Verleger mit ins Boot; denn es ist notwen-dig, dass die Verlegerinnen und Verleger mit im Boot sit-zen. Aber eines machen wir nicht, Frau Pieper – daraufliefe Ihr Antrag hinaus –: Wir machen kein Verlagssub-ventionsprogramm, finanziert durch Steuermittel. Daswill ich hier in aller Klarheit sagen.
– Das ist eine Aufgeregtheit heute Nachmittag! Entspan-nen Sie sich doch, es ist gleich Wochenende!Die Hochschulen und die Universitäten müssen – derKollege Loske hat darauf hingewiesen – gegenüber denVerlagen verstärkt Marktmacht entwickeln. Sie müssenzusehen, dass gemeinsam bestellt wird. Die Länder kön-nen das durchsetzen und sie tun es auch. Schauen Sie sicheinmal die Zusammenarbeit benachbarter Univer-sitätsbibliotheken an, zum Beispiel in Bonn und Köln.Dort wird sie allerdings vom Kollegen Hauser kritisiert.Auch in Bochum und Dortmund haben wir ein hervorra-gendes Beispiel einer intelligenten Zusammenarbeit derBibliotheken.
Das sind gute Beispiele. Herr Kollege Loske hat in diesemPunkt völlig Recht: Das ist ein Weg, der weiter beschrit-ten werden muss.Die Universitäten und Hochschullehrer sollten sich imÜbrigen selbst stärker in diese Debatte einbringen. Es istgut und wichtig, wenn das der Kulturrat tut,
dies sollten aber auch die Universitäten, die Hochschul-lehrer und die Bibliotheksverbände selbst stärker tun.In diesen Tagen zum Beispiel, Frau Pieper, fordern12 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus120 Ländern in einem offenen Brief an die Verleger, undzwar ausgehend von den neuen Erkenntnissen im Bereichder Biotechnologie, dass wissenschaftliche Artikel nachgeraumer Zeit über das Internet frei verfügbar sein müs-sen. Das halte ich für eine extrem wichtige Debatte. Da-bei geht es nämlich um die Frage: Werden wissenschaft-liche Erkenntnisse frei zur Verfügung gestellt oderkommen wir in die Situation, dass die mit sehr viel öf-fentlichem Geld, auch öffentlichem Forschungsgeld, er-rungenen Erkenntnisse von Verlagen mit wiederum knap-pen öffentlichen Mitteln zurückgekauft werden müssen?Das ist eine ernsthafte Frage, die wir uns stellen müs-sen, die aber natürlich bei den Verlagen gelegentlich zuAufregung führt. Deswegen sage ich ganz deutlich:Niemand will den Verlagen etwas Böses. Aber dieFrage, wie wir in einer Informationsgesellschaft zu fai-ren Preisen und fairen Bedingungen an den Rohstoff In-formation kommen, ist eine zentrale Frage, die über dieAusstattung der Bibliotheken natürlich weit hinaus-reicht.Kommen wir zurück auf eine Debatte, die wir hierschon einmal geführt haben, Herr von Klaeden. Als ichdamals gesagt habe, der freie, ungefilterte Zugang zu In-formation zu fairen Bedingungen sei eine zentraleFrage, haben Sie noch gerufen, das sei Sozialismus. Dashabe ich Ihnen nicht übel genommen, weil Sie sich mitdem Thema noch nicht sehr intensiv beschäftigt hatten.Aber ich glaube, heute sind wir zumindest in diesemPunkt weiter: Der freie Zugang zu dem Rohstoff Infor-mation ist eine zentrale, strategische Aufgabe, die aller-dings allein über das, was Sie mit Ihrem Antrag vorgelegthaben, nicht bewältigt werden kann.Ich freue mich allerdings sehr auf die Debatte, die wirin den Ausschüssen miteinander führen können. Da wer-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2001
Jörg Tauss15862
den wir interessante Diskussionen haben. Dann wird diespannende Frage sein: Mit welchen neuen Mittelngewährleisten wir diesen Zugang? Sagen Sie dann aberbitte nicht: über Glücksrad und Steuermittel. Lassen Sieuns versuchen, wieder Geld in ein System zu pumpen, dasan einigen Stellen große strukturelle Defizite aufweist, diezunächst einmal beseitigt werden müssen.Ich wünsche Ihnen trotz Ihrer Aufregung ein schönesWochenende.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5105 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe Einverständ-
nis im ganzen Hause. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unser heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 4. April 2001, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.