Protokoll:
11074

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 74

  • date_rangeDatum: 21. April 1988

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:16 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/74 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 74. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 21. April 1988 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 4931 Begrüßung der Quästoren des Europäischen Parlaments 4931 B Begrüßung des Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses des Sejm der Volksrepublik Polen, Jósef Czyrek 4940 D Tagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Steuerreformgesetzes 1990 (Drucksache 11/2157) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Begünstigung von Zuwendungen an unabhängige Wählervereinigungen (Drucksache 11/ 1316) Dr. Stoltenberg CDU/CSU 4931 D Dr. Apel SPD 4939 A Gattermann FDP 4946 B Frau Vennegerts GRÜNE 4952 A Dr. Waigel CDU/CSU 4954 C Poß SPD 4962 C Dr. Solms FDP 4966A Hüser GRÜNE 4968 D Glos CDU/CSU 4972 A Huonker SPD 4976 A Wüppesahl fraktionslos 4980 B Dr. Meyer zu Bentrup CDU/CSU 4982 B Börnsen (Ritterhude) SPD 4984 C Sellin GRÜNE 4987 C Uldall CDU/CSU 4989 A Dr. Mitzscherling SPD 4991 C Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 4994 A Vizepräsident Westphal 4982 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde betr. Finanzsituation der Bundesanstalt für Arbeit — Auswirkungen auf die aktive Arbeitsmarktpolitik Heyenn SPD 4996 C Müller (Wesseling) CDU/CSU 4997 C Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 4998 C, 5003 A Cronenberg (Arnsberg) FDP 4999 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA 5000 A Schreiner SPD 5002 A Strube CDU/CSU 5003 C Sieler (Amberg) SPD 5004 B Dr. Thomae FDP 5005 A Frau Steinhauer SPD 5006 A Kraus CDU/CSU 5007 A Schemken CDU/CSU 5007 D Kolb CDU/CSU 5008 D Tagesordnungspunkt 3: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Vorschriften für Hypothekenbanken (Drucksachen 11/1820, 11/2144) 5013 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung einge- II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1988 brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik, dem Königreich der Niederlande und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über Inspektionen in bezug auf den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite (Drucksachen 11/2033, 11/2174) Dr. de With (Erklärung nach § 31 GO) 5014 B Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko über die Rechtshilfe und Rechtsauskunft in Zivil- und Handelssachen (Drucksache 11/2026) 5014 D Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Umwandlung der Deutschen Pfandbriefanstalt in eine Aktiengesellschaft (Drucksache 11/2047) 5014 D Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der ApothekerRichtlinien der EG (85/432/EWG und 85/ 433/EWG) in deutsches Recht (Drucksache 11/2028) 5014 D Tagesordnungspunkt 9: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Wohngeld- und Mietenbericht 1987 (Drucksache 11/1583) 5014 D Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 1987 (Drucksache 11/2034) 5014 D Tagesordnungspunkt 7: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens (Drucksache 11/2136) 5015 B Tagesordnungspunkt 8: Beratung der Sammelübersichten 53, 54, 55 und 56 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen (Drucksachen 11/ 2113, 11/2114, 11/2115, 11/2116) 5015 C Tagesordnungspunkt 11: Beratung der Sammelübersichten 47, 48 und 52 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen (Drucksachen 11/ 1881, 11/1882, 11/1970) Frau Nickels GRÜNE (zur GO) 5015 D, 5016 C Seiters CDU/CSU (zur GO) 5016 B Dr. Emmerlich SPD 5016 C Frau Dempwolf CDU/CSU 5017 B Funke FDP 5017 D Tagesordnungspunkt 12: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Bindig, Dr. Schmude, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Duve, Frau Luuk, Großmann, Sielaff, Frau Dr. Timm, Dr. Holtz, Frau Schmidt (Nürnberg), Schanz, Toetemeyer, Büchner (Speyer), Bernrath, Lambinus, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Bekämpfung und Ächtung der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlungen (Drucksachen 11/957, 11/ 2163) Bindig SPD 5019 B Seesing CDU/CSU 5020 D Frau Olms GRÜNE 5021 C Kleinert (Hannover) FDP 5022 B Engelhard, Bundesminister BMJ 5023 A Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung der Inhaftierung von Kindern (Drucksache 11/1403) Frau Nickels GRÜNE 5023 C Seesing CDU/CSU 5025 D Dr. de With SPD 5026 D Funke FDP 5028D Engelhard, Bundesminister BMJ 5030 A Tagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Pinger, Feilcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Frau Folz-Steinacker, Hoppe, Frau Dr. Hamm-Brücher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Der entwicklungspolitische Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen (Drucksache 11/1954) Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 5031 C Frau Luuk SPD 5033 A Frau Folz-Steinacker FDP 5034 C Frau Olms GRÜNE 5035 D Bindig SPD 5037 B Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär BMZ 5038 C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1988 III Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-Gesetz) (Drucksache 11/1844) Beratung des Antrags der Abgeordnet Frau Dr. Hartenstein, Schäfer (Offenburg), Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Umweltverträglichkeitsprüfung (Drucksache 11/1902) Brauer GRÜNE 5041B, 5050 A Dörflinger CDU/CSU 5042 D Frau Dr. Hartenstein SPD 5044 B Baum FDP 5046 A Dr. Töpfer, Bundesminister BMU 5047 C Dr. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 5050 D Schütz SPD 5052 C Frau Dr. Segall FDP 5054 D Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung) Fragestunde — Drucksache 11/2146 vom 15. April 1988 — Inhaftierung des deutschen Staatsangehörigen Adrian Kim in Südkorea MdlAnfr 10, 11 15.04.88 Drs 11/2146 Dr. Emmerlich SPD Antw StMin Schäfer AA 5009 D ZusFr Dr. Emmerlich SPD 5009 D ZusFr Dr. Knabe GRÜNE 5010 D Außenpolitische Aktivitäten der saarländischen Regierung in Paris und anderen Hauptstädten MdlAnfr 14, 15 15.04.88 Drs 11/2146 Frau Pack CDU/CSU Antw StMin Schäfer AA 5011 A ZusFr Frau Pack CDU/CSU 5011 D, 5012 C ZusFr Schreiner SPD 5011 D, 5013 A ZusFr Müller (Wadern) CDU/CSU 5012 A, 5013 A ZusFr Schreiber CDU/CSU 5012 A ZusFr Frau Conrad SPD 5012 B, 5012 D Nächste Sitzung 5056 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 5057* A Anlage 2 Bemühungen um friedliche Lösung des Konfliktes zwischen Äthiopien und Eritrea, insbesondere angesichts der Hungersnot MdlAnfr 12, 13 15.04.88 Drs 11/2146 Frau Eid GRÜNE SchrAntw StMin Schäfer AA 5057* B Anlage 3 Kontingentierung von Übersiedlern aus der DDR und ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz MdlAnfr 26, 27 15.04.88 Drs 11/2146 Frau Terborg SPD SchrAntw PStSekr Dr. Hennig BMB 5057* D Anlage 4 Innerdeutsche Absprache über eine Kontingentierung von Übersiedlern aus der DDR MdlAnfr 28, 29 15.04.88 Drs 11/2146 Büchler (Hof) SPD SchrAntw PStSekr Dr. Hennig BMB 5058* A Anlage 5 Arbeitszeitverkürzung oder Einkommensausgleich für die Soldaten ab 1989 MdlAnfr 48, 49 15.04.88 Drs 11/2146 Gerster (Worms) SPD SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg 5058* B Anlage 6 Kritische Bundestagsreden und Anfragen von Dr. Manfred Wörner zum militärischen Tiefflug in den Jahren 1969 bis 1982 MdlAnfr 54, 55 15.04.88 Drs 11/2146 Müller (Pleisweiler) SPD SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg 5058* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1988 4931 74. Sitzung Bonn, den 21. April 1988 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 22. 4. Antretter 21. 4. Brandt 22. 4. Dr. Biedenkopf 22. 4. Dr. Dollinger 22. 4. Ebermann 22. 4. Frau Fischer 22. 4. Dr. Glotz 22. 4. Dr. Götz 22. 4. Dr. Haack 22. 4. Dr. Hauff 22. 4. Heinrich 22. 4. Irmer 22. 4. Frau Karwatzki 21. 4. Kittelmann* 21. 4. Dr. Klejdzinski 22. 4. Lüder 21. 4. Meyer 21. 4. Dr. Müller* 21. 4. Dr. Scheer 21. 4. Frau Schilling 22. 4. Dr. Schmude 22. 4. von Schmude 21. 4. Dr. Schneider (Nürnberg) 22. 4. Spilker 22. 4. Steiner 21. 4. Frau Dr. Vollmer 21. 4. Vosen 21. 4. Dr. Wieczorek 21. 4. Wischnewski 22. 4. Dr. Zimmermann 22. 4. *) für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Antwort des Staatsministers Schäfer auf die Fragen der Abgeordneten Frau Eid (DIE GRÜNEN) (Drucksache 11/ 2146 Fragen 12 und 13): Ist der Bundesregierung bekannt, daß die militärische Lage in Eritrea und der Provinz Tigrai sich entscheidend zugunsten der Befreiungsbewegungen verändert hat und dadurch sowohl die äthiopische Hilfsorganisation RRC als auch internationale Hilfsorganisationen die am stärksten vom Hunger betroffenen Regionen nicht mehr versorgen können? Ist die Bundesregierung gewillt, ihre Haltung zum Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea aufzugeben, wie sie in der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN vom 21 Juli 1986 dargelegt wurde, und ist sie deshalb gewillt, angesichts der Intensivierung des Krieges sich kurzfristig um einen Waffenstillstand und längerfristig um eine friedliche Lösung des Konfliktes zu bemühen? Zu Frage 12: Der Bundesregierung ist bekannt, daß die jüngsten Offensiven der äthiopischen Widerstandsbewegungen EPLF und TPLF in den Provinzen Eritrea und Tigre militärisch erfolgreich waren. Der Bundesregie - Anlagen zum Stenographischen Bericht rung ist auch bekannt, daß diese von den Widerstandsbewegungen trotz der gegenwärtigen Hungersnot in dieser Region gestarteten Offensiven die Versorgung der notleidenden Bevölkerung erheblich erschweren. So sah sich die äthiopische Regierung wegen der Eskalation des Bürgerkriegs und der angespannten Sicherheitslage gezwungen, ausländische Helfer aufzufordern, in ihrem persönlichen Sicherheitsinteresse Eritrea und Tigre vorübergehend zu verlassen und sich nach Addis Abeba zu begeben. Zu Frage 13: Nein. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die in ihrer Antwort zur Großen Anfrage vom 27. 2. 1986 der Abgeordneten Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN „Friedliche Lösung des Eritrea-Konflikts" dargelegte Haltung zu ändern. Die Bundesregierung hat sich stets in ihrem Dialog mit der äthiopischen Regierung und gemeinsam mit ihren europäischen Partnern für eine friedliche Konfliktlösung zwischen der äthiopischen Regierung und den Widerstandsbewegungen EPLF und TPLF eingesetzt (vgl. die gemeinsamen Erklärungen der Zwölf vom Juli 1986 sowie die Erklärung der Zwölf vom 18. Dezember 1987). Die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft gemeinsam mit ihren europäischen Partnern im Dialog mit der äthiopischen Regierung für eine politische Lösung des Eritrea-Konflikts einsetzen. Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Hennig auf die Fragen der Abgeordneten Frau Terborg (SPD) (Drucksache 11/2146 Fragen 26 und 27): Wenn es eine Kontingentierung von Übersiedlern aus der DDR gibt, nach welchen Kriterien wird sie vorgenommen? Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, daß das stillschweigende Akzeptieren einer möglicherweise einseitig von der DDR vorgeschriebenen Kontingentierung nicht im Einklang mit der im Grundgesetz verankerten Freizügigkeit, d. h. dem Recht aller Deutschen, sich in der Bundesrepublik Deutschland niederzulassen, steht? Zu Frage 26: Die DDR begrenzt von sich aus die Zahl der Übersiedlungen. Die Kriterien werden dabei ausschließlich von der DDR festgesetzt. Sie sind hier nicht bekannt, die andere Seite legt Wert darauf, insoweit nicht berechenbar zu sein. Gäbe es keine Kontingentierung von Ausreisen durch die DDR, müßte die Zahl der Übersiedler um ein Vielfaches höher sein. Die Bundesregierung hat, dies möchte ich ausdrücklich betonen, mit der Regierung der DDR keine Absprache über Begrenzungen getroffen. 5058* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1988 Zu Frage 27: Die Bundesregierung akzeptiert die Haltung der DDR auch nicht stillschweigend. Sie beachtet die im Grundgesetz für alle Deutschen verankerte Freizügigkeit und setzt sich für jeden übersiedlungswilligen Deutschen aus der DDR ein, der sie — direkt oder indirekt — um Hilfe bittet. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Hennig auf die Fragen des Abgeordneten Büchler (Hof) (SPD) (Drucksache 11/2146 Fragen 28 und 29): Treffen Angaben aus Kreisen der Evangelischen Kirche der DDR (u. a. Bischof Forck im Deutschlandfunk am 15. April 1988) zu, daß es zwischen Bundesregierung und DDR eine Absprache über die vierteljährliche Kontingentierung von Übersiedlern aus der DDR gibt? Steht die im Vergleich zu Vorjahren relativ niedrige Zahl von Übersiedlern aus der DDR im Zusammenhang mit einer solchen Absprache? Zu Frage 28: Die von Ihnen zitierten Angaben treffen nicht zu. Zwischen der Bundesregierung und der Regierung der DDR gibt es keine Absprachen über Kontingentierungen, also auch nicht über vierteljährliche, von Übersiedlern aus der DDR. Darauf haben schon in der vergangenen Woche nachdrücklich Frau Bundesminister Dr. Wilms, Herr Bundesminister Dr. Schäuble und der Regierungssprecher hingewiesen. Zu Frage 29: Da es die erwähnte Absprache nicht gibt, stehen die in den Jahren 1987 und 1988 gegenüber den Vorjahren reduzierten Übersiedlungen auch nicht in einem Zusammenhang damit. Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des Abgeordneten Gerster (Worms) (SPD) (Drucksache 11/2146 Fragen 48 und 49): In welcher Weise wird die Bundesregierung die für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland ab 1989 vereinbarte Arbeitszeitverkürzung auf Soldaten übertragen? Falls die Bundesregierung eine entsprechende Arbeitszeitverkürzung für Soldaten nicht vorsieht, in welcher Weise werden Soldaten für Einkommenseinbußen von ca. 2,5 Prozentpunkten entschädigt werden, die auf die Anrechnung der Arbeitszeitverkürzung auf prozentuale Einkommensanhebungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zurückzuführen sind? Zu Frage 48: Die Bundesregierung ist bestrebt, eine Lösung zu finden, die Soldaten nicht von der für den öffentlichen Dienst ab dem 1. April 1989 beschlossenen Arbeitszeitverkürzung ausschließt. Diese Lösung muß jedoch die Besonderheiten des militärischen Dienstes in angemessener Weise berücksichtigen. Zu Frage 49: Da für Soldaten eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung nicht vorgesehen ist, kann eine Arbeitszeitverkürzung entsprechend der Regelung im übrigen öffentlichen Dienst nicht erfolgen. Deshalb wird in Zusammenarbeit mit den Bundesministern der Finanzen und des Innern eine andere Lösung gesucht. Die Überlegungen dazu sind noch nicht abgeschlossen. Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des Abgeordneten Müller (Pleisweiler) (SPD) (Drucksache 11/2146 Fragen 54 und 55): In wie vielen Reden hat sich der derzeitige Bundesminister der Verteidigung zwischen 1969 und 1982 im Deutschen Bundestag kritisch mit dem militärischen Tiefflug beschäftigt? Wie viele kritische Fragen hat er in der Fragestunde des Deutschen Bundestages in demselben Zeitraum zum Thema „Tiefflug" gestellt? Diese Fragen berühren nicht den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, sondern sie richten sich an einen ehemaligen Abgeordneten dieses Hauses. Darüber hinaus reicht die Dokumentation des BMVg nicht so weit in die Vergangenheit, daß eine Beantwortung möglich wäre. Die nachgefragten Informationen können aber möglicherweise in Sach- und Sprechregistern des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages gefunden werden. Minister Dr. Wörner hat sich weit vor Antritt seiner jetzigen Aufgaben umfassend mit der Tiefflugproblematik auseinandergesetzt. Das ist aus den zahlreichen tiefflugeinschränkenden Entscheidungen, die wir ab 1983 getroffen haben, mehr als ersichtlich.
Gesamtes Protokol
Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107400000
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Bundesregierung vor dem Hintergrund neuester konjunktureller Daten (in der 72. Sitzung bereits erledigt)

2. Aktuelle Stunde: Finanzsituation der Bundesanstalt für Arbeit — Auswirkungen auf die aktive Arbeitsmarktpolitik
3. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik, dem Königreich der Niederlande und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über Inspektionen in bezug auf den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite
— Drucksachen 11/2033, 11/2174 —
4. Aktuelle Stunde: Auswirkungen der Vorhaben der Bundesregierung zur Strukturreform im Gesundheitswesen
Es soll zugleich, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, auf der Ehrentribüne haben die Quästoren des Europäischen Parlaments Platz genommen. Im Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich und wünsche Ihnen gute Gespräche in Bonn.

(Beifall — Dr. Apel [SPD]: Wer ist denn das?)

— Herr Kollege Apel, ich bin sehr gern bereit, Ihnen eine Aufklärung zu geben. Das Kollegium der Quästoren im Europäischen Parlament ist in etwa mit dem Ältestenrat des Deutschen Bundestages vergleichbar.

(Zuruf von der CDU/CSU: Und das wußten die nicht?)

Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Steuerreformgesetzes 1990
— Drucksache 11/2157 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Begünstigung von Zuwendungen an unabhängige Wählervereinigungen
— Drucksache 11/1316 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß (federführend)

Innenausschuß
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Vorlagen sechs Stunden vorgesehen. Die Mittagspause soll von 13 bis 14 Uhr stattfinden. Sind Sie damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Stoltenberg.

(Zuruf von der CDU/CSU: Als Abgeordneter!)

— Entschuldigung, es spricht der Herr Abgeordnete Dr. Stoltenberg.

(Dr. Apel [SPD]: Immer genau sein!)


Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107400100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf des Steuerreformgesetzes 1990, den die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag eingebracht haben, eröffnen wir heute die parlamentarische Beratung eines der bedeutendsten Reformvorhaben dieser Jahre.



Dr. Stoltenberg
CDU/CSU und FDP sind sich mit der Bundesregierung darin einig, daß wir ein gleichmäßigeres und gerechteres Steuersystem schaffen müssen, das für die ganz überwiegende Mehrzahl der arbeitenden Menschen und die Betriebe zu einer wesentlichen und vor allem auch dauerhaften Entlastung führen soll.
Der Begriff „Reform" ist in vergangenen Zeiten gelegentlich inflationiert und dadurch abgewertet worden. Hier ist er nach meiner Überzeugung gut begründet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich erwähne den bekannten Finanzwissenschaftler Professor Heinz Haller. Ihn berief mein sozialdemokratischer Vorgänger Dr. Alex Möller 1969 als Staatssekretär in das Bundesministerium der Finanzen,

(Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das waren noch Zeiten!)

und zwar für die Arbeiten an einer schon damals geplanten Neuordnung des Steuersystems, die politisch dann unter jenen Konstellationen leider nicht verwirklicht werden konnte. Professor Haller schrieb jetzt, vor wenigen Monaten, in der Wochenzeitung „Die Zeit" über unser Konzept — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — :
Die Tarifänderungen sind so markant, daß man ohne weiteres sagen kann: Es handelt sich um eine echte Steuerreform.
Meine Damen und Herren, wir gestalten den Einkommen- und Lohnsteuertarif neu. Wir erhöhen den Grundfreibetrag und den Kinderfreibetrag erheblich. Wir senken damit die Normalbesteuerung ganz beträchtlich. Wir beseitigen eine sehr große Zahl von Steuersubventionen und Ausnahmeregelungen, von Gestaltungsmöglichkeiten und damit auch manchen Ungereimtheiten des jetzigen Steuersystems.
„Niedrigere Tarife und weniger Ausnahmen" ist damit ein wesentliches Motto unserer Konzeption. Dieser Grundsatz als solcher findet ja breite Zustimmung, am stärksten in der Finanzwissenschaft. Er ist auch in vielen anderen westlichen Staaten bestimmend für bereits verwirklichte oder geplante Reformgesetze. Aber zugleich berührt er natürlich die Sonderinteressen von heute privilegierten Minderheiten, von zahlreichen Verbänden, deren Kritik während der Zeit der Entscheidungsfindung und -vorbereitung ja auch zahlreiche Schlagzeilen machte.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem der Deutsche Bundestag in seiner Verantwortung für alle Bürger

(Zuruf von der SPD: Für alle?)

insbesondere diskutieren und entscheiden wird, was dem Gemeinwohl dient.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt muß das gemeinsame Interesse — und das ist meine Bitte, mein Appell — Vorrang haben vor den Sonderinteressen, den special interests, die zeitweise sehr stark die Diskussion überlagerten, jetzt muß das Interesse der ganz überwiegenden Mehrzahl der arbeitenden Menschen, also der Selbständigen ebenso
wie der Arbeitnehmer, Vorrang haben vor Privilegien.
Meine Damen und Herren, die Steuerreform gründet sich auf vorhergehende steuerpolitische Entscheidungen der vergangenen fünf Jahre. Wir haben bereits mit der wesentlichen Verbesserung der Tarifstruktur, der stärkeren Berücksichtigung der Familien und der Erhöhung des Grundfreibetrages begonnen. 1986 wurden vor allem die Eltern mit Kindern und die Bezieher unterer Einkommen entlastet. 1988 erfolgte eine erste spürbare Verbesserung durch die Absenkung des Tarifs in der Progressionszone. Zusammen mit der ebenfalls erfolgten Erweiterung der Abschreibungsbedingungen für Wirtschaftsgebäude führte dies in kurzer Zeit zu einer Steuersenkung um fast 30 Milliarden DM jährlich. — Das ist schon in Kraft getreten. Das wird zu einem wesentlichen Teil in diesem Jahr zunehmend für die Bürger auch erfahrbar.
1990 soll nun vor allem durch den neuen sanft ansteigenden linearen Progressionstarif, durch eine erneute Erhöhung der erwähnten Freibeträge und durch die Absenkung des Eingangs-, des Höchst- und des Körperschaftsteuersatzes auf einbehaltene Gewinne eine wesentlich weiterreichende qualitative Neuordnung bringen. Auf Grund der Erweiterung der Bemessungsgrundlage, also einer gleichmäßigeren Besteuerung, und speziell des Abbaus von Steuersubventionen werden rund 19 Milliarden DM ausgeglichen.
Meine Damen und Herren, wir haben uns auf dem langen Weg der vorbereitenden Diskussionen im wesentlichen mit zwei prinzipiellen Einwänden auseinandersetzen müssen, die auch heute noch die öffentliche Debatte mitbestimmen. Die einen sagen, diese Steuerreform bringe zuwenig für die Unternehmen, für die Selbständigen,

(Zuruf von der SPD: Wer sagt denn so was?)

also die Voraussetzungen für höhere private Investitionen. Sie sei, so wird gesagt, zu einseitig auf die Entlastung bei der Einkommen- und Lohnsteuer angelegt. Abweichend, teilweise im Gegensatz dazu, behaupten andere, die Steuerreform verwirkliche eine Umverteilung zugunsten der Reichen, der Unternehmer, der Bezieher hoher Einkommen.

(Beifall bei der SPD)

Diese vor allem von der sozialdemokratischen Opposition und der Frau Kollegin von den GRÜNEN immer wieder vertretene Behauptung ist unzutreffend.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD und den GRÜNEN)

Sie ist durch Tatsachen und Argumente zu widerlegen.

(Dr. Apel [SPD]: Ja, darüber reden wir gleich!)

— Gut. Tatsachen, Herr Apel! Wir fangen jetzt an. Ja, darüber werden wir heute sicher noch intensiv debattieren. Fangen wir mit den Tatsachen an!



Dr. Stoltenberg
Rund 500 000 Bezieher kleiner Einkommen fallen durch die Reform aus der Steuerpflicht völlig heraus. Tatsachen, Herr Apel!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das steuerfreie Arbeitseinkommen wird in dieser Zeit, also von 1985 bis 1990, für Verheiratete mit zwei Kindern von 13 955 DM auf 23 644 DM erhöht, für Ledige von 12 929 auf 16 195 DM. Um diese Tatsachen noch anschaulicher zu machen: Verheiratete Arbeitnehmer mit drei Kindern mußten bei einem Bruttojahresverdienst von 26 000 DM 1985 noch 2 092 DM Lohnsteuer zahlen; 1990 zahlen sie nach diesem Konzept überhaupt keine Lohnsteuer oder Einkommensteuer mehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei einem Bruttoverdienst von 42 000 DM wurden bei ihnen 1985 noch 5 084 DM Lohnsteuer abgeführt; 1990 sind es nur noch 2 334 DM. Die Entlastung beträgt hier also über 54 %. Das ist Ausdruck einer familienfreundlichen und sozialen Steuerpolitik, die wir verwirklichen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Amling [SPD]: Sagen Sie, wieviel ein Bundesminister mehr hat!)

Ledige ohne Kinder werden in derselben Zeit bei einem Jahresverdienst von 26 000 DM um 701 DM und bei einem Jahreseinkommen von 42 000 DM um 1 993 DM entlastet.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Und Sie?)

Auch bei denen, die punktuell durch den Abbau von Steuervergünstigungen berührt sind, führt dies im Ergebnis zu einer spürbaren Verbesserung.
Mit steigendem Einkommen gehen die Entlastungsbeträge prozentual spürbar zurück. Natürlich steigt bei höheren Einkommen die absolute Entlastungswirkung, der absolute Entlastungsbetrag. Diese für viele Kollegen der SPD so erregende Sache, diese Folge der Progressionswirkung gab es, meine Damen und Herren der sozialdemokratischen Fraktion, übrigens auch bei den begrenzten, vergleichsweise bescheidenen Entlastungsmaßnahmen, die Sie in Ihrer eigenen Regierungszeit durchgeführt haben. Die letzte von der Regierung Schmidt initiierte Steuersenkung, die des Jahres 1981, führte beispielsweise zu folgenden Verteilungswirkungen. Damals — sozialdemokratischer Bundeskanzler, sozialdemokratischer Finanzminister, die Herren Kollegen Vogel und Apel als Mitglieder des Kabinetts — haben Sie folgendes beschlossen — ich will das einmal vortragen: Bei einem zu versteuernden Einkommen von 40 000 DM ergab sich für Verheiratete ein Entlastungsbetrag von 160 DM jährlich, bei einem zu versteuernden Einkommen von 100 000 DM wurde die Einkommensteuer um 1 844 DM gesenkt. Das ist die Folge der Progressionswirkung; das trifft zu. Aber bei solchen Resultaten sozialdemokratischer Steuerpolitik können wir heute den Wettbewerb auch über die sozialen Wirkungen unserer Steuerpolitik mit Ihnen sehr gut aufnehmen und bestehen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107400200
Herr Abgeordneter Stoltenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Apel?

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107400300
Ja, bitte sehr. Dr. Apel (SPD): Herr Bundesminister

(Zurufe von der SPD: „Herr Kollege"!)

— laßt doch das Theater! —, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, wenn wir schon historische Betrachtungen anstellen, daß wir damals in einer Koalition mit der FDP waren — —

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

— Natürlich.

(Anhaltendes Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107400400
Ich bitte, den Fragesteller seine Frage stellen zu lassen.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107400500
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir erstens in einer Koalition mit der FDP waren und, Herr Kollege Stoltenberg, was sehr viel gravierender für die Steuerpolitik von dreizehn Jahren sozialliberaler Koalition war, daß wir stets im Bundesrat — und der Bundesrat muß bei jeder steuerpolitischen Maßnahme zustimmen — eine Mehrheit der CDU/CSU hatten, die uns immer wieder in Kompromisse gezwungen hat, die keineswegs akzeptabel waren?

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU)

Dr: Stoltenberg (CDU/CSU): Herr Kollege Apel, mir ist wie uns allen erinnerlich, daß Sie in einer Koalition mit der FDP waren. Ich bin aber davon überzeugt, daß Sie und Ihre Freunde die Grenze der Kompromisse da gesehen haben, wo es um elementare Grundüberzeugungen ging. Das gehört ja auch zu einer Koalition. Gegen Ihre elementaren Grundüberzeugungen werden Sie also nicht gehandelt haben, wenn das die Ergebnisse der Politik waren.
Richtig ist, daß es vor allen in jenen Jahren immer wieder zu intensiven Vorverhandlungen und gelegentlich auch Verhandlungen im Vermittlungsausschuß zwischen Bundestag und Bundesrat gekommen ist.

(Poß [SPD]: Da waren Sie beteiligt!)

— Ja, natürlich. Ich will das gerne sagen. Ich beantworte die Frage ganz ruhig, Herr Poß.
Da ich selbst, wie Sie sich erinnern werden, auch in Gesprächen mit Ihnen die Verhandlungen sehr stark mit geführt und gestaltet habe, will ich aber auch eines sagen: Wir haben nach meiner Erinnerung bei den Vorschlägen der Regierungen Brandt und Schmidt über die Tarifstruktur niemals schwere Konflikte gehabt. Die Meinungsverschiedenheiten bezogen sich auf andere Teile der Gesetzgebung. Ich kann mich nicht erinnern, daß damals, als Sie in der Regierungsverantwortung waren, sozialdemokratische Finanzminister die von mir beispielhaft geschilderten Folgen der Progressionswirkung bestritten oder so be-



Dr. Stoltenberg
handelt haben, wie einige von Ihnen das heute in der öffentlichen Debatte tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nein, Herr Kollege Apel, die Erinnerung soll ja zur Versachlichung beitragen. Sie haben das sicher nicht vergessen, und manche, die es bei Ihnen nicht mehr wissen, können es sich noch einmal veranschaulichen.
Der Unterschied zwischen Ihren Steuergesetzen und dem, was wir heute machen, liegt nicht nur in der Größenordnung der Entlastung, die heute wesentlich weiter geht, er liegt auch darin, daß wir erstmals das tun, was Alex Möller schon wollte und in jener Zeit mit seinen Freunden nicht durchsetzen konnte: auf breiter Front Steuersubventionen und Sonderregelungen, Ausnahmetatbestände abbauen. Damit tun wir in Wahrheit genau das Gegenteil von dem, was Sie und Ihre Freunde behaupten. Wir verringern nämlich durch den Abbau von Steuersubventionen und Ausnahmevorschriften für sehr reiche privilegierte Mitbürger massiv die Möglichkeit zu Steuerersparnissen. Das ist der Unterschied in der Politik, den man beachten muß.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Denn, Herr Apel, auch beim Abbau von Steuersubventionen kommt die Progressionswirkung zur Geltung. Wenn wir das auf breiter Front tun, werden nämlich die Steuervermeidungsmöglichkeiten für gut verdienende Mitbürger damit beschnitten.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107400600
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Apel?

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107400700
Ich würde gerne an dieser Stelle fortfahren, Herr Apel, weil ich fürchte, daß die folgenden Redner, auch Sie sonst, in der Zeit leiden würden. Vielleicht ist nachher noch einmal Gelegenheit.
Meine Damen und Herren, von größter Bedeutung sind die anhaltenden Wirkungen des neuen Reformtarifs. Die genannten Entlastungsbeispiele und andere stellen immer nur eine Momentaufnahme dar. Zu den schwersten Nachteilen der Entwicklung der letzten Jahrzehnte gehört aber die dramatisch angestiegene Grenzbelastung für die große Mehrzahl der arbeitenden Menschen. Der überkommene Steuertarif und höhere Sozialversicherungsbeiträge führten dazu, daß den meisten Berufstätigen bei Einkommenserhöhungen als Folge beruflichen Aufstiegs, als Folge von mehr Leistung, oder auch von Tarifverträgen 45, 50, in nicht wenigen Fällen über 60 % des Mehreinkommens wieder abgenommen wurden. Das ist nach meiner Überzeugung untragbar. Das muß im Interesse der Anerkennung ehrlicher beruflicher Arbeit geändert, grundlegend verbessert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir tun dies. Bisher stieg z. B. diese Grenzbelastung, also die Belastung von Mehrverdienst und höheren Löhnen, bei den Einkommen der Ledigen zwischen 18 000 und 60 000 DM von 22 % auf über 50 % an. In
Zukunft wird sie nur noch in einer sanfteren Kurve auf knapp 35 % zunehmen.
1960 wurden 5 % der Berufstätigen nach den Sätzen der Progressionszone besteuert, 1970 waren es rund 20 %, 1990 werden es rund zwei Drittel sein und noch in diesem Jahrhundert wahrscheinlich über 80 %. Wir haben also das erlebt — von der breiten politischen Debatte kaum beachtet — , was ein bekannter Journalist einmal als den „Marsch der Arbeitnehmer in und durch die Progressionszone " beschrieben hat. Aber in den letzten drei Jahrzehnten ist unser Steuersystem diesen grundlegenden Veränderungen überhaupt nicht angepaßt worden, und zugleich haben die nominal erheblich gestiegenen Durchschnittseinkommen während sehr langer Zeit durch überhöhte Inflationsraten an Wert verloren. Jetzt, in einer Periode wiedergewonnener Geldwertstabilität, vollziehen wir im Interesse der arbeitenden Menschen endlich die überfällige Neuordnung und Reform.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu dem anderen Einwand will ich folgendes sagen. Zweifellos gibt es auch mit Blick auf die Gesetzgebung anderer Staaten gute Argumente für eine noch stärkere Senkung spezifischer Unternehmensteuern. Aber unsere Kritiker aus diesem Bereich — deren Stimmen wir ja auch vernehmen — , sollten einige Tatsachen nicht vergessen. Wir haben seit 1983 eine Reihe wichtiger Schritte zur Verringerung der Unternehmensteuern beschlossen.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

90 % der Betriebe, vor allem die des Mittelstandes, sind Personenunternehmen; für sie ist die Einkommensteuer, die grundlegend verringert wird, zugleich die wichtigste Unternehmensteuer. Zur Unternehmensbesteuerung werden wir für die kommende Wahlperiode weitere Entlastungen sorgfältig vorbereiten. Ich rate auch von einem Wettbewerb vorschneller Ankündigungen ab. Aber wir müssen diese Entlastungen vornehmen.
Meine Damen und Herren, von den Vorschlägen zur Erweiterung der Bemessungsgrundlage, also für eine gleichmäßigere Besteuerung, hat die vorgesehene Einführung der kleinen Kapitalertragsteuer auf Zinseinkünfte besonders vielfältige Debatten ausgelöst. Für die rund 6 Millionen Mitbürger, darunter immer mehr Arbeitnehmer, die an Risikokapital, vor allem also an Investmentfonds und Aktien, beteiligt sind, ist es selbstverständlich, daß auf Dividenden 25 % Kapitalertragsteuer einbehalten werden als eine traditionelle Form der anrechnungsfähigen Vorwegerhebung. Die jetzt mit einem Satz von 10 % konzipierte Erweiterung ändert für diejenigen, die ihre Zinseinkünfte aus Anlagen bei Kreditinstituten ordnungsgemäß versteuern, im Ergebnis nichts. Sparbücher mit gesetzlicher Kündigungsfrist sollen zudem ausgenommen werden. Bei den Lebensversicherungen bleiben die zum Aufbau der vereinbarten Versicherungssumme wesentlichen rechnungsmäßigen Zinsen vollkommen unberührt. Das Bankgeheimnis bleibt voll gewahrt. Wir wollen den Kernbereich des sogenannten Bankenerlasses ausdrücklich gesetzlich verankern.



Dr. Stoltenberg
Hier, meine Damen und Herren, und in der Höhe des Satzes liegt der grundlegende Unterschied zu den bekannten, von uns Anfang der 80er Jahre kritisierten Überlegungen meiner sozialdemokratischen Vorgänger. Wir bleiben bei einem Satz von 10 %, auch wenn dies eine Differenzierung zu der erwähnten Regelung bei den Dividendeneinkünften darstellt, weil wir auf die Kapitalmarktbewegungen achten müssen.
Die meisten Länder der Europäischen Gemeinschaft haben eine höhere Kapitalertragsteuer auf Zinsen, als wir sie planen. Österreich führt sie soeben ein. In der Schweiz beträgt sie in der Regel 35 %. Dennoch ist gerade die Schweiz besonders attraktiv für viele ausländische Kapitalanleger. Eine vertrauensbildende und eine geldwertstabilitätsfördernde Politik der Bundesregierung und der Bundesbank ist auch in Zukunft der entscheidende Faktor für die Anziehungskraft der Bundesrepublik aus der Sicht der Sparer wie der internationalen Kapitalanleger. Ich will das zu vielen Sorgen der Banken und anderer hier ausdrücklich sagen.
Manche Bürger sind durch die Diskussion über die kleine Kapitalertragsteuer daran erinnert worden, ihre Zinseinkünfte, die sie bisher in der Regel ohne Unrechtsbewußtsein nicht angegeben haben, jetzt ordnungsgemäß zu versteuern.

(Lachen bei der SPD)

— Ich spüre das ja. Ich spüre an vielen Briefen, daß das viele Menschen beschäftigt. — Also wenn Sie darüber lachen: Lesen Sie einmal den eindrucksvollen Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem vergangenen Jahr zu dieser Frage.

(Abg. Westphal Zwischenfrage)

Lesen Sie ihn einmal, Herr Kollege Westphal, dann werden Sie erkennen, daß diese Einschätzung richtig ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107400800
Würden Sie mir gestatten, trotzdem über „ohne Unrechtsbewußtsein" zu lachen? Was haben Sie eben gesagt?

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107400900
Ja, Herr Kollege Westphal, ich bin davon überzeugt, daß es viele Sparer gibt
— ich sage das auch auf Grund vieler Briefe und persönlicher Gespräche — , die bisher ihre Zinsen nicht versteuern und das bis jetzt ohne Unrechtsbewußtsein getan haben.

(Westphal [SPD]: Ich habe mehr an die großen Banken gedacht!)

— Nein, wir denken dann vielleicht an verschiedene Personenkreise.

(Lachen bei der SPD)

— Ja, ja, ich denke hier mehr an die kleinen Sparer — was heißt schon „kleine Sparer"? —, an die Sparer aus allen möglichen sozialen Gruppen, die wir nicht unter die Rubrik der großen einordnen können.
Weil wir dies so einschätzen — übrigens in Übereinstimmung mit dem Bundesrechnungshof, der das ähnlich beschrieben hat —, wollen wir diesen Bürgern durch unser Gesetz für eine begrenzte Zeit — zwei, drei Jahre — den Weg in die Steuerehrlichkeit eröffnen, ohne daß sie mit Steuerstrafen rechnen müssen. Ich halte das für richtig.
Man muß sich das überlegen. Man kann — so war es 25 Jahre lang die Praxis in dieser Republik — einen solchen im Grunde unerträglichen Zustand zur Kenntnis nehmen, ohne etwas zu tun. Ich halte es für unerträglich, daß — ich weiß es nicht — 35 %, 40 %, vielleicht 50 % der Bürger ihre Zinseinkünfte ordentlich, wie es das Gesetz vorschreibt, deklarieren und mindestens 50 % es nicht tun. Ich halte das im Interesse derer, die es tun, für unakzeptabel. Deswegen müssen wir das thematisieren und den anderen einen Weg weisen, wie sie sich steuerehrlich machen können. Das ist meine Überzeugung, meine Damen und Herren. Das tun wir.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107401000
Herr Abgeordneter Stoltenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Huonker?

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107401100
Bitte, aber als letzte Zwischenfrage wegen der Zeit, gerne.

Gunter Huonker (SPD):
Rede ID: ID1107401200
Herr Abgeordneter Stoltenberg, können Sie bestätigen, daß wir Sozialdemokraten jahrelang auf diesen Mißstand hingewiesen haben, daß wir Vorschläge gemacht haben und deswegen von Ihnen so sehr beschimpft worden sind, daß das keiner von uns bis zum heutigen Tag vergessen kann? Können Sie mir erklären, warum Sie, an uns gewandt, diese Ausführungen machen? Können Sie weiterhin bestätigen, daß die eigentlichen Adressaten dieser Ausführungen Ihre Parteifreunde und möglicherweise Sie selbst sein müßten?

(Beifall bei der SPD)


Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107401300
Nein, das bestätige ich Ihnen in dieser Form nicht, Herr Kollege Huonker. Wenn ich etwas übersehen habe, können Sie es nachher richtigstellen. Nach meiner Erinnerung bin ich der erste Bundesminister, der einen konkreten Vorschlag im Kabinett eingebracht hat, der dem Deutschen Bundestag zur Beratung vorliegt. Nach meiner Erinnerung bin ich auch der erste Bundesminister, der einen Weg beschrieben hat, den ich unter das Vorzeichen stelle: Hin zur Steuerehrlichkeit. Aber wenn ich etwas übersehen habe, lasse ich mich gerne belehren.
Meine Damen und Herren, insgesamt wird das Steuerrecht mit dem vorliegenden Reformkonzept in rund 60 Einzelpunkten geändert. Zwei in der Anwendung besonders komplizierte Gesetze, das Investitionszulagengesetz und das Auslandsinvestitionsgesetz, sollen entfallen. Parallel dazu sehen wir eine verstärkte Förderung des Zonenrandgebietes durch eine Verbesserung der steuerlichen Regelung im Zonenrand-Erlaß und eine erhebliche Aufstockung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe vor.
Eine wesentliche Erleichterung im Lohn- und Einkommensteuerverfahren erreichen wir durch die Einführung einer Arbeitnehmerpauschale in Höhe von 2 000 DM. In diesem neuen Pauschbetrag werden der bisherige Werbungskostenpauschbetrag von 564 DM, der Arbeitnehmerfreibetrag von 480 DM und der



Dr. Stoltenberg
Weihnachtsfreibetrag von 600 DM zusammengefaßt und aufgestockt. Etwa 75 % der Arbeitnehmer werden ihre Werbungskosten künftig nicht mehr gesondert zu ermitteln und dem Finanzamt nachzuweisen haben. Zur Vermeidung von Nachteilen für Fernpendler soll in diesem Zusammenhang die Kilometerpauschale für Pkw-Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitstätte von bisher 36 auf 50 Pf je Entfernungskilometer angehoben werden.
Im Zusammenhang damit steht die sogenannte 13/12-Regelung, die wir vorschlagen. Herr Kollege Huonker, Sie haben sie kräftig kritisiert. Ich will Ihnen unsere Motive sagen. Wenn wir vorsehen, faktisch die Einkommen von 12 Monaten — es ist ja meistens das 13. Monatsgehalt dabei — auf 13 zu verteilen, dann hat das einen einzigen Grund: Wir möchten die massive Progressionswirkung des Weihnachtsgeldes, des 13. Gehaltes, im Interesse der Steuerpflichtigen mindern. Es ist nicht zutreffend — das ist nicht von Ihnen gesagt worden, Herr Apel, aber von anderen —, daß dadurch eine Mehrbelastung für den Steuerpflichtigen oder Mehreinnahmen für den Fiskus entstehen.

(Dr. Apel [SPD]: Aber natürlich!)

Das ist nicht der Fall. Ich will das nur kurz anführen, damit Sie unsere Position kennen, bevor Sie sie kritisieren.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107401400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Huonker?

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107401500
Nein, ich möchte jetzt gerne im Blick auf die Geschäftslage des Hohen Hauses — nur deswegen, Herr Huonker — fortfahren.
Der Steuervereinfachung dienen ferner die Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung für Kleinstunternehmen und die Beseitigung des Lohnzettelverfahrens, das die Arbeitgeber bisher verpflichtete, in einer Vielzahl von Fällen Lohnzettel auszustellen und bei den für die Arbeitnehmer zuständigen Finanzämtern einzureichen.
Ein ganz entscheidender Schritt zur Verwaltungsvereinfachung und auch zur Steuervereinfachung ist die Neuregelung der Vermögensbildung. Von Bedeutung ist hier u. a., daß die Arbeitnehmersparzulage nicht mehr zwölfmal im Jahr, sondern in Zukunft einmal jährlich vom Finanzamt an den Arbeitnehmer ausgezahlt werden soll. Schließlich gehört zum Thema Steuervereinfachung auch die Verdoppelung des Trinkgeldfreibetrages von 1 200 auf 2 400 DM hinzu, der den Belegschaftsrabatten angepaßt wird und Verwaltungsvorgänge in erheblichem Maße vermeidbar macht.
60 Punkte, meine Damen und Herren, schlagen wir zur Neuregelung vor. Diese weitreichende Umgestaltung unseres Steuerrechtes vorzubereiten erforderte eine Vielfalt von Abstimmungsgesprächen und von Einzelentscheidungen für die Ausgestaltung politischer Vorgaben. Ich danke insbesondere den Kolleginnen und Kollegen der Arbeitskreise der beiden Koalitionsfraktionen wie auch meinen beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Finanzministerium für ihre wertvollen Beiträge und eine eindrucksvolle Arbeitsleistung. Selbstverständlich wird im Gesetzgebungsverfahren die konkrete Ausgestaltung mehrerer Punkte weiter zu erörtern sein. Zu einigen besonders diskutierten Problemen möchte ich noch folgendes bemerken.
Aus Rechtsgründen, die vor allem in eindringlichen Hinweisen des Bundesrechnungshofes dargelegt wurden, ist eine gesetzliche Regelung bei den sogenannten Belegschaftsrabatten geboten. Wir sehen hier einen Freibetrag von 2 400 DM vor. Dies bringt für die sehr große Mehrzahl der Arbeitnehmer, die solche Rabatte in Anspruch nehmen, keine Veränderung. Zu einer gewissen Einschränkung führt diese Regelung für einen Teil der Arbeitnehmer der Automobilindustrie, wo an manchen, an bestimmten Orten sehr hohe steuerfreie zusätzliche Einkommen erzielt werden. Über einen ergänzenden Abschlag vom Einzelhandelspreis, den wir mit 3 % vorsehen, wird zunächst im Bundesrat weiter diskutiert.
Zu einer ganz erheblichen Auseinanderentwicklung ist es vor allem auf Grund sehr unterschiedlicher tarifvertraglicher Vereinbarungen bei der Besteuerung von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit gekommen. Wir wollen die im Steuerrecht jetzt schon bestehenden Obergrenzen für nicht gesetzlich, aber tarifvertraglich geregelte steuerfreie Lohnzuschläge mit bestimmten Verbesserungen, die wir vorsehen, allgemein verbindlich machen. Für die Anpassung sehen wir bei einer relativ kleinen Zahl von Arbeitnehmern, die heute bis zu einem Drittel ihres Gesamteinkommens steuerfrei erhalten, eine lange Übergangsfrist vor.
Intensive Diskussionen gab es schließlich auch über die Ausgestaltung von § 34 des Einkommensteuergesetzes, also die Steuerbegünstigung für Veräußerungsgewinne von Unternehmen. Wir wollen die geltende Regelung bis zu einem Veräußerungsgewinn von 2 Millionen DM beibehalten. Das heißt: In rund 99 % der Veräußerungsfälle — und das sind die typischen Fälle im Mittelstand und bei den kleinen Selbständigen — ändert sich gegenüber dem geltenden Recht nichts. Nach einer Zwischenstufe soll aber dann bei Veräußerungsgewinnen ab 5 Millionen DM die Vollversteuerung einsetzen. Wir ziehen damit, wie manche aus allen Fraktionen wissen, eine Konsequenz aus einigen kritisch diskutierten Einzelfällen der jüngsten Zeit. Herr Kollege Apel: Es sind nicht die Mittelständler und die kleinen Leute, die durch diese Neuregelung daran gehindert werden sollen, unverdient große Steuervorteile zu erhalten. Das sind nun wirklich große Vermögens- und Einkommensbesitzer. Dieses Beispiel zeigt schon, daß wir ungerechtfertigte Privilegien abbauen und Schlupflöcher schließen wollen, vor allem auch bei denen, die über sehr große Einkommen und Vermögen verfügen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das können Sie bei Ihren weiteren Würdigungen nach der heutigen Debatte vielleicht einmal etwas stärker berücksichtigen.
Eine wichtige Maßnahme zum steuerlichen Subventionsabbau im Unternehmensbereich ist schließlich die Einschränkung der Übertragungsmöglichkeiten bei stillen Reserven nach § 6 b Einkommensteuergesetz. Die mit Wirkung ab 1982 erfolgte Ein-



Dr. Stoltenberg
schränkung auf 80 % soll künftig grundsätzlich 50 betragen. Die Übertragungsmöglichkeit bei Veräußerung von Kapitalanteilen auf die Anschaffungskosten von Anteilen an Kapitalgesellschaften wird ganz entfallen. Lediglich Betriebsverlagerungen sollen — wie bisher — in vollem Umfang begünstigt sein. Von der Einschränkung sind deshalb Gewinne nicht betroffen, die bei der Veräußerung von bebauten oder unbebauten Grundstücken entstehen.
Erwähnen möchte ich schließlich die im Mineralölsteuergesetz vorgesehene Neuregelung der Besteuerung von Flugbrennstoffen. Das hat Emotionen geweckt. Deswegen ist es gut, einmal an die Geschichte zu erinnern: Bis 1981 waren sie von der Mineralölsteuer uneingeschränkt befreit. Damals hat mein Vorgänger, Hans Matthöfer, versucht, eine allgemeine Besteuerung der Inlandsflüge herbeizuführen. Auf Grund erheblicher Widerstände kam es jedoch nur zu einer kleinen Teillösung für mittelständische Unternehmen wie Flugtaxis oder Pilotenschulen sowie die vieldiskutierten Privatflieger. Das heißt: 96 % der Flugbrennstoffe sind heute steuerfrei, 4 % steuerpflichtig mit einem Aufkommen von jährlich 15 Millionen DM.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist wirklich absurd!)

Wir wollen deshalb, weil dies in der Abgrenzung nicht überzeugend ist, auf die Mineralölsteuerbefreiung zurückkommen, wie sie bis 1981 geltendes Recht war.

(Zuruf von der SPD: Nein, weil Strauß es so will! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Dabei können Sie sich ja erregen, darüber können wir diskutieren. Aber man muß jedenfalls einmal an die Fakten erinnern, wie es war und wie es gekommen ist, wenn man eine solche Diskussion führen will.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch der unabhängige Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister der Finanzen hat in seinem Gutachten vom 11. Januar 1988 einige Hinweise auf noch zu diskutierende Punkte gegeben.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107401600
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107401700
Herr Kollege Westphal, ausschließlich mit Blick auf die Zeit und die Redewünsche der anderen Kollegen möchte ich jetzt keine Zwischenfragen mehr beantworten.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107401800
Das gilt jetzt grundsätzlich, Herr Abgeordneter?

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107401900
Ja, ich möchte mit Blick auf die Terminlage jetzt gern fortfahren. — Aber, Herr Kollege Apel, wenn ich auf dieses bedeutende Gremium unabhängiger Finanzwissenschaftler und Nationalökonomen verweisen darf: Ermutigt hat mich, der ich Ihre harten Attacken ständig im Ohr habe, schon sehr die zusammenfassende Gesamtbeurteilung dieses Gremiums international angesehener Wissenschaftler. Der Beirat schreibt nämlich — Sie kennen ja aus Ihrer Amtszeit noch einige seiner ausgezeichneten Mitglieder — folgendes — ich zitiere — :
Die jetzt gefaßten Beschlüsse heben sich wohltuend von den bisherigen, weitgehend vergeblichen Versuchen ab, Steuersubventionen zu reduzieren. Hier ist viel mehr gelungen, als allgemein erwartet worden war.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich die Gewichte in unserem Steuersystem immer stärker in Richtung auf die direkte Belastung der Arbeitnehmereinkommen und der unternehmerischen Gewinne verschoben. Während das Verhältnis von direkten zu indirekten Steuern in den 50er Jahren in etwa ausgeglichen war, beträgt der Anteil der direkten Steuern auf Arbeit und unternehmerische Tätigkeit heute fast 60 %. Das muß geändert werden, wenn wir grundlegend bessere Voraussetzungen für mehr Beschäftigung, für mehr bezahlbare Arbeit und für mehr private Investitionen schaffen wollen. Auch deshalb ist eine vergleichsweise geringfügigere Anhebung einzelner indirekter Steuern als Ausgleich für die Mehraufwendungen des Bundes an die Europäische Gemeinschaft kein Systembruch in unserer Steuerpolitik, die im Gesamtergebnis aller Maßnahmen zu einer spürbar niedrigeren Steuerquote führen wird.
Meine Damen und Herren, wir müssen in unseren steuerpolitischen Debatten viel stärker, als dies in den letzten 12 Monaten der Fall war, die internationale Entwicklung bei unseren Nachbarn, bei unseren Partnern, d. h. aber zugleich auch bei unseren Wettbewerbern einbeziehen. Wir treten hier in Übereinstimmung vor allem mit den wirtschaftspolitischen Sprechern der sozialdemokratischen Fraktion entschieden für den europäischen Binnenmarkt, für ein offeneres internationales Wirtschafts- und Handelssystem über Europa hinaus ein. Wir verhandeln im GATT über eine weitere Öffnung der Märkte weltweit. Deshalb stehen wir auch, was künftige arbeitsplatzschaffende Investitionen anbetrifft, in einem sich verstärkenden weltweiten Wettbewerb der Steuersysteme.
Andere Länder sind, wie ich schon kurz erwähnte, vorangegangen. Sie haben zum Teil eine noch deutlichere Absenkung der Steuersätze beschlossen. So verwirklicht z. B. Großbritannien zur Zeit einen Einkommensteuertarif mit nur noch zwei Stufen: einem Basissatz von 25 % und einem weiteren Satz von 40 %.

(Zuruf von der SPD)

Der Körperschaftsteuersatz wurde dort schon vor einiger Zeit auf 35 % zurückgenommen.
Weil aus den Reihen der SPD der Zwischenruf „Tones" oder „Thatcherismus" kam, will ich auf ein anderes Land verweisen: Der sozialistische Finanzminister unseres Nachbarlandes Österreich, mein Kollege Lacina, hat soeben ein Steuerkonzept vorgelegt, in dem der Höchstsatz der Einkommensteuer von bisher 62 auf 50 % verringert werden soll, als Eckpunkt einer deutlichen Tarifabsenkung durch alle Einkommensstufen.



Dr. Stoltenberg
Die Mindereinnahmen sollen dort durch einen noch drastischeren Abbau von Steuersubventionen und Sonderregelungen, also durch eine noch weitergehende Erweiterung der Bemessungsgrundlage und die Anhebung einzelner indirekter Steuern, einzelner Verbrauchsteuern, voll ausgeglichen werden. Das österreichische Konzept ist aufkommensneutral. Wir sagen: in der dritten Stufe knapp 40 Milliarden DM brutto, davon 20 Milliarden DM echte Nettoentlastung. Die Österreicher — in einer kritischeren Haushaltslage — sagen: Wir können uns Steuersenkungen nicht leisten, wir müssen aber trotzdem die Steuerreform machen.
Ich sage Ihnen ganz offen: Für den hypothetischen Fall, daß wir keinen Spielraum für Steuersenkungen gehabt hätten, hätten wir nach meiner Überzeugung auch den Weg gehen müssen, die Steuerrefom zu machen und notfalls nur durch Umschichtung auszugleichen. Unser Steuersystem ist so reformbedürftig, daß gehandelt werden muß. Wenn wir es dann mit Steuersenkungen verbinden können — um so besser für die Steuerzahler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In anderen wichtigen Partnerländern wie in Frankreich, Kanada, Japan, Italien, Schweden und den Niederlanden werden ebenfalls umfassende Reformtarife und weitreichende Bereinigungen des Steuerrechts verwirklicht.
Die deutsche Sozialdemokratie sollte sich nicht weiter abseits stellen. Sie sollte den internationalen Trend eines moderneren, gerechteren und wettbewerbsfähigen Steuerrechts erkennen und mitgestalten, statt weiter, Herr Apel, im wesentlichen falsche Parolen gegen unsere Reformpläne zu verbreiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir setzen dabei auf Erneuerungsfähigkeit, auf Stetigkeit und dauerhafte Wirkungen. Wir haben ein langfristiges Konzept und verwirklichen es Schritt für Schritt. Wir haben durch nachhaltige Begrenzung der öffentlichen Ausgaben den Staatsanteil von fast 50 auf heute 46,8 % zurückgeführt. Wir begrenzen die steigende Abgabenlast — Stichwort Gesundheitsreform. Wir gehen voran; Privatisierung und Deregulierung sind Stichworte. Wir stellen uns anderen großen Aufgaben wie der Rentenstrukturreform.
Zweifellos lassen sich nicht immer alle Ziele zur selben Zeit und in gleichem Maße realisieren. So muß im Zusammenhang mit der umfassendsten Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik von insgesamt fast 50 Milliarden DM in drei Stufen ein gewisser Anstieg bei der Neuverschuldung hingenommen werden, der in diesem Jahr durch unvorhergesehene Entwicklungen beim Bundesbankgewinn, durch höhere Steuerabführungen an die EG noch verstärkt wird. Mit einem Anteil der öffentlichen Defizite am Bruttosozialprodukt von knapp 3 bis etwa 3,5 % werden wir aber auch in den nächsten Jahren deutlich unter den entsprechenden Werten in den frühen 80er Jahren bleiben.

(Zuruf von der SPD: Das glauben Sie selber nicht!)

Wir können, Herr Kollege Apel, die Steuerreform finanzpolitisch vertreten, weil wir in den ersten Jahren unserer Regierungsverantwortung die Neuverschuldung des Staates von 4,3 % Anteil am Bruttosozialprodukt 1982 auf 2,1 % 1986 nachhaltig zurückführten.

(Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Taschenspielertricks sind das! Das ist unseriös!)

— Nein, das sind statistische Angaben. Sie sollten nicht die Zahlen des Statistischen Bundesamts als Taschenspielertricks bezeichnen. Das steht Ihnen nicht gut an, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Dabei bleibt strikte Ausgabendisziplin aller staatlichen Ebenen vorrangiges Ziel, wenn wir das Gleichgewicht zwischen Konsolidierung und Steuersenkung gewährleisten wollen.

(Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Platitüden sind das!)

Wichtige Aufgaben liegen vor uns. Aber die Konstitution, die innere Festigkeit unserer Volkswirtschaft hat bereits erheblich zugenommen. Das spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie die meisten Unternehmen jetzt auf die starken außenwirtschaftlichen Verwerfungen, insbesondere auf die deutliche Höherbewertung der Deutschen Mark gegenüber dem amerikanischen Dollar und auf die Krise der Wertpapierbörsen im Oktober letzten Jahres, reagieren.
Ich hatte letzte Woche Gelegenheit, in Washington mit meinen Kollegen vor allem auch unsere finanzpolitische Strategie, die Rolle der Finanzpolitik in diesem Zusammenhang, zu erörtern, eine Politik, mit der wir auch im sechsten Jahr hintereinander auf Wachstumskurs bleiben werden. Ich habe dort sehr viel Verständnis gefunden, zur Überraschung mancher Kommentatoren und Begleiter. In den ersten drei Monaten dieses Jahres liegt der Wachstumstrend nach ersten Schätzungen wiederum zwischen 2 und 3 %, und Auftragseingänge und Produktion sind seit Januar erneut deutlich nach oben gerichtet. Dazu hat die zweite Stufe der Steuerreform, das, was in diesem Jahr mit 14 Milliarden DM Entlastung wirksam wird, einen erheblichen Beitrag geleistet. Die wieder beträchtlich ansteigenden Investitionsgüterbestellungen weisen darauf hin, daß jetzt auch die Unternehmen wieder günstigere Voraussetzungen sehen, bei der Modernisierung und Erweiterung ihrer Produktionsanlagen fortzuschreiten.
Meine Damen und Herren, Besonnenheit und das Vertrauen in die Grundprinzipien, die auf die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft setzen, haben positive Ergebnisse gebracht. Nicht hektisches, überstürztes Reagieren auf jede Veränderung im wirtschaftlichen Datenkranz, sondern die konsequente Umsetzung einer in den Grundzügen als richtig erkannten Politik sichern auf Dauer den größten Erfolg.
Ich sage das im Hinblick auf manche vorschnellen Kritiker, manche derjenigen, die im Herbst 1987 angeblich fehlende zusätzliche steuerpolitische Entlastungen und Entscheidungen beklagten. Ich hoffe, daß sie diese Lehren der vergangenen Monate ver-



Dr. Stoltenberg
standen haben. Uns geht es nämlich nicht um spektakulären Aktionismus und Augenblickseffekte. Wir wollen eine Politik gestalten, deren positive Wirkungen sich langfristig bestätigen. Wir wollen auch diejenigen in der Steuerdebatte überzeugen, die in einer ersten Bewertung zu einseitig den Abbau bestimmter Steuervergünstigungen zum Maßstab ihres Urteils machen. Das Ziel eines gerechteren, eines einfacheren, die Dynamik unserer Marktwirtschaft stärkenden Steuersystems ist jede Anstrengung in der politischen Arbeit und in der Argumentation wert. Wir wollen diese Anstrengung auch weiterhin nicht scheuen, denn wir sind davon überzeugt: Das Steuerreformgesetz 1990 ist ein wichtiger, ein notwendiger Schritt für die arbeitenden Menschen, für unsere Mitbürger, für die Sicherung unserer Zukunft.

(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107402000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107402100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Steuerreformgesetz 1990, das wir heute in erster Lesung beraten, sollte ein Jahrhundertwerk werden, das Prunkstück der Arbeit der Regierungskoalition in dieser Legislaturperiode. Geworden ist daraus ein Stück aus dem Tollhaus,

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU und der FDP)

der Gegenstand eines anhaltenden Streits innerhalb der Regierungskoalition.

(Zuruf von der SPD: Der noch nicht beendet ist!)

Auch der Vortrag des Bundesministers der Finanzen kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das ein Jahrhundertwerk der Ungerechtigkeit und der Unsolidität ist.

(Beifall bei der SPD)

Es ist doch schon einigermaßen erstaunlich, daß der Bundesminister der Finanzen kein Wort darüber verloren hat, daß die Verantwortlichen in den Bundesländern, in unseren Städten und Gemeinden nicht wissen, wie sie mit den fiskalischen Konsequenzen der Bonner Steuerpolitik fertig werden sollen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Ihre Politik treibt die finanzschwachen Länder — einige davon werden auch noch von Ihnen regiert — und viele Städte und Gemeinden in den finanzpolitischen Offenbarungseid.
Herr Kollege Stoltenberg, alle Rechnungen führen nicht daran vorbei: Sie führen die Neuverschuldung des Bundeshaushaltes auf Dauer auf neue Rekordhöhen.
Sie haben sich heute erneut gerühmt, daß Sie bisher schon Lohn- und Einkommensteuern um 30 Milliarden DM gesenkt hätten. Fragen Sie doch einmal die Arbeitnehmer, was sie von der Steuersenkung 1986 gespürt und gehabt haben. Jede Meinungsumfrage — auch die, die Ihnen vorliegen — zeigt, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nichts davon gespürt haben.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Vennegerts [GRÜNE])

Und wie sieht es denn seit 1. Januar 1988 aus? Der verheiratete Durchschnittsverdiener bekommt Monat für Monat von Ihnen eine Steuersenkung in Höhe von 7,80 DM. Dann meint der Herr Finanzminister, das habe aber nun einen Konsumrausch ausgelöst und die Konjunktur nach oben getrieben. Herr Kollege Stoltenberg, von 7,80 DM im Monat können Sie einmal an einer Imbißbude essen gehen; die Konjunktur damit ankurbeln können aber nur Sie, weil im Gegensatz zu den Durchschnittsverdienern die Spitzenverdiener mit 25 000 DM Monatsgehalt eine Steuersenkung in Höhe von 519 DM im Monat bekommen, 6 228 DM im Jahr.
Da Sie in Ihrer Eingangsrede das Gemeinwohl beschworen haben, frage ich zurück: Ist diese Art der Verteilung von 14 Milliarden DM Steuerentlastung —7,80 DM beim Durchschnittsverdiener, 519 DM beim Spitzenverdiener — Ihre Art von Gemeinwohl? Wird Gemeinwohl von Ihnen so interpretiert?

(Beifall bei der SPD)

1990 machen Sie doch genauso weiter. Ich frage Sie, ob es denn falsch ist, wenn die Experten sagen, daß das eine Prozent Spitzenverdiener — die da ganz oben — zusammengenommen genausoviel Steuersenkung bekommen wie die 50 % derer, die in der unteren Hälfte der Einkommensskala angesiedelt sind. Was hat das eigentlich mit Gemeinwohl zu tun?

(Zuruf von der SPD: Das ist gemein!)

Was hat das eigentlich damit zu tun, daß Sie die Bürgerinnen und Bürger entlasten wollen? Wie wollen Sie unter dieser Perspektive eigentlich die Senkung des Spitzensteuersatzes rechtfertigen?

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

Meine Damen und Herren, wie Sie auch immer argumentieren: Das Steuerreformgesetz, das Sie uns vorlegen, ist arbeitnehmerfeindlich.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Und familienfeindlich!)

Noch am 9. September des letzten Jahres hat der Bundesfinanzminister im Deutschen Bundestag heftig bestritten, daß er den Arbeitnehmerfreibetrag abschaffen will. Das war fünf Monate, bevor er und die Koalition die Abschaffung des Arbeitnehmerfreibetrages beschlossen haben. Wenn Sie heute sagen, Herr Kollege Stoltenberg: Aber ich habe ihn doch in eine andere Pauschale einbezogen, dann frage ich Sie, woher denn eigentlich die Milliarden an Steuermehreinnahmen kommen sollen, die Sie von den Arbeitnehmern bekommen und die Sie auch in Ihren Papieren vorrechnen.
Sie haben damals im übrigen auch im Deutschen Bundestag gesagt — ich zitiere Sie — : Unwahr ist auch, daß ich den Weihnachtsfreibetrag abschaffen will. Unwahr ist, daß ich die Besteuerung der Zu-



Dr. Apel
schläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit empfehlen werde.

(Hört! Hört! bei der SPD — Bundesminister Dr. Stoltenberg: Die volle Besteuerung!)

Jetzt, Herr Kollege Stoltenberg, legen Sie uns einen Gesetzentwurf vor, bei dem der Weihnachtsfreibetrag abgeschafft wird.

(Dr. Vogel [SPD]: So ist es!)

Sie legen uns einen Gesetzentwurf vor, bei dem die Lohnzuschläge besteuert werden. Da frage ich Sie: Wundern Sie sich eigentlich noch darüber, daß in der letzten Zeit Ihre politische Glaubwürdigkeit so dramatisch abgesunken ist?

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, dieses Steuerreformgesetz ist familienfeindlich. Im gesamten Bereich, Herr Uldall, der mittleren Einkommen werden Ledige stärker entlastet als Familien mit Kindern. In vielen Fällen erhalten auch Verheiratete ohne Kinder eine höhere Steuerentlastung als Familien mit Kindern. Ihr Generalsekretär Dr. Geißler hat doch selbst von einem familienpolitischen Defizit der Steuerpolitik dieser Bundesregierung gesprochen. Schauen Sie einmal in den Leitantrag hinein, den der Vorstand für Ihren nächsten Parteitag beschlossen hat. Dort wird erneut deutlich, daß zumindest die CDU familienpolitische Defizite in Ihrer Steuergesetzgebung sieht.
Ich erinnere Sie an unser gemeinsames Handeln: 1974 hatten wir in der sozialliberalen Koalition im Rahmen der Steuerreform 1975 auch mit der Zustimmung der CDU/CSU beschlossen, die unsozialen Kinderfreibeträge durch ein für alle Einkommensbezieher bei gleicher Zahl von Kindern gleich hohes Kindergeld zu ersetzen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

Ich erinnere Sie daran, meine Damen und Herren von der CDU, daß Sie damals auch gesagt haben: Dem Staat muß doch jedes Kind gleich viel wert sein. Aber das gilt heute für Sie nicht mehr. Sie haben die Kinderfreibeträge wieder eingeführt. Ein Spitzenverdiener bekommt jetzt wieder für jedes Kind fast dreimal soviel an Steuerentlastung wie ein Normalverdiener. 1990 wollen Sie diese Politik durch eine Aufstockung der Kinderfreibeträge fortsetzen.
Wir fordern Sie auf: Kommen Sie zurück zu einem gerechten Familienlastenausgleich, bekennen Sie sich zu Ihren früheren Aussagen, akzeptieren Sie mit uns zusammen, daß dem Staat jedes Kind gleich viel wert sein muß.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich füge hinzu: Ich habe mit Interesse gelesen, was Sie in Ihrem Leitantrag zu diesem Thema gesagt haben. Das mag ein gewisser Schritt in die richtige Richtung sein, wenn das dann so beschlossen wird, aber Sie sind auch dann noch weit davon entfernt, in Ihrem christlichen Bild von der christlichen Familie die Art von steuerlicher Gerechtigkeit walten zu lassen, daß
jedes Kind dem Staat gleich viel wert sein muß, was postuliert wird und postuliert werden muß.

(Dr. Vogel [SPD]: Christliches Menschenbild!)

Es kann doch in der Familienpolitik nicht nach der Melodie gehen: Wer hat, dem wird gegeben. Das kann doch nicht im Sinne einer christlichen Familienpolitik sein.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Unser Alternativkonzept ohne eine Mark an Mehrausgaben bedeutet folgendes: Wir schaffen die Kinderfreibeträge ab. Wir erhöhen dafür das Erstkindergeld auf 130 DM, das Zweitkindergeld auf 200 DM, und für jedes weitere Kind gibt es im Monat 300 DM Kindergeld. Wenn wir es dann noch fertigbringen sollten, diese Kindergeldzahlungen mit der Steuerschuld zu verrechnen, dann wäre eine Familie mit zwei Kindern bei einem Monatseinkommen von deutlich über 3 000 DM von jeder Lohnsteuer befreit. Das ist nicht nur gerecht, das wäre auch ein zentraler Beitrag zu weniger Steuerbürokratie.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107402200
Herr Abgeordneter Apel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Uldall?

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107402300
Ja.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107402400
Bitte sehr, Herr Kollege.

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1107402500
Herr Kollege Apel, wenn ich Ihrer Argumentation folge, daß durch Freibeträge das eine Kind mehr wert ist als das andere Kind, müßte man dann nicht logischerweise von Ihrer Seite auch fordern, daß man den Weihnachtsfreibetrag abschafft und durch ein Weihnachtsgeld ersetzt, das generell an alle Bürger ausgezahlt wird?

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107402600
Herr Uldall, wir können in dieser Frage sehr gern in eine grundsätzliche steuerpolitische Debatte eintreten,

(Lachen bei der CDU/CSU)

die dann in der Tat von der Wohnungsbauförderung, wo es ja ebenfalls sehr ungerecht zugeht — je mehr man verdient, um so mehr hat man —, über das Kindergeld bis hin zu solchen Fragen geht. Aber ehe Sie mir solche mehr polemischen Fragen stellen,

(Lachen bei der CDU/CSU — Uldall [CDU/ CSU]: Das war ernst gemeint!)

wäre ich doch sehr dafür, daß Sie einmal bei dem anfangen, was im Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen muß, nämlich bei der nächsten Generation, d. h. bei den Kindern.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107402700
Herr Abgeordneter Apel, ich bitte um Nachsicht, daß ich Sie kurz unterbreche, um einen Ehrengast zu begrüßen.
Auf der Ehrentribüne hat das Mitglied des Politbüros und der Sekretär des Zentralkomitees der Polni-



Präsident Dr. Jenninger
schen Vereinigten Arbeiterpartei und Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Sejm der Volksrepublik Polen, Herr Jósef Czyrek, Platz genommen.

(Beifall)

Ich freue mich, Herr Vorsitzender, Sie in der Sitzung des Deutschen Bundestages willkommen heißen zu können.
Die Gespräche, die Sie hier in Bonn führen, werden der enger gewordenen Zusammenarbeit zwischen dem Sejm und dem Deutschen Bundestag, zwischen den Fraktionen und Parteien förderlich sein und die Beziehungen zwischen unseren Ländern vertiefen.
Ich wünsche Ihnen einen guten und erfolgreichen Aufenthalt.

(Erneuter Beifall)


Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107402800
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses Steuergesetz bringt auch massive Steuererhöhungen für Rentner und Pensionäre. 420 Millionen DM jährlich wollen Sie von unseren älteren Mitbürgern allein durch die Abschaffung des Altersfreibetrages abkassieren. Viele Rentner werden erstmalig steuerpflichtig. Viele Rentner werden erstmals eine Einkommensteuererklärung abgeben.
Ganz anders behandeln Sie dagegen die über 65jährigen, die hohe Zinseinkünfte aus Kapitalvermögen von mehr als 200 000 DM beziehen. Diese werden nicht belastet. Für diese wird der Altersentlastungsfreibetrag aufgestockt. Dafür machen Sie jährlich 120 Millionen DM locker. Das bedeutet, daß die Arbeitnehmer sogar noch als Rentner von Ihnen einseitig belastet werden.

(Beifall bei der SPD — Jung [Lörrach] [CDU/ CSU]: Sie müssen mal in den Ausschuß, damit Sie was lernen, Herr Apel!)

Entgegen Ihren eigenen früheren Festlegungen wollen Sie jetzt eine Quellensteuer auf Zinseinkünfte einführen. Wir sind froh darüber, daß der Raubzug, den der Bundesfinanzminister bei den Kirchen und bei den gemeinnützigen Organisationen vorhatte, gescheitert ist.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Dennoch, Herr Kollege Stoltenberg, bleibt die Quellensteuer ein steuerpolitisches Monstrum.
Im übrigen hat der Bundesfinanzminister bereits fest eingeplant — sonst kommen seine Zahlen gar nicht zustande — , daß auch Sparer aus Unwissenheit oder Scheu vor dem bürokratischen Aufwand die Quellensteuer zahlen, die nach dem Gesetz auf ihre Zinseinkünfte eigentlich keine Steuern zahlen müßten. Bei Spitzenverdienern, die nach Recht und Gesetz 56 % Steuern auf ihre hohen Kapitalerträge zahlen müßten, geben Sie sich bei dieser Steuer mit 10 % zufrieden.
Wir lehnen diese ungerechte Quellensteuer ab. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, die Sparerfreibeträge zu verzehnfachen, so daß die Zinsen auf Sparvermögen bis etwa 100 000 DM völlig steuerfrei sind. Die Bun-
desregierung hat das abgelehnt. Sie will auf die Spargroschen der kleinen Leute nicht verzichten.
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, über ein Mitteilungsverfahren wie in den USA, in Frankreich und anderswo

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Das ist nicht zu fassen!)

dafür zu sorgen, daß Erträge hoher Kapitalvermögen endlich nach Recht und Gesetz versteuert werden.

(Beifall bei der SPD)

Aber auch das hat die Bundesregierung abgelehnt. Jetzt will sie sogar noch die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, daß hohe Kapitalerträge gefahrlos am Finanzamt vorbeigeschleust werden können. Herr Kollege Stoltenberg, ist das der Weg zu mehr Steuerehrlichkeit, den Sie in diesem Bereich gehen wollen? Herr Kollege Stoltenberg, diese Art von gesetzlicher Festschreibung des Bankenerlasses ist doch nichts weiter als eine staatlich sanktionierte Steuerhinterziehung.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Sie haben offensichtlich jedes Augenmaß für steuerliche Gerechtigkeit verloren, Herr Kollege Stoltenberg.

(Lachen bei der CDU/CSU)

— Ich bitte Sie: Wenn sich der Bundesminister der Finanzen hier hinstellt und sagt, dieses Paket steht unter der Überschrift „Gemeinwohl", und gleichzeitig eine neue Subvention verteidigt, nämlich die Beseitigung der Mineralölsteuer für die Sportflieger, dann hat er in der Tat jedes Augenmaß für steuerliche Gerechtigkeit verloren.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben eben wieder gehört, daß der Bundesminister der Finanzen noch in diesem Sommer die Autofahrer mit mindestens 10 Pf mehr an Mineralölsteuer belasten wird. Gleichzeitig sollen die Hobbyflieger steuerlich total entlastet werden.

(Zuruf von der SPD: Herr Strauß! — Dr. Niese [SPD]: Ein Skandal!)

Ich sage Ihnen, Herr Kollege Stoltenberg: Gerade nach dem, was Sie hier dazu gesagt haben, sagen wir: Das ist ein steuerpolitischer Skandal.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Sie haben heute wieder dafür geworben — indirekt —, daß die Staatsquote zu senken ist. Mit anderen Worten: Sie wollen den Weg in den armen Staat bewußt fortsetzen.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

— Ja, natürlich. Aber es wird Zeit, Herr Kollege, daß Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen, was das für sie bedeutet, wohin die von Ihnen gewollte öffentliche Armut führt. Für sinnvolle und notwendige öffentliche Leistungen ist kein Geld mehr da.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: War der Staat unter Ihrer Regierung reich?)

Familien, Rentner, Arbeitslose, Schüler und Studenten, unsere Vereine — wir haben das dieser Tage



Dr. Apel
gehört — und viele andere soziale Gruppen werden die Zeche Ihrer Politik zahlen. Aber damit nicht genug: Sie verspielen auch die Zukunft unseres Landes. Dazu hat Ihnen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung folgendes ins Stammbuch geschrieben:
Statt sich neuen Aufgaben, insbesondere der Umweltsicherung zu stellen, zehrt der Staat vom früheren hohen Niveau der Infrastrukturinvestitionen und verlagert Kosten auf die nächste Generation.
Das ist die Konsequenz des von Ihnen gewollten armen Staates. Das ist die Konsequenz Ihrer verfehlten Steuer- und Finanzpolitik. Es wird schwer sein, diese Erblast abzutragen.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind jahrelang — augenscheinlich tun Sie das noch heute — dem Bundesfinanzminister willig gefolgt, der Ihnen vorgegaukelt hat, er habe alles im Griff und bei ihm seien solide Staatsfinanzen garantiert. Sie haben verdrängt, daß 55 Milliarden DM Bundesbankgewinne eben keine verläßliche Haushaltsfinanzierung sind. Sie haben verdrängt, daß die Veräußerung von Bundesvermögen nur einmalig Haushaltslöcher stopfen kann, aber keine Konsolidierung ist. Sie wollen auch heute nicht wahrhaben, daß die Konjunktur schlechter läuft, als Sie es ausgemalt haben, und deshalb Milliarden an Steuereinnahmen fehlen.
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben heute erneut versucht, zu vertuschen, daß in dem Steuerpaket, das Sie uns vorlegen, riesige Finanzierungslöcher sind. Ihr Subventionsabbauziel von 19 Milliarden DM wurde nur auf dem Papier durch Manipulationen des Finanzministers erreicht. Herr Kollege Stoltenberg, Ihre eigenen Zahlen — diese Zahlen stimmen an allen Enden und Kanten nicht — machen deutlich, daß Sie 1990 keine Steuermehreinnahmen von 19 Milliarden DM haben, wie Sie es verkündet haben, sondern von 13,2 Milliarden DM.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Ja, kassenwirksam. Aber das ist in der Kasse. Und das ist das, was Bund, Ländern und Gemeinden fehlt. Für Ihre Scheinzahlen kann sich niemand etwas kaufen, weder die Gemeindeväter, weder der Bund noch die Länder.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen sagen wir und mit uns zusammen viele im Lande: Der Bundesfinanzminister hat die Kontrolle über die Staatsfinanzen verloren.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Da muß das Pferd aber ordentlich zugetreten haben!)

Die Neuverschuldung des Bundes wird in diesem Jahr nicht, wie Sie hier Ende November beschlossen haben, 29 Milliarden DM betragen, sondern 40 Milliarden DM. Das hat der Bundesfinanzminister inzwischen zugegeben, und er wird noch zugeben müssen, daß es dabei nicht bleibt, sondern daß die Neuverschuldung deutlich über 40 Milliarden liegen wird. Sie werden erleben, daß dies kein einmaliger Ausrutscher ist, sondern daß diese extrem hohe, sich auf
Rekordhöhe bewegende Neuverschuldung auf Dauer das Markenzeichen Ihrer Finanzpolitik sein wird.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Schuldenpartei!)

Der Bundesfinanzminister hat heute erneut festgestellt und mitgeteilt, daß er uns 1989 Verbrauchsteuererhöhungen bescheren will. Er will mindestens 6 Milliarden DM einnehmen, vornehmlich aus der Mineralölsteuer. Aber ich sage Ihnen: Selbst dann wird es Ihnen nicht gelingen, das Defizit auf 30 Milliarden DM zu reduzieren. Und 1990 werden Sie ein Bundeshaushaltsdefizit von mindestens 50 Milliarden DM haben.
Aber ich füge hinzu: Würden Sie massiv die öffentlichen Investitionen fördern, die private Investitionskraft stärken und die Steuersenkungen auf kleine und mittlere Einkommen konzentrieren, um die Arbeitslosigkeit wirklich zu bekämpfen, wäre natürlich eine gewisse Erhöhung der staatlichen Kreditaufnahme zu vertreten. Damit hat aber Ihre Schuldenpolitik überhaupt nichts zu tun. Sie ist schlicht und ergreifend unverantwortlich!

(Beifall bei der SPD)

Deswegen werden Sie natürlich eine kräftige Mehrwertsteuererhöhung vornehmen. Sie hab en gesagt: bis 1990 nicht; aber für 1991 haben Sie jedes Versprechen verweigert. Das bedeutet doch nichts anderes, als daß Sie nach dem bisherigen, von Ihnen bekannten Strickmuster verfahren wollen: erst die Wahlen und dann die massive Mehrwertsteueranhebung. Das wiederum bedeutet nichts anderes, als daß dann für die große Mehrheit der Steuerzahler Ihre Steuersenkung zu einem Nullsummenspiel werden wird. Das, was Sie ihnen geben, nehmen Sie zurück; nach bleibt eine Umverteilung, nämlich Steuersenkungen in Größenordnungen von mehreren zehntausend Mark für die Spitzenverdiener.
Deswegen ist Ihre Steuerpolitik auch konjunkturpolitisch falsch. Statt Steuersenkungen auf die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu konzentrieren, die jede zusätzliche Mark ausgeben und damit die Konjunktur stärken, setzen Sie Ihren verfehlten Weg der Entlastung der Spitzenverdiener fort. Das hilft unserer Konjunktur und unserem Arbeitsmarkt nicht.
Wenn Sie jetzt noch durch Verbrauchsteuererhöhungen im Jahre 1989 den Bürgern Milliarden aus der Tasche ziehen, ist das nicht nur ungerecht, sondern wird auch die Konjunktur weiter treffen. Deswegen fordern wir Sie auf: Lassen Sie von diesen Plänen der Verbrauchsteueranhebung ab; sie passen nicht in unsere labile Konjunktur.

(Beifall bei der SPD)

Der Kollege Stoltenberg hat sich heute morgen, was seine Einschätzung der Wirtschaftslage anlangt, erneut in eine Märchenwelt geflüchtet.

(Zuruf von der Regierungsbank: Das ist unerträglich!)

— Herr Kollege Stoltenberg, ganz kühl und nüchtern: Erinnern wir uns doch an das, was Sie uns zum Bundeshaushalt 1987 gesagt haben.

(Dr. Vogel [SPD]: Auch Märchen!)




Dr. Apel
Hier im Deutschen Bundestag haben Sie gesagt: Wir werden 1987 ein Wachstum von real 31/4 % haben. Das haben Sie gesagt, das steht im Protokoll.

(Dr. Vogel [SPD]: So ist es!)

Herausgekommen ist ein mickriges Wachstum von gerade der Hälfte, von 1,7 %. Ist das Märchenwelt, oder ist das Realität?

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist Stoltenberg-Welt!)

Habe ich das erfunden, oder sind das die Fakten, die hier im Protokoll stehen und die das Statistische Bundesamt an Wachstum für das letzte Jahr ermittelt hat? Das frage ich Sie, wenn Sie sich erregen.
Wenn Sie jetzt sagen „Alles läuft prima, und das Wachstum liegt deutlich über 2 %", frage ich Sie: Waren Sie nicht eigentlich letzte Woche in Washington beim Internationalen Währungsfonds dabei, als man Ihnen dort gesagt hat, die Bundesrepublik sei nicht nur konjunkturpolitisches Schlußlicht, sondern werde 1988 und 1989 ein Wachstum von 1,7 % haben?
Das sind doch auch die Zahlen, die uns vorgegeben sind. Es geht überhaupt nicht darum schwarzzumalen. Es geht darum, daß wir es ablehnen, daß Sie so tun, als sei alles in Ordnung, als hätten wir keinen konjunkturpolitischen Handlungsbedarf.
Das eigentlich Bedrückende ist, daß Sie sich mit Ihrer Steuerpolitik konjunkturpolitisch handlungsunfähig gemacht haben. In einem Interview der „Süddeutschen Zeitung" vor einigen Wochen haben Sie das selber zugegeben. Sie haben gesagt: Ich habe keinen Spielraum mehr, um kurzfristig konjunkturpolitisch etwas zu tun.
Aber darf ich Sie in aller Kühle wieder fragen: Was ist denn eigentlich aus Ihren hehren Postulaten geworden? Ist es auch falsch, wenn ich Sie aus der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages vom 25. November folgendermaßen zitiere — Stoltenberg Originalton — :

(Gattermann [FDP]: Diesmal aber bitte vollständig!)

Unsere Finanzpolitik muß kalkulierbar und verläßlich bleiben und zugleich handlungsfähig sein, um neuen Herausforderungen zu begegnen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Alles richtig!)

Sie wollten die Neuverschuldung des Bundes ohne Bundesbankgewinn unter 20 Milliarden DM bringen. Steuersenkungen auf Pump waren für Sie auch aus Gründen Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit unvorstellbar.

(Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört!)

Hohe Schulden waren für Sie eine schwere Verletzung der sittlichen Grundlagen des Generationenvertrages.

(Dr. Vogel [SPD]: Und jetzt? 45 Milliarden!) Heute wissen wir es:


(Dr. Vogel [SPD]: Ein sittlicher Verletzer!)

Das waren leere Worte, nichts als leere Worte.

(Beifall bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Sprüche, Redensarten! „Schlampige Arbeit", sagt Strauß!)

Meine Damen und Herren, was Ihre Finanzpolitik für die Länder bedeutet, kann Ihnen Herr Albrecht viel eindringlicher darstellen als ich. Nicht nur Niedersachsen, nein, die Mehrheit der Bundesländer befindet sich in einer verzweifelten Situation.

(Dr. Vogel [SPD]: Schleswig-Holstein zum Beispiel!)

Und daß immer mehr Städte und Gemeinden in eine ausweglose finanzielle Lage kommen, ist doch keine Erfindung der SPD, sondern eine Tatsache, die auch von den Kommunalpolitikern der Union mit wachsender Verbitterung festgestellt wird. Wenn nun sieben — sieben! — von elf Bundesländern, darunter auch das noch von der CDU regierte Schleswig-Holstein, das Land, Herr Stoltenberg, wo Sie Landesvorsitzender sind, von Ihnen verlangen, daß der Bund die Hälfte der Kosten der Sozialhilfe übernimmt, weil diese Länder nicht mehr weiter wissen, werden sie von Ihnen mit Hinweis auf Ihre leeren Kassen zurückgewiesen. Aber wer hat denn diese Kassen leergemacht? Deswegen sagen wir Ihnen: Mit dieser Haltung werden Sie nicht durchkommen.
Ich füge hinzu: Die Explosion der Ausgaben für die Sozialhilfe ist die direkte Folge Bonner Untätigkeit im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit.

(Beifall bei der SPD)

Allein mehr als 3 Milliarden DM Sozialhilfe müssen Städte und Gemeinden jährlich an die Langzeitarbeitslosen zahlen. Akzeptieren Sie doch endlich, daß die Kosten für die Arbeitslosigkeit der Bund tragen muß und nicht die Gemeinden.

(Beifall bei der SPD)

Entlasten Sie deshalb die Gemeinden von diesem Teil der Sozialhilfekosten, damit wenigstens die notwendigsten Investitionen in den Gemeinden wieder durchgeführt werden können. Nur so verhindern Sie doch Beschäftigungseinbrüche vor Ort, die vor allem das örtliche Handwerk treffen.
Aber genau das Gegenteil tun Sie: 1990 nehmen sie den Städten und Gemeinden weitere 6 Milliarden DM weg. Doch damit nicht genug: Mitten hinein in ein Chaos um das Steuerpaket 1990 ist der Bundeswirtschaftsminister mit der Ankündigung geplatzt, daß die Gewerbesteuer abgeschafft werden soll. Der Deutsche Städtetag hat darauf vor einigen Wochen mit aller Härte reagiert.

(Dr. Vogel [SPD]: Der Bangemann wird abgeschafft!)

Unsere Städte und Gemeinden wissen nicht, wie sie mit den Konsequenzen des Steuerpakets 1990 fertig werden sollen, und schon schlägt der Wirtschaftsminister erneut zu. — Ja, darauf sind Sie auch noch stolz, daß Sie steuerpolitischen Unsinn in die Welt setzen und Investitionsrisiken aufbauen, weil die Gemeinden nicht investieren können.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Apel
Es ist eindrucksvoll, welches Bild Sie bieten, Herr Bundeswirtschaftsminister.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — Zander [SPD]: Das ist eine Frage der Führung im Kabinett!)

Im übrigen begrüßen wir — ich erkenne ausdrücklich an, daß der Bundesfinanzminister auf diese Frage eingegangen ist — , daß wir derzeit eine breite Diskussion über den Produktionsstandort Bundesrepublik Deutschland haben. Dabei warne ich aber davor, den Produktionsstandort Bundesrepublik Deutschland kaputtzureden.

(Dr. Solms [FDP]: Wer tut denn das?)

— Es gibt viele, die es tun, Herr Solms. Ich gehe davon aus, daß Sie es nicht tun. Denn wir können doch gemeinsam, meine ich, nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit Monat für Monat durch eindrucksvolle Exportüberschüsse belegt wird. Wir sollten bei dieser Gelegenheit die Bemerkungen des Vorstandsvorsitzenden der Kölner Ford AG zur Kenntnis nehmen, der gesagt hat, daß wir in unserem Land die beste wirtschaftliche Infrastruktur in Europa, das beste Ausbildungssystem der Welt, tüchtige Arbeitnehmer, die weltweit höchste Produktivität und einen sozialen Frieden haben, der den Unternehmern ein Minimum an Streiktagen garantiert. Alles Feststellungen dieses Herrn.

(Richtig! bei der FDP)

Aber wenn das so ist, stimmen wir sicher auch darin überein, daß das für unsere Volkswirtschaft auch geldwerte Vorteile sind, die auch in Zukunft den Standort Bundesrepublik attraktiv machen.
Wenn das so ist, Herr Kollege Bangemann, frage ich mich, ob diese Herren und Sie wirklich meinen, man könne diese Vorteile zum Nulltarif bekommen. Natürlich müssen unsere Infrastruktur, unser Bildungssystem, unsere soziale Sicherung auch aus den öffentlichen Kassen finanziert werden. Deswegen wird die Bundesrepublik Deutschland kein Niedrigsteuerland sein können. Wer glaubt, die Vorteile des Standorts Bundesrepublik in Anspruch nehmen zu können, ohne sich angemessen an den Kosten zu beteiligen, überspannt den Bogen seiner Forderungen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und behindert eine seriöse steuerpolitische Diskussion.
Diese Debatte ist in der Tat geboten. Da stimme ich dem Bundesfinanzminister ausdrücklich zu. Aber, Herr Kollege Stoltenberg, ehe wir dann über Steuerbelastung in der Bundesrepublik Deutschland reden, kommt es darauf an, daß wir einen realistischen Vergleich der Steuerbelastung unserer Wirtschaft mit der der Wettbewerber in den wichtigsten Industrieländern anstellen. Dann hat es keinen Zweck, mit Horrorzahlen wie 70 % Steuerbelastung zu argumentieren. Dann müssen wir alle Elemente der Steuerbelastung einbeziehen. Da wäre es gut gewesen, wenn der Bundesfinanzminister bei seinen Ausführungen darauf hingewiesen hätte, daß z. B. die Steuerreform in den USA den amerikanischen Unternehmen in fünf Jahren zusätzlich 120 Milliarden DM Steuerbelastung aufbürdet. Dann wäre es richtig gewesen, Herr Kollege Stoltenberg, wenn Sie zur Steuerreform in Österreich auch festgestellt hätten, daß diese Steuerreform nicht nur aufkommensneutral ist, sondern in der Tat den österreichischen Unternehmen viele Vorteile nimmt, z. B. im Bereich der Abschreibung.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Hat er doch gesagt!)

Eines füge ich hinzu. Die Steuerpolitik von Frau Thatcher ist für uns wegen der extremen — auch der extremen sozialen — Ungerechtigkeiten sicher kein Vorbild. Ich hoffe, daß wir in dieser Frage alle einig sind.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten treten für eine wirtschaftspolitisch vernünftige Unternehmensbesteuerung ein. Deswegen fordern wir die Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage für kleinere und mittlere Unternehmen. Wir wollen die faktische steuerliche Benachteiligung von Investitionen in Produktivkapital gegenüber Finanzanlagen beseitigen. Ich füge hinzu: Wir sind offen für alle sachgerechten Vorschläge für eine Reform der Körperschaftsteuer, die das Ziel haben, den einbehaltenen Gewinn zu entlasten und gleichzeitig den ausgeschütteten Gewinn weniger zu begünstigen. Auch das kann die Investitionskraft unserer Wirtschaft stärken.
Wir lehnen es ab, daß das Steuerpaket 1990 durch die Streichung von Investitionszulagen für strukturschwache Regionen, auch für Berlin, für Forschung und Entwicklung und für Umweltschutzinvestitionen finanziert werden soll. Diese Kürzungen in Höhe von mehr als 3 Milliarden DM, die die Koalition will, werden zu einem weiteren Rückgang der privaten Investitionen in unserem Lande führen und sind sicherlich kein vernünftiger Beitrag für höhere Investitionen und für die Stärkung des Produktionsstandorts Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, wir wollen auch das System der kommunalen Steuern so verändern, daß bestehende Wettbewerbsverzerrungen beseitigt werden. Unsere Vorschläge liegen seit langem vor. Wir sehen ein, daß ungleiche Belastungen der Unternehmen und der Gewerbetreibenden auf der einen Seite und die wachsende Finanznot der großen Mehrheit unserer Städte und Gemeinden auf der anderen Seite eine umfassende Gemeindesteuerreform erforderlich machen. Es ist jedoch unredlich, wenn auch aus Reihen der Koalition behauptet wird, unsere Gewerbesteuer müsse deshalb ersatzlos fallen, weil es sie nur bei uns gebe. Tatsache ist — wir haben das in einem Hearing im Finanzausschuß festgestellt —, daß es in fast allen EG-Ländern, in Japan und in den USA ähnliche ertragsunabhängige lokale Steuern gibt, die die dortige Wirtschaft vergleichbar belasten. Wer dagegen die Abschaffung der Gewerbesteuer fordert und an ihre Stelle eine kräftig erhöhte Mehrwertsteuer sowie Zuschläge zur Lohn- und Einkommensteuer setzen will, dem geht es letztlich nur um steuerliche Vorteile für sich selbst zu Lasten des Handwerks, zu Lasten der kleinen Betriebe, zu Lasten der Verbraucher und auch zu Lasten unserer Gemeinden.
Herr Kollege Bangemann, um noch einmal auf Sie zurückzukommen, es ist schon erstaunlich, daß ausge-



Dr. Apel
rechnet der Bundeswirtschaftsminister diesen steuerpolitischen Unsinn unkritisch nachbetet, geflissentlich übersieht, daß dazu unser Grundgesetz geändert werden müßte, und dennoch bereits zur Mitte dieses Jahres einen Kabinettsbeschluß zur Abschaffung der Gewerbesteuer fordert.

(Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört!)

Meine Damen und Herren, wenn wir über den Produktionsstandort Bundesrepublik Deutschland reden, müssen wir auch über die Entwicklung der Lohnnebenkosten reden. Sie sind seit der Wende weiter gestiegen. Ihre verfehlte Steuer- und Finanzpolitik wird zu weiteren Abgabensteigerungen führen.
Die Koalition hat der Arbeitslosenversicherung Milliarden aus der Kasse genommen. Ende des Jahres werden die Reserven der Nürnberger Anstalt verbraucht sein. Im nächsten Jahr macht die Nürnberger Anstalt ein Defizit von 5 Milliarden DM. Graf Lambsdorff hat bereits darauf hingewiesen, welches die Konsequenz sein wird: Es wird zu Leistungskürzungen zu Lasten der Arbeitslosen und zu Beitragserhöhungen zu Lasten der Wirtschaft und der Arbeitnehmer kommen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen doch auch, daß unsere Rentenkassen ab 1990 einen wachsenden Bundeszuschuß brauchen, um die Renten zahlen zu können. Der Finanzminister lehnt das ab. Er räumt seine Kassen durch seine verfehlte Steuerpolitik. Erneut — auch das hat der Arbeitsminister bereits deutlich gesagt — werden Beitragserhöhungen unvermeidlich.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sie langweilen Ihre Fraktion Herr Dr. Apel!)

Und schließlich drittens: Die Beschlüsse der Koalition zur Gesundheitspolitik sind weiter nichts als ein Abkassierungsmodell zu Lasten der Versicherten und der Kranken.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU)

Nun wollen Sie zu Lasten der Krankenkassen systemwidrig zusätzlich die Kosten des häuslichen Pflegefalls in die Krankenversicherung hineindrücken. Sie lehnen auch aus finanziellen Gründen eine sachgerechte Finanzierung des Pflegefalls aus den öffentlichen Kassen ab. Da sagen Ihnen alle Experten, auch gestern ein Leitartikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", das wird und das muß zu Beitragserhöhungen bei den Krankenkassen führen.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Das Gegenteil wird der Fall sein!)

Diese weiteren Kostenbelastungen für unsere Wirtschaft und Abgabenerhöhungen für die Arbeitnehmer sind hausgemacht. Sie sind das Ergebnis der verfehlten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik dieser Bundesregierung. Sie berühren auch den Produktionsstandort Bundesrepublik negativ.
Es kommt ein weiteres hinzu. Unsere Städte und Gemeinden können doch die großen Haushaltslükken, die Sie ihnen zumuten, nicht hinnehmen. Viele Städte und Gemeinden werden ihre Hebesätze bei der Gewerbesteuer anheben müssen, um so wenigstens einen Teil ihrer Steuerausfälle zurückzugewinnen. Damit kommen dann die in Bonn beschlossenen Steuersenkungen bei den Betrieben als kommunale Steuererhöhungen wieder an. Das ist dann wirklich eine großartige Operation, dazu kann man Ihnen wirklich nur gratulieren! Das ist eindrucksvoll, das wird in der Tat die Wirtschaftskraft in der Bundesrepublik Deutschland kräftig anheben!

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, dieses Steuerpaket soll zum 1. Januar 1990 in Kraft treten; nur die Quellensteuer und einige wenige andere Regelungen treten vorher in Kraft. Es gibt also sachlich überhaupt keinen Grund, warum Sie dieses komplizierte und weitreichende Gesetzgebungswerk in den nächsten zwei Monaten durchpeitschen wollen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Eine sachgerechte Beratung — das wissen Sie doch selbst — wird damit unmöglich.

(Dr. Vogel [SPD]: So ist es!)

Aber, meine Damen und Herren, die wollen Sie auch gar nicht. Sie setzen an die Stelle einer sachgerechten Beratung eine beispiellose Werbekampagne, die die Tatsachen verdrehen und vernebeln soll.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Die Steuerzahler dürfen das auch noch mit 7,5 Millionen DM Steuermitteln bezahlen. Auch das ist eine Verschleuderung von Steuermitteln, und es ist ein politischer Skandal.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

Wir verstehen, warum Sie Ihre Steuerpolitik durch den Bundestag peitschen wollen: Sie wollen das Thema loswerden, weil Sie sich Ihrer steuerpolitischen Hypothek entledigen wollen, zu Lasten unseres Staates, zu Lasten unserer Bürger. Doch die Konsequenzen Ihrer Fehler werden Sie einholen. Die Folgen werden Sie zu verantworten haben, auch wenn die Konsequenzen Ihrer verfehlten Steuer- und Finanzpolitik von uns allen zu tragen sind.
Ihre Politik trifft auf unseren entschiedenen Widerstand. Wir fordern Sie auf: Beenden Sie den Weg in die steuer- und finanzpolitische Sackgasse! Schwenken Sie endlich ein auf den Weg der steuer- und finanzpolitischen Vernunft! Der stellt sich folgendermaßen dar: Unser Gemeinwesen muß finanziell handlungsfähig bleiben.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Der Kampf gegen die wachsende Massenarbeitslosigkeit hat ersten und obersten Vorrang.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der GRÜNEN)

Steuerentlastungen müssen auf kleine und mittlere Einkommen konzentriert werden; vor allem muß der steuerfreie Grundfreibetrag deutlicher als bei Ihnen angehoben werden. Wir müssen das Existenzminimum endlich steuerfrei machen.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Apel
Und, meine sehr verehren Damen und Herren, dem Staat muß jedes Kind gleich viel wert sein. Deswegen müssen wir zum einkommensunabhängigen, kräftig erhöhten Kindergeld zurückkehren.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

Steuersenkungen müssen die Kaufkraft der breiten Mehrheit unserer Bürger stärken, damit durch zusätzliche Nachfrage zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Deswegen fordern wir Sie auf: Lassen Sie die Finger, auch aus konjunkturellen Gründen, von Verbrauchsteuererhöhungen! Es hat keinen Zweck, damit Haushaltslöcher zu schließen, die Sie dadurch reißen, daß Sie Steuersenkungen für Spitzenverdiener beschließen. Lassen Sie die Verbrauchsteuererhöhung! Sie ist Gift für unsere Konjunktur, zudem ist sie ungerecht.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, auch die Rede des Bundesfinanzministers hat uns heute nur in unserer Überzeugung bestätigt: Die Steuerpolitik und die Finanzpolitik dieser Bundesregierung sind ungerecht, unsolide und wirtschaftspolitisch verfehlt. Deshalb brauchen wir einen Neuanfang in der Steuer- und Finanzpolitik. Dafür treten wir Sozialdemokraten mit allem Nachdruck ein.
Schönen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Vennegerts [GRÜNE])


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107402900
Sie sind noch nicht aufgerufen, Herr Kollege Gattermann. Ich erteile Ihnen aber hiermit das Wort.

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1107403000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich durch vorzeitiges Erscheinen in dem Applaus der sozialdemokratischen Fraktion zu sonnen.

(Heiterkeit — Dr. Vogel [SPD]: Sonst haben Sie auch wenig Sonne hier!)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Apel, ein Konvolut von Spekulationen, Halbwahrheiten, schiefen Argumenten und billiger Polemik. Es lohnt sich wirklich nicht, sich damit im einzelnen auseinanderzusetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber Sie haben ja angekündigt, daß Sie am 25., glaube ich, im Parteivorstand das Alternativkonzept der Opposition zur Steuerpolitik beschließen wollen — endlich. Dann werden wir uns vielleicht auf einer rationalen Ebene über Steuerpolitik auseinandersetzen können, wenn das vorliegt. Heute, auf der Grundlage dessen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Apel, geht das leider nicht.
Ich will meine Behauptung nur ganz kurz stichwortartig belegen: Halbzitate. Jetzt kommt ein Witz. Ich berufe mich auf Ihr Redemanuskript, in dem Sie den Bundesminister der Finanzen hinsichtlich seiner Außerungen zum Weihnachtsfreibetrag zitiert haben. Das Zitat, das Sie hier in Ihrem schriftlichen Papier haben, ist richtig. Aber warum lassen Sie das Wort „volle" Besteuerung in Ihrem mündlichen Vortrag weg?

(Beifall bei der FDP)

Ich gebe Ihnen die Gelegenheit, bei der Korrektur des stenographischen Protokolls dieses Wort einzufügen, um der richtigen Zitate willen.

(Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wo soll da der Witz sein?)

Ein weiteres Beispiel: Sie haben hier beklagt, daß wir die Rentner mit diesem Reformwerk in die Besteuerung hineintreiben würden wegen des Altersfreibetrages und seiner Neugestaltung. Ich will Ihnen die amtlichen Zahlen nennen: Ein alleinstehender Rentner ist nach dem Tarif 1985 bis zu 26 959 DM steuerfrei. Nach dem Tarif 1990 beginnt die Steuerpflicht bei 32 350 DM. Handelt es sich um ein Rentnerehepaar, dann waren sie mit ihrem Renteneinkommen nach dem Tarif 1985 mit 52 250 DM steuerfrei und nach dem Tarif 1990 mit 62 121 DM steuerfrei. Jetzt sagen Sie: Wir treiben die Rentner in die Steuerpflicht. Leider — so muß ich sagen — kenne ich im Rahmen unserer Rentensysteme keine Rentner, die Renteneinkommen in einer größeren Kategorie beziehen.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107403100
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Apel?

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1107403200
Herr Präsident, ich gestatte diese eine Zwischenfrage.

(Oh-Rufe bei der SPD)

Ich habe nämlich weniger Zeit als die großen Fraktionen. Deshalb will ich mit der Zulassung einer Zwischenfrage von vornherein klarstellen, daß ich danach weitere Zwischenfragen nicht zulasse. Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107403300
Herr Kollege, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich von Rentnern und Pensionären gesprochen habe. Können Sie mir dann bitte erklären, wie durch die Streichung dieses Altersfreibetrags — wenn es so wäre, wie Sie sagen — eine halbe Milliarde DM oder, um genau zu sein, 420 Millionen DM zu Lasten der alten Leute hereinkommen sollen? Können Sie mir das bitte erklären? Wenn alles so gut ist, wie Sie sagen, dann können Sie doch gar keine Einnahmen erzielen. Im Gegenteil, dann kostet es mehr.

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1107403400
Herr Kollege Apel, Sie mögen ein guter Haushaltspolitiker sein,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

von Steuerpolitik verstehen Sie aber wahrscheinlich überhaupt nichts.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Ha, ha!)

Wir haben mehrere Sorten der Altersbesteuerung — leider. Das müssen wir demnächst einmal reformieren. Wir haben die Rentner, die nur mit dem Ertragsanteil, mit 25 To besteuert werden.

(Dr. Apel [SPD]: Nun antworten Sie doch einmal!)




Gattermann
Wir haben die Pensionäre mit einem Freibetrag von 4 800 DM. Wir haben alle sonstigen mit einem Freibetrag von 3 000 DM. Wir hatten alle miteinander darüber hinaus zusätzlich beglückend einen Altersfreibetrag von 720 DM. Dieser über alle, Gerechte und Ungerechte, verteilte Altersfreibetrag wird jetzt auf die bisher am schlechtesten behandelte Gruppe konzentriert, und aus dieser Konzentration ergeben sich die in der Finanzrechnung ausgewiesenen Mehreinnahmen. Dies als kleine Information zur Sache.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Wenn Ihr Alternativkonzept vorliegt, können wir uns einmal in aller Ruhe über Steuerpolitik unterhalten. Wir wollen die Chance dieser Debatte nutzen, um die Konzeption dieses Steuerreformgesetzes zu verdeutlichen. In der Tat hat die öffentliche Diskussion, die bisher zu diesem Thema gelaufen ist, viel Verwirrung gebracht. Wir müssen alles tun, um unsere Bürger aufzuklären.
Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister hat es gesagt, Herr Apel, Sie haben es auch angesprochen, Nigel Lawson und Margaret Thatcher haben für Großbritannien den Steuertarif für Kapitalgesellschaften auf 35 %, für kleine und mittlere Unternehmen auf 30 %, Lohn und Einkommensteuer in zwei Proportionalzonen auf 25 bzw. 40 % gesenkt.
Frankreich: Finanzminister Balladur und Premierminister Chirac haben die Körperschaftsteuertarife 1988 auf 42 % gesenkt.
Vereinigte Staaten: Finanzminister Baker und Präsident Reagan: Körperschaftsteuertarif 34 %, Einkommensteuertarif 28 %.
Österreich, Planung : Der sozialdemokratische Bundeskanzler Vranitzky schickt sich an, den Körperschaftsteuertarif in Österreich auf das für Europa ungewöhnlich niedrige Maß von 30 % abzusenken; Senkung des Spitzensteuersatzes von 70 auf 50 %.
Niederlande: Ministerpräsident Lubbers und Finanzminister Ruding: Körperschaftsteuersatz auf 40 % , für Gewinne über 250 000 Gulden auf 35 %, und jetzt hören Sie mal gut zu: Man plant einen degressiven Körperschaftsteuertarif.
Meine Damen und Herren, diese Liste läßt sich fortsetzen, von skandinavischen Ländern bis auf die andere Seite der Erdkugel, bis Australien, Neuseeland und Japan.
Meine Damen und Herren, und was leisten wir uns in diesem internationalen Wettbewerb der Steuersysteme? Wir leisten uns — ich kann es nicht anders bezeichnen — nichts anderes als törichte verteilungspolitische Debatten. Wir leisten uns — ich kann es nicht anders sagen — unwürdiges Gerangel staatlicher Ebenen um den größeren Anteil am Steuerkuchen. Beides mögen ehrenwerte Motivationen sein, die dahinter stehen, meine Damen und Herren, aber das mindeste, was man für die Auseinandersetzung mit diesen Kriterien erwarten darf, ist eine seriöse Debatte, eine auf Zahlen und Fakten basierende rationale Debatte, die frei ist von Bürger und Unternehmen verunsichernden Spekulationen, Herr Kollege Apel,

(Zurufe von der CDU/CSU: Richtig!)

und die vor allem die nationalwirtschaftlichen und die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge nicht verdrängt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die mit zahlreichen Horrorvisionen angereicherte Feststellung, wir könnten uns diese Steuerreform nicht leisten, ist schlicht kurzsichtig; als bestimmte der Staat mit der Höhe der Abgabetarife die Höhe seiner tatsächlichen Einnahmen! Nein, meine Damen und Herren, der Erfolg, der wirtschaftliche Erfolg unserer Bürger und unserer Unternehmen bestimmt — allerdings dann nach Maßgabe der von uns beschlossenen Abgabetarife — über die tatsächliche Höhe unserer Einnahmen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb muß die allererste Sorge verantwortlicher Politik den Voraussetzungen gelten, unter denen unsere Bürger und Unternehmen möglichst hohe Erträge erwirtschaften können und, so füge ich hinzu, es auch wollen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Deshalb ist das Mithalten im internationalen Wettbewerb auch für den Standort — aber nicht nur für den Standort — Bundesrepublik Deutschland so unverzichtbar. Natürlich weiß ich, daß die Steuerbelastung allein nicht d a s Wettbewerbskriterium ist, auch nicht für den Standort; es gibt eine Fülle von Kriterien. Aber daß die steuerliche Belastung ein ganz wesentliches Datum bei Investitionsentscheidungen ist, das ist doch wohl selbstverständlich und kann nicht wegdiskutiert werden.
Meine Damen und Herren, wenn wir hier den Anschluß verpassen, dann verlieren wir alle Voraussetzungen für die Sicherung unseres Wohlstandes. Dann verlieren wir alle Voraussetzungen für mehr Beschäftigung und für mehr Wachstum. Und vor allem: Wir verlieren die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung oder gar für die Verbesserung unserer sozialen Sicherungssysteme.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Diesen Zusammenhang in einer polemischen verteilungspolitischen Debatte auflösen zu wollen, ist schlicht unverantwortlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man das alles weiß und sich unser Werk anschaut, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, daß dieses Reformziel eher zu kurz gekommen ist.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Absenkung des Körperschaftsteuertarifs für thesaurierte Gewinne von 56 % auf 50 % reicht unter dieser Aufgabenstellung nicht aus. Für alle personalbesteuerten Unternehmen mit einem höheren Gewinn als 260 000 DM pro verheirateten Betriebsinhaber eine Senkung des Spitzensteuersatzes von 56 % auf 53 % vorzunehmen, reicht nicht aus.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Plus Kirchensteuer!)




Gattermann
Meine Damen und Herren, damit da kein Mißverständnis aufkommt: Dies ist weniger Kritik der Freien Demokratischen Partei am Ergebnis, das hier auf dem Tisch liegt,

(Zuruf von der CDU/CSU: Hoffentlich!)

eben wegen vielfacher anderer Vorzüge dieses Reformwerks, Frau Kollegin, und vieler richtiger Entscheidungen, sondern es ist Anlaß zu folgender feststellender Absichtserklärung, Herr Kollege Apel — und ich bitte Sie jetzt, zuzuhören, damit Sie das, was Sie über die Freie Demokratische Partei immer wieder sagen und über die Gewerbesteuer daherreden, in Zukunft richtig handhaben

(Zuruf des Abg. Poß [SPD])

— hören Sie bitte genau zu — : Die Steuerreform ist ein Prozeß, der nach 1990 auch als Baustein für das von uns gewollte Europa fortgesetzt werden muß. Dabei hat die Entlastung von spezifischen Unternehmensteuern für die Freie Demokratische Partei absolute Priorität. Auch der Ansatzpunkt dafür ist für meine Fraktion — ich hoffe, für die ganze Koalition — klar: die Unternehmensteuer par excellence, die Gewerbesteuer, die als Sonderbelastungsfaktor im wesentlichen, Herr Kollege Apel — ich habe das Hearing miterlebt, auf das Sie sich soeben bezogen haben —, nur die deutsche Wirtschaft trifft.
Dabei will ich aber eines mit aller Deutlichkeit hervorheben: daß nämlich die notwendige — oder die wünschenswerte, will ich lieber formulieren — Abschaffung der Gewerbesteuer zwingend Bestandteil der gleichfalls überfälligen und nur in breitem Konsens zu realisierenden Gemeindefinanzreform sein muß. Ich sage dies, um nicht schon jetzt falsche Fronten aufzubauen oder falsche Fronten, die sich bereits entwickelt haben, zu verfestigen. Umgekehrt möchte ich an dieser Stelle auch an die Gemeinden appellieren, die mit dem aktuellen Reformwerk verbundenen — ohnehin mäßigen — steuerlichen Entlastungen für die Wirtschaftsunternehmen, von denen ich soeben gesprochen habe, nicht — mit welcher ehrenwerten Begründung auch immer — durch ein Drehen an den Hebesätzen der Gewerbesteuer zu konterkarieren.

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, wir werden im Gesetzgebungsverfahren sehr, sehr sorgfältig prüfen, ob diesem Appell nicht durch eine befristete bundesgesetzliche Koppelung der Gewerbesteuerhebesätze an die Grundsteuerhebesätze sinnvollerweise Gewicht verliehen werden sollte.

(Zustimmung bei der FDP — Glos [CDU/ CSU]: Richtig, durchaus prüfenswert!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben für unser Reformwerk einen anderen Ansatzpunkt als den eben beschriebenen gewählt. Wir haben nämlich bei allen steuerzahlenden Bürgern und Unternehmen angesetzt. Bei der gewachsenen Struktur der Rechtsformen unserer Wirtschaftsunternehmen gab und gibt es, von der bereits angesprochenen Gewerbesteuer einmal abgesehen, keinen anderen Ansatzpunkt — jedenfalls nicht, ohne das ganze Steuersystem umzukrempeln —; denn — das ist hier schon
gesagt worden — 90 % unserer Unternehmen werden personal besteuert, sind offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften, Einzelfirmen. Der Unternehmensteuertarif ist der Steuertarif für natürliche Personen.
Damit klar ist, was das bedeutet: Aus den hier versteuerten Gewinnen müssen nicht nur Essen und Trinken, Wohnung, Miete, Mallorcareise und noch ein Pelzmantel finanziert werden — wie im privaten Bereich —, sondern dies ist die Quelle, aus der das Eigenkapital unserer Unternehmen stammen muß. Dies ist die Quelle, aus der die Eigenbeteiligung an der Finanzierung von Investitionen kommen muß. Dies ist die Grundlage für neue Arbeitsplätze und für die Sicherung von Arbeitsplätzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber nicht allein dieser Systemzwang hat uns bewogen, für unser Entlastungskonzept den Ansatz zu suchen und zu finden, den wir gewählt haben. Bis einschließlich 1985 wurden hierzulande Einkommen bis weit unter die Grenze des Existenzminimums zur Besteuerung herangezogen. Bis 1985 wurden Unterhaltsleistungen für Kinder bei der Festlegung der steuerlichen Leistungsfähigkeit praktisch überhaupt nicht berücksichtigt.
Herr Kollege Apel, wir wissen ja alle, daß der Deutsche Bundestag im Jahre 1975 mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen dem Slogan aufgesessen ist: Dem Staat muß jedes Kind gleich viel wert sein.

(Dr. Apel [SPD]: Aufgesessen?)

— Aufgesessen ist. Herr Kollege Apel, Sie tragen Mitverantwortung genau wie ich. Wir haben es von 1975 bis 1985 für richtig befunden, den Eltern für ihr erstes Kind 50 Deutsche Mark zu geben und sie im übrigen wie kinderlose Ehepaare zu besteuern. Das ist die Konsequenz dieser Philosophie.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107403500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Apel?

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1107403600
Wenn das Präsidium mir die Zeit nicht anrechnet, gern.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107403700
In der Praxis tun wir das nicht. Bitte.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107403800
Lieber Herr Kollege Gattermann, erstens waren wir damals zusammen in einer Koalition.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107403900
Bitte eine Frage, Herr Kollege Apel.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107404000
Richtig, Herr Präsident.
Herr Kollege, ich frage Sie: Können Sie die Tatsache, daß das Erstkindergeld nicht genügend erhöht worden ist, wirklich als Rechtfertigung für das System der Kinderfreibeträge nehmen, das dazu führt, daß Spitzenverdiener bei derselben Anzahl von Kindern dreimal soviel Vorteile bekommen wie der Normalverdiener?




Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1107404100
Herr Kollege Apel, über dieses Thema haben wir im Deutschen Bundestag schon hundertmal diskutiert.

(Zurufe von der SPD)

Ich glaube, es war der Kollege Uldall, der Ihnen vorhin zu diesem Thema eine hochintelligente Frage gestellt hat, die Sie sehr dürftig beantwortet haben. Wir wollen unsere Zeit doch bitte schön damit nicht vertun.
Man könnte über diese Philosophie, über diesen Slogan „gleich viel lieb und wert" dann reden, wenn es nicht bedeuten würde, daß wir den Unterhalt unserer Kinder den Zwängen der jeweils amtierenden Finanzminister ausliefern müßten, den Haushaltszwängen. Der ganze Ansatzpunkt dieser Argumentation ist falsch. Was heißt eigentlich „Der Staat gibt"?

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Er nimmt nur!)

Der Staat gibt überhaupt nichts, der Staat nimmt nur, und er nimmt weniger oder mehr. Er muß bei Leuten mit Kindern weniger nehmen!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Genau das schreibt im übrigen, Herr Kollege Apel, unsere Verfassung vor.

(Zurufe von der SPD)

Und ein Weiteres: Bis 1985 griff der Progressionstarif — man kann es nicht anders ausdrücken — brutal schon bei geringfügig den Durchschnitt übersteigenden Einkommen zu. Reale Kaufkraftverluste verschärften dieses Problem von Jahr zu Jahr. Die Leistungs- und die Risikobereitschaft unserer Bürger drohte und droht dabei auf der Strecke zu bleiben. Deshalb muß schwergewichtig hier angesetzt werden, zumal damit zugleich allen kleinen und kleinen mittleren Unternehmen durchgreifend geholfen wird.
Meine Damen und Herren, Sie kennen die Stichworte des Entlastungspakets, das jetzt länger als ein Jahr öffentlich diskutiert wird: schrittweise mit dem vorliegenden Gesetzentwurf massive Erhöhung der Grundfreibeträge, Senkung des Eingangssteuersatzes von 22 auf 19%, Wiedereinführung und schrittweise Erhöhung der Kinderfreibeträge und vor allem Linearisierung des Progressionstarifes oder, wie wir gerne populär sagen, Abspecken des Mittelstandsbauches — neben einigen weiteren gezielten Maßnahmen, bei denen auch wieder eine ganze Menge für den Mittelstand dabei ist.
Ich kann und will das jetzt hier gar nicht alles im einzelnen darstellen und bewerten. Dazu reicht die Zeit nicht. Dazu werden wir auch in den Ausschußberatungen noch Zeit genug haben. Es scheint mir doch aber notwendig zu sein, noch einmal darauf hinzuweisen, daß es sich bei diesen Steuermaßnahmen 1986, 1988 und 1990 um ein Volumen von 65 Milliarden Deutsche Mark handelt. Wenn man noch einige Zusatzmaßnahmen — Abschreibung für Wirtschaftsbauten — miteinbezieht, dann haben wir die berühmte 70-Milliarden-DM-Rechnung. Ein solch ehrgeiziges Projekt hat es in der Steuerrechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland in der Tat noch nicht gegeben. Selbst wenn man diese Rechnung durch den Vergünstigungsabbau und die Gegenfinanzierungssummen von fast 20 Milliarden DM saldiert, dann bleibt
ein Nettoentlastungsvolumen von 50 Milliarden DM übrig. Das ist ein Wort, meine Damen und Herren:

(Mischnick [FDP]: Sehr richtig!)

ab 1990 im Vergleich zu 1985 Jahr für Jahr 50 Milliarden DM mehr in den Kassen der Unternehmen und der Bürger.
Angesichts dieser Daten und Fakten muß man schon ganz tief in die Geheimnisse der Entstehung öffentlicher und veröffentlichter Meinung einsteigen, um zu analysieren, wie aus einigen Ungeschicklichkeiten der Regierenden, polemischen Emotionalisierungskampagnen der Opponierenden und dem breiten Feldgeschrei vom Subventionsabbau Betroffener dieses Reformwerk zur Zeit noch so relativ unpopulär sein kann, wie uns das die Demoskopen sagen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns davon nicht beirren lassen. Wir werden das sachlich Richtige und Notwendige tun.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Rauch wird sich verziehen, und am Ende werden die, Herr Kollege, die es angeht, nämlich alle, die heute Steuern zahlen, merken, was Sache ist.

(Zuruf von der SPD: Das hoffen wir auch!)

Überhaupt, meine sehr verehrten Damen und Herren, rate ich Ihnen, sich alle Kritiker des Reformwerkes ganz genau anzusehen: diejenigen, die das Geld anderer möglichst mit vollen Händen ausgeben, diejenigen, die ohnehin keine Steuern zahlen, diejenigen, die fleißig rote Zahlen schreiben, möglichst mit staatlichen Subventionen ausgestattet.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Airbus!)

Sie alle miteinander sind die denkbar ungeeignetsten Kritiker unseres Reformwerkes, die man sich vorstellen kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Nein, die Masse der fleißigen, arbeitenden, steuerzahlenden Bürger unseres Landes ist aufgerufen, am Ende das Urteil zu sprechen, und niemand sonst.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Das tun die schon!)

Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist, bedingt durch die Gegenfinanzierungsmaßnahmen, aber nicht nur durch diese, ein Mammutwerk. Allein die Gegenfinanzierungsliste weist 59 Maßnahmen aus. 28 Artikel enthalten Änderungen quer durch einen großen Teil unserer Steuergesetze. Ich höre, daß sich die Zahl der Änderungsanträge aus dem Bundesrat, aus den Unterausschüssen über die Fachausschüsse bis zum Plenum in der nächsten Woche nur ganz langsam von dem ursprünglichen Höchststand von 130 vermindert. Das veranlaßt mich zu einer Bemerkung, weil mir die Entwicklung wirklich Sorge macht. Es geht um das Verhältnis der staatlichen Ebenen untereinander, und zwar jetzt im finanziellen Bereich.

(Zurufe von der SPD — Dr. Waigel [CDU/ CSU]: Herr Präsident, können die nicht einmal zur Ruhe gebracht werden?)

— Herr Kollege Apel, ich glaube, es besteht bei dem,
was ich jetzt sage, überhaupt keine Veranlassung zu



Gattermann
irgendwelchen intervenierenden Zwischenrufen. Hören Sie sich erst einmal an, was ich zu sagen habe.
Natürlich ist die Auswirkung von Mindereinnahmen für jede Ebene schwierig. Aber es gibt Finanzierungsnotwendigkeiten, Finanzierungsaufgaben und auch Steuersenkungsnotwendigkeiten, die man im demokratischen Verbund gemeinsam verkraften muß.

(V o r sitz : Vizepräsident Cronenberg)

Darüber muß man sich verständigen. Ich sage noch einmal: Beim Länderfinanzausgleichsgesetz ist mir das zum erstenmal sehr nachhaltig aufgefallen. Wenn die Konsensfähigkeit der Demokraten nachläßt — das hat an dieser Stelle überhaupt nichts mit Parteipolitik zu tun — , gerät unser Föderalismus, fürchte ich, in eine tiefe Krise.

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

Ich sage das, obwohl Sie wissen: Ganz zu Beginn der Geschichte der Freien Demokratischen Partei waren wir ja nicht so besonders nachhaltige Verfechter und Anhänger des Föderalismus. Aber inzwischen
— wir sind ja lernfähige Systeme —

(Lachen bei der SPD)

sind wir zu überzeugten Föderalisten geworden. Deshalb macht mich das besorgt.

(Abg. Dr. Apel [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Kollege Apel, bitte lassen Sie mich die Dinge im Zusammenhang zu Ende bringen, weil einiges im Auftrage meiner Fraktion ganz einfach noch gesagt werden muß.
In diesem Bereich der Gegenfinanzierungsmaßnahmen liegen ganz wesentliche Merkmale des Reformansatzes dieses Gesetzes. Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage bei deutlicher Senkung der Tarife, etwas mehr Transparenz im Steuerdschungel, Vereinfachungen für Verwaltung und Bürger, etwas mehr Steuergerechtigkeit — das alles ist es wert, im einzelnen vertieft diskutiert zu werden.
Ich kann für diese Reformziele nur ein paar Stichworte zum Beleg nennen.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Baden-Württemberg!)

Abschaffung oder Einschränkung von mehr als 50 Gruppenvergünstigungen bei der Besteuerung ist natürlich eine Maßnahme der Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Drei Punkte im Tarif oben weniger und drei Punkte im Tarif unten weniger, höhere Freibeträge und Linearisierung des Tarifs — das ist natürlich ein abgesenkter Tarif und ein Reformstück.
Heute schreibt Barbier in der „Frankfurter Allgemeinen" :

(Zuruf von der SPD: Schon wieder?)

Die Linearisierung des progressiven Tarifstückes
aber verdient wirklich die Bezeichnung „Reform". Im mittleren Bereich der Einkommenspyramide — die vom Facharbeiter über den Gewerbetreibenden bis zum kleineren Industriebetrieb reicht — werden die Grenzsteuersätze, also der Zugriff des Fiskus auf jede zusätzlich verdiente Mark, beachtlich verringert. Hier
— Herr Kollege Apel —
und nicht bei den „Großen", wie es die Verteilungspolemik glauben machen möchte, liegt die Hauptmasse der Entlastung.
Recht hat der Mann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Abschaffung des Investitionszulagengesetzes, die Abschaffung des Auslandsinvestitionsgesetzes, die neue Arbeitnehmerwerbungskostenpauschale oder die Steuerfreistellung von etlichen hunderttausend Steuerbürgern bringen natürlich eine ganze Menge Steuervereinfachung. Und natürlich haben die kleine Kapitalertragsteuer, die Vereinheitlichung der steuerfreien Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit, die Abschaffung des Essensfreibetrages und auch die einheitliche Besteuerung von Personalrabatten eine ganze Menge mit steuerlicher Gerechtigkeit zu tun.
Lassen Sie mich aber noch einige Punkte für die jetzt anstehenden parlamentarischen Beratungen ansprechen — selbst wenn das etwas technisch klingt —, um der interessierten Öffentlichkeit deutlich zu machen, wo im Beratungsgang möglicherweise noch Veränderungen möglich sind. Dabei ist klar, daß die Grundarchitektur des Reformgesetzes von niemandem in Zweifel gestellt wird.

(Huonker [SPD]: „Architektur" ist ein großes Wort für dieses Gesetz!)

Erstens. Der gesamte Bereich der kleinen Kapitalertragsteuer, aber nicht nur dieser, wird daraufhin überprüft werden, ob und wo es noch weitere Vereinfachungen gibt.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

So ist beispielsweise zu prüfen, ob im Bereich der Lebensversicherungen unter Beachtung verfassungsrechtlicher Kriterien nicht gänzlich, im Bereich der Bausparkassen nicht in einem pauschalierten Verfahren auf die sogenannte NV-Bescheinigung verzichtet werden kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Huonker [SPD]: Das klingt interessant!)

Ich will aber deutlich sagen, daß weitere materielle Ausnahmen von den Regierungsfraktionen nicht angestrebt werden.
Übrigens, meine Damen und Herren, die im Vorfeld der Regierungsentscheidung ausgenommenen steuerbefreiten und steuerbegünstigten Institutionen waren wohl der Anlaß dafür, daß man die Facharbeit des Bundesministeriums der Finanzen als „schlampig" bezeichnet hat. Ich sehe mich der historischen Wahrheit wegen, vor allen Dingen aber zur Ehrenrettung der Fachbeamten verpflichtet, folgendes festzustellen: Wenn sich während der Umsetzungsphase einer politischen Vorgabeentscheidung herausstellt, daß man sich bei der politischen Vorgabeentschei-



Gattermann
dung politisch verhoben hat, dann hat das mit schlampiger Arbeit der Fachbeamten nichts zu tun, besonders dann nicht, wenn diese Fachbeamten sogar vorher noch gewarnt haben. Gerade die Damen und Herren der Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen verdienen unser Lob und nicht unseren Tadel. Sie haben in den letzten Wochen und Monaten Herkulesarbeit geleistet.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich sage das auch nicht uneigennützig, denn in den vor uns liegenden Wochen werden wir die Mitarbeit dieser Damen und Herren noch dringend notwendig haben, und ungerechter Tadel ist nach meiner Auffassung nicht die richtige Ausgangsbasis für Leistungsmotivation.
Zweitens. Im Bereich der vorgesehenen Vollverzinsung für Steuernachzahlungen und Steuererstattungen müssen wir abschließend prüfen und abwägen, ob die weitgehende Nichtabzugsfähigkeit von Sollzinsen und die durchgängige Steuerpflicht von Habenzinsen eine vertretbare und sinnvolle Regelung ist.
Drittens. Im Zusammenhang mit der Aufhebung des Auslandsinvestitionsgesetzes ist zu prüfen und im Hearing vertiefend abzuklären, ob für die dem technischen Fortschritt dienenden Auslandsinvestitionen die sich ergebenden negativen Folgen im allgemeinen Steuerrecht aufgefangen oder gemildert werden müssen.
Viertens. Es wird zu prüfen sein, ob der mit der sogenannten „kleinen Lösung" vorgesehene Einstieg in die Probleme der überproportionalen Gesellschafter-Fremdfinanzierung ausreichend ist oder ob ein breiterer Ansatzpunkt gesucht werden muß. Wenn dies der Fall ist, wird man diesen Bereich des Gesetzgebungsverfahrens möglicherweise separat abwikkeln müssen, aber so, daß es zeitgleich mit dem Reformgesetz in Kraft treten kann.
Fünftens. Das vorgesehene faktische Verbot des sogenannten Mantelkaufs erscheint uns nur dann tolerabel zu sein, wenn zugleich das Problem der zeitlichen Befristung des sogenannten Verlustvortrages gelöst wird. Nach unserer Auffassung sollten Verluste zeitlich unbefristet vortragsfähig sein. — Entschuldigung, Herr Präsident, ich bin sicher, meine Fraktion gibt mir noch 5 oder 10 Minuten Redezeit, um das zu Ende zu bringen.

(Zustimmung des Abg. Mischnick [FDP]) — Schönen Dank.

Nach unserer Auffassung sollten Verluste zeitlich unbegrenzt vorgetragen werden können. Verwaltungsmäßig handhabbar wird das Ganze aber nur, wenn man die Verluste im Jahre, wo sie anfallen, bei der steuerlichen Feststellung verbindlich mit feststellt. Das ist übrigens ein Petitum, das, wie ich gelesen habe, auch aus dem Bundesrat auf den Tisch kommen wird.
Sechstens. Es wird zu überprüfen sein, ob die jetzt unter verfassungsrechtlichen Kriterien gefundene einschränkende Regelung für die Pauschalierung der Werbungskosten eines häuslichen Arbeitszimmers jetzt noch in dieser Form unter dem Reformzielgedanken der Vereinfachung und fiskalisch einen Sinn macht.
Siebtens. Gewisse Übergangsregelungen, insbesondere beim Wohnungsbauprämiengesetz, erscheinen uns angesichts der Werbung der Marktbeteiligten, die da zur Zeit läuft, überprüfungsbedürftig.
Diese Liste ist ganz sicher nicht vollständig.
Abschließend einige Bemerkungen zum Verfahrensgang. Herr Kollege Apel — Herr Vogel hat es vorher auch gesagt — , von Durchpeitschen und unzureichender Beratungszeit kann nun wirklich nicht die Rede sein. Über den Entlastungsteil wird seit März vorigen Jahres öffentlich diskutiert. Über den Belastungsteil wird seit Oktober öffentlich diskutiert. An den Grundstrukturen weder der Entlastung noch der Belastung hat sich im Zuge des Diskussionsprozesses Nennenswertes verändert.
Ich will ausgesprochen dankbar anmerken, daß die Mitwirkung der SPD-Kollegen und der Kollegen der Fraktion DIE GRÜNEN im Fachausschuß bei den vorbereitenden Strukturierungen der Arbeit ungewöhnlich konstruktiv war.

(Poß [SPD]: Trotzdem lehnen wir den Zeitplan ab, Herr Gattermann, wie Sie wissen!)

Ich hoffe und wünsche, daß dies so bleiben wird.

(Dr. Apel [SPD]: Herr Gattermann, warum muß das bis zur Sommerpause beschlossen sein?)

— Herr Kollege Apel, wir werden ausreichend Beratungszeit haben. Aber — das füge ich hinzu — falls die Zeit knapp wird, führt das Ganze jedoch nicht zu einer Verschiebung, sondern zu mehr Arbeit für uns. Das ist die Konsequenz, falls es eng werden sollte.
Das letzte: Herr Kollege Apel, Sie haben eben gesagt, wir wollten es durchpeitschen, um es los zu sein. Das ist doch Unsinn. Wir sind von dieser Steuerreform überzeugt. Wir wollen sie nicht abhaken. Wir wollen jetzt erst anfangen, sie in politische Münze umzusetzen und sie zu vermarkten; so ist das.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber wir brauchen diesen Zeitvorlauf für unsere Bürger und für unsere Unternehmen. Einiges soll 1989 in Kraft treten, wie Sie wissen. Die Versicherungswirtschaft und die Banken müssen neue Computerprogramme schreiben.

(Zurufe von der SPD)

— Entschuldigung, Herr Kollege Apel; die Verlage müssen Zeit haben, ordentliche neue Texte herauszubringen. Lohnbuchhaltungen und Steuerberater müssen sich mit der Materie vertraut machen. Wir haben uns viel zu oft in der Vergangenheit erlaubt, dies alles den beteiligten Bürgern und Unternehmen in kürzester, unzumutbarer Frist zuzumuten. Wir wollen ihnen bei diesen Dingen den Zeitdruck ersparen. Lieber setzen wir uns selber unter erhöhten Arbeitszwang.
Meine Damen und Herren, wir müssen das alles vor allen Dingen auch deshalb schnell erledigen, damit Bürger und Unternehmen letzte Klarheit haben, damit wir nämlich wieder den demokratischen Wettstreit auf einer Basis führen, wie wir ihn — ich hoffe — nicht nur



Gattermann
verbal eigentlich alle miteinander immer wieder fordern, nämlich auf der Basis von Daten, Fakten, Argumenten dann das wertende Urteil des mündigen Bürgers!
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107404200
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vennegerts.

Christa Vennegerts (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107404300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum achtenmal seit Beginn der 11. Legislaturperiode werden in diesem Hause die Steuerreform und ihre Auswirkungen thematisiert. Die Öffentlichkeit, die diesem Gesetzentwurf inzwischen skeptisch bzw. ablehnend gegenübersteht, soll mit von der Regierung inszeniertem Optimismus — wie heute dargelegt —, mit leeren Versprechungen und gezielter Desinformation über das Finanzdebakel getäuscht werden.
Reißerisch aufgemachte Faltblätter im „Bild"-Zeitungs-Jargon, teure Anzeigenkampagnen zufälligerweise vor Landtagswahlen, eine sechsstündige Mammutdebatte hier im Palament — hier geht es nicht um Information oder Aufklärung, sondern hier soll ein Gesetz — auch wenn es Ihnen nicht paßt, sage ich es noch einmal — durchgepeitscht werden gegen die Kritik, die Skepsis und das berechtigte Unbehagen der Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen in diesem Lande; das ist die Wahrheit.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zustimmung bei der SPD)

7,5 Millionen DM Steuergelder fließen in eine Werbekampagne, die von Mitte April bis Anfang Juni — wie es so schön heißt — die politische Willensbildung in puncto Steuerreform weitertreiben soll, wohlgemerkt: vor der endgültigen Verabschiedung des Gesetzes, nicht nachher.
Da wird der Versuch gemacht, den Bundesbürger mit hübschen Tabellen und bunten Farben zu ködern, in einem Moment, wo zwei entscheidende Punkte nicht im mindesten klar sind: die endgültige Finanzierung des ganzen Werkes und seine wirtschafts- und finanzpolitischen Konsequenzen. In einem Moment, in dem das christdemokratisch-liberale Lager in partikulare Einzelinteressen zerfällt, werden Zahlen vorgelegt, die keinen Aussagewert besitzen, da die endgültige Nettoentlastung nicht festgeklopft werden kann. Da hat Niedersachsen das verständliche Anliegen geäußert, die Sozialhilfelasten zwischen Bund und Ländern zu halbieren. Da möchte Bayern die regionale Investitionszulage beibehalten. Die Anstrengungen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten für seine Daimler-Benz-Landeskinder sind hinlänglich bekannt. Da steht die Arbeitnehmerpauschale von 2 000 DM durch Antrag Schleswig-Holsteins wieder zur Diskussion, ebenso die Besteuerung der Nacht- und Schichtarbeit. Und Sie stellen sich hier hin, Herr Stoltenberg, und sagen: Es ist alles geklärt. Wir ziehen das so durch. Es geht glatt über die Bühne. — Dem ist nicht so.

(Beifall bei den GRÜNEN — Uldall [CDU/ CSU] : Das wissen Sie doch nur aus der Zeitung! Sie waren nie im Ausschuß, liebe Frau Vennegerts! Lassen Sie lieber Ihren Kollegen reden!)

Wer wie CDU und FDP den Sozialdarwinismus zum Programm erhebt, muß sich nicht wundern, daß das Prinzip des Gemeinwohls, von dem hier heute gesprochen wurde, in diesem Land keinen Pfifferling mehr wert ist. Pathetisches Gejammere über den bösen Länderegoismus ausgerechnet aus dem Munde Otto Graf Lambsdorffs und Birgit Breuels ist unglaubwürdig.

(Frau Traupe [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Wer den Egoismus in diesem Lande wieder zur Handlungsmaxime erhebt, muß sich, Herr Stoltenberg, nicht wundern, wenn ihm die Geister, die er rief, auf der Nase herumtanzen. Keine Hochglanzwerbebroschüre dieser Welt könnte den bleibenden Eindruck auslöschen, welche das Selbstbedienungsspektakel auf der Kabinettsitzung am 22. März dieses Jahres beim Bürger hinterlassen hat.
Wenn Sie jetzt auch versuchen, Ihr Gesetz mit Hochgeschwindigkeit durchzubringen, beendet das Ihr Dilemma nicht. Die Schulden wachsen weiter, und die Einnahmen sind rückläufig. 1988 wird eine neue Rekordhöhe der Nettoneuverschuldung von mindestens 40 Milliarden DM — wir denken, daß es eher 50 Milliarden DM sein werden — erreicht. Die Frage stellt sich hier: Warum wird die Bundesrepublik in dieses finanzpolitische Abenteuer gejagt?
Drei Ziele gibt die Regierung vor mit der Steuerreform erreichen zu wollen. Erstens. Die Steuerzahler sollen entlastet werden. Zweitens. Die Nachfrage soll stimuliert und drittens die Investitionstätigkeit angeregt werden.

(Uldall [CDU/CSU]: Richtig!)

Alles zusammen soll zu Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung führen. So sind Sie angetreten.

(Uldall [CDU/CSU]: Gute Ziele!)

Was das Ziel der Entlastung der Steuerzahler angeht, so wird diesen vorgegaukelt, die Steuerreform mache sie reicher. Liest man Steuerreform und Gesundheitsreform zusammen, dann wird klar, daß dem Bürger als Sozialversichertem ein Teil seiner Steuerentlastung — insgesamt 7,4 Milliarden DM an Leistungskürzung — wieder aus der Tasche gezogen wird.

(Beifall bei den GRÜNEN — Uldall [CDU/ CSU]: Die Beiträge werden doch gesenkt!)

Schreitet die Deregulierungs- und Privatisierungspolitik in diesem Stil weiter fort, wird sie sicher nicht die letzte Belastung sein, die auf uns zukommt. Als nächstes steht die Erhöhung der Verbrauchsteuern und der Mehrwertsteuer an. Herr Stoltenberg, Sie wissen genau — die Spatzen pfeifen es von den Dächern — , daß eine gerechte Entlastung für jeden Einkommensbezieher nicht stattfindet.

(Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: So ist es!)

Die Ungerechtigkeit dieser Reform, nämlich: Wer viel
hat, dem wird noch wesentlich mehr gegeben, kann



Frau Vennegerts
nicht mehr ins Gegenteil verdreht werden. Das muß man einfach festhalten.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Apel [SPD])

Was die Nachfrage betrifft: 56 % der geplanten Steuerentlastung entfallen auf das obere Fünftel der Einkommensbezieher. Was werden die Leute mit diesem Geld machen? Die Reaktion auf die bisherige Entlastung war eine Erhöhung der Sparquote. Bei den Selbständigenhaushalten erreichte die Sparquote 1986, dem Jahr der ersten Stufe der Steuerreform, mit fast 27 % ihren bisherigen Höchststand. Auch bei den Arbeitnehmerhaushalten war das Bedürfnis nach Sparen so hoch, daß die durchschnittliche jährliche Entlastung von 600 DM rechnerisch voll gespart wurde. Fazit: Die bisherigen Erfahrungen belegen, daß es durch eine Steuerentlastung zu keiner oder nur zu einer geringfügigen Steigerung des Konsums kommen wird.
Die nächste Frage, die hier angesprochen wurde: Wie werden die Unternehmer reagieren? Durch die Senkung der Körperschaftsteuer werden den Unternehmern 2,4 Milliarden DM geschenkt. Werden sie diese Mittel zur Schaffung neuer Arbeitsplätze verwenden, was hier von Herrn Gattermann gerade vertreten worden ist? Gemäß der wirtschaftspolitischen Grundüberzeugung dieser Regierung müßten die zusätzlich verfügbaren Finanzmittel zu einer Zunahme der Investitionen führen. Indessen ist gerade das Gegenteil festzustellen: Trotz lehrbuchhaft guter Rahmenbedingungen — um einen Ausdruck des Sachverständigenrates zu verwenden — , trotz Rekordgewinnen, trotz Preisstabilität, trotz niedriger Nominalzinsen und trotz erheblicher Steuergeschenke für Großverdiener ist der Anteil der Investitionen an der Wertschöpfung der gesamten Wirtschaft im Laufe der 80er Jahre von 23,2 % auf 21,1 % gesunken. Das ist die Wahrheit!

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Uldall [CDU/CSU]: Aber die GRÜNEN wollten doch immer niedrigere Investitionen! Da müßten Sie doch eigentlich begeistert sein! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Null-Wachstum!)

Das zentrale Problem — „Wie bringe ich Unternehmer dazu, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen?" — kann offensichtlich nicht dadurch gelöst werden, daß ihnen immer mehr Geld in den Rachen geschmissen wird.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das sagen auch die neuesten Ifo-Umfragen; die bestätigen das klipp und klar. Das alles haben Sie gelesen, und das wissen Sie auch ganz genau. Und vor allen Dingen: Wenn diese wenigen Investitionen getätigt werden, sind es auch noch Rationalisierungsinvestitionen, die Arbeitsplätze kosten und keine neuen schaffen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Das heißt, Ihre Politik, Herr Stoltenberg, die — wie Sie es immer so blumig darstellen — Kreativität, Risikobereitschaft und Leistungsmotivation in unserer Gesellschaft entfesseln soll, geht, selbst wenn man die
von Ihnen selbst aufgestellten Maßstäbe anlegt, an der Realität vorbei. Das habe ich gerade bewiesen.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Bewiesen haben Sie gar nichts! Erzählt haben Sie!)

— Das sind Fakten! Das ist bisher so passiert, und daran wird sich auch nichts ändern, weil Sie die Politik in dieser Richtung noch verschärfen.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß für uns GRÜNE nicht das plan- und ziellose Investieren an sich Sinn macht. Vielmehr bewerten wir Investitionen danach, inwieweit sie einen Beitrag zur Verbesserung der Umwelt und im sozialen Bereich leisten. Das ist das Entscheidende an Investitionen!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Selbst wenn Sie, Herr Stoltenberg, die von Ihnen vorgesehenen Ziele, die ich gerade aufgezeigt habe, nicht erreichen werden, werden Sie eine Entwicklung einleiten — das wurde in diesem Hause heute überhaupt nicht beleuchtet, und das gibt mir sehr zu denken —, die die Umverteilung von unten nach oben vorantreibt und die Städte und Gemeinden in den Bankrott treibt. Das möchte ich von Ihnen auch einmal hören!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sieht man die Steuerreform im Gesamtzusammenhang, wird deutlich, daß sie der große Einstieg in den Ausstieg des Staates aus seinen ureigensten Verantwortungsbereichen ist. Das haben Sie hier ja auch an Hand der Staatsquote, die sehr niedrig ist, ganz klar aufgezeigt. Die Hauptlast der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme und der politischen Gestaltung tragen aber in unserem föderalistischen System die Länder und Gemeinden. Sie sind die großen Leidtragenden dieser Steuerreform.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Gemeinden haben seit 1981 in einem ungeheuren Kraftakt Defizitabbau betrieben, um ihre Finanzlage einigermaßen zu verbessern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Durch die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung!)

Durch Personalabbau und Leistungsbeschränkungen ist die Grenze ihrer Belastbarkeit bereits heute überschritten. Auch das muß man hier endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Die Kommunen, deren Sozialaufwendungen 1988 gegenüber 1987 um 7 % ansteigen werden, haben schon in diesem Jahr erheblich unter den deutlich verschlechterten Einnahmeentwicklungen bei Gewerbesteuer, Gemeindeanteil an der Einkommensteuer und Zuweisungen von Bund und Ländern zu leiden.
Die von Ihnen vorgesehenen Maßnahmen werden die ohnehin äußerst prekäre Haushaltslage der Kommunen verschlechtern. Das gilt insbesondere für Städte mit hoher Arbeitslosigkeit. Diese Städte werden in einen Verarmungssog getrieben, aus dem sie mit eigener Kraft nicht mehr herauskommen.

(Beifall bei den GRÜNEN)




Frau Vennegerts
1990 werden den Städten und Gemeinden durch die Steuerreform netto — —

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Waren Sie schon einmal in einem Gemeinderat?)

— Sehr wohl war ich im Gemeinderat und im Kreistag auch,

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Offensichtlich zu kurz!)

und genau da habe ich das erlebt. 1990 werden den Städten und Gemeinden durch die Steuerreform netto 6,5 Milliarden DM an Mindereinnahmen ins Haus stehen. Das können Sie hier doch nicht wegschreien.
Da kann auch das vielzitierte Kreditprogramm für kommunale Investitionen vom 2. Dezember letzten Jahres keine Hilfe bringen. Zwischenzeitlich hat sich nämlich die Vermutung bestätigt — was wir immer schon gesagt haben —, daß der Löwenanteil der 15 Milliarden DM in die Kassen derjenigen Kommunen fließt, die es sich leisten können, die Kredite wieder zurückzuzahlen. In den ersten beiden Monaten gingen Anträge über insgesamt 2,2 Milliarden DM ein. Davon entfiel allein auf Baden-Württemberg und Bayern ein Anteil von 43 %.
100 Millionen DM gibt der Bund in diesem Jahr für das Sonderprogramm Montanregion aus. 1,1 Milliarden DM gibt der Bund in diesem Jahr für den Airbus aus. Und Straußens Airbus GmbH hat nichts Eiligeres zu tun, als Überlegungen anzustellen, wie Teile der Produktion nach Fernost ausgelagert werden können. Das erklären Sie mal den Arbeitslosen in der Bundesrepublik. An diesen Problemen geht Ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik, von der Steuerreform bis zur Montanrunde, gezielt vorbei.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Warum sind Kreativität, Leistung und Innovation eigentlich Eigenschaften, die immer nur den Privaten zugestanden werden? Müßten nicht Gemeinden, Landesregierungen, Ministerien und Politiker genausoviel Experimentierfreudigkeit, unkonventionellen Mut und Ideenreichtum entwickeln?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ist nicht der Staat, die öffentliche Hand, ein integraler Bestandteil unserer Marktwirtschaft, ein Wirtschaftssubjekt, das nachfragt, anbietet und Arbeit schafft und damit die Möglichkeit hat, den Bereich egoistisch und borniert handelnder Individuen zu gestalten und ihm eine sinnvolle Richtung zu geben, Rahmenbedingungen zu setzen?

(Glos [CDU/CSU]: Jetzt wissen wir die Richtung!)

Diese Rolle soll der Staat Ihrer Meinung gar nicht spielen — die Reaktion bestätigt das.

(Glos [CDU/CSU]: Sie wollen zum Realoflügel gehören?)

— Klar.
Im Gegenteil, die Bundesregierung hat diese Steuerreform zu einem der bedeutendsten Projekte dieser Legislaturperiode erklärt. Wir nehmen diese Aussage sehr ernst, da diese Steuerreform auf dem Weg in die Ellenbogengesellschaft einen Eckpfeiler bildet.

(Glos [CDU/CSU]: Die redet schlimmer als ein Fundi!)

Das hat mit Gemeinwohl allerdings nichts zu tun, Herr Stoltenberg.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dieses Konzept zielt auf eine tiefgreifende Änderung der Gesellschaft. Der Staat soll sich aus seinen gesellschaftlichen Aufgaben verabschieden, wie z. B. Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Die Lösung dieser Probleme soll Ihrer Meinung nach einer entsolidarisierten Gesellschaft überlassen werden, die durch Egoismus und Sozialdarwinismus gekennzeichnet ist. Dahin geht die Reise mit Ihrer Steuerreform. Das muß man einfach mal ganz klar sehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir hoffen, daß die von dieser Entwicklung bedrohten Bürgerinnen und Bürger sich das nicht gefallen lassen werden und diese fatale Reform letztendlich doch noch scheitert.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107404400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Waigel.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107404500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Apel ist in der SPD-Fraktion für die Finanzpolitik zuständig und hat heute ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Anhebung der Verbrauchsteuern und der Mehrwertsteuer hier gehalten, obwohl darüber in der Koalition überhaupt noch keine Entscheidungen gefallen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Wir dürfen immer erst hinterher?)

— Nein, nein, Herr Kollege Dr. Vogel.

(Dr. Vogel [SPD]: Wir haben in Habachtstellung die Entscheidung abzuwarten?)

— So früh Ihr Unmut? Bewahren Sie sich die Gelassenheit, die Sie damals beim Salvator-Anstich durchaus gehabt haben.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Das verstehen die nicht, Herr Waigel!)

— Das macht nichts. Aber Sie verstehen es, und das ist in dem Zusammenhang wichtig.
Ich will Ihnen allerdings eines sagen, Herr Kollege: Wir haben einmal nachgerechnet, um wieviel die Verbrauchsteuern in Ihrer Zeit angehoben worden sind. Das waren 25,6 Milliarden DM — und davon eine ganze Menge unter Ihrer Zeit als Finanzminister, Herr Apel.

(Dr. Vogel [SPD]: Das wollen Sie jetzt überbieten?)




Dr. Waigel
Sie sollten sich für den Rest Ihres politischen Wirkens über Mehrwertsteuererhöhungen in diesem Hause nicht mehr äußern.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107404600
Herr Abgeordneter, dies veranlaßt den Abgeordneten Apel, um eine Zwischenfrage zu bitten.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107404700
Bitte schön. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107404800
Herr Kollege Dr. Waigel, da Sie gerade von der Mehrwertsteuer gesprochen haben — —

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107404900
Und den Verbrauchsteuern.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107405000
Mehrwertsteuer. — Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in 13 Jahren sozialliberaler Koalition die Mehrwertsteuer in der Tat um zwei Prozentpunkte angehoben wurde,

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber wann?)

und daß sie in, rechnen wir mal, sieben oder acht Jahren Regierungsbeteiligung der CDU nach der Reform der Umsatzsteuer auch um zwei Prozentpunkte angehoben worden ist? Meinen Sie nicht, daß es dann zumindest unentschieden steht und Ihre Polemik überflüssig geworden ist?

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107405100
Herr Kollege Apel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß am Ende dieser Legislaturperiode bei uns eine Gesamtentlastung von 50 Milliarden DM netto stattfinden wird, daß die Steuerlast gesunken sein wird

(Dr. Vogel [SPD]: Für wen?)

und daß damit neben der Problematik der Verbrauchsteuern die entscheidende Verringerung im Leistungsbereich bei der Einkommensteuer und der Lohnsteuer stattfindet und wir dadurch am meisten vor allem für die Entlastung der unteren Einkommensschichten getan haben und daß wir — Herr Apel, das ist nun das Allerschönste — die Erhöhung des Eingangssteuersatzes, für die auch Sie Verantwortung getragen haben, von 19 auf 22 % 1990 zurücknehmen werden? Also sogar da sehen Sie schlecht aus.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107405200
Herr Abgeordneter Dr. Waigel, Sie gestatten noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107405300
Nachdem er so bereit war, Zwischenfragen zuzugestehen, gehört sich das.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107405400
Bitte sehr.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107405500
Herr Kollege Dr. Waigel, sind Sie bereit, mit mir eine Wette abzuschließen, daß Sie, falls Sie wider Erwarten die nächste Bundestagswahl gewinnen,

(Lachen bei der CDU/CSU)

die Mehrwertsteuer massiv anheben werden, um Ihre Haushaltslöcher zu stopfen?

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107405600
Also ich bin zunächst bereit, mit Ihnen jede Wette abzuschließen, daß wir die Bundestagswahl gewinnen werden.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: „Bayernkurier" lesen! — Dr. Apel [SPD]: Okay, auch diese Wette schließe ich ab!)

Ich bin auch bereit, mit Ihnen jede Wette abzuschließen, daß die Steuerquote unter unserer Zeit sich jedenfalls entscheidend gesenkt haben wird.

(Aha-Rufe bei der SPD)

Und ich bin bereit, Herr Kollege Apel, mit Ihnen und mit jedem anderen, der für Finanzpolitik Verantwortung trägt, darüber zu diskutieren, ob unser Steuerstruktursystem

(Dr. Apel [SPD]: Aha!)

— Moment; das ist eine ernsthafte Diskussion — mit 60 % direkter Steuern und 40 % indirekter Steuern richtig und vernünftig ist

(Beifall bei der CDU/CSU)

und innerhalb der EG und ihrer in einer Zeitachse kommenden Harmonisierung beibehalten werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107405700
Ich bitte, den Gegenstand der Wette an anderer Stelle festzulegen und mich gegebenenfalls daran zu beteiligen.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107405800
Sie wissen, daß ein Bayer nur dann wettet, wenn er große Aussicht auf Erfolg hat.

(Heiterkeit)

Ich weiß nicht, wie das in Hamburg ist.
Aber Sie haben sich dann auch zum Grundfreibetrag geäußert. Es ist Ihnen sicher bekannt, Herr Kollege Apel, daß der Grundfreibetrag, wie wir ihn 1990 beschließen werden, wesentlich höher als der ist, der im Rau-Tarif enthalten gewesen ist. Also auch hier tun wir mehr, als Sie sich in dem Bereich vorgestellt haben.
Nun haben Sie gesagt, das Ganze sei ein Stück aus dem Tollhaus. Ich habe mir gedacht: Wie gern wären Sie in dem Tollhaus.

(Heiterkeit — Dr. Apel [SPD]: Nein! — Dr. Vogel [SPD]: Nein! Bei euch nicht!)

Wenn Sie als Finanzminister einmal die Chance gehabt hätten, eine wirkliche Steuerreform durchzuführen! Von Ihrer Seite wurde Herr Professor Haller vor Ihrer Zeit durch Ihren verehrten Vorgänger Dr. Möller bestellt. Nur, gelobt hat er Sie nicht, sondern er ist bei Ihnen gegangen, weil er bei Ihnen gar nicht das verwirklichen konnte, was er sich unter einem leistungsgerechten Steuersystem vorgestellt hat.

(Dr. Vogel [SPD]: 27 Jahre muß er zurückgehen!)




Dr. Waigel
Und jetzt lobt der Mann uns. Das zeugt von seiner Unabhängigkeit und seiner Fachkenntnis.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie man dann noch behaupten kann, unsere Familienpolitik sei nicht weitergeführt worden, wo bei Ihnen familienpolitisch nichts passiert ist, während wir die Familien, wenn man alles zusammenrechnet, jährlich um weit über 12 Milliarden DM entlasten und ihnen zusätzlich etwas geben, ist mir völlig unverständlich.
Bei allem Humor in der Diskussion, der auch sein muß, Herr Apel: Überhaupt nicht mehr humorvoll und auch nicht mehr sachlich war das, was Sie über die Rentner gesagt haben. Der Kollege Gattermann hat Ihnen darauf die sachkundige Antwort gegeben. Sie treiben hier Schindluder mit der Sorge älterer Menschen, und zwar völlig zu Unrecht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Was steht denn in Ihrer Liste drin? — Dr. Apel [SPD]: Eine halbe Milliarde wird abkassiert!)

— Herr Kollege Apel, ich habe Ihnen und allen Rednern mit großer Geduld zugehört. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir jetzt die Möglichkeit gäben, das eine oder andere zu sagen, wobei ich für Zwischenrufe immer dankbar bin.
Aber Sie werden doch nicht leugnen können, daß die Realeinkommen der Rentner in der Zeit dieser Koalition gestiegen sind, auch im letzten Jahr um über drei Prozent, und daß sie von der Steigerung des Grundfreibetrages überproportional profitieren. Wer nur Rentner ist, zahlt ohnehin keine Steuern, weil der Ertragsanteil in aller Regel niedriger ist als die normalen Freibeträge. Die Rentner, die Steuern zahlen, profitieren um ein Mehrfaches, verglichen mit den anderen Bürgern, von der Erhöhung des Grundfreibetrages. Insofern ist das, was Sie da gesagt haben, billigste Polemik. Sie sollten das den Rentnern und den Älteren in unserer Gesellschaft gegenüber nicht tun, weil Sie damit staatspolitisch das Vertrauen dieser Menschen, die viel geleistet haben, in die Politik erschüttern, und das kann auch eine Opposition nicht wollen, das kann auch Ihr Interesse nicht sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107405900
Herr Abgeordneter Waigel, es gibt erneut die Bitte um eine Zwischenfrage.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1107406000
Nein, Herr Kollege Apel, ich bitte um Verständnis, wir können das nicht in einen reinen Dialog ausarten lassen. Das wäre dem Ernst einer Debatte, die um andere Dinge geht, nicht ganz angemessen.
Sie haben Sorgen um die Gemeinden geäußert. Jede Partei, die in den Kommunen verankert ist, muß das tun. Wer aber 1981 in der eigenen Regierungszeit einen Zustand zu verzeichnen hatte, wo die Defizite der Kommunen 11 Milliarden DM betrugen,

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Jährlich!)

— jährlich — und wer konstatieren muß, daß wir durch eine ständige Politik der stärkeren Berücksichtigung der Länder und Kommunen das nicht nur abgebaut, sondern dafür gesorgt haben, daß die Kommunen insgesamt ab 1985 wieder Überschüsse gehabt haben, damit wieder Investitionskraft gewonnen haben, der kann doch hier nicht mit Ausdrücken kommen, wir würden die Kommunen in den Bankrott treiben. Das waren sie am ehesten zu Ihrer Zeit, aber nicht mehr zu unserer Zeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ihre Sorgen, daß wir die Information und das Werben für diese Reform verbessern können, sind begründet. Wir werden das in der Tat tun, weil es da bisher echte Schwachstellen gibt. Meine herzliche Bitte an alle Länderfinanzminister wäre folgende, daß sie den Steuerbescheid so gestalten, daß da drinsteht: Das ist Ihre Steuerschuld nach dem Tarif 86, 88 und 90; Ihre Steuerschuld auf Grund des SPD-Tarifs 1982 wäre so hoch gewesen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD)

Das wäre eine sachliche Information. Jeder Bürger könnte genau zwischen dem Steuertarif von Ihnen und dem Steuertarif von uns unterscheiden. Es wäre überhaupt keine Propaganda, und die Menschen würden von der Wirklichkeit eingeholt und wir brauchten sie nicht noch über andere Dinge zu informieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Bundesfinanzminister, vielleicht könnten Sie diese Anregung in Ihre Gespräche mit den Länderfinanzministern einbringen.
Noch ein Wort zum Kollegen Gattermann. Ich sehe ihn im Augenblick nicht. Ich möchte nur sagen, daß es sich bei ihm um einen ausgesprochenen sympathischen sachlichen Kollegen handelt und einen exzellenten Fachmann,

(Beckmann [FDP]: Das kann ich nur unterstreichen!)

aber

(Heiterkeit)

selbst ein exzellenter Fachmann — und ich wünschte mir sein Wissen im Steuerrecht — kann sich in der politischen Bewertung allein oder mit anderen einmal irren. Die Einbeziehung der Kirchen, der Stiftungen, staatlicher Banken, Versorgungswerke und der Gemeinden in die kleine Kapitalertragssteuer war sicher nicht der Weisheit letzter Schluß. Wir hätten uns einiges an Ärger ersparen können, wenn wir das nicht in die Vorschläge hineingebracht hätten. Das zu der Bewertung, ob das eine mal schlampig oder nicht schlampig sein kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Entwurf zum Steuerreformgesetz 1990 steht in der Kontinuität der Wirtschafts- und Finanzpolitik seit dem Kurswechsel im Herbst 1982. Ihr Ziel ist die Rückführung des Staates auf den Kern seiner Aufgaben. Damit wird der Staat nicht arm, sondern damit wird er leistungsfähig. Wir müssen endlich wieder unterscheiden, was die Gesellschaft soll und was der Staat soll. Wir wollen den Anteil der Gesellschaft, der Selbstverantwortung der Bürger, der Familien stärken, um da-



Dr. Waigel
mit den Staat wieder auf das zurückzuführen, was wirklich seine primäre Aufgabe ist. Das wieder bedeutet die Schaffung von Freiräumen für private Initiative, für Markt und Wettbewerb.
Meine Damen und Herren, wenn jene Systeme in der Welt, die bisher mit wenig Wettbewerb oder ohne Wettbewerb gearbeitet haben, in ihrer neuen Programmsetzung — das geht von der Sowjetunion bis China — entdecken, daß sie langfristig große Entwicklungen nur mit mehr Markt, nur mit mehr Wettbewerb lösen können, dann wären wir von allen guten Geistern verlassen, wenn wir das Wettbewerbssystem und das Marktsystem zurückschrauben sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Durch ein einfacheres, ein leistungsgerechteres und moderneres System der Besteuerung verbessern wir die Bedingungen für Leistung, für unternehmerischen Mut, für Investitionen und für Innovationen.
Am Anfang dieser Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Koalition stand die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Es war notwendig geworden, die während der 70er und Anfang der 80er Jahre stark angestiegenen öffentlichen Ausgaben zu begrenzen und die überhöhten Defizite zurückzuführen. Wohin wäre die Entwicklung gegangen, wenn sich Ausgabenzuwächse von 8 bis 10 % nur noch wenige Jahre fortgesetzt hätten?
Wir haben den Umfang der öffentlichen Defizite von 4,9 % des Bruttosozialprodukts im Jahre 1981 auf 2,5 % im Jahre 1987 reduziert. Auch wenn wir ganz bewußt auf Grund der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge in diesem Jahr eine Nettokreditaufnahme von 40 Milliarden DM hinnehmen und gestalten müssen, liegen wir im Vergleich im Anteil des Bruttosozialprodukts noch besser, als Sie 1982 gelegen haben; ganz abgesehen davon, daß Sie den Anstieg der Neuverschuldung brauchten, um Ausgaben zu finanzieren, wir damit jedoch Steuerentlastung für alle Bürger finanzieren und auf 7 oder 8 Milliarden DM Bundesbankgewinn auf Grund einer Zufallsbewertung am 31. Dezember 1987 verzichten. Das ist der große strukturelle Unterschied.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Anteil der Staatsausgaben — das hat heute bereits der Bundesfinanzminister erklärt — ist in unserer Zeit von 1982 bis 1987 von fast 50 % auf 46,8 °A) zurückgegangen, und das ist eine richtige Entwicklung. Der Ausgabenzuwachs des Bundeshaushalts lag in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt unter 2 %, was schwierig war, was für viele Kollegen im Bundeskabinett und natürlich auch für den Bundesfinanzminister keine einfache Angelegenheit war, während 9 % in den Jahren 1970 bis 1982 den Durchschnitt bildeten.
Damit haben wir die Rahmenbedingungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung gesetzt, der nunmehr in sein sechstes Jahr geht und aller Voraussicht auch darüber hinaus anhalten wird.

(Frau Traupe [SPD]: Und die Arbeitslosen?)

— Frau Kollegin Traupe, wenn die Prognosen der
Opposition zutreffend wären, was sie nie sind, dann
würde sich die Wirtschaft heute in einer Rezession mit
Wachstumseinbruch befinden, einer Arbeitslosenzahl von 4 Millionen, einer zusätzlichen stillen Reserve von 2 Millionen. Das waren Ihre Prognosen.

(Widerspruch bei der SPD)

— Aber sicher. — Das Gegenteil ist der Fall.
Nach den jüngsten Zahlen über Auftragseingänge und Produktion sind die Stimmen der Schwarzmaler nun etwas leiser geworden, die noch vor wenigen Wochen nach zusätzlichen Konjunkturprogrammen verlangt haben. Wir werden den Fehler der 70er und Anfang 80er Jahre nicht mehr machen, in einen konjunkturpolitischen Aktionismus zu verfallen, an dessen Ende die tiefste Rezession der Nachkriegsgeschichte stand und die uns nur Schulden und Arbeitslosigkeit hinterlassen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit dieser Haushaltskonsolidierung haben wir Spielraum für eine offensive Finanzpolitik geschaffen. Im Mittelpunkt dieser offensiven Finanzpolitik steht eine leistungs- und wachstumsfördernde Steuerpolitik. Das frühere Steuersystem war leistungs- und wachstumshemmend. Es wird in der Diskussion zunehmend auch Englisch gesprochen. Das hat der frühere Bundeskanzler schon gemacht. Das verstehen natürlich alle. Ob alle Schwäbisch verstehen, weiß ich nicht. Schon mein Vater hat immer gesagt: „D'Schtuira mached uns hi."

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das heißt auf hochdeutsch übersetzt: Die Steuern bringen uns um. So schlimm war es zwar nicht, aber niemand wird bestreiten können, daß der Weg in den Abgabenstaat stärker wurde. Die Abgabenquote und die Steuerquote stieg.
Wir haben hier den Spieß umgedreht. Innerhalb der Einkommen- bzw. Lohnsteuer ist eine starke Zunahme des Anteils der mittleren Einkommen am Steueraufkommen zu verzeichnen. Die 12,5 Millionen Steuerpflichtigen mit einem zu versteuernden Einkommen zwischen 18 000 und 60 000 DM erbrachten 1986 zwei Drittel des gesamten Steueraufkommens und damit über 10 % mehr als noch zehn Jahre zuvor.
Schon heute befinden sich über 60 % aller Berufstätigen in der steuerlichen Progressionszone, wo die steuerliche Grenzbelastung, also die Steuerbelastung des Einkommenszuwachses, stark ansteigt. Die durchschnittliche Belastung des Einkommenszuwachses mit Steuern und Sozialabgaben liegt heute häufig bei über 50 %. Wen wundert es, daß unter den Bedingungen der Firma Samstag & Schwarz in früheren Zeiten die größten Umsatzsteigerungen zu verzeichnen hatten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das förderte Schattenwirtschaft und Steuerumgehung in allen Formen. Ungleichmäßige Besteuerung und Kompliziertheit des Steuerrechts führen zu Ungerechtigkeiten und volkswirtschaftlichen Fehlentwicklungen. Wenn wir mehr wirtschaftliche Dynamik verlangen, müssen wir auch die berufliche Leistung stärker anerkennen.



Dr. Waigel
Bereits in den Jahren 1983, 1984 und 1985 haben wir dringend notwendige Verbesserungen bei der Unternehmensbesteuerung mit einem finanziellen Volumen von immerhin gut 8 Milliarden DM durchgeführt, was in der aktuellen Diskussion über die Reform der Unternehmensbesteuerung nicht außer acht gelassen werden sollte. Schwerpunkt der Steuerreform 1986, 1988 und 1990 bildet nun die Einkommensteuer, weil hier der Handlungsbedarf am größten ist und die durchgreifende Neugestaltung des Tarifs die größten volkswirtschaftlichen Breitenwirkungen verspricht.
Diese Steuerreform erfolgt in drei nicht nur zeitlich, sondern auch logisch aufeinanderfolgenden Stufen und ist daher in ihrer Gesamtheit zu sehen. Die erste Stufe der Steuersenkung 1986/1988 mit einem Volumen von rund 10 Milliarden DM ist vorrangig den Familien und den Beziehern kleiner Einkommen zugute gekommen und hat eine erste Absenkung der Steuerprogression gebracht. In der zweiten Stufe mit einem Volumen von knapp 15 Milliarden DM, die seit Anfang dieses Jahres ebenfalls bereits in Kraft ist und die heute schon ihre konjunkturelle Wirkung zeigt, wird eine weitere deutliche Tarifabflachung eingeführt und werden die Abschreibungsbedingungen für kleinere Unternehmen verbessert.
Meine Damen und Herren, ich bin auch besonders stolz darauf, daß wir diese Mittelstandskomponente mit eingebracht haben, hier gemeinsam mit durchsetzen wollen, um die großartige Leistung des Mittelstandes in den letzten Jahren für mehr Arbeitsplätze und für mehr Ausbildungsplätze zu würdigen und seine Investitionskraft auch künftig zu stärken und zu gewährleisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Diese Mittelstandskomponente kommt dem sehr nahe, was Mittelstandspolitiker immer wieder in der Vergangenheit mit der steuerstundenden Investitionsrücklage gefordert haben.
Das Steuerreformgesetz 1990 mit einem Bruttovolumen von rund 40 Milliarden DM bildet die dritte Stufe für ein zukunftsorientiertes Steuersystem. Kernstück ist der arbeits- und mittelstandsfreundliche Einkommensteuertarif mit einem gleichmäßig und sanft ansteigenden Verlauf. Gleichzeitig werden Steuervergünstigungen und Sonderregelungen in einem Umfang von zwischen 18 bis 19 Milliarden DM abgebaut. Dadurch wird das Steuersystem vereinfacht und verbessert. Wenn über 500 000 bisherige Steuerpflichtige aus der Steuerpflicht herausfallen, dann ist das eine gewaltige Vereinfachung und zeigt auch den sozialen Aspekt dieser Steuerreform.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In einem Zeitraum von nur vier Jahren werden die Bürger und die Unternehmen um insgesamt um rund 50 Milliarden DM entlastet. Wenn Sie, Herr Apel, das in Ihrer Zeit fertiggebracht hätten, dann würde ein Fackellauf nach Hamburg stattfinden, wie Sie ihn zu Recht angesichts der Verdienste von Helmut Schmidt bei der Abrüstung angeregt haben; aber das steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls hat mir das gefallen, daß Sie Ihrem früheren Chef gegenüber in der Frage
die Treue gehalten haben, was man nicht für alle hier in Ihrer Runde behaupten kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Mein Gott!)

— Aber, Herr Vogel, ich räume gerne ein, daß das hier nicht zur Sache gehört; aber die außenpolitische Glaubwürdigkeit des Herrn Apel ist höher als die Ihre.

(Lachen bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Kümmert euch um eure Glaubwürdigkeit!)

Aber daraus bitte ich keinen Umkehrschluß hinsichtlich seiner steuer- und finanzpolitischen Glaubwürdigkeit herzuleiten.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es eine solche Steuerentlastung gegeben. Die volkswirtschaftliche Steuerquote wird dadurch 1990 den Stand von rund 22 % erreichen.
Dabei handelt es sich um eine Dauerentlastung. Wir machen das nicht nur für ein Jahr, sondern der Sinn und der große volkswirtschaftliche Nutzen dieser Entlastung besteht darin, daß sie nicht kurzfristig ist, daß sie nicht begrenzt ist, sondern eine Dauerentlastung über die gesamte Zeit des Arbeitslebens hinweg. Wenn man das einmal hochrechnet, über ein Arbeitsleben von 25 oder 30 Jahren, dann wird man eigentlich erst spüren, wie sehr wir dem Bürger wieder das Geld zurückgeben und ihm mehr Verfügungsmöglichkeit, aber auch mehr Verantwortung für seinen Lebensbereich und den Lebensbereich seiner Umgebung mit überantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen diese Steuerreform zur Stärkung der Wachstumskräfte unserer Wirtschaft, denn nur bei angemessenem, stetigem und möglichst inflationsfreiem Wirtschaftswachstum ist es möglich, die gravierenden Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt abzubauen, den strukturellen Wandel unserer Wirtschaft zu bewältigen, die Kapazitätsanpassungen in den Krisenbranchen zu erleichtern, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen sicherzustellen und die Realeinkommen aller Schichten unserer Bevölkerung entsprechend zu erhöhen und zu sichern.
Diese Steuerreform 1990 ist sowohl angebotsorientiert als auch nachfrageorientiert. Sie fördert einerseits die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer und die Investitionsfähigkeit der Unternehmen, und sie führt andererseits durch Freisetzung von Kaufkraft zu einer Erhöhung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage.
Sie ist auch in der weltwirtschaftlichen Konjunktur genau richtig eingebettet, denn wir wissen doch ganz genau, daß die Exportkonjunktur der Jahre 84, 85 und 86 durch eine verstärkte Binnenkonjunktur abgelöst werden muß, und wir damit unseren Beitrag erbringen, damit die Amerikaner bei der Reduzierung ihres Außenhandelsdefizits und auch bei der Reduzierung



Dr. Waigel
ihres Budgetdefizits vorankommen können. Insofern paßt es genau in die internationale Situation.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die OECD und die wirtschaftswissenschaftlichen Institute haben in den letzten Wochen ihre vorsichtigen Prognosen eher zum Positiven korrigiert. Die Einschätzung der Bundesregierung, die im Jahreswirtschaftsbericht eine Wachstumsrate in Höhe von 1,5 bis 2 % zugrunde gelegt hat, bestätigt sich nach anfänglichen Zweifeln. War man damals der Meinung, es wird eher ehrgeizig sein am unteren Korridor anzukommen, dann gehen heute die meisten Prognostiker bereits davon aus, daß wir eher am oberen Korridor dieses Zieles anlangen können. Und das hängt damit zusammen, daß wir gerade steuerpolitisch auf lange Frist die richtigen Entscheidungen fällen.
Der Wachstumstrend im ersten Quartal liegt über 2 %. Tragende Säule dieser Entwicklung ist die starke Zunahme des privaten Verbrauchs. Auch die Industrieproduktion läßt eine nach aufwärts gerichtete Tendenz erkennen. Die Auftragseingänge weisen im Januar/Februar gegenüber November/Dezember 1987 mit plus 3 % einen deutlichen Zuwachs auf. Real wird der Vorjahresstand um 5,8 % übertroffen. Und auch die Geschäftserwartungen haben sich jüngst deutlich verbessert. Trotz der Turbulenzen auf den Finanzmärkten hat sich die konjunkturelle Aufwärtsbewegung als äußerst robust erwiesen.
Wir wissen, daß wir als ein Land, das vor allen Dingen vom freien Welthandel und vom Export in besonderem Umfang abhängig ist, auch unseren Teil weltwirtschaftlicher Verantwortung übernehmen müssen. Allerdings: Ich hoffe, wir sind uns darüber im klaren, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht die Rolle einer Weltwirtschaftslokomotive spielen kann. Aber: Diese steuerpolitischen Beschlüsse tragen zur Stärkung unserer Binnennachfrage entscheidend bei, und sie bilden einen wichtigen Beitrag zum Abbau der internationalen Ungleichgewichte.
Meine Damen und Herren, neun von zehn der deutschen Betriebe werden in der Rechtsform des Personenunternehmens geführt. Die Einkommensteuer ist für sie zugleich die wichtigste Unternehmensteuer. Und mit der Absenkung der tariflichen Grenzbelastung durch den linear-progressiven Tarif, einschließlich des Spitzensatzes, wird auch der Unternehmensbereich deutlich entlastet, die Eigenkapitalbildung und damit die Investitionskraft insbesondere der mittelständischen Unternehmen nachhaltig gestärkt. Die Gesamtheit aller seit Oktober 1982 vollzogener und bis 1990 noch eintretender Entlastungsmaßnahmen für die Wirtschaft erreicht ein Entlastungsvolumen in der Größenordnung von mehr als 20 Milliarden DM.
Und bei der Senkung des Spitzensteuersatzes geht es nicht um Steuergeschenke für einige Reiche, wie die Opposition zu polemisieren pflegt.

(Widerspruch bei der SPD)

Wer behauptet, die Frage des Spitzensteuersatzes habe nichts mit Leistung zu tun, möge sich doch einmal die Statistik betrachten. Übrigens: Lassen Sie sich doch in der Frage ein Kolleg vom SPÖ-Bundeskanzler in Österreich geben, der hier überhaupt keine ideologischen Bedenken hat und jederzeit in der Lage ist, den Spitzensteuersatz zu senken. Aber der Mann hat ja Volkswirtschaft gelernt.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Der Mann hat im Gegensatz zu manchem von Ihnen Volkswirtschaft gelernt.
Nach den Ergebnissen der Lohn- und Einkommensteuerstatistik 1983 entfallen von den Steuerzahlern in der oberen Proportionalzone, wo also der Spitzensteuersatz greift, allein 52,4 % auf die Einkunftsart Gewerbebetrieb. Weitere 17,6 % der Spitzensteuerzahler erzielen Einkünfte aus selbständiger Arbeit und 13,7 To aus nichtselbständiger Arbeit. Mit fast 84 % entfällt also der weit überwiegende Teil der Einkünfte der Steuerzahler in der oberen Proportional-zone auf gewerbliche Einkünfte sowie auf Einkünfte aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit. Wie man angesichts dieser Tatsache behaupten kann, die Einkünfte dieser Steuerzahler seien nicht leistungsbezogen, erscheint schleierhaft. Die überwältigende Mehrzahl dieser Steuerzahler trägt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, zu mehr Investitionen und Innovationen bei, während mit der verteilungspolitischen Polemik von Opposition und DGB kein einziger Arbeitsplatz neu geschaffen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe einmal versucht, mir vor dem Hintergrund des Nürnberger Parteitags im August 1986 ein Szenario vorzustellen.

(Zuruf von der SPD: Ach Gott, ach Gott!)

Auf diesem Parteitag hat sich die SPD mit der Wirtschaft der Zukunft intensiv beschäftigt. Entwicklung hochintelligenter Produkte und Technologien, soziale und ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft — das waren die Parolen und Themen dieses Parteitags. Wenn wir jenen Parteitag in einem Bild zusammenfassen, so sieht das so aus: Der SPD-Vorsitzende Vogel bestellt die Vorstände der Kapitalgesellschaften, die Inhaber mittelständischer Unternehmen und die Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zum Rapport und gibt dabei folgende — —

(Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD])

— Sie waren doch auch dabei, glaube ich. Das ist ja keine Schande, oder?

(Dr. Vogel [SPD]: Rapport? Das ist CSU!)

— Entschuldigung, das haben mir nur Ihre Stellvertreter im Vertrauen gesagt, daß es sich um einen Rapport handelt.

(Dr. Vogel [SPD]: Sie sind auch schon Stellvertreter!)

Ich bin aber bereit, auch jeden anderen Ausdruck zu verwenden. Ich tue ja alles, um Ihnen heute eine gute Laune zu bescheren, Herr Kollege Vogel.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr schwierig! — Dr. Vogel [SPD]: Sie langweilen mich ein bißchen!)

— Ich langweile Sie? Sie mich manchmal auch; dann
machen wir es gegenseitig. Aber Sie langweilen sogar



Dr. Waigel
Ihre Freunde, während meine Freunde von mir nie gelangweilt werden.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Lassen Sie sich nicht ablenken!)

— Wissen Sie, Herr Kollege Vogel, der Nachteil des Zwischenrufers ist der, daß derjenige, der am Rednerpult steht, immer noch einmal einen draufgeben kann.
Sie müßten von den Leuten dann folgendes verlangen. Die ökonomische und technische Intelligenz unseres Landes setzt unverzüglich den sozialen, ökologischen und technologischen Umbau unserer Wirtschaft durch. Ich glaube, darüber sind wir uns einig.

(Dr. Vogel [SPD]: Wunderbar!)

Zweitens. Damit dieser Umbau möglichst schnell vonstatten geht, wird ab sofort die 30-Stunden-Woche verfügt.
Drittens. Als finanziellen Anreiz für die anwesende ökonomische und technische Intelligenz bringt der SPD-Vorsitzende auch ein steuerpolitisches Geschenk in Form einer verbindlichen Zusage, auf jegliche Steuersenkung für diesen Personenkreis zu verzichten, Grenzsteuersätze zwischen 60 und 80 % beizubehalten und — als besondere Zugabe — eine Ergänzungsabgabe einzuführen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich kann mir kaum vorstellen, Herr Kollege Vogel, daß die Menschen, die Sie bräuchten, um Ihre Zielsetzung zu verwirklichen, von Ihrer Beigabe so besonders begeistert sind.
Ich gebe Ihnen uneingeschränkt recht mit Ihrer Feststellung zur 35-Stunden-Woche. Sie haben sinngemäß gesagt — ich habe es jetzt nicht wörtlich vorliegen — : Die gibt es schon, aber nicht in meinem Umkreis. Damit haben Sie sinngemäß zum Ausdruck gebracht: Wer bei mir arbeitet, muß mehr als 35 Stunden in der Woche arbeiten. Und Sie haben recht, Sie haben absolut recht.
Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Aus den Reihen der SPD kommt ja jetzt der Vorschlag, langfristig auf die 30-Stunden-Woche zu gehen. Machen wir eine Experimentierphase bis Ende 1990: Die SPD-Bundestagsabgeordneten arbeiten künftig 30 Stunden, wir arbeiten weiter 60 Stunden, und am Wahltag ziehen wir Bilanz.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Vogel, eine solche Politik führt in die Sackgasse.

(Dr. Vogel [SPD]: Da sind Sie schon!)

Sie ist die sichere Grundlage für den mittelfristigen Verlust der wirtschaftlichen und technologischen Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft auf den Weltmärkten.
Die Kollegen Glotz, Spöri und auch Rappe haben die zunehmende gesellschaftspolitische Relevanz der wirtschaftlichen Leistungsträger oder der — um mit einem Lieblingsausdruck des Kollegen Glotz zu arbeiten — ökonomischen und technischen Intelligenz erkannt. Nur: Sie weigern sich hartnäckig, hieraus die notwendigen steuer- und gesellschaftspolitischen Konsequenzen zu ziehen.
Von Arbeits- und Leistungsbereitschaft, von Fleiß und Risikobereitschaft, von der Belastbarkeit und der lebenslangen Bereitschaft zur Fortbildung dieser wirtschaftlichen und technischen Leistungsträger hängt es doch zu einem ganz entscheidenden Teil ab, ob in unseren Unternehmen schwarze Zahlen erwirtschaftet werden — was unter roten Regierungen selten der Fall ist — , ob die Unternehmen heute auf den nationalen und den internationalen Märkten konkurrenzfähig sind und ob heute jene Techniken und Produkte entwickelt werden, die in fünf oder zehn Jahren wettbewerbsfähig sein müssen, um damit die Beschäftigung der Belegschaften in fünf oder zehn Jahren sicherzustellen, und ob schließlich die Wirtschaft in der Lage ist, Investitionen zu tätigen, Innovationen umzusetzen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Spätestens 1992 soll die Vollendung des EG-Binnenmarkts abgeschlossen sein. Wenn die Grenzbarrieren fallen und der Kapitalmarkt völlig liberalisiert ist, wird zwangsläufig die Höhe der Unternehmensbesteuerung ein bedeutsamer Faktor im innergemeinschaftlichen Standortwettbewerb sein.
Lieber Herr Kollege Apel, wir werden es nicht in der Hand haben, das selber zu bestimmen und von den anderen zu verlangen, daß sie in unsere Richtung harmonisieren, sondern wir werden uns überlegen müssen, wie unsere Harmonisierung auszusehen hat, damit wir keinen Wettbewerbsnachteil im Steuersystem gegenüber anderen Industrieländern haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Höhe der Unternehmensbesteuerung wird zwangsläufig ein bedeutsamer Faktor im innergemeinschaftlichen Standortwettbewerb sein.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Ich glaube, daß wir insgesamt sehr positiv und eigentlich erwartungsfroh in diesen Binnenmarkt gehen können, denn wenn die deutsche Volkswirtschaft, die leistungsfähigste, das nicht schafft, welche andere soll es schaffen?

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Nur müssen wir ihr faire Voraussetzungen dazu geben. Es ist unsere Pflicht, das nicht mit ideologischen Scheuklappen, sondern nach den nationalökonomischen Notwendigkeiten zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nicht nur in Großbritannien, auch in den Niederlanden, im sozialistisch mitregierten Österreich, in Neuseeland, in den USA, in Frankreich, Japan und Kanada sind grundlegende Steuerreformen vorgenommen worden.
Der Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne liegt bei allen unseren westlichen Handelspartnern deutlich unter dem deutschen Niveau. Aufschlußreich ist der vom Ifo-Institut durchgeführte Vergleich der Steuerbelastung des Gewinns von Kapitalgesellschaften der Werkzeugmaschinenindustrie. Mit einer Belastung von 62 bis 66 % des steuer-



Dr. Waigel
lichen Gewinns nimmt die Bundesrepublik eine Spitzenstellung ein vor Japan mit 52 bis 55, den USA mit 46, Großbritannien mit 39 und der Schweiz mit 26 %.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unglaublich!)

Die Reduzierung des deutschen Körperschaftsteuersatzes von 56 auf 50 % kann also nur ein erster Schritt in Richtung auf eine in der nächsten Legislaturperiode vorzunehmende Reform der Unternehmensbesteuerung sein.
Die Steuerreform 1990 ist wachstumspolitisch geboten, sie ist sozial ausgewogen, sie ist familienfreundlich, und sie ist vor allem mittelstandsfreundlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Und schlampig!)

Sie ist sozial ausgewogen, weil mit der Senkung des Eingangssteuersatzes und der Anhebung des Grundfreibetrages ein Großteil des Entlastungsvolumens auf die Bezieher kleinerer Einkommen entfällt.
Auch die Maßnahmen zum Abbau von Sondervergünstigungen sind sozial ausgewogen, was sich unschwer an den Klagen der großen Kapitalgesellschaften ablesen läßt

(Zuruf von der SPD)

— aber natürlich! —, die vom Abbau von Steuersubventionen überproportional betroffen sind und bei denen es im Einzelfall netto zu einer Belastung kommen kann. Dieses Bild wird jedoch relativiert durch die gegenüber dem Tiefpunkt der Rezession zu Beginn der 80er Jahre deutlich verbesserten Unternehmenserträge. Das ist richtig, das war gewollt, und das hat ein Mann wie Helmut Schmidt immer gefordert, aber mit Ihnen nicht verwirklichen können.

(Zuruf von den GRÜNEN: Was ist damit passiert?)

In den vergangenen sechs Jahren haben die Unternehmenserträge mit einer gegenüber den Arbeitnehmereinkommen deutlich höheren Rate zugenommen.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das habe ich ja gesagt! Was ist damit passiert?)

Darauf richten natürlich die Opposition — SPD und GRÜNE — und die Gewerkschaften ihre Kritik. Nur eine Gegenfrage: Wollen Sie eigentlich die Wiederherstellung der Verteilungsrelationen, wie sie in den Jahren 1980 bis 1982 bestanden? Wer wie die Opposition diesen Zustand wieder herbeisehnt, der sollte sich die realwirtschaftlichen Verhältnisse von damals genau vor Augen führen:

(Sellin [GRÜNE]: Wessen Taschen sind voll?)

Verlust von über einer Million Arbeitsplätzen,

(Dr. Vogel [SPD]: Wo sind denn die Erträge? Was geschieht denn mit dem Geld?)

Beginn einer bis heute anhaltenden Insolvenzwelle,
realer Rückgang des Sozialprodukts, Inflationsraten
von nahezu 6 % und kräftige Löcher in der Leistungsbilanz.

(Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD])

Es war die tiefste Rezession in der deutschen Nachkriegsgeschichte. — Herr Kollege Vogel, es ist doch das Natürlichste der Welt und es müßte Ihr volkswirtschaftlicher Verstand Ihnen sagen, daß in einer Zeit, in der wir Leistungsbilanzüberschüsse in dieser großen Zahl haben, selbstverständlich der Austausch in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft im Kapitalverkehr sich teilweise dadurch vollzieht, daß ein Kapitalexport in dieser Zeit stattfindet. Das ist mir doch lieber,

(Dr. Vogel [SPD]: Das sind doch Finanzanlagen, Zinsanlagen!)

als wenn ich einen Kapitalimport in einer schlechten Zeit habe, wie Sie es 1981 oder 1982 zu verantworten hatten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Ganz dünn! Ganz dünn!)

Die Koalition und die Regierung würden sich freuen, wenn sich die Relation der Investionen stärker dem angleichen würde,

(Dr. Vogel [SPD]: Aha!)

— natürlich —, was an verbesserten Erträgen vorhanden ist. Nur, langfristig muß die deutsche Exportindustrie natürlich auch daran interessiert sein, ihre Märkte in den Ländern, in die sie exportiert, zu erhalten.

(Dr. Vogel [SPD]: Das sind Finanzanlagen und keine Investitionen im Ausland!)

Das ist unter bestimmten Umständen auch nur möglich mit dortigen Direktinvestitionen. Insofern ist das ein natürlicher, arbeitsteiliger Prozeß.

(Dr. Vogel [SPD]: Finanzanlagen!)

Ich bin davon überzeugt, daß manches von dem geparkten Geld, manches von der Rücklage mehr in konkrete Inlandsinvestitionen fließt — und damit in mehr Arbeitsplatzinvestitionen —, als das bisher erfolgt ist, wenn die langfristige Perspektive in dieser und in der nächsten Legislaturperiode gewährleistet ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Die Koalition treibt das Geld ins Ausland!)

Lieber Herr Kollege Vogel, Sie sollten sich einmal einen Vergleich ansehen: wie die Sachkapitalrendite zu Ihrer Zeit war, und wie die Sachkapitalrendite zu unserer Zeit ist.

(Dr. Vogel [SPD]: Darum geht das Geld ins Ausland!)

Zu Ihrer Zeit, als viele Schulden gemacht wurden, war es lohnend — —

(Lachen bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Sie machen doch Schulden!)




Dr. Waigel
— Wir liegen beim Anteil am Bruttosozialprodukt unter Ihrer Zahl, Herr Kollege Vogel.

(Dr. Vogel [SPD]: Sie können doch nicht bis drei zählen!)

Das wissen Sie ganz genau.
Zu Ihrer Zeit war es für den, der Kapital besaß, lohnender, dies in risikolosen Staatspapieren anzulegen.

(Dr. Vogel [SPD]: Und jetzt geht er ins Ausland!)

Zu unserer Zeit lohnt es sich wieder zu investieren.

(Zurufe von der SPD: Wo denn?)

Sie haben eine arbeitnehmerfeindliche Politik betrieben,

(Dr. Vogel [SPD]: Schwätzer!)

weil es sich zu Ihrer Zeit nicht mehr lohnte, Investitionen durchzuführen,

(Dr. Vogel [SPD]: Und jetzt gehen sie ins Ausland!)

weil es lohnender war, das Geld in risikolosen Staatspapieren anzulegen. Damit sind Millionen von Arbeitsplätzen verlorengegangen. So war es.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Steuerreform 1990 ist insbesonders mittelstandsfreundlich. Das ist heute bereits mehrfach gesagt worden. Dabei ist Mittelstand mehr als nur Handwerk. Dazu gehören Facharbeiter, freie Berufe, Handwerker und die bereits zitierte ökonomische und technische Intelligenz. Sie alle profitieren von der Linearisierung des Tarifs. Diese Gruppe war es auch, die in den vergangenen Jahren den größten Beitrag zur Schaffung der über 700 000 neuen Arbeitsplätze geleistet hat. Die Leistungsbereitschaft dieses Mittelstandes, der von der 35-Stunden-Woche nur träumen kann, muß steuerpolitisch anerkannt und gefördert werden. Das ist aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion das Hauptanliegen der Steuerreform 1990.
Bei der Beratung des Entwurfs — darauf haben der Finanzminister und der Kollege Gattermann bereits hingewiesen — besteht durchaus noch Spielraum für Verbesserungen bei den Detailregelungen. Wir müssen hier offen sein für Dinge, die noch an uns herangetragen werden, soweit sie den finanziellen Rahmen nicht gefährden. Ich denke da an die Übergangsregelung bei der Aufteilung des Investitionszulagengesetzes oder die eine oder andere strittige Regelung oder Vereinfachungsmöglichkeit auch bei der kleinen Kapitalertragsteuer.
Mit den Beschlüssen zur Steuerreform und zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen hat die Koalition in schwierigen und für die Zukunft unseres Gemeinwesens bedeutsamen Bereichen ihre politische Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Die Koalition wird auch ihre Grundsatzvereinbarungen zur Novellierung des Kartellgesetzes, zur Strukturreform in der Rentenversicherung, zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, zur Umsetzung eines Solidarvertrags für die Landwirtschaft, zum Artikel-Gesetz für die innere Sicherheit, zu, Neufassung eines praktikablen Ausländerrechts, zu einer vernünftigen Postreform und — was für uns besonders wichtig ist — zu einem Bundesberatungsgesetz zum Schutz des werdenden Lebens auf den Weg bringen und verabschieden. Mit der konkreten Umsetzung dieser Vorhaben erfüllt die Koalition ihren Gestaltungsauftrag über diese Legislaturperiode hinaus.
Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107406100
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Poß.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1107406200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Kollege Waigel vorhin von der Prognosesicherheit sprach, die er für sich reklamierte, habe ich mich gefragt: Welche Prognosen meint er eigentlich, die von den Kollegen Blüm und Geißler aus dem Jahr 1983, daß wir 1985 unter 1 Million Arbeitslose haben werden, oder die, daß die Steuer- und Abgabenlast auch schon für den Durchschnittsverdiener gesenkt werden würde, oder welche Prognosen meinte der Kollege Waigel eigentlich? Ich dachte, hier wird „Welt verrückt" oder „Welt verkehrt" gespielt. Jedenfalls sehen die Zeitungen und die Zahlen anders aus als die heile Welt, die Herr Waigel uns hier vorgespiegelt hat.

(Beifall bei der SPD)

Da können wir Punkt für Punkt abhaken, Herr Waigel, von der Investitionsquote bis zur soliden Schuldenwirtschaft, die Sie betreiben und die Sie in diesem Jahr noch zu ungeahnten Höhen treiben und steigern werden: Überall sind Sie Weltmeister in Negativrekorden, und das wissen die Menschen draußen, das spricht sich rum, das spüren sie, und das können Sie hier nicht wegreden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Bevor Sie im übrigen damit anfangen, SPD-Parteitage zu karikieren, sollten Sie sich mal Ihre eigenen CSU-Parteitage angucken, wo nur noch einer redet. Die Reden werden immer länger, und Sie werden als einer der potentiellen Nachfolger in diesem großen Schatten immer grauer, Herr Waigel.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Keine Sorge, erstens bin ich kein Nachfolger, und zweitens bin ich nicht grau!)

In der Karikierung von Parteitagen anderer Parteien sollten Sie wirklich vorsichtig sein. Da bietet die CSU genug Stoff, glaube ich.
Als Herr Gattermann so wortreich von der Verwendung öffentlicher Mittel sprach, dachte ich auch: Was meint er jetzt, die Prozeßkostenhilfe für Lambsdorff oder welche Verwendung öffentlicher Mittel?

(Beifall bei der SPD — Beckmann [FDP] : Ganz billig!)

— Von ähnlicher Qualität, Herr Beckmann, ist auch die GröStaZ, die größte Steuerreform aller Zeiten. Was der Bundesfinanzminister hier vorgelegt hat, ist mit den hochgespannten Erwartungen überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Der Gesetzentwurf enthält Tarifänderungen bei der Einkommensteuer zu Lasten der mittleren und kleinen Einkommen, zeichnet sich



Poß
durch eine Vielzahl von Steuererhöhungsmaßnahmen aus, die Arbeitnehmer und Rentner treffen, und bringt als finanziellen Schwerpunkt die Einführung einer neuen Quellensteuer.
Die Steuererhöhungsmaßnahmen sind nicht nur einseitig unsozial, sie sind auch in sich widersprüchlich und führen in vielen Fällen zu einer weiteren Komplizierung des Steuerrechts, Herr Dr. Stoltenberg. Von wegen Steuervereinfachung! Nach den Berechnungen der Finanzminister der Länder erfordert Ihr Steuerpaket auf Dauer 2 200 zusätzliche Steuerbeamte. Das ist die einzige konkrete Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Ihrer bisherigen Regierungszeit. Die Steuergewerkschaft spricht sogar von 5 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Von einer Steuerreform im Sinne einer systematischen Neuordnung und Vereinfachung des Steuerrechts kann daher nicht die Rede sein. Was Sie uns hier vorlegen, ist steuerpolitisches Flickwerk mit vielen, vielen offenen Fragen.
Obwohl die Regierungskoalition bereits seit mehr als einem Jahr an diesem Paket rumdoktert, hat sie selbst in fünf Punkten einen Vorbehalt angemeldet und damit dem Parlament gegenüber offengelassen, was sie eigentlich will. Die Vorbehalte betreffen eine spezielle Regelung bei der Investitionszulage, die eine weitere Förderung der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf mit mehr als 1/2 Milliarde DM ermöglichen soll.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107406300
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1107406400
Ja, bitte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107406500
Bitte schön, Herr Abgeordneter Uldall.

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1107406600
Herr Kollege Poß, welche Vorschläge unterbreiten Sie denn zu einer Steuervereinfachung?

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1107406700
Entschuldigen Sie, das ist nicht das Thema.

(Uldall [CDU/CSU]: Aber Sie haben doch darüber gesprochen!)

Ich behandle jetzt Ihr Steuerpaket, und mein Thema ist nicht, die SPD-Vorstellungen für 1990 auszubreiten. Darüber werden wir uns in diesem Parlament noch an anderer Stelle unterhalten, und dazu werden Sie unsere Vorschläge schon hören.

(Beifall bei der SPD)

Ihnen wird es nicht gelingen, mich von der Darstellung Ihnen unangenehmer Punkte hier abzubringen, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD)

Der Vorbehalt betrifft weitere Steuersubventionen für die Landwirtschaft, die geplante Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit. In dem Zusammenhang sage ich: Wir begrüßen die Abkoppelung aus dem Steuerpaket, wie sie von den Ländern — z. B. auch von Bayern — gefordert wird, weil wir eine Stärkung und nicht die Schwächung der Gemeinnützigkeit wollen. Auch die im Koalitionsentwurf vorgesehene Mineralölsteuerbefreiung für Sportflieger gehört zu den Vorbehalten. Herr Stoltenberg hat von „special interests'' gesprochen. In der Tat, hier, bei dieser Lex Strauß, gibt es ein solches spezielles Interesse.
Im übrigen, die Steuerbefreiung für Sportflieger ist nicht nur eine ungerechte und sachlich nicht zu rechtfertigende neue Steuersubvention; sie widerspricht auch den Vorschlägen der EG-Kommission, Herr Waigel, die im Rahmen der Steuerharmonisierung verlangt, daß der private Luftverkehr voll versteuert werden soll. So sieht es aus.
Nur mit dem Ausklammerungstrick ist es Ihnen gelungen, den Gesetzentwurf überhaupt so einzubringen, daß heute die erste Lesung stattfinden kann, eine erste Lesung unter Vorbehalt. Das ist ein einmaliges Verfahren, meine Damen und Herren. Es ist kennzeichnend für die eigene Unsicherheit und die Zweifel der Koalitionsabgeordneten an dem Inhalt dieses Gesetzentwurfs. Diese Zweifel sind berechtigt. Sie haben ja auch bereits — wie die Presse meldet — zu heißen Diskussionen in Ihrer letzten Fraktionssitzung geführt.
Auch die Finanzminister aller elf Bundesländer haben bereits schwerwiegende Bedenken geltend gemacht. Im Finanzausschuß des Bundesrates wurden 132 Anträge behandelt. 76 Änderungsanträge oder Prüfungsaufträge wurden angenommen, natürlich jeweils mit Zustimmung von CDU/CSU-regierten Ländern; denn sonst liegt ja eine Mehrheit im Bundesrat nicht vor.
Die Finanzminister machen damit deutlich, daß erhebliche verfassungsrechtliche und steuersystematische Bedenken bestehen und daß in vielen Einzelpunkten die mit dem Gesetzentwurf angestrebte Verwaltungsvereinfachung nicht erreicht wird. Diese Bedenken des Bundesrates, meine Damen und Herren, müssen ernstgenommen werden.
Es zeichnet sich bereits heute ab, daß die Bundesregierung versucht, begründete Einwände zur Seite zu schieben und das Steuerpaket bis zur Sommerpause, Herr Kollege Gattermann, im Galopp über die parlamentarischen Hürden zu bringen. Natürlich wirken wir im Finanzausschuß konstruktiv mit. Aber dem Finanzausschuß des Deutschen Bundestages stehen nach der bisherigen Planung zwei Sitzungswochen zur Verfügung,

(Müntefering [SPD]: Unverschämtheit!)

in denen die Ergebnisse der Anhörung von Verbänden und Sachverständigen, die Änderungsanträge des Bundesrates, die Stellungnahme der Bundesregierung hierzu sowie die Voten der elf mitberatend beteiligten Ausschüsse ausgewertet und beraten und schließlich die zu übernehmenden Änderungen in den Gesetzentwurf eingearbeitet werden müssen. Diese Hektik ist unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD)

Das müßten Sie eigentlich, Herr Dr. Stoltenberg, aus den bisherigen Pannen und Fehlern in Ihrem ersten Entwurf selber wissen. Oder wollen Sie vielleicht mit Ihrer Zeitplanung von vornherein Änderungen des Gesetzentwurfes unmöglich machen und so das Parlament zu einer reinen Zustimmungsmaschine



Poß
umfunktionieren? Das ist mit unserem Parlamentsverständnis nicht vereinbar.

(Menzel [SPD]: Das sind ja bayerische Zustände hier!)

Doch warum diese überzogene Hektik? Doch nur deshalb, weil Sie dieses Steuerpaket, von dem in erster Linie Spitzenverdiener profitieren, so schnell wie möglich vom Tisch haben wollen. Sie wollen, daß die Bürger das Steuerpaket im Herbst bereits vergessen haben. Dann nämlich werden Sie massive Verbrauchsteuererhöhungen beschließen. Das ist der Hintergrund Ihrer Hektik.
Dann müssen Sie auch über die Deckung der immer größer werdenden Finanzierungslücken entscheiden. Das ist der eigentliche Grund für den Zeitdruck, unter den Sie sich selber gestellt haben. Es gibt keine anderen Gründe.
Die weitaus überwiegende Mehrheit der Bürger hat Ihre Steuerpolitik längst durchschaut. Tatsache ist, daß die Steuerbelastung der normal verdienenden Arbeitnehmer seit der Wende von Jahr zu Jahr gestiegen ist. Um den Anstieg der Steuerbelastung zu stoppen, waren die Steuersenkungen 1986 und 1988 für die meisten Arbeitnehmer viel zu niedrig. Nach Ihren eigenen Zahlen ist die Steuerbelastung eines Arbeitnehmers mit statistischem Durchschnittseinkommen von 16,2 % im Jahre 1982 auf 18 % im Jahre 1988 angestiegen. Dieser Anstieg der Steuerbelastung durch das immer stärkere Hineinwachsen des Durchschnittsverdieners in den Progressionsbereich wird von Ihnen hartnäckig verschwiegen.

(Dr. Vogel [SPD]: Das sind die Realitäten! Die schiebt ihr unter den Tisch!)

Auch heute morgen haben Sie das hier verschwiegen. Das ist Täuschung der Öffentlichkeit.

(Beifall bei der SPD — Uldall [CDU/CSU]: Das ist der Grund, warum wir die Korrekturen machen!)

Sie tun, Herr Uldall, in Ihren Rechenbeispielen immer so, als hätten die Arbeitnehmer bereits 1985 das gleiche Einkommen gehabt wie 1990. Das ist ein schöner Trick. Mit dieser statischen Betrachtung täuschen Sie den Bürgern Entlastungsbeträge vor, die mit der Realität nichts zu tun haben. Bei realistischer Betrachtung muß davon ausgegangen werden, daß auch 1990 für die meisten Arbeitnehmer die Steuerbelastung nicht sinkt. In vielen Fällen ergibt sich sogar wegen des Zusammentreffens verschiedener von Ihnen vorgesehenen Steuererhöhungsmaßnahmen eine höhere Steuerbelastung als bisher.
Eindeutige Gewinner Ihrer Steuerpolitik sind dagegen die Spitzenverdiener. Die durch die Tarifänderung für Spitzenverdiener eingetretene Steuersenkung — hören Sie gut zu — ist so hoch, daß sie auch durch die kompensatorischen Steuererhöhungen nur unwesentlich gemindert wird. Das führt dazu, daß die sehr gut und gut Verdienenden in Zukunft erheblich weniger Steuer zahlen müssen als bisher, während die Steuerbelastung der Normalverdiener in etwa gleich bleibt. Das ist ungerecht und unsozial. Es ist eine weitere Fortsetzung der von Ihnen betriebenen Umverteilungspolitik von unten nach oben.

(Glos [CDU/CSU]: Ach du meine Güte!)

Diese soziale Schieflage, Herr Glos, will ich Ihnen an Hand der neuen netten Broschüre

(Dr. Jobst [CDU/CSU]: Das haben doch Sie gemacht, durch Ihre Inflationspolitik!)

von Herrn Stoltenberg demonstrieren. Selbst bei der von Ihnen vorgenommenen statischen Zusammenfassung der Tarifentlastung 1986 bis 1990 ohne Berücksichtigung der Steuererhöhungsmaßnahmen ergibt sich aus dieser Broschüre, daß Normalverdiener sowohl in absoluten Entlastungsbeträgen als auch im Verhältnis zu ihrem Einkommen oder zu ihrer bisheriger Steuerschuld weitaus schlechter gestellt sind als Spitzenverdiener. So beträgt z. B. bei einem Verheirateten mit einem zu versteuernden Einkommen von 40 000 DM die Tarifentlastung 15,9 v. H. der bisherigen Steuerschuld, während bei einem zu versteuernden Einkommen von 150 000 DM die Tarifentlastung 28 % ausmacht. Das können Sie in der StoltenbergBroschüre nachlesen, falls Sie es noch nicht gemacht haben.
Der Grund hierfür liegt darin, daß der von Ihnen angestrebte linear-progressive Tarif mit steigendem Einkommen zu einer immer höheren Steuerentlastung führt. Von der beabsichtigten Senkung des Spitzensteuersatzes profitieren ohnehin nur Spitzenverdiener. Das ist ja der Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer, von dem Norbert Blüm gesprochen hat.
Für diese beiden Maßnahmen verbrauchen Sie ein derart hohes Finanzvolumen, daß Sie für die aus sozialen Gründen notwendigen steuerpolitischen Maßnahmen keine Mittel mehr zur Verfügung haben. Sie haben kein Geld mehr zur Anhebung des Grundfreibetrages, mit der das Existenzminimum freigestellt werden sollte. Statt den Spitzenverdienern Steuergeschenke, die auch noch unökonomisch sind, hinterherzuwerfen, sollten Sie lieber den Grundfreibetrag stärker anheben, meine Damen und Herren.
Die ungerechte Ausgestaltung des Tarifs führt auch zu einer Verschlechterung des Familienlastenausgleichs. In dem Einkommensbereich von 32 000 DM bis 130 000 DM werden Verheiratete weniger stark entlastet als Ledige. Das ist Ihre Familienpolitik. Das beruht darauf, daß in diesem Einkommensbereich die Entlastungswirkung durch das Ehegattensplitting zurückgeht, während der maximale Splittingvorteil für Spitzenverdiener um mehr als 3 000 DM ansteigt. Die normalverdienenden Familien — das ist der Skandal, meine Damen und Herren — sind damit die eindeutigen Verlierer Ihrer Steuerpolitik. Sie werden sowohl gegenüber den gleichviel verdienenden Ledigen als auch den sehr gut verdienenden Familien benachteiligt. Die Benachteiligung der Familie tritt unabhängig von der Anzahl der Kinder ein. So ist bei einem Bruttoeinkommen von 60 000 DM — das ist schon ein ganz gutes, überdurchschnittliches Einkommen — die Entlastung einer Familie ohne Kinder oder mit einem, zwei, drei oder vier Kindern nur etwa halb so hoch wie die eines Ledigen ohne Kinder. Nennen Sie das Familienpolitik?



Poß
Der Grund hierfür liegt darin, daß die steuerlichen Kinderfreibeträge trotz der geplanten geringfügigen Erhöhung wegen der Absenkung des Tarifs in vielen Fällen zu einer geringeren steuerlichen Entlastung als nach dem geltenden Recht führt. Dabei ergibt sich sogar das absurde Ergebnis, daß im mittleren Einkommensbereich die Steuerentlastung von Verheirateten mit Kindern geringer ist als bei Verheirateten ohne Kinder.

(Beifall der Abg. Frau Nickels [GRÜNE])

Und Sie wollten doch das Kind so fördern. Das ist konkret Ihre Politik.
Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus weitere Verschlechterungen für Familien mit Kindern: Kürzung des Kindergeldes um bis zu 720 DM im Jahr, d. h. Sie kassieren die Hälfte der Steuerentlastung beim Tarif wieder ein. Mit der Kirchensteuerregelung belasten Sie jedes Kind zusätzlich mit 27 DM. Familien mit Kindern, die wegen ihres geringen Einkommens nichts von den steuerlichen Kinderfreibeträgen haben, gehen nach dem Gesetzentwurf vollkommen leer aus.
Nach all dem steht fest, daß die Zusagen von Bundeskanzler Helmut Kohl in der Regierungserklärung vom 18. März 1987 — den Familienlastenausgleich, so sagte Helmut Kohl damals, werden wir deshalb noch gerechter gestalten, und das Schwergewicht der Entlastung liegt bei den unteren und mittleren Einkommen sowie bei den Familien — nicht eingehalten werden. Das hat Generalsekretär Geißler erkannt. Deswegen schlägt er eine flankierende Kindergelderhöhung vor. Er hat die offene Flanke erkannt, doch angesichts der katastrophalen Lage der Bundesfinanzen kann mit der zugesagten Erhöhung des Kindergeldes in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr gerechnet werden. Im Gegenteil, wie gering der Stellenwert des Kindergeldes bei Ihnen ist, zeigt sich schon daran, daß Sie seit 1982 Jahr für Jahr weniger für das Kindergeld ausgeben und 1991 sogar 4 Milliarden weniger für das Kindergeld aufwenden wollen als zehn Jahre zuvor. Das ist die familienpolitische Realität im Jahre 1990 und in den Folgejahren.
Sie, Herr Dr. Stoltenberg, waren über Jahre das Symbol für christlich-demokratische Finanzpolitik. Inzwischen teilt die ganze Republik die Einschätzung des bayerischen Ministerpräsidenten — Sie, Herr Waigel, haben offenbar eine andere Einschätzung —, der sich über die geradezu dilettantische und schlampige Vorbereitung der Steuerreform 1990 durch den Bundesfinanzminister beschwert. Zuerst überboten sich die Minister Stoltenberg und Bangemann bei der Höhe der Steuersenkung und bei der Höhe des Subventionsabbaus. Wo sind denn die 25 Milliarden aus der FDP-Liste? Die haben wir nie gesehen; sie wurden immer nur in der Zeitung angekündigt.
Daraus wurde dann die Koalitionsankündigung, die Steuerreform 1990 werde ein Bruttovolumen von 45 Milliarden haben, 20 Milliarden werde der Subventionsabbau hereinbringen, und in Höhe von 25 Milliarden würden die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden belastet werden. Es folgte das Versprechen von Regierungs- und Koalitionsmitgliedern, jeder werde durch die Steuersenkung 1 000 DM
erhalten. Dann kam der Steuersenkungsbeschluß des Kabinetts, und anschließend brauchte der Herr Bundesfinanzminister angeblich viele Monate — bis zur Wahl in Schleswig-Holstein — , um die Subventionslisten zu durchforsten.
Was kam dabei heraus? Aus dem versprochenen Subventionsabbau von rund 20 Milliarden DM wurde nach den Zahlen des Bundesfinanzministers — Sie können ja widersprechen — eine sogenannte kassenmäßige Gegenfinanzierung von 13,2 Milliarden DM für 1990.

(Dr. Vogel [SPD]: Ja, euer Geschwätz von gestern! Hört einmal zu, was er alles erzählt!)

Davon entfallen 4 Milliarden auf die Steuererhöhung durch die Einführung der Quellensteuer und 2,3 Milliarden auf einmalige Steuermehreinnahmen infolge der Umstellung der Auszahlung bei der Arbeitnehmervermögensbildung; bleibt, meine Damen und Herren, von den großangekündigten Subventionsabbauversprechen ein Rest von im Jahre 1990 kassenwirksamen 6,9 Milliarden DM. Und dabei wissen Sie doch selbst, daß Arbeitnehmerfreibeträge keine Subventionen sind; das haben Sie im Bundestag doch selbst zugegeben.

(Uldall [CDU/CSU]: Was würden Sie denn noch streichen?)

Doch die Bürger haben die beabsichtigte Täuschung bemerkt. Der Bundesfinanzminister hat jedes Ansehen in der Öffentlichkeit verloren.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Stimmt nicht!)

War er noch vor den 1 000-DM-Steuerlügen der Koalition der angesehenste Politiker, der weit vor dem Malus-Kanzler den Spitzenwert von 2,6 erhielt, so muß man ihn jetzt bei — 0,5 hinter Herrn Bangemann suchen.

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist auch eine Senkung! Die senken alles!)

Das ist nicht die Skala des Vertrauensverlustes, das ist die Skala des mißbrauchten Vertrauens. Meine Damen und Herren, die Menschen haben gemerkt, daß ihr Vertrauen mißbraucht wurde.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Vennegerts [GRÜNE])

Das ist eine Talfahrt eines Finanzministers, die einmalig ist.
Und jetzt versucht die Bundesregierung, diesen durchgefallenen Bundesfinanzminister durch Anzeigen in Illustrierten bei der Bevölkerung wieder in Erinnerung zu bringen. Sie nennt dieses Urlaubsbild von Dr. Stoltenberg „Sachaufklärung über die Steuerreform".

(Lachen bei der SPD)

Die Mehrzahl der Bürger wird auch durch die teuren Anzeigen, Plakate und Hochglanzbroschüren von Ihrer Steuerpolitik nicht beeindruckt, insbesondere dann nicht, wenn sie wissen, daß sie als Steuerzahler die dafür notwendigen 7,5 Millionen DM bezahlen müssen.



Poß
Herr Dr. Stoltenberg, es werden nicht mehr viele Monate ins Land gehen, da werden Sie diese unsinnige Erinnerungswerbung, die mit Steuergeldern bezahlt wird, an einem noch größeren Minuswert für Sie ablesen können.

(Beifall bei der SPD — Glos [CDU/CSU]: Ist das jetzt alles?)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107406800
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1107406900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Argumente haben wir nun vielfach ausgetauscht. Ich glaube, wir sollten auf die Fehlberechnungen im Detail nicht eingehen.
Ich möchte die Steuerpolitik noch einmal in den Rahmen stellen, in den sie gehört, in den Rahmen der Politik dieser Koalition: Die Steuerpolitik und dieses Steuerreformgesetz, welches wir heute beraten, sind Teil eines Gesamtkonzeptes, nämlich des Konzeptes für den Abbau des staatlichen Einflusses und der Stärkung der Selbstverantwortung des Bürgers. Grundgedanke dieses Konzeptes ist es, die Bürger zu entlasten und die Unternehmen von staatlichen Abgaben und Auflagen zu befreien. Es geht darum, die persönliche Leistung der Bürger steuerlich zu entlasten und die Investitionskraft der Unternehmen zu stärken; denn der Strukturwandel der deutschen Volkswirtschaft, in dem wir stehen, in dem die gesamte Weltwirtschaft steht, kann nur bewältigt werden, wenn es gelingt, die Leistungskraft und die Leistungsbereitschaft genauso wie die Investitionsbereitschaft von Bürgern und Unternehmen anzuregen und einzusetzen. Die Parole muß heißen: Weniger Staat, dafür mehr Eigenverantwortung des einzelnen. Das heißt auch: Weniger Umverteilung, dafür mehr Freiraum für die marktwirtschaftlichen Kräfte. Dies ist genau das Gegenteil der Politik, die von der Opposition hier vorgetragen wird; denn für uns ist das Geld, das der Bürger verdient, in seiner Tasche besser aufgehoben als in der Hand von Funktionären, die es verteilen wollen, um Geschenke zu verteilen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der heute von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Entwurf ist nur ein Teil im Gesamtkonzept der Steuerpolitik. Es ist heute schon vom Finanzminister und von Herrn Waigel darauf hingewiesen worden, daß es eine Reihe von Stufen der Steuerentlastung gegeben hat, 1983/84 bei der Vermögensteuer und Gewerbesteuer, 1985 bei den Betriebsgebäuden, 1986, 1988 und 1990 schließlich im Bereich der Einkommensteuer und der direkten Besteuerung. Zusammengenommen umfaßt die Gesamtentlastung brutto ein Volumen von 70 Milliarden DM. Das eigentlich Gewichtige daran ist, daß dieses enorme Volumen im Bereich der Wirtschaft und der Bürger bleibt und dort nach dem eigenen Willen und der Entscheidungsfähigkeit der Bürger und Unternehmen eingesetzt wird und nicht danach, was andere, Funktionäre, vorbestimmen.
Die Gesamtentlastung von 70 Milliarden DM wird durch den Subventionsabbau von rund 20 Milliarden
DM gegenfinanziert, so daß eine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM übrigbleibt.

(Roth [SPD]: Da rechnet er drei Jahre zusammen!)

Für die FDP ist diese langfristig angelegte Steuerpolitik eines der tragenden Elemente der Politik dieser Koalition. Das will ich ganz deutlich betonen. Wir bekennen uns zu dieser Politik ohne Abstriche,

(Zuruf von der SPD: Das merkt man!)

und zwar tut dies die FDP nicht nur im Bundestag, sondern in allen Gliederungen, von der Kommune über die Länder bis zum Bund. Ich glaube, das ist deshalb wichtig, weil dadurch die gesamtstaatliche Verantwortung zum Ausdruck kommt. Die Gemeinden und die Länder müssen sich genauso wie der Bund dafür einsetzen, diese Politik mitzutragen, denn auch sie stehen in der Verantwortung für die Lebensverhältnisse in der Republik.

(Zuruf von der SPD: Die Unternehmer auch!)

Die FDP hat schon 1985 mit ihrem Konzept die Vorgaben erarbeitet, die heute im Grunde genommen verwirklicht werden. Zu diesem Konzept gibt es in meinen Augen keine glaubwürdige Alternative. Das Konzept ist verteilungspolitisch ausgewogen — ganz im Gegensatz zu dem, was von der SPD behauptet wird; darauf werde ich noch zurückkommen. Es ist leistungsfördernd. Es ist investitionsunterstützend. Es enthält wesentliche Elemente zur Vereinfachung des Steuerrechts, insbesondere in dem Teil des Abbaus von Steuervergünstigungen. Gerade dieser Teil, der Abbau der Steuervergünstigungen, der ja eine wirre Diskussion in der Öffentlichkeit ausgelöst hat, erfordert großen Mut. Wenn wir in der Lage sind, dies so, wie vorgesehen, mit kleinen Änderungen durchzusetzen, zeigt die Koalition, daß sie den notwendigen Mut besitzt und handlungsfähig ist, auch vermeintlich zunächst Unpopuläres durchzusetzen.
Der Kern ist natürlich die Schaffung des linearen Tarifs. Denn darin steckt ein wichtiges strategisches Element, insbesondere deshalb, weil es späteren Regierungen, in welcher Zusammensetzung auch immer, sehr schwer sein wird, von der linearen Tarifgestaltung abzuweichen und eine Krümmung des Tarifs zu benutzen, um den Beziehern mittlerer Einkommen das Geld aus der Tasche zu nehmen. Zweitens liegt darin ein strategisches Element, weil dadurch der Staat nicht mehr wie bisher der Hauptgewinnler beim Wachstumsprozeß und bei inflatorischen Entwicklungen ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das heißt, alle Haushaltspolitiker werden in Zukunft sehr viel verantwortlicher handeln müssen,

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Keinen Jäger 90 anschaffen!)

weil die Steuerquellen nicht mehr in dem Maß zusätzlich sprudeln werden.
Von der Opposition werden natürlich immer Beispiele gerechnet, wie unsozial die Verteilungswirkung sei. Mit absoluten Zahlen wird gearbeitet. Aber diese sind ja nicht entscheidend. Entscheidend ist die



Dr. Solms
relative Entlastung. Eindeutig und unbestritten ist, daß die relative Entlastung bei den Beziehern mittlerer Einkommen am höchsten ist. Das ist gewollt, weil sie bisher am schlechtesten behandelt worden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie einen durchschnittlichen Arbeitnehmer mit einem Unternehmer oder Freiberufler, der 200 000 DM verdient, vergleichen, dann kommen Sie zu folgenden Zahlen. Der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer mit einem Jahresbruttoeinkommen von 40 000 DM wird um 1 700 DM entlastet. Er zahlt dann noch 6 500 DM, d. h. er zahlt noch 16,3 % seines Einkommens an Steuern. Der Unternehmer mit 200 000 DM wird zwar dem absoluten Betrag nach höher entlastet, nämlich um 14 700 DM. Aber er zahlt anschließend immer noch 79 400 DM Steuern, d. h. rund 40 % seines Einkommens. Es ist ganz klar: Wer einen progressiven Tarif hat, muß bei Tarifentlastungen die, die höher belastet sind, natürlich automatisch stärker entlasten. Das liegt einfach im Systemzusammenhang. Wer glaubt, daraus Gegenargumente zu gewinnen, der belügt im Grunde genommen alle, die die Zusammenhänge im einzelnen natürlich nicht kennen können.
Darüber hinaus muß ganz deutlich gesagt werden: 500 000 Personen fallen total aus der Besteuerung. Die Besteuerung wird erst bei einem sehr viel höheren Einkommen einsetzen, nämlich im Falle einer Familie mit zwei Kindern bei 24 000 und im Falle einer Familie mit vier Kindern bei 31 000 DM im Jahr. Das belegt, daß die Steuerreform natürlich auch bei den Beziehern kleiner und unterer Einkommen ganz deutliche Wirkungen zeigt.
Die SPD ist anscheinend — Herr Poß hat das in seiner Rede vielfach gesagt — auf die Bezieher von Spitzeneinkommen fixiert. Von dem Gesamtvolumen von 70 Milliarden DM Senkung entfällt genau 1 Milliarde — das ist ein Siebzigstel — auf die Senkung des Spitzensteuersatzes von 56 % auf 53 %. Zu behaupten, das seien die Hauptgewinnler, ist eine sehr, sehr kühne Rechnung.

(Huonker [SPD]: Da kommt ja einiges dazu! — Hüser [GRÜNE]: Die profitieren ja auch von der Freibetragsanhebung!)

Es lohnt nicht, weiter darauf einzugehen. Daß diese Steuerreformgesetzgebung natürlich weitergehen muß und daß die Unternehmensbesteuerung im Zentrum unserer Anliegen für die Zukunft stehen muß, ebenso die Neuordnung des Gemeindefinanzsystems, ist bekannt und wird in allen Gremien und Parteien diskutiert. Wir müssen das vorantreiben. Das sind die Aufgaben für die nächste Legislaturperiode.
Wenn wir es leisten, diese Steuerreform, die wir heute auf dem Tisch haben, mehr oder weniger unverändert zu verabschieden, bedeutet das, daß wir dann die weiteren Aufgaben angehen können. Wir haben weitere gemeinsame Ziele und Aufgaben. Das wird für die Koalition, glaube ich, ein wichtiges Element der Einbindung in die gemeinsame Arbeit sein.
Ich will noch etwas — ich habe das in den letzten Reden zur Steuerpolitik immer wieder getan — zum
Verhalten der SPD sagen. Seit 1985 läuft die Diskussion zur Steuerpolitik. Bis heute haben Sie keine Alternative vorgelegt. Im Herbst 1986 wurde das RauPapier vorgestellt. Davon haben Sie sich aber nach der Wahl sehr schnell wieder abgeseilt. Im Sommer bei dem üblichen Sommertheater, das wir jedes Jahr erleben, hat Herr Spöri die Liste aus dem Finanzministerium vorgelegt, die als Beratungsgrundlage zum Subventionsabbau dient. Diese Liste ist schon von sozialdemokratischen Finanzministern erarbeitet worden und wird jeweils fortgeschrieben. Es war niemals die Absicht der Regierung, nach dieser Liste vorzugehen. Das war wirklich eine bewußte Unterstellung. Ich glaube, in dieser Art sollten wir nicht miteinander umgehen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107407000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Apel?

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1107407100
Wenn es nicht angerechnet wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107407200
Ich werde mich bemühen, es nicht anzurechnen.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1107407300
Bitte schön.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107407400
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der sogenannte Rau-Tarif in der Tat unsere Alternative zu Ihrer Steuersenkung 1988 war, und sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sie bis zu einem Jahreseinkommen von weit über 100 000 DM bei Verheirateten besser war, und können Sie sich vorstellen, daß der Rau-Tarif in dem Moment erledigt war, in dem Ihr Steuerkonzept 1988 im Gesetzblatt stand, und — Herr Präsident, wenn ich noch eine Zusatzfrage stellen darf — sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die SPD am Montag ihre Steueralternative verabschieden wird, und wollen wir dann vielleicht weiterreden?

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1107407500
Ich bedanke mich, Herr Apel, daß Sie nunmehr mit eigenen Vorstellungen überkommen wollen, nachdem die Vorstellungen der Koalition seit einem Jahr auf dem Tisch liegen, wenn Sie den Subventionsabbau einrechnen, seit Oktober.

(Lachen bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Heute und noch nicht endgültig!)

— Herr Vogel, wo sind wir denn? Sie wissen doch, daß in Bonn alles bekannt wird und alles bekannt ist.

(Dr. Vogel [SPD]: 70 Änderungen!)

Wir haben im Oktober eine Pressekonferenz gemacht, in der bis in die Details alles vorgestellt worden ist, und Sie hatten die Vorlagen auch.

(Dr. Vogel [SPD]: Da hat Strauß gesagt, es ist schlampig!)

Nun wollen Sie nicht einmal mit einem Parteibeschluß, sondern mit einem Vorstandsbeschluß nachtarocken. So geht das nicht.

(Dr. Vogel [SPD]: Wo ist denn Ihr Parteitag? Lächerlich!)

Sie müssen Ihre Alternative darlegen.



Dr. Solms
Wir haben unser Konzept zur Steuerpolitik schon 1985 verabschiedet. Ich sehe da keine Probleme. Das heißt also, auch der Vorwurf, den die SPD nun zu guter Letzt erhebt, wir wollten diese Reform durchpeitschen, entbehrt jeder Grundlage. Es ist zwei Monate Zeit zur intensivsten Beratung. Wir sind bereit, alle Tage zur Verfügung zu stellen — natürlich auch Feiertage — und auch abends zu arbeiten. Ich denke, Sie werden sich dem nicht entziehen.

(Dr. Vogel [SPD]: Ich denke, daß Sie den Sonntag heiligen!)

Dann wird die Reform in aller Sachgerechtigkeit beraten und verabschiedet werden. Wir können natürlich die Wirtschaft, die Betroffenen, die Bürger nicht länger im ungewissen lassen; sie haben einen Anspruch und ein Anrecht darauf,

(Dr. Vogel [SPD]: Jetzt auf einmal!)

daß sie erfahren, wie die Steuern in den nächsten Jahren endgültig erhoben werden.

(Dr. Vogel [SPD]: Wir wissen es noch nicht, aber die Bürger haben jetzt schon einen Anspruch!)

Meine Damen und Herren, ich will etwas zu diesen Beratungen sagen. Wir sind bereit dazu — das ist im Finanzausschuß schon beraten worden — , breite Anhörungen von Sachverständigen, von Experten sowie Zusatzanhörungen zu Spezialthemen durchzuführen. Die Beratung wird in keinster Weise begrenzt oder beschnitten. Das heißt, wir werden dieses Gesetz in aller Gründlichkeit beraten und verabschieden.
Wir hören, daß der Bundesrat Ende dieses Monats sein Votum abgeben wird. Wir hoffen, daß er den Gesetzesantrag im Kern unterstützen wird. Wir müssen natürlich darauf hinweisen, nachdem wir die Beschlüsse aus dem Finanzausschuß des Bundesrates kennen, daß der Bundesrat nicht einerseits fordern kann, daß die Gesamtrechnung, die Ausfallrechnung nicht verändert werden darf, auch nicht zu Lasten der Länder, aber auf der anderen Seite nur Anträge eingebracht werden, die diese Gesamtrechnung verändern werden. Der Bundesrat ist also aufgerufen, als Verfassungsorgan seiner gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht zu werden und Beschlüsse in der Weise zu fassen, daß der Gesamtrahmen erhalten bleibt und auch verantwortlich durchgesetzt werden kann.
Schon vor den Beratungen und dem Kabinettsbeschluß ist die Bundesregierung auf einige der Anregungen aus den Reihen der Parlamentarier eingegangen. Wir danken dafür. Wir sind der Meinung, daß in Details auch darüber hinaus noch Änderungsmöglichkeiten bestehen. Herr Gattermann hat eine Liste angesprochen; darüber hinaus gibt es andere wichtige Punkte. Ich darf hier nur in Erinnerung rufen und meinen Dank dafür aussprechen, daß wir im Bereich der außerordentlichen Einkünfte nun eine Regelung gefunden haben — § 34 EStG —, die, glaube ich, den mittelstandspolitischen Gesichtspunkten voll gerecht wird, aber die Ausreißerfälle wie beispielsweise Flick — natürlich nur für die Zukunft — in den Griff bekommt. Das ist eine sachgerechte Lösung. Ich denke, daß wir bei den anderen Punkten, die bei Opposition
wie Koalition umstritten sind, ebenfalls sachgerechte Lösungen finden werden.
Herr Kollege Poß, ich habe Ihren Ausführungen entnommen, daß Sie etwas voreilig jubilieren, daß sich die Steuerreform, so wie wir sie jetzt beraten und verabschieden werden, bei Wahlentscheidungen voll zugunsten der Opposition auswirken werde. Ich warne vor voreiligem Optimismus, denn wenn die Steuerreform verabschiedet sein wird, dann wird das ganze Gezänk beendet sein, das jetzt stattfindet, weil viele Grippen Angst haben, daß sie Subventionen verlieren. Wenn der Pulverdampf verzogen ist und der Gesetzentwurf von Bundestag und Bundesrat verabschiedet ist, dann wird sich die Reform des Steuertarifs mittel- und langfristig

(Poß [SPD]: Dann kommen die Verbrauchsteuererhöhungen!)

als das ordnungspolitische Vorzeigestück der Arbeit dieser Koalition erweisen. Insofern stimme ich Herrn Barbier zu, der das heute in der „FAZ" geschrieben hat. Damit kann sie zum Bindeglied der Koalition werden,

(Dr. Vogel [SPD]: Dann müßt ihr aber noch viel tun!)

aus der die Kraft für die weitere gemeinsame Arbeit geschöpft wird.

(Poß [SPD]: Jetzt kommt der Kitt!) Dafür wollen wir arbeiten. Packen wir's an!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107407600
Als letztem Redner vor der Mittagspause erteile ich dem Abgeordneten Hüser das Wort.

Uwe Hüser (GRÜNE):
Rede ID: ID1107407700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Steuerreform der Bundesregierung ist das Spiegelbild einer Wirtschaftsideologie, die das Weitermachen wie bisher zum obersten Ziel hat. Diese Steuerreform gibt keinerlei Impulse in Richtung auf mehr Solidarität mit den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern, den alten Menschen und Einkommensschwachen. Sie gibt keinerlei Impulse in Richtung auf eine Anerkennung der Lasten und Pflichten der Kindererziehung. Diese Steuerreform gibt auch keinerlei Impulse in Richtung auf mehr Umweltverträglichkeit des Wirtschaftens.
Durch Tarifänderungen, wie sie uns von der Bundesregierung für 1990 vorgelegt werden, sollen alle Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen um 37 Milliarden DM pro Jahr entlastet werden. Woher, Herr Stoltenberg, nehmen Sie eigentlich die moralische Rechtfertigung, auf Handlungsmöglichkeiten in dieser Größenordnung zu verzichten? Während wir hier debattieren, fragen sich 3 Millionen Sozialhilfeempfänger, wie sie mit ihrer Unterstützung, die zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig ist, auskommen können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

2,4 Millionen Arbeitslose warten darauf, daß sie wieder etwas leisten dürfen; viele davon, gerade Jugendliche, haben die Hoffnung schon aufgegeben. Für sie alle ist Ihr Wahlspruch „Leistung muß sich wieder loh-



Hüser
nen" keinen Pfifferling wert. Die Rentnerinnen müssen mit ansehen, wie sich durch die Gesundheits- und
Rentenreform ihr Auskommen weiter verschlechtert.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Alle diese Gruppen — Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Rentner und andere — sehen von den Milliarden dieser sogenannten Reform keinen Pfennig. Zur Finanzierung der Steuergeschenke durch Anhebung der Verbrauchsteuern und der Mehrwertsteuer werden sie sogar alle noch herangezogen. Ich prophezeie Ihnen nämlich, Herr Stoltenberg, daß Sie ohne eine Mehrwertsteuererhöhung in dieser Legislaturperiode aus Ihrem Finanzschlamassel nicht mehr herauskommen werden.
Für einen verheirateten Sozialhilfeempfänger mit zwei Kindern, der jährlich über ca. 15 600 DM verfügt, bedeutet eine Anhebung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte eine Belastung von ca. 400 DM pro Jahr. Gleichzeitig spart ein verheiratetes Ehepaar ohne Kinder mit einem Einkommen von 300 000 DM pro Jahr durch die Reform alleine so viel Steuern, wie die eben genannte vierköpfige Familie im ganzen Jahr zur Verfügung hat. Das ist und bleibt ein Skandal, Herr Stoltenberg.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Solange in einer Gesellschaft nicht die dringendsten sozialen Bedürfnisse gedeckt sind, ist es zutiefst verwerflich, die Steuerentlastung hauptsächlich für diejenigen zu beschließen, die sowieso schon auf der Sonnenseite sitzen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Beckmann [FDP]: Sie haben eben nicht zugehört!)

Wir fordern die Bundesregierung auf: Hören Sie auf, unsere Gesellschaft in zwei Lager zu spalten: in das eine Drittel, das von Arbeit, menschenwürdigem Lebensstandard und Selbstverwirklichung ausgeschlossen ist, und in die zwei Drittel, die fest im Sattel sind und von weiter steigendem Wohlstand auf Kosten anderer profitieren.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie des Abg. Poß [SPD])

Mit Ihrer jetzigen Politik verschärfen Sie diese Situation nur, anstatt sie zu verbessern. Die immer größer werdende Gruppe von Menschen auf den Arbeits-, Wohn- und Sozialämtern wird in den Warteschlangen genug Zeit haben, Ihre Hochglanzbroschüren zu lesen, um festzustellen, daß man sie ganz einfach vergessen hat.
Die Entlastungsbeispiele der Bundesregierung folgen einer wahrlich wagemutigen Argumentation. Ein Ehepaar mit einem Kind und einem Monatsverdienst von 1 400 DM ist der eigentliche Gewinner der Steuerreform, da sie zu 100 % entlastet werden. Sie mußten vorher 2 DM Lohnsteuer monatlich bezahlen und jetzt nichts mehr. Dagegen tut einem ein Ehepaar ohne Kind und einem Monatsverdienst von 15 000 DM schon richtig leid, das nur eine Entlastung von 15 % bei der Einkommensteuerschuld erfährt und jeden Monat 730 DM weniger an Steuern zahlt. Das ist wahrlich sozial ausgewogen.
Wo, Herr Stoltenberg, steht denn geschrieben, daß Bezieher von etlichen tausend DM Monatseinkommen überhaupt eine Steuerentlastung erfahren müssen? Ihre Lobeshymnen auf die Tatsache, daß ab 1990 500 000 Menschen mehr keine Steuern bezahlen müssen, ist nichts weiter als ein Täuschungsmanöver.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es wäre ja noch schöner, wenn diejenigen, die um den Sozialhilfesatz herum oder knapp darüber verdienen, für ihr bißchen Geld noch Steuern bezahlen müßten. Anstatt Spitzenverdiener zu entlasten, wären drastische Anhebungen des Grundfreibetrags notwendig gewesen, damit weitaus mehr als diese 500 000 von ihrem Existenzminimum keine Steuern zu zahlen brauchten.
Wie in einem Aufsatz aus dem Bundesministerium der Finanzen schon richtig erwähnt, soll über Einzelfallberechnungen gerade aus verteilungspolitischer Sicht das Ziel der Steuerreform nicht aus den Augen verloren werden. Das will ich gerne tun und Ihnen folgendes darlegen. Die Bundesregierung argumentiert: Der weitaus größte Teil der Entlastung entfällt auf die Arbeitnehmer, also ist die Reform sozial ausgewogen. Vorrangig interessiert aber doch, wie sich die Entlastung auf die einzelnen Einkommensgruppen verteilt. Da sprechen die Fakten eine eindeutige Sprache.
Die unteren 40 % der Lohnsteuerpflichtigen, also alle, die ein Einkommen bis zur Höhe des Durchschnittsverdienstes haben, erhalten zusammen nur einen Anteil von 6 % der Gesamtentlastung, nämlich 2,7 Milliarden DM. Das sind 300 DM pro Jahr und Kopf. Dagegen erhalten die oberen 20 % der Steuerpflichtigen ab einem Einkommen von 70 000 DM eine Entlastung von 19 Milliarden DM. Das sind fast 60 % der Gesamtentlastung oder 4 300 DM pro Kopf.
Verzichten Sie auf diese Steuerreform zugunsten der Besserverdienenden. Wir sind der Überzeugung, daß diese Gruppen ihren Steuerbetrag bisher ganz gut verkraften konnten. Machen Sie eine Reform für die, die es wirklich nötig haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Neben der Illusion der sozialen Ausgewogenheit scheint die Bundesregierung auch der Meinung zu sein, ihre Steuerreform sei besonders kinder- und familienfreundlich. Daß bei der Steuersenkung die Entlastung der Familien mit Kindern an den Anfang gestellt worden ist, wie Sie in Ihren Broschüren behaupten, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Die Zahlen sprechen auch hier eine eindeutige Sprache.
Wie sieht es denn konkret bei einem Bruttoeinkommen von 40 000 DM im Jahr aus? Die Ledige erhält 1 000 DM Steuerentlastung. Sollte sie der Umstand treffen, daß noch ein Kind zu dem Haushalt gehört, daß sie also alleinerziehend ist, so hat sie Pech gehabt; denn dann sinkt die Steuerentlastung um 35 DM gegenüber der Ledigen ohne Kind. Ist die Bezieherin eines Einkommens von 40 000 DM im Jahr verheiratet, so bekommt sie 38 DM mehr als die Ledige. Sollte zu dieser Ehe auch noch ein Kind gehören, so ist dieser Umstand dem Staat ganze 92 DM im Jahr mehr wert. Das sind noch nicht einmal 8 DM im Monat. Fragen



Hüser
Sie einmal einen Vater oder eine Mutter, welche große Entlastung diese 8 Mark bringen.

(Uldall [CDU/CSU]: Das ist hemmungslose Demagogie!)

— Das ist keine Demagogie. Das sind die Fakten aus den Broschüren des Bundesfinanzministeriums.
Es ist doch ein Unding, zu behaupten, die Hauptentlastung der Steuerreform läge bei Familien mit Kindern. Die Hauptentlastung der Steuerreform liegt eindeutig bei den besserverdienenden Ledigen und bei den oberen 20 % der kinderlosen Ehepaare.
Eine wirkliche soziale und kinderfreundliche Steuerreform muß sich an ganz anderen Maßstäben orientieren, als sie die Regierung vorgibt. Als erstes müßte eine Änderung der Tarifreform zum überwiegenden Teil aufkommensneutral sein. Daraus folgt, daß der Steuerausfall aus der Entlastung unterer Einkommen durch erhöhte Besteuerung überdurchschnittlicher Einkommen ausgeglichen werden muß. Vorrangiges Ziel einer sozialen Steuerreform muß es sein, die Einkommen in Höhe des Mindestbedarfs steuerfrei zu belassen.
Die GRÜNEN sprechen sich deshalb für eine entsprechende Anhebung des Grundfreibetrages auf 10 000 DM aus. Dies führt dazu, daß Bruttoeinkommen bis zur Höhe von 14 000 DM im Jahr steuerfrei bleiben. Auf der Gegenseite halten wir es allerdings für geboten, den Spitzensteuersatz nicht zu senken, sondern ihn auf 60 % anzuheben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Tarifänderungen bringen einem Jahreseinkommen von ca. 22 000 DM eine Entlastung von 1 200 DM, bei dem Durchschnittsverdienst wäre die Steuerbelastung unverändert, und bei einem Jahreseinkommen von ca. 60 000 DM müßte der Ledige ca. 600 DM mehr Steuern zahlen. Der Spitzenverdiener mit 150 000 DM im Jahr würde nach unserem Vorschlag 3 600 DM zugunsten einer Sozialreform mehr zahlen, anstatt nach den Vorschlägen der Bundesregierung eine Entlastung von 7 600 DM zu bekommen.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Sehr richtig!)

Ein zweiter wichtiger Schritt wäre eine notwendige Reform des Familienlastenausgleichs. Der Hauptteil der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, die als Maßnahmen zum Ausgleich der finanziellen Belastung von Familien zusammengefaßt werden, ist an den Familienstand „verheiratet" , nicht dagegen an das Vorhandensein von Kindern im Haushalt geknüpft. Die finanzielle Belastung durch Kinder wird nur zu einem lächerlich geringen Teil ausgeglichen.
Grüne Familienpolitik orientiert sich nicht an der Vorstellung einer idealen Familienform und deren besonderer Förderungswürdigkeit. Sie hat vielmehr das Ziel, die Lebensbedingungen von Kindern unabhängig vom Familienstand der Eltern und deren Einkommen zu verbessern und die materielle Benachteiligung von kindererziehenden Personen zu beseitigen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die GRÜNEN lehnen das Ehegattensplitting wegen seiner unsozialen Verteilungswirkung ab.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der Steuerausfall von über 40 Milliarden DM aus dem Ehegattensplitting wird dringend benötigt, um einen effektiven Kinderlastenausgleich durchzuführen. Durch die Abschaffung des Ehegattensplitting soll natürlich die nach dem Familienrecht bestehende Unterhaltspflicht steuerlich nicht mehr berücksichtigt werden. Deshalb wird nach unseren Vorschlägen das steuerrechtlich anerkannte Existenzminimum, also der Grundfreibetrag des Steuertarifs für jeden Ehepartner, gewährt.
Das Kindergeld sollte zwischen 210 und 450 DM im Monat betragen und nach dem Alter der Kinder gestaffelt sein. Zusammen mit unseren Tarifreformvorschlägen würde dies bedeuten, daß Familien mit zwei Kindern über ein steuerfreies Einkommen von 4 000 DM im Monat verfügen. Eine solche Reform des Einkommensteuertarifs und des Familienlastenausgleichs erfordert noch nicht einmal zusätzliche Mittel; im Gegenteil, es ist darüber hinaus ein Betreuungsgeld für die ersten zwei Lebensjahre des Kindes von monatlich 1 000 DM finanzierbar.
Dies zeigt eindeutig: Die Verteilungsmasse ist vorhanden und muß nur sozial und kinderfreundlich genutzt werden. Die GRÜNEN sind dazu bereit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In dem Steuerreformentwurf wimmelt es in seiner Gesamtheit von vielen weiteren Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten. Um die aufzuzählen bräuchte ich allein die sechs Stunden Debattenzeit.
Die geplante Besteuerung von Zuschlägen für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit ist als ein Gipfel der Ungerechtigkeit hervorzuheben. Hier werden diejenigen noch bestraft, die sowieso schon ihre Gesundheit und ihr intaktes soziales Umfeld aufs Spiel setzen, weil sie in Schicht- und Nachtarbeit Aufgaben verrichten, die auch überwiegend der Allgemeinheit zugute kommen. Aber eine Steueränderung hier ist auch ein Schritt in die weitere Unterwerfung der menschlichen Arbeitskraft unter die Maschinenlaufzeiten der Produktion, ein Schritt hin zur regelmäßigen Nacht- und Sonntagsarbeit. Auf mittlere Sicht sind da steuerliche Vergünstigungen für diese Arbeiten natürlich hinderlich. Hier wird das Gefühl vorbereitet, daß es nur noch eine einheitliche Sieben-TageWoche mit 24 Stunden Maschinenlaufzeit geben soll. Die GRÜNEN lehnen alle Maßnahmen, die in diese Richtung zielen, entschieden ab.
Im Zusammenhang mit der Quellensteuer halte ich einen Punkt noch für besonders erwähnenswert, da er aufzeigt, wessen Geschäfte die Bundesregierung betreibt. Bei der Diskussion um die Quellensteuer spielt die Möglichkeit von Kontrollmitteilungen der Banken an die Finanzämter über die Höhe der Zinseinkünfte eine große Rolle. Die Intention, daß sich die Bundesregierung gegen solche Kontrollmitteilungen mit Händen und Füßen wehrt, ist klar. Sie traut sich nicht an die Steuerhinterzieher aus den oberen Einkommensbereichen heran, weil sie ihr Klientel nicht prellen will. Daß sie eine einmal eingegangene Argumentation allerdings durchgängig beibehält, ist ein Trug-



Hüser
schluß. Beim Erhalt von Lohnersatzleistungen, also Arbeitslosengeld, Arbeits- und Sozialhilfe, Mutterschaftsgeld etc., sieht dieser Umstand ganz anders aus. Hier schreibt nämlich ihr Ministerium:
Um dem Arbeitnehmer den Nachweis der erhaltenen Lohnersatzleistung zu erleichtern, werden die Träger der Sozialleistung verpflichtet, eine Bescheinigung über die Dauer des Leistungszeitraumes sowie über die Art und Höhe der gezahlten Leistungen auszustellen.
Diese Bescheinigung geht dann ans Finanzamt. Wieso erleichtern Sie nicht auch den Beziehern von Zinseinkünften ihre Nachweispflicht?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie messen hier mit zweierlei Maß, gerade wie es in Ihr einseitiges Konzept hineinpaßt.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Genau!)

Wir fordern Sie auf: Machen Sie Schluß mit der Möglichkeit, Steuern in großem Umfang zu hinterziehen — es geht hier um Milliardenbeträge — , führen Sie auch Kontrollmitteilungen für Einkünfte aus Kapitalvermögen ein!
Die Steuerreform ist jedoch nicht nur in vielen Einzelpunkten, sondern auch bereits in ihrem konzeptionellen Ansatz mißlungen und fehlorientiert. Die Bundesregierung redet immer von einer Steuerreform. Davon kann wahrlich nicht die Rede sein. Im einzelnen wie im ganzen setzt unser Steuersystem die Weichen falsch.
Eine unbefangene Fachfrau vom Mars, die nur aus unserer heutigen Steuer- und Finanzordnung auf den Zustand der Volkswirtschaft schließen müßte, käme zu folgendem wirklichkeitsfremden Bild: Energie fast zum Null-Tarif, kein Rohstoffmangel abzusehen, intaktes Ökosystem, tendenzielle Knappheit an Arbeitskräften, Armut und soziale Probleme unbekannt. Dies zeigt, daß die Regierungspolitik den Horizont der 60er Jahre nicht verlassen hat. Flugbenzin für Inlandsflüge — demnächst auch für Strauß und seine PrivatfliegerFreunde — ist von der Mineralölsteuer befreit, während der öffentliche Nahverkehr und die Bahn diese zahlen müssen.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Richtig! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ihr laßt euch mit dem Fahrrad fotografieren, aber fahren tut ihr mit dem Dienstwagen! — Dr. Apel [SPD]: Billiger geht es wohl nicht! — Dr. Vogel [SPD]: Und ihr fliegt mineralölsteuerfrei! Strauß!)

— Mehr ist Ihnen dazu nicht eingefallen, nicht? — Für Bahnkarten ist der volle Mehrwertsteuersatz zu zahlen, bei Chemikalien im Lebensmittel dagegen nur der halbe. Die Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden, der Einsatz von Energie und Rohstoffen unterliegt keiner oder einer viel geringeren Steuer- und Abgabenbelastung als die Arbeitskraft. Ressourcenverschwendung und umweltschädliche Produktion sind daher wesentlich rentabler als eine arbeitsintensive und umweltschonende Wirtschaftsweise.
Die Ziele müssen also neu gesteckt werden. Aufgabe der Zukunft ist die Wegsteuerung der Energie-
und Rohstoffverschwendung, die Wegsteuerung der Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden

(Beifall bei den GRÜNEN)

und nicht die weitere Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen. Eine verantwortungsbewußte wirtschaftspolitische Strategie kommt in diesem Zusammenhang nicht umhin, finanzpolitische Vorstellungen zu entwickeln, die auf Zielsetzungen wie Umweltverträglichkeit, ökologische Umstrukturierung, Schadensvermeidung und Verursacherbelastung basieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein umfassendes System von Steuern, Abgaben und auch Verboten, wie die GRÜNEN es in ihrem Umbauprogramm in vielen wichtigen Bereichen aufzeigen, z. B. zur Senkung des Verbrauchs von Rohstoffen und Energie, zur Minimierung von giftigen Emissionen oder zur Entgiftung von Lebensmitteln, kann unsere Wirtschaft mit ökonomischen Mitteln auf eine ökologische Grundlage stellen.
Es reicht aber nicht aus, den Produktionsbereich zu ändern. Auch die Steuerpolitik muß dazu benutzt werden, das Verbraucherverhalten zum Wohle der Umwelt zu beeinflussen. Viele Verbrauchsartikel schädigen mehr oder weniger die Umwelt, belasten die Allgemeinheit mit den Kosten der schadlosen Beseitigung und verschwenden wertvolle Rohstoffe, obwohl es sinnvolle ökologische Alternativen gibt. Beispielhaft müßten Einwegverpackungen und Einwegflaschen sowie Kunststoffverpackungen mit einer Umweltsteuer belastet werden. Heute müssen nämlich die Abfallbeseitigungskosten von Einwegverpackungen von den Käufern von Mehrwegverpackungen mitgetragen werden. Die Reihe dieser Beispiele ließe sich beliebig fortführen.
Das Umwelt- und Prognoseinstitut Heidelberg hat kürzlich eine umfassende Studie zur Einführung und Auswirkung von Umweltsteuern am Beispiel von 35 umweltbelastenden Produkten vorgestellt. Ein Gesetz, das den Weg in diese Richtung weist, würde den Namen „Steuerreform" zu Recht verdienen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Von diesen Überlegungen ist die Bundesregierung allerdings meilenweit entfernt. Wir werden unsere Überlegungen in dieser Hinsicht verstärken und immer wieder in die Diskussion einbringen.
Es wird höchste Zeit, in der Steuerpolitik umzusteuern und dieses wirkungsvolle Instrument nicht nur als Einnahmequelle des Staates zu betrachten. Darin besteht eine Chance, die Probleme unserer Gesellschaft zu bewältigen. Lassen wir diese Chance nicht verstreichen, lassen wir in die Beratung über die Steuerreform sinnvolle Alternativen mit einfließen und diese Steuerreform, wie Sie sie hier innerhalb kürzester Zeit durchbringen wollen, nicht verpuffen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107407800
Meine Damen und Herren, wir treten nunmehr in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt.

(Unterbrechung von 13.10 bis 14.01 Uhr)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107407900
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Beratungen über das Steuerreformgesetz 1990 und den Gesetzentwurf zur steuerlichen Begünstigung von Zuwendungen an unabhängige Wählervereinigungen fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Glos.

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1107408000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bringen heute parlamentarisch die größte Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg. Es ist die größte Steuerreform im Hinblick auf den konzeptionellen Ansatz, im Hinblick auf das Entlastungsvolumen und im Hinblick auf die Maßnahmen zur Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und den damit verbundenen Subventionsabbau.
Wenn die Bürger in unserem Land den Eindruck haben „Steuern zahlen nur noch die Dummen; die Kundigen wissen durch die Schlupflöcher zu schlüpfen" , dann ist das nicht gut für das Staatsverständnis.

(Reimann [SPD]: Das ist schon lange so!)

Wir unternehmen diese große politische Kraftanstrengung und auch den damit verbundenen Ärger — die Beteiligten können sicher ein Lied davon singen — , weil wir der Meinung sind, daß die Steuerbelastung, vor allen Dingen die Belastung mit direkten Steuern, auch nach den bisherigen Entlastungsmaßnahmen der Jahre 1986 und 1988 noch immer zu hoch ist.
Mit dem Steuerreformgesetz 1990 werden Steuern im Umfang von rund 39 Milliarden DM brutto pro Jahr gesenkt. Die Steuerreform 1990 steht unter dem Leitmotiv: besser niedrige Steuersätze mit wenig Ausnahmen als hohe Steuersätze mit vielen Ausnahmen.
Diese Steuerreform ist damit ein wichtiger Baustein der mittelfristig angelegten Politik zur Verbesserung der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen für mehr marktwirtschaftliche Dynamik. Wir bekennen uns auch dazu, daß damit die Staatsquote gesenkt und abgebaut wird, was uns ja heute von Ihnen als Sünde entgegengehalten wird. Wir sind im Gegenteil der Meinung, daß dies das Kernstück unserer Politik ist. Wir wollen eine weitere Rückführung der Staatsquote. Wir wollen dies mit weiteren Ausgabenabsenkungen und auch mit Steuerverzicht erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Apel [SPD]: Auch bei der Landwirtschaft?)

Diese Steuersenkung heißt zugleich, daß jetzt eine einfachere und gerechtere Steuerpolitik Platz greift, d. h. daß in Zukunft berufliche Leistung, zusätzliche Aus- und Weiterbildung und unternehmerische Investitionen wieder lohnender werden. Es bleibt ein größerer Teil zusätzlich erworbenen Einkommens beim Leistungsträger selbst und fließt nicht in die Taschen
des Staates. Die Einkommensverwendung nach den persönlichen Bedürfnissen und nach der eigenen Entscheidung der Einkommensbezieher und nach eigenem Gutdünken ist volkswirtschaftlich viel höher zu bewerten als eine noch so gut gemeinte Umverteilung durch staatliche Planungsbürokratie.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Heute wurde schon sehr oft Herr Barbier von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zitiert. Er hat einen sehr bemerkenswerten Aufsatz geschrieben. Er schreibt heute u. a.:
Sozialdemokraten und Gewerkschaften würden die Steuerreform gerne scheitern sehen, weil sie die 20 Milliarden, um die die Bürger und die Wirtschaft entlastet werden sollen, besser in der Hand des Staates aufgehoben glauben. Sie können nicht mehr ausrichten, als die Reform mit gröblich falscher Kritik an deren angeblichen Umverteilungswirkungen zu begleiten.
Ich habe dem sehr wenig hinzuzufügen.
Selbst kommunistische Staaten merken und spüren inzwischen, daß man mit staatlicher Planungsbürokratie in der Sackgasse ist, daß man verändern muß; dabei denke ich an die Volksrepublik China oder an die Sowjetunion. Und ausgerechnet in dieser Zeit wollen Sie einen Weg mit immer mehr Staat gehen!

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Apel [SPD]: Das ist doch völliger Unsinn! Herr Glos, ich bitte Sie!)

Diejenigen, die den totalen Staat haben, gehen den umgekehrten Weg.

(Dr. Apel [SPD]: Karneval fängt erst später an!)

Wir haben erreicht, die Staatsquote, die in Ihrer Regierungszeit immer mehr angestiegen ist, wieder zurückzuführen. Jetzt müssen wir uns von Ihnen die Prügel in den Weg legen lassen. Ich glaube, das ist eine miese und schlechte Politik, die Sie betreiben wollen. Ich bin auch sicher, daß der Wähler dies einzuordnen weiß.

(Richtig! bei der CDU/CSU)

Der bis 1985 gültige Einkommensteuertarif war leistungsfeindlich. Die rasante Steuerprogression bot zunehmend Anreize, wirtschaftliche Aktivitäten in die Schattenwirtschaft und auf den schwarzen Markt zu verlagern.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107408100
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Apel?

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1107408200
Aber gerne, Herr Apel. Vizepräsident Westphal: Bitte schön, Herr Apel.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107408300
Herr Kollege, könnte die Zurückführung der Staatsquote, die ja — da sind Sie sicherlich mit mir einer Meinung — auch zu weniger Staatsausgaben führen muß, nach Ihren Vorstellungen z. B. auch im Bereich der Agrarpolitik ansetzen?




Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1107408400
Herr Apel, Sie wissen genau, daß wir im Bereich der Agrarpolitik eine Sondersituation haben,

(Dr. Apel [SPD]: Aha! Aha!)

daß wir der deutschen Landwirtschaft den Übergang in den EG-Markt erleichtern müssen. Wir wissen, daß es immer wieder Bereiche gibt, wo die ordnende Hand des Staates gebraucht wird.
Es tut mir leid, daß im Rahmen einer solchen Debatte keine Gelegenheit besteht, zurückzufragen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren Kollegen mit auf den Weg gäben, uns hier einmal zu erklären, was bei Ihnen eigentlich steuerpolitisch gemeint ist. Ich habe heute eine dpa-Meldung erhalten, nach der das Land Nordrhein-Westfalen und Herr Rau das, was Sie nächste Woche vorstellen wollen, nicht mittragen und wieder eine große Verwirrung bei dem konzeptionellen Ansatz besteht. Das bleibt bei Ihnen ja sowieso Sandkastenspiel, weil Sie viele Jahre nicht mehr regieren können. Aber Sie wissen selbst nicht, was Sie letztendlich im Sandkasten miteinander spielen wollen. Sorgen Sie sich doch einmal um Ihre Angelegenheiten!

(Beifall bei der CDU/CSU — Poß [SPD]: Nehmen Sie den Mund nicht zu voll! Schauen Sie sich einmal Ihre Sandkastenspiele an, die Sie in den letzten Wochen veranstaltet haben!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Schaffung eines wachstumsfördernden und leistungsgerechten Steuersystems mit einer Nettoentlastung seit 1986 mit rund 50 Milliarden DM verbessert auch die Bedingungen für eine stärkere Wachstumsdynamik der Wirtschaft und damit die Leistungsbereitschaft unserer Bevölkerung. Diese Steuersenkung ist konjunkturgerecht, weil sie sowohl das Angebot als auch die Nachfrage verstärkt. Die Reform macht den Standort Bundesrepublik Deutschland im internationalen Wettbewerb der Steuersysteme um investitionsbereites Kapital attraktiver. Wir wissen, daß eine Vielzahl von Faktoren bei Investitionsentscheidungen ausschlaggebend sind. Aber auch die Steuerbelastung, die die Unternehmen auf die hoffentlich zu erwirtschaftenden Gewinne zu erwarten haben, ist natürlich ein Faktor. Wir müssen ihn sehr stark im Auge behalten. Wir senken bei dieser Steuerreform ja auch die Körperschaftsteuer für einbehaltene Gewinne von 56 auf 50 bzw. von 50 auf 46 %. Wir verstärken die Investitionsfähigkeit der Wirtschaft durch die Linearisierung des Tarifs, da die Mehrzahl der Unternehmen Personengesellschaften sind.
Aber ein Argument geht mir dabei immer zu stark unter, und hier sollten auch die Verbände der Wirtschaft ihre Mitgliedsfirmen aufklären: Die Senkung der persönlichen Steuerlast, die von uns vorgenommen wird, verstärkt ebenfalls das Investitionskapital bei den großen Publikumsgesellschaften, da der allergrößte Teil der Aktionäre dort — bei Siemens z. B. 200 000 Aktionäre — Durchschnittsverdiener sind. Das „Schütt aus, hol zurück"-Prinzip funktioniert um so besser, je weniger Personen, die von den Kapitalerträgen profitieren, Steuerlast zu tragen haben. Desto leichter können sie bei Kapitalerhöhungen den Unternehmen letztendlich neues Kapital zur Verfügung stellen. Deswegen ist für uns das Zentrum dieser Steuerreform der Tarif im mittleren Einkommensbereich. Wo die Steuerschraube für zusätzlich verdientes Geld besonders scharf angezogen wird, treten auch die größten Entlastungen ein.
Diesen in die Zukunft weisenden Tarif versucht die SPD durch das unsinnige Argument — wir haben es heute wieder gehört — der angeblichen Umverteilung von unten nach oben madig zu machen. Sie bringen dann extreme Rechenbeispiele, Herr Poß, in denen nur absolute Zahlen genannt werden. Auch ich kann Ihnen einmal ein Rechenbeispiel bringen: Wer 20 000 DM verdient, wird um 4 DM entlastet; wer 100 000 DM verdient, wird um 1 844 DM, also 461mal so stark entlastet. Wann, glauben Sie wohl, war das? Das war 1981, als das letztemal eine Steuerreform unter Ihrer Verantwortung durchgeführt worden ist.

(Huonker [SPD]: Ich erinnere Sie erneut an jenes Vermittlungsverfahren und an die Rolle von Herrn Stoltenberg damals!)

Wenn Sie immer mit Ihren Rechenkunststücken kommen, kann ich nur Karl Schiller zitieren, der sehr sachkundig ausgeführt hat:
Durch die Diskussion um Pro-Kopf-Entlastungen wird in der Tat viel Verwirrung gestiftet. Wir haben einen progressiven Lohn- und Einkommensteuertarif, und natürlich muß, wenn diese Steuer gesenkt wird, sich das bei höheren Einkommen stärker auswirken. Wir haben eben keine Kopfsteuern.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU] zur SPD: Mitschreiben!)

Wir haben Wort gehalten. Wir haben dieses große Steuerreformwerk ohne Steuererhöhungen finanziert. Wir haben damit alle Pessimisten und vor allen Dingen alle Miesmacher auf Ihrer Seite Lügen gestraft.

(Zurufe von der SPD: Oh! — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Da hat er recht!)

Was ist denn im Sommer nicht alles behauptet worden? Da ist behauptet worden, die Mehrwertsteuer werde um zwei oder gar drei Prozentpunkte erhöht werden.

(Huonker [SPD]: 1991!)

Von Ihnen ist während der Sommerpause behauptet worden, die Mineralölsteuer werde erhöht. 20, 30 Pf sind genannt worden.

(Poß [SPD]: Herr Strauß hat doch die Erhöhung der Mehrwertsteuer gefordert!)

Wir werden keine Steuern zur Finanzierung dieser Steuerreform erhöhen.

(Poß [SPD]: Ihr Parteivorsitzender wird sich schon durchsetzen!)

Wir halten Wort.
Sie haben sogar eine Liste mit 160 von uns angeblich zu streichenden Steuervergünstigungen verbreitet. Sie haben die Leute absichtlich verunsichert. Sie haben damals wider besseres Wissen gehandelt. Das ist eine ganz fiese Methode. Genauso haben Sie, Herr Apel, heute wider besseres Wissen alte Leute und



Glos
Rentner verunsichert, indem Sie entgegen der Wahrheit behauptet haben,

(Dr. Apel [SPD]: Woher kommen denn die 420 Millionen DM?)

durch unsere Steuerreform würden die Renten stärker belastet. Das Gegenteil ist richtig, Herr Apel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wollen verunsichern,


(Dr. Apel [SPD]: Nein!)

und Sie knüpfen damit nahtlos an den Sommer an.

(Dr. Apel [SPD]: Ich zitiere nur Ihre Dokumente!)

Ich kann Ihnen sagen, was Sie alles falsch behaupten. Falsch ist Ihre Behauptung von der Umverteilung von unten nach oben. Falsch ist die Behauptung, durch die Umsetzung des sogenannten HofbauerGutachtens auf dem Gebiet der Wohnungsgemeinnützigkeit würden sich gravierende Mietsteigerungen ergeben. Die Träger vieler Wohnungsunternehmen sind Kirchen, Gemeinden, Gewerkschaften usw. Sollen denn aus diesen Trägern plötzlich Miethaie werden?
Falsch ist die Behauptung, die Arbeitnehmer müßten die massive Steuerentlastung des Weihnachtsgeldes aus eigener Tasche vorfinanzieren.

(Dr. Apel [SPD]: Natürlich!)

Kein Arbeitnehmer zahlt wegen der Dreizehntelung der Lohnsteuertabellen ab 1990 auch nur eine Mark mehr Steuern als vorher.

(Huonker [SPD]: Mehr als was?)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107408500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1107408600
Eine noch. Ich hoffe nur, meine parlamentarische Geschäftsführerin läßt mir noch ein bißchen von der Redezeit, die vorher übriggeblieben ist.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1107408700
Herr Kollege Glos, können Sie denn bestätigen, daß nach den Unterlagen des Bundesfinanzministeriums, die Sie heute als Fraktion eingebracht haben, für den Wegfall des Altersfreibetrages 420 Millionen DM von Ihnen für den Etat veranschlagt wurden?

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1107408800
Jetzt kommt wieder so ein Rechenkunststückchen, Herr Poß. Sie müssen das im Zusammenhang mit der massiven Erhöhung des Grundfreibetrages sehen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Sie kennen diese Wirkungen ganz genau. Sie kennen auch die Wirkungen, die bei Rentnern eintreten, bei denen lediglich der Ertragsanteil besteuert werden muß. Nach dieser Steuerreform werden sich Millionen
von Rentnern besser stellen als heute. Sie können uns beim Wort nehmen.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Das weiß Herr Poß, er darf es nur nicht zur Kenntnis nehmen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107408900
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1107409000
Nein, nicht mehr.
Die Kritiker unserer Steuerreform, vor allen Dingen die Kritiker der Tatsache, daß wir jetzt gezwungen waren, die risikolosen Kapitalerträge etwas stärker zur Finanzierung unseres Gemeinwesens heranzuziehen, bitte ich, ein paar Punkte zu bedenken.
Ende 1986 betrug das Geldvermögen der privaten Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland 2,3 Billionen DM. Allein in den letzten zwölf Jahren verdreifachte sich das private Geldvermögen. Die Kapitalerträge werden auf jährlich 80 bis 90 Milliarden DM geschätzt. Die Zinserträge daraus machten 1986 bereits etwa die Hälfte der laufenden Ersparnisbildung von 167 Milliarden DM aus. Wir beweisen mit dieser Maßnahme, damit, daß wir eine milde Vorerhebungssteuer auf ohnehin fällige Kapitalertragsteuern einführen, auch unsere Reformfähigkeit als bürgerliche Regierung und bürgerliche Koalition. Man sollte glauben, daß ein solcher Kraftakt nur in einer großen Koalition möglich wäre, aber ich glaube, wir beweisen gerade mit dieser Reform das Gegenteil.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wissen, daß wir es uns auf die Dauer nicht leisten können, die steuerlichen Lasten einer ohnehin immer geringer werdenden Zahl von aktiven Erwerbstätigen auf die Schultern zu bürden und andererseits die herauszunehmen, die Kapitalerträge risikolos in ihre Tasche stecken. Wir müssen vor allen Dingen an die Wirkung auf die Jugend und an die künftige Gesellschaft denken, wenn wir weiter zuschauen, wie sich hier die Geldströme immer weiter verändern, wenn Arbeit und unternehmerische Tätigkeit immer stärker belastet werden und wenn der Zufluß der Erträge auf Spargeld weiter so stark begünstigt wird wie bisher.
Herr Apel ist jetzt leider nicht mehr da.

(Huonker [SPD]: Er kommt gleich wieder! Er holt seine Brille!)

Er hat auch heute früh zur besten Rentnerfernsehzeit

(Lachen bei der SPD)

— das ist mir ganz ernst; es ist bekannt, daß der Vormittag die beste Rentnerfernsehzeit ist — wider besseres Wissen behauptet, wir wollten an die Spargroschen der Leute ran. Niemand will an die Spargroschen der Leute ran. Wir lassen sogar die Sparbücher mit gesetzlicher Kündigungsfrist bei der Vorerhebung der auf die Zinserträge fälligen Steuern heraus. Wenn jemand irgendwo Steuergerechtigkeit will, dann nur bei den zufließenden Zinsen in Form einer Vorerhebung. Wir wollen also nicht an die Spargroschen der Leute ran, wie heute vormittag gesagt worden ist.

(Huonker [SPD]: Das gilt auch für die Kapitallebensversicherung, mein Herr!)




Glos
— Ich sage auch gern ein Wort zu den Kapitallebensversicherungen. Es ist ein großes Privileg dieser Altersvorsorgesparform, daß bisher sämtliche Erträge steuerfrei geflossen sind. Wir erhalten dieses große Privileg im Kern, weil wir der Meinung sind, es ist ein ungeheuer wichtiges Instrument der privaten Daseinsvorsorge. Wir schränken dieses Privileg lediglich ein klein wenig ein, indem die außerrechnungsmäßigen Zinsen, also das, was nicht garantiert ist, was bei den einzelnen Gesellschaften auch sehr unterschiedlich ist, was damit zusammenhängt, wie tüchtig diese Gesellschaften wirtschaften, was also an sogenannten Gewinnanteilen zufließt, mit einer Abgeltungsteuer von lediglich 10 T. belegt wird.
Ich sage Ihnen eines: Es ist viel wichtiger für die private Altersversorgung, wenn wir Stabilität in unserem Land halten, wenn wir vor allen Dingen das Geld stabil erhalten;

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

denn ansonsten ist das am Ende der Laufzeit alles lediglich Papier. Wir wollen mit unserer Maßnahme weiterhin wirtschaftliche und finanzielle Stabilität in unserem Land erhalten.
Es wird vielfach befürchtet, die kleine Kapitalertragsteuer von 10 % sei nur der Einstieg in eine möglicherweise 25 %ige Quellensteuer, wie sie die SPD mal gewollt hat. Eine Erhöhung dieses Satzes von 10 % ist weder bei der 10 %igen Anrechnungsteuer noch bei der 10 %igen Abgeltungsteuer bei bestimmten Erträgen aus Lebensversicherungen geplant. Weder die Bundesregierung noch die CDU/CSU-Fraktion — hier kann ich sicher für den Koalitionspartner mit sprechen — wollen ein beliebig manipulierbares Instrument schaffen. Deshalb haben wir auch, als wir über den Satz nachgedacht haben, an den Jahrtausende alten Zehnt angeknüpft. Wir haben uns dabei an einem der ältesten Steuergesetze orientiert. Im 3. Buch Mose ist nachzulesen: „Jeder Zehnt im Lande, der vom Ertrag des Landes und von den Früchten der Bäume abzuziehen ist, gehört dem Herren; es ist etwas Heiliges für den Herrn. "
Wer will, daß nicht weiter an dieser Steuerschraube gedreht wird, der muß dafür sorgen, daß diese Koalition auch nach 1990 fortbesteht. Wer die Befürchtung hat, an dieser Schraube könnte möglicherweise gedreht werden, der muß verhindern, daß SPD und GRÜNE jemals bei uns die Regierung übernehmen. Sie wollen nämlich mehr Geld vom Bürger; sie wollen mehr Geld für den Staat und haben einen anderen Weg.
Wir lehnen auch das ab, was Sie ferner wollen. Sie möchten den gläsernen Steuerbürger über Kontrollmitteilungen. Genau das möchten wir vermeiden.

(Poß [SPD]: Haben Sie was zu verbergen, Herr Glos? Oder hat Herr Strauß etwas zu verbergen?)

— Ich persönlich habe wenig zu verbergen.

(Lachen bei der SPD — Dr. Waigel [CDU/ CSU]: Der Mann ist ehrlich!)

Ob ich überhaupt nichts zu verbergen habe, das weiß
ich nicht. Zumindest bei den Kapitalerträgen habe ich
leider überhaupt nichts zu verbergen. Denn sie fließen bei mir auf Grund mangelnden Kapitals recht spärlich.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen. Die SPD möchte, daß wir auf die Abflachung der Progression verzichten. Die SPD möchte, daß wir eine Erhöhung der Spitzenbelastung bei der Einkommensteuer vornehmen. Die SPD möchte die Abschaffung der steuerlichen Kinderfreibeträge. Die SPD möchte eine arbeitnehmerfeindliche Ausgestaltung des Splittingverfahrens für Ehegatten. Die SPD möchte die unbegrenzte Besteuerung privater Veräußerungsgewinne. Die SPD möchte die Erhöhung der Vermögensteuer. Die SPD möchte die Verschärfung der Gewerbesteuer und ihre Ausdehnung auf die freien Berufe. Die SPD möchte die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen für Betriebsgebäude.
Wir lehnen dies alles ab. Schon ein kurzer Vergleich zwischen den Vorstellungen der SPD und dem Regierungsentwurf läßt für jeden Bürger deutlich werden, daß es auch bei der Steuerpolitik zur Koalition der Mitte keine Alternative gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt beginnen die parlamentarischen Beratungen im Ausschuß. Wir haben im Vorfeld schon sehr viel darüber nachgedacht. Aber es ist einfach nicht möglich, ein so kompliziertes Gesetzgebungswerk jetzt schon in allen Verästelungen genau zu übersehen. Ich kann mir vorstellen, daß wir am Kabinettsentwurf noch die eine oder die andere Verbesserung vornehmen.
Vor allen Dingen möchten wir unnötige Bürokratie vermeiden. Wir möchten hier die Verbände auffordern, daß sie uns jetzt ihren Sachverstand zur Verfügung stellen und daß sie uns beraten, wie wir dies vermeiden können.

(Frau Weyel [SPD]: Dann brauchen Sie aber eine längere Beratungszeit, Herr Glos!)

Herr Gattermann hat es heute schon gesagt. Ich denke hier an die Frage der Vorerhebung der kleinen Kapitalertragsteuer. Wenn die Verbände jetzt aufhören, dagegen zu hetzen und zu versuchen, das ganze Gebäude zu Fall zu bringen, und ihre hochbezahlten und intelligenten Stäbe dafür verwenden, uns zu helfen, dann bin ich sicher, daß Gutes dabei herauskommt.
Ich möchte noch einen Punkt erwähnen. Wir sind — das kann ich für die Koalitionsfraktionen erklären — noch nicht ganz zufrieden mit der gefundenen Lösung bei der Steuerfreiheit für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Wir halten generell an den Obergrenzen fest. Es gibt aber nach wie vor Beratungsbedarf in der Frage derer, die regelmäßig nur nachts arbeiten müssen. Ich denke an die Rotationsdrucker usw.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bringe dies nur als Beispiel dafür, worüber wir in
den nächsten Wochen und Monaten reden werden.
Wir hätten dabei gerne Ihre konstruktive Mitarbeit. Im



Glos
Finanzausschuß läuft ja das Ganze Gott sei Dank etwas unpolemischer als hier. Deswegen bin ich sehr optimistisch, daß wir dieses Gesetzgebungswerk in der dafür vorgesehenen Zeit zu Ende bringen.
Ich darf Sie noch einmal alle sehr herzlich um Ihre Mitarbeit bitten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107409100
Das Wort hat der Abgeordnete Huonker.

Gunter Huonker (SPD):
Rede ID: ID1107409200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Glos, es wird Sie nicht verwundern, daß wir nicht völlig am Boden zerstört sind durch die harten Attacken, die Sie gegen die SPD-Steuerpolitik gefahren haben.

(Dr. Apel [SPD]: Zusammengebrochen sind wir!)

Wenn Sie mal wieder die Geschichte mit der Staatsquote und der SPD bringen, dann sage ich Ihnen: Graf Lambsdorff konnte das besser; bei ihm war es auch noch deswegen amüsant, weil er immer Täter und Opfer in einer Person war.

(Dr. Apel [SPD]: Er hat aber von der Staatsquote ganz gut profitiert mit den 600 000 DM!)

Heute morgen gab es die Diskussion über die Steuersenkung 1981. Herr Bundesfinanzminister, ich sage Ihnen im vollen Ernst: Diese Form der Darstellung ist unredlich, wenn Sie verschweigen — Sie wissen das doch ganz genau; Sie haben ja über Ihre Mitwirkung selber geredet —, daß wir zuerst, wie das in einer Koalition bei nicht immer sehr nahe beieinanderliegenden Vorstellungen üblich ist, Herr Gattermann, einen Kompromiß gemacht haben. Dann hatten wir damals dieses quälende Vermittlungsverfahren. Jedesmal hat uns dann noch die CDU/CSU-Bundesratsmehrheit Hunderte Millionen, nein, Milliarden von Steuersenkungen oben draufgesetzt. Wäre das nicht geschehen, dann könnten Sie diese Beispiele heute gar nicht vorführen. Sie wissen das, Herr Dr. Stoltenberg, mindestens so gut wie ich.

(Beifall bei der SPD)

Im übrigen, Herr Glos — ich sehe Sie gerade nicht —,

(Glos [CDU/CSU]: Ja, hier!)

ich biete Ihnen eine Wette an: 10 Flaschen Württemberger Trollinger aus meinem Wahlkreis, wenn Sie die Wahlen gewinnen — was ich nicht hoffe —

(Urbaniak [SPD]: Huonker, immer diese Eigenwerbung!)

und Sie in der nächsten Legislaturperiode die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Dann bekommen Sie diesen Wein. Ich wünsche Ihnen jetzt schon viel Glück, weil Sie diese Wette verlieren werden.
Die Markenzeichen Ihrer Steuerpolitik, Herr Bundesfinanzminister, sind Steuersenkung auf Pump, ökonomische Unvernunft, soziale Ungerechtigkeit, Unaufrichtigkeit, Täuschung und Trickserei. Ich konzentriere mich auf die Stichpunkte soziale Ungerechtigkeit, Trickserei und Unwahrhaftigkeit. Diese Elemente ziehen sich wie ein schwarz-gelber Faden durch Ihre Steuerpolitik.

(Gattermann [FDP]: Nichts gegen Borussia Dortmund!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107409300
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glos?

Gunter Huonker (SPD):
Rede ID: ID1107409400
Nur wenn sie nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107409500
Nein, das kann ich nicht machen. Ich muß alle gleich behandeln.

Gunter Huonker (SPD):
Rede ID: ID1107409600
Dann kann ich keine Zwischenfragen zulassen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der hat Angst! — Gattermann [FDP]: Der Herr Kollege Glos will vielleicht nur die Wette annehmen, wer weiß!)

Ich habe einiges zu sagen, nach dem, wie die Debatte heute gelaufen ist. Sie werden es gleich sehen. — Wir machen das nachher.
Ich sagte: Unaufrichtigkeit und Trickserei sind der einzige erkennbare schwarz-gelbe Faden in Ihrer Steuerpolitik. Es fing mit dem 1 000-DM-Versprechen an. Es kam dann die Speckseitenpolitik bis zum Tag der Schleswig-Holstein-Wahl. Jetzt setzt die Bundesregierung diese Politik mit einer neuen Informationskampagne fort. Sie verschwendet die Steuergelder der Arbeitnehmer, die die Hauptlast der Steuern tragen, um die Arbeitnehmer über die Auswirkung dieser Steuerpolitik zu desinformieren. Das ist ein harter Vorwurf; ich will das belegen.

(Beifall bei der SPD)

In Ihrer Broschüre verschweigen Sie, Herr Dr. Stoltenberg, die Abschaffung des Altersfreibetrags, die Ausdehnung des Progressionsvorbehalts, die Abschaffung des Zukunftssicherungsfreibetrags, die Einschränkung des bisher steuerfreien Werbungskostenersatzes durch die Arbeitgeber. Kein Wort zu massiven Kürzungen im Bereich der Arbeitnehmersparzulage und des Bausparens. Die Fallbeispiele haben Sie genau so gestaltet, daß unter dem Strich immer eine deutliche Steuersenkung beim Arbeitnehmer herauskommt.
Das wird beim Personalrabatt beim Jahreswagen deutlich. Sie nehmen einen Automobilfacharbeiter, verheiratet, die Frau arbeitet mit, zwei Kinder, 75 500 DM Familieneinkommen. Ich rede hier in erster Linie über die Glaubwürdigkeit der Politik. Steuerpolitik ist noch mehr als manch anderes Feld der Politik darauf angewiesen, daß die, die sie machen, glaubwürdig sind. Wenn man hier mit einer 7-Millionen-DM-Kampagne die Bürger bewußt und gezielt hinters Licht führt, dann ist das ein Schaden auch für die Demokratie und nicht nur für die, die wir hier sind.

(Beifall bei der SPD)

Sie wissen, daß der Daimler-Benz-Facharbeiter natürlich keine 75 500 DM hat. Er hat knapp 50 000 DM in
Lohngruppe 11. Je höher das Einkommen ist, desto



Huonker
höher ist die Steuerentlastung. Sie schaffen sich damit Volumen, um von der Steuersenkung durch den Tarif die Steuererhöhung durch die Besteuerung des Jahreswagens abziehen zu können. Aber dieser Trick reicht nicht aus. Deshalb vergleichen Sie nicht die Steuerbelastung von heute mit der von 1990, sondern Sie gehen auf das Jahr 1985 zurück.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch richtig!)

Herr Dr. Stoltenberg, ich rate Ihnen: Gehen Sie doch auf das Jahr 1961 zurück! Dann werden Ihre Entlastungsbeispiele noch schöner.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Apel [SPD]: Das macht der glatt!)

Sie verschweigen natürlich auch, daß auf die 3 680 DM, die der Automobilwerker in Ihrem Beispiel zusätzlich versteuern muß, erstmals auch noch 662,40 DM an Sozialabgaben gezahlt werden müssen.

(Dr. Solms [FDP]: Das müssen andere Arbeitnehmer auch!)

So ist es auch bei dem Thema Besteuerung der Feiertags-, Sonntags- und Nachtzuschläge.
Herr Dr. Stoltenberg, die Wahrhaftigkeit hätte es geboten, daß wenigstens an einer Stelle Ihrer Propagandakampagne darauf hingewiesen wird, daß es eine Arbeitsentgeltverordnung gibt mit der Folge, daß dann, wenn etwas, das heute steuerfrei ist, in Zukunft besteuert wird, dieses Entgelt auch der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Wer dies verschweigt, sagt durch Verschweigen die Unwahrheit.

(Beifall bei der SPD)

Dennoch fordere ich alle Bürger auf: Lesen Sie diese Broschüre! Es lohnt sich aus zwei Gründen: Erstens merken Sie, daß Sie durch die Beispiele hinters Licht geführt werden sollen, und zweitens ist diese Broschüre ein vorzügliches Mittel, die Mehrheit derer noch zu vergrößern, die diese Steuerpolitik schon heute als sozial ungerecht und ökonomisch unvernünftig ablehnen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das werden wir ja sehen!)

Wenn es um amtliche Steuertabellen geht, ist es ja anders als bei Beispielen: Dann kann auch diese Regierung nicht tricksen. Aus den Tabellen ergibt sich z. B.: Eine Alleinstehende mit einem Jahresbruttoverdienst von 30 000 DM im Jahre 1990 wird gegenüber 1988, also gegenüber heute, um ganze 633 DM entlastet. Wer als Alleinstehender 150 000 DM bezieht, bekommt als Entlastung das Zehnfache, nämlich 7 677 DM; er verdient aber nicht das Zehnfache, Herr Bundesfinanzminister, sondern nur das Fünffache.
Das Maß der „Kinderfreundlichkeit" Ihrer Steuerpolitik ergibt sich ebenso aus dieser Tabelle. Deswegen noch einmal mein Rat: Broschüre besorgen und sorgfältig lesen.

(Poß [SPD]: Und einstampfen!)

— Nein, ich bin gegen das Einstampfen, und zwar definitiv, weil diese Tabellen wunderschön sind.
Das, was ich am Beispiel der Alleinstehenden vorgeführt habe, ließe sich natürlich bei Verheirateten mit Kindern genauso darstellen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107409700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gunter Huonker (SPD):
Rede ID: ID1107409800
Herr Gattermann, es tut mir leid. Ich will Ihnen noch einiges sagen, und dazu brauche ich die Zeit. Es ist nämlich, Herr Kollege, der Gesamtvorgang der geplanten Abschaffung des Arbeitnehmer- und des Weihnachtsfreibetrages in der deutschen Steuergeschichte einmalig, sozusagen ein Schurkenstück in vier Akten frei nach Friedrich Schiller: Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend immer Böses muß gebären.
Erster Akt: In der „Welt am Sonntag" vom 2. August 1987 wird Dr. Stoltenberg gefragt:
Die Sozialdemokraten werfen Ihnen vor, Sie planten bei den Subventionskürzungen die Streichung des Arbeitnehmerfreibetrags, des Weihnachtsfreibetrags, der steuerfreien Zuschläge für Feiertags- und Nachtarbeit.
Dr. Stoltenberg antwortet — ich zitiere — : Sie
— die Sozialdemokraten —
schwindeln das Blaue vom Himmel herunter, einige von ihnen auch gegen besseres Wissen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es auch gewesen!)

Vier Tage vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein, am 9. September 1987, erklärte der Bundesfinanzminister wörtlich — Hans Apel hat heute morgen darauf hingewiesen —, daß der Arbeitnehmerfreibetrag durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschützt sei, und da er dies wisse, werde er dies bei seinen Vorschlägen berücksichtigen. Dr. Stoltenberg fügte hinzu: „Unwahr ist auch, daß ich den Weihnachtsfreibetrag abschaffen will". Ähnliche Zitate gibt es auch von Dr. Blüm.
Zweiter Akt: Am 11. Oktober beschließt die Koalition die Abschaffung des Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrages; Steuermehreinnahmen laut Auskunft der Bundesregierung: 6,3 Milliarden DM.
Dritter Akt: Diese Operation soll durch eine Arbeitnehmerpauschale und eine erhöhte Kilometerpauschale verschleiert werden. Was es damit in Wirklichkeit auf sich hat, wird nirgendwo deutlicher gesagt als in dem Informationsdienst „Steuertip". Ich zitiere:
Sie als topinformierte Steuertip-Leser haben es sicher schon längst bemerkt: Für die weitaus meisten Steuerzahler,

(Glos [CDU/CSU]: Das lesen nur Steuerhinterzieher!)

— mir hat das ein Unternehmer zugeschickt; (Lachen bei der CDU/CSU)

— ja, die haben das fürs Lohnbüro; man bekommt ja von der Bundesregierung keine ehrlichen Antworten zur richtigen Zeit —

(Beifall bei der SPD)




Huonker
die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beziehen, ist die Neuregelung alles andere als vorteilhaft, im Gegenteil, sie zahlen kräftig drauf.
Und weiter:
Obwohl die Gründe, die zur Schaffung des Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrags führten, nach wie vor Gültigkeit haben, werden durch die Einführung des neuen Arbeitnehmerfreibetrags beide de facto gestrichen.
Alle, die bislang Werbungskosten von mehr als 2 000 DM absetzen konnten, schauten nun vollends in die Röhre. Ihr zu versteuerndes Einkommen erhöht sich exakt um 1 080 DM, die Summe aus Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrag.
Dem ist nur hinzuzufügen: Wer ab 1990 tatsächlich geringere Werbungskosten hat als 920 DM, wird gegenüber heute einen Vorteil aus der Arbeitnehmerpauschale haben. Dies ist aber nur eine kleine Minderheit.

(Glos [CDU/CSU]: Bürokratie vermeiden!)

— Auf das Bürokratieargument komme ich zurück. Darauf können Sie sich verlassen.
Wer Werbungskosten von 2 000 DM oder mehr hat, verliert den Steuervorteil aus Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrag vollständig. Bei Werbungskosten zwischen 920 DM und 2 000 DM geht dieser Steuervorteil in dem Maß verloren, in dem die Werbungskosten 920 DM überschreiten.
Die Kilometerpauschale, meine Damen und Herren, die in diesem Zusammenhang erhöht werden soll, gilt Werbungskosten ab. Bis zu einem Betrag von 2 000 DM wird sie von der Arbeitnehmerpauschale konsumiert.
Deshalb hat die Bundesregierung mir am 7. April 1988 erklärt — ich zitiere — :
Durch die Erhöhung der Kilometerpauschale werden Arbeitnehmer besser gestellt, deren Wegstrecke
— gemeint ist die Entfernung von der Wohnung zum Arbeitsplatz —

(Glos [CDU/CSU]: Aber nur wenn sie mit dem Auto fahren!)

über 35 km liegt.
Auch das ist natürlich nur eine kleine Minderheit. Das ist auch der Grund dafür, Herr Bundesfinanzminister, daß die Erhöhung der Kilometerpauschale, wenn sie für alle Pkw-Fahrer gelten würde, für alle Arbeitnehmer, weit über 1 Milliarde DM Steuerausfall brächte. Sie geben die Steuerausfälle nur mit 300 Millionen DM an.
Seit Dr. Stoltenbergs Offenbarungseid

(Glos [CDU/CSU]: Na, na!)

Anfang Januar, meine Damen und Herren, ist klar, daß die so begrenzte Erhöhung der Kilometerpauschale nicht etwa als kostengünstiges Bonbon zur Versüßung der Abschaffung des Weihnachts- und des Arbeitnehmerfreibetrages gedacht war. Nein, jetzt wissen wir: Hier wird die Kilometerpauschale für Fernpendler mit Wegen über 35 km Entfernung erhöht, weil Sie, Herr Bundesfinanzminister, und zwar schon ein Jahr vorher, die Mineralölsteuer erhöhen müssen, damit Sie die Löcher, die Sie u. a. durch die Steuerpolitik im Haushalt reißen, stopfen können. So ist es und kein Haar anders.

(Beifall bei der SPD)

Zurück zur Arbeitnehmerpauschale: Der Sachverständigenrat hat in seinem letzten Jahresgutachten darauf hingewiesen, daß durch die Arbeitnehmerpauschale — ich bitte Sie von der Koalition, das nachzulesen — genau jene Arbeitnehmer mit höheren Werbungskosten diskriminiert werden. — „Diskriminiert" ist das Wort. — Er sagt, dies sei „besonders bedauerlich" ; denn es handele sich dabei auch um Ausgaben für berufliche Weiterbildung, bedauerlich, weil ja „Höherqualifizierung für die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte erwünscht ist und damit im wachstumspolitischen Interesse liegt".
Vierter Akt: Wegen der Streichung des Weihnachtsfreibetrages würde die Belastung des Weihnachtsgeldes mit Steuern und Abgaben beim Durchschnittsverdiener im Jahr 1990 auf eine neue Rekordhöhe schnellen, rund 40 %. Dies würde jeder Arbeitnehmer spätestens bei der Auszahlung des Weihnachtsgeldes merken. Das ist der Grund, warum jetzt plötzlich, abweichend vom alten Kalender, ein 13. Monat erfunden worden ist.

(Glos [CDU/CSU]: Das ist eine logische Folge der Entwicklung bei Löhnen und Gehältern!)

Ernst gesagt: Man greift zur Dreizehntelung. Hinter dieser scheinbar steuertechnischen Maßnahme verbirgt sich folgendes: Ab 1990 sollen alle Arbeitnehmer, egal, ob sie überhaupt Weihnachtsgeld bekommen, egal, ob sie nur ein paar Mark oder einen Teil eines Monatsgehalts bekommen, Monat für Monat steuerlich so behandelt werden, als ob sie ein 13. Monatsgehalt bekämen und dieses in Form eines Zwölftels Monat für Monat ausgezahlt würde.

(Reimann [SPD]: So ein Unsinn!)

Wenn Sie weiter wissen, Herr Bundesfinanzminister — und Sie wissen es, weil Sie es selber in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs geschrieben haben —,

(Hüser [GRÜNE]: Das hat er vielleicht nicht gelesen!)

daß es unter denen, die im Tarifregister von Dr. Blüm erfaßt sind, 1,2 Millionen Arbeitnehmer gibt, die überhaupt kein Weihnachtsgeld bekommen,

(Dr. Apel [SPD]: So ist es!)

und daß noch nicht einmal die Hälfte der Arbeitnehmer wenigstens 60 % eines Monatsgehalts als Weihnachtsgeld erhalten, dann heißt das: Um die Abschaffung des Weihnachtsfreibetrags zu verstecken, wollen Sie Millionen von Arbeitnehmern zumuten, Monat für Monat Steuern für etwas zu bezahlen, was sie gar nicht oder jedenfalls später bekommen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Faltlhauser [CDU/ CSU]: Das ist eine ganz große Luftblase, was Sie aufbauen! — Reimann [SPD]: Unverschämtheit!)




Huonker
Daß Sie dabei natürlich gleich einen Kassenkredit von 900 Millionen DM pro Monat bekommen und daß Bund, Länder und Gemeinden einen Zinsgewinn von über 200 Millionen DM machen, versteht sich von selber.

(Uldall [CDU/CSU]: Sie müssen mal die Jahresvergleichszahlen nennen!)

Herr Stoltenberg, allein durch diese Maßnahme der Dreizehntelung

(Uldall [CDU/CSU] : Herr Huonker, nennen Sie mal die Jahresvergleichszahlen!)

fehlt einem Arbeitnehmer mit Durchschnittsverdienst ein Drittel der Steuersenkung, die Sie ihm durch den neuen Tarif gewähren.

(Zuruf des Abg. Glos [CDU/CSU])

— Sie sind überrascht? Fragen Sie doch mal Ihre Kollegen. Ich komme gleich darauf zurück.
Natürlich kann das im Lohnsteuerjahresausgleich zurückgeholt werden;

(Glos [CDU/CSU]: Freilich!)

nur, Herr Glos, ohne Zinsen, weil es ja bei der Vollverzinsung eine Karenzzeit von 15 Monaten geben wird.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist aber jetzt krampfhaft!)

Hier, damit es jeder sieht! Der „Express" vom 22. März 1988: „Weihnachtsgeld: Bonns neuer Steuertrick: Abzüge schon ab Januar".

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Wer hat denn das geglaubt? — Glos [CDU/CSU]: Übliche Überschrift!)

Jetzt zitiere ich den heute morgen von Dr. Stoltenberg lobend erwähnten Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums zum Thema Arbeitnehmerpauschale:
In der Öffentlichkeit wurde der Eindruck erweckt, als ob mit der beabsichtigten Zusammenfassung keine Verschlechterung der einkommensteuerlichen Behandlung von Arbeitnehmern verbunden wäre. Tatsächlich ergibt sich jedoch — auf die Arbeitnehmerpauschale allein bezogen —— davon rede ich —
eine Schlechterstellung all jener Arbeitnehmer, deren Werbungskosten höher als 920 DM sind.
Herr Dr. Stoltenberg, wen eigentlich meint Ihr Wissenschaftlicher Beirat? Niemanden anders als Sie selbst,
Ich fordere Sie auf — gerade nach dem, was wir heute morgen von Ihnen wieder gehört haben — : Hören Sie endlich mit der Unwahrhaftigkeit auf, zu sagen, Werbungskostenpauschbetrag, Arbeitnehmerfreibetrag und Weihnachtsfreibetrag würden zusammengefaßt und deren Summe werde zusätzlich erhöht. Das ist Ihre Formulierung. Das ist die Unwahrheit.

(Glos [CDU/CSU]: Nein; das ist richtig!)

Weihnachtsfreibetrag und Arbeitnehmerfreibetrag werden gestrichen.

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Die reine Wahrheit!)

Wer das Gegenteil sagt, der behauptet die Unwahrheit; härter gesagt: der lügt.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wenn Sie mir nicht glauben, dann reden Sie einmal mit einigen Fachleuten aus den CDU/CSU-regierten Ländern, meine Kollegen von der Koalition. Der Finanzausschuß des Bundesrates hat am 14. April, also vor einer Woche, diese Machenschaften mit der Arbeitnehmerpauschale und der Dreizehntelung, wie ich höre, aus genau den Gründen abgelehnt, die ich vorgetragen habe.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Die wollten die Weihnachtsprogression auf ihre Weise dämpfen! Das sind doch technische Fragen, die zu lösen sind! — Lachen bei der SPD)

— Herr Faltlhauser, Sie bringen mich nicht vom Thema ab.
Der Kollege Herkenrath — er ist, wenn mich nicht alles täuscht, leider nicht hier — hat laut „Bild am Sonntag" vom 13. März 1988 zur Dreizehntelung gesagt — Herr Dr. Stoltenberg, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit —: „Was Stoltenberg vorhat, ist unfair." Ähnlich hat sich der Hauptgeschäftsführer der Sozialausschüsse der CDA geäußert.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Der muß es ja verstehen! Der redet über alles!)

Deswegen fordere ich Sie, Herr Dr. Faltlhauser und alle Kollegen der christlichen Sozialausschüsse, nein, ich fordere das ganze Haus auf: Lassen Sie uns ein Bündnis der Fairneß und Aufrichtigkeit gegenüber den Arbeitnehmern schmieden und diese Arbeitnehmerpauschale und die Dreizehntelung gemeinsam in den Orkus werfen, ehe Sie vom Bundesrat gezwungen werden, von dieser schrecklichen Mißgeburt Abschied zu nehmen!

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Zur Vermögensbildung wäre einiges zu sagen. Heute nur so viel: Gekürzt wird in einem Volumen von 580 Millionen DM. Durch die Einkommensgrenze ist das Vermögensbildungsgesetz ein Gesetz, das eine zielgerichtete Subvention für die Bezieher kleiner Einkommen enthält. Hier wird gekürzt, weil es ums Kassemachen geht.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Darf ich Sie an Ihre Kürzungen in den vergangenen Jahren erinnern!)

Wie will die Familienministerin, Herr Dr. Faltlhauser — sie ist nicht da —, begründen, daß durch Streichung der erhöhten Sparzulage für Familien mit drei Kindern 80 Millionen DM eingespart werden, während man gleichzeitig 110 Millionen DM locker machen will, um die Einkommensgrenzen für Bezieher höherer Einkommen zu erhöhen? Dies ist nicht kin-



Huonker
derfreundlich, das ist ein Skandal, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Der Bundesfinanzminister erhofft durch die Änderung des Auszahlungsverfahrens im Vermögensbildungsgesetz eine einmalige Mehreinnahme von 2,3 Milliarden DM zu Lasten der Arbeitnehmer. Hier wird deutlich: wenn es um das Thema Kassemachen zu Lasten der Arbeitnehmer geht — es müssen in Zukunft Hunderttausende von Arbeitnehmern auf Grund dieser Maßnahme erstmals einen Antrag auf Lohnsteuerjahresausgleich stellen — , dann ist dem Bundesfinanzminister das Thema Steuervereinfachung für die Bürger völlig wurscht. Dasselbe gilt für die Abschaffung des Sonderausgabenpauschbetrages. Steuermehreinnahmen: 500 Millionen DM. Dafür nimmt der Bundesfinanzminister in Kauf, daß etwa eine Millionen Bezieher kleiner Einkommen wegen jeder Mark, die sie an Spenden oder Beiträgen zahlen, in Zukunft einen Antrag auf Lohnsteuerjahresausgleich stellen müssen. Steuervereinfachung: Dieser Gesetzentwurf macht deutlich, Steuervereinfachung ist für Sie, Herr Dr. Stoltenberg, vor allem dann von Wert, wenn den Arbeitnehmern unter dem Mantel der Steuervereinfachung in die Tasche gegriffen werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Herr Glos, Wohnungsgemeinnützigkeit: Sie sind von der CSU und kommen aus Bayern. Der CSU-Landesinnenminister Lang hat in der „Süddeutschen Zeitung" vom 31. März erklärt, mit dem, was hier in Sachen Gemeinnützigkeit des Wohnungsbaus geplant sei, sei „ein Stück Sozialstaat in Gefahr" . Er hat Recht. Und das alles für 100 Millionen DM mehr in die Kasse!
Wir sind dagegen — die Kollegen Jahn und Müntefering haben in der Debatte am 10. März dazu gesprochen —, und zwar aus Gründen, die ich schon gar nicht mehr erklären muß, vor allen Dingen, wenn sie mit diesem Thema zu Lasten der Mieter so umgehen, wie Sie es hier getan haben, nämlich nicht nur uninformiert — eine weitere Wertung will ich mir ersparen. Daß auch die Grundsteuervergünstigung für Wohnraum abgeschafft wird, sei hier nur noch erwähnt. Ich brauche nicht mehr zu begründen, daß wir dagegen sind.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Hans Mundorf erklärte am 2. Februar 1988 im „Handelsblatt" den Widerstand gegen den Finanzierungsteil des Steuerreformgesetzes 1990 unter anderem damit, daß „in fast brutaler Weise demonstriert worden ist, daß Steuerpolitik sehr viel mit Geldbeschaffung, aber sehr wenig mit Recht zu tun hat" . Dem stimme ich zu.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107409900
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107410000
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Westphal! Sehr geehrte Fernsehzuschauer/innen und Rundfunkhörer/innen! Bei diesem kurzen Streifzug, leider viel zu kurz, von dem einzigen freien und unabhängigen Geist in diesem Hause, der an keinerlei Fraktionszwänge gebunden ist, werde ich mich nicht an diesem Verwirrspiel mit vielen Zahlen, Details und Rechenkunststücken beteiligen, sondern werde mich auf einige Kernpunkte, bedeutsame Rahmenbedingungen und Konsequenzen der geplanten Steuerreform beziehen.
Es ist schon ein Kuriosum an sich, daß wir diese erste Lesung innerhalb von lediglich sechs Stunden bewältigen sollen, während wir uns z. B. mit den Haushalten pro Kalenderjahr wochenlang herumschlagen, obwohl die Konsequenzen für die Bevölkerung in unserem Lande durch die strukturelle Anlegung eines solchen Gesetzes in diesem Fall sehr viel tiefgreifender, langwieriger und entsprechend nachhaltiger sein werden.
Wenn wir Einzelentscheidungen vor uns haben, dann wissen wir, daß es immer wieder Verwunderung hervorruft, an welchen Stellen Geld zur Verfügung steht und an welchen nicht. Dies ist in jedem Fall eine politische Entscheidung. Ähnlich — das gerät leicht in Vergessenheit — ist es auch bei dieser Steuerreform, nur eben von sehr viel länger anhaltender Dauer. Diese Verwirrspiele, die wir in den letzten Stunden und eben im wesentlichen erlebt haben,

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie waren verwirrt!)

die die meisten selbst hier im Hause, Herr Kollege, und draußen sowieso, langweilen, — nicht nur weil es eine schwierige Materie ist

(Glos [CDU/CSU]: Jetzt sind die Leute gespannt!)

— die Spannung werde ich Ihnen gleich nehmen —, sondern weil es tatsächlich mehr als Verwirrung stiftet — , haben keine andere Funktion, als Nebel vor allen Dingen in die Bevölkerungsgruppen auszustreuen, die betroffen sein werden.
Ich bitte Sie, sehen Sie einmal ganz tief da oben in die rechte Kamera des Hauses! Dort sehen Sie die wenigen Menschen im Lande, die zur Zeit profitieren und sich auf die Schenkel klopfen: das sind die Ärzte, das sind die Vorstandsmitglieder von Bayer, BASF, HDW, Krupp und anderen. Diese wenigen Menschen feixen sich in der Tat einen, wenn sie dieses Gesetzespaket zur Zeit hier debattiert sehen.
Und wenn Sie ganz tief in die linke Kamera hineinschauen, sehen Sie geradezu Massen unserer Bevölkerung: das sind die Alten, das sind die Pflegebedürftigen, die jugendlichen Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose — besonders natürlich in meiner Heimatstadt Geesthacht —, und Ausländer sowie andere benachteiligte Gruppen. Es sind aber von der Quantität in der Tat weit über 80 % der Bevölkerung, die hier Nachteile erfahren sollen.
Ich will mit solchen etwas plastischeren Schilderungen nicht den Ernst dieses Gesetzes verschütten. Warum wird in dieser Weise mit soviel Nebelstreuung in die Taschen der Mehrheit unserer Bevölkerung gegriffen? Eine bedeutsame Rahmenbedingung ist eben die weltwirtschaftliche Situation. Während die sogenannten entwickelten Länder den unterentwickelten



Wüppesahl
Ländern alles herausziehen, was sie herausziehen können, und selbst zwischen den entwickelten Ländern der Protektionismus seine Blüten treibt, haben wir inzwischen die Situation, daß diese beiden „stilvollen" Mittel nicht mehr ausreichen, um zu kompensieren, was in diesem Lande durch die Umverteilung von unten nach oben an Ungerechtigkeiten geschaffen wird. Dabei ist mir klar, daß die letzte Lösung, die wir in der Geschichte in solchen Situationen bisher erlebt haben, zur Zeit wohl nicht ansteht, aber doch genannt werden muß: und das ist der Krieg.
Wir haben in dieser Debatte bisher sehr wenig über die Mehrwertsteuer gehört; es klang nur gelegentlich an. Doch weiß jeder, vor allen Dingen bei der sehr zutreffenden Analyse in vielen Details durch SPD und GRÜNE, daß die Löcher bei der Finanzierung der Steuerreform genauso wie bei der Haushaltssituation für Herrn Stoltenberg mit den vorgegebenen Möglichkeiten nicht zu stopfen sein werden. Das heißt, die Mehrwertsteuererhöhung wird kommen. Ich verweise nur auf einen der vielen Kronzeugen, die Sie aus den Koalitionsfraktionen uns ständig frei Haus liefern. Kein Geringerer als Karl Eigen, der als Bauernverbandspräsident in Schleswig-Holstein fungiert, hat z. B. am Montag dieser Woche beim Kreisbauerntag in Eutin sehr offensiv erklärt, daß zwei Punkte Anhebung bei der Mehrwertsteuer zu vertreten seien, weil die Inflation sowieso so gering sei, und hat freimütig auch erzählt, daß eine solche Propaganda positiv aufgenommen worden sei. Das bedeutet in der jetzigen Situation, in der wir Tarifabschlüsse haben, die jeden fortschrittlichen Geist in diesem Lande aufschreien lassen müßten, die zum Teil ja auch noch auf drei Jahre angelegt sind, daß wir spätestens dann, wenn die letzten Abschlüsse getätigt sind, erleben werden, daß die objektiv nicht wegzustreitenden Löcher bei Herrn Stoltenbergs Finanzierungsmodellen gestopft werden müssen und die Mehrwertsteuer erhöht wird. Wer da wieder die proportional größten Lasten zu tragen haben wird, ist genauso klar.
Einer der Vorredner aus den Koalitionsfraktionen führte an, daß eine Mehrwertsteuererhöhung nicht zum Zwecke der Finanzierung der Steuerreform anstünde. Das mag ja sein. Wir wissen alle hier im Hause, daß bei der anstehenden Harmonisierung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft unser Mehrwertsteuersatz mit Sicherheit nach oben gehen wird. Es lassen sich noch andere Begründungen finden, weshalb zu einem Zeitpunkt, zu dem die Tarifabschlüsse vorliegen und die Steuerreform durchgepeitscht worden ist, von dieser Koalitionsregierung eine solche Maßnahme getroffen werden wird. Eine Begründung herzuzaubern dürfte dann nicht schwierig sein.
Was genauso deutlich ist und ein eigenes Kapitel darstellt, gelegentlich von Vorredner/innen bereits angesprochen, ist die Stärkung des Zentralstaates, daß also der Bund den Ländern in die Taschen greift, um seine Defizite zu finanzieren, und die Länder nochmals den Kommunen. Auch ich bin vier Jahre in der Kommunalarbeit tätig gewesen und habe von 1982 bis 1986 erlebt, wie das in den einzelnen Haushalten zu Buche schlägt. Tatsächlich ist es so, daß die Realbedürfnisse in vielen Kommunen schon nicht
mehr oder nur unter sehr großen Schwierigkeiten befriedigt werden können. Das betrifft eben nicht nur Kindergärten oder die Bereiche der Erwachsenenbildung, Volkshochschulen etc., sondern noch sehr viel substantiellere Gebiete.
Mir ist dabei bewußt, daß die Stärkung der Kommunen nicht automatisch eine bessere oder ökologischere Politik produziert. Dort wird nach wie vor sehr viel Schindluder getrieben. Es ist aber in jedem Fall besser, als diesem Zentralstaat, der im Kern die größten Positionen im Kriegshaushalt aufzeigt — auch wenn im Sozialhaushalt in der Bilanz die größten Summen ausgewiesen werden — solche Gelder zu überlassen.
Lassen Sie mich noch ein Kapitel ansprechen, das heute nicht zur Sprache kam: die Schwarzarbeit. Wenn ich draußen Gespräche führe — man wird ja häufig angesprochen —, dann wird auch im Zusammenhang mit der Steuerreform darauf hingewiesen, und es wird geradezu um Verständnis geworben, wenn jemand sagt: Wie soll ich das finanzieren? Wenn ich 800, 900 DM Miete zu zahlen und eine Familie mit Kindern zu versorgen habe, dann kann ich mir keinen Handwerker ins Haus kommen lassen, der schon 50 DM für die Anfahrt nimmt.

(Uldall [CDU/CSU]: Sehen Sie! Weil die Nebenkosten so hoch sind! Das ist genau richtig!)

— Die Ursachen liegen woanders. Nur, mit dieser Steuerreform oder den Planungen, die zur Zeit debattiert werden — es besteht ja die Hoffnung, daß noch Änderungen erfolgen — , betreiben Sie, daß diese Gruppe von Menschen weiter drangsaliert wird. Das heißt, die Schwarzarbeit wird durch so ein Gesetzespaket mit Sicherheit hervorragende Wachtumsraten haben. Das halte ich Ihrem Geschrei, Ihren lauten Worten mit aller Deutlichkeit entgegen.

(Uldall [CDU/CSU]: Es ist genau das Gegenteil der Fall, Herr Kollege! Wenn die Steuern sinken, wird Schwarzarbeit weniger lohnen!)

Ein Sahnestückchen der Konsequenzen, die diese Steuerreform in ihrer ersten Lesung noch aufweist, ist in der Tat der Bereich der Sonntags- und Nachtschichten. Hiervon betroffen ist eine Bevölkerungsgruppe, die hochgradig gesundheitsschädliche Tätigkeiten ausübt. Ich habe 16 Jahre Polizeidienst hinter mir; ich habe Nachtdienste gemacht. Wenige von Ihnen wissen, was es heißt, Nachtdienst zu machen. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, überhaupt einen solchen Bereich in dieser Weise anzutasten, um die Mittel zu finanzieren, die den Großunternehmen für weitere Abschreibungsmöglichkeiten und Subventionen in den Hintern gesteckt werden.

(Uldall [CDU/CSU]: Die Polizei wird doch gar nicht tangiert!)

Mein Vorredner von der SPD, Herr Huonker, hat an verschiedenen Stellen nachweisen können, daß hier unsauber gearbeitet wurde, daß unwahre Behauptungen aufgestellt wurden, daß Versprechungen, die gemacht worden waren, wieder korrigiert werden mußten.



Wüppesahl
Herr Stoltenberg, nachdem ich nun erleben mußte — wir beide kommen aus Schleswig-Holstein — , daß Sie es geschafft haben, Ihren Landesverband zugrunde zu richten, habe ich große Angst, daß Sie auch noch diese Bevölkerung zugrunde richten mit einem solchen Steuerreformpaket, wie es vorliegt. Nach wissenschaftlichen Kriterien — wohlgemerkt, nach streng wissenschaftlichen Kriterien — kann man in der Tat zu dem Ergebnis kommen und die Behauptung aufstellen, daß Sie der größte Wirtschaftskriminelle sind, der in diesem Lande existiert.

(Uldall [CDU/CSU]: So was aus dem Munde eines Kriminalbeamten! Das ist ja unglaublich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107410100
Herr Abgeordneter, das nehmen Sie bitte zurück. Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107410200
Was Sie den Menschen aus den Taschen ziehen, die hier in ganz anderen Kategorien zu denken haben als wir!
Als letzter Satz: Mir fällt es natürlich schwer, innerhalb von zehn Minuten eine Strategie aufzuzeigen, die den Papieren entspricht, an denen auch ich bis vor kurzem mitgearbeitet habe. Aber lassen Sie mich so viel sagen: Wenn diese Steuerreform wirklich sozial wäre, sich an ökologischen Gesichtspunkten ausrichtete, daß die Selbstbedienung z. B. der Parteien an dem Steuersäckel endlich aufhörte — und nicht nur der Parteien, sondern auch Ihrer Klientel — und die Bereiche wie z. B. Steuerfahndung oder Wirtschaftskriminalität entsprechend gestärkt würden, . . .

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107410300
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit geht zu Ende.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107410400
... könnte man sich leichter auf der Grundlage dieses Paketes überhaupt unterhalten. Ich kann in der Tat nur empfehlen: Was Sie jetzt abgeliefert haben — was vorhin aus den Reihen der SPD zurückgewiesen wurde — , stampfen Sie es ein, Herr Stoltenberg!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107410500
Herr Abgeordneter, bleiben Sie bitte einen Moment hier stehen. Ich habe Ihnen zwischendurch einen Ordnungsruf erteilt. Wegen des Wortes, das Sie gegenüber dem Finanzminister gesprochen haben. Ich will es nur noch einmal verdeutlichen, damit Sie es richtig gehört haben. Dies war ein Ordnungsruf des Präsidenten für einen nicht akzeptablen Vorwurf gegenüber einem anderen Kollegen dieses Hauses.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107410600
Ich nehme das zur Kenntnis.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107410700
Ich rufe als nächsten den Abgeordneten Dr. Meyer zu Bentrup auf.

Heinz-Werner Meyer (SPD):
Rede ID: ID1107410800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich sehe den Kollegen Huonker jetzt nicht. Im Finanzausschuß ist er ein liebenswürdiger Kollege, aber im Plenum, wenn das Fernsehen läuft, dann kommt die Sachkunde zu kurz. Dann wird der Redebeitrag polemisch,
mit falschen Behauptungen und Unterstellungen. Das muß ich mit Entschiedenheit zurückweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden noch im einzelnen darauf eingehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Entwurf des Steuerreformgesetzes 1990 ist von historischer Bedeutung. Erstmals wird der Versuch unternommen, das Steuersystem einfacher, gerechter, familienfreundlicher und wachstumsfördernder zu gestalten. Diese vier Ziele verwirklichen wir mit einer massiven und nachhaltigen Steuersenkung, denn unsere Steuerpolitik ist den arbeitenden Menschen verbunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Heute morgen haben wir aus der SPD-Fraktion nicht das Wort gehört: Auch wir treten für eine Steuersenkung ein! Darauf haben wir lange gewartet.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Da werden wir wohl lange warten müssen!)

Für die arbeitenden Menschen sind besonders deren Steuern, die Lohn- und Einkommensteuer, dramatisch gestiegen. 1960 waren es 17 Milliarden DM, 1985 waren es 176 Milliarden DM. Das ist die zehnfache Steuerlast, obwohl die Bruttoverdienste nur um das Sechsfache gestiegen sind.
Es ist eine historische Leistung, in sechs Jahren unserer Regierungszeit hier in drei Reformschritten den arbeitenden Menschen und Betrieben 50 Milliarden DM an Steuerentlastung zurückzugeben, ohne andere Verbrauchsteuern hierfür zu erhöhen.

(Zuruf von der SPD: Das kommt noch!)

Unsere sozialdemokratischen Kritiker erinnere ich daran, daß sie in ihrer Regierungszeit, in zwölf Jahren, die direkten Steuern um 25 Milliarden DM gesenkt haben, aber gleichzeitig durch die Erhöhung von Verbrauchsteuern — Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer, Branntweinsteuer, Tabaksteuer und und und —25 Milliarden DM wieder hereingeholt haben. Deswegen ist unsere Leistung, 50 Milliarden DM netto zu geben, historisch zu würdigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Das dicke Ende kommt noch!)

Wenn Sozialdemokraten und Gewerkschaften immer wieder erklären, daß die Arbeitnehmer von dieser Steuerreform nicht profitieren,

(Zuruf von der SPD: Dann haben sie recht!)

wenn auch einige Wirtschaftsverbände uns vorrechnen, auch die Unternehmen gehen praktisch leer aus, dann müssen wir natürlich die Frage stellen: Wohin gehen 50 Milliarden DM des Entlastungsvolumens? Die Antwort ist leicht gegeben: Sie gehen breitgefächert in die Familien mit Kindern, in die Arbeitnehmerhaushalte, an die Selbständigen und an die Gewerbetreibenden.
Mit der Steuerreform wird das Steuerrecht vereinfacht. Komplizierte und verwaltungsaufwendige Gesetze und Sonderregelungen werden gestrichen. Eine



Dr. Meyer zu Bentrup
halbe Million heute steuerpflichtiger Bürger werden im Jahre 1990 keine Steuern mehr zu zahlen haben. Das ist eine große Steuervereinfachung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Da der Grundfreibetrag und die familienbezogenen Freibeträge erhöht werden und der Eingangssteuersatz gesenkt wird, werden besonders die kleineren Einkommensbezieher vorteilhaft entlastet. Es ist gleichermaßen eine große soziale Tat. Eine Arbeitnehmerfamilie mit vier Kindern und einem Bruttojahresarbeitsverdienst von 30 300 DM zahlte 1985 2 800 DM Lohnsteuer.

(Poß [SPD]: Das rechne ich jetzt gerade einmal nach!)

Und, Herr Kollege Poß — jetzt rechne ich das Einkommen dieser Arbeitnehmerfamilie hoch —, im Jahre 1990 zahlt diese Arbeitnehmerfamilie keine Steuern mehr. Einem verheirateten Rentnerehepaar bringt die Steuerreform, daß seine Bruttorente bis monatlich 5 170 DM im Jahre 1990 steuerfrei gestellt wird, im Jahr sind das 62 100 DM steuerfrei. Diese beiden Beispiele beweisen plastisch, daß das Neid- und Klassenkampfgerede, das wir immer wieder hören, die Sprüche der Umverteilung von unten nach oben mit der Steuerwirklichkeit nicht übereinstimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

Mit der Steuerreform — das zweite Ziel — wird das Steuersystem vereinfacht. Die Bemessungsgrundlage wird verbreitert. Es ist leistungsgerechter und sozialer, niedrige Sätze mit wenigen Ausnahmen als hohe Steuersätze mit vielen Ausnahmetatbeständen zu haben. Denn diese steuerlichen Ausnahmeregelungen, immer mit der Progressionsmilderung begründet, werden nur einer begrenzten Gruppe gegeben, aber von allen bezahlt. Diese Ausnahmeregelungen öffnen denen die Hintertürchen, die sich mit cleveren und teuren Rechts- und Steuerberatern die größeren steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten verschafft haben. Deswegen ist der Lärm gegenwärtig kein Wunder. Nach Shakespeare: Viel Lärm um nichts.
Hier geht es um Besitzstände und Subventionen. Es ist eine historische Tat: Erstmals werden Subventionen und Steuervergünstigungen in einer Höhe von 18 bis 19 Milliarden DM in einem Steuergesetz abgebaut.
Es ist ein Gebot der steuerlichen Gerechtigkeit und der konsequente Reformansatz, erhebliche Besteuerungsunterschiede im geltenden Recht zu beseitigen.
Bei den Zuschlägen zum Grundlohn für Nachtarbeit, für Sonntagsarbeit und für Feiertagsarbeit sind erhebliche Unterschiede bei der Besteuerung innerhalb der Arbeitnehmerschaft gewachsen. Im Kern bleiben die Zuschläge steuerfrei, sie werden aber vereinheitlicht. Die Zuschläge für Nachtarbeit, Sonntagsarbeit und Feiertagsarbeit bleiben auch weiterhin steuerfrei, soweit sie für Nachtarbeit 25 % , für Sonntagsarbeit 50 %, für Feiertagsarbeit 125 % und für Arbeiten Weihnachten und am 1. Mai 150 % nicht übersteigen.
Es ist ein Gebot der steuerlichen Gerechtigkeit, Zinseinkünfte besser zu erfassen. Zinsen und andere Kapitalerträge sind — abgesehen von einem Freibetrag — schon immer steuerpflichtig gewesen. Viele Bürger versteuern ihre Zinseinkünfte aus Unkenntnis oft nicht so, wie es das Gesetz verlangt. Aus diesem Grund wird eine kleine Kapitalertragsteuer von 10 % eingeführt. Das neue Verfahren stellt sicher, daß 10 % der Zinseinkünfte direkt von der Bank, „von der Quelle", an die Finanzämter abgeführt werden. Die Sparer bleiben anonym, können aber ihre vorausgezahlte, ihre abgeführte Steuer mit ihrer persönlichen Einkommensteuer verrechnen

(Sellin [GRÜNE]: Oder es lassen!)

oder

(Sellin [GRÜNE]: Steuern hinterziehen!)

freigestellt werden. In der Schweiz heißt diese Steuer „Verrechnungsteuer". Sie wird verrechnet. Für die steuerehrlichen Bürger ändert sich durch die Steuerreform wirtschaftlich nichts.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Steuerreform schafft ein familienfreundlicheres Steuersystem. Ein Familienverband schrieb mir:
Sorgen Sie dafür, daß das Steuersystem familiengerechter wird. Schaffen Sie mehr Steuergerechtigkeit für Familien mit Kindern im Steuerrecht gegenüber den kinderlosen Familien.

(Frau Weyel [SPD]: Tun Sie es doch!) Genau das wollen wir,


(Zuruf von der SPD: Sie tun es aber nicht!)

das Steuersystem familiengerechter gestalten. Es ist die familienfreundlichste Initiative unserer Nachkriegsgeschichte, die wir nun im Steuerrecht verankern wollen.
Wir erhöhen den Kinderfreibetrag um 20 % auf 3 042 DM. Mit dem Kinderfreibetrag wird der Teil des Einkommens, den Eltern für den Kindesunterhalt aufwenden müssen, von Steuern freigestellt. Eltern sind im Steuerrecht im Vergleich zu Steuerpflichtigen ohne Kinder bei gleichem Einkommen benachteiligt.
Für eine Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern erhöht sich die Steuerfreigrenze von 14 000 DM im Jahr 1985 um fast 10 000 DM auf 23 000 DM im Jahre 1990. Wird das Kindergeld mit berücksichtigt, so ergibt sich für diese Familie ein belastungsfreies Einkommen von 34 300 DM. Für eine Arbeitnehmerfamilie mit vier Kindern verdoppelt sich 1990 das steuerfreie Einkommen sogar. Hier sind zusammen mit dem Kindergeld 67 500 DM Einkommen belastungsfrei.
Diese Reform ist kinderfreundlich. Das wird an diesen Beispielen sehr deutlich!
Für die Familienpolitik ist das duale System von Kindergeld und Kinderfreibetrag zukunftsorientiert. Es muß unser Ziel sein, Kindergeld und steuerliche Kinderfreibeträge wieder in einer Behörde, in der Fi-



Dr. Meyer zu Bentrup
nanzverwaltung anzusiedeln. Wir wollen die Finanzamtslösung anstreben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Weyel [SPD]: Dazu brauchen Sie aber keine Steuerfreibeträge!)

Die Steuerreform ist wachstumsfördernd. Der neue linear-progressive Tarif ist das Kernstück der Steuerreform. Er ist leistungsorientiert und mittelstandsfreundlich; denn in den letzten 20 Jahren ist die Steuerprogression ständig verschärft worden, so daß Leistung und Investition immer weniger belohnt wurden. Der sogenannte Mittelstandsbauch wird beseitigt und damit der harte Zugriff des Staates auf die Einkommen bzw. auf die Mehrverdienste von Facharbeitern, von Selbständigen und Gewerbetreibenden entschärft. Steuersenkung in diesem Bereich trägt zu einer wirksamen Eigenkapitalbildung in kleineren Betrieben bei.

(Sellin [GRÜNE]: Und in den Großbetrieben!)

Weniger Staat und weniger Steuern sind der Weg, unsere marktwirtschaftlichen Grundlagen wieder zu stärken; denn es war der Irrtum der 70er Jahre, zu glauben, je höher die Steuern und je größer die staatliche Einflußnahme seien, desto zahlreicher seien die Arbeitsplätze und desto sicherer sei unser Wohlstand.
Das Ergebnis kennen wir. Es ist folgenschwer, denn die strukturelle Arbeitslosigkeit ist trotz milliardenschwerer Beschäftigungsprogramme gewachsen. Der Strukturwandel ist behindert worden. Die Steuerlast für die arbeitenden Menschen und für die Betriebe ist in dieser Zeit verdreifacht worden. Die öffentlichen Schulden überforderten die Kapitalmärkte und trieben die Zinsen in die Höhe. Der Preis am Markt verlor seine Steuerungs- und Informationsfunktion.
Mit dem neuen Reformtarif der Steuerreform 1990 verzichtet der Staat darauf, Investitionen in bestimmte Richtungen zu lenken. Der Gewinn am Markt muß die Richtschnur sein. Wir wollen nicht der steuerlichen Chance, sondern der wirtschaftlichen Chance wieder einen breiteren Weg bahnen.
Unser finanzpolitischer und steuerpolitischer Neuanfang 1982/83 ist gelungen. Der Staatsanteil sinkt, das Geld ist stabil und das Wirtschaftswachstum ungebrochen. Die Zinsen sind die niedrigsten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Erfolgreicher kann die Steuer- und Finanzpolitik, die mit Ihrem Namen, Herr Bundesminister Stoltenberg, verbunden ist, nicht sein als in dieser Periode seit 1982.
Häufig wird uns die Frage gestellt: Können wir uns eine Steuerreform in diesem Umfang und mit diesem finanziellen Volumen leisten? Unsere Antwort lautet: Diese Steuerreform ist notwendig, um ein einfacheres, gerechteres, familienfreundlicheres und wachstumsfördernderes Steuersystem zu bekommen. Sie ist Voraussetzung für mehr Beschäftigungs- und Wachstumsimpulse. Sie ist finanzierbar bei strikter Ausgabendisziplin aller öffentlichen Haushalte. Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden werden langsamer wachsen. Die Zuwachsraten werden
geringer sein, aber die Steuerquellen werden weiter sprudeln.
Unsere Steuerpolitik trägt dafür Verantwortung, daß wieder mehr Geld in den Händen der Bürger bleibt und weniger in die Kassen der staatlichen Bürokratie fließt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Poß [SPD]: Welcher Bürger?)

Sie eröffnet neuen Lebensraum für jeden einzelnen, gibt jedem eine neue Chance und unserem Land eine Zukunft.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Huonker [SPD]: Mit fünf Mark im Monat!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107410900
Das Wort hat der Abgeordnete Börnsen (Ritterhude).

Arne Börnsen (SPD):
Rede ID: ID1107411000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Freundlichkeit, Herr Kollege Meyer zu Bentrup, will ich Ihnen gerne zurückgeben: daß auch mit Ihnen eine angenehme Zusammenarbeit im Ausschuß und auch darüber hinaus möglich ist. Aber bei dieser Freundlichkeit muß es dann auch schon bleiben.
Herr Dr. Meyer zu Bentrup, wenn man Ihre Rede etwas analysiert, dann muß man erkennen, daß Sie sich mit verallgemeinernden Formulierungen an den eigentlichen Klippen der Steuerreform vorbeigemogelt haben.

(Beifall bei der SPD)

Sie sind auf die Probleme der Steuerreform nicht eingegangen. Eine Auseinandersetzung über die wirklich zu nennenden Probleme wäre sicherlich hilfreicher.
Andere Kollegen Ihrer Fraktion, die heute gesprochen haben, haben zumindest, wenn man die Formulierungen näher untersucht, zugegeben, daß die Minderheiten bei der Steuerreform eine ganz eigenartige Behandlung erfahren. Die Behandlung dieser Minderheiten zeigt auch, wes Geistes Kind die Bundesregierung ist. Einerseits sollen die sicherlich nicht einflußlosen leitenden Angestellten bei der Rückentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes mit zusätzlichen Rechten der betrieblichen Mitbestimmung versehen werden; andererseits werden Arbeitnehmer, die regelmäßig Nacht-, Schicht- und Sonntagsarbeit leisten müssen, als Subventionsempfänger diffamiert.

(Beifall bei der SPD)

Wenn die Bundesregierung durchsetzen will, daß die steuerfreien Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit nach dem § 3 des EStG eingeschränkt werden, dann weiß sie ganz genau, daß davon nur Minderheiten betroffen sein werden. Sie haben das auch selber gesagt. Sie haben sich bloß nicht damit auseinandergesetzt, ob nicht diese Minderheiten auch tatsächlich zu Recht eine andere Behandlung erfahren, Herr Dr. Meyer zu Bentrup.
Im wesentlichen betroffen sind — betroffen im wahrsten Sinne des Wortes — Arbeitnehmer im



Börnsen (Ritterhude)

Druckgewerbe. Die Einkommensverluste für einen Junggesellen im Druckgewerbe werden aufgerundet 5 600 DM im Jahr betragen, für einen verheirateten Rotationsdrucker 4 900 DM pro Jahr. Wollte man diese Einbußen, wie das von Ihrer Fraktion auch schon angedeutet wurde, durch entsprechende tarifvertragliche Regelungen ausgleichen, also die finanziellen Auswirkungen der Steuerreform auf die Arbeitgeber abwälzen, wie das ja auf gut Deutsch heißt, dann würde dies eine Lohnanhebung brutto für netto von ca. 10 % erfordern. Das ist eine völlig unrealistische Annahme, und Ihr Kollege Faltlhauser hat das einmal so bezeichnet: Dies wäre eine regierungsamtliche Aufforderung zum Streik. Bloß, das sind die Konsequenzen, die bei einer solchen Behandlung herauskommen.
Es sind aber nicht nur die Arbeitnehmer im Druckgewerbe, speziell eben die Rotationsdrucker, von dieser unsozialen Maßnahme betroffen, sondern viele andere Einzelfälle, z. B. Arbeitnehmer, die etwa außerhalb der Schichtzeiten Instandsetzungsarbeiten in den Betrieben leisten müssen. Eines ist ihnen jedoch gemeinsam: daß die Arbeitszeiten nachts und am Wochenende liegen müssen, um die Produktion zu normalen Zeiten zu gewährleisten und um auf Grund dieses Produktionsrhythmus überhaupt erst zu ermöglichen, daß uns Zeitungen zu Zeiten erreichen, da wir es wünschen. Man kann ja einmal fragen, Herr Finanzminister: Wann haben Sie denn heute Wert darauf gelegt, eine Morgenzeitung zu lesen? Wahrscheinlich nicht am Nachmittag, sondern Sie legten Wert darauf, die Zeitung morgens lesen zu können. Die Voraussetzung dafür ist aber, daß die Zeitung nachts gedruckt wird. Sie müssen sich einmal überlegen, wie Sie die Arbeitsleistung der Drucker mit Ihren Reformvorstellungen herabsetzen.

(Zuruf von der SPD: Die Drucker werden ihm Druck machen!)

Aber vielleicht wußten Sie ja gar nicht, was Sie mit Ihren Schnellschußbeschlüssen nach der SchleswigHolstein-Wahl im letzten Jahr anrichteten. Das wäre ja auch kein Wunder; denn damals Barschelte es schon ganz schön, und Sie sind in diesem Strudel ja durchaus befangen.

(Frau Pack [CDU/CSU]: Billiger geht es nicht?!)

Wenn den Druckern auf deren zu Recht empörte Nachfragen seitens der CDU/CSU geantwortet wurde, daß die Zahlen der Lohnverluste nicht stimmen würden, daß damit ein alter Zopf abgeschnitten werde, daß auch selbständig Tätige am Wochenende arbeiten müßten, ohne dafür vom Staat subventioniert zu werden, dann ist das alles Beweis für ein völlig fehlendes sozialpolitisches Verständnis bei der Regierungskoalition,

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

für eine kalte, rein fiskalisch orientierte Politik, die auf die betroffenen Menschen keine Rücksicht nimmt.
Wir fordern Sie deshalb dringend auf, die Besteuerung der Nachtarbeit nach 24 Uhr — wenn überhaupt — oberhalb von 45 % beginnen zu lassen und
die tariflichen Zuschläge auf unvermeidbare Sonntags- und Feiertagsarbeiten unangetastet zu lassen.
Herr Kollege Glos, Sie haben in einem Interview mit der „Bild" -Zeitung — vielleicht hat der Springerkonzern ja entsprechenden Druck gemacht — gesagt, daß Sie diese Überlegungen mit Blick auf die Journalisten, auf die Drucker in die Beratungen des Finanzausschusses einbringen wollten. Ich fordere dann aber dazu auf, daß nicht nur die Drucker, die auf Grund ihrer Medien natürlich auch etwas mehr Druck machen können, bei einer solchen unsozialen Änderung unberücksichtigt bleiben, sondern auch andere, die diesen regelmäßigen Schichtarbeiten ausgesetzt sind.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich möchte zu weiteren arbeitnehmerfeindlichen Steuerbeschlüssen Stellung nehmen. Zur Absicht der pauschalen Abgeltung der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer: Wie verhält es sich eigentlich bei Selbständigen, Herr Finanzminister? Ist dort Ähnliches vorgesehen? Das ist nicht der Fall, und man muß feststellen, daß dort die Aufwendungen weiterhin in vollem Umfang absetzbar bleiben, also eine gezielte Steueranhebung bei Arbeitnehmern vorgenommen wird. Wie ist eine solche Ungleichbehandlung eigentlich mit dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes vereinbar?
Wir sehen hier wie auch bei der Besteuerung der Schichtzuschläge eine bewußte Entsolidarisierung der Arbeitnehmer durch die Bundesregierung.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Sie picken sich einzelne Gruppen von Arbeitnehmern heraus, drücken denen die volle Last des Steuerpakets aufs Auge und hoffen, der Rest werde zufrieden sein und ruhig bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Diese Strategie, Herr Finanzminister, ist allerdings schon jetzt — erkennbar an den Meinungsumfragen — gescheitert; denn das Winterwetter dieses Jahres genießt bei der Bevölkerung ein höheres Ansehen als Ihre mißlungene Steuerreform.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Es sei noch darauf hingewiesen, daß Ihre Begründung, es handele sich bei der Bewertung des häuslichen Arbeitszimmers um Subventionsabbau, völlig an der Generalklausel des § 9 EStG vorbeigeht, also nachweislich falsch ist; daß die Regelung gegen Treu und Glauben hinsichtlich der Absetzbarkeit von Abschreibungen verstößt; daß, wie so oft bei Ihrer sogenannten Steuervereinfachung, der entstehende Verwaltungsaufwand in einer geradezu unsinnigen Relation zu dem erhofften Mehraufkommen von lediglich 50 Millionen DM steht.
Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der in der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist. Das haben Sie wohl auch so gewollt; denn dieser Punkt kann nur als sozialpolitisch erbärmlich bezeichnet werden. Während nämlich bisher bei der Berechnung der Einkommensteuer das Mutterschaftsgeld, das Krankengeld und andere Leistungen unberück-



Börnsen (Ritterhude)

sichtigt blieben, werden sie nun zur Ermittlung des prozentualen Steuersatzes herangezogen und das steuerpflichtige Einkommen entsprechend belastet. Um ein Beispiel zu nennen: Bei einem berufstätigen Ehepaar, wo die Ehefrau das zweite Kind bekam, Mutterschafts- und Erziehungsurlaub in Anspruch nahm,

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wer hat das eigentlich verbrochen?)

wo der Ehemann zehn Wochen krank war, soll nun dieser hübsch unverständliche Progressionsvorbehalt eingeführt werden, der eine Mehrbelastung des Ehepaares von 720 DM pro Jahr verursacht; also eine Besteuerung der Lohnersatzleistungen in Höhe von 7 %. Einerseits wird der Spitzensteuersatz gesenkt, andererseits wird die teilweise Steuerfreiheit für diejenigen aufgehoben, die einer solchen Entlastung auf Grund ihrer persönlichen Situation am meisten bedürften. Ich nenne das ein sozialpolitisches Trauerspiel; Hauptdarsteller: Dr. Stoltenberg.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wenn die vorgenannten Punkte den unsozialen Hintergrund der Steuerreform verdeutlichen, steht die beabsichtigte Abschaffung des Essensfreibetrages als ein Beispiel für die abenteuerliche Willkür, mit der der Finanzierungsteil mit Millionen gefüttert wird. 1 Milliarde DM soll der Essensfreibetrag hergeben. Wie sehen eigentlich die Zahlen in der Realität aus? Im Mittel nehmen 5,5 Millionen Tischgäste an der Betriebsverpflegung teil. Davon muß man die Gäste aus dem öffentlichen Dienst abziehen. Bei einem unrealistisch niedrigen Durchschnittspreis von 2 DM bis 2,20 DM, der wirklich kaum noch anzutreffen ist, aber zugrunde gelegt werden muß, wenn man es bewerten will, und bei ca. 1 Milliarde Essensteilnehmern pro Jahr werden zukünftig 1,5 Milliarden DM der Lohnsteuer unterworfen. Wenn dieses mit einem durchschnittlichen Steuersatz von 22 To bewertet wird, kommen bestenfalls 300 bis 350 Millionen DM dabei heraus. Wie kommen Sie eigentlich dazu, 1 Milliarde DM anzusetzen? Ich darf aus der Zeitschrift „GV-Praxis" zitieren. Dort wird gefragt: „Können die Stoltenberg-Ministerialbeamten überhaupt rechnen?"

(Dr. Apel [SPD]: Die dürfen nicht rechnen! Das ist das Problem!)

— Vielleicht müssen sie sich verrechnen. Auch das ist möglich.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich den fast unmöglich anmutenden Versuch machen, zumindest einige Schwerpunkte der Quellensteuer zu bewerten, des wohl ungeliebtesten Kindes Ihrer Steuerreform, Herr Finanzminister. Ungeliebt, weil undurchdacht, denn die Herausnahme der Körperschaften im Sinne von § 44 EStG, Kirchen, Stiftungen, gemeinnützige Vereine und andere, geschah ja nicht auf Grund besserer Einsicht, wie hier der Eindruck zu vermitteln versucht wurde, sondern weil hier offensichtlich bei der Beschlußfassung dieser Kapitalertragsteuer die gesamte Breite der Auswirkungen nicht bedacht worden war. Insofern wurden einige der großen Schlampereien auf Grund des Drucks aus dem Süden beseitigt, ohne daß dadurch aber eine akzeptable Lösung gefunden worden ist.
Der zentrale Fehlgriff liegt weiterhin darin, daß Steuerhinterziehung durch eine 10 %ige Besteuerung auch dann vermieden werden soll, wenn laut Einkommensteuergesetz eigentlich 53 To Steuern zu leisten wären. Es ist also eine Belohnung derer, die ihr Kapital in der Bundesrepublik belassen, statt es nach Luxemburg zu transferieren. Andererseits ist es eine Bestrafung derer, die eigentlich gar nicht erfaßt werden sollen, nämlich der Bürger, die nicht zur Einkommensteuer veranlagt werden und vom Finanzamt eine Nichtveranlagungsbescheinigung erhalten, die sie natürlich erstmal beantragen müssen. Diese Bescheinigung sollen sie beim Kreditinstitut vorlegen.
Meine Damen und Herren, hier treibt die Bürokratie wirklich schlimme Blüten. Die Bürger werden gezwungen, nachzuweisen, daß das Finanzamt ihre Kapitalerträge zu Unrecht besteuert, der Bürger muß es beweisen, und die Kreditinstitute werden gezwungen, einen unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand zu finanzieren, um die undurchdachte Gesetzgebung in der Praxis zu korrigieren.

(Beifall bei der SPD)

Gerade deswegen haben die Verbände der Kreditwirtschaft nahezu verzweifelt an den Gesetzgeber appelliert, das Inkrafttreten dieser kleinen Kapitalertragsteuer wesentlich hinauszuschieben, weil das Ausbügeln der verbliebenen erheblichen Probleme, Widersprüche, Unzuträglichkeiten und Komplikationen — das waren Zitate — bis zum 1. Januar 1989 völlig unmöglich sei. Sie verweisen auch darauf, daß der fiskalische Effekt durch außerordentlich hohen Verwaltungsaufwand bei Fiskus und Kreditwirtschaft zu einem großen Teil kompensiert werde. Zumindest — das meinen die Verbände der Kreditwirtschaft — sollte man sich auf Fälle beschränken, die bei der Harmonisierung auf EG-Ebene konsensfähig wären.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser detaillierten und sachorientierten Kritik ist es für mich völlig schleierhaft, wie eine sachgemäße parlamentarische Beratung bis zur Sommerpause geleistet werden soll, vorausgesetzt, man darf Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, unterstellen, daß Sie es ernst meinen mit der parlamentarischen Begleitung Ihres Gesetzes. Wenn Sie das meinen, reicht dieser Zeitumfang nicht aus.
Der Unsinn mit der Nichtveranlagungsbescheinigung steht dabei nicht einmal alleine. Die besorgten Stellungnahmen der Bausparkassen weisen auf weitere Sollbruchpunkte hin. Berechnungen unabhängiger Meinungsforschungsinstitute belegen, daß cirka 60 % aller Bausparer wohnungsbauprämienberechtigt sind und somit die Nichtveranlagungsbescheinigung in Anspruch nehmen können und von der Zahlung der Quellensteuer ausgenommen bleiben. Wenn davon auszugehen ist, daß aus naheliegenden Motiven 80 % dieser Bausparer ihre Einkünfte auch jetzt bereits dem Finanzamt gegenüber offenlegen, ist eine Steuermehreinnahme zu errechnen, die umgelegt auf alle Bausparer cirka 2 DM pro Bausparer ausmachen wird.

(Dr. Solms [FDP]: Warten Sie doch mal die Beratungen ab!)

— Warten Sie das mal ab; das kann man wohl sagen, aber an Ihre Adresse.



Börnsen (Ritterhude)

Diesem zusätzlichen Steueraufkommen pro Bausparer stehen Kosten für die Freistellungsbescheinigungen und Rückvergütungen bei den Bausparkassen von — ganz zurückhaltend berechnet — 10 DM pro Bausparer gegenüber.

(Zuruf von der SPD: Die Regierung lehnt es ab, dies zur Kenntnis zu nehmen!)

Meine Damen und Herren, 2 DM Mehreinnahmen werden durch 10 DM Mehrkosten hereingeholt. Wie kann man einen solchen Unsinn eigentlich verantworten, frage ich mich?

(Beifall bei der SPD — Dr. Solms [FDP]: Am Schluß wird abgestimmt! — Gattermann [FDP]: Verehrter Herr Kollege, Sie hätten mal zuhören müssen!)

— Im Augenblick müssen Sie einmal zuhören; das ist eine Gewaltenteilung.
Die Bewertung, meine Damen und Herren, einzelner Bereiche der Steuerreform legt eine Kette von unsozialen Härten, von verfassungsrechtlich bedenklichen Fragen und Fakten, von bürokratischen Auswüchsen und von schlicht fehlerhaften Rechenansätzen offen, um nur einige der Wertungen zu nennen.
Lassen Sie mich bitte mit einem Zitat enden — ich zitiere — :
Dieser Hinweis erscheint mir deswegen besonders dringlich, weil die Prüfung des umfangreichen, in seinen Auswirkungen einschneidenden und in zahlreiche unterschiedliche Sach- und Rechtsbereiche eingreifenden Gesetzeswerkes besondere Sorgfalt erfordert, wenn der Entwurf nicht später im parlamentarischen Verfahren an den ihm noch erkennbar anhaftenden Unzulänglichkeiten scheitern soll.
Die Frist für die Prüfung des Entwurfs war aus mir nicht näher bekannten Gründen äußerst kurz bemessen; sie steht in keinem angemessenen Verhältnis zu den mit der Prüfung verbundenen Schwierigkeiten, die aus zahlreichen Formulierungen Ihres Entwurfs einschließlich seiner Begründung resultieren. Ich halte dies für um so bedauerlicher, als das der Bundesregierung gemäß Art. 76 Abs. 1 GG zukommende Initiativrecht bei der Gesetzgebung auch eine rechtlich verantwortbare Formulierung aller einzelnen Vorschriften, deren logische Abfolge und ihre nahtlose Einfügung in das übrige geltende Recht zur Voraussetzung haben muß. Gerade unter diesen Gesichtspunkten aber halte ich den vorliegenden Gesetzentwurf nicht für hinreichend ausgereift.
Dieses Zitat stammt zwar aus der Stellungnahme des Innenministers zum Gesetzentwurf zur Neustrukturierung der Deutschen Bundespost aus dem Hause Schwarz-Schilling. Es ist aber allgemein anwendbar.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107411100
Das Wort hat der Abgeordnete Sellin.

Peter Sellin (GRÜNE):
Rede ID: ID1107411200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einen anderen Aspekt der Steuerreform hier in den Mittelpunkt stellen. Man möge sich noch einmal vergegenwärtigen, daß Sie den wirtschaftspolitischen Ansatz verfechten, die Unternehmen zu entlasten und Investitionen hervorzulocken.
Das Überraschende für die Bundesregierung ist, daß die Unternehmer den Geschenken der Bundesregierung in Form von rasant gestiegenen Gewinnen nicht die erwartete Investitionsbereitschaft folgen lassen. Der Griff zur Seelenmassage erfolgt als Ersatz für Rahmenbedingungen, die erhöhte Absatzzahlen in bestimmten ausgewählten ökologisch verträglichen Produktionszweigen begünstigen. Das ist genau das Problem. Einen ökologischen Ansatz hat diese Steuerreform überhaupt nicht. Ich möchte das mit Beispielen belegen.
Zur Finanzierung der Steuerreform werden drei gesetzliche Bestimmungen ersatzlos gestrichen, die ansatzweise Umweltschutzinvestitionen gefördert haben. Dadurch gelingt Subventionsabbau in der Höhe von einer Milliarde DM, die zur Finanzierung dieses Reformwerks kassiert wird.
Erstes Beispiel. Es handelt sich um den § 7 d des Einkommensteuergesetzes, der erhöhte Absetzung für dem Umweltschutz dienende Wirtschaftsgüter vorsah. Die Bestimmung hatte den Nachteil, daß sie ausschließlich Investitionen förderte, die reparierenden und nachsorgenden Charakter hatten. Eine Ausdehnung dieses Subventionstatbestandes auf intelligente Produktionsverfahren und Produktionsanlagen, die von vornherein Umweltbelastungen durch geschlossene Produktionsabläufe sicherstellen, wurde zwar diskutiert, aber nicht umgesetzt, sondern verworfen. Gerade Klein- und Mittelbetriebe müssen den Vollzug der Technischen Anleitung Luft realisieren und Umweltschutzinvestitionen kaufen und deshalb neue Produktionsanlagen zur Erfüllung der Umweltauflagen anschaffen. Der Nachteil der alten Regelung ist, daß sie auch die Großunternehmen einbezogen hat — und damit die EVUs — und von daher natürlich abzulehnen ist. Aber sie wäre zu ändern und nicht zu beseitigen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zweites Beispiel. Vergleichbar wirkt sich die Streichung des § 4 a des Investitionszulagengesetzes aus, der eine Investitionszulage von 7,5 % für bestimmte Investitionen im Bereich der Energieeinsparung und Energieverteilung begünstigte. Dazu zählten betriebliche Investitionen im Bereich von Laufwasseranlagen, Sonnenenergieanlagen und Windkraftanlagen. Es ist schon interessant, daß sich eine Minderheit in Ihrer CDU/CSU-Fraktion jetzt zu Worte meldet und genauso Markteinführungssubventionen verlangt und Sie hier aber ohne einen neuen Ansatz alte Paragraphen streichen, um Ihre Finanzierung der Steuerreform zu sichern. Wir meinen: Regenerativenergieanlagen sollten allerdings unterstützt werden durch die ökologische Auswahl der Energiesysteme. Das ist ganz logisch. Auch das leisten Sie natürlich nicht, weil Sie an harten Systemen festhalten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Drittes Beispiel. Die Förderung von Energiesparinvestitionen an Gebäuden soll zum 31. Dezember 1991



Sellin
auslaufen. Hierzu zählten früher neben energiesparenden Heizungs- und Warmwasseranlagen und solchen mit regenerativen Energien auch die Modernisierungsmaßnahmen, die dem Wärmeschutz und dem Lärmschutz dienten. Aus der Sicht der Bundesregierung ist die Energiekrise anscheinend der Schnee von gestern, da sie alle Finanzanreize für die Fortsetzung der ökologischen Strategie der Energieeinsparung beendet.
Ein weiteres Beispiel. Bis Ende 1982 gab es ein Bund-Länder-Programm zur Modernisierung und zur Heizenergieeinsparung. Im letzten Subventionsbericht heißt es dazu lapidar: „Mit dem Programm '82 endet die Förderung des Bundes, weil der Zweck der Bundesförderung, Anstoß und Impulse zu geben, als erfüllt anzusehen ist." Will man dieser Regierung glauben, dann ist die Energieeinsparung ein Selbstläufer. Das ist jedoch überhaupt nicht der Fall, da der Verfall der Energiepreise die Energiesparphilosophie und die Energiesparökonomie untergraben hat. Die ermittelten Energiesparpotentiale, die uns bei Eintritt der nächsten Primärenergiekrise die Lage relativ erleichtern könnten, werden wirtschaftlich nicht erobert, da die Investoren Energiesparen verlernt haben.
Wir GRÜNEN sind der Auffassung, daß durch Primärenergiesteuern die Kalkulationsgrundlage der Investoren beeinflußt werden muß, um das Energiesparen wieder zum Unternehmensziel zu machen. Eine Ökonomie, die mit falschen Marktsignalen arbeitet, verschleudert einmalige Ressourcen wie Erdöl, Erdgas und Kohle. Erst der Einsatz von politisch manipulierten Preisen, um im ökologischen Interesse eine Rohstoffökonomie durchzusetzen, bringt eine Marktwirtschaft zustande, die die Fehlallokation der einmalig vorhandenen Ressourcen verhindert. Eine allein gewinnorientiert ausgerichtete Marktwirtschaft verstößt gegen ökologische Ziele, die allein unsere Lebensgrundlage erhalten können. Wettbewerbsfähigkeit wird zur leeren Phrase, wenn keine lebenswürdigen Lebensbedingungen für die arbeitenden Menschen mehr vorhanden sind.
Ihre Steuerreform verfehlt ökologische Ziele völlig, da sie ideologisch einseitig ökonomische Ziele verfolgt. Ich möchte das noch einmal zuspitzen. Energiewirtschaftliche Rationalität hat Vorrang vor dem blinden Gesetz des Marktes. Die Verluste der Umwandlung von Primärenergie zur Endenergie müssen minimiert werden: So lautet die Wirtschaftsphilosophie, die wir vertreten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der Umbau der Industriegesellschaft läßt sich strukturell auch an anderen Zielen ökologischer Politik durchspielen.

(Dr. Solms [FDP]: Wer soll das alles verstehen?)

Die GRÜNEN setzen sich für eine differenzierte Wirtschaftsentwicklung mit aufeinander abgestimmten Instrumenten der Wirtschaftspolitik ein.
Erstens: Rohstoffsteuern. Beispiel: Primärenergiesteuer.
Zweitens: Abgaben. Beispiel: Stickstoffabgabe in der Landwirtschaft zur Beseitigung der Chemie in der Landwirtschaft.
Drittens: Verbote. Beispiel: Abschalten der Atomkraftwerke. Oder ein anderes Beispiel: Verbot der Einwegflaschen. Die neue Pet-Flasche wird gerade eingeführt.
Viertens: Gebote. Beispiel: Das Einhalten von Grenzwerten bei der Zulassung von Kraftfahrzeugen entsprechend der US-Norm und das Verwerfen der EG-Norm.
Daß die Bundesregierung reinen Lobby-Interessen nachkommt, statt ökologische Ziele zu verfolgen, wird auch an dem Thema deutlich, an dem die Bonner Koalition angeblich — laut „Frankfurter Allgemeine Zeitung" — fast zerbrochen wäre. Der CSU-Vorsitzende schickte anscheinend „Sprengstoff" aus München. Der „Sprengstoff" bestand darin, daß er das Flugbenzin für seine Privatfliegerei mit einer Steuerreform begünstigt sehen möchte. Ich weiß, daß Fliegen Energieverschwendung bedeutet, daß riesige Emissionen freigesetzt werden und daß die Umweltverträglichkeit nicht gegeben ist.
Von daher fordern wir GRÜNEN genau das Gegenteil, nämlich die Mineralölsteuerbefreiung für alle Inlandsflüge gemäß dem Mineralölsteuergesetz wegen ihrer ökologischen Unvertretbarkeit aufzuheben. Mit der Besteuerung von Luftbetriebsstoffen für den inländischen Flugverkehr wird das Ziel verfolgt, den inländischen Verkehr stärker auf schienengebundene Verkehrsmittel zu verlagern, da diese nur ein Viertel des entsprechenden Energiebedarfs des Luftverkehrs benötigen. Eine erneute geplante Steuerbefreiung für Privat- und Sportflieger, die sogenannte Lex Strauß, ist durch nichts zu rechtfertigen; sie ist schlichtweg privilegienerheischend und umweltzerstörend.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der SPD: Richtig! — Gegenrufe von der CDU/ CSU: Quatsch! — So ein Unfug!)

Die Mehreinnahmen von 150 Millionen DM sollten daher konsequenterweise zur Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs eingesetzt werden, so daß wieder mehr Personen ihren Pkw stehenlassen, weniger fliegen, die Eisenbahn wieder entdecken und die Bundesbahn aus dem Defizit führen. Hier wird exemplarisch deutlich, daß eine Steuerreform sehr wohl ökologisch orientiert ausgestaltet werden kann und nicht irgendwelche Privilegien zu verteilen hat.
Letztes Beispiel für eine umweltpolitische Zielorientierung: die Frage der Kilometerpauschale für die Benutzung eines Kraftfahrzeuges auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Diese Pauschale wird von 36 auf 50 Pfennige erhöht. Diese Erhöhung führt dazu, daß der Pkw-Pendler im täglichen Berufsverkehr begünstigt wird. An Beispielen läßt sich belegen, daß der Pkw-Pendler gegenüber dem Nutzer des ÖPNV um so mehr begünstigt wird, je weiter der Arbeitsplatz von seiner Wohnung entfernt ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: So einen Quatsch habe ich noch nie gehört!)




Sellin
Dieses Ergebnis fördert die Pkw-Mobilität, statt sie zu benachteiligen.
Eine einheitliche Entfernungspauschale für alle Arbeitnehmer, gleichgültig, welches Verkehrsmittel sie für die Fahrt zum Arbeitsplatz benutzen, würde bedeuten, daß der Pkw-Benutzer eben nicht mehr bevorzugt, sondern genauso behandelt würde wie jemand, der zu Fuß geht oder das Fahrrad benutzt. Darüber hinaus kann die Entfernungspauschale degressiv ausgestaltet werden, so daß Nähe belohnt wird und übertriebene Mobilität und Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz benachteiligt wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Mehr Hochhäuser!)

Solche differenzierten ökologischen Überlegungen enthält eine solche Steuerreform natürlich nicht. Ihre Steuerreform begünstigt privilegierte ökonomische Interessen und verletzt ökologisch orientierte Strukturpolitik.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Das war nicht toll!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107411300
Das Wort hat der Abgeordnete Uldall.

(Dr. Apel [SPD]: Jetzt wird's ernst!)


Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1107411400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich die Hektik, mit der die Diskussion über die Steuerreform ja auch schon in den letzten Monaten geführt wurde, etwas gelegt hat, werden die Konturen der Steuerreform auch sehr viel deutlicher zutage treten. Heute wird die Auseinandersetzung viel zu sehr über Einzelaspekte der Steuerreform geführt.

(Zurufe von der SPD: Aha, das wollt ihr nicht hören! — Das habe ich mir doch gedacht!)

Es werden einzelne Punkte aus dem Zusammenhang gerissen. Ein Musterbeispiel für diese falsch angelegte Diskussion ist der Redebeitrag von Herrn Huonker gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich lehne es nachdrücklich ab, im Rahmen dieser steuerpolitischen Beratung über Einzelthemen zu diskutieren, ohne den Gesamtzusammenhang zu betrachten.

(Zuruf von der SPD: Wie ihm das peinlich ist!)

Wenn einem Steuerzahler ein Steuervorteil genommen wird, mag seine Beschwerde zu Recht erfolgen.
Wenn aber einem Steuerzahler ein Steuervorteil genommen wird und er im gleichen Zuge eine sehr viel größere Vergünstigung eingeräumt bekommt, so daß er unter dem Strich weniger zu zahlen hat als bisher, dann ist seine Aufregung überhaupt nicht zu verstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Genau auf diese Argumentationsebene begibt sich die SPD, wenn sie diese Beispiele herausgreift und
immer nur sagt „Da wird etwas gestrichen, da wird etwas gestrichen",

(Zuruf von der SPD: Stimmt doch!)

ohne gleichzeitig zu sagen, daß generell die Tarife abgesenkt werden und daß damit die Steuerlast für alle gewaltig gesenkt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, in dem Zusammenhang, muß ich wirklich einmal sagen, hat der Kollege Apel heute morgen ein Beispiel gebracht, das nicht korrekt ist. Herr Apel, wenn Sie vielleicht noch mal zuhören würden. — Sie haben heute morgen erklärt, bei den Durchschnittsverdienern würde eine Entlastung um 7,80 DM pro Monat durchgeführt werden. Ist richtig, meine Damen und Herren! Aber, Herr Apel, das ist nur die halbe Wahrheit, nicht einmal die halbe Wahrheit. Natürlich, 7,80 DM — ich habe mir das aus den Steuertabellen heute mal rausgesucht — ist die Entlastung bei einem Arbeitnehmer mit einem Bruttoverdienst von 2 000 DM im Monat. Das ist die Entlastung zum Januar 1988. Was verschweigt Herr Apel? Herr Apel verschweigt, daß dieser Arbeitnehmer bereits am 1. Januar 1986 eine Entlastung in der Größenordnung von

(Rixe [SPD]: Von 2,50 DM!) 87,20 DM bekommen hat — pro Monat.


(Zurufe von der SPD: Nein!)

— 7,80 DM pro Jahr und 87 DM — —

(Lachen bei der SPD — Dr. Struck [SPD]: Haben Sie falsch geguckt, Herr Uldall!)

— 87 DM pro Jahr, 7,80 DM pro Monat, und es folgen noch einmal 36 DM pro Jahr. Insgesamt ist das eine Entlastung in der Größenordnung von 131 DM.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107411500
Herr Kollege Uldall, Sie gestatten eine Zwischenfrage? — Bitte sehr.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1107411600
Herr Kollege Uldall, wir sind uns einig über die Zahl für 1988, die 7,80 DM Entlastung. Aber sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß alle Umfragen, die die Bundesregierung gemacht hat, die wir gemacht haben, deutlich machen, daß die Arbeitnehmer von der Steuerentlastung 1986 nichts gehabt haben,

(Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Ich brauche doch keine Umfragen, wenn ich Fakten habe!)

auch deswegen nicht, weil Sie inzwischen z. B. durch Ihre verfehlte Politik die Abgabenbelastung erhöht haben, so daß unter dem Strich nichts nachgeblieben ist?

(Beifall bei der SPD)


Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1107411700
Herr Apel, Sie haben heute morgen schon eine Zwischenfrage gestellt, die, sage ich mal, ein Schuß auf das eigene Tor war. Diese ist es auch. Warum ist bei der Bevölkerung die Vorstellung vorhanden, daß dieses gar keine richtige Steuerentla-



Uldall
stung ist? Doch weil Sie pausenlos diese falsche Propaganda machen, Herr Apel.

(Dr. Apel [SPD]: Die Leute können wirklich rechnen, Herr Uldall! Die sind nicht so dumm, wie Sie denken!)

— Herr Apel, Sie operieren mit der halben Wahrheit. Und hieraus werden Sie nicht entlassen, daß Sie heute morgen die halbe Wahrheit gesagt haben.
Meine Damen und Herren, der zweite Teil von dem, was Herr Apel verschwiegen hat, ist, daß mit dieser Entlastung 82 % der Steuerlast, die dieser Bürger bisher zu tragen hatte, fortfallen werden. Herr Apel, insgesamt verbleibt bei diesem Bürger nur noch eine Steuerbelastung von 28 DM pro Jahr.

(Zuruf von der SPD: Was?)

Wenn man sich hier hinstellt und behauptet, hier erfolge eine Entlastung um 7,80 DM, aber gleichzeitig verschweigt, daß die Entlastung prozentual sehr groß ist, dieser Steuerzahler fast von seiner ganzen Steuerschuld entlastet wird, ist das — ich kann mir nicht helfen, Herr Apel — eine Argumentation, die ich als nicht mehr seriös betrachte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Apel, Sie haben hier in der Vergangenheit mal eine große Rolle gespielt, was die Finanzpolitik anbetraf. Wenn schon Sie zu solch schwachen Argumenten greifen, frage ich mich wirklich: Wo ist die Opposition eigentlich hingekommen, wenn sie mit solchen Tricks operieren muß, um auf eine derartige Irreführung der Bevölkerung hinzuarbeiten?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir brauchen alle eine bessere Opposition! — Dr. Apel [SPD]: Das könnt ihr ja demnächst in Schleswig-Holstein zeigen!)

Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt zu einigen Einzelfragen Stellung nehmen, die in der öffentlichen Diskussion gewesen sind. Zunächst geht es um die Einführung des Quellenabzugsverfahren bei den Zinserträgen. Es sind drei Gründe, die dieses Verfahren erforderlich machen.
Erstens. Die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland ist ungünstig. Die arbeitende Bevölkerung ist rückläufig.

(Lachen bei der SPD)

In der Folge wird der Anteil des Arbeitseinkommens am gesamten Volkseinkommen zurückgehen, die Kapitaleinkommen werden dann steigen.

(Dr. Struck [SPD]: Was ist denn nun los?)

Bekanntermaßen wird das Kapitaleinkommen nur unvollständig besteuert. Können wir es uns angesichts dieser Bevölkerungsstruktur erlauben, daß ein immer kleiner werdender Teil der Bevölkerung einen immer größeren Teil seines Einkommens abgeben muß, um die Staatsausgaben zu finanzieren?

(Dr. Struck [SPD]: Deshalb wird die Quellensteuer eingeführt? — Weiterer Zuruf von der SPD: Waren Sie denn ehrlich?)

Zweitens. Können wir es zulassen, daß gerade das Arbeitseinkommen rigoros an der Quelle besteuert wird, während es beim Kapitaleinkommen weitgehend in das Belieben des Steuerzahlers gestellt wird, ob er zahlt oder nicht?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Jetzt klatschen die noch!)

Drittens. Aktienerträge werden längst mit einer 25 %igen Kapitalertragsteuer belegt. Wir wollen die Investitionen und das Produktionskapital fördern. Ist es bei dieser Zielsetzung zu rechtfertigen, daß Zinserträge weitgehend steuerfrei sind,

(Dr. Apel [SPD]: Das haben wir immer gesagt! — Hüser [GRÜNE]: Die werden nur nicht abgezogen!)

Erträge aus Produktivkapital aber dem Quellenabzugsverfahren unterworfen werden? Herr Börnsen, ich gebe Ihnen insofern recht; es gibt einiges Technische zu verbessern, was bei der Durchführung der Gesetzgebung berücksichtigt werden kann.

(Abg. Sellin [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107411800
Herr Kollege Uldall!

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1107411900
Vielleicht darf ich den Gedanken erst zu Ende führen. — Aber die Gründe für die kleine Kapitalertragsteuer sind nicht zu erschüttern. Deswegen sage ich: Die Einführung des Quellenabzugsverfahren auch bei den Zinserträgen ist eine Frage der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit und eine Frage der steuerlichen Gerechtigkeit.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107412000
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Wird das angerechnet?)


Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1107412100
Bitte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107412200
Bitte schön, Herr Sellin.

Peter Sellin (GRÜNE):
Rede ID: ID1107412300
Ich möchte Sie fragen, warum der Regierungsentwurf eigentlich nicht ein Verfahren vorsieht, das sich in den Vereinigten Staaten bewährt hat, nämlich daß Bankmitteilungen gemacht werden; und wie Sie sich erklären, daß in der gesetzlichen Regelung ein Ermittlungsverbot der Finanzämter verstärkt wird, indem der Bankenerlaß aus einer Verordnung in das Abgabengesetz übernommen wird?

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1107412400
Lieber Herr Sellin, diese Frage von einem GRÜNEN ist geradezu paradox. Sie sind es doch gewesen, die sich vor einem Jahr so vehement gegen den Schnüffelstaat gewandt haben. Und jetzt sind Sie hier die ersten, die fordern, dieses Kontrollverfahren lückenlos bis ins letzte durchzuführen. Wir machen das nicht mit, Herr Sellin.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Hüser [GRÜNE]: Das ist aber billig!)

Nun zu den Lebensversicherungen. Künftig werden die Überschüsse der Lebensversicherungen mit 10 % besteuert. Die Versicherungssumme, über die der



Uldall
Versicherungsvertrag abgeschlossen wird, bleibt davon unberührt. Eine übertriebene Angst der Versicherungsnehmer, daß jetzt eine große steuerliche Belastung auf sie zukommen werde, ist damit unbegründet. Versicherungssparer, die jetzt in den Ruhestand treten, werden von dieser neuen Steuer überhaupt nicht betroffen. Voll getroffen werden erst die Steuerzahler und die Versicherungsnehmer, die nach 1989 einen entsprechenden Vertrag abschließen. Für sie wird sich die Auszahlung zum Beispiel im Jahr 2015 nicht mehr auf 200 % der Versicherungssumme, sondern vielleicht auf 193 oder 195 % belaufen.
Bei der Besteuerung der Lebensversicherungen handelt es sich nicht um eine Variation der kleinen Kapitalertragsteuer, sondern um eine ganz andere Steuer, nämlich um eine Abgeltungssteuer. Mit Zahlung dieser Steuern durch die Versicherungsunternehmen ist die Steuerschuld endgültig erledigt. Wer über 20, 30 oder gar 40 Jahre für sein Alter spart, muß die Sicherheit haben, daß er mit seiner für das Alter gebildeten Rücklage nicht den Schwankungen im Einkommensteuerrecht ausgesetzt ist. Deswegen wurde die Besteuerung der Kapitalerträge bei den Versicherungen bewußt als eine Abgeltungssteuer ausgestaltet. Alle Bürger sollen aber wissen: Auch weiterhin ist die Förderung der privaten Altersvorsorge neben der staatlichen Rentenversicherung ein besonderes Anliegen unserer Politik.
Das dritte Thema, das sehr häufig Gegenstand der Kritik war, ist die Besteuerung der Veräußerungserlöse gemäß § 34 des Einkommensteuergesetzes. Es war nie die Absicht, die Erlöse zu treffen, die beim Verkauf von kleinen Läden, Praxen oder Handwerksbetrieben erzielt werden. Beseitigt werden sollten die Schlupflöcher, durch die sich in einigen spektakulären Fällen gewaltige Vermögen der Besteuerung entzogen hatten.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Ja, zwei Drittel!)

Von Anfang an war uns bewußt, daß bei vielen Selbständigen ohne staatliche Altersversorgung durch den Verkauf des Betriebs der Lebensunterhalt im Alter gesichert werden sollte. Deshalb war von vornherein eine Regelung im Gesetz vorgesehen, die kleinere Veräußerungserlöse begünstigt, das sogenannte EinAchtel-Verfahren. Als wir während des Beratungsverfahrens feststellten, daß dies nicht ausreichte, haben wir eine neue Regelung getroffen, die Veräußerungserlösen bis zu zwei Millionen DM den halben Steuersatz wie bisher gewährt. Damit wird nicht nur die alte Lösung beibehalten; nein, für 99 % der Betriebe verbessert sich sogar die Lage. War bisher die Hälfte von 56 % zu zahlen, so wird in Zukunft nur die Hälfte von 53 % zu zahlen sein. Doch ist die Diskussion um § 34 verstummt. Es ging dieser Diskussion so wie der gesamten Diskussion um die Steuerberatung: Über die Verbesserungen, die mit dieser Steuerreform für 99 Prozent verbunden sind, wird im allgemeinen nicht mehr geredet.
Meine Damen und Herren, ich fasse abschließend zusammen: Bei dieser Steuerreform handelt es sich um einen großen Schritt in Richtung Steuergerechtigkeit; es handelt sich um einen großen Schritt in Richtung Steuervereinfachung; es handelt sich um das
größte Subventionsabbauprogramm, das wir bisher durchgeführt haben; es ist das größte Entlastungsprogramm für die Bürger, das in der Bundesrepublik realisiert wurde. Deswegen kann man nur sagen: Dieses ist eine großartige Steuerreform.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Oh-Rufe bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107412500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mitzscherling.

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1107412600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, wir können darin übereinstimmen, daß die wirtschaftliche Situation härter wird, daß der Wettbewerb zunimmt, daß immer mehr Arbeitsplätze gefährdet sind, vor allem in strukturschwachen Regionen. Modernisierungen und Errichtung neuer zukunftsträchtiger Produktionsanlagen sind gefragt, der Kapitalstock veraltet zusehends, weil der technische Fortschritt immer rascher und schneller voranschreitet, doch es wird zu wenig investiert, trotz der auch durch steuerliche Vergünstigungen explodierenden Gewinne, vor allem der Großunternehmen.
Aufgabe der Wirtschafts- und Steuerpolitik wäre es, durch investitionsfördernde Maßnahmen vor allem kleinen und mittleren Unternehmen in den schwächeren Regionen unseres Landes zu helfen und dort Arbeitsplätze zu schaffen. Stattdessen wollen Sie die Spitzensteuersätze bei Einkommensteuer und Körperschaftsteuer senken und erhoffen sich daraus positive Impulse. Ich glaube, Ihre Hoffnung, daß sich der Investitionsattentismus durch Senkung der Sätze ändern könnte, ist unberechtigt. Deshalb halte ich es auch für unverständlich, daß Sie einige der wirksamsten Instrumente im geltenden Steuerrecht zur Belebung der Investitionstätigkeit von Unternehmen beseitigen wollen. Ich nenne das Investitionszulagengesetz, ich nenne die Berlin-Förderung.
Gerade dort werden nicht einmal ökonomische, durch Fakten untermauerte Gründe angeführt. Sie sagen, wegen der Rückführung der regionalen Wirtschaftsförderung im Bundesgebiet muß auch die Berlin-Förderung angemessen eingeschränkt werden, weil Berlin sonst einen unvertretbar hohen Förderungsvorsprung behält. Meine Damen und Herren, es steht zu wenig darüber im Gesetzentwurf, warum denn die Existenzfähigkeit der Wirtschaft Berlins sowie das Leben und Arbeiten in dieser Stadt ständige Förderung erfordert und auch rechtfertigt, nichts über die Notwendigkeit der Effizienzkontrolle dieser Förderung, nichts über den unentbehrlichen und langfristig wirksamen Vertrauensschutz für Investoren, nichts über die scharfen strukturellen Einbrüche in dieser Stadt, in der heute 100 000 Menschen arbeitslos sind.

(Beifall bei der SPD)

Die Geschichte dieser die Existenz Berlins bedrohenden Kürzungsabsichten zeigt die ganze Unverfrorenheit, mit der hier vorgegangen worden ist.

(Dr. Apel [SPD]: Sehr richtig!)

Da wurde schlichtweg Geld gebraucht und eingesammelt und wohl nicht zu unrecht dabei daran gedacht,



Dr. Mitzscherling
daß in Berlin ein Senat der eigenen Couleur sitzt, der gefälligst zu kuschen hat. Da wurden vor sechs Monaten noch 1,2 Milliarden DM an Kürzungen festgelegt, ohne daß überhaupt eine begründete Aufteilung dieser Summe zu erhalten war. Erst als wir Berliner Sozialdemokraten im Herbst vorigen Jahres der erstaunten Öffentlichkeit in Bonn und Berlin diese Zusammenhänge schilderten, kamen nach und nach die Einzelheiten ans Licht. Um die Jahreswende hat dann der Berliner Senat verhandelt, und zwar unter dem wachsenden Druck einer aufgebrachten Berliner Öffentlichkeit, der Wirtschaft, der Verbände, der Gewerkschaften und der Kammern, über ein Kürzungsvolumen von 800 Millionen DM. Heute ist dieser Kürzungsbetrag als Beitrag Berlins zur Finanzierung der Steuerreform vom Senat als zumutbar akzeptiert, nachdem die Aufgliederung der Kürzungen, einigen Berliner Wünschen folgend, geringfügig modifiziert worden ist.

(Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Nennen Sie mal die ganze Förderung, die nach Berlin geht! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Der gesamte Vorlauf dieses Vorganges zeigt einmal mehr — ich komme darauf — , wie jenseits aller politischen Treueschwüre zu Berlin mit der Stadt wirklich umgegangen wird.

(Beifall bei der SPD)

Offensichtlich sind die Interessen Berlins in den Bonner Amtsstuben nicht mehr allzugut aufgehoben. Es zeigt sich auch ein eklatanter Mangel der Vertretung Berliner Interessen in Bonn, denn jeder, der die Vorgänge der letzten Monate beobachtet hat, mußte den Eindruck gewinnen, daß vieles an Berlin vorbeigelaufen ist, daß man in Berlin gar nicht oder zu spät informiert worden ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107412700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1107412800
Bitte sehr.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1107412900
Herr Kollege, meinen Sie mit mir nicht auch, daß man die Berlin-Förderung und ihre absoluten Beträge nicht isoliert betrachten kann, sondern nur im Wettbewerb mit der Regionalförderung auch außerhalb Berlins in der Bundesrepublik Deutschland, wo ja ebenfalls abgesenkt wurde, um auf diese Weise den Wettbewerb staatlicher Förderungsmittel etwas zu reduzieren?

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1107413000
Wenn dies so einfach wäre, Herr Kollege Faltlhauser, dann müßten jene für Berlin als besonders begünstigungsfähig und auch von der Europäischen Gemeinschaft anerkannten Standortnachteile nicht mehr bestehen. Worin bestehen denn diese Standortnachteile? Fehlendes Hinterland, fehlende Naherholungsgebiete, große Entfernungen zu den Kunden und Lieferanten, Flächenmangel, hohe Kosten der Energieerzeugung und ein insgesamt höheres Preisniveau — all das gibt ja die Begründung dafür her, warum ausgerechnet Berlin einen solchen Förderungsvorsprung von den Parteivorsitzenden zugebilligt erhalten hat. Deshalb trifft eine Kürzung des Berlin-Förderungsgesetzes essentiell in das Mark der
Berliner Wirtschaft, weil es die Berliner Wirtschaft verunsichert und Investitionen in Berlin rar machen wird. Ich komme darauf in anderem Zusammenhang noch zurück.
Nun, meine Damen und Herren, die Probleme der Berliner Wirtschaft sind nicht neu. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß man bei der Entwicklung des Förderungsinstrumentariums stets auf die Begrenztheit der verfügbaren Mittel achten muß. Die Berliner sind dankbar für die großzügige und notwendige Unterstützung ihrer Stadt; ich möchte daran keinen Zweifel lassen. Sie wissen, daß zunehmend auch andere Regionen in Schwierigkeiten gekommen sind, daß sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, daß sie Hilfe benötigen. Sie wollen deshalb auch, daß die Wirksamkeit des Berlin-Förderungsgesetzes kontrolliert wird, daß das Gesetz gegebenenfalls korrigiert wird. Aber sie müssen nach wie vor um Verständnis für die eben geschilderten Standortnachteile bitten, denn sie können nicht von den einzelnen Berlinern und auch nicht von den Berliner Unternehmen abgewehrt oder umgangen werden. Deshalb ist die Situation Berlins auch mit keiner anderen Region vergleichbar.
Wir Sozialdemokraten haben uns stets für eine Effizienzkontrolle der Berlin-Förderung eingesetzt. Wir haben es deshalb auch begrüßt, daß der Senat von Berlin und das Bundesfinanzministerium das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung beauftragt haben, eine Wirkungsanalyse zu erarbeiten. Wir waren stets bereit, auf der Grundlage dieser Expertenaussagen für eine Novellierung des Gesetzes einzutreten. Unser Ziel war es und ist es noch immer, die Fördermittel effizient einzusetzen, damit die Arbeitsplätze in Berlin sicherer werden und sich in der Stadt eine zukunftsträchtigere Wirtschaftsstruktur entwickeln kann.

(V o r sitz : Vizepräsident Frau Renger)

Aber das wichtige Abschlußgutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung steht noch aus. Erbetene Zwischenwertungen zeigen Empfehlungen, die überwiegend eine ganz andere Zielrichtung einschlagen, als es zwischen der Bundesregierung und dem Berliner Senat jetzt vereinbart worden ist. Das DIW bestätigt die Einschätzung der Berliner Kammern und Gewerkschaften, es bestätigt die Einschätzung der Verbände der Berliner Unternehmen, daß die Konzentration der vorgesehenen Kürzung auf die Investitionszulagen der Beseitigung struktureller Defizite in der Stadt entgegensteht und die positive Entwicklung in West-Berlin behindert.
So würde allein eine Begrenzung der Investitionszulage auf 7,5 % von 100 000 DM entscheidende negative Wirkung auf die Arbeitsplätze in Berliner Betrieben haben. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Für einen modernen Berliner Reisebus z. B., der heute — so teuer sind die inzwischen geworden —600 000 DM kostet, war den damit belasteten Unternehmen bisher eine Investitionszulage von 10 %, sprich 60 000 DM, bezahlt worden. Dies soll wegfallen, soll sich auf 7 500 DM beschränken — trotz der langen Strecken, trotz der doppelten Lohnkosten, trotz der doppelten Besetzung der Reisebusse. All das wird dazu beitragen, daß viele dieser Unternehmen



Dr. Mitzscherling
des privaten Verkehrsgewerbes, die 30 000 Beschäftigte in Berlin haben, künftig in Schwierigkeiten geraten.
Das gleiche gilt für die geplante Einschränkung der Investitionszulage in den für die wirtschaftliche Zukunft der Stadt besonders wichtigen produktionsorientierten Dienstleistungen. Erhöhte Investitionszulagen für Forschung und Entwicklung? Herunter mit ihnen!
All dies widerspricht den Erfordernissen des strukturellen Wandels Berlins. Es widerspricht den Empfehlungen des noch in Arbeit befindlichen, noch nicht endgültig vorgelegten Gutachtens. Es steht einer positiven Gestaltung der künftigen Wirtschaftsstruktur Berlins entgegen.
Es ist schlichtweg ein Skandal, meine Damen und Herren, daß sich die Bundesregierung aus rein fiskalpolitischen Überlegungen über berechtigte und besorgte Hinweise der Berliner Wirtschaft, der Gewerkschaften und der sachverständigen Gutachter, die in ihrem Auftrag handeln, hinwegsetzt. Die SPD-Fraktion hat in ihrer letzten Sitzung in Berlin eine Anhörung mit den davon Betroffenen veranstaltet, um die Proteste, Hinweise und Bedenken aufzunehmen. Wir werden sie im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen in die Ausschußberatung einbringen.

(Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Hatten Sie etwas anderes erwartet, wenn man Subventionen abbaut?)

— Ich darf noch einmal darauf hinweisen: Ich würde mich dagegen wehren, dies als Subventionen zu bezeichnen. Dies ist ein echter Standortnachteilsausgleich. Wenn Sie Berlin in seiner politischen und wirtschaftlichen Stabilität erhalten können, dann muß Berlin auch weiterhin gefördert werden.

(Beifall bei der SPD)

Sie können Subventionen streichen. Wenn Sie von der CDU und der FDP die Berlin-Präferenzen streichen wollen, dann bricht Ihnen Berlin weg. Ich weiß nicht, ob Sie das wollen.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Aber eine Subvention ist immer ein Nachteilsausgleich!)

— Die Kürzung von Subventionen, Herr Falthauser, wäre dann akzeptabel, wenn betroffene Unternehmen durch Anpassungen, durch Umstellung ihrer Produktionsstruktur, ihrer Unternehmensplanung, ihrer Produktionspalette möglichen nachteiligen Entwicklungen ausweichen könnten. Das können Berliner in den meisten Fällen nicht. Das ist das Problem.
Wir sind der Auffassung, daß die Bundesregierung und auch die Koalitionsfraktionen die Belange Berlins bei der Gestaltung dieses Reformgesetzes weitgehend negiert haben. Empfehlungen sind weitgehend unberücksichtigt geblieben, auch Gutachten der Wissenschaftler. Dieses Gesetz soll im Eilzugtempo durchgezogen werden, ohne daß es möglich ist, eine sachgerechte Diskussion nach Vorliegen des Gesamtgutachtens wegen des vorgegebenen Zeitdrucks überhaupt zu führen.
Die Konzentration der Kürzungen auf Investitionszulagen ist für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze in
Berlin schädlich. Allein zwei Drittel, meine Damen und Herren, des Kürzungsvolumens sind auf Investitionen gerichtet. Das sind Beträge von direkten Zulagen von über 400 Millionen DM und von darüber hinausgehenden Abschreibungserleichterungen.
Sie gehen vor allem zu Lasten mittlerer und kleiner Dienstleistungsbetriebe. Sie gehen auch zu Lasten junger, zukunftsträchtiger Betriebe, an denen wir ein besonderes Interesse haben, die eine längere Anlaufphase benötigen, die noch keine Produktion mit einer Fernabsatzorientierung erbringen, denen man zunächst helfen muß und die von den übrigen BerlinPräferenzen überhaupt nicht profitieren können. Das einzige für sie war und ist die Investitionszulage.
Wir werden die Kürzungen der Berlin-Förderung ablehnen. Wir sind für eine kostenneutrale Novellierung des Berlin-Förderungsgesetzes, die den gewaltigen Zukunftsaufgaben, die der Strukturwandel in einem sich integrierenden europäischen Binnenmarkt der Stadt auferlegt, auch wirklich Rechnung trägt. Deshalb müssen diese Gutachten nach unserer Auffassung abgewartet werden.
In diese Erörterung, die zu einer strukturorientierten Debatte über die Wirtschaft Berlins werden muß, werden die möglichen Wirkungen auf das Instrumentarium des Berlin-Förderungsgesetzes einzubeziehen sein, die sich aus der Vollendung des europäischen Binnenmarktes ergeben. Es wäre doch leichtfertig und den Belangen der Berliner Wirtschaft zuwider, wenn wir vielleicht schon 1991 eine erneute Novellierung des Berlin-Förderungsgesetzes deshalb vornehmen müßten, weil es die europäische Integration erfordert. Darüber ist bei der Formulierung des Reformgesetzes überhaupt nicht nachgedacht worden.
Investoren, die in Berliner Betrieben potentiell als Anleger gefragt sind, müssen eine überschaubare Investitionszukunft von sechs bis acht Jahren mit der Geltung eines solchen Gesetzes haben, sonst werden sie sich, die Verletzung des Vertrauensschutzes anklagend, von Berlin zurückziehen oder es mit ihrem einzusetzenden Kapital gar nicht erst bedenken.
Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen aus den vorläufigen Empfehlungen sehen wir strukturverbessernde Elemente vor allem in einer stärkeren Förderung der Investitionstätigkeit, durch Beibehaltung einer unbegrenzten Grundzulage, durch eine erhöhte Investitionszulage in strukturpolitisch wichtigen Bereichen, z. B. in Forschung und Entwicklung, in der Telekommunikation, aber auch in anderen produktionsorientierten Dienstleistungsbereichen. Wir sehen sie in der Schaffung einer Investitionszulage für mehrgeschossige Gewerbebauten. Berlin kann nicht ausweichen. Es ist auf die in Berlin existierende Grundfläche angewiesen, und die Industrieansiedlung kann immer häufiger nur in bestehenden Gebäuden erfolgen. Wir sehen sie in einer Förderung der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Qualifizierung von Arbeitnehmern durch eine entsprechende Ausgestaltung des Präferenzsystems. Hierzu sind Empfehlungen in dem Gutachten, das wir erwarten, sicherlich enthalten. Darüber setzen Sie sich hinweg. Sie nehmen sie nicht einmal mehr zur Kenntnis.



Dr. Mitzscherling
Wir wollen keine Degradierung des Berlin-Förderungsgesetzes zur disponiblen Finanzmasse. Wir fordern einen für Berlins wirtschaftliche Zukunft notwendigen Diskussionsprozeß, der nicht durch einseitige Terminvorgaben abgewürgt werden darf. Wir wollen eine sinnvolle, eine durch Gutachten untermauerte Novellierung, die für einen längeren Zeitraum gültig bleibt.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind für ein Berlin-Förderungsgesetz, dessen Instrumente vor allem mehr Arbeit in zukunftsträchtigen Bereichen schaffen und die den Standortnachteil Berlins auszugleichen helfen. Wir lehnen deshalb den Entwurf der Bundesregierung, den der Berliner Senat unterstützt, ab.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107413100
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hellwig.

Dr. Renate Hellwig (CDU):
Rede ID: ID1107413200
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zum Abschluß der Debatte noch einmal auf drei Argumente konzentrieren, weil sie gerade auch im Verhältnis zur Opposition immer eine große Rolle gespielt haben: Erster Grundsatz: Die Familie hat Vorfahrt, wie bei der gesamten Politik dieser Bundesregierung. Familien erhalten mehr als Kinderlose, um die jahrzehntelangen Benachteiligungen wieder abzubauen.

(Zuruf von der SPD: Das glauben Sie doch selber nicht!)

Zu der im Volksmund als Quellensteuer bekannten kleinen Zinssteuer: Erstens. Sie trifft längst nicht so viele, wie man es immer noch glaubt. Viele, die Angst vor ihr haben und über sie schimpfen, sind gar nicht von ihr betroffen.
Zweitens. In den Fällen, in denen sie greift, beseitigt diese Steuer eine soziale Ungerechtigkeit. Steuern aus Arbeitseinkommen betragen zwischen 19 und 53 % . Steuern für arbeitsloses Zinseinkommen betragen grundsätzlich ebenfalls zwischen 19 und 53 %. Nach Vermutungen werden sie nur zur Hälfte oder sogar zu einem Drittel bezahlt. Jetzt wird wenigstens in Höhe von 10 % ein Vorwegabzug durchgeführt.
Der dritte Aspekt, auf den ich eingehen möchte: Diese Steuerreform ist nicht nur sozial gerecht, sondern sie verbessert sogar die soziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik in zwei wichtigen Punkten:
Erstens. Alle Bürger aller Einkommensschichten erhalten erhebliche Teile ihres Lohnes wieder zur selbständigen Verfügung, Lohnteile, die ihnen der Staat in den letzten 20 Jahren mehr und mehr aus der Tasche gezogen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zweitens. Sondervorteile auf Kosten derer, die sie mit ihren Steuergeldern für die Bevorzugten bezahlen mußten, werden teilweise beseitigt oder wenigstens gekürzt. Auch dies ist ein Mehr an Gerechtigkeit und kein Weniger.
Lassen Sie mich erläuternd noch kurz etwas zu dem Thema Familie sagen. Wir haben uns im Gegensatz zur SPD und den GRÜNEN, die nur auf Kindergeld setzen, für die Kombination entschieden. Kindergeld für geringere Einkommen und Freibeträge für mittlere und höhere Einkommen. Zu diesem Zweck haben wir auch das Kindergeld für höhere Einkommen gekürzt. Das hat zwei ganz entscheidende Vorteile.
Der eine Vorteil ist:

(Zuruf des Abg. Huonker)

— auf Sie komme ich jetzt gerade, Herr Huonker, Sie sollten jetzt einmal gut zuhören — Einkommen, das für Kinderkosten eingesetzt wird, bleibt durch Kinderfreibeträge von vorneherein partiell steuerfrei. Jetzt kommen Sie und sagen: Ja, aber von dem Freibetrag haben die Reichen mehr als die Armen.

(Huonker [SPD]: Das ist unbestreitbar!)

Ich habe Sie hier eine Viertelstunde lang, 20 Minuten lang nur um Freibeträge, um mögliche Kürzungen von Freibeträgen ringen hören. Nicht ein einziges Wort habe ich darüber gehört, daß von genau diesen Freibeträgen, die z. B. Fahrtkosten abgelten, der Höherverdienende natürlich auch mehr profitiert als der Geringerverdienende. Jetzt frage ich Sie direkt, Herr Huonker: Ist Ihnen Fahrtkostenersatz mehr wert als Kinderkostenersatz? Das ist eine familienpolitische Entscheidung.

(Beifall bei der CDU/CSU — Huonker [SPD]: Sie haben nichts verstanden! Werbungskosten! Mit Verlaub gesagt: So ein Quatsch!)

Der zweite Punkt ist: Was ist die Gefahr, wenn wir als familienpolitisches Instrument allein das Kindergeld haben? Die Gefahr beim Kindergeld ist, daß — je nach Haushaltslage — Kindergeld nicht nur nicht angehoben, sondern gar gekürzt wird. Dafür haben Sie in Ihrer Zeit ein trauriges Beispiel geboten: 1982 haben Sie das Kindergeld gekürzt, und zwar für alle, nicht nur etwa für die reichen, wie Sie hier immer behaupten, sondern auch für die armen Familien, als deren Beschützer Sie sich hier heute aufführen, für das zweite und dritte Kind, für jedes. Ich sage hier ausdrücklich dazu — das kann ich für die CDU sagen, so wie wir es auf der Bundesvorstandssitzung beschlossen haben — : Wir haben vereinbart — und wir werden das auf unserem Parteitag im Juni beschließen —, daß noch in dieser Legislaturperiode, so wie es für das Steuerpaket vorgesehen war, auch für die Bezieher niedriger Einkommen eine Kindergeldanhebung erfolgen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dreßler [SPD]: Da klatscht die CSU aber gar nicht!)

Meine Damen und Herren, als Familienpolitikerin kündige ich hierzu ergänzend gleich an: Wenn wir uns in der nächsten Legislaturperiode — und Sie gehen genauso wie wir davon aus, das wir wieder die Regierung stellen werden —

(Glos [CDU/CSU]: Richtig, mit Sicherheit! — Zuruf von der SPD: Das glauben Sie doch selber nicht!)

über weitere Steuererleichterungen unterhalten werden, dann wird — neben der Unternehmerentlastung — natürlich auch eine weitere Anhebung des



Frau Dr. Hellwig
Kinderfreibetrages ein zweiter, ebenso wichtiger Schwerpunkt sein. Denn Investitionen in Kinder, in unsere lebendige Zukunft sind uns genauso wichtig wie Investitionen in Waren und Dienstleistungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Soviel zum Kindergeld.

Lassen Sie mich am Rande ergänzend noch erklären, daß wir natürlich auch die Ausbildungsfreibeträge, das Baukindergeld und den Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende erhöht haben. Auch das gehört zu dem Paket dieser Steuerreform. Ich möchte für unsere Fraktion hier ausdrücklich erklären, daß wir die Steuerreform im ganzen sehen. Wir reden nicht nur von der Steuerreform 1990, sondern wir sehen 1986, 1988 und 1990 als ein in sich geschlossenes Paket. Wir bitten Sie, es auch so zu betrachten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein weiteres Argument zur Quellensteuer: Ich glaube, da müssen wir die Nebelwerfer der Opposition einmal etwas wegräumen

(Poß [SPD]: Sind Sie dazu in der Lage?)

und Fakten, ganz einfache Fakten darstellen. Draußen herrscht schreckliche Angst, wer alles Quellensteuer zahlen muß. Die kleine Rentnerin, die da 10 000, 20 000 DM auf ihrem Sparbüchlein hat, wird von Ihnen verschreckt.

(Huonker [SPD]: Die muß zum Finanzamt, zum erstenmal in ihrem Leben! — Weitere Zurufe von der SPD)

Vor allen Dingen glaubt diese arme Rentnerin, sie müsse jetzt von den 20 000 DM 10 % Steuern bezahlen. Es ist dringend notwendig, hier aufzuklären.

(Huonker [SPD]: Das war Ihre frühere Propaganda! „Sparbuchsteuer" war die CDU Hetze! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Meine Herrschaften, ja, die Wahrheit paßt euch natürlich nicht; das ist mir schon klar. —

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das Oppositionsverhalten ist immer gleich! — Zurufe von der CDU/CSU — Glocke des Präsidenten)

Für unsere Zuhörer am Rundfunkgerät noch einmal zum Vorrechnen: Wenn ich bei einem Sparguthaben von 50 000 DM 5 000 DM Zinseinkommen jährlich zugrunde lege, dann bezahlt die Rentnerin, soweit sie das Guthaben auf einem normalen Sparbuch hat, überhaupt keinen Pfennig Quellensteuer. Soweit ein Gewiefterer den Betrag fest angelegt, ihn in festverzinslichen Wertpapieren angelegt hat, dann zahlt er lediglich von den 5 To Zinsen, also von 2 500 DM, 10 %. Das sind ganze 250 DM und nicht, wie heute die Vermutung besteht, 5 000 DM jährlich.

(Glos [CDU/CSU]: Richtig! — Poß [SPD]: Aber die Frau muß erst eine Bescheinigung holen!)

Es ist wichtig, dies zur Aufklärung beizutragen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren: Ist die Zinsbesteuerung sozial gerecht, ja oder nein? „Ja"
sage ich. Die Zinsbesteuerung ist sozial gerecht. Sie ist z. B. im Verhältnis zur Kapitalertragsteuer gering. Denn wir müssen ja daran denken, daß wir inzwischen 6 Millionen Arbeitnehmer haben, die Aktienbesitzer sind und damit für dieses Aktienvermögen natürlich auch Steuern bezahlen, 25 %. Von daher ist es doch gerecht, wenn hier wenigstens 10 % bezahlt werden.

(Huonker [SPD]: Warum nicht mehr?)

Um hier keine Illusion aufkommen zu lassen: Die 10 sind nur ein Vorabzug, mein lieber Herr Huonker. Das wissen Sie so gut wie ich und hoffentlich auch alle Empfänger von Zinsgutschriften. Sie müssen im Grunde die Zinsen zusätzlich angeben und dann den vollen Steuersatz darauf bezahlen, je nachdem, wie hoch das sonstige Einkommen ist.
Wenn die Banken jetzt jammern, daß sie angeblich mehr Arbeit haben: Waren es nicht die Banken selber, die darauf hingewiesen haben, daß — mein Kollege hat die Zahl schon genannt — in der Bundesrepublik ein Geldvermögen von 2 Billionen DM vorhanden ist? Wir sind eine reiche Gesellschaft. Es geht um 2 Billionen DM, nicht um 2 Millionen DM; das sage ich noch einmal ausdrücklich. 1 Billion sind 1 000 Milliarden. Es geht also um 2 000 Milliarden DM Geldvermögen. Aus diesem Geldvermögen fließt viel jährlicher Zins. Das ist arbeitsloses Einkommen.

(Zuruf von der SPD)

— Herr Huonker, Sie brauchen gar nicht zu schreien.

(Huonker [SPD]: Ich habe gar nichts gesagt!)

Sie hätten die Quellensteuer längst einführen können. Wenn Sie sie in vernünftiger Form vorgeschlagen hätten, hätten wir das im Bundesrat mitgemacht.

(Huonker [SPD]: Wenn die CDU damals das gesagt hätte, was Herr Stoltenberg heute gesagt hat, und wir eine Mehrheit gehabt hätten, dann gäbe es sie längst!)

— Gut, Sie hätten halt nicht so starrköpfig sein dürfen und allein Ihre Form durchsetzen wollen. Sie hätten etwas flexibler sein müssen. Dann hätten Sie es damals mit dem CDU-Bundesrat auch schon geschafft.
Lassen Sie mich zu dem dritten Argument kommen, nämlich der sozialen Gerechtigkeit bei dieser Steuerreform. Die Kritik „Den Großen wird mehr erlassen als den Kleinen" ist heute schon zigmal verhandelt worden. Ich sage dazu nur noch ein Argument: Der logische Grundsatz, daß derjenige, der schon mehr verdient, dann, wenn er prozentual entlastet wird, natürlich auch in der Summe mehr entlastet wird, gilt auch in umgekehrter Form. Den können selbst die Gewerkschaften nicht außer Kraft setzen. Wenn sie z. B. 5 % Lohnsteigerung durchsetzen, bedeutet das automatisch auch, daß derjenige, der schon mehr verdient, auf Grund dieser 5%igen Steigerung mehr bekommt als derjenige, der weniger verdient.
Also lassen Sie dieses Märchen von der sozialen Ungerechtigkeit. Sie können diese Tatsachen nicht leugnen.



Frau Dr. Hellwig
Ich möchte noch kurz auf das Argument eingehen, daß alle die Steuersenkungen erfahren, auch diejenigen, bei denen Vorteile teilweise abgebaut werden. Ich halte es für wichtig und auch für ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, wenn man sich immer wieder neu überlegt: Wie ist das eigentlich mit Sondervorteilen? Natürlich sagt derjenige, dessen Sondervorteil abgebaut wird, sofort: Das ist sozial ungerecht, da ich doch diesen Vorteil verdiene!
Aber die vielen, die seinen Sondervorteil mitbezahlen, müssen wir als Politiker mit im Auge haben. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Ist es sozial gerechtfertigt, diesen Vorteil weiterhin auf Kosten all der anderen Steuerzahler zu gewähren?
Das, was ich hier bisher gehört habe, waren nur Besitzstandswahrer, die sich für diese Bevorteilten hier hingestellt und lauthals geschrien haben, daß die armen Kerle weniger bekommen.

(Huonker [SPD]: Was sagen Sie denn zum Ehegattensplitting?)

Keiner hat das Allgemeinwohl vertreten. Ich fühle mich als eine Vertreterin des Allgemeinwohls. Ich sage: Wenn die Vertreter und Vertreterinnen des Allgemeinwohls aussterben, dann ist Schluß mit der jeweiligen Überprüfung der sozialen Gerechtigkeit, die immer wieder neu formuliert werden muß.
Ich habe einen seltsamen Freund, der das ähnlich sieht, und zwar Herrn Gorbatschow. Herr Gorbatschow ist derjenige Mann, der jetzt behauptet: Wenn wir unsere Gesellschaft aus der Erstarrung lösen wollen, müssen wir an die Besitzstände herangehen. Wir müssen unsere Gesellschaft wieder lockerer machen.

(Huonker [SPD]: Wir vergleichen die Bundesrepublik doch nicht mit Moskau! — Weitere Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, wissen Sie, was für mich Perestroika bedeutet? Perestroika bedeutet für mich: 70 Jahre perfektionistische SPD-Politik in eine CDU-Politik umwandeln. Ich wünsche Herrn Gorbatschow viel Glück dazu.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107413300
Meine Damen und Herren, das war alles sehr temperamentvoll von allen Seiten. Ich schließe damit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
Finanzsituation der Bundesanstalt für Arbeit — Auswirkungen auf die aktive Arbeitsmarktpolitik
Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyenn.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1107413400
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie zunächst ein kurzes Wort an den Herrn Bundesarbeitsminister. Wir wollten diese Aktuelle Stunde gestern durchführen. Die Koalition hat mit Ihrer Mehrheit die Verlegung auf heute erzwungen.

(Seiters [CDU/CSU]: Wieso das denn?)

Das ist der Grund für mögliche Terminschwierigkeiten, die Sie heute nachmittag haben, Herr Bundesarbeitsminister.
Doch zur Sache, meine Damen und Herren. Die Bundesanstalt für Arbeit rutscht in diesem Jahr in ein Defizit von rund einer Milliarde DM. Im nächsten Jahr wird die Finanzsituation katastrophal; es fehlen dann 5 Milliarden DM. Schon im Mai, aber sicher nach der Wahl in Schleswig-Holstein wird die Bundesanstalt vom Bund ein Betriebsmitteldarlehen in Höhe von mehr als einer halben Milliarde DM abfordern müssen.
Diese finanzielle Schieflage ist von der Bundesregierung hausgemacht.

(Richtig! bei der SPD)

Sie ist Folge der verfehlten Politik. Weil Beschäftigungspolitik nicht stattfindet, bleibt die Entwicklung der Beschäftigung hinter den Erwartungen zurück,

(Sehr wahr! bei der SPD)

und die Zahl der Arbeitslosen nimmt stärker zu, als die Bundesregierung angenommen hat. Die Eckwerte des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit sind in wesentlichen Punkten überholt.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Hinzu kommt, daß im November letzten Jahres gegen unsere Stimmen mit der 8. Novelle zum AFG der Bundesanstalt Milliarden für Aufgaben entzogen worden, die lupenreine Bundesaufgaben waren und sind.

(Beifall bei der SPD)

Nach geltendem Recht muß der Bund die Defizite abdecken, aber das wird Herr Stoltenberg kaum tun wollen. Die Bundesregierung versucht daher mit allen möglichen Tricks, das Defizit der Bundesanstalt in Nürnberg in diesem Jahr zu vermeiden.

(Dreßler [SPD]: „Tricks" ist das richtige Wort!)

Wir hatten, meine Damen und Herren, mit unserer Kleinen Anfrage die Bundesregierung aufgefordert, endlich Fakten auf den Tisch zu legen. Wir wollten wissen und wir wollen wissen, mit welchen administrativen Maßnahmen in diesem Jahr in Nürnberg zu rechnen ist. Die Antwort auf unsere Anfrage ist eine Zumutung für das gesamte Parlament. Statt Wahrheit und Klarheit gibt es nur Ablenkungsmanöver.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Einmal mehr muß man von Tarnen und Täuschen sprechen. Politische Kultur ist diesem Arbeitsminister fremd.



Heyenn
Obwohl alle entscheidenden Daten — Wachstum, Entgelt, Arbeitslosigkeit — korrigiert werden mußten, spricht die Bundesregierung pauschal von Mehrbelastungen, sagt aber mit keinem Wort, um wieviel es geht. Wie das für 1988 drohende Defizit zu verhindern sei, sei Sache der Selbstverwaltung — so die Bundesregierung. Der Schwarze Peter wird einfach verschoben. Da die Rechtsansprüche auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe befriedigt werden müssen, wird jetzt bei der Arbeitsmarktpolitik rigoros gespart.

(Zustimmung bei der SPD)

Von der Qualifizierungsoffensive ist seit Monaten keine Rede mehr.
Wir kennen alle — auch Sie von der CDU/CSU und der FDP — die Fakten aus unseren Wahlkreisen. Wir alle bekommen doch Briefe, ich z. B. von den Volkshochschulen in Schleswig-Holstein, vom Internationalen Bund in Darmstadt und bis hin zu DAG und DGB. Diese Briefe sagen, daß viele Betroffene auf schon in Aussicht genommene Bildungs- und RehaMaßnahmen verzichten müssen. Wer von den Abgeordneten — ich glaube, Sie von der CDU/CSU scheuen sich davor im Moment — in sein Arbeitsamt vor Ort geht, hört diese Kritik gebündelt.
Ein Beispiel: Der Landesverband der Volkshochschulen in Schleswig-Holstein bittet konkret um aktive Hilfe zur Überwindung plötzlich aufgetretener Probleme bei der finanziellen Förderung von jungen Erwachsenen, die arbeitslos sind, von Spätaussiedlern und von Lehrgängen der Fortbildung und der Umschulung. Es heißt dort wörtlich: „In diesem Bereich müssen die Kosten drastisch gesenkt werden. Neue Lehrgänge können nicht mehr eingerichtet werden. " Tatsache ist: Zur Zeit gibt es in der Bundesrepublik 40 000 mehr gemeldete Arbeitslose als vor einem Jahr — mit steigender Tendenz. Es werden zugunsten der Spitzenverdiener in der Republik Zehntausende von Arbeitslosen in diesem Jahr auf Fortbildung, auf Umschulung oder auf andere Hilfen verzichten müssen,

(Kolb [CDU/CSU]: Wieso das?)

auf einen erhofften Lichtblick im tristen Alltag der schon lange andauernden Arbeitslosigkeit.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben einmal gesagt, Sie seien der Arbeitsminister der Arbeitslosen. Ich frage Sie: Schaffen Sie sich eigentlich deswegen immer mehr Arbeitslose an, um Ihre Lobby zu vergrößern?
Was macht die Bundesregierung angesichts dieser unbestreitbaren Tatsachen? Abwarten, aussitzen. Wir fordern eine klare Antwort. Gibt es Leistungskürzungen für Arbeitslose oder weitere Beitragserhöhungen, oder wird der Bund die Milliardendefizite abdekken?
Wir erwarten Klarheit. Herr Blüm, wir bitten Sie: Reden Sie nicht nur, sondern sagen Sie auch etwas im deutschen Parlament.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107413500
Das Wort hat der Abgeordnete Müller (Wesseling).

Alfons Müller (CDU):
Rede ID: ID1107413600
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Heute morgen hat der Sprecher der SPD, der Kollege Apel, der Bundesregierung vorgeworfen, sie tue nichts zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit.

(Zurufe von der SPD: Da hat er recht!)

Der Kollege Heyenn hat diese Aussage bekräftigt. Meine Damen und Herren, spüren Sie nicht, daß Sie hier sehr unglaubwürdig sind und daß Sie unter einem großen Widerspruch leiden?

(Widerspruch bei der SPD)

Einmal erheben Sie diese Vorwürfe, und dann sagen Sie, es gebe eine vermeintliche Finanzenge der Bundesanstalt.
Herr Kollege Heyenn, Sie haben die achte Novelle angesprochen. Diese 8. Novelle zum AFG orientiert sich doch an den Zielsetzungen des AFG. Mit ihr werden sehr nachhaltig die Chancen der Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt verbessert.

(Frau Steinhauer [SPD]: Ohne Geld! Das darf ja nicht wahr sein!)

Das ist doch der Tatbestand.
Unsere Regierung — ich will das einmal deutlich sagen — hat doch in den vergangenen fünf Jahren mehr für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit getan, als je zu Ihrer Zeit geschehen ist.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Müntefering [SPD]: Das wiederholen Sie mal! — Schreiner [SPD]: Da lachen sich die Hühner tot! — Heyenn [SPD]: Sie sind ein Traumtänzer!)

— Ich will Ihnen das gerne beweisen.
Natürlich hat das Geld gekostet, viele Milliarden. Nehmen Sie folgende Fakten zur Kenntnis. Wir haben die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld zweimal verlängert. Wir haben das Kurzarbeitergeld entscheidend verbessert. Wir haben das Benachteiligtenprogramm auf 400 Millionen DM hochgeschraubt.

(Zuruf von der SPD: Aus der Bundeskasse in Nürnberg!)

Wir haben die Lohnkostenzuschüsse für ältere Arbeitslose eingeführt. Wir haben die Arbeitslosenhilfe erheblich verbessert und deren Bezug erleichtert.

(Zurufe von der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107413700
Herr Abgeordneter, einen Moment. Ich habe die Uhr angehalten, so daß das nicht auf Ihre Redezeit angerechnet wird.
Meine Damen, meine Herren, ich kann Sie gut verstehen, wenn Sie sich zu Zwischenrufen angeregt fühlen. Aber jeder Redner hat nur fünf Minuten Redezeit. Es ist bei der Fülle der Zwischenrufe angesichts dieser kurzen Redezeit natürlich außerordentlich schwierig, sozusagen den Faden zu behalten. Ich bitte wirklich, darauf ein bißchen Rücksicht zu nehmen.
Sie haben wieder das Wort.

Alfons Müller (CDU):
Rede ID: ID1107413800
Meine Damen und Herren, was Sie sicherlich vergessen haben — ich will es Ihnen in Erinnerung rufen — : Wir haben das Kin-



Müller (Wesseling)

dergeld für arbeitslose Jugendliche wieder eingeführt,

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

das Sie gestrichen hatten. Wir haben die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von 29 000 auf 115 000 hochgeschraubt und damit vielen Menschen geholfen. Ich will auch das Vorruhestandsgesetz nicht unerwähnt lassen; denn dadurch haben 130 000 ältere Arbeitnehmer Platz für 70 000 jüngere gemacht. Das ist eine Leistungsbilanz, die sich sehen lassen kann. Diese Leistungsbilanz hat natürlich Geld gekostet.

(Hoss [GRÜNE]: Aber die Arbeitslosigkeit ist gestiegen!)

Eine besondere Bedeutung kommt der Förderung der beruflichen Fortbildung, der Umschulung und der betrieblichen Einarbeitung zu. Auch hier können wir mit Ihnen bestens mithalten. 1987 gab es allein fast 600 000 Eintritte. 1982, zu Ihrer Regierungszeit, waren es 266 000. Wenn ich richtig rechnen kann, bedeutet das eine Steigerung um mehr als 50 % bei diesen Maßnahmen. Und was entscheidend ist: Von den 600 000 Teilnehmern waren 1987 64 % arbeitslos. Das kostet immerhin mehr als 6 Milliarden DM jährlich. Ich halte das aber für einen sehr wichtigen Beitrag zur Vermeidung und zur Beendigung struktureller Arbeitslosigkeit.
Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, daß die moderne Technik immer mehr Arbeitsplätze wegnimmt. Es kommt darauf an, unsere Arbeitnehmerschaft immer mehr und immer besser zu qualifizieren.

(Frau Steinhauer [SPD]: Aha!)

Dafür muß das Geld zur Verfügung gestellt werden. Diese Maßnahmen müssen sich auf hohem Niveau konsolidieren. Wenn wir nicht ein unbedingtes Ja zum technischen Fortschritt sagen, dann werden wir in einiger Zeit noch mehr Arbeitslosigkeit haben. Deswegen sagen wir: Wer die Arbeitslosigkeit konsequent bekämpfen will, muß den technischen Fortschritt ebenso konsequent annehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das setzt voraus, daß wir die Arbeitnehmer immer mehr und immer besser qualifizieren.
Nun gebe ich Ihnen gern zu: Das ist nicht eine Maßnahme, die die Bundesanstalt für Arbeit allein zu erfüllen hat, sondern hier ist die Wirtschaft ebenso gefordert.

(Dreßler [SPD]: Ich wußte doch, daß wir einige finden! Nur die Bundesregierung nicht!)

Ich wehre mich dagegen, daß der Staat immer nur dann gerufen wird, wenn die Leute in der Krise sitzen. Ich meine, wir müßten deutlich sagen: Es kann nicht nur darum gehen, Geld in Maschinen zu investieren, wir müssen auch Geld in die Menschen investieren. Das halte ich für die beste Arbeitsmarktpolitik.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107413900
Das Wort hat Frau Beck-Oberdorf.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107414000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr wichtig fand ich in der heutigen Debatte um die Steuerreform die kurze Aussage der Kollegin Hellwig zum Schluß der Debatte, als sie noch einmal darauf hingewiesen hat, daß die Bundesrepublik ein ausgesprochen reiches Land ist. Das, finde ich, gilt es wirklich festzuhalten und zu betonen, immer dann, wenn wir über die Menschen sprechen, die von diesem Reichtum offensichtlich überhaupt nichts abbekommen. Damit wären wir beim Thema, nämlich bei der Bundesanstalt für Arbeit, die sich mit den Menschen zu befassen hat, die von diesem Reichtum ausgegrenzt sind. Wir haben jetzt die Situation, daß diese Bundesanstalt nur noch Defizite verwalten kann und sich damit die Chancen für die Erwerbslosen mehr und mehr verschlechtern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist im Grunde genommen einleuchtend, daß sich das Defizit bei hoher Sockelarbeitslosigkeit einstellt. Es ist geradezu widersinnig gewesen, daß wir, wie in den vergangenen Zeiten, einen zunehmenden Speckgürtel bei der Bundesanstalt für Arbeit trotz 2,5 Millionen Erwerbslosen gehabt haben. Nur schmilzt dieser Berg jetzt nicht, weil die Situation der Leistungsempfänger verbessert wird, sondern weil der Bundesminister für Arbeit seine Kasse entlastet hat und Aufgaben, die eigentlich in sein Ressort fallen, auf die Bundesanstalt für Arbeit abgewälzt hat. Da sind wir vor allen Dingen bei dem Thema der Qualifizierung.
Es ist ja nicht so, Herr Heyenn, daß von der Qualifizierungsoffensive nicht mehr die Rede wäre. Es wird überall von Qualifizierung gesprochen, so z. B. von Herrn Kohl, wenn er die Leitanträge der CDU vorstellt, oder auch von Herrn Bangemann gestern in der Debatte, als über die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit gesprochen wurde. Oft jedoch wird das Thema der Massenarbeitslosigkeit gar nicht erwähnt.
Es wird immer gesagt: Die Antwort liegt in der Qualifizierung. Ich finde es geradezu perfide, daß ständig von einer Qualifizierungsoffensive gesprochen wird, daß wir aber im Augenblick insbesondere aus Nordrhein-Westfalen, aber auch aus allen anderen Arbeitsamtsbereichen hören, daß bereits jetzt auf Grund der Defizite der Bundesanstalt für Arbeit Kursangebote radikal zusammengestrichen werden, daß Jugendliche, die in Kursen zur Erlangung des Hauptschulabschlusses oder ähnlichem sind, also gerade die, die die allerschlechtesten Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, keine Möglichkeit mehr haben, sich zu qualifizieren, um überhaupt den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden. Es ist wirklich perfide, hier so zu tun, als ob die Erwerbslosen deswegen erwerbslos wären, weil sie sich nicht qualifizieren würden, denn gleichzeitig wird ihnen keine Möglichkeit geboten, sich zu qualifizieren, nach dem Motto: Du hat keine Chance, aber nutze sie!
Das gleiche gilt natürlich auch für die Frauen. Hier redet Frau Süssmuth immer von Wiedereingliederungsprogrammen, verteilt Hochglanzbroschüren zu



Frau Beck-Oberdorf
diesem Thema, aber jede Frau weiß ganz genau, daß sie, wenn sie einmal aus diesem Arbeitsmarkt aussteigt, um z. B. ein Kind großzuziehen, hinterher auf der Straße steht, weil Wiedereingliederung ein leeres Wort, eine Worthülse ist, da die Bundesanstalt für Arbeit die Programme dafür gerade jetzt zusammenstreicht.
Die Frage bei der ganzen Debatte um Arbeitslosigkeit heißt letztlich: Wie wollen Sie überhaupt der Arbeitslosigkeit zu Leibe rücken? Haben Sie überhaupt ein Interesse? Die Investitionsdebatte haben wir im Zusammenhang mit der Steuerreform geführt. Es gibt Unmengen von Finanzkapital, das auf dem Finanzmarkt vagabundiert. Es wird eben nicht investiert; es entstehen keine Arbeitsplätze durch Investitionen. Sie setzen trotzdem immer noch auf dieses Pferd. Das heißt, das, was wirklich greifen würde, die Umverteilung von Arbeit, die Neuverteilung von Arbeit, pakken Sie nicht an, weil Sie kein Interesse daran haben, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen,

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das ist eine perfide Unterstellung! Man kann sich lange über den richtigen Weg streiten, aber so eine Unterstellung sollte man nicht machen!)

sondern weil Sie mit der Reserve von 2,5 Millionen Arbeitslosen gut leben können. Denn der Druck von Arbeitslosen hat für die Unternehmer positive Seiten; das wissen Sie genauso gut wie ich.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107414100
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107414200
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die zu erwartenden Defizite der Bundesanstalt für Arbeit sind nicht zuletzt — das ist hier richtigerweise schon gesagt worden — auf die 8. Novelle zum AFG, auf die Mehrleistungen, Frau Kollegin Beck-Oberdorf, zurückzuführen. Auf die sich aus der 8. Novelle ergebenden finanziellen Risiken habe ich von dieser Stelle und woanders wiederholt hingewiesen — leider vergeblich.
Es bleibt dabei: Wer soziale Wohltaten verteilt — und selbstverständlich ist das in der 8. Novelle geschehen — , ohne über die entsprechenden Einnahmen zu verfügen, der produziert Defizite, und Defizite müssen abgedeckt werden.
Die Wirtschafts- und Sozialpolitiker der Union und der FDP sind sich immer einig gewesen — und ich hoffe, sie sind sich noch einig —, daß die Beitragserhöhungen, also die Erhöhung der Lohnzusatzkosten, nicht die richtige Antwort zur Lösung des zweifelsohne vorhandenen Problems sind. Sie wissen, daß die Erhöhung von Lohnzusatzkosten — und das würde ja Beitragserhöhung bedeuten — das Gegenteil von dem bewirken würde, was wir wollen: mehr Arbeitsplätze. Sie sind unakzeptabel für uns.
Da ich davon ausgehe, daß die beschlossenen Wohltaten nicht zurückgenommen werden, wird wohl die Garantiehaftung des Bundes die Antwort auf das Problem sein.
Ich kann mir in diesem Zusammenhang auch nicht die Bemerkung verkneifen, daß es keinen formalen Zusammenhang zwischen der Trümmerfrauenregelung und den Defiziten der Bundesanstalt für Arbeit gibt. Aber ich werde auch niemandem widersprechen, der behauptet, es gebe politische Zusammenhänge.

(Heyenn [SPD]: Das steht im Bericht zur 8. Novelle!)

Es bleibt dabei: Soziale Leistungen, sie mögen so gut gemeint sein wie auch immer, ohne ordentliche Finanzierung sind ein Übel.

(Frau Steinhauer [SPD]: Das haben Sie doch hervorgerufen!)

Die Defizite der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg sind das Ergebnis unserer eigenen Mehrheitsbeschlüsse; wir tragen also die Verantwortung dafür und müssen dafür sorgen, daß der Schaden behoben wird.
Allerdings ist für den Haushalt der Bundesanstalt auch die Selbstverwaltung verantwortlich. Diese setzt die Prioritäten. Ich möchte aus meiner Sicht unterstreichen, daß ich die Qualifizierung und die Rehabilitation für außerordentlich wichtig halte, und daß ich den Präsidenten der Bundesanstalt bei seinen Bemühungen unterstützen werde. Wie hat er gesagt? Das Erreichte quantitativ sichern und qualitativ womöglich verbessern.
Die Einnahmen der Bundesanstalt hängen nicht so sehr vom Beitragssatz ab, sondern sie hängen von der Gesamtbeschäftigtenzahl und vom Gesamtlohnvolumen ab. Die Arbeitskosten insgesamt sind aber wiederum für die Beschäftigung verantwortlich; mein Kollege Thomae wird auf diese Dinge noch eingehen.
Die Tarifvertragsparteien sind daher gefordert, hierauf Rücksicht zu nehmen, denn das Gesamtlohnvolumen ist maßgeblich für die Gesamteinnahmen der Bundesanstalt.
Sie können Ihren Beitrag dazu leisten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Möglichkeiten und die Bedingungen für Arbeit zu verbessern. Unterstützen Sie die Steuerreform; entlasten Sie Bürger und Unternehmen; helfen Sie, die Stimmung zu verbessern.

(Zuruf von der SPD: Blankes Prinzip Hoffnung, Herr Kollege!)

— Weniger miesmachen, Herr Kollege, mehr mitmachen!
Die Kollegin Beck-Oberdorf möchte ich fragen: Wenn Sie sich in dem Bemühen um mehr Arbeitsplätze unternehmerisch betätigen würden, was ich sicher begrüßen würde, würden Sie es dann als einen idealen Ausgangspunkt für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in dem von Ihnen zu gründenden Unternehmen betrachten, wenn Sie dies unter folgenden Bedingungen tun müßten: hervorragende Infrastruktur, bestausgebildete Arbeitnehmer in den Unternehmen, aber auch höchste Lohnkosten der Welt, höchste



Cronenberg (Arnsberg)

Lohnnebenkosten der Welt, kürzeste Arbeitszeit und höchste Steuern?

(Kolb [CDU/CSU]: Und die meisten Feiertage!)

Wenn Sie meinen, das wäre die ideale Voraussetzung für die Gründung eines Unternehmens, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, lade ich Sie ein, Unternehmerkollegin von mir zu werden. Tun Sie das unter diesen Bedingungen, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Ich befürchte nur, die Bedingungen sind nicht die besten.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Und die Reden ändern sich!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107414300
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Dr. Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1107414400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über ein mögliches Defizit der Bundesanstalt, von dem niemand weiß, ob es eintritt und wie hoch es eintritt. Sie erregen sich über dieses Defizit. Ich muß darauf aufmerksam machen, daß 1980/81/82 die Bundesanstalt für Arbeit nicht ein mögliches, sondern ein tatsächliches Defizit hatte, und zwar in Höhe von 17 Milliarden DM. Ich kann Sie beruhigen. So hoch wird das Defizit nie mehr werden, wie es in Ihrer Regierungszeit war.
Das liegt nicht daran, daß wir heute weniger leisten als Sie. 1982 wurden 6,9 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben. 1987 waren es 12,9 Milliarden DM, fast das Doppelte. In diesem Jahr, ohne die 8. Novelle — damit Sie sich nicht damit herausreden — , sind es 13,4 Milliarden DM, fast doppelt so viel wie in der Zeit, in der Sie ein höheres Defizit gemacht haben, als es je bei uns wahrscheinlich wird. — Dies nur, um die Proportionen ins rechte Licht zu rücken.

(Frau Dr. Timm [SPD]: Darum geht es doch gar nicht!)

Ob und wie hoch Defizite entstehen, dazu zitiere ich den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit vom 21. April, also heute, nach einer Agenturmeldung von 15.54 Uhr — ganz taufrisch:

(Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auftragsgemäß!)

Nach Frankes Auffassung ist schwer vorherzusehen, ob der Bund im kommenden Jahr zur Kasse gebeten werden muß, um ein Defizit der Bundesanstalt auszugleichen. Der Umfang der Kurzarbeit habe sich günstiger entwickelt als von den Arbeitsämtern eingeplant. Unwägbar sei auch, wie sich das Wirtschaftswachstum entwickeln werde und welche Auswirkungen das auf den Arbeitsmarkt habe.

(Heyenn [SPD]: Das war zum richtigen Zeitpunkt bestellt! Habt ihr das bestellt?)

Ich weiß, daß wir auf Herausforderungen antworten müssen. Ich sehe die Gefahr eines Defizits. Ich weigere mich nur, mich vorzeitig festzulegen. Ich weigere mich vor allen Dingen die Kunjunktur so schlechtzumachen, so schlechtzureden, um ein Katastrophengemälde entstehen zu lassen, das politisch ausgebeult wird.
Ich will dennoch auch aus Anlaß dieser Debatte auf die positiven Zeichen eingehen. Ich hoffe, wir alle wollen positive Entwickungen. Je positiver die Wirtschaft verläuft, um so mehr Entlastung auf dem Arbeitsmarkt gibt es. Deshalb gilt unsere erste Sorge der positiven Entwicklung der Wirtschaft, der Eingliederung der Arbeitslosen. Das ist unsere erste und wichtigste Aufgabe. Ich will den Vorsitzenden des Sachverständigenrats, Professor Hans Karl Schneider, zitieren:
Die Konjunktur läuft entgegen allen Unkenrufen so gut, daß wir im Sommer zum erstenmal seit sechs Jahren wieder unter 2 Millionen Arbeitslose kommen können.
Ich weiß nicht, ob seine Vorhersage eintrifft. Wir wollen alles dazu tun, daß sie eintrifft. Das ist auch Gegenstand unserer heutigen Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Dreimonatsdurchschnitt lagen die Auftragseingänge mengenmäßig um 5,3 % über dem Ergebnis des Vorjahres. Unsere Wirtschaft liegt im ersten Quartal 1988 auf einem Trend mit einem Wachstum von mehr als 2 %. Ich erwähne das, damit die Öffentlichkeit erfährt, daß man sich auf die Miesmacherei der SPD nicht verlassen kann, daß die Wirklichkeit besser ist, als sie die SPD schlechtredet. Ich hoffe, daß das auch auf dem Arbeitsmarkt so sein wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Zinsen sind zurückgegangen. Weltweit haben wir mit die niedrigsten Zinsen.
Die Verbraucherpreise werden 1988 nur um 1 % steigen, nicht — wie ursprünglich angenommen — um 2 %. Ein Prozentpunkt weniger Preissteigerung bringt den Verbrauchern und den Investoren einen realen Kaufkraftgewinn von 13 Milliarden DM.
Hinzu kommen 14 Milliarden DM Entlastungsvolumen durch die zweite Stufe der Steuerreform 1988. Das von der Bundesregierung aufgelegte Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Höhe von 21 Milliarden an zinsgünstigen Krediten stößt auf lebhafte Nachfrage bei den Gemeinden. All das sind Widerlegungen Ihrer Kassandrarufe!
Herr Kollege Heyenn, wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, Beschäftigtenpolitik finde nicht statt? Wir haben einen Beschäftigtenzuwachs von weit über 700 000 seit 1983.

(Zurufe von der SPD)

— Ja, die Wahrheiten muß man wiederholen. Wenn Sie die Unwahrheiten wiederholen, bin ich gezwungen, die Wahrheiten zu wiederholen. Ich hätte das sonst gar nicht wiederholt.
Im letzten Jahr ist die Zahl der Erwerbstätigen um 177 000 gestiegen. Ich weiß, daß die Zahl der Arbeits-



Bundesminister Dr. Blüm
losen zu hoch ist und daß sie uns alle beunruhigen muß.

(Heyenn [SPD]: Ist die auch gestiegen?)

Es streitet doch überhaupt niemand ab, daß wir mit allen Kräften den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit aufnehmen müssen. Der heutige Tag ist dazu ein weiterer Beitrag: Die Steuerreform soll auch dem Beschäftigungs-Drive dienen, soll der Wiedereingliederung dienen, soll Kaufkraft schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Heyenn [SPD]: Unseriös!)

Das ist doch Ihre alte Kaufkrafttheorie, mit der auch die Tarifparteien gearbeitet haben!

(Heyenn [SPD]: Unseriös! Gehen Sie doch einmal darauf ein!)

Daß die Arbeitslosenzahl nicht so gesunken ist, wie die Beschäftigtenzahl gewachsen ist, liegt daran — man hat es immer wieder schwer, das deutlich zu machen —, daß mehr Leute auf den Arbeitsmarkt drängen, mehr Frauen als je zuvor, und wir haben immer noch die geburtenstarken Jahrgänge. Das läßt den Beschäftigtenzuwachs und die Arbeitslosenzahlen nicht übereinstimmen.
Jetzt will ich aber noch etwas sagen: War das, was wir mit dem Geld gemacht haben, was heute möglicherweise die Gefahr eines Defizits heraufbeschwört, nicht sinnvoll? Hätten wir auf dem Geld sitzenbleiben sollen? Wollen Sie bestreiten, daß das sinnvoll war?

(Dreßler [SPD]: Darum geht es doch gar nicht! Sie haben Lasten nach Nürnberg verlegt, die Ihre Lasten waren!)

Was haben Sie gesagt? Wir hätten das Geld hin- und hergeschoben?

(Dreßler [SPD]: Kommen Sie doch einmal zur Sache!)

Wir hätten es zur Bundesanstalt für Arbeit geschoben? Deshalb frage ich Sie in aller Öffentlichkeit: Hätten wir nicht seit 1. Januar 1985 für die Arbeitslosen ab dem 50. Lebensjahr das Arbeitslosengeld verlängern sollen? War das abgeschoben, oder war das sozialpolitisch sinnvoll?

(Widerspruch bei der SPD — Zurufe von den GRÜNEN)

Hätten wir nicht zum 1. Januar 1986 ab dem 45. Lebensjahr das Arbeitslosengeld auf 16 Monate verlängern sollen? Hätten wir nicht ab dem 55. Lebensjahr auf eine Höchstdauer von 24 Monaten gehen sollen? War das unsinnig? War das Kostenverschiebung?

(Dreßler [SPD]: Thema verfehlt! 8. Novelle, Herr Kollege!)

Nein, 3,8 Milliarden haben wir für dieses ganze Paket arbeitsmarktpolitisch sinnvoller Maßnahmen ausgegeben. Hätten wir sie nicht ausgegeben, würde jetzt nicht die Defizitgefahr bestehen.
Wir haben doch den Menschen helfen wollen, beispielsweise dadurch, daß wir ab 1. Juni 1987 den Zugang von Jugendlichen zu den beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen erleichtert haben, daß wir ab 1. Juli 1987 die Kurzarbeitergeldbezugsfrist in der
Stahlindustrie auf 36 Monate verlängert haben. Wollen Sie das nachträglich zu einem Fehler erklären? Wollen Sie nachträglich zurücknehmen, daß wir zum 1. Januar 1988 die Laufzeit der Lohnkostenzuschüsse für Ältere von 5 auf 8 Jahre verlängert haben? Wollen Sie das zurücknehmen?

(Heyenn [SPD]: Nein, aber sagen Sie doch einmal, welches Geld Sie dafür abgeholt haben!)

3,8 Milliarden für diese Arbeitsmarktpolitik; die Rücklage betrug 4,1 Milliarden.

(Dreßler [SPD]: Thema verfehlt!)

Zugleich wurde die Bezugsdauer beim Überbrükkungsgeld für Arbeitslose, die sich selbständig machen, auf sechs Monate verdoppelt.
Ich finde es richtig, daß wir nicht auf dem Geld sitzengeblieben sind, sondern es für die Menschen ausgegeben haben. Ich leugne nicht, daß heute Defizitgefahren bestehen, aber ich sage noch einmal: weit unter der Größe, die Sie in Ihrer Zeit locker zu verantworten hatten! Die Höhen einer solchen Haushaltsführung werden wir Gott sei Dank nie mehr erreichen. Wir haben das Geld sinnvoll angewendet.
Ich will die Gelegenheit auch nutzen, mich erstens bei der Bundesanstalt für ihren Einsatz zu bedanken und zweitens vom Parlament her allerdings auch zu sagen: Wir genehmigen nicht Haushalte als leeres Blatt Papier; wir erwarten auch, daß sich die Bundesanstalt für Arbeit mit ihrer Selbstverwaltung an die genehmigten Haushalte hält. Das ist ein Erfordernis einer seriösen Politik.

(Dreßler [SPD]: Also noch weitere Rückführung der Qualifizierung!)

— Das sagt ausgerechnet ein Oppositionspolitiker, bei dem in der Regierungszeit seiner Partei noch nicht einmal halb so viele Arbeitnehmer Qualifizierungsmaßnahmen in Anspruch nehmen konnten wie heute.

(Dreßler [SPD]: Da hatten wir eine halbe Million weniger Arbeitsuchende!)

— Sie reizen mich immer, die Zahlen zu wiederholen. Berufliche Bildung: 6,24 Milliarden DM geben wir 1988 dafür aus. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: 3,37 Milliarden DM im Jahr 1988. Im Vorjahr waren es 3,18 Milliarden DM. Ist das weniger? Es ist mehr als im vorigen Jahr. — Förderung der Arbeitsaufnahme: 575 Millionen DM. Mehr als im Vorjahr. Berufliche Rehabilitation: 2,47 Milliarden DM im Jahr 1988, im Vorjahr waren es 2,45 Milliarden DM. Wir geben also für berufliche Rehabilitation mehr als im Vorjahr aus. Wie kommen Sie denn dazu, den Eindruck zu erwekken, als machten wir Kahlschlagpolitik?
Nein, wir betreiben eine Politik einer qualitativen Konsolidierung; denn nach einem solch steilen Anstieg der Qualifizierung rät auch der gesunde Menschenverstand, daß wir uns auf dieser Höhe nun bemühen, die Qualität dieser Maßnahmen zu verbessern. Ich nutze die Gelegenheit, auch an die Arbeitgeber zu appellieren, die Qualifizierungsaufgabe



Bundesminister Dr. Blüm
nicht nur der Bundesanstalt zu überlassen, sondern in ihren Betrieben die Arbeitnehmer weiterzubilden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107414500
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1107414600
Frau Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesarbeitsminister, es fällt schwer, sich in fünf Minuten mit den Ungereimtheiten, die Sie eben hier vertreten haben, auseinanderzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will dies aber bei einigen Punkten versuchen.
Wenn ich von Ihnen Prognosezahlen höre, werde ich sehr hellhörig. Sie hatten 1983 in einem Interview mit dem „Saarländischen Rundfunk" gesagt, 1985 hätten wir weniger als eine Million Arbeitslose. Prognose 1983 Blüm.

(Bundesminister Dr. Blüm: Auch das nicht!)

Zweite Bemerkung: Sie haben eben darauf hingewiesen, daß die zinsgünstigen Kredite, die auf Grund von Maßnahmen der Bundesregierung den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden, zu einer lebhaften Nachfrage der Gemeinden geführt haben. Sie haben vergessen, hinzuzufügen, daß über 40 % der Nachfrage von baden-württembergischen und bayerischen Gemeinden kommt, Gemeinden, die im Regelfall sehr wohlhabend sind, und daß die Gemeinden, die eigentlich Geld brauchen, um zu investieren, kein Geld haben, weil die Sozialhilfelasten sie erdrücken,

(Beifall bei der SPD)

im Ruhrgebiet, anderswo in Regionen mit extrem hoher Arbeitslosenquote. Das heißt, diese Maßnahmen, die Sie eingeleitet haben, tragen überhaupt nicht dazu bei, in den Regionen zu helfen, wo wir einen hohen Sockel an Arbeitslosigkeit haben, weil sie an den betroffenen Gemeinden just vorbeizielen.
Dritte Bemerkung: Sie haben auf den Beschäftigungszuwachs hingewiesen. Sie haben dabei zweierlei vergessen. Sie haben vergessen, dazuzusagen, daß das Gesamtarbeitsvolumen rückläufig ist, daß wir nur deshalb Beschäftigungszuwachs gehabt haben, weil die Gewerkschaften gegen den erbitterten Widerstand der Bundesregierung Arbeitszeitverkürzungen durchgesetzt haben.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott! Dieses uralte Märchen!)

Sie haben ferner vergessen, hinzuzufügen, daß inzwischen immer mehr Menschen bereit sind, zu Tagelöhnerverhältnissen Arbeit anzunehmen.

(Kraus [CDU/CSU]: Wo denn?)

— Ich kann Ihnen Beispiele aus meinem Wahlkreis sagen, wo Menschen bereit sind, Pförtnerjobs auf Zeitvertragsbasis für 5 DM die Stunde zu übernehmen. Das ist Tagelöhnerei. Das ist ein Ergebnis Ihres sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetzes.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Neben dem Arbeitslosengeldbezug, zusätzlich, ohne es anzugeben!)

Sie haben von den Leistungen der Bundesregierung an die Arbeitslosen gesprochen. Sie haben vergessen, hinzuzufügen, daß der größte Block der Menschen, die unter Sozialhilfebedingungen leben müssen, Arbeitslose sind, daß die Leistungen hinten und vorne nicht ausreichen, diesen Menschen ein einigermaßen menschenwürdiges Leben zu gewähren, daß die größten Teile der Sozialhilfeausgaben von Menschen aufgezehrt werden, die wegen Arbeitslosigkeit Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen.
Sie haben davon gesprochen, es gehe jetzt darum, die Qualität der Qualifizierungsmaßnahmen auf einem hohen Niveau zu stabilisieren. Der Kern dessen, was gegenwärtig passiert, ist genau das Gegenteil. Bei den freien Trägern von Bildungsmaßnahmen geht täglich die Angst um, weil auf Grund von entsprechenden Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit — Sie haben sie dazu genötigt —, insbesondere die Verdingungsordnung für Leistungen, inzwischen Träger mit Dumpingpreisen diejenigen Träger, die wirklich qualifizierte Mitarbeiter haben, die nach allen Kenntnissen, die wir haben, die jungen Arbeitslosen, die erwachsenen Arbeitslosen zu günstigen Bedingungen qualifizieren konnten, zunehmend aus dem Markt herausdrängen. Sie behandeln die Bildung inzwischen wie eine Ware. Wer am kostengünstigsten anbietet, bekommt den Zuschlag. Dies wird dazu führen, daß die wirklich guten Träger aus dem Markt herausgedrängt werden, was zu Lasten der Arbeitslosen geht, weil eine vernünftige Qualifizierung bei diesen Konditionen nicht mehr möglich sein wird.
Man müßte Sie zusätzlich fragen: Wenn es richtig ist, daß in diesem Jahr die Reserven von etwa 4 Milliarden DM abgeschmolzen werden, was wollen Sie dann nächstes Jahr machen, wenn es keine abschmelzbaren liquiden Reserven mehr gibt? Was sind dann die Auffangpositionen der Bundesregierung für einen Zeitraum, der unmittelbar vor uns steht? Ich frage den Bundesarbeitsminister ausdrücklich, ob er die Auffassung seines Bundeskanzlers unterstützt, die folgendermaßen zum Ausdruck kommt. Heute ist in der „Neuen Ruhr Zeitung" unter der Überschrift „Kohl lehnt Verantwortung für Arbeitslosenzahlen ab" zu lesen:

(Dreßler [SPD]: Wo sind sie?)

CDU und Bundesregierung lehnen es ab, die Verantwortung für die hohen Arbeitslosenzahlen zu übernehmen. Die Hauptverantwortlichen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit seien die Tarifpartner, erklärten gestern Bundeskanzler Kohl und CDU-Generalsekretär Geißler.
Ich frage, ob es auch die Auffassung des Bundesarbeitsministers ist, daß die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in die ausschließliche Zuständigkeit der Tarifpartner geschoben wird.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich frage Sie, wer von den Tarifpartnern in den vergangenen Jahren seinen Beitrag dazu geleistet hat. Sie wissen besser als ich, unter welch erbitterten Umständen und mit welch großen Schwierigkeiten die IG Metall 1984 den Einstieg in die 35-Stunden-Woche durchsetzen konnte und daß in ihrem Gefolge andere Gewerkschaften davon Gebrauch gemacht haben.



Schreiner
Die einzigen, die seit 1982 einen wirklichen Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit geleistet haben, sind die deutschen Gewerkschaften gewesen.

(Lachen bei der CDU/CSU — Kolb [CDU/ CSU]: Oje! Das sind aber Ammenmärchen!)

Wenn in einer solchen Situation der amtierende Bundeskanzler öffentlich erklärt, die Bundesregierung sei für Massenarbeitslosigkeit gar nicht mehr zuständig, dann frage ich, was Sie unter einem solchen Bundeskanzler im Bundesarbeitsministerium noch zu suchen haben.

(Beifall bei der SPD — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Lafontaine läßt grüßen! — Seiters [CDU/CSU]: Jetzt weiß ich, warum der Lafontaine nicht auf DGB-Veranstaltungen sprechen will! — Kolb [CDU/CSU]: Sprechen darf! Er wird ausgeladen!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107414700
Das Wort hat Frau Beck-Oberdorf.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107414800
Herr Blüm, das ist ja genau der Punkt, jetzt haben Sie eine gute Konjunktur, und jetzt müssen Sie antworten. Sie können bei der Massenarbeitslosigkeit nicht mehr auf bessere Zeiten vertrösten, in denen eine bessere Konjunktur kommt, sondern Sie haben die gute Konjunktur. Und Sie haben trotzdem 2,5 — ich sage 3,5 bis 4 — Millionen Erwerbslose.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Eine tolle Zahl!)

Das ist doch das Problem. Und jetzt müssen Sie beantworten, wie Sie nun damit umgehen wollen, wo es offensichtlich trotz vagabundierenden Finanzkapitals und trotz guter Investitionsmöglichkeiten nicht gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist doch der Punkt, um den wir streiten.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen kann die Schlußfolgerung nur sein, daß die Arbeitszeit verkürzt werden muß, wenn Sie — ich sage es noch einmal — die Erwerbslosigkeit wirklich beseitigen wollen.
Die Produktivitätssteigerungen fressen im Augenblick das Wachstum auf. Sie müssen beantworten: Wie hoch soll denn nach Ihrer Meinung das Wachstum ausfallen? In welchen Prozentzahlen soll sich das denn bewegen?
Ich kann innerhalb zwei Minuten nicht erschöpfend argumentieren. Ich kann nur sagen: Da gibt es doch auch noch das ökologische Problem — das sage ich auch zu dieser Seite, der SPD — , das nicht nur sonntags reklamiert werden darf, sondern das wir berücksichtigen müssen, wenn wir uns entscheiden: Wollen wir Erwerbsfähigkeit nur über Wachstum der Wirtschaft schaffen? Oder wollen wir nicht sagen: Es muß darum gehen, bei dem hohen Stand, den wir erreicht haben, Arbeit umzuverteilen und neue Lebensqualität für alle Menschen zu schaffen, statt immer noch weiter zu kurbeln,

(Kolb [CDU/CSU]: Wer bezahlt das?)

bis der Laden uns um die Ohren fliegt — was ja im Grunde genommen schon allmählich angefangen hat —.
Noch ein Wort zur Qualifizierungsoffensive. Qualifizierung löst nicht alles, sondern bedeutet oft schlichtweg Verdrängung, wie wir es z. B. im Augenblick bei der Lehrstellensuche haben, wo die Realschüler bereits die Hauptschüler verdrängt haben. Das haben wir überall. Es wird gesagt: Qualifiziert euch! Qualifiziert euch! Und dann kommen die hochqualifizierten Leute und verdrängen die, die zwar eine niedrigere Eingangsqualifikation haben, aber ebenfalls das Recht auf Arbeit haben müßten.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107414900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strube.

Hans-Gerd Strube (CDU):
Rede ID: ID1107415000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Opposition nimmt die finanzielle Situation der Bundesanstalt für Arbeit zum Anlaß, hier ein politisches Feuerchen zu entfachen.

(Frau Steinhauer [SPD]: Es ist schon an! Da ist nichts zu entfachen!)

Lassen Sie mich mit der Nüchternheit, die einem Haushälter zukommt, ein paar Anmerkungen machen.

(Dreßler [SPD]: Werden Sie nicht zynisch!)

Die finanzielle Entwicklung der Bundesanstalt für Arbeit hat in der Tat in den ersten drei Monaten dieses Jahres Risiken gezeigt. Der Ansatz für das Arbeitslosengeld war Ende März 1988 bereits zu 30,7 % verausgabt. Im Durchschnitt dieser drei Monate zählten wir 1,3 Millionen Bezieher von Arbeitslosengeld. Im Vorjahresvergleich waren das 130 000 Empfänger mehr und daher natürlich auch mehr Ausgaben. Dieser Anstieg kann in erster Linie mit der Verlängerung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld begründet werden. Es wäre falsch, würden wir die jetzigen Werte einfach für dieses ganze Jahr hochrechnen und festschreiben. Ich bin davon überzeugt, daß sich die Zahl der Leistungsempfänger in den kommenden Wochen sehr deutlich nach unten entwickeln wird.

(Heyenn [SPD]: Kommt der Sommer?)

— Hören Sie gut zu. Bereits in der ersten Aprilhälfte ist die Zahl der Leistungsempfänger um 150 000 Personen gesunken.

(Frau Steinhauer [SPD]: Langzeitarbeitslose!)

Der Herr Bundesarbeitsminister hat bereits den Vorsitzenden des Sachverständigenrats, Herrn Schneider, zitiert, der es für möglich hält, daß wir im Sommer zum erstenmal nach sechs Jahren unter zwei Millionen Arbeitslose haben. Man kann sich dem nur anschließen, wenn man folgende Faktoren einer konjunkturellen Verbesserung heranzieht: Steigerung der Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahr,



Strube
Steigerung der Auftragseingänge um 4 Prozent gegenüber den letzten Monaten des Vorjahres, Verbesserung der Geschäftserwartungen in der arbeitsintensiven Bauwirtschaft; Dollarkurs und Börsenkurse haben sich nach dem Börsenkrach vom Oktober 1987 erholt, und: letzte Prognosen der Wirtschaftsinstitute, die sich auf der Linie der Bundesregierung bewegen und zwei Prozent Wachstum voraussagen.
Die Qualifizierungsoffensive der Bundesanstalt für Arbeit ist außerordentlich erfolgreich, sie kostet aber auch viel Geld. Bei der beruflichen Fortbildung und Umschulung, aber auch bei der Rehabilitation muß entsprechend den finanzpolitischen Möglichkeiten gegengesteuert werden, wenn es nicht zu erheblichen Haushaltsüberschreitungen kommen soll. Als Haushälter erinnere ich daran, daß die Genehmigung des Haushaltsplans der Bundesanstalt für Arbeit davon ausging, daß sich die Bundesanstalt im Rahmen der Ansätze ihres Haushaltes zu bewegen hat. Ich erwarte daher von der Bundesanstalt alle Anstrengungen, sich in diesem Rahmen zu halten, so daß ein Bundeszuschuß nicht erforderlich wird.
Im Augenblick ist daher überhaupt noch nicht abschätzbar, ob nach Einsatz der Rücklagen nicht mehr abdeckbare Defizite entstehen.
Ich werde nicht durch Nennung von finanziellen Größenordnungen die Bundesanstalt aus ihrer finanzpolitischen Verantwortung entlassen. Ihre Aufgabe ist es jetzt, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten den Haushalt so zu fahren, wie er von der Selbstverwaltung aufgestellt und von der Bundesregierung genehmigt wurde. Ferner ist heute nicht auszumachen, wie die finanzielle Entwicklung im Jahre 1989 und später für die Bundesanstalt laufen wird.
Bei den Beratungen über den Bundeshaushalt 1989 wird zu erörtern sein, mit welcher Finanzentwicklung im Jahre 1989 und in den Folgejahren bei der Bundesanstalt zu rechnen ist. Heute bereits den Kollaps an die Wand zu malen bringt keinen Gewinn.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107415100
Das Wort hat der Abgeordnete Sieler.

Wolfgang Sieler (SPD):
Rede ID: ID1107415200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Ausführungen des Bundesarbeitsministers Blüm kann ich nur sagen: Es war nichts anderes zu erwarten.
Zu Ihren Ausführungen, Herr Kollege Strube. Das Prinzip Hoffnung ist zwar ein nettes Prinzip, nur eignet es sich natürlich nicht besonders für eine vernünftige und zukunftsorientierte Politik.
Die Ausführungen von Herrn Minister Blüm geben immerhin Anlaß, noch einmal darauf hinzuweisen, daß er erneut auch heute trotz der Erklärungen und Feststellungen der Sachkundigen auch bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht bereit ist, zuzugeben, daß wir es in der Bundesanstalt mit ganz beachtlichen Finanzproblemen zu tun haben werden.
Nach den jetzt vorliegenden Informationen dürften im Jahre 1988 Finanzprobleme in einer Größenordnung von immerhin bis zu 1,5 Milliarden DM auf uns
zukommen. Die Hauptverantwortlichen dafür sind sowohl der Bundesarbeitsminister als auch der Bundesfinanzminister.

(Beifall bei der SPD)

Denn der Bundesfinanzminister verbreitet seit Wochen Wachstumsoptimismus. Selbst wenn man diese Auffassung teilt, ist doch wohl nicht zu bestreiten, daß die wirtschaftlichen Entwicklungen am Arbeitsmarkt vorbeigehen. Es ist ja offenkundig das entscheidende Versäumnis des Arbeitsministers, daß auch die Probleme des Arbeitsmarktes am Kabinett Kohl vorbeigehen.
Ein wenig möchte ich den Arbeitsminister allerdings auch in Schutz nehmen, denn er hat die Suppe auszulöffeln, die ihm der Finanzminister eingebrockt hat.

(Widerspruch bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Die SPD!)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der angeblich so stocksolide Dr. Stoltenberg betreibt in Wirklichkeit einen finanzpolitischen Kosmetiksalon, und er müßte eigentlich schon längst den Weg zum Konkursrichter antreten. Es war doch wohl reine Zahlenkosmetik, im Bundeshaushalt 1988 eine Neuverschuldung von 29,5 Milliarden DM auszuweisen, obwohl die fehlenden rund 10 Milliarden DM schon zu diesem Zeitpunkt erkennbar waren.
Nun will ich Ihnen einmal sagen, wie die Methode Stoltenberg funktioniert. Die Bundesregierung brüstet sich mit der Verlängerung der Bezugszeit für Arbeitslosengeld. Was ist wirklich geschehen? Die Arbeitslosen, die bisher vom Bund Arbeitslosenhilfe erhielten, bekommen jetzt Arbeitslosengeld von der Bundesanstalt für Arbeit. Der Gewinner ist Herr Stoltenberg, denn er spart durch diese Operation jährlich etwa 1,5 Milliarden DM und drückt so künstlich die Neuverschuldung.
Zweitens wird unter dem Begriff „Neuordnung der Finanzbeziehungen zur Bundesanstalt" ein ganzes Paket sachfremder Aufgaben vom Bund auf die Bundesanstalt übertragen und somit der Bundeshaushalt um eine weitere runde Milliarde DM entlastet.
Und nun der Hammer: Die Bundesanstalt erhält durch den Bundesarbeitsminister die Auflage, die Mehrbelastungen im Haushalt der Bundesanstalt im Vollzug aufzufangen, damit der Bundeszuschuß nicht geleistet werden muß.
Die Rechnung für diesen Buchhaltertrick zahlen nun die Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ende 1987 lagen die Reserven der Bundesanstalt noch bei rund 4 Milliarden DM. Ende 1988 ist das Geld des Beitragszahlers restlos verfrühstückt, ja, es fehlen sogar noch weit über 1 Milliarde DM.
Ergebnis dieser Manipulation zugunsten des Bundeshaushaltes: Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und für Qualifizierungsmaßnahmen werden gekürzt. Seit Wochen werden die meisten Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hause aus den örtlichen Arbeitsämtern mit Briefen über diesen Vorgang bombardiert und auf die verheerenden Auswirkungen auf die örtlichen Arbeitsmärkte aufmerksam gemacht.



Sieler (Amberg)

1989 wird die Situation der Bundesanstalt noch weit schlimmer aussehen. Schon jetzt ist eine Finanzierungslücke von rund 5 Milliarden DM zu erkennen. Wir vermuten nicht zu Unrecht, meine Damen und Herren, daß Sie mit einschneidenden Leistungskürzungen und Beitragserhöhungen versuchen werden, dieses Loch zu stopfen, statt einen angemessenen Bundeszuschuß zu zahlen oder die Arbeitslosigkeit aktiv zu bekämpfen.
Wir werden diese unehrliche Politik nicht mittragen. Wir werden aber auch nicht zulassen, daß die Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt, also Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulung und Fortbildung, geschlachtet wird. Selbst in der Wirtschaft stößt diese Politik, Herr Minister, zunehmend auf Widerstand.
Nehmen Sie endlich zur Kenntnis: Mit Ihrer kurzsichtigen Politik des Wegdrückens, des Verschiebens und des Verharmlosens von Defiziten und Belastungen aus dem Bundeshaushalt auf die Haushalte der Sozialversicherungsträger gefährden Sie den sozialen Frieden und die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Die Rede hätten wir gern vor sechs Jahren gehört, Herr Kollege!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107415300
Das Wort hat der Abgeordnete Thomae.

Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1107415400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte wird von seiten der Opposition wieder der Versuch unternommen, immer die Bundesregierung zum Hauptverantwortlichen zu machen.

(Frau Steinhauer [SPD]: Das stimmt doch!)

Das ist insofern verwunderlich, als es der Opposition doch wohl nicht entgangen sein kann, daß in erster Linie die Tarifpartner für die Lohn- und Arbeitsbedingungen verantwortlich sind.

(Zuruf von der SPD: Ach, Herr Thomae!)

Ihnen muß es bewußter werden, daß der Grat zwischen der erwünschten Erhöhung der Einkommen einerseits und der beschäftigungs- und stabilitätspolitisch abträglichen Erhöhung der Lohn- und Lohnnebenkosten andererseits sehr schmal ist. Dieser Grat scheint mir bei den letzten Tarifverhandlungen fast überschritten worden zu sein.
Wenn jetzt der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine versucht, einige ökonomische Fakten in die Debatte einzubringen, so ist festzustellen, daß diese nicht neu sind. Neu und bemerkenswert ist jedoch, daß es die Sozialdemokraten sind, die sich jetzt hier Gedanken machen.
Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren mit Milliarden öffentlicher Gelder neue Arbeitsplätze geschaffen. Dabei wurden sehr unterschiedliche Initiativen ergriffen: befristete Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen,

(Heyenn [SPD]: Dadurch sind ordentliche weggefallen!)

Qualifizierungsmaßnahmen, Existenzgründungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüsse, Vorruhestand und letztlich Ausbildungsprogramme für benachteiligte Jugendliche.

(Heyenn [SPD]: Warum fällt der Vorruhestand denn weg?)

Eines möchte ich hier im Zusammenhang mit der achten AFG-Novelle hervorheben. Wir haben bei der Verabschiedung dieser Novelle festgelegt, daß finanzielle Belastungen und Gefahren auf die Bundesanstalt für Arbeit zukommen. Ich bin daher nicht bereit, die AFG-Leistungen zu kürzen.

(Frau Steinhauer [SPD]: Aha!)

Ich bin auch nicht bereit, einer Erhöhung des Beitragssatzes zuzustimmen.

(Frau Steinhauer [SPD]: Deshalb wird zurückgefahren! — Heyenn [SPD]: Was denn?)

Meine Damen und Herren, ferner möchte ich eines deutlich hervorheben: Die Bundesanstalt für Arbeit kann zwar ihre Leistungen und Maßnahmen durch Impulse und Überbrückungen erheblich verbessern; sie muß aber auch Prioritäten setzen. Wir müssen endlich den Mut haben, auch hier Erfolgskontrollen durchzuführen.
Wir müssen aber fernerhin für die jugendlichen Arbeitslosen und für die anderen Arbeitslosen auch neue Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Für mich bieten sich hier folgende an: Verbesserung der Berufsfindung, Schaffung von Einstiegstarifen in den Tarifverträgen, Einbau von Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen und vor allen Dingen verstärkter Einbau der Fort- und Weiterbildung unter Einbeziehung gewisser Urlaubszeiten in die Tarifverträge. Fernerhin: Formen flexibler Arbeitszeit, Erhöhung der Mobilität und Auflösung des völligen Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt.

(Zuruf von der SPD: Höre sich das einmal einer an!)

Außerdem, meine Damen und Herren, müssen wir endlich den Mut haben, neue Potentiale für Arbeit aufzuspüren und zu realisieren.

(Heyenn [SPD]: Gelobt sei das Kapital!)

Neuere Untersuchungen untermauern nämlich die These, daß im Teilzeitbereich, im privaten Dienstleistungsbereich, im Rahmen der Selbständigkeit und im Bereich der Umweltsanierung noch große Potentiale schlummern, und zwar in einer Größenordnung, die insgesamt weit über eine halbe Million Arbeitsplätze sichert.

(Rixe [SPD]: Unglaublich!)

Die bessere Nutzung der Teilzeitmöglichkeiten und der Ausbau der privaten Dienstleistungen müssen die Antwort auf ein verändertes Erwerbsverhalten sein. Die verstärkte Umweltsanierung muß als Beschäftigungsmotor der Bauwirtschaft genutzt werden. Die verbesserten Voraussetzungen zur Förderung der Selbständigkeit müssen die Antwort auf den Strukturwandel sein. Diese Bereiche — Teilzeit, private Dienste, Selbständigkeit und Umweltsanierung — könn-



Dr. Thomae
ten vier Eckpfeiler zu einer neuen Offensive gegen die Arbeitslosigkeit sein.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107415500
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Steinhauer.

Waltraud Steinhauer (SPD):
Rede ID: ID1107415600
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Was ich bisher vom Bundesarbeitsminister und von Vertretern der Koalition gehört habe, verharmlost die Probleme. Wenn ich dann höre: Lösung nur von Tarifverträgen her, dann kann ich nur sagen: Arbeitnehmer sollen hier die Risiken der Arbeitslosigkeit tragen.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Wie bitte?)

Die Bundesregierung bestreitet oder verharmlost bisher die massiven Probleme bei Fortbildung und Umschulung und Rehabilitationsmaßnahmen. Wissen Sie eigentlich nicht, was in den Arbeitsämtern los ist? Bekommen nur wir die Briefe? Ein Beispiel von vielen:
Wie ich gestern vom Arbeitsamt erfahren mußte, hat die Bundesanstalt für Arbeit alle Mittel für geplante Umschulungsmaßnahmen gestoppt. Hiervon bin auch ich persönlich betroffen. Meine Umschulung zur Industriemechanikerin sollte am 5. April 1988 beginnen. Ich meine, daß man diese Art, mit Arbeitslosen umzugehen, schon als Behördenwillkür bezeichnen kann.
So weit der Brief.
Es ist schon bemerkenswert, wie es der Bundesregierung bisher gelungen ist, mit verwinkelten Schachzügen die hausgemachten Probleme mit der 8. Novelle zum AFG hier zu verschleiern. Das kann man nicht durchgehen lassen. Wir werden unverblümt verdeutlichen, daß die Bundesregierung die Arbeitsmarktpolitik kappt. Von der Kappung der ohnehin so minimalen Arbeitsmarktpolitik sind alle betroffen, aber besonders Behinderte, Jugendliche, Mädchen und Frauen. Ich fordere Sie auf, mein Herr Bundesarbeitsminister, sich einmal vor Ort zu erkundigen, was eigentlich Sache ist.

(Zuruf von der SPD: In Dortmund einmal zum Arbeitsamt gehen!)

Anschlußmaßnahmen im Bereich von Arbeit und Lernen werden ab Herbst 1988 in Frage gestellt, und gerade diese Maßnahmen hatten gute Erfolge. Wenn hier eine Erfolgskontrolle notwendig ist, dann kann ich Ihnen einmal sagen, daß 80 % im Kreis SiegenWittgenstein anschließend einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle fanden. 50 % der Jugendlichen haben ihren Hauptschulabschluß nachgeholt. Einschränkungen dieser so sozialpolitisch wichtigen Maßnahmen, das ist eine klare Politik zu Lasten der Benachteiligten. Es wird in Kauf genommen, daß die Jugendlichen zunächst einmal einige Monate lang arbeitslos sind.
Weiterhin ist festzustellen, daß auch weitere Zielgruppen von den Einschränkungen besonders betroffen sind. Es trifft die Mädchen, die ohnehin bei der
Ausbildungsplatzsuche Schwierigkeiten haben. Es trifft die Frauen, die versuchen, nach der Kindererziehung wieder in das Arbeitsleben zu kommen, indem nämlich die Rückkehrmaßnahmen nach § 41 a AFG massiv zurückgeführt werden. Gute Maßnahmen, die Geld kosten, werden ebenfalls zurückgeführt. Das ist die Folge des neuen Vergabeverfahrens. Quantitäten sollen zu Lasten der Qualität einigermaßen gerettet werden.
Nun ist ein neuer Erlaß in Vorbereitung, der die Berufsförderung für Behinderte betrifft. Darin wird festgestellt, daß Rechtsansprüche nicht abgelehnt werden können, aber man soll mit dem Tätigwerden etwas langsamer vorgehen.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Konkret heißt das: Hinhalten und Vertrösten, bis hoffentlich keine Lust mehr vorhanden ist. Im Klartext: Rechtsansprüche werden verwässert. Die Verfahrensverzögerungen bedeuten eindeutig eine Rechtsbeugung, ein Unterlaufen des Arbeitsförderungsgesetzes.
Die Bundesregierung ruiniert die Arbeitsmarktpolitik, verlagert die Probleme auf die Bundesanstalt für Arbeit, auf die Beschäftigten beim Arbeitsamt und auf die von der Streichung betroffenen Arbeitslosen. Die Schäden durch Vollbremsung zeichnen sich schon jetzt ab. Im Laufe des Jahres, besonders in der zweiten Jahreshälfte, wird es noch schlimmer; denn es dürfen keine Umschulungsmaßnahmen mehr begonnen werden. Dann bestreiten Sie noch ein Defizit. Was für ein Widerspruch! Erst wird für die Qualifizierungsoffensive geworben, und dann wird ruckartig auf die Bremse getreten. Der bereits eingetretene Vertrauensverlust ist beträchtlich.
Wir fordern einen Kurswechsel. Treten Sie, Herr Bundesarbeitsminister, einmal gegen Ihren Haushaltsminister an!

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Wir verlangen aktive Arbeitsmarktpolitik, und dazu gehört Chancenverbesserung auf dem Arbeitsmarkt durch mehr Qualifizierung und Umschulung statt weniger Qualifizierung und Umschulung. Solche Überschriften, wie sie in einem Brief an uns stehen, dürfen nicht Realität werden: Kein Geld mehr für Behinderte und Arbeitslose, keine Ausbildungsplätze mehr für Behinderte und Jugendliche, keine Umschulung und Übungswerkstatt mehr im Bereich Holz, keine Berufsvorbereitungen mehr für Sonderschüler. Das sind Zitate aus Briefen. Da bestreiten Sie, daß es überhaupt ein Defizit gebe! Das bestellte Telegramm des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit ist schon witzig. Offensichtlich hat er seit Januar andere Erkenntnisse. Aber er ist schon soweit, daß er die Arbeitsämter angewiesen hat: Nun stoppt einmal. Überall ist die Unruhe da; es darf nichts mehr angefangen werden.
Übrigens, Herr Bundesarbeitsminister, zu den Problemen, daß die Chancen für die nichtqualifizierten Arbeitslosen verschlechtert werden, kommt noch hinzu, daß Sie gute Institutionen, die mit der Qualifizierung und Umschulung beauftragt sind, in Frage stellen und daß neue Arbeitslosigkeit erzeugt wird.

(Beifall bei der SPD)





Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107415700
Das Wort hat der Abgeordnete Kraus.

Rudolf Kraus (CSU):
Rede ID: ID1107415800
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal, Frau Steinhauer, ist es ja bei weitem nicht so weit, wie Sie es hier darstellen. Tatsache ist wohl, daß noch Ende März dieses Jahres 360 000 Personen in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung beschäftigt waren. Das waren 46 700 oder 15 % mehr als vor einem Jahr. Es ist einfach falsch, zu sagen, daß auf diesem Sektor bis zum heutigen Tag ein Abbau stattgefunden hat.
Es war für mich sehr interessant, heute zu hören, wie von den beiden Oppositionsparteien, sowohl von den GRÜNEN als auch von der SPD, sozusagen zwei Königswege für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit angeboten worden sind. Die GRÜNEN sprechen von Umverteilung von Arbeit. Das hört sich zunächst gut an. Wenn es aber ins Detail geht, dann möchte ich gern wissen, wie das vonstatten gehen soll. Man unterstellt nämlich, wenn man eine solche Forderung aufstellt, daß die Masse der Arbeitslosen etwa genauso qualifiziert, genauso leistungsfähig und genauso leistungsbereit ist wie die Leute, die bereits in Arbeit sind. Genau das ist eben nicht der Fall. Das müssen wir, ob es uns gefällt oder nicht, einmal zur Kenntnis nehmen. Daran liegt es auch, daß dieser Weg so einfach nicht zu beschreiten ist. Wir wollen schließlich auch nicht, daß die Produktivität unserer Wirtschaft deutlich leidet, weil das mit Sicherheit auch dazu führen würde, daß wir gerade die Leistungen im sozialen Bereich, so wie wir sie heute haben, nicht aufrechterhalten könnten.
Frau Beck-Oberdorf hat hier gesagt, es sei so, daß die Realschüler den Volksschülern heute die Arbeit wegnehmen und so weiter und so fort. Tatsache ist aber, daß auch für die weniger qualifizierten Kräfte heute durchaus, zumindest in Ballungsgebieten — und ich möchte überhaupt nicht leugnen, daß die Verhältnisse in der Bundesrepublik regional ganz unterschiedlich sind — , Möglichkeiten bestehen würden. Wie wäre es sonst erklärlich, daß z. B. im Bereich der Gastronomie oder auch in Krankenhauswesen in den Ballungsräumen heute Kräfte, und zwar sehr viele, gesucht werden, die auf dem Arbeitsmarkt einfach nicht vorhanden sind?
Da wird der Einwand kommen: Diese Institutionen zahlen zuwenig. Ich möchte jetzt einen Kronzeugen aufrufen, der völlig unverdächtig ist. Da gibt es das Collegium Augustinum in München, eine angesehene Einrichtung der Evangelischen Kirche, die nicht in dem Ruf steht, nur dem schnöden Profit hinterherzulaufen oder etwa ihr Personal, ihre Bediensteten besonders auszubeuten. Dieses Collegium Augustinum hat sich veranlaßt gesehen, an die Abgeordneten, jedenfalls an einige, einen Brief zu schreiben, in dem dazu aufgefordert wird, Ausländerinnen heute schon wieder eine Arbeitserlaubnis für Deutschland zu erteilen, um sie im Bereich der Altenhilfe ausbilden und einsetzen zu können. Wie erklärt man sich das angesichts des Millionenheeres der Arbeitslosen?
Ich glaube, daß unser Problem der Arbeitslosigkeit eben sehr vielschichtig ist. Es ist nach Regionen, berufsspezifisch und altersgruppenspezifisch ganz unterschiedlich. Natürlich kommt man, wenn man nach
dem Grund der Arbeitslosigkeit fragt, auch auf ganz unterschiedliche Ergebnisse. Das reicht von der weniger hohen Qualifikation bis natürlich hin zur Zumutbarkeit.
Ein weiterer Punkt, der hier immer wieder angesprochen wurde, auch von Kollegen der SPD, war die Arbeitszeitverkürzung. Es ist gesagt worden, das sei der ganz große Weg. Lassen Sie mich zunächst einmal eines feststellen: Wenn jemand, der Arbeit wirklich als Arbeit empfindet, vor die Wahl gestellt wird, an Stelle von 40 Stunden bei derselben Bezahlung nur 30 Stunden zu arbeiten, dann finde ich, daß das Opfer wahrlich nicht gar so groß ist. Deswegen wird man diesem Vorschlag auch leicht zustimmen. Bloß eines wird damit natürlich nicht eintreten: daß damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Es wird vielmehr so sein, daß die Arbeit zu sehr verteuert wird. Ich behaupte gar nicht, daß der Nettolohn des Arbeiters heute, insbesondere dort, wo die Mieten hoch sind, etwa besonders großartig sei. Tatsache ist aber, daß die Lohnkosten insgesamt einfach zu hoch sind, als daß mehr Arbeit auf den Markt kommen kann. Alles, was man tut — dazu gehört auch diese Arbeitszeitverkürzung —, um genau dieses Mißverhältnis noch zu vergrößern, wird dazu führen, daß wir noch weniger Arbeitsplätze zur Verfügung stellen können.
In den nächsten Monaten ist es unsere Aufgabe, unter allen Umständen zu versuchen, dem Problem detaillierter beizukommen, die einzelnen Gründe besser herauszuarbeiten und die Arbeitslosigkeit, gezielter, auf den Punkt gearbeitet, zu bekämpfen. Ich bin in der Tat der Auffassung, daß das eine der wichtigsten Tätigkeiten unseres Parlaments, unserer Regierung für die nächste Zeit sein wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107415900
Das Wort hat der Abgeordnete Schemken.

Heinz Schemken (CDU):
Rede ID: ID1107416000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sicherlich das Recht der Opposition, einen Finger dort in die Wunde zu legen, wo etwas in der Verantwortlichkeit der Regierungskoalition nicht richtig verläuft. Diese Aktuelle Stunde gibt allerdings auch Gelegenheit, zu prüfen, wie die Verantwortlichen von gestern zu anderen Zeiten in der Verantwortung gehandelt haben. Hier zählen doch Tatsachen und Ergebnisse. Die angespannte Finanzlage der Bundesanstalt für Arbeit ist eindeutig — das darf ich noch einmal feststellen — darauf zurückzuführen, daß wir in großem Maße mit einer großen Leistung bei der Fortbildung, Umschulung, bei der Förderung und bei Qualifizierungsanstrengungen zugelegt haben.
Wer das kritisiert, muß sich auch einmal die Zahlen vom Anfang der 80er Jahre vorhalten lassen.

(Frau Steinhauer [SPD]: 1 Million Arbeitslose mehr!)

— Ja, Sie hatten einen Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit mit teilweise hohen Beiträgen, der immerhin mit defizitären Ergebnissen von bis zu 8 Milliarden DM abschloß. Allerdings standen die entsprechenden Leistungen nicht dagegen, Frau Steinhauer; das hat jetzt gar nichts mit der Arbeitslosigkeit zu tun, son-



Schemken
dern mit dem, was ich für das, was ich an Beiträgen einsetze, im Hinblick auf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erreiche. Sie hatten gerade 100 000 Arbeitslose in Qualifizierungsmaßnahmen, wir haben über 360 000 in Qualifizierungsmaßnahmen.

(Zuruf von der SPD: Auch mehr Arbeitslose haben Sie!)

Im übrigen, Herr Heyenn, haben wir im Vergleich zum vergangenen Jahr noch einmal um beinahe 50 000 zugelegt.
Wer einen Solidarbeitrag fordert, wie Sie das immer tun, der wirkt eben nicht glaubwürdig — das müssen Sie sich auch einmal in dieser Stunde sagen lassen —, wenn er die finanziellen Folgen einer solchen Arbeitsmarktpolitik kritisiert. Der wirkt nicht glaubwürdig. Solidarität bedeutet für uns immer noch

(Zuruf von der SPD)

— ja, das muß man einmal deutlich sagen; das fordern Sie doch ständig; Sie haben uns doch ständig gefordert — , daß der, der in Arbeit ist, bereit sein muß, auch für den mit einzustehen, der sich bemüht, unter eigenen Anstrengungen durch Qualifizierungsmaßnahmen wieder zu einem Arbeitsplatz zu kommen.

(Zuruf von der SPD)

— Ich komme gleich dazu, Herr Rixe. — Wer dies nicht als Zukunftsinvestition anerkennt, als einen Scheck, der auf die Zukunft gezogen wird, wirkt nicht glaubwürdig.
Wir betrachten den Einsatz dieser Mittel der Bundesanstalt für Arbeit als einen richtigen Weg. Wir brauchen uns deshalb nicht den Schuh anzuziehen, wenn Sie von einer unsoliden Finanzwirtschaft sprechen.

(Zuruf von der SPD: Nein, Stoltenberg! — Weitere Zurufe von der SPD)

Wir wollen die neue Lage einmal ganz deutlich festhalten: Auf einem hohen Niveau sind die Mittel für die individuelle Förderung und für Maßnahmen der beruflichen Bildung von bis zu 6,8 Milliarden DM im Haushalt 1988 stabilisiert worden. Wer trotzdem leugnet, daß die Zahl der Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen bis zum März im Zugang auf fast 157 000 mit einem Mehr von 21 900 gesteigert wurde, nimmt dies nicht zur Kenntnis und kann deshalb auch hier nicht mitreden.
Die neue Lage erfordert allerdings — das sage ich auch einmal deutlich — , daß von der Bundesanstalt für Arbeit, die immerhin einen Haushalt von fast 40 Milliarden DM zur Verfügung hat, neue Schwerpunkte gesetzt werden. Ich sage das ganz deutlich.

(Zuruf von der SPD: Aha! Was heißt das?)

Ein wichtiger Schwerpunkt, Herr Heyenn, muß nach wie vor sein, junge Menschen in Ausbildung und Arbeit zu bringen.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das tut in erster Linie die Wirtschaft!)

Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Es lohnt sich
gerade bei jungen Menschen, die Qualifizierungsoffensive verstärkt auszubauen, da die Arbeitslosigkeit
bei den 20- bis 25jährigen überdurchschnittlich mit über 14 % abnimmt.
Ich bin deshalb der Meinung, daß die Länder und die Bundesanstalt für Arbeit auch für die Mängel in der schulischen Bildung — hier spreche ich insbesondere die Länder an; es sollen ja nach einer Statistik des Landes Baden-Württemberg auch in Zukunft bis zu 50 000 Jugendliche ohne Hauptschulabschluß auf den Arbeitsmarkt kommen — mit in die Pflicht genommen werden müssen. Wir halten es deshalb für falsch, daß diese Maßnahmen aufgekündigt werden. Wir sind der Meinung, eine gemeinsame Anstrengung der Bundesanstalt für Arbeit mit den Ländern ist für die Umschichtung der Mittel notwendig, um diesem Anliegen für junge Menschen nachzukommen. Das sage ich ganz deutlich.
Wenn Sie von Erlassen sprechen, Frau Steinhauer, muß ich hier sagen: Diese Erlasse kommen nicht vom Bundesarbeitsminister. Die Bundesanstalt für Arbeit ist selbstverwaltet.

(Frau Steinhauer [SPD]: Aber sie ist angewiesen!)

Dann muß sich auch einmal ein Selbstverwaltungsorgan Gedanken machen, wie man bei einem so großen Haushalt von 40 Milliarden DM Mittel umschichtet zur Bewältigung der schicksalhaften Situation der jungen Menschen. Hierfür treten wir ein.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107416100
Letzter Redner ist Herr Abgeordneter Kolb.

Elmar Kolb (CDU):
Rede ID: ID1107416200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Heyenn sagte, die Beschäftigung bleibe zurück und die Beschäftigungsoffensiven würden nicht mehr so ausgeführt.

(Frau Steinhauer [SPD]: Dies stimmt!)

Herr Kollege Heyenn, ich habe mir einmal die Mühe gemacht, ein bißchen nachzuforschen, wer sich eigentlich jetzt um Qualifizierungsoffensiven bemüht. Ich habe schon fast den Eindruck, daß das für gewisse Institutionen eine phantastische Möglichkeit ist, an öffentliche Gelder zu kommen, um gewisse Dinge zu tun.

(Heyenn [SPD]: Denken Sie einmal an die Menschen, um die es geht! An die Menschen!)

— Moment! Wir kommen schon darauf. — Interessanterweise entdeckt jetzt plötzlich auch die Volkshochschule, daß man hier einen neuen Bedarf haben könnte. Das heißt, daß dort zum Teil auch Personen, die einen vollen Job haben, als Nebentätigkeit noch einmal eine zusätzliche Beschäftigung finden. Ich sage nur, auch an die Bundesregierung gewandt: Wir werden die Vergabepraxis der Bundesanstalt für Arbeit bei Fortbildungsmaßnahmen einmal genau untersuchen müssen. Dabei ist es nämlich nicht immer

(Heyenn [SPD]: Der Schemken hat gesagt, Sie hätten damit nichts zu tun! Das paßt doch nicht zusammen!)




Kolb
— ich würde halt einmal zuhören, dann könnte man darüber reden — nach der Art und Weise gegangen, wie ordentliche Kaufleute untereinander verfahren, sondern das ist manchmal auch schon fast in guter Kameraderie gegangen. Ich gebe dies zu bedenken.

(Frau Steinhauer [SPD]: Das sind üble Verdächtigungen!)

— Nein, meine liebe Frau Steinhauer, das kann ich beweisen. Im Gegensatz zu Ihnen spreche ich keine Vermutungen aus, sondern bleibe bei den Tatsachen.

(Frau Steinhauer [SPD]: Ich sitze in einem Ausschuß!)

Jetzt komme ich zu Ihrem Kollegen Schreiner. Herr Kollege Schreiner, ich habe mir am Montag, weil ich Arbeitskräfte suche, einmal erlaubt, die Zeitungen des Saarlandes daraufhin durchzublättern, ob ich dort in den Stellengesuchen eventuell jemanden finde, den ich brauchen könnte. Erstaunlicherweise habe ich dabei festgestellt, daß es auch bei Ihnen im Saarland eine Menge angebotene Stellen gibt, die anscheinend von denen nicht besetzt werden können, die Arbeit suchen. Ich selbst suche Kräfte für die Bauwirtschaft. Ich habe mir dann im Saarland sagen lassen müssen, daß diese dort auch gesucht werden. Ein bißchen scheinen wir schon einen in der Weise auseinanderlaufenden Arbeitsmarkt zu haben, daß wir auf der einen Seite Arbeit suchen, die nicht gefragt ist, und auf der anderen Seite, die Arbeit, die gefragt ist, nicht besetzen können.

(Schreiner [SPD]: Das ist doch kalter Kaffee, was Sie sagen!)

— Es kann ja sein, daß Ihnen die Wahrheit nicht paßt, Herr Schreiner.
Wir werden demnächst noch ein viel größeres Problem bekommen. Auf Steuerzahlerkosten erlauben sich viele junge Menschen, im Studium eine Berufsausbildung zu wählen, die nicht gefragt ist. Anschließend kommen sie zur Arbeitsverwaltung und sagen: „Beschäftige mich in diesem von mir frei gewählten, vom Steuerzahler finanzierten Beruf. " Weil dies nicht geht, kommen sie zur Bundesanstalt für Arbeit und sagen: „Schult uns bitte um, damit wir in Zukunft eine richtige Beschäftigung bekommen."

(Zuruf des Abg. Schreiner [SPD])

— Lieber Herr Schreiner, wissen Sie, Ihr Problem besteht darin, daß Sie eine harte und sachliche Diskussion nicht vertragen. Sie sind in der Polemik groß geworden, und Sie werden sicher auch dabei bleiben.
Interessant ist für mich, wenn wir jetzt die Zahl der Arbeitslosen betrachten, daß der DGB in Zeitungsanzeigen darauf hinweist, daß diejenigen, die keine Leistungen von der Bundesanstalt für Arbeit bekommen, doch ihre Dreimonatsfrist nutzen möchten, weil sich das später in der Rente hervorragend auswirke. Das mache immerhin 35 DM pro Jahr aus. Deswegen werden wir uns in diesem Hause schon einmal insgesamt der Mühe unterziehen müssen, darüber nachzudenken, ob diese 2,3 Millionen Arbeitslosen alle die gleichen Arbeitslosen sind, was ich entschieden bezweifle.
Eines habe ich aus der heutigen Debatte gelernt. Die Sozialpolitiker können egal wie viele Wohltaten machen, eines wird immer gleichbleiben: Es wird nie für die Wohltaten gedankt, sondern anschließend heißt es, es müsse noch mehr sein. Ihr Beitrag heute war nichts anderes. Es müsse dort noch mehr Geld ausgegeben werden. Woher es kommt, ist nicht die Frage. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, was insgesamt getan worden ist.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107416300
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 11/2146 —
Es wird sich um eine verkürzte Fragestunde handeln; denn es liegen nur noch vier Fragen vor. Ich weise darauf hin, daß anschließend mehrere Abstimmungen ohne Debatte stattfinden.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht der Herr Staatsminister Schäfer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 10 des Herrn Abgeordneten Emmerlich auf:
Gibt es für die Inhaftierung des deutschen Staatsangehörigen Adrian Kim in Südkorea seit dem 25. September 1987 hinreichende Haftgründe?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107416400
Herr Kollege, Herr Kim wurde am 25. September 1987 unter dem Verdacht der Spionage für Nordkorea verhaftet. Neben mehreren Reisen nach Nordkorea wurden ihm vor allem zahlreiche Treffen mit nordkoreanischen Agenten im Ausland — darunter in Staaten des Ostblocks — sowie die Annahme von Geldsummen und Flugscheinen für Reisen nach Nordkorea vorgeworfen. Kim wurde durch Urteil vom 4. April 1988 zu 15 Jahren Freiheitsstrafe sowie der Aberkennung der Bürgerrechte verurteilt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107416500
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1107416600
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß ein Gesetz, das Reisen in einen anderen Staat unter Strafe stellt, gegen elementare Menschenrechte verstößt?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es steht mir nicht zu, die Gesetzgebung des koreanischen Staates in Zweifel zu ziehen. Aber die Hinweise, die wir von unserer Botschaft haben, sind eindeutig die, daß Vorwürfe erhoben werden nicht nur hinsichtlich von Reisen des betreffenden Herrn nach Nordkorea, sondern auch hinsichtlich der Entgegennahme nicht unbeträchtlicher Summen von Geldern von nordkoreanischen Stellen im Zusammenhang mit diesen Reisen. Das ist der Vorwurf, der ihm in Südkorea gemacht worden ist. Dafür wurde er wegen Spionageverdachts vor Gericht gestellt. Ich kann eine solche Rechtsprechung hier leider nicht werten.




Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107416700
Zusatzfrage, bitte.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1107416800
Teilen Sie, Herr Staatsminister, meine Auffassung, daß Südkorea bis zum Zeitpunkt der Inhaftierung des deutschen Staatsangehörigen Kim eine Militärdiktatur war, die die Gerichte und die Strafverfolgungsorgane zu politischen Zwecken mißbrauchte und sie dazu verwandte, politische Gegner mundtot zu machen, sie zu inhaftieren, sogar zu foltern und sie, wie das bei politischer Justiz in diesem Sinne üblich ist, mit den Mitteln des Justizapparates auszuschalten?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich teile Ihre Meinung, daß es vor den Wahlen in Südkorea durchaus in unserem Sinn rechtlich bedenkliche Vorgänge gegeben hat, die ich im einzelnen nicht qualifizieren will. Aber ich darf darauf verweisen, daß das Urteil gegen den betreffenden Herrn am 4. April dieses Jahres erfolgt ist und daß es eine Berufungsverhandlung gibt, die ja noch keineswegs abgeschlossen ist.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107416900
Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Emmerlich auf:
Was hat die Bundesregierung bisher getan, um die Freilassung von Adrian Kim zu erreichen und um sicherzustellen, daß ein rechtsstaatliches Verfahren mit ausreichenden Verteidigungsmöglichkeiten durchgeführt wird und jederzeit humane Haftbedingungen gewährleistet sind?
Bitte schön.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, nach dem Eindruck der Botschaft in Seoul hat die südkoreanische Justiz das mittlerweile abgeschlossene erstinstanzliche Verfahren in einer Weise durchgeführt, die rechtsstaatlichen Vorstellungen gerecht wird. Herr Kim wird seit Oktober 1987 durch einen qualifizierten südkoreanischen Rechtsanwalt vertreten, den unsere Botschaft in Seoul vermittelt hat. Die Bundesregierung kann gegen die strafrechtliche Klärung des Falles Kim durch die südkoreanische Justiz keine Einwendungen erheben. Spionage für einen anderen Staat unterliegt auch nach unserem Rechtsverständnis einer strafrechtlichen Verfolgung. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, da der Verteidiger Kims, wie bereits gesagt, gegen das erstinstanzliche Urteil, nämlich der Freiheitsstrafe von 15 Jahren, Berufung einlegen wird.
Bundesminister Genscher hat gleichwohl den Fall Kim am 10. Februar 1988 gegenüber dem südkoreanischen Botschafter angesprochen und darum gebeten, man möge im Sinne einer baldigen Freilassung Kims bedenken, daß Kim jetzt deutscher Staatsangehöriger sei. Die Botschaft in Seoul hatte darüber hinaus im südkoreanischen Außenministerium angefragt, ob Aussichten für eine Begnadigung Kims anläßlich der Amnestie zur Amtseinführung des neuen Präsidenten bestünden. Kim wird seit seiner Inhaftierung intensiv von der Botschaft in Seoul betreut. Kim hat seine Haftbedingungen gegenüber der Botschaft als zufriedenstellend bezeichnet.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107417000
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1107417100
Herr Staatsminister, trifft es zu, daß seit der Wahl des Präsidenten keinerlei personelle, organisatorische, materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Veränderungen hinsichtlich der koreanischen Justiz stattgefunden haben, und, wenn das so ist, warum halten Sie Maßnahmen dieses Apparates für eine zureichende Erkenntnisquelle für die Bundesrepublik Deutschland und für die Bundesregierung?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Emmerlich, wir haben uns sehr wohl über den Ablauf dieses Prozesses kundig gemacht, und das Auswärtige Amt ist der Auffassung, daß es sich hier nicht um eine Angelegenheit handelt, die unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten gesehen werden kann, sondern es handelt sich um einen Spionageprozeß. In diesem Spionageprozeß sind, wie Sie wissen, Beschuldigungen erhoben worden, und dafür ist ein Urteil ausgesprochen worden. Eine Berufungsverhandlung läuft. Ich halte es schon für rechtsstaatlich bemerkenswert, daß es diese Berufungsmöglichkeit gibt.
Es ist außerdem sichergestellt, daß wir uns permanent bemühen, bei der südkoreanischen Regierung darauf Einfluß zu nehmen, um Herrn Kim, der inzwischen, wie er uns erklärt hat, aus patriotischen Gründen, um in seinem Land wirkungsvoller tätig werden zu können, deutscher Staatsangehöriger geworden ist, zu helfen. Wir haben die Hoffnung, daß es uns auf Grund unserer Bemühungen gelingen wird, die Situation für Herrn Kim zu verbessern.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107417200
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Emmerlich, bitte.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1107417300
Herr Staatsminister, darf ich davon ausgehen, daß Sie die rechtsstaatlichen Grundlagen des Verfahrens und des Urteils weiterhin kritisch prüfen insbesondere dann, wenn Ihnen das Urteil vorliegt, das auch vom Strafmaß her, selbst wenn die Vorwürfe zutreffen, als unmenschlich bezeichnet werden muß, und daß Sie jedem Verdacht, daß es rechtsstaatlich nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, nachgehen, und zwar auch durch politische Demarchen bei der Regierung Südkoreas?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung. Sie können sicher sein, daß wir uns nicht zuletzt auch auf Grund Ihrer Fragen sehr nachhaltig bemühen werden, auch den Verlauf des anstehenden Berufungsverfahrens sehr sorgsam zu verfolgen, und alles zu tun, um zu einem, wie wir glauben, guten Ausgang dieser Angelegenheit beizutragen. Ich darf wiederholen: Uns ist gesagt worden, es handelt sich dabei um einen Spionageprozeß, bei dem wir natürlich nicht das südkoreanische Recht ändern können. Aber in dem Sinne, den Sie eben beschrieben haben, wollen wir weiterhin tätig bleiben.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107417400
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Knabe.

Dr. Wilhelm Knabe (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107417500
Herr Staatsminister, nachdem die Regierung durch Sie erklärt hat, daß sie alles tun würde, um dem Fall vielleicht eine Wendung zum Besseren zu geben, frage ich, ob das auch so weit ginge, daß die Bundesregierung einen eigenen An-



Dr. Knabe
walt benennt, um etwas für die Rechte des inhaftierten Deutschen zu tun.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich hatte gerade darauf hingewiesen, daß dem Angeklagten Kim der Anwalt durch die Vermittlung der Botschaft zur Verfügung gestellt worden ist, daß wir über diesen Anwalt auch in Verbindung mit dem Angeklagten stehen und daß er uns gegenüber seine Haftbedingungen als gut bezeichnet hat.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107417600
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Fragen 12 und 13 der Abgeordneten Frau Eid werden auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 14 der Frau Abgeordneten Pack auf:
Wie wertet die Bundesregierung die außenpolitischen Aktivitäten der saarländischen Regierung in Paris?
Bitte, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, es steht jeder Landesregierung frei, im Ausland Grund und Gebäude zu erwerben. Gegen die Nutzung durch eine Wirtschaftsförderungsgesellschaft bestehen unsererseits keine Bedenken, solange nicht der Eindruck einer amtlichen landeseigenen Auslandsvertretung erweckt wird.
Die saarländische Landesregierung hat das im 16. Bezirk in Paris gelegene Gebäude 1987 von der ARBED-Saarstahl Völklingen erworben und beabsichtigt, es als „Maison de la Sarre" einzurichten.
Zwei Etagen des Gebäudes sind an die Firmen Saarstahl vermietet worden. Weitere Büroflächen sollen an saarländische Unternehmen vermietet werden. Zudem wird in dem Haus ein Büro der Saarländischen Gesellschaft für Wirtschaftsförderung eingerichtet werden, das u. a. französische Investitionen für das Saarland werben soll.
Des weiteren ist daran gedacht, Sitzungs- und Versammlungsräume für kulturelle Veranstaltungen, Seminare und Ausstellungen zu nutzen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107417700
Eine Zusatzfrage, bitte, Frau Abgeordnete Pack.

Doris Pack (CDU):
Rede ID: ID1107417800
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß der Ankauf dieser von Ihnen angesprochenen Villa, deren ehemaliger Besitzer ja die Vertriebsgesellschaft von Saarstahl war, eine nicht statthafte weitere Subventionierung von Saarstahl ist?
Schäfer, Staatsminister: Ich kann für die Bundesregierung landesinterne Vorgänge im Saarland schlecht beurteilen. Ich kann nur feststellen, daß das Saarland einen solchen Kauf für die Einrichtung eines Hauses in Paris vollzogen hat, daß es dort Wirtschaftsförderung betreiben will und daß das Geld an die besagte saarländische Firma geflossen ist. Aber es steht mir nicht zu, in Angelegenheiten des Saarlandes nun hier von seiten der Bundesregierung einzugreifen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107417900
Eine zweite Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Pack.

Doris Pack (CDU):
Rede ID: ID1107418000
Herr Staatsminister, ist die Möglichkeit gegeben, daß diese Vertretung des Saarlandes, das „Maison de la Sarre" in Paris, auch unter dem Namen „Villa Pompeuse" in deutschen Zeitschriften bekannt, der deutschen Botschaft, die nicht im 16. Arrondissement gelegen ist, und der Residenz des deutschen Botschafters in Paris durch ihre sicherlich außergewöhnliche Ausstattung — wenn hier in Bonn schon ein Luxuskoch hantieren wird — den Rang ablaufen kann?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, ich gehe davon aus, daß einer deutschen Botschaft, ganz gleichgültig, wo sie ist, schwer der Rang abgelaufen werden kann, von wem auch immer. Ich gehe davon aus, daß dem saarländischen Ministerpräsidenten und der saarländischen Landesregierung sehr wohl bewußt ist, daß sie dort nicht hoheitliche Funktionen für die Bundesregierung wahrnehmen können oder in Konkurrenz zur deutschen Botschaft treten können.
Ich teile Ihre Auffassung, daß das beschriebene 16. Arrondissement zu den elegantesten Vierteln in Paris zählt und daß die deutsche Botschaft dort nicht untergebracht ist. Aber ich gebe zu, das Palais Beauharnais ist natürlich als Residenz durchaus sehenswert.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107418100
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1107418200
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß die saarländische Landtagsopposition über Jahre hinweg der Landesregierung vorgehalten hat, sie tue zuwenig, um die Möglichkeiten saarländischer Unternehmer in Frankreich zu stärken, und daß dies zwar falsch gewesen ist, daß aber jetzt die Landesregierung angesichts der grenznahen geographischen und historischen Situation zusätzliche Impulse für die saarländische Wirtschaft in Frankreich geben will, und stimmt die Bundesregierung solchen Bemühungen zu angesichts der besonders prekären Arbeitsmarktlage im Saarland und vor dem Hintergrund, daß die Bundesregierung bislang sehr wenig getan hat, um der besonderen Notlage des Landes gerecht zu werden?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es steht mir nicht zu — ich habe das gerade eben Ihrer Kollegin bereits erklärt — , Ankäufe irgendwelcher Häuser im Ausland, die zur Wirtschaftsförderung genutzt werden, seitens der Bundesregierung zu kritisieren. Es ist eine Angelegenheit des saarländischen Landtages, des Bundes der Steuerzahler, der Wirtschaftsverbände und der Industrie- und Handelskammern, sich über solche Fragen zu unterhalten. Ich habe ja lediglich Auskunft zu geben gehabt auf die Frage von Frau Kollegin Pack, was geschehen ist. Wir haben uns hier außerordentlich zurückhaltend geäußert.

(Schreiner [SPD]: Erfreulich!)

Insofern bitte ich, mich jetzt nicht in eine schwierige Lage zu bringen, in Länderangelegenheiten eingreifen zu müssen.



Staatsminister Schäfer
Wir achten allerdings sehr — ich betone das noch einmal — auf solche Aktivitäten, die nicht nur vom Saarland ausgehen; es gibt inzwischen, wie Sie wissen, über 30 Ländervertretungen, insbesondere in Washington, New York, Tokio und Moskau. Wir beobachten diese Entwicklung natürlich mit einem gewissen Interesse, weil wir der Auffassung sind, daß die Außenpolitik Angelegenheit des Bundes ist, wie es im Grundgesetz geregelt ist.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107418300
Dabei wird es auch bleiben.
Herr Abgeordneter Müller, Zusatzfrage.

Hans-Werner Müller (CDU):
Rede ID: ID1107418400
Herr Staatsminister, darf ich Sie fragen, ob die saarländische Landesregierung für den künftigen Leiter dieses „Maison de la Sarre" bei Ihnen schon den diplomatischen Status beantragt hat, und ist Ihr Amt gegebenenfalls, wenn dieser Antrag eingeht, bereit, diesen Status zu gewähren?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, aus meiner Antwort dürften Sie klar ersehen, daß solche Ansinnen weder an uns gerichtet worden sind noch — für den Fall, daß sie an uns gerichtet würden — in irgendeiner Weise von uns gutgeheißen werden könnten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107418500
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiber.

Werner Schreiber (CDU):
Rede ID: ID1107418600
Herr Staatsminister, meine Frage zielt in eine andere Richtung. Ist festzustellen, ob für den Kaufpreis von 15 Millionen DM für den Ankauf dieser Villa auch Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt worden sind?
Schäfer, Staatsminister: Nein.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107418700
Frau Abgeordnete Conrad, bitte, eine Zusatzfrage.

Margit Conrad (SPD):
Rede ID: ID1107418800
Ist der Bundesregierung bekannt — wie es den saarländischen CDU-Abgeordneten aus einer Anfrage bekannt sein müßte, die ein Landtagsabgeordneter an die saarländische Landesregierung gerichtet hat — , daß aus dem Haushalt des Saarlandes keine Mittel für irgendwelche Personalausgaben in diesem Haus eingestellt sind und daß auch nicht geplant ist, irgendeine Stelle dort einzurichten?
Schäfer, Staatsminister: Soweit uns bekannt ist, Frau Kollegin, wird dort eine Gesellschaft für Wirtschaftsförderung eingerichtet. Ich gehe davon aus, daß der saarländische Ministerpräsident beabsichtigt, über diese Gesellschaft, eine GmbH, eine Finanzierung vorzunehmen. Aber ich wiederhole: Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, irgendwelche Finanzaktionen von Bundesländern zu beurteilen oder kritisch dazu Stellung zu nehmen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107418900
Ich rufe die Frage 15 der Frau Abgeordneten Pack auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die saarländische Regierung in anderen Hauptstädten ähnliche Aktivitäten wie in Paris entfaltet bzw. entfaltet hat?
Bitte, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Der Bundesregierung ist bekannt, daß ähnliche Einrichtungen des Saarlandes in Brüssel und in Moskau existieren.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107419000
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Pack.

Doris Pack (CDU):
Rede ID: ID1107419100
Ist die Bundesregierung beunruhigt, daß eine Landesregierung solche außenpolitischen Aktivitäten in diesem Umfang entwickelt, nicht nur in Moskau, sondern eventuell auch in Peking?
Schäfer, Staatsminister: Im Falle Moskau, darf ich Ihnen sagen, haben wir darauf hingewirkt, daß eine ovale Plakette am Haus des Saarlandes mit der Aufschrift „Saarländische Vertretung" entfernt und nach innen genommen worden ist.
Aber ich muß Ihnen, Frau Kollegin, sagen: Wenn wir dieses Thema in aller Breite diskutieren, wird nicht nur das Saarland in Schwierigkeiten geraten, sondern wir müßten dann über Aktivitäten aller deutschen Bundesländer sehr intensiv nachdenken.

(Beifall bei der SPD)

Denn es gibt mehr als 30 Büros der verschiedensten Bundesländer nicht nur in Brüssel, wie ich bereits gesagt habe, sondern in sehr vielen Städten der Welt. Es gibt natürlich immer die Begründung der Bundesländer — die ich nachvollziehen kann —, daß diese Büros notwendig sind, um der Wirtschaftsförderung des jeweiligen Landes zu dienen. Ein Ausufern solcher Vertretungen kann natürlich dazu beitragen, daß die Grundsatzfrage gestellt werden muß: Wie weit kann das gehen? Dazu hat sich der frühere Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages schon geäußert. Er hat vor einer Entwicklung der Wirtschaftsförderung nur noch nach Bundesländern im Ausland gewarnt. Dann sei nicht mehr das Gütesiegel „Made in Germany" bedeutend,

(Stücklen [CDU/CSU]: In Bavaria!)

sondern es würde dann heißen „Made in Baden-Württemberg" oder „Made im Saarland" oder sonstwo. Und darauf — das hat Otto Wolff gesagt; ich zitiere ihn; ich kann das nur unterstützen — müssen wir alle ein bißchen achten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107419200
Wenn die nächsten Fragen sehr kurz gestellt und kurz beantwortet würden, wäre das sehr schön.
Frau Abgeordnete Conrad, Sie haben eine Zusatzfrage, bitte.

Margit Conrad (SPD):
Rede ID: ID1107419300
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es sich bei diesem Haus in Paris nicht um eine Vertretung der saarländischen Landesregierung handelt, sondern lediglich um eine Einrichtung, die bis jetzt an saarländische Firmen vermietet wird, in Zukunft vielleicht auch an Firmen aus dem Saar-LorLux-Raum, um insbesondere auf die Situation 1992 besser vorbereitet zu sein?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, das ist uns bekannt. Ich habe darauf hingewiesen. Ich habe auch darauf hingewiesen, daß es keine Bundesmittel dazu gegeben hat. Soweit uns bekannt ist, sind die Mittel



Staatsminister Schäfer
für den Ankauf von der saarländischen Landesregierung zur Verfügung gestellt worden.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107419400
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.

Hans-Werner Müller (CDU):
Rede ID: ID1107419500
Herr Staatsminister, kann ich aus der Qualität und der Sachkunde Ihrer Antworten schließen, daß die Aktivitäten außenpolitischer Art der saarländischen Landesregierung in Moskau, Peking und Paris mit der Bundesregierung abgesprochen sind, und wenn ja, in welcher Form?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin nicht in der Lage, Ihnen zu sagen, inwieweit all die Aktivitäten des Saarlandes, aber auch anderer deutscher Länder in Bezug auf die Wirtschaftsförderung des jeweiligen Landes immer mit der Bundesregierung abgesprochen worden sind. Es gibt sicher Fälle, in denen das nicht der Fall war. Ich habe auf die Plakette in Moskau verwiesen; die mußten wir erst zur Kenntnis nehmen, bevor wir bitten mußten, sie zu entfernen.
Ich will nur darauf hinweisen: die Angelegenheit bedarf sicher irgendwann auch einmal einer gründlicheren Erörterung im Deutschen Bundestag, weil es eine Grundsatzfrage ist, die uns Abgeordnete alle sehr interessiert.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107419600
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1107419700
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß die saarländische Vorgängerregierung keine Aktivitäten wirtschaftspolitischer Art mit der Bundesregierung abstimmen konnte, weil es keine Aktivitäten gab,

(Heiterkeit bei der SPD)

und ist der Bundesregierung zudem bekannt, daß die gegenwärtige saarländische Landesregierung eine große, große Erblast übernehmen mußte?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich spüre, daß wir von einer Bundestagsfragestunde langsam in eine Art von Diskussion abgleiten, die eigentlich in den saarländischen Landtag gehört.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Ich darf noch einmal darauf verweisen, daß ich mich nach Kräften bemüht habe, mich hier als Vertreter der Bundesregierung in dieser Angelegenheit möglichst neutral zu verhalten. Ich möchte nicht dazu beitragen, durch Beantwortung Ihrer Frage, die ich für eine ausgesprochen landespolitische Frage halte, hier meine Kompetenzen zu überschreiten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107419800
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Pack.

Doris Pack (CDU):
Rede ID: ID1107419900
Herr Staatsminister, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die saarländische Landesregierung mit den 15 Millionen Mark, die sie für ein Haus in Paris ausgibt, besser etwas Gutes für die Arbeitslosenstatistik im Saarland getan hätte?

(Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, auch das ist eine Frage, die mich in Schwierigkeiten bringt, weil ich wiederum von dieser Stelle aus die Politik der saarländischen Landesregierung würdigen oder kritisieren soll. Ich glaube, darüber sollten die Bürger des Saarlandes und die verschiedenen Organisationen dort befinden, und man wird das ja im Saarland sicher auch weiterhin diskutieren.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107420000
Herr Staatsminister, ich gestehe, daß nicht alle Fragen den richtigen Sachzusammenhang hatten, aber Sie waren so freundlich, alle zu beantworten. Herzlichen Dank! — Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet.
Im Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen werden alle Fragen, nämlich die Fragen 26 und 27 der Abgeordneten Frau Terborg und die Fragen 28 und 29 des Abgeordneten Büchler (Hof), auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet, und die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Um schriftliche Beantwortung haben der Abgeordnete Gerster (Worms) für die Fragen 48 und 49 sowie der Abgeordnete Müller (Pleisweiler) für die Fragen 54 und 55 gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 50 und 51 des Abgeordneten Antretter sowie 52 und 53 des Abgeordneten Jungmann sind von den Fragestellern zurückgezogen worden.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde angelangt.

(V o r s i t z: Vizepräsident Stücklen)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107420100
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte auf, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist, und zwar zuerst Punkt 3 der Tagesordnung und Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung:
3. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Vorschriften für Hypothekenbanken
— Drucksache 11/1820 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 11/2144 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Sauter (Ichenhausen) Stiegler

(Erste Beratung 64. Sitzung)

ZP3 Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik, dem Königreich der Niederlande und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über Inspektionen in bezug auf den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Ame-



Vizepräsident Stücklen
rika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite
— Drucksache 11/2033 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

— Drucksache 11/2174 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lowack Voigt (Frankfurt)

Dr. Feldmann
Frau Kelly
Wir stimmen zuerst über den Gesetzentwurf zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Vorschriften für Hypothekenbanken ab.
Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf.
Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Bei einigen Gegenstimmen mit Mehrheit angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Bei einigen Gegenstimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN und gegen die Stimme des fraktionslosen Abgeordneten Wüppesahl ist dieser Gesetzentwurf mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 über Inspektionen in bezug auf den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite.
Dazu wollen Sie eine Erklärung abgeben, bevor die Artikel aufgerufen worden sind?

(Dr. de With [SPD]: Ja!)

— Bitte sehr, Herr Abgeordneter de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1107420200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stimme diesem Gesetzentwurf zu, und zwar aus politischen Gründen.
Der Gesetzentwurf stellt sicher, daß Repräsentanten der UdSSR auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland Inspektionen vornehmen können, damit sichergestellt ist, daß der INF-Vertrag, was den Raketenabbau anlangt, eingehalten werden kann. Dies bedeutet für uns eine Einbuße an Souveränität. Aus diesem Grund ist hierzu ein Ratifikationsgesetz nötig und zu diesem die erforderliche Information.
Den Entwurf des Ratifikationsgesetzes enthält die einschlägige Drucksache. In der Drucksache ist auch das Übereinkommen enthalten. Dazu finden sich ferner die Denkschrift zum Übereinkommen und schließlich der Notenwechsel als Anlage zur Denkschrift. In Abs. 2 der Note der Bundesregierung, die sich dann
wörtlich in der Antwortnote wiederfindet, wird darauf verwiesen, daß das dazugehörige Inspektionsprotokoll übergeben worden sei. Dieses Inspektionsprotokoll lag dem Deutschen Bundestag zur Kenntnisnahme nicht vor.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Unglaublich!)

Ich halte es im Kern für unzumutbar, daß von den Volksvertreterinnen und Volksvertretern gefordert wird, einem solchen Vertrag, der eine Einbuße an Souveränität mit sich bringt, zuzustimmen, wenn sie nicht über alles bis ins kleinste informiert sind. Wir konnten also nicht wirklich prüfen, was das Inspektionsprotokoll im Vergleich zur Note der Bundesregierung zur Denkschrift zum Übereinkommen, aber auch zur Durchführung der Inspektionen sagt.
Es gab eine ähnliche Situation schon einmal. Ich nenne das Stichwort „Manganknollen".
Ich bitte die Bundesregierung, auch wenn aus überstaatlichen Gründen sehr schnell ratifiziert werden muß, in Zukunft das Parlament besser als bisher zu informieren, zumindest sicherzustellen, daß der Vertreter des Auswärtigen Amtes im Rechtsausschuß Rede und Antwort geben kann.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Darum brauchen Sie nicht zu bitten! Das ist Ihr Recht! — Lowack [CDU/CSU]: Nicht nur im Rechtsausschuß!)

Gefragt, mußte er einräumen, daß er hierzu eine Auskunft nicht erteilen könne.
Wie gesagt: Ich stimme dem Gesetzentwurf aus übergeordneten politischen Gründen zu, kündige aber an, daß ich das ein weiteres Mal so nicht hinnehmen werde.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107420300
Ich rufe das Gesetz mit seinen Artikeln 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf.
Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Keine Gegenstimme. Wer enthält sich? — Keine Enthaltung. Das Gesetz ist damit einstimmig angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt weiter unter Nr. 2 der Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/2174, eine Ergänzung der Begründung des Regierungsentwurfs zur Kenntnis zu nehmen.
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4, 5, 6, 9 und 10 auf:
4. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem König-



Vizepräsident Stücklen
reich Marokko über die Rechtshilfe und Rechtsauskunft in Zivil- und Handelssachen
— Drucksache 11/2026 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Umwandlung der Deutschen Pfandbriefanstalt in eine Aktiengesellschaft
— Drucksache 11/2047 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Apotheker-Richtlinien der EG (85/432/EWG und 85/433/EWG) in deutsches Recht
— Drucksache 11/2028 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Rechtsausschuß
9. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Wohngeld- und Mietenbericht 1987
— Drucksache 11/1583 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Haushaltsausschuß
10. Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 1987
— Drucksache 11/2034 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weiter ist interfraktionell vereinbart worden, die Vorlage zum Tagesordnungspunkt 6 zusätzlich zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß)

Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
— Drucksache 11/2136 —
Berichterstatter: Abgeordneter Eylmann
Eine Aussprache ist dafür nicht vorgesehen.
Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Keine Enthaltungen. Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 53 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/2113 —
b) Beratung der Sammelübersicht 54 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/2114 —
c) Beratung der Sammelübersicht 55 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/2115 —
d) Beratung der Sammelübersicht 56 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/2116 —
Wer stimmt den Anträgen zu Petitionen in den Sammelübersichten 53 bis 56 zu? — Gegenprobe? — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Vier Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 47 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/1881 —
b) Beratung der Sammelübersicht 48 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/1882 —
c) Beratung der Sammelübersicht 52 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/1970 —
Dazu hätten Sie gern das Wort zur Geschäftsordnung. Bitte sehr, Frau Abgeordnete Nickels.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107420400
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu diesen Tagesordnungspunkten 11 a, 11 b und 11 c beantrage ich, die Aussprache nicht, wie vorgesehen, verbunden, sondern in drei einzelnen Kurzdebatten zu jeweils fünf Minuten für jede Fraktion zu führen.
Ich begründe das wie folgt. In unserer Geschäftsordnung ist in § 24 festgelegt, wann verbundene Debatten möglich sind. Da heißt es:
Die gemeinsame Beratung gleichartiger oder im Sachzusammenhang stehender Verhandlungsgegenstände kann jederzeit beschlossen werden.
Ich will Sie kurz aufklären, was in verbundener Debatte mit fünf Minuten Redezeit für jede Fraktion behandelt werden soll. Dann beurteilen Sie bitte selber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob hier unsere Geschäftsordnung eingehalten worden ist und ob diese Gegenstände in einem inneren Sachzusammenhang stehen.



Frau Nickels
Der Tagesordnungspunkt 11 a behandelt die Frage der Eintragung von Freibeträgen auf Lohnsteuerkarten, bezogen auf Verluste aus Vermietung und Verpachtung. Tagesordnungspunkt 11 b behandelt die Frage der vegetarischen Ernährung von Strafgefangenen. Tagesordnungspunkt 11 c behandelt die Frage, ob es rechtlich berechtigt war, die Einreise von Bhagwan in die Bundesrepublik zu untersagen.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie soll es möglich sein, hier einen inneren Zusammenhang herzustellen, und wie soll es möglich sein, daß eine einzige Rednerin oder ein einziger Redner in fünf Minuten vernünftig dazu redet? Der Sinn einer Debatte ist ja auch Rede und Gegenrede, damit man weiß, warum sich eine Fraktion so verhalten hat. Ich bin ebenso wie die Arbeitsgruppe Petitionen der GRÜNEN im Bundestag nicht bereit, bei für uns im Petitionsausschuß wichtigen Gegenständen uns durch disziplinarische, der Geschäftsordnung widersprechende Maßnahmen von unserem Rederecht hier abbringen zu lassen.
Ich bitte also, darüber abzustimmen.
Ich sage jetzt schon: Wenn meinem Antrag nicht stattgegeben wird, werde ich mich an einer so unsinnigen Prozedur nicht beteiligen und nicht das Wort ergreifen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107420500
Zur Geschäftsordnung Herr Abgeordneter Seiters. Bitte.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1107420600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Fraktionen dieses Hauses haben in der Vergangenheit, glaube ich, unter Beweis gestellt, daß die berechtigten Anliegen des Petitionsausschusses hier im Plenum zur Geltung kommen.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Aber wie!)

Wir haben oft Aussprachen über Petitionsanliegen; wir haben sie auch in der nächsten Sitzungswoche.
Nur bitte ich, sich an die Ordnung zu halten. Mit dem Geschäftsführer der GRÜNEN ist vereinbart — von SPD, FDP, CDU/CSU und GRÜNEN —, daß wir so verfahren, wie hier vorgesehen ist.
Namens der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP möchte ich, daß wir den Vorschlag der GRÜNEN ablehnen.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Das ist geschäftsordnungswidrig, was da vereinbart worden ist!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107420700
Frau Abgeordnete Nickels, im Ältestenrat ist Übereinstimmung auch mit Zustimmung Ihres Vertreters erzielt worden.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Richtig, das weiß ich!)

Ich will das nur feststellen.
Wir kommen also zu den Sammelübersichten 47, 48 und 52 des Petitionsausschusses. Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor, und zwar auf den Drucksachen 11/2166 und 11/2167. Der Ältestenrat hat eine verbundene Beratung mit 5-Minuten-Beiträgen beschlossen. Frau Abgeordnete Nickels, Sie wollen eine längere Redezeit für diese Aussprache, oder wollen Sie nur eine getrennte Abstimmung über jede einzelne Vorlage?

(Zurufe von den GRÜNEN: Dreimal fünf Minuten!)


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107420800
Herr Präsident, ich will doch hier kein Exklusivrecht haben. Ich möchte, daß hier gemäß der Geschäftsordnung vernünftige Debatten stattfinden. Hier ist kein inhaltlicher Zusammenhang. Ich habe beantragt, zu jedem einzelnen Punkt, also zu a), b) und c) eine einzelne Debattenrunde vorzusehen, wo jede Fraktion in fünf Minuten ihren Standpunkt darstellen kann.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107420900
Das ist im Ältestenrat nicht vereinbart. Das wäre eine Änderung der Vereinbarung im Ältestenrat. Ich lasse darüber abstimmen. Wer für die Änderung der Vereinbarung im Ältestenrat stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Ihr Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Die Änderungsanträge habe ich bereits genannt. Es sind Redebeiträge bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vorgesehen. Das Haus ist damit einverstanden, wie die Abstimmung bewiesen hat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Emmerlich.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Jetzt reden Sie mal zu allen drei Tagesordnungspunkten!)


Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1107421000
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bitte mir zu gestatten, die Petenten zunächst um Verständnis und um Entschuldigung dafür bitten zu dürfen, daß durch die Art, wie diese Debatte stattfinden muß, der Eindruck unvermeidlich ist, als habe der Petitionsausschuß die Petitionen nicht sorgfältig erwogen und nicht ausreichend beraten. Ich versichere, daß das Gegenteil bei allen drei Petitionen richtig ist.
Zur Sammelübersicht 47! Meine sehr geehrten Damen und Herren, für Verluste aus Vermietung und Verpachtung können nach geltendem Recht keine Freibeträge in die Lohnsteuerkarte eingetragen werden. Ihre steuerliche Berücksichtigung ist erst im Lohnsteuerjahresausgleich möglich. Das führt zu Zinsverlusten, die je nach der Höhe der Verluste nicht nur fühlbar, sondern sogar empfindlich sein können. Bei der Festsetzung von Einkommensteuervorauszahlungen dagegen werden Verluste aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt. Diese Schlechterstellung der Lohnsteuerpflichtigen ist nicht gerechtfertigt. Sie muß und sie kann ausgeglichen werden, wenn die Eintragung entsprechender Freibeträge in die Lohnsteuerkarten zugelassen wird.
Bundesregierung und Koalition wenden dagegen ein, daß der Verwaltungsaufwand bei der Eintragung von Freibeträgen gering und das Verwaltungsverfahren deshalb einfach sein müsse. Die SPD-Bundestagsfraktion verkennt nicht, daß Anträge auf Eintragung von Freibeträgen möglichst schnell beschieden werden müssen und daß die Verwaltungskosten möglichst niedrig sein sollten. Diese Gesichtspunkte dürfen aber nicht dazu führen, daß die Steuergerechtig-



Dr. Emmerlich
keit durch die Ungleichbehandlung von Lohnsteuerpflichtigen so außer acht gelassen wird, wie das derzeit geschieht. Die Tatsache, daß es ungleich mehr Lohnsteuerpflichtige als Einkommensteuerpflichtige gibt, darf erst recht nicht dazu führen, daß diese Mehrheit schlechter behandelt wird als die Minderheit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb und aus weiteren Gründen, die ich aus Zeitgründen nicht darstellen kann, beantragen wir, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen.
Nunmehr zur Sammelübersicht 48. Die SPD-Fraktion stimmt dem Änderungsantrag der GRÜNEN zu. Sie ist der Auffassung, daß eine Notwendigkeit besteht, bei Vegetariern — die das aus gesundheitlichen oder anderen respektablen Gründen sind — in der Haft dafür zu sorgen, daß ihre bisherige Ernährungsweise aufrechterhalten werden kann.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der Einwand der Länderzuständigkeit, auf den sich die Mehrheit beruft, zieht nicht. Eine bundesgesetzliche Regelung dieses Problems ist im Strafvollzugsgesetz möglich. Sie ist angesichts der unterschiedlichen Handhabung in den Ländern auch nötig.
Nunmehr noch einen Satz — die Lampe leuchtet schon — zur Sammelübersicht 52. Hier stimmt die SPD-Bundestagsfraktion der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zu. Die Nichterteilung des Sichtvermerks war in diesem Fall — davon haben wir uns überzeugt — nach geltendem Recht begründet.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107421100
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dempwolf.

Gertrud Dempwolf (CDU):
Rede ID: ID1107421200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Petition 2-10-03-6110, zu der ich kurz Stellung nehmen möchte, wurde im Petitionsausschuß, wie das mein Kollege Herr Emmerlich betont hat, tatsächlich eingehend beraten. Der Petent, der 1985 sein Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung fertiggestellt hat, möchte den Freibetrag auf seine Lohnsteuerkarte 1987 eingetragen wissen. Es geht um den Freibetrag, der sich aus Verlust, Vermietung und Verpachtung ergibt. Dieses Anliegen wurde seitens des Finanzamtes Wuppertal abgelehnt.
Der Petent sieht darin eine ungleiche Behandlung, weil es nach dem bisher geltenden Recht nicht möglich ist, die sich bei Inanspruchnahme der degressiven Abschreibung nach § 7 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes ergebenden Verluste aus Vermietung und Verpachtung — im Gegensatz zu den erhöhten Absetzungen nach § 7 b EStG — schon durch Eintragung eines Freibetrages auf der Lohnsteuerkarte zu berücksichtigen, sondern erst bei der Einkommensteuerveranlagung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes verstößt eine ungleiche Behandlung dann nicht gegen das Grundgesetz, wenn sachliche, vor allem aber auch tatbestandsmäßige Gründe dies rechtfertigen.
Der Bundesminister der Finanzen, der hierzu gehört wurde, hat uns überzeugend dargelegt, daß für die unterschiedliche Behandlung vor allem verfahrensmäßige Gründe ausschlaggebend sind. Es war immer ein Anliegen, auch dieses Hohen Hauses, das Lohnsteuerermäßigungsverfahren zu vereinfachen und dadurch zu beschleunigen. Bewußt wurde dabei in Kauf genommen, daß bei verschiedenen Einkommensarten gewisse Verluste oder Abzüge erst bei der Einkommensteuerveranlagung oder dem Lohnsteuerjahresausgleich Berücksichtigung finden.
In diesem Zusammenhang darf ich auch an die Regelung des Vorwegabzuges im Lohnsteuerverfahren erinnern, die eine Berücksichtigung des die Pauschale übersteigenden Betrages erst später bei der Festsetzung der Einkommensteuer oder beim Lohnsteuerjahresausgleich zuläßt.
Die unterschiedliche Behandlung bei § 7 b und § 7 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes ist im Hinblick auf das Verwaltungsverfahren insofern gerechtfertigt, als sich der Verfahrensaufwand für die Berücksichtigung von negativen Einkünften bei der Inanspruchnahme von erhöhten Absetzungen nach § 7 b EStG gegenüber dem Verwaltungsaufwand bei Inanspruchnahme degressiver Absetzungen nach § 7 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes in engen Grenzen hält.
Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes wird auch deshalb nicht gesehen, weil gewährleistet ist, daß die Verluste bei der Veranlagung zur Einkommensteuer berücksichtigt werden, und weil bei Arbeitnehmern für die mit dem Lohnsteuererhebungssystem verbundenen Zinsnachteile ein Arbeitnehmerfreibetrag gewährt wird.
Wir haben bereits eine sachgleiche Eingabe im Petitionsausschuß und auch hier parlamentarisch behandelt. Damals lautete die Empfehlung des Petitionsausschusses, die der Deutsche Bundestag am 21. Mai 1987 beschlossen hat, diese sachgleiche Petition als erledigt anzusehen. Dem Petenten ist diese Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses bekannt.
Wir meinen aber, daß wir an diesem früheren Beschluß nicht unbedingt festhalten müssen. Wir teilen in Übereinstimmung mit der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung auch den Standpunkt des Bundesministers der Finanzen, daß die in Rede stehende Vorschrift verfassungsgemäß ist, können uns jedoch den Argumenten des Petenten nicht verschließen. Die Eingabe verdeutlicht, daß die derzeitige gesetzliche Regelung nicht befriedigend ist. Darum empfehlen wir, die Eingabe der Bundesregierung und dem Bundesminister der Finanzen als Material zu überweisen.
Zu den beiden anderen Sammelübersichten 48 und 52 bleiben wir bei unserem Votum, diese beiden Petitionen als erledigt anzusehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107421300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1107421400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Geschäftsführungen der Fraktionen haben in ihrer unendlichen Güte und Weisheit beschlos-



Funke
sen, daß über diese Sammelübersichten fünf Minuten zu höchst unterschiedlichen Themen gesprochen werden soll. Ich hoffe, daß das ein einmaliger Vorgang ist. Insoweit kann ich eigentlich nur unterstreichen, was Frau Nickels gesagt hat. Aber es ist nun einmal so beschlossen. Ich meine, dann sollte man sich an die Spielregeln halten.

(Frau Olms [GRÜNE]: Keinen blinden Gehorsam!)

— Nein, nein. Blind bin ich nicht.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Die FDP hat im Ältestenrat nichts Abweichendes geltend gemacht!)

Zunächst zum Strafvollzug. Diese Petition erstrebt, daß Strafgefangene vegetarische Kost erhalten können und daß Speisevorschriften einer Religionsgemeinschaft befolgt werden müssen. Wir haben diese Petition im Petitionsausschuß abgelehnt. Wir sind der Auffassung, daß Strafvollzug eine Angelegenheit der Bundesländer ist. Natürlich kann das Strafvollzugsgesetz auch bundeseinheitliche Vorschriften vorsehen, aber die Ausführungen in den Ländern haben sich in der Vergangenheit bewährt. Ich glaube, wir sollten diese Regel auch beibehalten.

(Dr. Emmerlich [SPD]: Es ist eine völlig unterschiedliche Praxis! — Frau Nickels [GRÜNE]: Ein Vegetarier braucht einfach mehr Obst und Gemüse, und zwar in jedem Bundesland!)

— Warum sollen solche Dinge auch nicht unterschiedlich regelbar sein?

(Dr. Emmerlich [SPD]: Es ist Verfassungsgebot!)

Der Bundesgesetzgeber soll doch nicht in jede Einzelheit hineinregieren. Dies ist einer föderalistischen Verfassung auch gar nicht angemessen.
Die zweite Petition erstrebt, daß für Verluste aus Vermietung und Verpachtung bei Inanspruchnahme der degressiven Abschreibung nach § 7 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes im Lohnsteuerermäßigungsverfahren ein Freibetrag über die Lohnsteuerkarte eingetragen wird. Unstreitig ist, glaube ich, in diesem Zusammenhang, daß eine solche Annahme der Petition zu einem erheblichen Verwaltungsmehraufwand führt.

(Dr. Emmerlich [SPD]: Gerechtigkeit hat ihren Preis!)

— Aber manchmal einen sehr hohen, Herr Emmerlich.

(Dr. Emmerlich [SPD]: Den ist sie wert!)

Man muß natürlich auch einmal sehen, ob eine Angelegenheit praktikabel ist. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Denn wir werden ja manchmal vom Verwaltungsapparat erdrückt. Sie selbst beklagen sich gelegentlich darüber.
Gerade in einem pauschalen Verfahren, nämlich dem Lohnsteuererstattungsverfahren, muß man in Kauf nehmen, daß einzelne Lohnsteuerermäßigungen erst bei dem Lohnsteuerrückerstattungsverfahren berücksichtigt werden. Dadurch entsteht dem Steuerzahler auch kein so erheblicher Nachteil, allenfalls fehlen die liquiden Mittel für ein Jahr, die Sie als sparsamer Mann, Herr Emmerlich, natürlich sofort in Bundesschätzen anlegen würden. Dadurch würden Sie dann einen Zinsnachteil haben. Dies ist aber in der Regel nicht der Fall.
Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit

(Frau Nickels [GRÜNE]: „Kürze der Zeit" ist sehr vornehm ausgedrückt!)

noch kurz auf die Petition für die Einreise des Sektenführers Bhagwan eingehen. Ich glaube, daß uns bei dieser Angelegenheit Emotionen und Unterstellungen, wie sie dann gelegentlich erfolgen, überhaupt nicht weiterhelfen. Ich muß sagen, daß wir diese Petition mit großen Bauchschmerzen abgelehnt haben. Die Verweigerung der Einreise wurde vom Bundesinnenminister damit begründet, daß dieser Sektenführer ein Strafverfahren in den USA gehabt habe und dort rechtskräftig verurteilt worden sei.
Nun weiß jeder, der sich mit amerikanischem Strafrecht beschäftigt, daß es sich hier um ein sehr summarisches Verfahren handelt und daß dieses summarische Verfahren für die Beurteilung des deutschen Strafverfahrens und für das deutsche Verwaltungsverfahren wohl nicht die richtige Grundlage sein kann. Auf der anderen Seite ist der Petitionsausschuß nicht dazu da, das Ermessen, das der Bundesinnenminister pflichtgemäß ausüben muß, nun an seiner Stelle auszuüben. Er hat pflichtgemäß ausgeübt, davon haben wir uns überzeugen können, als wir uns die Akte angesehen haben. Das hat er sehr gründlich getan.
Aus diesem Grunde waren wir der Meinung, daß das pflichtgemäße Ermessen ausgeübt worden ist und daß der Petitionsausschuß dann dieses Verwaltungshandeln nicht ersetzen kann.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107421500
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2166. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist der Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/1881 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer großen Zahl von Enthaltungen ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen zu Tagesordnungspunkt 11 b. Zuerst stimmen wir über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2167 ab. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/1882 zuzustimmen



Vizepräsident Stücklen
wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Die Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen nunmehr über Tagesordnungspunkt 11 c ab. Wer für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/1970 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei vier Gegenstimmen ohne Enthaltungen angenommen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Bindig, Dr. Schmude, Frau Dr. DäublerGmelin, Duve, Frau Luuk, Großmann, Sielaff, Frau Dr. Timm, Dr. Holtz, Frau Schmidt (Nürnberg), Schanz, Toetemeyer, Büchner (Speyer), Bernrath, Lambinus, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Bekämpfung und Ächtung der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlungen
— Drucksachen 11/957, 11/2163 —
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat dafür eine Aussprache von 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bindig.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1107421600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beratung der Großen Anfrage der SPD-Fraktion ist von uns nach § 102 der Geschäftsordnung verlangt worden, weil die vor mehr als sechs Monaten eingereichte Anfrage von der Bundesregierung noch nicht beantwortet worden war. Nach dem Aufsetzen auf die Tagesordnung hat die Bundesregierung die Antwort jetzt endlich vorgelegt.
Damit wiederholt sich ein Vorgang, wie wir ihn bereits bei unserer Großen Anfrage zur Menschenrechtspolitik in der 10. Legislaturperiode erlebt haben. Damals mußten wir insgesamt zehn Monate auf die Beantwortung warten. Dies ist nicht nur eine unerträgliche Behandlung des Parlamentes, sondern es belegt auch, daß sich auf dem Gebiet der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung, soweit es die Beiträge des eigenen Landes angeht, nur etwas bewegt, wenn die Bundesregierung aus dem Parlament, d. h. von der SPD-Fraktion über die Fragestunde, mit Gesetzentwürfen oder Großen Anfragen angetrieben wird.
In der Einleitung zu unserer Anfrage haben wir gesagt:
Auch und gerade die Staaten, in denen die elementaren Menschenrechte weitgehend gewahrt werden, müssen ein großes Interesse daran haben, menschenrechtliche Garantien zum verbindlichen Recht für möglichst viele Staaten werden zu lassen, um so den Prozeß der Bindung und Selbstbindung der Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte aktiv zu fördern.
Die Bundesregierung sagt, daß sie diese Ansicht teilt, und weist unsere Auffassung zurück, die Bundesregierung habe bei der Fortentwicklung des menschenrechtlichen Instrumentariums in den letzten Jahren eher eine Bremserrolle gespielt.
Der schleppende Gang bei der Behandlung und die Antworten auf die Fragen selbst belegen erneut, wie schwer sich die Bundesregierung tut, ihren Beitrag zur Umsetzung bereits erarbeiteter internationaler menschenrechtlicher Abkommen in die Bundesrepublik Deutschland bindendes Recht zu leisten. Wir erwarten aber, daß die Bundesrepublik Deutschland in diesen Fragen eine Motorrolle und nicht eine Bremser- oder Rücklichtrolle spielt.
Unsere Anfrage bezieht sich auf vier internationale Vereinbarungen. Am weitesten vorangekommen ist das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention über die Abschaffung der Todesstrafe. Die erste Lesung hier im Parlament hat stattgefunden, allerdings erst, als wir in der 10. und 11. Legislaturperiode den ungewöhnlichen Weg beschritten hatten, als Parlamentsfraktion einen Ratifizierungsgesetzentwurf vorzulegen, um die Bundesregierung zu veranlassen, aktiv zu werden. Die Bundesregierung hat die wichtige Chance versäumt, zu den ersten fünf Unterzeichnerstaaten zu gehören und damit das für die Weiterentwicklung der europäischen Rechtskultur so wichtige Abkommen in Kraft treten zu lassen.
Die Bundesregierung kündigt jetzt an, daß sie eine Interpretationserklärung abgeben will, daß durch die Verpflichtungen aus dem Protokoll nicht-strafrechtliche innerstaatliche Rechtsvorschriften unberührt bleiben sollen. Es ist zu fragen, welche konkrete Bedeutung diese Erklärung für rechtliche Bestimmungen zur Abschiebung bzw. Auslieferung von Personen hat, denen in ihrem Heimatland die Todesstrafe drohen könnte. Sie sagen in Ihrer Antwort schlicht, die Frage sei hinsichtlich der Abschiebung höchstrichterlich nicht entschieden. Nicht nur die höchstrichterliche, sondern auch Ihre politische und rechtliche Meinung dazu hätte uns interessiert.
Keinesfalls geklärt sind die Probleme und Fragen, die wir zur Ratifizierung der beiden Anti-Folter-Konventionen angesprochen haben. Die Bundesregierung hat die UN-Anti-Folter-Konvention im Oktober 1986 gezeichnet; das einzuleitende Ratifizierungsverfahren steht noch aus. Auch hier gehörte die Bundesregierung nicht zu den ersten 20 Staaten, die für das Inkrafttreten der Konvention erforderlich waren.
Dabei enthält die Anti-Folter-Konvention mehrere besonders wichtige Punkte zur Bekämpfung der Folter: So verpflichten sich die Unterzeichnerländer, niemandem Asyl zu gewähren, der nachweislich gefoltert hat, und niemand kann sich mehr auf einen Befehlsnotstand berufen.
Der Außenminister hat sich ja bereits öffentlich darüber gegrämt, daß wir nicht zur Gruppe der Staaten gehört haben, die zum Inkrafttreten der Konvention beigetragen haben, obwohl überall auf der Erde, wo gefoltert wird, Menschen auf internationale Abkommen warten, die sie schützen. Ähnlich wie wir hat auch er darauf gedrängt, beide Anti-Folter-Konventionen unverzüglich zu ratifizieren. Dies sollte noch im Jahre 1987 geschehen. Jetzt wird angegeben, daß der



Bindig
federführende Bundesminister der Justiz die „Herbeiführung eines Kabinettsbeschlusses zur Einbringung des Vertragsgesetzes für 1988 anstrebe".
Während zehn Staaten das Übereinkommen ohne eine Erklärung ratifiziert haben, haben verschiedene Staaten zu einigen Artikeln Vorbehalte oder Erklärungen abgegeben. Bemerkenswert ist, daß bisher kein Staat den Vorbehalt oder eine Erklärung zu Art. 3 abgegeben hat, in welchem es heißt, daß ein Vertragsstaat eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern darf, wenn schwerwiegende Gründe für die Annahme bestehen, daß sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden.
Gerade zu diesem Artikel hat aber die Bundesregierung bei der Zeichnung auf Drängen aus einem Bundesland — wir wissen natürlich, daß es sich um Bayern handelt — erklärt, daß sie sich offenhalte, Vorbehalte oder Interpretationserklärungen mitzuteilen.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Was Sie nicht alles wissen!)

Obwohl wir genau danach gefragt haben, ob und welche Vorbehalte die Bundesregierung denn nun habe, den Art. 3 zu ratifizieren, wiederholt sie nur die nichtssagende Redewendung, daß sie „in Abstimmung mit den Ländern prüfen werde, ob sie im Rahmen der Rafitikation einen Vorbehalt zu Art. 3 machen werde". Diese allgemeinen Formulierungen lassen nichts Gutes erwarten.
In der Frage der Ausweisung und Abschiebung in einen Folterstaat ist es offensichtlich noch nicht zu einer Einigung innerhalb der Bundesregierung und mit den Bundesländern — sprich Bayern — gekommen.

(Zuruf von den GRÜNEN: Aber Praxis ist es!)

Es stimmt übrigens nicht, wenn die Bundesregierung behauptet, aus der Bundesrepublik sei niemand in ein Land ausgeliefert oder abgeschoben worden, in dem gefoltert wird.

(Zuruf von den GRÜNEN: Ach!)

Amnesty international sind mit Sicherheit zwei Schicksale bekannt, wo aus der Bundesrepublik in ein Folterland abgeschoben bzw. ausgeliefert wurde und die Betroffenen dann schwer gefoltert wurden.
Auch bei der Europäischen Anti-Folter-Konvention mußte erst ein zäher Weg zurückgelegt werden, bis diese 1983 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats empfohlene Übereinkunft im Oktober 1986 endlich von der Bundesregierung gezeichnet wurde. Auch hier verweigert die Bundesregierung die erbetene Auskunft darüber, welche Argumente und welche Bundesländer zu der zögerlichen Behandlung des Abkommens beigetragen haben.
Bei dem vierten Gesetzesvorhaben, nämlich dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verlieren sich die Antworten der Bundesregierung wieder in jene allgemeine Unverbindlichkeit, welche wir seit Jahren kennen. Die Bundesregierung befindet sich in der Schlußgruppe jener Staaten, welche das Zusatzprotokoll bisher weder gezeichnet noch ratifiziert haben.
Wenn auch einzuräumen ist, daß es hier sachliche Probleme dadurch gibt, daß es zu einem Nebeneinander zweier internationaler Kontrollverfahren kommen kann, so ließen sich diese doch durch z. B. eine Wahlmöglichkeit des anzurufenden Menschenrechtsgremiums regeln. Etliche europäische Staaten sind diesen Weg bereits gegangen. Die Bundesregierung muß selber einräumen, daß es bisher eigentlich keine wirklichen Schwierigkeiten gegeben habe. Trotz mehrjähriger Prüfung ist die Bundesregierung immer noch nicht in der Lage anzugeben, ob sie den parlamentarischen Körperschaften überhaupt die Ratifizierung dieses Abkommens vorschlagen will.
Halten wir fest: Vier wichtige Abkommen zum Ausbau des internationalen Menschenrechtsinstrumentariums stehen an. Nach längerem Drängen befindet sich eines im Ratifikationsverfahren, wobei eine eingrenzende Interpretationserklärung abgegeben werden soll. Für zwei Abkommen zur Bekämpfung der Folter werden wieder einmal Zeitankündigungen für die geplante Ratifizierung — dieses Mal für 1988 — gemacht. Beim vierten Abkommen schließlich wird selbst die Meinung offengehalten, ob eine Ratifizierung angestrebt werden soll.
Das alles belegt — ich wiederhole es noch einmal kräftig — : diese Bundesregierung hat nichts zum Inkrafttreten wichtiger menschenrechtlicher Garantien beigetragen. Sie hinkt hinter anderen europäischen Staaten her. Am 10. Dezember 1988 jährt sich zum 40. Male die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wir fordern die Bundesregierung auf, dafür Sorge zu tragen, daß bis zu diesem Tage die Ratifikationsgesetze zu den vier Menschenrechtsabkommen dem Bundestag zur Ratifizierung vorliegen. Wir wollen nicht, daß der Bundesrepublik Deutschland an diesem Tag international der Vorwurf gemacht werden kann, wichtige Abkommen zum Schutz der Menschenrechte noch immer nicht verabschiedet zu haben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107421700
Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.

Heinrich Seesing (CDU):
Rede ID: ID1107421800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Deutschen haben sicherlich allen Grund, uns ständig, ernst und nachdrücklich für den Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte einzusetzen. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland haben immer ihre Entschlossenheit bekundet, den Menschenrechten in aller Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist nicht in Ordnung, wenn die Opposition der Bundesregierung eine Bremserrolle in der Entwicklung der Menschenrechte in der Welt vorwirft. Das stimmt einfach nicht, auch wenn ich die Antwort auf die Große Anfrage der SPD ebenfalls gern einige Monate früher in der Hand gehabt hätte.
Viel mehr noch als die Frage nach der Zeichnung und der Ratifikation der einzelnen Konventionen und Abkommen ist für mich die Frage nach dem Inhalt und nach dem Willen zu stellen, die vereinbarten Rechte zu gewähren und den Pflichten zu genügen. Entscheidend ist also der Geist, in dem man sich diesen Aufgaben stellt.



Seesing
Ich sagte zu Beginn, daß wir Deutschen allen Grund haben, uns immer wieder für Menschenwürde und Menschenrechte einzusetzen. Wir dürfen nicht vergessen, daß gerade in unserem Vaterland Menschenwürde und Menschenrechte in des Wortes wahrstem Sinne mit Füßen getreten wurden. Wenn wir heute in einem Land leben dürfen, das die Menschenwürde zum obersten Gut seiner Verfassung gemacht hat, so ist gerade das uns Verpflichtung, aus unserer Vergangenheit zu lernen und der Welt aus unseren Erfahrungen mitzuteilen. Ich hoffe, daß sich die Staaten der Welt durch den Beitritt zu den verschiedenen Konventionen so stark gebunden fühlen, daß sie sich der Einhaltung und der Durchsetzung der Menschenrechte auch verpflichtet wissen.
Wir haben vor wenigen Monaten hier über das Protokoll Nr. 6 zur Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe gesprochen. Wir konnten damals deutlich machen, daß wir schon fast 40 Jahre lang mehr erreicht haben. Die Todesstrafe ist bei uns durch die Verfassung ausgeschlossen.
Ich gehe auch davon aus, daß die Bundesregierung noch in diesem Jahr dem Bundestag das Vertragsgesetz zur UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 zuleiten wird. Das gleiche gilt für die Europäische Konvention zum Schutze von festgehaltenen Personen gegen die Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen.
Bleibt noch das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Hier gibt es in der Tat erhebliche Bedenken, und ich wage die Behauptung, daß eine Ratifizierung, bei der alle möglichen Vorbehalte eingebracht werden, die Situation der Menschenrechte nicht verbessern wird.

(Bindig [SPD]: Eine reicht! Ein Punkt!)

Aber ich meine, wir sollten ruhig einmal darüber sprechen.
Ich möchte noch einmal auf unsere Erfahrungen zu sprechen kommen. Gestern am 20. April, wurde in der niederländischen Stadt Eindhoven der Kinder vom Bullenhuser Damm gedacht. In der Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg wurden am 20. April 1945 20 jüdische Kinder durch Erhängen getötet, also ermordet. Vorher hatte man sie monatelang als menschliche Versuchskaninchen benutzt. Mehr waren sie in den Augen der an ihnen forschenden Ärzte nicht. Man hatte sie unglaublich gequält. Weil zwei dieser Kinder aus Eindhoven stammten, hat man in diesem Jahr dort ihrer gedacht. Von viel Unmenschlichkeit war dort gestern die Rede.
Wie kommen Menschen dazu, andere zu quälen, zu foltern, an ihnen zu experimentieren, sie zu töten, zu zertreten und zu vernichten? Wir wissen, daß eine Ideologie dazu geführt hat, die verkündete, daß eine bestimmte Rasse der Menschen wertvoller sein soll als alle anderen. Sicher, diese Ideologie gab es nicht nur in Deutschland. Aber wir haben sie vollendet in einer Kakophonie von Qual und Folter und einer nicht zu beschreibenden Maschinerie des Tötens. Deshalb haben wir auch die Verpflichtung, der Welt den Wert des Menschen und seine Würde zu zeigen, jede Stunde. Das ist ein Erlaß für alle, die diese Aufgabe begreifen. Da sollten wir, wie ich meine, miteinander unsere Aufgabe lösen: Weg mit Folter und unmenschlicher, grausamer Behandlung!

(Beifall bei allen Fraktionen)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107421900
Das Wort hat Frau Abgeordnete Olms.

Ellen Olms (GRÜNE):
Rede ID: ID1107422000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte wurde bereits festgeschrieben, daß niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf.
Die sogenannte Anti-Folter-Konvention vom 10. Dezember 1984 stellt einen weiteren Fortschritt dar, weil darin festgelegt wurde, daß Opfer von Folterungen entschädigt werden sollen, jede Form von Folter — auch unter den Bedingungen von Krieg und der Anwendung von Notstandsrecht — verboten ist, und sich die Vertragsstaaten verpflichten, keinem Folterer Asyl zu gewähren. Im übrigen kann sich niemand mehr auf den sogenannten Befehlsnotstand berufen, was beispielsweise für die argentinischen Foltergeneräle gelten würde.
Wir alle wissen, daß zwischen allgemeinen Menschenrechtsdeklarationen, dem Verbot der Folter und den gesellschaftlichen Realitäten Welten liegen; denn ausgerechnet Länder wie Argentinien, Afghanistan oder auch Uganda gehören zu den Erstunterzeichnern der Anti-Folter-Konvention. Ebenso trat die Türkei diesem Abkommen bei. Hier handelt es sich also um Länder, in denen gefoltert wurde und gefoltert wird.
Daß sich die Bundesregierung mit der Ratifizierung der Anti-Folter-Konvention der UN seit rund zweieinhalb Jahren äußerst schwertut, verwundert nicht; denn in den Reihen der Unionsparteien ist die Frage nach einer eindeutigen und unmißverständlichen Verurteilung von Folterpraktiken ja nicht unumstritten. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht ist bekannt durch seinen Ausspruch, daß Folter' unter Umständen sittlich gerechtfertigt sein könnte. Mir klingt auch noch in den Ohren, daß der bayerische Ministerpräsident Strauß die Chile-Reise von Norbert Blüm als einen „skandalösen Auftritt" abkanzelte und die Tatsache, daß in Chile gefoltert wird, glatt bestritt. Für ihn ist Folter im Zusammenhang mit den 15 von der Todesstrafe bedrohten Chilenen nur eine unfeine Behandlung, was nicht heißen müsse, daß die Geständnisse falsch seien.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Unmöglich!)

Statt dessen sind ja die herausragenden Beziehungen des bayerischen Ministerpräsidenten zum Diktator Pinochet oder dem Rassisten Botha nur allzu bekannt.
Nach meinem Dafürhalten sind es insbesondere drei Punkte in der UN-Anti-Folter-Konvention, die den Unionsparteien Schwierigkeiten bereiten. Er-



Frau Olms
stens. In Art. 3 Abs. 1 der Konvention wird gesagt, daß Personen nicht in Staaten abgeschoben, ausgewiesen und ausgeliefert werden dürfen, wenn schwerwiegende Gründe für die Annahme bestehen, daß sie dort gefoltert werden. Dieser Artikel steht in krassem Widerspruch zur bundesdeutschen Rechtsprechung; denn nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1983, das 1985 bestätigt wurde, ist die erlittene oder die drohende Folter kein genereller Asylgrund, weil es entscheidend sei, ob jemand aus politischen oder strafrechtlichen Gründen gefoltert werde.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Ungeheuerlich!)

Das sogenannte Folterurteil des Bundesverwaltungsgerichts erlaubt also Ausweisungen oder Abschiebungen beispielsweise von Kurden in die Türkei, wenn die türkischen Behörden wegen angeblicher krimineller Delikte ermitteln.
Zweitens. In Art. 3 Abs. 2 der Anti-Folter-Konvention heißt es, daß die zuständigen Behörden im Fall einer Ausweisung die Menschenrechte in dem betreffenden Land zu beurteilen hätten. Für Herrn Strauß gibt es in Chile bekanntlich keine Folter, sondern nur eine unfeine Behandlung von Gefangenen. Auch bezüglich der Menschenrechtsverletzungen und praktizierten Folter in der Türkei gibt es Politiker und Gerichte, die die u. a: von Amnesty International festgestellten Folterpraktiken abstreiten.
Drittens. Auch Art. 15 der Anti-Folter-Konvention dürfte für diese Bundesregierung ein heikler Punkt sein; denn darin heißt es, daß die durch Folter erzwungenen Aussagen und Geständnisse nicht als Beweise in einem Verfahren verwendet werden dürfen. Ich erinnere hier wiederum an das Beispiel Chile: Ein Teil der Unionsparteien und der Bundesinnenminister haben sich die chilenische Unrechtsprechung zu eigen gemacht und die 15 inhaftierten Chilenen als Terroristen bezeichnet.
Es mindert den Wert solcher internationaler Abkommen, wenn es die Bundesregierung an der nötigen politischen Glaubwürdigkeit fehlen läßt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Glaubwürdigkeit muß hinsichtlich der geltenden Asylpraxis und des von mir genannten Folterurteils des Bundesverwaltungsgerichts genauso bestritten werden wie hinsichtlich des vom Bundesjustizminister geäußerten Nachdrucks für die Abschaffung von Folter. Nach wie vor lehnt die Bundesregierung beispielsweise Sanktionen gegen das Rassisten- und Folterregime in Südafrika ab, und der Diktator Pinochet erhält seine 250 Millionen DM Kredit.
Der Beitritt der Bundesrepublik zu den internationalen Anti-Folter-Konventionen wird also nur glaubwürdig, wenn ihm entsprechende Taten folgen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107422100
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107422200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In welchem Maße unsere neuere Geschichte uns wohl doch mehr
als, selbst im langen geschichtlichen Vergleich, andere verpflichtet, hier überaus empfindlich zu sein, hat Herr Kollege Seesing schon ausgeführt. Ich brauche in diesem Kreise nicht die Einzelheiten noch einmal heraufzubeschwören, die dazu geführt haben, daß sich viele unserer Kollegen der ersten Stunde für eine parlamentarische Arbeit zur Verfügung gestellt haben, anstatt sich an anderer Stelle an den Arbeiten zum Wiederaufbau des Landes zu beteiligen, weil sie es als ihre dringendste Aufgabe ansahen, nach dem schrecklichen Geschehen während des Dritten Reiches dafür zu sorgen und daran mitzuwirken, daß sich dieses nicht würde wiederholen können.
Diese Bemühungen waren anfangs besonders notwendig, besonders dringlich auf den Scherben dessen, was man damals kaum noch als Recht unseres im Wiedererstehen begriffenen Staates bezeichnen konnte. Sie haben aber die Geschichte der Bundesrepublik seit damals veranlaßt, durch das von und für uns alle gegebene Grundgesetz, immer begleitet, und daran sind alle Parteien, insbesondere alle in diesem Hause vertretenen Parteien und Fraktionen, daran sind auch Bundesregierungen aller denkbaren Zusammensetzungen — ohne die neueste hier im Bundestag vertretene Partei — beteiligt gewesen, und daran sind alle Regierungen der Länder beteiligt gewesen. Sie sind daran beteiligt gewesen, nicht nur ein Rechtssystem, sondern auch eine Verwaltungs- und Verfassungswirklichkeit zu schaffen, in der die Wiederholung der Verbrechen in unserem Lande in keiner Form, auch nicht in geringfügiger Form, wieder möglich sein würde. Denn man muß die Gelegenheit, man muß das Klima, und man muß schon ganz und gar Organisationsformen vermeiden, die zu diesen Greueltaten, die wir zu beklagen hatten, herausfordern, vielleicht sogar zu solchen führen.
Da dies alles so war, haben wir überhaupt keine Veranlassung, erstens als Missionare in die Welt zu ziehen und auf andere zu weisen, zumal der Erfolg missionarischer Bemühungen höchst zweifelhaft zu sein pflegt und das Einzelgespräch bei einigermaßen bestehenden Beziehungen mehr Aussicht auf eine Linderung für die Betroffenen verspricht als irgendwelche spektakulären Maßnahmen im internationalen Raum.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Dazu kommt allerdings auch die durch unsere Geschichte gebotene bescheidene Zurückhaltung in diesem Bereich.
Zweitens ergibt sich daraus aber auch, daß es geradezu unverständlich ist, aus dem äußeren Hergang schwieriger Beratungen, an denen sich die Bundesregierung sehr aktiv beteiligt hat, hier Vorwürfe der derzeitigen Opposition gegen die Regierung zum wiederholten Mal und in ganz dramatischer Form herzuleiten, obwohl tatsächlich die Bemühungen und ein aktives Mitwirken der Bundesregierung aus den eingangs genannten Gründen überhaupt nicht zu bestreiten sind.

(Bindig [SPD]: Machen Sie sich mal sachkundig!)

Bei den Einzelmaßnahmen, von denen ich gesprochen habe, gebührt nicht nur den Anstrengungen der



Kleinert (Hannover)

Regierungen und auch der Parlamentarier, auf deren Reisen — ich möchte hier nicht auf Einzelheiten eingehen, um nicht unlogisch zu werden — Gelegenheit besteht, eine Fülle von nützlichen Einzelgesprächen und Beeinflussungen zumindest zu versuchen, sondern es gebührt auch insbesondere solchen Zusammenschlüssen von Privatpersonen, wie in erster Linie Amnesty Tnternational, unser aller Dank, weil diese Dinge in ihrer Summe tatsächlich mehr versprechen als noch so spektakuläre Aktionen.
Im übrigen danke ich an dieser Stelle ausdrücklich dem Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, und dem Bundesjustizminister für die Bemühungen, die sie in dieser Sache schon unternommen haben und bei denen ich sicher bin, daß sie diese getreu dem, was insbesondere die Liberalen in dieser Frage geleitet hat, in baldiger Zukunft erfolgreich zum Abschluß bringen werden.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Bindig [SPD]: Das war ja wohl nichts!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107422300
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Justiz das Wort.

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1107422400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung setzt sich wie schon frühere Bundesregierungen unermüdlich dafür ein, daß die Menschenrechtsgarantien in möglichst vielen Staaten zu verbindlichem Recht werden. Sie wird auch weiterhin darauf drängen, daß die beiden grundlegenden internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 von allen Staaten ratifiziert und eingehalten werden.
Insbesondere der inhumanen Todesstrafe haben wir den Kampf angesagt. Die Bundesrepublik Deutschland hat nicht nur für sich als einer der ersten europäischen Staaten die Todesstrafe in der Verfassung vollkommen abgeschafft, sondern sie ist sehr entschlossen gegenüber den europäischen Staaten, aber auch in der Generalversammlung der Vereinten Nationen für eine weltweite Ächtung der Todesstrafe und ihre Abschaffung eingetreten.
Das Sechste Protokoll zur Menschenrechtskonvention über die Abschaffung der Todesstrafe ist ein bedeutsamer Schritt auf dem Wege zu unserem Ziel. Die Bundesregierung hat das Vertragsgesetz zu dem Protokoll bereits den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet. Von den zuständigen Ausschüssen ist es ebenfalls bereits abschließend behandelt worden. Das Protokoll kann bald ratifiziert werden.
Auch an der Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung in allen Staaten dieser Welt hat die Bundesregierung ein vitales Interesse. Sie hat daher die europäische Anti-Folter-Konvention zum frühestmöglichen Zeitpunkt gezeichnet. Sie hat die Ratifizierung dieser sowie der UN-Anti-FolterKonvention vorbereitet. Es ist vorgesehen, noch in diesem Jahr die beiden Vertragsgesetze einzubringen.
Hindernisse bestehen — das will ich mit großer Deutlichkeit sagen — nur bei der Ratifizierung des Fakultativprotokolls zum Zivilpakt der Vereinten Nationen. Das bewährte Kontrollsystem zur Einhaltung der Menschenrechte nach der Europäischen Menschenrechtskonvention darf nicht verwässert werden. Die Effektivität des Menschenrechtsschutzes darf nicht unter neuen Kontrollsystemen leiden. Gerade für den Menschenrechtsschutz halten wir an dem Grundsatz fest: Qualität geht vor Quantität.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107422500
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung der Inhaftierung von Kindern
— Drucksache 11/1403 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107422600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Gesetzentwurf befaßt sich mit einer ganz besonderen Gruppe von Objekten des staatlichen Strafanspruchs. Vielleicht ist es vielen Leuten nicht bekannt, aber es ist traurige Realität, daß bis zu 100 Säuglinge und Kleinkinder zur Zeit ihre ersten und entscheidenden Lebensjahre hier in der Bundesrepublik im Gefängnis verbringen, obwohl das Gewissen selbst von Gefängnisdirektorinnen und -direktoren dadurch stark belastet wird, stehen Millionenbeträge bereit, um wieder neue Haftplätze hinter Mauern für Mütter und Kinder zu schaffen. Geplant sind Erweiterungen bzw. Einrichtungen solcher Plätze in Willich, Berlin und Vechta. Außerdem bringen immer wieder Frauen ihr Kind im Gefängnis zur Welt. Dadurch entstehen natürlich paradoxe und unmenschliche Situationen; das kann sich eigentlich jeder normal denkende und fühlende Mensch vorstellen.
Ich will hier ein Beispiel erzählen: Eine 36jährige Strafgefangene in Berlin wurde 1985 Mutter eines Sohnes. Es entbrannte ein erbitterter Streit über die Frage, ob das Kind bei der Mutter bleiben dürfe oder nicht. Dieser Streit ist wohl hauptsächlich deshalb vom Zaun gebrochen worden, weil dieses Kind bei einem Besuch des Vaters bei der inhaftierten Mutter gezeugt wurde. Die Mutter hatte eine elfjährige Haftstrafe zu verbüßen. Deshalb befürchtete der Justizsenator schwere seelische Schäden für das Kind, wenn man es länger als die in Berlin zulässigen drei Jahre mit der Mutter inhaftieren würde.
Die SPD in Berlin forderte in vermeintlichem Fortschritt — der entsprechende Paragraph des Strafvollzugsgesetzes ist in der SPD/FDP-Zeit eingeführt worden — , das Kind auf der Mutter-Kind-Station mit der Mutter unterzubringen. Auf die eigentlich nahelie-



Frau Nickels
gendste Forderung, die normalen Familienvätern und -müttern einfallen würde, daß nämlich Schwangere und Mütter mit so kleinen Kindern überhaupt nicht eingesperrt werden dürfen

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Das ist völlig richtig!)

oder eingesperrt werden sollten, ist damals niemand gekommen, nur die AL-Fraktion. Und die hatte Beispiele. In Italien wird das so praktiziert. Dort werden Schwangere und Mütter mit kleinen Kindern nicht eingesperrt, da wird die Strafe in Hausarrest umgewandelt.
Zur Entbindung innerhalb der Gefängnisse bzw. im Rahmen des Vollzugsgesetzes in einer normalen Klinik schreibt Professor Dr. Stauber — er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie — :
Ich glaube, daß es kaum zu verantworten ist. In einer Untersuchung hier an der Universität Berlin-Charlottenburg hat sich gezeigt, daß Frauen, die inhaftiert sind und ihr Kind hier austragen, schon während der Schwangerschaft, während der Geburt und auch im Wochenbett vermehrt Komplikationen hatten. Vermehrt frühgeborene Kinder, mangelentwickelte Kinder, Krankheiten bei den Neugeborenen haben wir beobachtet. Die mißliche Situation dieser Frauen, meist schon vorgegeben im sozialen Bereich, wird verstärkt durch die schwierige Haftsituation.
Was mit Kindern ist, die ihre ersten Lebenserfahrungen im Gefängnis machen und dadurch für ihr ganzes Leben entscheidend geprägt werden, kann man sich eigentlich vorstellen. Ich glaube, es ist nicht human und unserer Gesellschaft unwürdig, daß in unserer Demokratie der Strafanspruch des Staates in der Werteordnung einen höheren Rang einnimmt als ein menschenwürdiger Umgang mit Mutter und Kind.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Struck [SPD])

Auch das Strafvollzugsgesetz der DDR — ich habe gerade auf das Beispiel Italien verwiesen — sichert z. B. bei einer Schwangerschaft die Aussetzung des Vollzuges zu.
Dann ist auch etwas zu den Delikten zu sagen. Nach den letzten verfügbaren Statistiken werden jährlich etwa 20 000 Frauen als Zugänge in den Gefängnissen der Bundesrepublik und Berlin (West) registriert. Jährlich sind ca. 51 000 bis 58 000 Kinder durch Haft oder Trennung von der Mutter betroffen. Die Delikte der Mütter, die zur Zeit mit ihren Kindern inhaftiert sind, sind überwiegend — das finde ich auch sehr wichtig — Betrug oder Diebstahl mit geringem Tatschaden, und die Durchschnittsstrafe beträgt 13 Monate. Hier muß ich, wenn ich die menschliche Komponente weglasse und allein den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit heranziehe, einfach fragen: Wo bleibt bei dem Leid dieser wehrlosen Kinder die Verhältnismäßigkeit?

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Vielleicht stimmt nicht, was Sie gesagt haben!)

— Darüber können wir uns im Rechtsausschuß noch
genau unterhalten. Daran arbeiten wir seit drei Jahren
intensiv. Wir werden dazu wie bisher präzise arbeiten
und argumentieren. Ich war in solchen Gefängnissen. Ich weiß, was ich sage.
Betroffen von der gemeinsamen Inhaftierung von Mutter und Kind sind übrigens immer etwa hundert von den Frauen, die ich gerade genannt habe. Daran können Sie sehen: Es ist eine sehr kleine Gruppe. Es ist wirklich die Frage, ob man Millionen verpulvern sollte, um diese Mütter mit ihren Kindern einzusperren, oder ob man sich etwas Gescheiteres einfallen lassen könnte. Unsere Nachbarländer können das offensichtlich.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Erbarmen mit den Stenographen! Das ist zu schnell! — Peter [Kassel] [SPD]: Ein angemessener Zwischenruf, Herr Kollege!)

Es ist so, daß hier in der Bundesrepublik die „Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Initiativen und Gruppen in der Straffälligenarbeit" schon 1985 gefordert hat, daß alle Mütter mit Kindern bis zu sechs Jahren im Interesse der Mutter-Kind-Beziehung und zum Wohle der Kinder durch eine Amnestie aus den Gefängnissen erlassen werden sollten. Bei Eigentumsdelikten sei das Wohl des Kindes höher einzuschätzen als der Strafanspruch des Staates.

(Beifall des Abg. Dr. Knabe [GRÜNE])

Durch die Entlassung von rund hundert Müttern breche dem Staat kein Zacken aus der Krone. — Das meine ich allerdings auch. —

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der sonst so überstrapazierte Art. 6 des Grundgesetzes, der Ehe, Familie und Kinder unter den besonderen Schutz der Gemeinschaft und der staatlichen Ordnung stellt, müsse hier grundsätzlich Vorrang haben.
Sie haben gerade gesagt, ich wisse gar nicht, wovon ich rede. Deshalb will ich Frau Professor Einsele zitieren. Sie ist eine Frau, die für Humanität im Vollzug eintritt und sie hat langjährige Erfahrungen gemacht, hat diese Form des Strafvollzugs mit aufgebaut. Auf Grund ihrer Erfahrungen bei Aufbau und Entwicklung von Mutter-Kind-Einrichtungen lehnt sie heute deren Ansiedlung innerhalb geschlossener Strafanstaltsbereiche entschieden ab. Das ist eine Praktikerin mit viel Erfahrung, die anfangs Befürworterin war und heute umgedacht hat. Ich finde, das sollte man wirklich auch einmal können: sich eines Besseren belehren lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Unterbringung der Mütter mit ihren Kindern ist in einzelnen Haftanstalten sehr unterschiedlich, die Prozeduren ihnen gegenüber unterscheiden sich aber nicht wesentlich. Die Mütter haben zum Haupttrakt in den Gefängnissen in der Regel keinen Kontakt, denn mit dem Anwachsen der Drogendelikte besteht nach Meinung der Anstaltsleitung die Gefahr, daß mit Hilfe der Kinder „Stoff" ins Gefängnis geschmuggelt und dort verkauft wird. Deshalb wird auch bei den kleinsten Kindern nach der Rückkehr vom Ausgang zunächst eine Leibesvisitation durchgeführt. Ich war, wie gesagt, in Preungesheim. Es ist so, daß dann die Windel aufgemacht wird. Das Kind wird von oben bis unten durchsucht. Wenn die Kinder etwas größer sind



Frau Nickels
— und Kinder sind nicht dumm, sie sind keine animalische gefühllose Masse —, empfinden sie mit jeder Pore ihres Körpers und mit ihrem kleinen Verstand, was da passiert, und sie werden für ihr ganzes weiteres Leben beeinträchtigt. Daß da kleine Kinder leibesvisitiert werden, ist eine Sache, die man sich wirklich einmal vorstellen muß!
Bei Kindern über drei Jahren verzichtet in Frankfurt-Preungesheim Frau Maelicke auf diese Prozedur, weil sie sagt: Dann könnten die Kinder das ja schon merken. Ich glaube — das habe ich gerade schon gesagt — , daß die Kinder auch schon weitaus früher mitbekommen, was da eigentlich passiert, und daß sie dadurch geprägt werden.
Im Gegensatz zu Frankfurt, wo die Kinder zusammen mit ihren Müttern in der Zelle wohnen, ist es in Aichach in Bayern so, daß die Kinder nicht gemeinsam mit ihren Müttern in einer Zelle untergebracht werden, sondern separate Schlafsäle in der abgeschlossenen Kinderabteilung haben. Nachmittags arbeiten die Mütter bis 16 Uhr und haben die Kinder dann noch einmal für ca. zwei Stunden, bevor sie am Abend in den Zellen des Haupttraktes eingeschlossen werden.
In Aichach werden auch keine Kinder aufgenommen, die bei der Entlassung älter als drei Jahre sind. Daß allerdings die Alternative für derart abgewiesene Kinder meist Heimaufenthalt oder wildfremde Pflegeeltern, in jedem Falle aber Trennung von der Mutter bedeutet, ist der unausgesprochene Nebeneffekt. Egal also, wie gut man es meint, auch von seiten der Anstaltsleitung — ich war, wie gesagt, in Preungesheim und habe dort sehr viel Bemühen von seiten der Anstaltsleitung und auch des Personals erlebt — , man hat eigentlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Man hat die Wahl, das Kind mit der Mutter einzusperren oder es von ihr zu trennen und in irgendein Heim zu stecken. Das ist überaus belastend und — auch für diejenigen, die es zu betreuen haben — menschenunwürdig.
Allerdings ist es so, daß die getrennte Unterbringung für die Mütter vielleicht noch das geringere Übel ist, denn durch den Haftaufenthalt wachsen natürlich in diesen Frauen auch Aggressionen heran. Wenn die Mütter mit ihren Kindern eingesperrt sind und gar nicht hinauskönnen — sie können ja mit den Kindern in dieser Zeit nicht irgendwie nach draußen — , ist es menschlich verständlich, daß sie ihre Frustration oft direkt oder auch indirekt — und das Kind merkt ja, was sich mit der Mutter da vollzieht — an den Kindern abreagieren und daß dadurch auch für die Kinder Probleme entstehen.
Ich habe schon erwähnt, daß wir in Preungesheim waren. Ich will gar nicht viel dazu sagen, wie die Kinder geschädigt werden, aber einiges ist uns sofort aufgefallen. Wir waren sehr lange dort und konnten uns auch mit den Müttern und den Kindern unbefangen unterhalten. Mein Kollege Gerald Häfner hat dann angefangen, mit einem kleinen Jungen ein Haus zu bauen, und das erste, was dieses Kind sagte, war: Hör mal, wo ist denn der Schlüssel? Neben diesem Schlüssel-Syndrom gibt es noch eine ganze Menge von Beispielen dafür, wie diese Kinder den Gefängnisaufenthalt wirklich mit jeder Faser aufsaugen und davon geprägt werden.
Wir glauben — und das ist auch eine Frage an Herrn Bundesjustizminister Engelhard — , daß mit unserem Gesetzentwurf ein vernünftiger und auch pragmatischer Vorschlag gemacht worden ist. Wir schlagen nämlich vor, daß der staatliche Strafanspruch für eine begrenzte Zeit dem Wohl des Kindes unterzuordnen ist. Wir haben das genau aufgelistet. Der Entwurf vermeidet grundsätzlich die Inhaftierung von Schwangeren und von Müttern nicht schulpflichtiger Kinder und ihnen gleichgestellter Personen. In den von mir gerade genannten Fällen sollen im Rahmen der Untersuchungshaft der Vollzug eines Haftbefehls ausgesetzt und im Rahmen der Freiheitsstrafe die Vollstrekkung aufgeschoben oder unterbrochen werden, solange die oben genannten Voraussetzungen bestehen. Nach deren Wegfall ist gerichtlich zu prüfen, ob eine Inhaftierung noch zur Sicherung der Strafverfolgung notwendig ist.
Herr Engelhard, ich bitte Sie, daß Sie uns im Rechtsausschuß selber Ihre Meinung darlegen, und ich hoffe auch, daß Sie auf die Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren gemacht haben, eingehen, weil ich mir eigentlich von seiten der CDU wenig erhoffe, es sei denn, Sie können mich hier gleich eines besseren belehren. Herr Geißler hat als Familienminister 1984 in Beantwortung einer Kleinen Anfrage meiner Kollegin Petra Kelly eine völlig unakzeptable Antwort gegeben. Er hat damals gesagt — ich kann das vielleicht noch vortragen und bin dann fertig — :
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß die nach den §§ 80, 142 des Strafvollzugsgesetzes zulässige Unterbringung eines Kindes in der Justizvollzugsanstalt, in der sich seine Mutter befindet, zu Schäden führt.
Und jetzt wird es besonders interessant:
Dies würde auch den geltenden bundesgesetzlichen Vorschriften widersprechen.
Denn das Gesetz lasse diese Unterbringung ausdrücklich nur zu, wenn sie dem Wohl des Kindes entspreche.
Ich finde, hier ist die Paradoxie auf den Höhepunkt getrieben, und ich hoffe auf eine konstruktive Beratung im Rechtsausschuß — im Interesse dieser Kinder und ihrer Mütter.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107422700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.

Heinrich Seesing (CDU):
Rede ID: ID1107422800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorgelegte Gesetzentwurf gibt Veranlassung, über mehrere Fragen nachzudenken und vielleicht auch schon eine Antwort zu finden.
Erstens. In der Einführung zum Gesetzentwurf heißt es:
Der Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, den staatlichen Strafanspruch dem Wohl des Kindes und seiner frühen Entwicklung für einen begrenzten Zeitraum unterzuordnen.



Seesing
Meine Frage nun: Was soll eigentlich Strafe? Ohne Grund wird keiner zu einer Strafe verurteilt. Der Grund dafür ist ein Verstoß gegen unsere Rechtsordnung. Für die Art und Höhe der Strafe ist neben der Schuld der Strafzweck der Vorbeugung maßgebend. Der Staat ist verpflichtet, ein möglichst weitgehendes friedliches Miteinander der Menschen zu garantieren.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das mit der Vorbeugung ist nicht auf das Kind bezogen! — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Auf diese Rechtsdogmatik war ich gefaßt!)

Aus dieser Verpflichtung nimmt er die Berechtigung zur Strafe. Dafür steht ihm ein umfassendes Sanktionensystem zur Verfügung, das sich in dem einen oder anderen Fall noch etwas ausgestalten ließe.
Zweitens. Ich sagte schon, daß es auch darum geht, künftigen Straftaten möglichst weitgehend vorzubeugen. Das wird man sicher nicht allein mit dem Strafrecht schaffen. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, daß es hilft, in labilen Menschen eine Barriere gegen das Begehen von Straftaten aufzubauen. Ich weiß, daß man noch mehr tun muß. Hilfe sein kann die Geborgenheit in einer Familie. Aber wie will der Staat diese Geborgenheit schaffen? Das ist schon eine Aufgabe, die von der Gesellschaft und den Menschen in ihr angepackt werden muß.
Es kommt hinzu, daß der Halt in Religion, Sitte und Kultur sich weitgehend aufgelöst hat, ohne daß man einen Ersatz dafür gefunden hätte.
Nun wird die Mutter oder der alleinerziehende Vater straffällig, aus welchem Grund auch immer. Auch ich habe schon darüber nachgedacht, ob man hier unbedingt zu einer Haftstrafe greifen muß. Ich bin noch nicht fertig mit dem Nachdenken. Dabei ist bei mir aber auch die Frage aufgetaucht: Wieso wird eine Mutter straffällig, wenn sie schon in die Sorge um ein Kind eingebunden ist? Müßte nicht gerade der Gedanke an das Kind sie von Straftaten fernhalten? Umgekehrt: Können nicht labile Frauen und Männer, die ein Kind erziehen und vielleicht auch deshalb nicht straffällig geworden sind, bisher wenigstens nicht,

(Frau Olms [GRÜNE]: Dann machen Sie doch einen Zeugungstest!)

nun nicht plötzlich denken: Ich brauche keine Rücksicht mehr zu nehmen, mindestens etliche Jahre werde ich strafverschont bleiben?
Dann heißt es weiter in der Drucksache — damit komme ich zum dritten Punkt — :
Nach deren Wegfall ist gerichtlich zu prüfen, ob eine Inhaftierung noch zur Sicherung der Strafverfolgung bzw. des staatlichen Strafanspruches notwendig ist.
Ich übersetze das so: Die Strafverschonungszeit ist abgelaufen, z. B. weil das Kind in die Schule kommt. Jetzt kommt es aber nicht zum Strafantritt — zugegeben, der erste Schultag wäre natürlich der ungünstigste Termin dafür — , sondern zunächst zu einer wahrscheinlich komplizierten Prüfung, ob die Strafverfolgung noch notwendig ist. Man könnte, ja man müßte wohl mit sehr unterschiedlichen Kriterien in jedem
Einzelfall an diese Prüfung herangehen. Ich habe da Sorgen wegen der Gleichbehandlung der Fälle.
Ich möchte nun noch einiges zu den Vorschlägen des Gesetzentwurfes selber sagen:
Erstens. Frau Nickels schlägt also eine Erweiterung des j 116 der Strafprozeßordnung um einen neuen Abs. i vor. Ich schlage vor, diese Frage im Zusammenhang mit einer möglichen Änderung des Rechts der Untersuchungshaft aufzugreifen, bin allerdings der Auffassung, daß der jetzige Abs. 3 des § 116 eigentlich ausreichen müßte, wenn wir es mit vernünftigen Richtern zu tun haben. Davon will ich einmal ausgehen.
Zweitens. Mit dem Inhalt des vorgeschlagenen § 455 a der Strafprozeßordnung kann ich mich so noch nicht anfreunden. Ich meine, daß man durchaus auch an familienfreundliche Lösungen in der Strafvollstreckung denken kann, die über das bisherige System der Mutter-Kind-Station hinausgehen. Ich sagte vorhin: Man muß darüber nachdenken.
Ich könnte mir auch denken, daß man einzelne sehr schlimme Härtefälle über die §§ 455 a und 456 regeln kann, wobei ich mir eine Erweiterung des Zeitraumes nach § 456 Abs. 3 vorstellen kann. Da wird von einer Viermonatsfrist gesprochen. Das könnte ich mir auch anders vorstellen.
Drittens. Vor der Aufhebung der §§ 76 bis 80 des Strafvollzugsgesetzes würde ich warnen. Ich kann mir straffällig gewordene Frauen vorstellen, die aus unterschiedlichen Gründen eine solche Lösung in Anspruch nehmen möchten. In anderen Fällen wird oft vom Selbstbestimmungsrecht der Frau gesprochen. Auch hier sollte man die Entscheidung offenlassen.
Was mich auch nicht zufriedenstellt in Ihrem Entwurf, Frau Nickels, ist die undifferenzierte Behandlung betroffener Mütter und Väter. Sie gehen zwar sehr ausschließlich vom Wohl des Kindes aus, was eigentlich zu begrüßen wäre, aber man müßte eingehend darüber diskutieren, was das Wohl des Kindes ist. Ich weiß, daß Sie das sehr ernst nehmen, und ich hoffe, daß auch ich das tue. Jedoch meine Frage: Müßte man nicht auch die Straftat und die Strafdauer in die Überlegungen einbeziehen? Schließlich ist eine Strafe auch eine Sühne für begangenes Unrecht. Diesen Charakter der Strafe — zugegeben, das ist nur ein Teilaspekt, aber ein nicht unwichtiger — sollte man nicht aus den Augen verlieren.
Meine Befürchtungen habe ich zu Beginn geäußert. Wir werden noch viel zu überlegen haben, wenn wir diesen Gesetzentwurf beraten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107422900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1107423000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es lohnt sich, den Gesetzentwurf noch einmal sorgfältig anzuschauen. Er will
— auf einen Nenner gebracht — Schwangere
— gleichgültig, in welchem Stadium sie sich befinden — und Mütter mit einem allein von ihnen zu erziehenden Kind in nicht schulpflichtigem Alter von



Dr. de With
der Haft, mag es sich um die Untersuchungshaft oder die Strafhaft handeln, verschonen, im Fall der Strafhaft wohl meist nur in Form eines Aufschubs.
Im Fall der Untersuchungshaft, nicht aber der Strafhaft, gilt dies auch für den alleinerziehenden Vater und den Pflegeelternteil. Im Fall der Strafhaft muß die Mutter Haftbefreiung erhalten, wenn sie für einen Säugling unter einem Jahr zu sorgen hat. Ob sie für ihn allein sorgt, spielt in diesem Fall keine Rolle.
Begründet wird der Entwurf angesichts, wie es heißt, „eindeutiger medizinischer Untersuchungsergebnisse" über — ich zitiere weiter — „gravierende Komplikationen" bei Schwangeren. Umfangreiche Untersuchungen belegten ferner eindeutig, daß das Ziel der im heutigen Strafvollzug vorgesehenen Mutter-Kind-Einrichtungen zur Überwindung der durch die Trennung bedingten Nachteile nicht erreicht worden sei.
Die Ergebnisse, Frau Nickels, sind indessen keineswegs so eindeutig, daß der staatliche Untersuchungsanspruch und der staatliche Strafanspruch, ich betone: in jedem Fall ohne Ausnahme zurücktreten müßten. Die unterschiedliche Behandlung der Untersuchungshaft und Strafhaft ist sicher in diesem Maß auch nicht begründet.
Vor allem ist es aber keineswegs so — darauf hat Herr Seesing mit Recht hingewiesen —, daß die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes aus dem Jahr 1976, die Bestimmungen der Strafprozeßordnung zur Vermeidung von Untersuchungshaft — dort gibt es eine Menge Vorschriften; diese muß man genau nachlesen — und die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs zur Strafaussetzung zur Bewährung nicht genug flexible Möglichkeiten böten.
Ich sage deshalb: Der Rigorismus der Vorlage der GRÜNEN und danach der Gesetzesantrag können deshalb so nicht akzeptiert werden.
Aber — und das bleibt festzuhalten — die Problematik bleibt. Ich füge hinzu: Darauf hinzuweisen ist sehr verdienstvoll.
Die Probleme bei der Inhaftierung von Schwangeren und Müttern mit kleinen Kindern ließen sich allerdings leichter lösen, hätte die Koalition die Vorstellung der Sozialdemokraten nicht abgelehnt, die Regelstrafaussetzung zur Bewährung auf zwei Jahre und die Strafaussetzung zur Bewährung im Sonderfall auf drei Jahre auszudehnen.
Die Bestimmungen für Schwangere und Mütter mit kleinen Kindern gibt es für den Bereich der Untersuchungshaft nicht, wie wir sie ausführlich aus dem Strafvollzug kennen (§§ 76ff.). Aber auch die Untersuchungshaft unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Gravierende Mißhelligkeiten genereller Art im angesprochenen Bereich sind wenig bekannt. Doch — das füge ich hinzu — auch dieses Problemfeld ist eine Prüfung wert. Das fällt uns Sozialdemokraten um so leichter, als die SPD-Bundestagsfraktion unlängst eine Novelle zur Untersuchungshaft im Bundestag eingebracht hat, um die Zahl der Inhaftierten zu senken. Ein entsprechender Entwurf der Bundesregierung läßt leider noch immer auf sich warten.
Nach einem Aufsatz von Rosenkranz in der Zeitschrift „das kleinkind" gab es 1986 in der Bundesrepublik Deutschland an Mutter-Kind-Einrichtungen so viele, daß — die Zahlen sollte man beachten —65 Mütter und 75 Kinder untergebracht werden könnten. Rosenkranz führt dazu weiter aus — auch diese Zahl ist nicht ganz unwesentlich — :
Eine kürzlich durchgeführte Umfrage bei allen derzeit unterbringenden Mutter-Kind-Einrichtungen ergab, daß sich an einem bestimmten Stichtag bundesweit 35 Kinder und etwa 33 Mütter gemeinsam in Haft befanden.
Rückfragen von mir bei den einschlägigen Anstalten haben ergeben, daß sich daran im Prinzip bis heute nicht viel geändert hat. Auch die Zahl der verhafteten Schwangeren — Statistiken darüber gibt es leider nicht — wird eher gering sein. Wenn es sich dabei auch — und das betone ich — um kein Massenproblem handelt, so hat dennoch ein sozialer Rechtsstaat für jeden Einzelfall zu sorgen, und gäbe es nur einen einzigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Das Klischeebild — das darf allerdings hinzugefügt werden — von Mutter-Kind-Einrichtungen in den derzeitigen Justizvollzugsanstalten als grauzelligen, lieblosen Betonkasematten mit gefühllosem und unverständigem Personal sowie mageren Räumlichkeiten ist sicher falsch. Es ist viel zuwenig bekannt, daß hier bei den Räumlichkeiten, den Spielmöglichkeiten, bei der Betreuung und bei den Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt ganz erhebliche Fortschritte gemacht worden sind. Das schließt überhaupt nicht aus, daß Verbesserungen nötig und auch möglich sind. Man muß die Situation aber fair und nicht einseitig beschreiben.
Für uns stellen sich die Vor- und Nachteile der Mutter-Kind-Einrichtungen nach der Literatur

(Abg. Frau Nickels [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— einen kleinen Moment — wie folgt dar — das sind die beiden Gegensätze, von denen unsere Überlegungen ausgehen — :
Erstens. Nicht in jedem Fall führt die Trennung von Mutter und Kind zu Entwicklungsdefiziten der Kinder. Es kommt wohl darauf an, ob auf Grund starker Abhängigkeit von der Mutter eine, wie Rutter es nennt — ich muß ihn zitieren —, „Entwurzelung von Gefühlsbindungen" verursacht wird und der Mutterbezug bei der zeitlich befristeten räumlichen Trennung aufrechterhalten werden kann.
Zweitens. Die der Gefängnissituation oder, wie es hier heißt, der „totalen Institution" ausgesetzten Kinder können durch das stereotype, stets gleichförmige Haftumfeld und durch das Fehlen der normalen Alltagswirklichkeit ganz sicher erhebliche Entwicklungsdefizite mit Verkümmerung ihrer Anregungsfähigkeit erleiden. Aber auch hier ist wohl zu unterscheiden, worauf Sie allerdings schon hingewiesen haben, zwischen Säuglingen und Kleinstkindern einerseits und Kindern zwischen zwei und fünf Jahren andererseits. — Bitte, Frau Nickels.




Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107423100
Frau Nickels, jetzt sind Sie dran.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107423200
Herr de With, würden Sie mir denn zustimmen, daß selbst die liebevollste Ausgestaltung und größtmögliche Bemühung die Gitter nicht wegkriegt, die Mauer nicht wegkriegt, die Situation der Mütter nicht wegkriegt und auch keinen Alltag hineinzaubert? Das äußert sich z. B. darin, daß die Betreuerinnen mit den Kindern nach draußen müssen, um denen zu zeigen, was ein Bäcker ist, was eine Straßenbahn ist, wie ein normales Leben abläuft. Der Gefängnisalltag ist also etwas völlig anderes als ein ganz normales Leben.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1107423300
Das bestreite ich durchaus nicht, aber ich habe auch darauf hingewiesen, daß unterschieden werden muß zwischen Kleinstkindern und den Kindern älterer Stufe und daß es dann auch sehr wohl auf die Art der Einrichtung ankommt. Die bisherige Literatur und die bisherigen Erfahrungen sagen zweierlei: Es kann durchaus ein entsprechender Aufenthalt hilfreich sein. Es muß vorher sehr sorgfältig geprüft sein, ob er es ist; er kann aber auch sehr schädlich sein, und in diesem Fall verbietet sich ein Aufenthalt. Man darf und kann aber nicht schwarzweißmalen. Deswegen bitte ich, mir noch ein klein wenig zuzuhören. Ich glaube, daß auch Sie damit Befriedigung finden werden.
Wir meinen, daß zur sorgfältigen Anwendung der Vorschrift des Strafvollzugsgesetzes, nach der eine verurteilte Mutter mit ihrem nicht schulpflichtigen Kind in der Mutter-Kind-Einrichtung einer Justizvollzugsanstalt untergebracht werden kann — und ich sagte schon, es handelt sich hier um eine flexible Kann-Bestimmung — , gehört, daß u. a. folgende Gesichtspunkte geprüft werden:
Erstens. Das Kind darf als unschuldig Mitgefangener nicht zum bloßen Heilagenten für die verurteilte Mutter werden. Das Wohl des Kindes steht obenan. Vielleicht hören Sie einmal genau zu.
Zweitens. Es sollte zwischen Säuglingen und Kleinstkindern auf der einen Seite und Kindern von zwei bis fünf Jahren auf der anderen Seite unterschieden werden.
Drittens. Vornehmlich im Fall von Kindern zwischen zwei und fünf Jahren sollte äußerst sorgfältig geprüft werden, ob nicht allein ein Freigängerhaus geeignet ist, den von Ihnen, Frau Nickels, erwähnten Kontakt mit der Alltagswirklichkeit herzustellen.
Der staatliche Verfolgungsanspruch ebenso wie der staatliche Strafanspruch sind nach unserem Recht aus gutem Grund Grundsätze, die ohne Ansehen der Person gegen jedermann als dringend Verdächtigen oder Verurteilten anzuwenden sind. Beide Ansprüche unterliegen jedoch auch dem Verfassungsgebot der Güterabwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Dies gilt vornehmlich dann, wenn unschuldige Dritte betroffen sind und solche, die sich in einer besonderen psychischen Zwangslage befinden. Das kann nach dem gegenwärtigen Stand unserer Erfahrungen nicht rechtfertigen, daß Schwangere und Mütter mit schulpflichtigen Kindern in jedem Falle von der Haft ganz oder auf lange Dauer ausgenommen werden — ich sagte: in jedem Falle — , aber es rechtfertigt
und verpflichtet uns dazu, daß die bisher vorhandenen flexiblen Bestimmungen der Strafprozeßordnung und des Strafvollzugsgesetzes in ihrer Anwendungspraxis überprüft und erforderlichenfalls durch Maßnahmen und Hinweis und notfalls auch durch Gesetzesänderungen korrigiert werden.
Gestatten Sie mir ein Wort noch zum Schluß, das ich sehr ernst meine. Der Gesetzentwurf wendet sich nach seiner Überschrift nur gegen die Inhaftierung von Kindern. Wir haben aber zur Zeit ein Problem, das verdrängt wird, aber im Kern als gravierender angesehen werden muß, nämlich die Inhaftierung von 14- und 15jährigen. Dabei müssen wir die Misere feststellen, daß es dort eine außerordentlich hohe Selbstmordrate gibt. Ich meine, wir sind zuvörderst aufgerufen, diesen gravierenden Umstand abzustellen.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Beides!)

— Das schließt nicht aus, daß wir das parallel beraten müssen. —
Ich nehme das zum Anlaß, den Bundesminister der Justiz zu bitten, die Vorarbeiten und Beratungen, die in seinem Hause geführt werden, zu beschleunigen, damit wir alsbald das Jugendgerichtsgesetz wirklich reformieren und diesen, wie ich meine, ganz üblen Umstand korrigieren können.
Ich bedanke mich für die Geduld.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107423400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1107423500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach §§ 80 und 142 des Strafvollzugsgesetzes ist die gemeinsame Unterbringung von Säuglingen und Kleinkindern mit ihren straffällig gewordenen Müttern seit einiger Zeit möglich. Dieses Verfahren hat sich bewährt. Die GRÜNEN unterstellen mit ihrem Gesetzentwurf, daß diese gemeinsame Unterbringung zu erheblichen Schäden bei Kindern führt; Frau Nickels hat das ja sehr plastisch ausgeführt. Diese Unterstellung wird aber nicht von allen geteilt, weder von den Ärzten noch von den Strafvollzugsanstalten. Ich glaube, man wird durchaus auf die jeweiligen Einzelfälle abstellen müssen. Es kann selbstverständlich zu Schäden führen, kann aber auch sehr wohl zum Vorteil des Kindes sein.
Wenn ich dies mit erwähnen darf: Der Text des Gesetzes der GRÜNEN ist sehr mißverständlich, ich würde fast sagen, es ist ein Etikettenschwindel. „Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung der Inhaftierung von Kindern" ist nicht ganz richtig, denn inhaftiert werden die Mütter, und die Kinder haben das Recht, mit in der Strafvollzugsanstalt zu leben.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Haben Sie bei den Jesuiten gelernt?)

— Nein, ich bin evangelischer Christ. —

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber man kann schon etwas von den Jesuiten lernen! — Frau Nickels [GRÜNE]: Spitzfindigkeit!)




Funke
Das ist, glaube ich, in diesem Fall keine Spitzfindigkeit, Frau Nickels; Sie müssen da wirklich differenzieren. Wir sind hier gemeinsam mit Ihnen bereit, differenziert über dieses Gesetz zu beraten. Wir wollen ja nicht sagen: Alles, was Sie hier anregen, ist von vornherein falsch. Wir müssen, glaube ich, versuchen — das haben Herr de With und Herr Seesing schon sehr deutlich gemacht —, diesen Gesetzentwurf ernst zu nehmen, aber auch sehr differenziert miteinander darüber diskutieren.

(Beifall bei der FDP)

Mit einem solchen Gesetzentwurf werden die ernst zu nehmenden Probleme des Strafvollzuges von Schwangeren und Müttern mit minderjährigen, insbesondere nicht schulpflichtigen Kindern nicht gelöst, solange wir dies nicht beraten haben. Wir verkennen nicht, daß es dem Wohl des Kindes in der Regel am förderlichsten wäre, wenn der Mutter der Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt erspart bliebe. Aber die Alternative, die Sie, die GRÜNEN, hier entwickeln, nämlich Verzicht auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder Unterbringung des Kindes zusammen mit der Mutter, existiert für uns nicht und entspricht auch nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Denn oft kann das Kind während der Haft ohne größere Schäden bei Verwandten untergebracht werden und dort in geordneten Verhältnissen aufwachsen. Im übrigen überschätzen Sie, glaube ich, die Mutter-Kind-Einrichtungen in Justizvollzugsanstalten. Es gibt einige Justizvollzugsanstalten, die durchaus modern eingerichtet sind. Es gibt natürlich auch einige — das wird auch in unseren nächsten Diskussionen hinsichtlich des Strafvollzuges behandelt —, die diesen Bedürfnissen nicht gerecht werden.

(Abg. Frau Nickels [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107423600
Bitte sehr, Frau Nickels.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107423700
Herr Funke, Sie haben gerade gesagt, wir wollten einen Strafverzicht. Geben Sie zu — lesen Sie es noch einmal —, daß wir nicht von Strafverzicht, sondern von Aufschub oder Unterbrechung der Vollstreckung in diesem Zusammenhang sprechen? Das ist ein Unterschied. Das ist mir wichtig.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1107423800
Frau Nickels, hätten Sie mich ungestört weiterreden lassen, hätten Sie feststellen können, daß ich gleich zu diesem Thema komme.
In unseren Augen ist sowohl aus strafrechtlicher als auch aus strafprozessualer Sicht der Gesetzesentwurf der GRÜNEN nicht vertretbar. § 116 der Strafprozeßordnung sieht hinsichtlich der Untersuchungshaft bereits die Möglichkeit der Haftverschonung vor, wenn die Beschuldigte Schwangere oder Mutter eines Kleinkindes ist. Dazu bedarf es also wenigstens insoweit nicht des Gesetzesentwurfes der GRÜNEN. Eine zwingende Aussetzung des Haftbefehls kann aber nicht sinnvoll sein. Dies würde zu einer Art Freibrief zur Begehung von Straftaten für Frauen sein können. Dieses muß vermieden werden.

(Frau Olms [GRÜNE]: Diese bösen Frauen!)

Im Extremfall könnten natürlich Kinder geboren werden, um der Mutter eine Strafverbüßung zu ersparen.
Nicht übersehen werden darf, daß der staatliche Strafanspruch nicht grundsätzlich aufgegeben werden darf. Es ist auch zweckmäßig, diesen Strafanspruch so schnell wie möglich umzusetzen, was nach dem Gesetzesentwurf der GRÜNEN praktisch unmöglich gemacht würde.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Weil da die Kinder vorgehen!)

Zum Beispiel eine schwangere alleinstehende Frau würde nach Ihrem Gesetzesentwurf bis zu sieben Jahren von der Haft verschont bleiben.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Ja, richtig!)

Insoweit muß abgewogen werden, ob Ihr Gesetzesentwurf nicht dem Grundgesetz widerspricht.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Da gibt es Art. 6!) — Ich komme gleich dazu, Frau Nickels.

Das Grundgesetz sieht das Rechtsstaatsprinzip vor, verlangt demgemäß auch eine funktionsfähige Strafrechtspflege. Dazu gehört nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes auch, daß Straftäter einer gerechten Bestrafung zugeführt und rechtskräftig verhängte Strafen vollstreckt werden.
Ich verkenne nicht, daß Art. 6 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 2 den besonderen Schutze der Mutter bzw. des Elternrechts statuieren. Auch der Kollege Seesing hat sehr deutlich gemacht, daß diese Grundrechtsprinzipien gegeneinander abgewogen werden müssen. Ich meine, daß es bereits heute schon eine Reihe von Möglichkeiten gibt, die besonderen Verhältnisse mit zu berücksichtigen.
Dies wird in den Ländern im Wege einer geordneten Strafverfolgung durchaus getan. Es gibt durchaus die Möglichkeit der Haftverschonung. Die Richter sind heute nicht mehr so konservativ, daß sie sagen: Sie ist verurteilt worden: jetzt muß die Haft angetreten werden. — Hier wird durchaus flexibel reagiert.
Wenn dieses Mittel nicht hilft, gibt es immerhin noch die Möglichkeit des Gnadenerlasses. Auch hiervon machen die Länderbehörden durchaus Gebrauch. Ich glaube, wir sollten auf die Verhältnisse im Einzelfall verstärkt Rücksicht nehmen und dies auch von den jeweiligen Strafvollzugsorganen verlangen.
Die Zahl der Inhaftierten, die ja eben gerade von Herrn de With erwähnt worden sind, machen, glaube ich, deutlich, daß man bei diesen wenigen Fällen mit einer individuellen Regelung besser zurechtkäme als mit einer Strafbefreiung für Frauen, die Kleinkinder haben bzw. schwanger sind. Unter diesen Umständen meinen wir, daß der Gesetzentwurf, wie er von Ihnen jetzt vorgelegt wird, nicht akzeptabel ist. Wir sind aber gern bereit, mit Ihnen auf Verbesserungen an diesem Gesetzentwurf hinzuwirken.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107423900
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Justiz.




Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1107424000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es scheint mir ganz dringend notwendig, in dieser ersten Lesung eines Gesetzentwurfes, die stellenweise bereits den Charakter einer Ausschußberatung angenommen hat, sehr säuberlich zwei Dinge voneinander zu trennen und zu unterscheiden. Das ist die von Frau Abgeordnete Nickels mit bewegten Worten und sehr eindringlich geschilderte Situation jener Kinder, die mit ihren inhaftierten Müttern in einer Justizvollzugsanstalt Aufenthalt finden. Über dieses Problem kann man, über dieses Problem muß man nachdenken. Damit kann man sich beschäftigen. Seitens des Bundesministeriums der Justiz werden alle Informationen gegeben und der dort vorhandene Sachverstand eingesetzt werden, um sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Das ist das eine.
Etwas ganz anderes aber ist der vorgelegte Gesetzentwurf der GRÜNEN, der zwar die genannten Kinder zum Gegenstand hat, der aber etwas unternimmt, was man doch nur als ein Paradebeispiel dafür bezeichnen kann, wie Gesetzgebung nicht stattfinden darf. Das beginnt mit der Überschrift des Entwurfs, die im groben Maße irreführt, wenn es dort heißt: „Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung der Inhaftierung von Kindern. " Damit wird dem Lesenden zunächst suggeriert, die geltenden Gesetze würden es gebieten, Kinder durch Einsperren in Gefängnisse dem Strafvollzug zu überantworten.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Daß sie in Haft sind, Herr Bundesminister!)

Das ist natürlich, wie wir wissen, nicht richtig und barer Unsinn. Aber unredlich ist auch die Überschrift deshalb, weil so getan wird, als habe der Gesetzgeber Böses im Schilde geführt, oder doch mindestens grob fahrlässig gehandelt, als er die Unterbringung von Kleinkindern zusammen mit ihren Müttern in einer Justizvollzugsanstalt ermöglichte.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Das habe ich auch nicht gesagt!)

Ziel der entsprechenden Regelung war und ist es, die schädlichen Wirkungen einer völligen Trennung von Mutter und Kind durch den Strafvollzug zu vermeiden. Das Gesetz macht aber natürlich weder die Unterbringung von Kindern in der Anstalt zur Pflicht noch verhindert es anderweitige Regelungen, etwa daran zu denken, daß ein Kind in vertrauter Umgebung bei Verwandten bleibt, wo sie vorhanden sind, möglicherweise bei Großeltern.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, der Titel des Entwurfs müßte eigentlich lauten — in einer ersten Lesung kann dieses gegenüber der Öffentlichkeit doch nicht verschwiegen werden — : Entwurf eines Gesetzes zum Ausschluß der Untersuchungshaft und des Strafvollzugs bei Müttern und schwangeren Frauen. Denn dann würde deutlich, was die Folge und Konsequenz des vorgelegten Gesetzentwurfes ist.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107424100
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Nickels?

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1107424200
Ja, bitte. Vizepräsident Stücklen: Bitte schön.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107424300
Herr Bundesminister, würden Sie mir erstens abnehmen, daß ich hier niemandem irgendeine böse Absicht bei der Formulierung der damaligen gesetzlichen Regelung unterstellt habe und daß ich hier zweitens auch gar nicht in Abrede stelle, daß man sehr viele Möglichkeiten wahrnimmt? Würden Sie mir aber zugestehen, daß es in der Tat pro Jahr immer noch um die Kinder von 100 Müttern geht, bei denen man alles abgewogen hat, bei denen man versucht hat, sie bei Verwandten unterzubringen, bei denen dies aber einfach nicht klappt, daß diese Kinder dann heute im Heim oder im Gefängnis landen und wir versucht haben, in unserem Gesetzentwurf darauf einzugehen und dafür eine Lösung zu finden?

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1107424400
Ich habe, Frau Abgeordnete Nickels, schon einleitend eingeräumt, daß Sie das Schicksal dieser Kinder in eindrucksvoller Weise vorgetragen haben und daß es der Sache wert ist, sich damit zu beschäftigen. Nur bin ich im Moment bei dem zweiten von mir erwähnten Punkt.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Ja, ich auch!)

Und da bin ich bei dem Gesetzentwurf. Sie werden es natürgemäß hinnehmen müssen, daß dieser Gesetzentwurf gelesen worden ist, daß sich einem dabei Dinge aufdrängen, weil sie so drinstehen, die zu Konsequenzen führen, die unvorstellbar sind, wenn man die Dinge zu Ende denkt.
Deswegen lassen Sie mich fortfahren und darauf hinweisen, daß es bereits heute — das kann ein Anknüpfungspunkt bei den anstehenden Detailberatungen sein — Möglichkeiten gibt, bei Schwangeren oder alleinerziehenden Personen von der Anordnung der Untersuchungshaft abzusehen. Oft wird bei solchen Personen ja schon wegen des vorhandenen Kindes die Fluchtgefahr zu verneinen sein. Aber auch darüber hinaus bleibt die Möglichkeit der Haftverschonung durch den Richter.
Die im Entwurf der GRÜNEN vorgesehene zwingende Aussetzung des Haftbefehls geht aber ganz entschieden zu weit. Ohne Untersuchungshaft würde eine geordnete Strafrechtspflege in einer Reihe von Fällen — darüber müssen wir uns doch klar sein — nicht mehr möglich sein. Das sage ich, der ich hoffe, in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen zu können, der, wie Sie wissen, die Fälle der Untersuchungshaft einzuschränken sucht. Aber wer so weit geht und sagt, in bestimmten Bereichen brauchten wir dieses Instrument überhaupt nicht, und es dürfe gar nicht vollzogen werden, wird es hinnehmen müssen, daß man sich damit in der notwendigen Weise und, wenn es erforderlich ist, eben schon in dieser ersten Lesung etwas näher beschäftigt.
Ähnliches gilt für die von den GRÜNEN vorgeschlagene Regelung über Vollstreckungsaufschub und Vollstreckungsunterbrechung wegen Schwangerschaft oder Betreuung von Kleinkindern. Denn der Entwurf sieht ja ein Absehen von der Strafverbüßung zwingend vor, bis das Kind eingeschult ist. Das sind, die Zeit der Schwangerschaft eingeschlossen, wie hier gesagt worden ist, rund sieben Jahre. Darüber hinaus soll dann unter bestimmten Umständen zugewartet, unterbrochen werden, bis das Kind volljährig, also 18 Jahre alt ist. Jede Zeit des Aufschubs, so ist nach-



Bundesminister Engelhard
zulesen, oder der Unterbrechung soll auf die Strafe angerechnet werden, sofern die Verurteilte straffrei geblieben ist — und dies unabhängig von der Dauer der Strafe oder des Strafrestes. Damit würde bei dem betroffenen Personenkreis — das muß man sich vergegenwärtigen — unter Umständen nicht nur eine mehr-, ja, vieljährige Freiheitsstrafe entfallen, nein, auch das Entfallen einer lebenslangen Freiheitsstrafe ist hier nicht ausgeschlossen. Auch sie kann hier selbstverständlich herangezogen werden gemäß den Vorschriften, die Sie gern zum Gesetz machen wollen.
Ich versage es mir, einmal durchzuspielen, wie der Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe dann aussehen könnte. Wollen wir das zu dieser vorgerückten Stunde vielleicht einmal beiseite lassen. Aber daß hier zwischen leichterer Kriminalität und Schwerstkriminalität keinerlei Unterschied mehr gemacht wird, ist in Ihrem Entwurf eben so niedergeschrieben.
Damit stünden wir, würde Derartiges Gesetz, in Europa beispiellos da. Es gibt lediglich in Italien und in der DDR für ähnliche Fälle gewisse Vorschriften. Nur, sie gehen längst nicht so weit, wie Sie dies beantragt haben.

(Frau Olms [GRÜNE]: Die Bundesrepublik sollte Beispiel sein!)

Norwegen und Dänemark haben solche Regelungen sogar bereits wieder abgeschafft.
Wir müssen uns darüber klar sein — das muß um der Offenheit, um der Redlichkeit willen gesagt werden — : Wir können doch der Öffentlichkeit keinen Gesetzentwurf so unter einer Decke zuschieben, bei dem man überhaupt nicht weiß, was darin steht, und bei dem man nur zur Kenntnis nehmen kann, es gehe um edle Motive. Nein, das könnte zu einem Freibrief zur Begehung von Straftaten werden. Nein, da haben wir bereits bei den Roten Brigaden konkrete Erlebnisse

(Zurufe und Lachen bei den GRÜNEN)

und bei der Mafia in Italien, daß Kinder nur deshalb gezeugt und geboren wurden, um der Möglichkeit der Strafverbüßung zu entgehen. Bis zur letzten Konsequenz muß man sich darüber klar sein.
Ich halte es für gut und richtig, daß heute in der ersten Lesung bereits einiges angesprochen werden kann, das dann bei den Ausschußberatungen im Hinterkopf jedes einzelnen ist, der hier Verantwortung trägt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107424500
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es noch andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Pinger, Feilcke, Frau Fischer, Hedrich, Höffkes, Dr. Kronenberg, Dr. Kunz (Weiden), Frau Männle, Dr. Pohlmeier, Frau Rönsch (Wiesbaden), Schreiber, Scharrenbroich, Schemken, Sauer (Stuttgart), Seesing, Weiß (Kaiserslautern) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Frau Folz-Steinacker, Hoppe, Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Feldmann, Irmer, Dr. -Ing. Laermann, Dr. Hausmann, Dr. Hoyer, Nolting, Beckmann, Frau Seiler-Albring, Bredehorn, Lüder, Dr. Hitschler, Dr. Solms, Timm, Zywietz, Frau Würfel und der Fraktion der FDP
Der entwicklungspolitische Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen
— Drucksache 11/1954 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Waldburg-Zeil.

Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1107424600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf unserer Erde leben mittlerweile 5 Milliarden Menschen. Das ist die Menge der Menschen. Es gibt auch wie beim Geld eine Umlaufgeschwindigkeit, die in manchen Ländern das Zweieinhalbfache der dort lebenden Menschen erreicht. Eine ungeheure Beweglichkeit! Aber auf dieser Beweglichkeit beruhen Handel und Wandel, Austausch von Kultur, Wissen und Erfahrungen.
Anders als diese freiwilligen und erwünschten Bewegungen gibt es eine vergleichsweise sehr geringe, aber in der Summe der Einzelschicksale bedrückende Anzahl von Menschen, die unfreiwillig wegen Verfolgung, Bürgerkrieg, Menschenrechtsverletzungen und lebensbedrohender Not ihre Heimat verlassen, die gegenwärtig etwa 12 Millionen Flüchtlinge auf der Welt.
Warum nun eine Initiative für einen besonderen entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen? Genügen nicht die vorhandenen humanitären Hilfen und die asylrechtlichen Möglichkeiten?

(Zuruf von der SPD: Die asylrechtlichen reichen natürlich nicht!)

Zunächst ist festzustellen, daß sich die Flüchtlingsbewegungen in diesem Jahrhundert grundlegend verschoben haben. Nach zwei Weltkriegen lag der Schwerpunkt zunächst in Europa. Heute flieht aber der überwiegende Teil von Flüchtlingen nicht nur aus Ländern der Dritten Welt, sondern auch in Entwicklungsländer, deren Probleme sich dadurch erheblich verschärfen.
Sodann gilt es nicht nur, sich der Not der Ärmsten unter den Armen anzunehmen, sondern auch eine



Graf von Waldburg-Zeil
sehr seltsame Erfahrung zu nutzen, daß Flüchtlinge im Gastland oft trotz Rettung des nackten Lebens Wissen, Überlebens- und damit besonderen Leistungswillen in das Gastland mitbringen. Bei entsprechender Nutzung kann das sowohl im Gastland Früchte tragen als im Falle der Rückkehr auch im Fluchtursprungsland.
Schließlich aber ist der Gedanke nicht neu, einen speziellen entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen zu leisten. Die Bundesregierung hatte bereits 1980 in den Vereinten Nationen eine Flüchtlingsresolution initiiert, die am 3. Dezember 1986 verabschiedet wurde und die Aufforderung zu zwischenstaatlicher Zusammenarbeit mit dem Ziel der Vorbeugung neuer massiver Flüchtlingsströme enthielt. Diese Kontinuität weckt in mir die Hoffnung, daß in den Ausschüssen vielleicht eine einvernehmliche Beratung möglich sein wird.
Der heute eingebrachte Antrag will die Bundesregierung auffordern, im Rahmen der deutschen Entwicklungspolitik verstärkt Beiträge zur Lösung der Weltflüchtlingsprobleme zu leisten. Dabei sollen erstens verstärkt die Möglichkeiten des Politikdialogs genutzt werden, um Fluchtursachen abzubauen und zu beseitigen und vorbeugend abzuwenden.
Zweitens sollen entwicklungspolitische Instrumentarien genutzt werden, um in Nachbarregionen von Fluchtursprungsländern zu helfen, nicht nur um die erste Not der ankommenden Flüchtlinge zu lindern, was ja Sache der humanitären Hilfe ist, sondern um für längere Zeit des Aufenthalts eine entwicklungspolitische Hebelwirkung zu erreichen, die gleichermaßen der einheimischen Bevölkerung wie den Flüchtlingen zugute kommen soll.
Unbedingt vermieden werden muß der Sprengstoff verewigter Lagersituationen. So bestanden z. B. am 31. Januar 1988 allein in Südostasien noch Lager mit grauenhaften Zuständen mit über 140 000 Menschen, die dort — man muß fast sagen — inhaftiert sind. Die große Schwierigkeit liegt hier oft in der Angst der Angrenzerländer, bei Verbesserung oder Beendigung des Lagerstatuts eine De-facto-Einwanderung zu bekommen. Hier gilt es, entwicklungspolitische Konzeptionen zu entwickeln, die Hilfen zur Rückkehr mit enthalten.
Drittens sollten auch wir in der Bundesrepublik einen Beitrag dazu leisten, vorübergehende Aufenthalte von Flüchtlingen bei uns zur Vorbereitung auf Rückführung und Weiterwanderung oder für den Einsatz in anderen Entwicklungsländern zu nutzen. Das heißt, daß wir asylsuchenden Jugendlichen Ausbildungschancen sichern sollten, am besten durch mit Ausbildungsfragen bereits befaßten entwicklungspolitischen Institutionen.

(Dr. Pohlmeier [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ich möchte gerne ein konkretes Beispiel nennen. Der Hohe Flüchtlingskommissar bemüht sich gegenwärtig, in bestimmten Gegenden Sri Lankas Flüchtlinge zurückzuführen. Er begegnet dabei aber erheblicher Skepsis, wenn es sich um junge männliche Tamilen handelt. Für sie wird es oft besser sein, mit der Rückkehr noch einige Zeit zu warten. Sollten wir sie
während dieser Zeit zur Untätigkeit verurteilen oder sinnvoll auf die Rückkehr vorbereiten?
Viertens sollten mit den zuständigen Stellen der Vereinten Nationen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, aber auch zwischen den deutschen Politikbereichen die angeregten Maßnahmen bestmöglich koordiniert werden.
Fünftens sollte die Forschung über die mit den genannten Maßnahmen zusammenhängenden Fragen verstärkt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Ihnen die Hauptpunkte des Antrags genannt, nicht aber die wohlausgearbeiteten Unterpunkte, die ich Ihrer aufmerksamen Lektüre empfehle. Ich möchte aber auf eines hinweisen: Dies soll keinesfalls ein Gerippe zur entwicklungspolitischen Theoriediskussion bleiben. Sinn dieses Gerüstes ist es, mit Fleisch und Sehnen umgeben zu werden.
Schon erste Gespräche mit Kirchen, freien Trägern und im Flüchtlingssektor Tätigen zeigen, daß nicht nur in der Setzung eines solchen neuen entwickungspolitischen Schwerpunktes, sondern auch in seiner Ausfüllung durch konkrete Projekte durchaus Chancen gesehen werden, die Flüchtlingssituationen zu verbessern in und um Vietnam, in Sri Lanka, in und um Afghanistan, in und um Altäthiopien.
Ein Hinweis, der immer wieder gegeben wird, ist der, daß sich die Hilfe im Einzelfall sehr unterschiedlich konzentrieren wird auf die Nachbarregion, im andern Fall ganz und gar auf den Versuch der Rückführung. Hier ist beispielsweise die Lage im islamischen Kulturkreis eine ganz andere als die Lage in Südostasien.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in der Diskussion um Geschichtsbewußtsein und Wertorientierung ist trotz unterschiedlicher Auffassungen eines wohl nicht wegzuleugnen: daß Menschen, die Staatsbürger eines Landes, eines gemeinsam haben: Negative Erinnerungen hätte man lieber nicht, aber — das gilt auch für die junge Generation — man würde sich schon gerne an Traditionen erinnern, auf die man stolz sein kann. Trotzdem muß man — dies wissen wir Deutschen besonders gut — mit guter und schlechter Geschichte leben. Ich glaube deshalb, daß es trotz aller tagespolitischen Notwendigkeiten auch Politikbereiche geben sollte, die unter dem moralischen Imperativ stehen: Handle so, daß auf die Ergebnisse der angestrebten Politik spätere Generationen stolz sein können, weil aus negativer Erfahrung gelernt wurde und weil auch positive Erfahrungen genutzt wurden.
Die Bundesrepublik Deutschland kann sicher stolz sein, weil es gelungen ist, nach dem Kriege mit riesigen Flüchtlingsbewegungen fertig zu werden. Einen von uns angeregten, von der Völkergemeinschaft akzeptierten Schwerpunkt zu setzen, Weltflüchtlingsprobleme in einem Gesamtkonzept lösen zu helfen, stünde uns sicher auch als Nation gut an.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107424700
Das Wort hat Frau Abgeordnete Luuk.




Dagmar Luuk (SPD):
Rede ID: ID1107424800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme das Angebot sehr gerne an, über diese grundlegenden Fragen der Flüchtlinge gemeinsam zu sprechen und auch gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, weil ich auch der Auffassung bin, daß in diesem Bereich die humanitären Probleme, der humanitären Aufgaben, die wir zu lösen haben, Einigkeit im Interesse der Betroffenen anzustreben ist.

(Vorsitz: Vizepräsident Westphal)

Wir leben in einer Welt, in der Staaten und Regionen immer abhängiger voneinander werden, aber gleichzeitig die Widersprüche wachsen. Während die Mehrheit der Bevölkerung in unseren Industriestaaten im materiellen Wohlstand lebt, gibt es in vielen Entwicklungsländern unvorstellbare Armut, Hunger und Krankheiten. Die Produktion von Waffen verschlingt immer mehr Ressourcen, während der Dritten Welt die notwendigen Mittel für die Entwicklung und auch die Mittel fehlen, den Flüchtlingen in ihrer unmittelbaren Not zu helfen. In vielen Teilen der Welt herrschen zudem Bürgerkrieg, Terror und Verfolgung.
Hunger, tägliche Sorge um die Erfüllung elementarster Lebensbedürfnisse, Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen, Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung lassen die Flüchtlingsströme anwachsen. Für die Bundesrepublik Deutschland und die anderen Industrienationen bleibt gegenüber den Ländern der Dritten Welt, zu einer Politik aufzurufen, die sich für Frieden und ein menschenwürdiges Leben für alle einsetzt, für die Wahrung oder für die Wiederherstellung von Menschenrechten, für die Lösung der Schuldenkrise und für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung.
Solange die Flüchtlingsströme andauern, müssen die Industrienationen darüber hinaus bereit sein, mehr noch als bisher auch die Arbeit des UN-Flüchtlingskommissars zu unterstützen. Sie dürfen sich ihrer humanitären Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen nicht entziehen.
Es wäre falsch, die Probleme von Flüchtlingen und Asylsuchenden losgelöst von anderen Gruppen entwurzelter Menschen zu betrachten. Die Lage eines bedeutenden Teils der Menschen, die aus ihrer heimatlichen Umgebung herausgerissen wurden, entspricht nicht der Rechtsstellung von Flüchtlingen nach dem Völkerrecht. Manche — das wissen wir — fliehen vor Dürre, Hunger oder aktueller wirtschaftlicher Not. Wieder andere sind Opfer rücksichtsloser Massenvertreibungen. Bemühungen zur Verbesserung der Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden müssen von Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes dieser neuen Gruppen entwurzelter Menschen begleitet sein.
Die Flüchtlingsfrage und die Art und Weise, wie sich die europäischen Staaten, wie wir uns dazu stellen, dürfte eines der grundlegenden Probleme künftiger internationaler Zusammenarbeit werden. Dabei ist sicher, daß die Lösung der Flüchtlingsprobleme in der Welt nicht durch Aufnahme aller Menschen in Europa erreicht werden kann. Die schon heute unternommenen Anstrengungen, bessere Voraussetzungen für die Unterbringung von Flüchtlingen in den Herkunftsregionen zu schaffen, müssen weiter verfolgt werden. Dabei ist künftig stärker als bisher auf eine aktive Entwicklungszusammenarbeit zu setzen.
Ich möchte auf einen besonderen Bereich eingehen, der auch in einem Zusammenhang mit der Debatte steht, die wir im Rahmen des vorangegangenen Tagesordnungspunktes geführt haben. Alle Flüchtlinge — das ist sicher — bedürfen des Schutzes. Aber es gibt einige, die verwundbarer sind als andere. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß heute 50 % der Weltflüchtlingsbevölkerung Kinder sind. Die Kinder sind besonders gefährdet und brauchen besondere Aufmerksamkeit, wenn sie gesund und unbeschadet aufwachsen sollen.
Sogar die vergleichsweise glücklich zu schätzenden Flüchtlingskinder, deren unmittelbare Familie intakt geblieben ist, erlebt die Trennung von Freunden und Verwandten, und es ändert sich die Rollenverteilung innerhalb der Familie. Die Kinder und Frauen in den Flüchtlingslagern verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, Wasser oder Brennstoff zu besorgen, und Väter, die früher einmal gearbeitet haben, sind auf materielle Unterstützung angewiesen. Wie reagieren Kinder, wenn sich die Rollenmodelle verändern, wenn sich ihre erlebte Umgebung verändert oder gar auflöst?
Selbst da, wo es Schulen gibt und das Sprachproblem den Unterricht nicht behindert, können Flüchtlingskinder häufig nicht daran teilnehmen, weil sie bei der täglichen Arbeit helfen müssen. Die schmalen Rationen oder die monotone Zusammenstellung der Nahrungsmittelhilfe führt auch dazu, daß sie häufig an schweren Krankheiten leiden. Aber welche Lösungen können sich finden lassen, um die psychosozialen Folgen von Vertreibung, von Aggression und Kriegserlebnissen, Verlust der Familie und jahrelangem Aufenthalt in Flüchtlingslagern zu beheben? Wie kann man den Kindern helfen, die mit einer geringen oder gar keiner Chance für ein normales Leben aufwachsen?
Ich glaube, daß wir darauf achten sollten, was in unserem Einflußbereich möglich ist. Ich möchte darauf verweisen, daß der Kindergartenbesuch von Asylbewerberkindern bei uns häufig noch erschwert wird. Ich glaube, daß wir durch entsprechende Richtlinien dafür sorgen müssen, daß Jugendämter den Kindergartenbesuch bei uns aus jugendfürsorgerischen Gründen bejahen. Nicht nur für Kinder von Asylberechtigten, sondern auch für Kinder von Asylbewerbern muß eine allgemeine Schulpflicht gelten. Zur Überwindung der Anfangsschwierigkeiten sind vorbereitende und begleitende Sprachhilfen notwendig. Kinder und Jugendliche, die bei Verfolgung, Flucht und Krieg nicht selten starke psychische Belastungen erlebt haben, sollten möglichst eine pädagogische und psychotherapeutische Betreuung erhalten.
In dem Antrag, den die Koalitionsfraktionen eingebracht und hier begründet haben, Herr von Waldburg, wird eine Wende im Denken Ihrer Parteien signalisiert, hoffentlich auch im Handeln der Regierung. Sie treten für die Aufhebung des Arbeitsverbots für Asylbewerber und der De-facto-Flüchtlinge ein, für die



Frau Luuk
Verfestigung des Aufenthaltsstatus für abgelehnte Asylbewerber, die aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden können, und für die Aufhebung des Arbeitsverbots für minderjährige Asylbewerber. Asylsuchende Jugendliche sollen Ausbildungschancen wahrnehmen können, statt mit dem bisherigen Abschreckungseffekt durch das geltende Arbeitsverbot konfrontiert zu werden. Das heißt, Sie sind auch für eine verstärkte Förderung von speziellen Programmen für die Ausbildung von jugendlichen Flüchtlingen, wie sie z. B. die Otto-Behneke-Stiftung und das Diakonische Werk durchführen, die auch bislang mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.
Ich möchte darauf verweisen, daß von den 15 Millionen Menschen, die in der Welt auf der Flucht sind, die meisten zur Untätigkeit und Passivität verurteilt sind, indem sie in Lagern leben. Ich meine, das muß von der Möglichkeit abgelöst werden, zu arbeiten, sich selbst organisieren, weiterhin kreativ zu sein, um die Fähigkeiten zum Leben und Hoffnung auf eine Zukunft bei den Flüchtlingen zu erhalten.
Hilfsmaßnahmen müssen sich darauf konzentrieren, vermehrt Arbeitsplätze für Flüchtlinge zu schaffen und jede Anstrengung zu unternehmen, um eine größere Autarkie zu erreichen. Den besonderen Bedürfnissen weiblicher Flüchtlinge sollte auch in einem höheren Maße Vorrang eingeräumt werden. Von Ausbildungs- und Schulprogrammen ist umfassend Gebrauch zu machen.
Der Aufrechterhaltung der kulturellen Identität und dem Ausdruck dieser Identität sollten ebenfalls Ermutigung und Unterstützung gewährt werden. In Entwicklungsförderungsprogrammen sollte die Flüchtlingssituation häufiger berücksichtigt werden, sowohl in dem jeweiligen Ursprungsland als auch dort, wo ihre Probleme zum Ausdruck kommen. Um solche Programme — wie Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Beschäftigungsprogramme — zu ermöglichen, müssen die Mittel für den Hohen Flüchtlingskommissar in seinem regulären Haushalt aufgestockt werden. CDU und FDP fordern in dem Antrag, Länder in ihrem Willen zur Integration von Flüchtlingen zu unterstützen. Aber wir haben, als wir Mexiko helfen wollten, die 25 000 Guatemalteken in Quitana Roo und Campeche zu integrieren, noch nicht einmal 100 000 DM dafür bereitstellen können. Ich meine, daß wir dann auch Ernst machen müssen, wenn es darum geht, mehr Mittel dafür einzusetzen.
Der Friedensprozeß in Zentralamerika und die Lage der Flüchtlinge in diesem Gebiet werden mit davon beeinflußt — das sagen Sie ja auch indirekt in Ihrem Antrag —, daß wir mit allen Ländern in dieser Region, also auch mit Nicaragua, bei der Überwindung der ökonomischen und sozialen Probleme zusammenarbeiten.
Ich erwähne Costa Rica, dieses kleine Land, das mit einem Anteil von 8 oder 10 % Flüchtlingen an der Gesamtbevölkerung fertig werden muß.
Ich komme zum Schluß. Die internen Flüchtlinge, z. B. in Guatemala, brauchen über humanitäre Hilfe hinaus, die sie sowieso kaum erreicht, ein Angebot und Hilfestellung, um sich wieder normal anzusiedeln und leben zu können.
Die flüchtlingsnahe Entwicklungszusammenarbeit sollte — darüber sind wir uns ja alle einig — die umgebende Bevölkerung mit einbeziehen.
Das, was wir uns alle wünschen, ist die Rückführung der Flüchtlinge in ihre Heimatländer. Ich meine, daß wir uns an Rückführungsprogrammen, der Integration und der Sicherung der Rückführung verstärkt beteiligen müssen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107424900
Frau Kollegin, der Satz „ich komme zum Schluß" ist der zeitlich unbestimmteste, den es hier im Parlament gibt.
Frau Folz-Steinacker ist die nächste Rednerin.

Sigrid Folz-Steinacker (FDP):
Rede ID: ID1107425000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahr für Jahr werden Tausende von Menschen dazu gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen. Manche suchen Zuflucht vor drohender Verfolgung; andere wiederum fliehen vor Krieg oder Gewalt, vor Naturkatastrophen oder wirtschaftlichen Mißständen.
Ob in Afghanistan oder Südostasien, ob in Äthiopien, im südlichen Afrika oder in Mittelamerika, Menschen müssen ihr Land verlassen und sehen einem ungewissen Schicksal entgegen.
Gegenwärtig gibt es auf der Welt etwa 12 Millionen Flüchtlinge; die Hälfte davon sind Kinder. Sie alle bedürfen des Schutzes; aber die Kinder sind ganz besonders gefährdet und brauchen ganz spezielle Fürsorge, vor allem in bezug auf Gesundheit, Ernährung und Erziehung.
Die internationale Gemeinschaft ist sich ihrer Pflicht bewußt geworden, Initiativen zum Schutz von Flüchtlingen zu ergreifen und zu verwirklichen. Bis heute haben 104 Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bzw. das UN-Protokoll von 1967 unterzeichnet. Damit wurde ein umfassender Richtlinienkatalog für die Anerkennung und Behandlung von Flüchtlingen in der ganzen Welt geschaffen.
Seither gab es auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene viele Schritte, um das System des völkerrechtlichen Schutzes auszuweiten und weiterzuentwickeln. Doch trotz all dieser Anstrengungen, meine Damen und Herren, leben viele Flüchtlinge nach wie vor in untragbaren, ja, unmenschlichen Verhältnissen.
Der Deutsche Bundestag hat in seiner Debatte zum Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland von 1982 bis 1985 auch einen Einblick in die gegenwärtige Flüchtlingssituation und in die Leistungen der deutschen humanitären Hilfe im Ausland vermittelt. Humanitäre Hilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit müssen jedoch künftig noch stärker miteinander verbunden werden.
Die Zunahme der Flüchtlingszahlen, eine Veränderung der Flüchtlingsströme und die daraus resultierende Notsituation in einer Vielzahl von Entwicklungsländern hab en die Koalitionsfraktionen veranlaßt, den Antrag „Der entwicklungspolitische Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen" diesem



Frau Folz-Steinacker
Hohen Hause vorzulegen. Damit soll die Bundesregierung aufgefordert werden, im Rahmen der deutschen Entwicklungshilfe verstärkt zur Lösung der Weltflüchtlingsprobleme beizutragen.
Wenn wir nun Flüchtlingsprobleme bewältigen wollen, müssen wir vor allem die Fluchtursachen vermindern. Wir sind uns bewußt, daß dazu nationale politische Maßnahmen sowie eine regionale und weltweite Zusammenarbeit erforderlich sind. Es ist nicht zuletzt der Initiative der Bundesregierung zu verdanken, daß sich die Vereinten Nationen mit diesem konkreten Thema befaßt haben.
Bei der Verwirklichung dieser Ziele kann die Entwicklungspolitik einen wertvollen Beitrag leisten. Wir glauben, daß gerade Entwicklungspolitik geeignet ist, die Menschen der Dritten Welt bei der eigenständigen und selbstbestimmten Entwicklung ihrer Länder und der Erreichung eines menschenwürdigen Daseins zu unterstützen. Wir wissen, daß Entwicklungspolitik die wirtschaftliche, kulturelle und auch wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten fördern kann. Wir sind außerdem überzeugt, daß dies dazu beiträgt, den inneren und äußeren Frieden in der Welt und die Geltung der Menschenrechte zu sichern.
Wir müssen also den Dialog mit den Entwicklungsländern, den Heimatländern der meisten Flüchtlinge, verstärken und damit die Schaffung entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen unterstützen. Wir müssen diesen Ländern auch durch eine Förderung langfristiger Maßnahmen im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit bei der Beseitigung der ökonomischen und sozialen Ursachen für Hunger und Not helfen.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Nichts von Schuldenerlaß und Stopp von Waffenexporten gehört?)

Da langfristig tragfähige Lösungen jedoch ein Mindestmaß an eigendynamischer Entwicklung in jedem einzelnen Entwicklungsland voraussetzten, müssen wir vor allem die Bemühungen um Stärkung privatwirtschaftlicher Elemente in diesen Ländern unterstützen. Einer integrierten ländlichen Entwicklung mit der vorrangigen Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, des Handwerks sowie von Klein- und Mittelindustrie kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Nur so wird es möglich sein, wesentliche Ursachen für das Entstehen von Flüchtlingsströmen zu beseitigen.
Daß die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge in Länder der Dritten Welt flieht, stellt die Flüchtlingsaufnahmeländer vor ganz schwierige Probleme. Trotz erheblicher Eigenanstrengungen können diese Länder die so entstehenden wirtschaftlichen Belastungen nicht verkraften. Damit die Flüchtlingsaufnahmeländer in der Dritten Welt ihre eigenen Entwicklungschancen weiterhin wahrnehmen können, müssen wir sie entlasten und im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit besonders nachhaltig fördern. Dabei sollten humanitäre Hilfsmaßnahmen durch flüchtlingsrelevante Entwicklungsvorhaben ergänzt und in verstärktem Umfange Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht werden. Das bedeutet auch, daß wir die bildungs-, berufs- und erfahrungsbedingten Potentiale von Flüchtlingen entwicklungspolitisch stärker nutzen. Wir dürfen dabei jedoch nicht übersehen, daß die Förderung strukturbildender Entwicklungsvorhaben sowohl den Flüchtlingen als auch der einheimischen Bevölkerung zugute kommen muß, um Spannungen zwischen diesen Bevölkerungsgruppen zu vermeiden.
Obwohl viele Länder den vor Verfolgung und anderen Gefahren fliehenden Menschen Schutz gewähren, wird in einigen Teilen der Welt Flüchtlingen sogar die vorübergehende Zufluchtsmöglichkeit verwehrt. Hierdurch kann ihr Leben unmittelbar bedroht sein. Wir müssen deshalb die Flüchtlingssituation in den Aufnahmeländern durch unsere Unterstützung beim Auf- und Ausbau einer ausreichenden Infrastruktur menschenwürdig gestalten und so zu Überwindung solcher Gefahren beitragen.
Flüchtlingen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, dürfen wir Bildungschancen auf keinen Fall verwehren. Ihr Aufenthalt sollte vielmehr zur Vorbereitung auf Rückführung oder für den Einsatz in anderen Entwicklungsländern dienen. Die in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen entwicklungspolitischen Institutionen der personellen Zusammenarbeit könnten für diese Aufgaben sinnvoll genutzt werden. Wenn Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren können, sind rechtzeitige und umfassende Eingliederungsmaßnahmen vorzusehen.
Meine Damen und Herren, die von mir genannten Aufgaben machen, glaube ich, ganz deutlich, daß hier ein stärkeres entwicklungspolitisches Engagement notwendig ist.
Die FDP bekennt sich zu der moralischen Verpflichtung, den Menschen in den Ländern der Dritten Welt bei ihrem Kampf gegen Hunger, Not und soziale Rückständigkeit zu helfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Den Flüchtlingen gehört hierbei unsere ganz besondere Solidarität.
Die Bundesregierung ist aufgerufen, einen stärkeren entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung der Weltflüchtlingsprobleme zu leisten und den Deutschen Bundestag über die Ergebnisse ihrer Bemühungen zu unterrichten.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Unterstützung des vorliegenden Antrags der Koalitionsfraktionen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107425100
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.

Ellen Olms (GRÜNE):
Rede ID: ID1107425200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen befinden sich gegenwärtig rund 15 Millionen Menschen auf der Flucht, Menschen, die größtenteils massenhaft die Grenzen ihrer Heimat überschreiten müssen und vor Krieg, Bürgerkrieg, religiöser, rassischer und politischer Verfolgung und der wirtschaftlichen Not fliehen. Dabei sind die Millionen von Menschen noch gar



Frau Olms
nicht mitgerechnet, die in ihren Ländern durch die Vertreibung der bäuerlichen Subsistenzwirtschaften durch die moderne Agrarindustrie und die Monokulturen zur Flucht in die Slums der Großstädte gezwungen sind.
Das millionenfache Flüchtlingselend wird hierzulande allenfalls zur Kenntnis genommen, wenn Benefizkonzerte von Künstlerinnen und Künstlern ebenso an das schlechte Gewissen der Bevölkerung appellieren wie die Spendenaufrufe von kirchlichen und humanitären Organisationen. Auch eine gutgemeinte persönliche Spende befreit uns nicht von der Erkenntnis, daß die von den Industriestaaten durchgesetzte und dominierte Weltwirtschaftsordnung eben nicht nur die Basis unseres relativen Wohlstandes, sondern gleichzeitig auch ursächlich mitverantwortlich für das weltweite Massenelend ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Ursachen lassen sich jedoch weder durch eine wesentlich liberalere Asylpolitik in den Industriestaaten noch durch eine neomalthusianische Bevölkerungstheorie, mit der die Armut als ein Problem der Überbevölkerung interpretiert wird, noch durch die vorgeschlagene Entwicklungspolitik beseitigen, sondern erfordern eine radikale Veränderung der bestehenden Weltwirtschaftsordnung.

(Dr. Pinger [CDU/CSU]: Kommen Sie doch einmal zur Sache! — Frau Nickels [GRÜNE]: Das ist doch zur Sache! Beschäftigen Sie sich doch einmal damit!)

Dazu gehört, daß die Länder der sogenannten Dritten Welt von der erdrückenden Schuldenlast und den berüchtigten Auflagen des Internationalen Währungsfonds befreit werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Dazu gehört, daß die Terms of Trade der Entwicklungsländer verbessert werden. Dazu gehört, daß die EG nicht durch Agrarexporte zu Dumpingpreisen die bäuerlichen Subsistenzwirtschaften in der Dritten Welt zugrunde richtet,

(Beifall bei den GRÜNEN)

und dazu gehört auch, daß endlich die WaffenexportHähne zugedreht werden, mit denen in den Ländern der Dritten Welt grausame Kriege geführt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein weltweites Waffenembargo und drastische Maßnahmen im Bereich des Second-Hand-Marktes der internationalen Waffendealerei würden unweigerlich eher zu einem rascheren Ende des irakisch-iranischen Krieges führen als alle gut gemeinten Appelle.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber ich will den Antragstellern und Antragstellerinnen der Regierungsparteien zugute halten, daß es legitim ist, die Lösung des internationalen Flüchtlingsproblems von der entwicklungspolitischen Seite her aufzurollen. Nach der Lektüre Ihres Antrages bin ich weder überrascht noch enttäuscht. Im Kern handelt es sich hier um einen klassischen Schaufensterantrag der Regierungsparteien, der allem widerspricht, was aus den Häusern Zimmermann und Klein
kommt. Außer gutgemeinten Allgemeinplätzen und Appellen findet sich in Ihrem Antrag nichts, das irgendwo positiv Erwähnung finden könnte.

(Dr. Pinger [CDU/CSU]: Sie müssen ihn erst einmal lesen!)

Punkt 1 Ihres Antrages enthält nichts, was die Bundesregierung zu irgend etwas verpflichten würde. Vielmehr sollen alle Regierungen nur — jetzt kommt es — beachten, daß durch Intensivierung zwischenstaatlicher Zusammenarbeit neuen Flüchtlingsströmen vorgebeugt wird. Das kostet rein gar nichts, sondern hört sich nur hübsch an.
In Punkt 2 fordern Sie, die Entwicklungspolitik der Bundesregierung solle die Fluchtursachen durch Nutzung der Möglichkeiten des Politikdialogs zur Schaffung entwicklungspolitischer Rahmenbedingungen und zur Wahrung der Menschenrechte vermindern. Zu den entwicklungsfreundlichen Rahmenbedingungen gehört allerdings auch, daß sich die bundesdeutsche Entwicklungshilfe nicht an der Sicherung von bundesdeutschen Arbeitsplätzen orientiert, wie aus dem Hause Klein verkündet wird,

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Und in der Türkei Hotels baut!)

sondern an Entwicklungsprojekten, die tatsächlich an den Interessen und dringenden Bedürfnissen der Menschen in diesen Regionen ansetzen.

(Feilcke [CDU/CSU]: Die Platte hat doch schon Sprünge!)

Sie verlangen die Unterstützung langfristiger Maßnahmen zur Beseitigung der ökonomischen und sozialen Ursachen von Hunger und Not. Da reichen entwicklungspolitische Maßnahmen bei weitem nicht aus, zumal auf der einen Seite mit ein bißchen Entwicklungspolitik das geflickt wird, was auf der anderen Seite durch Waffenexporte und Schuldendiktate wieder aufbricht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Präventive Friedenssicherung und Konflikteingrenzung wird da gefordert. Das unterschreibe ich sofort, wenn damit die Einstellung der sogenannten Polizeihilfe an mittelamerikanische Diktaturen und der Waffenexporte aller Art in die Länder der Dritten Welt verbunden wird; denn auch das ist Entwicklungspolitik.
Es heißt in Ihrem Antrag: die Flüchtlingssituation in den Aufnahmeländern durch verstärkten Auf- und Ausbau der Infrastruktur menschenwürdig gestalten. Dann tragen Sie doch bitte dazu bei — um nur ein Beispiel zu nennen — , daß die Länder der Dritten Welt nicht dazu gezwungen werden, ihre Agrarproduktion an den Gesetzen des Weltmarktes auszurichten, sondern daß diese Länder ihre bäuerliche Subsistenzwirtschaft erhalten und sich baldmöglichst in hohem Maße selbst versorgen können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Gipfel Ihres Antrages sind jedoch Ihre Ausführungen zur hiesigen Asylpolitik:
Vorübergehende Aufenthalte von Flüchtlingen in
der Bundesrepublik Deutschland sollten auch zur



Frau Olms
Vorbereitung auf Rückführung, auf Weiterwanderung oder für den Einsatz in anderen Entwicklungsländern genutzt werden.
Auch asylsuchende Jugendliche sollen hierzulande Ausbildungschancen erhalten, um anschließend wieder in ihre Heimatländer zurückkehren zu können. Das würde voraussetzen, daß die Flüchtlinge, zumindest ein geringer Teil von ihnen, überhaupt die Chance wahrnehmen könnten, hier und in anderen europäischen Staaten das Asylrecht in Anspruch zu nehmen.
Aber zunächst errichtete eine große Koalition aus CDU, CSU, FDP, SPD und SED in Berlin eine Mauer gegen die Flüchtlinge, die über den Flughafen Schönefeld in die Hauptstadt der DDR gelangten. Dann wurden im Hause Zimmermann die visarechtlichen Bestimmungen im neu gefaßten Asylverfahrensgesetz verschärft, um die von den Zimmermanns und Kewenigs an die Wand gemalten Asylantenströme davon abzuhalten, überhaupt noch den Geltungsbereich des Grundgesetzes zu erreichen.

(Zurufe von der CDU/CSU — Gegenrufe von den GRÜNEN)

In Ihrem Antrag wird löblicherweise die Tatsache anerkannt, daß zu den Fluchtursachen auch die lebensbedrohende Not zählt. Hierzulande jedoch werden diejenigen Flüchtlinge, die überhaupt noch die Grenzen dieses Staates erreichen, in politisch, rassisch und religiös Verfolgte einerseits und die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge andererseits sortiert.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Lesen Sie ruhig weiter!)

Letztere sind bereits zu einem innenpolitischen Kampfbegriff der Rechten geworden, weil sie nur hier seien, um die Steuerkassen zu plündern.
Es wäre schön, wenn Ihre Definition von Flüchtlingen, die offenbar auch die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge mit einschließt, endlich auch Eingang in die Zimmermannsche Asylgesetzgebung fände.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107425300
Das Wort hat der Abgeordnete Bindig.

(Feilcke [CDU/CSU]: Was wir uns hier alles bieten lassen müssen, Herr Präsident, das ist nicht zu fassen!)

— Das ist der Platz, wo man weiterhin frei reden darf.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1107425400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts des weltweiten Elends tun wir in der Tat gut daran, wenn wir gemeinsam überlegen und gemeinsam diskutieren, welche Vorschläge und Möglichkeiten es gibt, um den Flüchtlingen mehr zu helfen, die Entwicklungspolitik dabei mit heranzuziehen und Flüchtlingsströme zu vermeiden.
Die Gedanken, die dieser Antrag enthält, sind Gedanken, an denen ja etliche schon seit Jahren gearbeitet haben. Bereits die vielzitierte gemeinsame Entschließung aller Fraktionen des Deutschen Bundestags von 1982 sagt dazu:
Die Maßnahmen der humanitären Hilfe sollten mehr als bisher mit entwicklungspolitischen Maßnahmen abgestimmt werden, um zu dauerhaften Lösungen zu finden. Die politischen Bemühungen sind zu intensivieren, die Ursachen der Flüchtlingsströme beseitigen zu helfen und die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat zu erleichtern.
Das ist derselbe Grundgedanke, den ich jetzt hier ausgeführt und konkretisiert sehe.
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß auf der Ebene der UN von der früheren und fortgeführt von der jetzigen Bundesregierung die Flüchtlingsresolution erst initiiert und dann vorangebracht worden ist. Hier ist eine anerkennenswerte Leistung aus der Bundesrepublik Deutschland heraus entstanden.
Die wichtigen Kerngedanken dieses Antrags können wir unterstützen. Die Kerngedanken besagen: Die Fluchtursachen vermindern. Entwicklungspolitik soll Nachbarregionen von Fluchtursprungsländern verstärkt berücksichtigen. Es gilt, die Maßnahmen im Bereich der Flüchtlingsprobleme besser zu koordinieren und die Forschung über die Flüchtlingsursachen voranzubringen.
Nehmen wir uns einzelne der Forderungen noch etwas näher vor. Ich sehe bei einigen durchaus Möglichkeiten, bei anderen ergeben sich in der praktischen Durchführung sicherlich einige Probleme.
Wenn hier gesagt wird, es solle die Unterstützung langfristiger Maßnahmen in den Entwicklungsländern zur Beseitigung der ökonomischen und sozialen Ursachen für Hunger und Not erfolgen, weil hierin der Grund dafür liegen kann, daß jemand zum Flüchtling wird, kann die Entwicklungspolitik sicherlich einen Beitrag leisten.
Schwieriger wird es schon, wenn es darum geht, einen Beitrag zur Friedenssicherung und zur Konflikteingrenzung zu liefern. Denn Konflikte, die in den Entwicklungsländern bestehen, haben oft Ursachen, die sich aus ethnischen Spannungen im Land oder aus der Tatsache ergeben, daß bestimmte Schichten in einem Land andere beherrschen wollen. Da ist es etwas schwieriger. Da muß man längerfristige Strategien anlegen.
Sicherlich sollten wir hier — vorhin wurde das bereits erwähnt — doch auch einen Blick auf die Frage werfen: Wie steht es denn eigentlich mit dem Waffenexport? Auch die Bundesrepublik Deutschland ist hier gefragt. Da jetzt in einer Anfrage gesagt worden ist, daß Waffen, exakt muß ich sagen: Rüstungsgüter aus insgesamt 184 Ländern an 157 Länder geliefert worden sind, meine ich, daß vielleicht eine Veröffentlichung der Länder, in die Waffen gegangen sind,

(Beifall der Abgeordneten Frau Olms [GRÜNE])

und eine strikt restriktive Regelung bei der Ausfuhr von Rüstungsgütern ebenfalls einen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen leisten könnten.



Bindig
Sehr wichtige und durchaus richtige Gedanken sind die Ideen, daß Entwicklungspolitik in Nachbarregionen von Flüchtlingsursprungsländern verstärkt stattfinden sollte. Hier erbringen einige Länder ganz erhebliche Leistungen, die weit größer als die Leistungen der Länder in Europa sind. In Pakistan leben 2,7 Millionen Afghanen; das sind 2,8 To der Gesamtbevölkerung. Im Sudan leben 690 000 Flüchtlinge; das sind 3,6 % der Gesamtbevölkerung. Man muß einmal sehen, was für eine Solidarität der Dritte-WeltLänder untereinander stattfindet, und bedenken, daß von den in der Bundesrepublik lebenden Menschen gerade 0,2 % Flüchtlinge sind.
Zu der Aufgabe, Projekte zu machen, die sowohl den Flüchtlingen als auch der einheimischen Bevölkerung zugute kommen, ist zu sagen, daß dies dort, wo es möglich ist, bereits geschieht. So werden teilweise Infrastrukturmaßnahmen ergriffen, etwa die Verbesserung und Sicherung der Grundwasserversorgung, die Verbesserung der Stromversorgung, Aufforstungsprogramme mit „food for working". Das sind interessante Projekte, die diesen Gedanken bereits enthalten, Maßnahmen für die einheimische Bevölkerung mit Maßnahmen für die Flüchtlinge zusammenzuführen. Nur auf diese Weise kann vermieden werden, daß es zu Spannungen zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen kommt. Solche Spannungen liegen nämlich durchaus im Bereich des Möglichen. Für die Flüchtlinge treten die international erfahrenen humanitären Hilfsorganisationen auf; sie ziehen ihre Programme mit ihrer großen Erfahrung durch. Die Einheimischen stehen oft etwas hintan und fangen nach einer Weile an, sehr kritisch auf diese Maßnahmen zu sehen. Deshalb muß dies zusammengeführt werden.
Sicher gibt es auch gewisse Zuständigkeits- und Koordinierungsprobleme zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das Auswärtige Amt leistet die humanitäre Hilfe; das BMZ macht die flüchtlingsnahe Entwicklungshilfe. Wenn die erste akute Notsituation vorbei ist, müßte sich die Hilfe für die Flüchtlinge aus dem BMZ anschließen. Da fehlt es oft objektiv an einem wirklichen Vertragspartner, weil ja in der Regel Entwicklungszusammenarbeit mit einem Regierungsabkommen mit dem jeweiligen Land gemacht wird. Man fragt sich: Mit wem kann man flüchtlingsrelevante Projekte machen? Das kann dann über die internationalen Hilfsorganisationen geschehen. Aber es ist oft schwer, einen geeigneten Kooperationspartner zu finden. Man muß dann von der bilateralen Hilfe wohl sehr oft in die internationale Hilfe hineingehen.
Ich habe mir noch einmal die Zahlen angesehen, was wir denn eigentlich an Flüchtlingshilfe leisten. Das sind zum einen, ein bißchen grob geschätzt, rund 100 Millionen DM aus der humanitären Hilfe, bilateral und über die internationalen Organisationen. Wir haben aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine Liste erhalten. Ich habe die Posten zusammengezählt. Danach sind es weitere rund 100 Millionen DM für flüchtlingsrelevante Projekte. Das sind zusammen 200 Millionen DM. Wenn man das in Relation zu dem Gesamtetat von rund 7 Milliarden DM setzt, ist das ein Anteil, der zwar
wichtig ist und nicht geringgeschätzt werden sollte, der aber mit seiner Größenordnung von 200 Millionen DM für flüchtlingsrelevante Projekte und humanitäre Hilfe zusammen angesichts der großen Zahl von 15 Millionen Flüchtlingen derart ist, daß es doch sinnvoll wäre, diesen Anteil zu steigern. Ich unterstütze die Intentionen des Antrages, über die Entwicklungspolitik noch mehr zu machen, um diesem großen Flüchtlingsproblem entsprechend zu begegnen.
Wenn wir diese Ideen und Impulse aus den früheren Anträgen und jetzt aus Ihrem Antrag zusammennehmen, hoffe ich auf eine fruchtbare Weiterberatung und die Aussicht auf einen gemeinsamen Entschließungsantrag.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107425500
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Köhler.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107425600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Verlauf des überwiegenden Teils der Debatte läßt mich hoffen, daß wir bei diesem bitterernsten Thema wirklich zu fruchtbaren Beratungen kommen. Ich möchte mir erlauben, verehrter Kollege Bindig, Ihnen ganz persönlich dafür zu danken, wie behutsam und — auf Grund Ihrer Erfahrung — nüchtern Sie dieses Thema eben hier diskutiert haben. Ich glaube sagen zu dürfen, daß die Bundesregierung bei dieser Beratung das ihrige leisten wird, damit wir zu guten Ergebnissen kommen, und nicht nur deshalb, weil wir uns durch vieles, was hier gesagt ist, in den Bereichen der humanitären Hilfe, der Entwicklungspolitik und der Reintegration in unseren laufenden Bemühungen bestätigt fühlen.
Ich würde mich noch mehr freuen, wenn ich nicht hätte sagen müssen „überwiegender Teil der Debatte", sondern „die ganze Debatte".

(Feilcke [CDU/CSU]: Das meiste war fruchtbar, das von den GRÜNEN war furchtbar!)

Mir bleibt nur die Feststellung, liebe Kollegin Frau Olms, wenn ich Ihre politische Vorstellungswelt und zugleich Ihre intime Kenntnis der Dritten Welt teilen müßte, dann bliebe mir nur noch die Flucht.

(Heiterkeit)

Meine Damen und Herren, ohne jeden Zweifel ist das Weltflüchtlingsproblem eine der größten Herausforderungen für die, sagen wir einmal: Weltinnenpolitik geworden. Ich wiederhole es noch einmal, weil es so ernst ist: fast vier Millionen Flüchtlinge in Afrika, in Somalia, im Sudan, in Angola, in Mosambik, mehr als zwei Millionen Palästinenser in Flüchtlingslagern des Nahen Ostens; in Pakistan haben zwei Millionen Afghanen, die nach der sowjetischen Invasion ihr Heimatland verlassen haben, Zuflucht gefunden; was Südostasien angeht, genügen die Stichworte Vietnam, Kambodscha; in Honduras, Mexiko und Costa Rica schließlich finden sich die Flüchtlinge, die bei den Wirren und Kämpfen in Zentralamerika fliehen mußten.



Parl. Staatssekretär Dr. Köhler
Aber wir sprechen hier nicht nur von Dingen an Stellen fern von uns auf dem Globus, sondern wir sind auch direkt betroffen. Wir müssen uns darüber Rechenschaft ablegen, daß die Zahl von 20 000 Menschen, die 1983 um Asyl in der Bundesrepublik nachfragten, inzwischen auf die Zahl von 100 000 im Jahre 1986 hochgeschnellt ist, und diese Größenordnung hat sich stabilisiert.

(Baum [FDP]: Sie müsen die Ausreisenden abziehen!)

Wenn man die räumliche Konzentration auf einige Städte hinzurechnet, dann fühlen wir auch etwas von der innenpolitischen Dimension, die dieses Thema inzwischen für uns hat.
Die Ursachen für das wachsende Flüchtlingsproblem sind vielfältig, vielfältiger, als Sie sie dargestellt haben, Frau Olms, weiß Gott: Innen- und zwischenstaatliche Auseinandersetzungen, ethnische und religiöse Konflikte, machtpolitische Rivalitäten — das läßt sich doch nicht leugnen — erleben wir jeden Tag als Ursache für Flucht und Vertreibung. Das sind Dinge, die den klassischen Flüchtlingsbegriff prägen. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang wirklich daran erinnern, daß von den mehr als 170 Kriegen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die meisten, nämlich mehr als 150, in den Ländern der Dritten Welt ausgefochten worden sind, und zwar zumeist ohne direkte Beteiligung der Industrieländer. Zunehmend an Bedeutung haben aber Wanderungsbewegungen gewonnen, die ihre Ursachen in wirtschaftlichen Beweggründen oder in Naturkatastrophen haben. Neben der Flucht vor Bedrohung ist die Flucht vor der Not ein gleichrangiger Beweggrund geworden.
Deshalb sind zur Überwindung und Bekämpfung des Flüchtlingsproblems alle Politikbereiche aufgerufen, die Außenpolitik mit dem Ziel, den internationalen Frieden zu fördern, regionale Zusammenarbeit zu verbessern und Vertrauen zwischen den Staaten und Völkern zu stärken, die Innenpolitik mit der Aufgabe, eine sachgerechte Lösung der Asylproblematik zu erarbeiten, und die Entwicklungspolitik, weil die Aufnahmeländer der Flüchtlinge in der Regel selbst zu den ärmsten Staaten gehören. Ich erinnere an Somalia in Afrika, das seit zehn Jahren Hunderttausende von Flüchtlingen in seinen Grenzen hat; ich erinnnere an Thailand und Pakistan, an Honduras und Costa Rica. Die Entwicklungspolitik ist gefordert, weil die Entstehung von Flüchtlingsströmen selbst auch ein Entwicklungsproblem ist und die dauerhafte Bewältigung durch Ansiedlung oder Rückführung der Flüchtlinge nur mit Unterstützung der Entwicklungshilfe gelingen kann.
Die Bundesregierung hat in ihrer entwicklungspolitischen Konzeption diese Herausforderung angenommen: Mit dem Bemühen um wirtschaftliche und soziale Entwicklung leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur politischen Stabilität und Friedenssicherung und damit zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Gewiß, angesichts der Größe des Problems ist es nicht schwer, sich darauf zu einigen, daß mehr geschehen muß, wenn immer es möglich ist. Im Gespräch mit den Regierungen der Entwicklungsländer setzen wir uns aktiv für die Herstellung von politischen und wirtschaftlichen Bedingungen ein, die dem einzelnen
Menschen Sicherheit vor Bedrohung und Anreiz zu aktiver Gestaltung seines Lebens geben. Die Befriedigung von Grundbedürfnissen — Sie wissen, daß mehr als 40 % der deutschen Entwicklungshilfe diesem Zweck gewidmet sind — hat das Ziel, sozial gerechtere Einkommensverteilungen in den Entwicklungsländern zu fördern und die unerträglichen sozialen Spannungen, wo immer es in unserer Kraft steht, zu entschärfen.
Aber es liegt in der Natur der Sache, daß die skizzierten entwicklungspolitischen Maßnahmen nur langfristig helfen können. Entwicklungszusammenarbeit — daran muß man angesichts der Erwartungen in der Öffentlichkeit immer wieder erinnern — hat einen anderen Zeithorizont als Katastrophenhilfe. Nur heißt die Schlußfolgerung nicht, daß beides dann eben nicht miteinander verbunden werden kann, im Gegenteil. Wir können uns mit der langfristigen Perspektive gewiß nicht begnügen; denn da ist das bedrükkende Los der in trostlosen Lagern zusammengepferchten Flüchtlinge, vorwiegend Frauen und Kinder in äußerster Armut und ohne Hoffnung auf eine Zukunft, und das erfordert direkt wirkende Maßnahmen in den Aufnahmeländern. Wir haben zu diesem Zweck 1987 insgesamt 125 Millionen DM für Maßnahmen zugunsten von Flüchtlingen bereitgestellt. Kollege Bindig, verglichen mit 7 Milliarden DM ist diese Zahl gering, aber ich glaube, man muß sie auch an den Mitteln messen, die wir für schnellen Abfluß zur Verfügung haben, und da sieht das schon wesentlich anders aus.
Allerdings: Auch bei der Flüchtlingsproblematik muß die in der Entwicklungszusammenarbeit übliche Praxis eingehalten werden und kann nicht einfach übersprungen werden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107425700
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Olms?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107425800
Ich glaube, wir haben noch die Zeit dafür, Herr Präsident.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107425900
Bitte schön, Frau Olms.

Ellen Olms (GRÜNE):
Rede ID: ID1107426000
Herr Köhler, was schätzen Sie, wieviel Prozent der Hilfe, die von der Bundesrepublik geleistet wird, für den Zweck, für den sie bestimmt ist, angekommen sind?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107426100
Frau Kollegin Olms, ich kann Ihnen gerade bei diesen Maßnahmen, die in aller Regel unter der Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen, Rotem Kreuz, Kirchen usw., durchgeführt werden, garantieren, daß der Erreichungsgrad außerordentlich hoch ist und daß das von den betroffenen Menschen auch so empfunden wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich sagte eben, daß die übliche Praxis der Entwicklungszusammenarbeit nicht ohne weiteres über den Haufen geworfen werden kann. Allein schon das We-



Parl. Staatssekretär Dr. Köhler
sentliche ist, daß alle Maßnahmen im Partnerland nur mit dessen Zustimmung möglich sind. Die direkte Hilfe für Flüchtlinge ist deshalb nur dann möglich, wenn das Aufnahmeland dies gestattet. Das ist nicht immer der Fall, weil die Aufnahmeländer ihrer eigenen Bevölkerung schon aus Gründen der innenpolitischen Stabilität gerne Priorität einräumen und nicht bereit sind, aus den eigenen knappen Mitteln für die Flüchtlinge einen Beitrag zu leisten. Die Furcht, durch Verbesserung der Bedingungen in den Flüchtlingslagern könnte ein Anreiz zu einer Zunahme des Flüchtlingsstroms geschaffen werden, ist eine Realität, ob wir das gut finden oder nicht.
Wir versuchen deshalb, bei der Konzeption und Durchführung von Projekten für Flüchtlinge die einheimische Bevölkerung — ganz in dem Sinne, wie es eben auch der Kollege Bindig ausgeführt hat — einzubeziehen und die Maßnahmen auch zu ihrem Vorteil zu gestalten. Die Verbesserung der Infrastruktur, der Bau von Schulen und Krankenhäusern, Wiederaufforstung und Wasserversorgung sind Beispiele für Maßnahmen im Interesse der einheimischen Bevölkerung und der Flüchtlinge, Maßnahmen, die wir gegenwärtig z. B. gerade in Zusammenarbeit mit der pakistanischen Regierung durchführen. Weil dies so ist, ist es ja auch nicht ganz einfach, nun eine genaue Zurechnung der Aufwendungen auf Heller und Pfennig vorzunehmen, weil es viele Maßnahmen gibt, die mehrere Zielrichtungen erfassen.
Natürlich ist die Rückführung von Flüchtlingen das beste Mittel, um das Flüchtlingsproblem zu lösen. Sagen wir einmal nicht Rückführung, sagen wir Heimkehr. Wir setzen deshalb auch gerne Mittel der Reintegrationsförderung zugunsten von Asylberechtigten und Flüchtlingen ein, die bei uns leben.
Wir haben angefangen, dies zu versuchen. Es ist politisch oft außerordentlich sensibel und mit Problemen belastet. Aber wir haben z. B. bereits ein Pilotprogramm in Angriff genommen, das den Einsatz von in der Bundesrepublik lebenden äthiopischen und eritreischen Fachkräften in den Flüchtlingslagern im Sudan vorsieht und betreibt, in denen Eritreer und Äthiopier leben müssen. Ghanaische Fachkräfte werden auf ihre Rückkehr und berufliche Eingliederung im Heimatland durch fachliche Vorbereitungsmaßnahmen, Einarbeitungszuschüsse und Existenzgründungsdarlehen vorbereitet.
Meine Damen und Herren, Flüchtlingshilfe ist keine Aufgabe, die allein mit Mitteln der bilateralen Zusammenarbeit zu lösen ist. Die internationale Solidarität erfordert ein abgestimmtes Vorgehen. Deshalb arbeiten wir mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen eng zusammen. Noch wichtiger als unsere finanzielle Unterstützung des Hohen Flüchtlingskommissars sind dabei der sehr direkte Austausch von konkreten Erfahrungen und Informationen und das gemeinsame Bemühen um Flexibilität bei dem Einsatz der Mittel.
Wenn der Hohe Flüchtlingskommissar heute erreicht hat, daß er Jahr für Jahr je nach der Lage festlegen kann, ob der überwiegende Teil der Mittel für unmittelbare Nothilfe oder bereits für strukturbildende und Wiederansiedlungsmaßnahmen eingesetzt wird, ist das ein Ergebnis dieses engen Dialogs,
mit dem wir versuchen, auf die sich rasch ändernde Flüchtlingsbewegung im nationalen und internationalen Raum schnell zu reagieren.
Wir empfinden den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP als Unterstützung bei unserer Bemühung. Für diese Unterstützung sind wir dankbar. Wir wollen auch in Zukunft alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen, um wirksam und schnell, aber auch nachhaltig zu helfen. Wir werden es um so besser tun, je eher es uns gelingt, Illusionen zu vermeiden. Eine kurzfristige Lösung für das Weltflüchtlingsproblem dürfte niemand in Sicht haben. Wir werden noch lange mit diesem Problem zu arbeiten haben. Nur, meine ich, Mutlosigkeit wäre die schlechteste Antwort darauf. Im Gegenteil: Wir alle — gerade auch im Dialog der Industrie- und Entwicklungsländer — müssen uns tatkräftig dieser Frage annehmen und mit Geduld, aber auch mit Leidenschaft versuchen, konkrete Schritte zur Verbesserung zu finden und durchzuführen.
Dabei, meine ich, ist es wichtig, nicht aus dem Auge zu verlieren, daß die Überwindung von Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit auf Dauer nur dann möglich sein wird, wenn es gelingt, auch die innerstaatliche Ordnung und das Regelwerk der internationalen Politik zu einer besseren demokratischen und rechtsstaatlichen Konfliktlösung anstelle nackter Gewalt weiterzuentwickeln. Dies ist eine Aufgabe, der sich die Friedenspolitik der Bundesregierung zutiefst verpflichtet weiß.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107426200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-Gesetz)

— Drucksache 11/1844 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und Technologie Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hartenstein, Schäfer (Offenburg), Adler, Bachmaier, Bernrath, Blunck, Dr. Böhme (Unna), Conrad, Conradi, Fischer (Homburg), Dr. Hauchler, Dr. Hauff, Ibrügger, Jansen, Dr. Jens, Kiehm, Koltzsch, Kretkowski, Lennartz, Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düssel-



Vizepräsident Westphal
dorf), Müller (Pleisweiler), Müntefering, Reimann, Reuter, Schanz, Dr. Schöfberger, Schütz, Dr. Soell, Stahl (Kempen), Tietjen, Traupe, Waltemathe, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Umweltverträglichkeitsprüfung
— Drucksache 11/1902 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und Technologie
Im Ältestenrat, meine Damen und Herren, ist eine gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes mit zwei Beiträgen bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Das heißt, daß zwei Debattenrunden stattfinden. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich gehe davon aus, daß man nicht unbedingt zehn Minuten reden muß.

(Heiterkeit)

Ich weiß, daß das schwierig ist, aber nachdem unsere Umwelt von einem Vertreter des zuständigen Ministeriums noch völlig unbelastet ist, geht es vielleicht schneller.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107426300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts fortschreitenden Artentods, schleichender Vergiftung, steigendem Landschaftsverbrauchs und ständig zunehmenden Naturverlustes sollten Fragen nach den Umweltauswirkungen menschlichen Handelns selbstverständlich sein. Die wenigen bisher vorhandenen Methoden der Umweltvorsorge und die völlig mangelhaften Kontrollen der Umweltauswirkungen haben ganz offensichtlich versagt. Wir brauchen den Umbau der Industriegesellschaft zur Überwindung der Umweltzerstörung. Eine kleine Facette aus der Programmatik der GRÜNEN ist das Umweltinstrument der Umweltverträglichkeitsprüfung. Die bisher vernachlässigten negativen Folgen und Nebenwirkungen planerischer Entscheidung müssen frühzeitig und offen dargestellt werden, nach dem ganz einfachen Prinzip: Erst denken, dann planen, dann handeln. Das kann auch bedeuten, es ganz zu unterlassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die zu erwartenden Umweltauswirkungen müssen erkannt werden, ehe der Eingriff stattfindet. Nur so können Alternativen geprüft werden. Konkret bedeutet das: Die Herstellung anderer Produkte in der Chemieindustrie. Subventionsprogramme für Solarenergie anstelle von Atomenergie etc.
Nur durch die Prüfung von Alternativen können wir die Folgen zugunsten der Umwelt modifizieren. Eine öffentliche Diskussion über den Sinn und Zweck eines Vorhabens und seine Umweltauswirkung wird zu einer weiteren Sensibilisierung der Menschen für die Erhaltung der Umwelt führen. Ein Anliegen, von dem ich meine, daß wir das alle hier teilen sollten. Das Produktive an unserem Entwurf ist, daß die Interessengegensätze im Vorfeld der Entscheidung schonungslos aufgedeckt werden. Nach den Erfahrungen wächst dadurch die Bereitschaft aller Beteiligten, der Antragsteller, der Behörden und der Bürger, verantwortlicher mit der Umwelt umzugehen.
Wir GRÜNE sehen in der UVP kein Wundermittel. Wir sind nicht so naiv, optimistisch zu glauben, daß nun keine Autobahn mehr gebaut wird. Ich bin auch sicher, daß die Startbahn West gegen jede UVP durchgesetzt worden wäre. Ich sehe jedoch die Chance, daß die UVP zu einem Reforminstrument des Umweltrechtes werden könnte, wenn sie inhaltlich so umfassend ausgestaltet ist, wie dies unser Gesetzentwurf vorsieht. Im wesentlichen basiert er auf den Vorstellungen sämtlicher Umweltverbände der Bundesrepublik Deutschland. Dies ist auch ganz deutlich auf dem Würzburger Umwelttag artikuliert worden.
Die in dem Antrag der SPD beschriebenen Zielvorstellungen werden in dem Gesetzentwurf der GRÜNEN alle realisiert, jedoch geht unser UVP-Gesetz in entscheidenden Punkten weiter, z. B. in der Öffentlichkeitsbeteiligung und in der Bindungswirkung der Umweltverträglichkeitserklärung auf die Genehmigungsentscheidung.
Was sich die Bundesregierung seit der Amtszeit von Minister Töpfer zur verbindlichen Einführung — Sie wissen, meine Damen und Herren, daß die UVP bis zum 2. Juli 1988 im bundesdeutschen Recht verankert werden muß — geleistet hat, ist ein Trauerspiel für die bundesdeutsche Umweltpolitik.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Typisch!)

Der Bundestag hatte am 25. November 1983 in einem einstimmigen Beschluß die optimale Umsetzung der EG-Richtlinie gefordert und klargestellt, daß in der Bundesrepublik nach Art. 13 über die minimalen Anforderungen der EG-Richtlinie hinausgegangen werden solle.
Der vor kurzem vorgelegte Referentenentwurf aus dem Umweltministerium zeigt, daß nur die minimalen Anforderungen der EG umgesetzt werden sollen. Es wird davon gesprochen, daß man in einem zweiten Schritt irgendwann weitergehende Sachen machen will.
Reaktorminister Töpfer, der sich der bundesdeutschen Öffentlichkeit gern als ökologischer Vorreiter in der umweltpolitischen Bremsergemeinschaft präsentiert, trägt nun die Schlußlaterne, und das in einem Jahr, wo er in der EG den Vorsitz führt. Der Referentenentwurf des Reaktorministers sieht kein eigenständiges Gesetz vor, welches die größtmögliche Wirksamkeit und Rechtsklarheit gewährleisten würde, wie dies im Gesetzentwurf der GRÜNEN geschehen ist. Es werden lediglich in einigen wenigen Gesetzen kleine Sätzchen und Absätzchen eingefügt. Fachliche Gründe können dafür keineswegs die Ursache gewesen sein. Denn in einem Referentenpapier vom Mai 1987 steht schwarz auf weiß nachzulesen, daß ein eigenständiges UVP-Gesetz allen anderen rechtlichen Umsetzungen vorzuziehen ist.



Brauer
Der das im Umweltministerium federführend erarbeitet hat, ist übrigens abgelöst worden.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Das läßt tief blikken!)

Das gleiche ist nach ihm dann auch noch den beiden anderen Referatsleitern widerfahren. Ich kann den Namen ruhig nennen. Herr Kupei war in der Bundesrepublik und in Europa für seinen Sachverstand im UVP-Bereich bekannt.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Deshalb mußte er gehen!)

Ein eigenständiges Gesetz stößt jedoch auf den Widerstand der anderen Ressorts, weil sie von ihrer Kompetenz nichts abgeben wollen und davon ausgehen, Umweltschutz selbst am besten betreiben zu können.
Diese Atomisierung der UVP führt zu unterschiedlichsten Verfahren und Bewertungen und kann eine querschnittsorientierte, medienübergreifende, alle Wechselwirkungen umfassende Prüfung nicht gewährleisten. Sektorale Fachinteressen werden im Vordergrund stehen. Gerade die Behörden, die Umwelteingriffe bisher mitgeplant und deswegen mitzuverantworten haben, können die UVP in ihrem Hause weiter in ihrem Sinne durchführen.
Der Gesetzentwurf der GRÜNEN geht — und dies wird hier sicherlich noch zur Sprache kommen — von einem eigenständigen UVP-Amt aus, das politisch weitgehend unabhängig sein muß. Wir sehen darin keine Aufblähung der Verwaltung, ganz im Gegenteil! Die Abfassung einer Umweltverträglichkeitserklärung, die dem Stand des ökologischen Wissens entspricht, ist nur durch gut ausgebildete Fachleute möglich. Die Konzentration des Sachverstandes, sowohl was die Durchführung des UVP-Verfahrens als auch die inhaltlich-wissenschaftliche Ausgestaltung betrifft, kann auf Regierungsbezirks-, Landes- und Bundesebene erreicht werden und entlastet damit die kommunalen Verwaltungen. Im übrigen stellt sich die SPD eine Einrichtung vor, die auch personell und organisatorisch von den entscheidungsbefugten Stellen getrennt ist. Die SPD sagt jedoch nicht, wie sie das konkret umsetzen will.
Meine Damen und Herren, es besteht ein öffentliches Interesse aller an einem verantwortungsvollen Umgang mit der Natur. Die Folgen umweltschädigenden Verhaltens erleidet schließlich die Natur, einschließlich der Menschen.
Kern einer ökologischen und demokratischen Rechtspolitik muß die Stärkung der Bürgerrechte sein.

(Häfner [GRÜNE]: Sehr wahr!)

Eine Umweltpolitik ohne Beteiligung der betroffenen Menschen ist keine ökologische Politik.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In dem Gesetzentwurf der GRÜNEN ist die Beteiligung der Betroffenen eine zentrale Voraussetzung. Schon bei der Formulierung des Untersuchungsrahmens, also dessen, was in einer UVP alles untersucht werden soll, wird die Öffentlichkeit geradezu aufgerufen, mitzuwirken. Dort, wo nach diesem Modell vorgegangen wird, hat sich gezeigt, daß die Beteiligten sachkompetent sind und die Verwaltung in vielen Fällen auf Probleme und Zusammenhänge erst aufmerksam gemacht haben. Nach unserem Gesetzentwurf ist nicht nur eine mehrfache öffentliche Beteiligung, sondern selbstverständlich auch Akteneinsicht und Verbandsklage vorgesehen.
Die Öffnung der Verwaltung bewirkt, daß die Behörden nicht mehr zugunsten der Naturnutzer eingenommen sind, sondern daß sie sich durch die Auseinandersetzung mit den Bürgern mehr den Belangen der Natur verpflichtet fühlen. Die staatliche Verwaltung wird gegenüber dem Bürger in die Pflicht genommen, ihre Entscheidungsgrundlagen offenzulegen.
Herr Präsident, ich würde darum bitten, ruhig weiterreden zu können und von den nächsten zehn Minuten ein paar mit herüberzunehmen. Geht das?

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das geht bei zwei Runden nicht! — Zurufe von den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107426400
Sie müssen, glaube ich, unterbrechen, um andere heranzulassen. Dann können Sie sich nachher noch einmal melden.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107426500
Damit bin ich auch einverstanden.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107426600
Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.

Werner Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1107426700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand — erst recht nicht meine Fraktion — unterschätzt die umweltpolitische Bedeutung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung und ihr Umsetzen in nationales Recht. Aber ich meine, man sollte auch nicht so tun, als begänne die Bundesrepublik Deutschland in Sachen Umweltverträglichkeitsprüfung quasi bei der Stunde Null

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

oder aber es hätte der Erleuchtung aus Brüssel bedurft. In diesem Zusammenhang finde ich es nicht nur etwas übertrieben, sondern auch etwas simplifizierend, lieber Kollege Brauer, wenn Sie die fachliche Kompetenz unseres Ministers am Tempo des Umsetzens dieser Richtlinie messen.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Ja, wo ist denn der Gesetzentwurf? — Brauer [GRÜNE]: Er hat doch nur noch zwei Monate Zeit!)

Es gehört nun einfach einmal zu einer Demokratie, daß man auf komplizierte Tatbestände nicht mit simplen Antworten reagiert.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von den GRÜNEN: Seit 1982 haben Sie Zeit! — Brauer [GRÜNE]: Seit 1960 ist die UVP im Gespräch! Das ist ein echter Entscheidungsnotstand des Umweltministers!)

Kehren wir zurück zu einer nüchternen Bestandsaufnahme. Dazu gehört, daß es inzwischen unbestritten ist, Umweltschutz als eine wichtige Querschnitts-



Dörflinger
aufgabe zu begreifen, immer stärker aus dem Prinzip der Vorsorge heraus zu betreiben. Es gehört auch die Feststellung dazu, daß wir in der Bundesrepublik bereits über ein sehr differenziertes Umweltrecht in Form von Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien verfügen, die gerade in der Verantwortung dieses Ministers nicht nur auf einen höchsten Stand gebracht, sondern in der konkreten Wirklichkeit auch angewandt und konsequent eingesetzt werden.

(Brauer [GRÜNE]: Und warum verschlechtert sich die ökologische Situation?)

Es gibt sowohl in der kommunalpolitischen Praxis als auch in der Planungspraxis Elemente einer Umweltverträglichkeitsprüfung bereits mit der größten Selbstverständlichkeit. Sie sind in bestehende Verfahren integriert.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Alibimaßnahmen sind das!)

Das heißt, wir haben diese Richtlinie auch einmal dahin gehend zu untersuchen, ob es nicht einen Unterschied macht, was in einem Land mit einer differenzierten Umweltgesetzgebung und einem hohen umweltpolitischen Standard diese Richtlinie und ihre Umsetzung dort bewirkt und was sie andererseits in den Ländern bewirkt, die über diesen hohen umweltpolitischen Standard nicht verfügen.
Diese kritischen Anmerkungen relativieren die Bedeutung des Vorhabens nicht, diese Richtlinie umzusetzen. Die Koalitionsvereinbarung legt die Bundesregierung darauf fest. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen hat in einer im November 1987 abgegebenen Stellungnahme die Notwendigkeit betont, daß es einer gesetzlichen Form der Umsetzung bedürfe. Der Bundesumweltminister hat im Januar dieses Jahres den Arbeitsentwurf für ein Artikelgesetz vorgelegt. Er hat — was wir sehr begrüßen — zusammen mit dem Land Baden-Württemberg die Erarbeitung eines ersten Konzepts für den kommunalen Einsatzbereich der UVP gefördert.
Es geht aber auch um die europäische Glaubwürdigkeit der deutschen Position in Sachen Umweltschutz.

(Brauer [GRÜNE]: Genau! Darum geht es!)

Denn, meine Damen und Herren, unser Drängen auf ein schnelleres Tempo in Europa

(Frau Teubner [GRÜNE]: Wie bitte?)

und das EG-weite Festlegen schärferer Grenzwerte ist ja wohl nun ein unbestrittener Ausdruck unserer Pilotfunktion. Wer fordert denn von uns nationale Alleingänge und schärferes Tempo in Europa, wenn nicht vor dem Hintergrund dessen, was wir uns selber in einem Umweltniveau geschaffen haben.

(Brauer [GRÜNE]: Wo sind die nationalen Alleingänge?)

Vor diesen Hintergrund verstehe ich auch nicht ganz die im Antrag der SPD enthaltene Forderung, die Umweltverträglichkeitsprüfung in der Bundesrepublik über die EG-Richtlinie hinaus zu entwickeln. Wenn man mit der Richtlinie auch das Ziel verfolgt, faire und möglichst einheitliche Kriterien zu schaffen, dann muß man als zentrales Gesamtziel im Auge haben, Umweltpolitik in Europa auf einen maximalen Standard möglichst einheitlich zu verankern.

(Brauer [GRÜNE]: Aber nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN und der SPD)

Wir verstehen den Antrag der SPD und den Gesetzentwurf der GRÜNEN sicher als Ausdruck oppositioneller Ungeduld, wohl aber auch als Angebot zu konstruktiver Mitarbeit. Wir nehmen dies an. Wir sind bereit, im Sinne des einstimmig gefaßten Entschließungsantrags des Deutschen Bundestags vom 25. November 1983 zu arbeiten, der auf eine optimale Umsetzung der EG-Richtlinie drängt.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: In diesem Sinne? Das ist ein Wort! Daran werden wir Sie messen!)

Allerdings darf ich in dem Zusammenhang gleich darauf aufmerksam machen, daß der Gesetzentwurf der GRÜNEN, auch der der SPD, aber der der GRÜNEN am stärksten, in einem nicht unwesentlichen Punkt einer zentralen Aussage dieses Bundestagsbeschlusses widerspricht,

(Zuruf von der SPD: Jetzt kommen die Behörden!)

nämlich der Aussage, keine neuen Verfahren und keine neuen Behörden einzuführen. UVP-Ämter, wie z. B. die GRÜNEN vorschlagen, widersprechen eindeutig dieser Aussage,

(Brauer [GRÜNE]: Was wird dann aus der UVP?)

widersprechen auch dem, was wir uns als Umsetzung für diese Richtlinie vornehmen. Ich glaube, daß der Antrag der SPD etwas enger am seinerzeitigen Beschluß des Deutschen Bundestages orientiert ist, auch wenn wir z. B. mit der Forderung nach Schaffung eines UVP-Sachverständigenrates unsere Schwierigkeiten haben.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Da muß man genau schauen, welche Aufgabe er hat!)

— Ich habe mir das schon angesehen.
Meine Damen und Herren, wenn ich für meine Fraktion nun in einigen wesentlichen Punkten darlege, von welchen Grundsätzen wir ausgehen, dann wird erkennbar, daß zwischen den Meinungsverschiedenheiten, die vielleicht auf den ersten Blick deutlich werden könnten, sicher auch einige gemeinsame Grundsätze zu skizzieren sind.
Ich sage erstens, daß die materiellen und die formellen UVP-Elemente in bestehende Entscheidungsverfahren integriert werden müssen und daß wir aus diesem Grunde — ich betone es noch einmal — zusätzliche Verfahren und zusätzliche Behörden um der Praktikabilität dieser Dinge in der Praxis willen ablehnen.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Was heißt „zusätzliche Verfahren"?)

Zweitens. Wir sind dafür, daß die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der UVP generell sicherzustellen ist. Da stimmen wir sicher überein.



Dörflinger
Das dritte ist, daß das zu schaffende Gesetz dem Prinzip der Umweltvorsorge zu dienen hat und daß es medien- und fachübergreifend anzulegen ist.
Viertens muß dieses Gesetz die Verfahrens- und Entscheidungstransparenz im Umweltschutz wesentlich verbessern, auch im Blick auf die Öffentlichkeit.
Fünftens sollte das Gesetz einen Beitrag leisten zur Rechtsharmonisierung, und zwar sowohl national als auch international.
Und sechstens kann, unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten betrachtet, diese UVP durchaus zur Vermeidung von Umweltschäden und auch zur Ersparnis volkswirtschaftlicher Kosten führen. Sie kann, richtig angewandt und in nicht zu enge bürokratische Strukturen gepreßt, auch einen Beitrag leisten zu schnelleren und kostensparenden Zulassungsverfahren, denn wir wissen ja, daß das unkoordinierte Nebeneinander zahlreicher Genehmigungen, sich, was Kosten und Zeit angeht, ebenso unangenehm auswirken kann wie ungenügend ausgestaltete Verfahren, die ja oft nicht nur zeitraubend sind, sondern auch vor Gerichten landen und damit eigentlich dem Einfluß der Stellen entzogen sind, die darüber zu entscheiden hätten, nämlich der Politik.

(Brauer [GRÜNE]: Gerade durch das Artikelgesetz werden diese Schwierigkeiten auftauchen!)

Meine Damen und Herren, ich habe eingangs betont, daß die Union den Umweltschutz als eine Querschnittsaufgabe begreift. Allerdings wäre es auch falsch, ihn zum alleinigen Kriterium aller Entscheidungen zu machen. Wir sind gezwungen, immer zwischen verschiedenen Gütern abzuwägen. Dem Umweltschutz im Rahmen dieses Prozesses der Abwägung das genügende Gewicht zu geben, das ist die Aufgabe, die vor uns steht in den Beratungen und bei dem Versuch, die EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung in deutsches Recht umzusetzen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107426800
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1107426900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute werden wir fast täglich mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, daß die Vernachlässigung der ökologischen Folgen unseres Handelns uns sehr teuer zu stehen kommt. Alles in allem summieren sich die volkswirtschaftlichen Verluste zu der schwindelerregenden Summe von über 100 Milliarden DM jährlich.

(Zuruf von den GRÜNEN: Nicht nur eine Geldfrage!)

Ich hege die leise Hoffnung, daß wir mittlerweile alle begriffen haben, daß unterlassener Umweltschutz ein sehr schlechtes Geschäft ist, aber ich bin nicht ganz sicher, daß dem so ist. Wenn wir entsetzt vor dem Waldsterben stehen, wenn wir heute beklagen, daß über die Hälfte unserer Tierarten vom Aussterben bedroht ist, dann ist es eigentlich unbegreiflich, daß wir
immer noch zögern, wirksame Instrumente zur Gegensteuerung in die Hand zu nehmen.
Dabei führen uns z. B. die jüngsten Erosionskatastrophen in den Alpen oder auch die Hochwasserschäden der letzten Wochen doch drastisch vor Augen, daß die Natur unerbittlich zurückschlägt, wenn wir fortlaufend ihre Gesetze verletzten.

(Richtig! bei den GRÜNEN)

Es rächt sich eben, daß in den vergangenen Jahrzehnten 90 % aller Flußauen im Einzugsgebiet des Rheins überbaut worden sind und daß wir uns eine ziemlich bedenkenlose Versiegelung der Landschaft geleistet haben.
Was kann die Umweltverträglichkeitsprüfung in dieser Situation bewirken? Kann sie Abhilfe schaffen? Ich denke schon. Sie kann bei geeigneter Ausgestaltung zu einem zentralen Instrument werden, mit dem wir die viel gebrauchte Formel von der Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie endlich in die Tat umsetzen. Der Grundgedanke ist ebenso einfach wie einleuchtend: Alle Projekte und Planungen, die erhebliche Auswirkungen auf Umwelt und Naturhaushalt haben können, müssen vorab auf den ökologischen Prüfstand. Vorab heißt: bevor Entscheidungen gefallen sind. Sonst verfehlt sie ihren Zweck. Die UVP darf auf keinen Fall dekoratives Beiwerk bleiben. Sie muß vielmehr integraler Bestandteil aller wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsprozesse werden.
Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie ist neulich zu der erhellenden Einsicht gekommen, daß sich Umweltschutz nicht in Einzelmaßnahmen erschöpfen kann, sondern Daueraufgabe einer modernen Industriegesellschaft geworden ist. Das läßt doch hoffen, oder nicht?
Im Prinzip ist die Notwendigkeit, insbesondere Großvorhaben wie Bau von Flughäfen, Autobahnen, Kraftwerken, Chemieanlagen usw. auf ihre Umweltauswirkungen hin zu durchleuchten, schon lange erkannt. Die sozialliberale Regierung hat bereits 1975 „Grundsätze für die UVP öffentlicher Anlagen des Bundes" beschlossen. Sie waren freilich wenig wirksam, weil sich die meisten Länder nicht bereit fanden, diese Grundsätze zu übernehmen.
In diesem Zusammenhang möchte ich es geradezu als Glücksfall bezeichnen — um nicht zu sagen: als umweltpolitische Großtat — , daß die EG-Kommission 1980 einen Richtlinienentwurf vorgelegt hat, weil damit nämlich erstens vorausschauend ein EG-weiter Rahmen abgesteckt wurde, weil dadurch zweitens alle nationalen Regierungen in Zugzwang gebracht wurden und weil die EG-Kommission drittens den Mut hatte, in ihrem Ursprungsentwurf die Zielmarke erstaunlich hoch anzusetzen. Wer allerdings das Tauziehen in Brüssel kennt, der wird sich nicht wundern, daß im Verlaufe von fünfjährigen Verhandlungen aus dem ursprünglich pausbäckigen Kind doch ein etwas abgemagertes Gebilde geworden ist. Trotzdem muß man sagen, daß es durchaus lebensfähig ist, d. h. es wurde im Juli 1985 vom Ministerrat als lebensfähiges Gebilde in die Welt entlassen.



Frau Dr. Hartenstein
Das deutsche Umweltrecht weist gegenüber der EG-Richtlinie erhebliche Defizite auf. Es besteht daher ein enormer Umsetzungsbedarf, der nach Auffassung meiner Fraktion nur durch ein eigenes UVP-
Gesetz erfüllt werden kann. Hier bietet sich die große Chance, ein Schlüsselinstrument der Umweltvorsorge zu schaffen und damit die Weichen für eine ökologieverträgliche Wirtschaftspolitik zu stellen. Mein Appell an die Regierung lautet deshalb: Vertun Sie bitte diese Chance nicht! Begnügen Sie sich nicht damit, alles auf kleinster Flamme zu kochen!
Der Antrag der SPD-Fraktion orientiert sich an dem einstimmigen Beschluß des Bundestages vom November 1983, der eine „optimale Umsetzung der EG-Richtlinie in deutsches Recht" fordert. Er legt die aus unserer Sicht unabdingbaren Eckwerte für die UVP fest. Dazu gehören: Erstens. Der Anwendungsbereich darf nicht nur nicht eingeengt werden, sondern er muß über den Katalog in Anhang I hinaus beträchtlich ausgeweitet werden. Natürlich soll nicht jeder Geräteschuppen einer UVP unterworfen werden, wohl aber alle Vorhaben, die nach ihrer Art, nach Größe oder Standort erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt erwarten lassen. Dazu gehören beispielsweise auch Planungen militärischer Art und gentechnische Anlagen.

(Brauer [GRÜNE]: Wie sieht es mit Programmen aus?)

Zweitens. Der Projektträger hat umfassende Informationen beizubringen, auch über die Auswirkungen auf Klima, Flora und Fauna, über Ressourcenverbrauch und über Landschaftsveränderungen sowie über grenzüberschreitende Auswirkungen. Des weiteren müssen Projektalternativen zwingend dargestellt werden, bis hin zur Prüfung der Nullalternative.
Drittens. Zu den wichtigsten Elementen einer UVP gehört eine breite und frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir fordern daher, daß bereits bei der Festlegung des Untersuchungsrahmens auch die anerkannten Umweltverbände einbezogen werden ebenso wie die Träger öffentlicher Belange. Alle Angaben zur UVP sollen öffentlich bekanntgemacht und in einem Verfahren erörtert werden, an dem nicht nur die Einwendungserheber teilnehmen dürfen.
Viertens. Die Durchführung der UVP muß bei einer unabhängigen Stelle liegen, die auf keinen Fall mit der jeweiligen Entscheidungsstelle identisch sein darf. Diese UVP-Stelle legt auch den Untersuchungsrahmen fest, nach Art des in den USA längst bewährten Scoping-Verfahrens.
Fünftens. Es muß sichergestellt sein, daß die Ergebnisse der UVP in die Entscheidungsfindung eingebaut werden und daß bei schweren Umweltbeeinträchtigungen auch eine Ablehnung möglich ist. Dazu ist den Behörden, die über die Zulässigkeit entscheiden, ein Versagensermessen einzuräumen, und das ist auch da vorzusehen, wo es bisher in den einschlägigen Gesetzen nicht verankert ist.
Sechstens. Eine UVP ohne Verbandsklage wäre ein Tiger ohne Zähne. Den anerkannten Umwelt- und
Naturschutzverbänden ist deshalb bei erheblichen Umweltauswirkungen ein Klagerecht einzuräumen.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Na!)

— Wir wollen ein UVP-Gesetz, Herr Bötsch, das diesen Namen verdient. Wir wollen auch, daß den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit, den Gesichtspunkten der Praktikabilität und der Bürgerfreundlichkeit genügend Rechnung getragen wird.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Auch einverstanden!)

Bis zum Juli dieses Jahres soll die EG-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein. Der Bundesminister steht also unter beträchtlichem Zeitdruck. Vor gut zwei Wochen ist ein Referentenentwurf aus dem Hause Töpfer gekommen. Wenn Sie, Herr Kollege Dörflinger, von Ungeduld reden, dann ist dieser Ausdruck ganz sicherlich nicht angebracht; denn die Drei-Jahres-Frist ist ja bereits verstrichen; es sind nur noch wenige Wochen Zeit.
Bei diesem Referentenentwurf handelt es sich um ein Artikelgesetz, das den Anspruch erhebt, einen bedeutenden Schritt zu mehr Umweltvorsorge zu tun. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß gerade da, wo es darauf ankäme, Farbe zu bekennen und Pflöcke pro Umwelt einzuschlagen, alle Ecken und Kanten peinlich genau abgeschliffen werden.
Dafür nur einige wenige Beispiele: Die Vorgaben für den Untersuchungsrahmen sind äußerst lasch geregelt. Der Projektträger kann ihn mit der zuständigen Behörde praktisch aushandeln. Das ist nicht akzeptabel. Die Darstellung von Projektalternativen ist nur eine Kann-Bestimmung; sie ist also keineswegs zwingend. Das darf so nicht Gesetz werden.
Weiter: Es fehlt die Nachkontrolle, es fehlt das Mitwirkungsrecht der Umweltverbände, und — last not least — es fehlt die Verbandsklage.
Am Gravierendsten scheinen mir jedoch folgende Mängel zu sein: einmal der Verzicht auf eine eigenständige UVP-Stelle — dazu wird mein Kollege Dietmar Schütz noch etwas sagen — und zum anderen die eingeschränkte Öffentlichkeitsbeteiligung. § 8 des Regierungsentwurfs klopft praktisch den Status quo fest, indem nur den Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, sich vor der Entscheidung über das Vorhaben zu äußern. Mit dieser einschränkenden Bestimmung wird dem ökologisch engagierten Bürger die Möglichkeit versperrt, eine Lobby für die Natur als Gegengewicht gegen die bislang doch immer übermächtige Wirtschaftslobby aufzubauen.
Die Umsetzung der UVP-Richtlinie, meine Damen und Herren, wird zum Testfall umweltpolitischer Glaubwürdigkeit, nicht nur für den amtierenden Minister, sondern für die Umweltpolitik allgemein. Mit einer Minimalisierungsstrategie, wie sie der Regierungsentwurf vorsieht und wie es sich hier abzeichnet, ist niemandem gedient; denn letztlich stellt die UVP eine Werteentscheidung dar. Sie gibt Antwort auf die Frage: Was ist langfristig vertretbar, was sichert eine dauerhafte Entwicklung, und was ist uns wichtig für die Zukunftssicherung? In kritischen Fällen muß das Ergebnis beim Abwägungsprozeß auch lauten können: Im Zweifel für die Natur!



Frau Dr. Hartenstein
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107427000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.

Gerhart Rudolf Baum (FDP):
Rede ID: ID1107427100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherigen Darlegungen haben gezeigt, daß sich alle Fraktionen mit Ausnahme der GRÜNEN auf der Basis der Entscheidung von 1983 bewegen. Soweit ich sehe, gilt das auch für den Referentenentwurf des Ministers. Ich habe Ihren Antrag studiert, und ich muß sagen, daß im System — —

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Der geht vom Referentenentwurf aus!)

— Na gut, Sie haben Zweifel am Referentenentwurf. Der Referentenentwurf ist ein erster Entwurf — so ist das immer — , und er kann und muß in den Beratungen verändert werden, er muß in diesen Beratungen wachsen. Aber Sie werden mir nicht widersprechen, daß sowohl der Referentenentwurf als auch Ihre Vorstellungen in dem System liegen, das wir damals festgelegt haben.
Auch ich möchte noch einmal kurz auf die Entstehungsgeschichte dieses Unternehmens hinweisen. 1973 hatte Minister Genscher bereits ein UVP-Gesetz nach amerikanischem Vorbild vorgelegt. Dies ist damals im Bundeskabinett gestoppt worden. Herausgekommen sind die Richtlinien von 1975, die Frau Kollegin Hartenstein hier erwähnt hat. Dann ist ein mühsamer und langwieriger Prozeß in der EG in Gang gekommen. Ich erinnere mich noch: Bei den Tagungen des Ministerrates der Europäischen Gemeinschaft war dieses Thema ein Dauerbrenner auf der Tagesordnung, bis eine Entscheidung getroffen worden ist. Wir sind gehalten, diese umzusetzen.
Ich möchte darauf hinweisen, daß die Umweltverträglichkeitsprüfung in unserem Lande natürlich gemacht wird, zwar nicht systematisch, medienübergreifend und flächendeckend, aber sie wird natürlich bei den Entscheidungen, die wir zu treffen haben, immer gemacht. Das ist ja im Grunde Gegenstand der gesamten Gesetzgebung. Es zeigt die Entwicklung des Umweltbewußtseins, daß wir bei den Entscheidungen — auch die Bürger tun das ja — Umweltgesichtspunkte berücksichtigen und geltend machen.

(Brauer [GRÜNE]: Aber erst, wenn es zu spät ist, wenn es entschieden ist!)

Aber ich wünsche mir natürlich

(Brauer [GRÜNE]: Reicht Ihnen das denn aus?)

— Ihnen reicht das alles nicht aus, klar — , daß bei einem solchen Verfahren jetzt durch eine klare gesetzliche Regelung der Umweltschutz und auch die Stellung des Umweltministers bei solchen Entscheidungen hier im Bund stärker werden.
Ich warne aber vor Illusionen in bezug auf die Umweltverträglichkeitsprüfung. Man kann die Umweltverträglichkeitsprüfung ja so oder auch so ausgestalten, daß sie dann schließlich wirkungslos wird, weil man sich in einem bürokratischen Überperfektionismus verhangelt. Das ist nämlich so die Richtung, Herr
Brauer, Ihres Gesetzentwurfes. Da wird alles angehalten, geregelt und hinterfragt. Sie verheddern und verzetteln sich, während wir uns auf die wichtigen Entscheidungen, die mit erheblichen Auswirkungen für die Umwelt verbunden sind, konzentrieren.
Es ist eine Illusion, jetzt anzunehmen, man brauche nur eine richtige Umsetzung der Richtlinie zu machen und dann sei umweltpolitisch alles in Ordnung. Das kann die UVP nicht leisten, und das soll sie auch nicht leisten.

(Brauer [GRÜNE]: Das haben wir gerade nicht gesagt! — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das glaubt der Herr Bötsch!)

Wir müssen uns an einer europäischen Richtlinie orientieren. Das heißt, wir müssen auch den Harmonisierungseffekt dieser Richtlinie beachten. Natürlich haben wir einen Spielraum für eigene Entscheidungen. Wir können auf der anderen Seite auch nicht Dinge aus dieser Richtlinie herausnehmen oder abschwächen. Wir haben zu berücksichtigen, daß wir in Europa an einer Harmonisierung interessiert sein müssen. Der Sinn einer Richtlinie ist, natürlich nicht nur im Lande selber, also hier in der Bundesrepublik, zwischen Bund, Ländern und Gemeinden Verfahren zu harmonisieren — das soll ja unser Gesetz machen —, sondern auch europäisch möglichst harmonisierte Verfahren zu haben;

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sonst könnten wir ja die Gemeinschaft vergessen.

Es ist so, daß wir bei diesen Genehmigungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland sehr lange Prozeduren abzuleisten haben. Ich habe von Herrn Töpfer einen Satz gelesen, den ich hier auch zur Grundlage der Konzeption dieses Gesetzes machen möchte. Sie haben gesagt:
Die UVP leistet aber auch einen Beitrag zu einer schnelleren und kostensparenden Durchführung der Zulassungsverfahren. Denn das häufig kritisierte unkoordinierte Nebeneinander zahlreicher Genehmigungen, von denen die Verwirklichung eines Vorhabens abhängt, wird durch die Vereinheitlichung der UVP-Anforderung und durch die ablauforganisatorischen Koordinierungsregelungen beseitigt.
Das heißt, die UVP muß aus meiner Sicht auch Koordinierung leisten. Sie darf die Verfahren nicht komplizieren,

(Brauer [GRÜNE]: Das wäre am besten in einem Dachgesetz geschehen!)

sondern sie muß koordinierende Wirkung haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben hier wichtige Neuerungen, die ich begrüße. Wir haben nämlich jetzt von Europa her den Anstoß zu medien- und fachübergreifenden Bewertungen. Wir gehen weg von dem einzelnen Medium und sehen alles in einem Zusammenhang und bringen alles in einen Zusammenhang. Wir haben von Europa wichtige Vorstellungen zur Öffentlichkeitsbeteiligung als Anregung eingeführt bekommen.



Baum
Ich meine, daß wir uns jetzt hier streiten sollten, was der beste Weg zu mehr Umweltschutz ist. Da gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Wir haben diese Debatte hier jedenfalls mit der SPD relativ unpolemisch geführt. Wir werden sicherlich in einigen Punkten Meinungsverschiedenheiten haben. Aber wir orientieren uns — ich sage das noch einmal — an der gemeinsamen Entschließung von 1983. Dort haben wir gesagt, daß wir auf die Einführung zusätzlicher bürokratischer Verfahren und auf die Schaffung neuer Behörden verzichten wollen. Der Sachverständigenrat zur UVP hat eine beschränkte Aufgabe. Ob der unbedingt sein muß? Er ist nicht kriegsentscheidend, Herr Schäfer. Sachverständigenräte in Sachen Umweltschutz haben wir genug.
Ich verhehle nicht eine Übereinstimmung mit der SPD-Opposition in Sachen Verbandsklage. Wir sind ja die alten Promotor der Verbandsklage. Ich erinnere an die frühere Koalition, wo Sie mit unserem Vorschlag Schwierigkeiten hatten.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das hat sich in dieser Koalition nicht geändert!)

Das ist eine alte FDP-Forderung. Wir sind offen für die Verbändebeteiligung.
Ich möchte auch die Fragen der Nachkontrolle, also der fortlaufenden Kontrolle — was wird aus einem solchen Verfahren? — ganz locker behandeln. Ich will mir das einmal ansehen. Ich weiß, Herr Töpfer, daß das in Ihrem Entwurf nicht drin ist. Wir sollten uns das einmal ansehen. Ich habe keine feste Meinung. Nachkontrolle und Erfolgskontrolle bleibt für mich auf der Tagesordnung.

(Abg. Brauer [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Kollege, bitte nicht. Es ist heute so spät geworden.
Ich möchte darauf hinweisen, daß wir natürlich die materiellen Kriterien zur Bewertung der Umweltverträglichkeit nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Wir müssen immer wieder Kriterien haben, um das Verfahren anzupassen. Die ökologischen Eckwerte müssen fortentwickelt werden.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Da fehlt noch viel!)

Wir brauchen immer wieder Bewertungsmaßstäbe auf dem neuesten Stande. Wir brauchen auch in anderen Gesetzen Maßnahmen, z. B. verbindliche Luftreinhaltepläne und anderes mehr. Ich warne davor, die UVP isoliert zu sehen und an ihr alle Hoffnungen des Umweltschutzes festzumachen. Das wird sie nicht leisten.
Ich möchte Sie, Herr Töpfer, noch in einem Punkte unterstützen. In Ihrem Referentenentwurf fehlen die Beiträge der anderen Ressorts. Ich kann mir vorstellen, warum. Da gibt es Widerstände. Es wird sicherlich von dem einen oder anderen Kollegen im Kabinett gesagt: Ich brauche das nicht; ich brauche gar keine gesetzliche Neuregelung, das mache ich alles schon. Ich möchte Ihnen also zusagen, auch für meine Fraktion, daß wir Sie dabei unterstützen werden, daß Sie
auch die anderen Ressorts überzeugen, daß sie sich in dieses Gesetz einfügen.

(Brauer [GRÜNE]: Die Machtprobe scheut der Herr Töpfer!)

Wir werden darauf dringen, daß wir das Gesetz jetzt möglichst zügig beraten können. Ich hoffe, daß es bald offiziell hier eingebracht wird. Dann können wir an Hand der einzelnen Vorschriften zeigen, was die einzelnen wirklich wollen. Ihr Antrag ist ja allgemein gehalten. Es kommt jetzt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung. Das begrüßen wir. Wir werden uns an einer zügigen Beratung beteiligen, damit wir endlich die UVP bekommen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107427200
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. — Ich habe auch einmal einen Namen mit drei Teilen bei der Ministeriumsbenennung erfunden.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107427300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es gibt überhaupt keine Diskussion und keinen Streit über die Notwendigkeit, daß wir die Umweltpolitik um so besser machen, je vorsorgender wir sie betreiben, daß wir sie nicht als eine Politik der Nachsorge entwikkeln, sondern der Vorsorge. Dazu gehört ganz sicherlich die Umweltverträglichkeitsprüfung als so etwas wie ein Königsweg der Umweltpolitik. Alle, die sich damit beschäftigen, werden das sicherlich bestätigen.
Genau diese Grundlage muß geschaffen werden. Sie muß aber nicht vom Punkt Null aus geschaffen werden, sondern aus dem Rechtsgefüge der Bundesrepublik Deutschland weiterentwickelt werden. Denn alles das, was man in absehbarer Zeit mit einigermaßen vernünftigen Ergebnissen erreichen will, wird sich dann einstellen, wenn wir das vorhandene Genehmigungs- und Entscheidungssystem, das sich über viele Jahre auch für die Umweltpolitik, wie ich meine, kontinuierlich gut entwickelt hat, zur Grundlage nehmen und systematisch weiterentwickeln.

(Zuruf von der SPD: Ja, aber weiterentwikkeln und nicht stehenbleiben!)

Das ist eine der wesentlichen Voraussetzungen.

(Brauer [GRÜNE]: Da ein bißchen und dort ein bißchen, und es ändert sich nichts!)

Das, was wir über viele Jahre — ich kann das aufgreifen, was der Herr Abgeordnete Baum hier gesagt hat — als umweltpolitisches Verfahrensinstrumentarium entwickelt haben, führt natürlich, Frau Abgeordnete Hartenstein, auch heute schon ganz selbstverständlich dazu, daß in der Bundesrepublik Deutschland viele Verfahren und viele Projekte eben nicht genehmigt werden, daß auch jetzt bereits an vielen Stellen die Natur Vorrang hat und daß dies nicht nur darin bestehen kann, daß ein Verfahren oder ein Projekt überhaupt nicht kommt, sondern auch darin, daß sich im Verfahrensablauf etwas modifiziert, ändert



Bundesminister Dr. Töpfer
und an die Notwendigkeiten einer Natur- und Umweltbetrachtung anpaßt, die Gott sei Dank in der Breite der Bevölkerung zugenommen und an Bedeutung gewonnen hat.
Ich kann Ihnen aus meiner siebenjährigen Tätigkeit in einem Bundesland aus dem Stegreif 10 oder 15 Projekte nennen, die im Laufe dieser Verfahren gar nicht weiter verfolgt worden sind. Eine Rheinbrücke von Ingelheim nach Rüdesheim ist nicht weiter verfolgt worden, weil dort das Europareservat Fulderaue und Ilmenaue bestand. Ein Ferienpark im Hunsrück ist wesentlich verändert worden, weil dort eine naturschutzträchtige Burgruine war und hinterher zum Glück auch der Antragsteller dies nicht weiter verfolgt hat.
Ich sage Ihnen also: Es gibt nicht nur in dem Land, das ich einmal mit zu — —

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Na, und jetzt? Gestalten?)

— Es ist erfreulich, daß der Abgeordnete Schäfer —

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Schämen Sie sich nicht, Herr Minister: Sie haben regiert! — Heiterkeit)

— Über „regieren" war ich schon hinaus! Ich wollte schon etwas weitergehen. Aber ich bin auch mit „gestalten" sehr einverstanden. — All dies ist in allen deutschen Bundesländern so der Fall, dort nämlich, wo die von uns hier verabschiedeten Gesetze auch vollzogen werden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, das kann doch auch aus der Sicht der Sozialdemokraten gar nicht anders sein. Denn wie anders wäre es sonst zu verstehen, daß die Grundsätze unseres Umweltschutzes im Bundesimmissionsschutzgesetz mit seinen Verfahrensregelungen ja geradezu mit als Maßstab bei der Entwicklung der Umweltverträglichkeitsrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft gegolten haben? Das ist doch aus deutscher Rechtskultur heraus entwickelt worden; da hat man genau das gefunden, was wir bisher hatten. Hier einen kontinuierlichen Anschluß zu finden ist also das, was für meine Begriffe zentral und bedeutsam ist.
Jeder, der sich einmal aus dem Inneren heraus mit Verwaltung beschäftigt hat, weiß doch auch ganz genau, daß es immer der falsche Weg ist, so etwas umsetzen zu wollen, indem man in bestehende Verfahren Oberschiedsrichter hineinsetzt und dann sagt: Ihr alle dürft etwas machen, aber am Ende kommt jemand, und der sagt euch, wo der Bartel den Most holt. Ich glaube, dies ist exakt der falsche Weg, um der Natur mehr zum Recht zu verhelfen.
Frau Abgeordnete Hartenstein, ich greife sehr gern das auf, was der Abgeordnete Baum hier gesagt hat: Verfahren haben Ziele noch nie erreichbar werden lassen, sondern veränderte Verhaltensweisen, und es wäre ungleich bedeutsamer, wenn wir über die Integration dieser Gedanken in bestehende Genehmigungsverfahren bei den Fachbehörden mehr die Änderung von Verhaltensweisen bewirkten,

(Stahl [Kempen] [SPD]: Beides, Herr Töpfer! — Zuruf von den GRÜNEN: Mehr Öffentlichkeitsbeteiligung!)

als daß wir hier diese verschreckende Wirkung gerade in die Fachbehörden hinein erzielten.
Glauben Sie mir, daß es so ist, und deswegen gibt es — seien wir doch ganz ehrlich — in der Frage der Umsetzung der UVP in der Bundesrepublik Deutschland eine Bandbreite, die durch folgende Eckpunkte gekennzeichnet ist. Den einen Eckpunkt bilden die, die der Überzeugung sind: Weil unser Genehmigungsrecht beim Wasser, bei der Luft und beim Abfall

(Zuruf von den GRÜNEN: Atom!)

so entwickelt ist, haben wir eigentlich die Punkte der europäischen Umweltverträglichkeitsrichtlinie im Kern schon erfüllt. Das ist die eine Seite dieses Spektrums.
Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die, die der Meinung sind, wir bräuchten, um dies umzusetzen, eine eigene Bürokratie, wir bräuchten einen eigenen neuen Verfahrensstrang, der alles das überlagert, was wir bisher haben.
Das sind die beiden Eckwerte. Der eine Eckwert, nämlich der zuletzt genannte, entspricht weitgehend dem, was die Fraktion der GRÜNEN vorgelegt hat. Weil es eine Extremposition ist, ist diese Position auch durch eine innere Stringenz gekennzeichnet. Das ist doch gar keine Frage! Natürlich ist sie dadurch gekennzeichnet. Nur ist sie dadurch, daß sie stringent ist, noch nicht richtig.

(Zuruf von den GRÜNEN: Aber brauchbar!)

Darauf möchte ich nur noch einmal aufmerksam machen. Wann immer jemand glaubte, auf Grund der Tatsache, daß etwas stringent ist, wäre es schon richtig und wäre vor allen Dingen hinterher auch von den Ergebnissen her das, was wir wollen, müßte er, glaube ich, an vielen Stellen wirklich noch einmal anfangen, neu nachzudenken.
Ich glaube also, genau dieser Weg wird uns nicht in praktikabler Weise weiterbringen. Deswegen haben wir im Ministerium uns erlaubt, einen Weg zu finden, der, genau diesen Kriterien entsprechend, etwas weiterführt. Wir haben gesagt: Wir haben leistungsfähige Genehmigungsverfahren, die, europaweit gesehen, durchaus ihre Qualität nachgewiesen haben. Und wir wollen den übergreifenden Charakter, der der Tradition deutschen Umweltrechts bisher eben nicht entspricht, weil wir das sehr viel stärker medienorientiert gemacht haben, ergänzen, indem wir die Anforderungen an diese Genehmigungsverfahren entsprechend erweitern. Deswegen haben wir nicht nur ein Artikelgesetz als Referentenentwurf vorgelegt, der wirklich noch Referentenentwurf ist, sondern wir haben auch ein Stammgesetz dazugeschrieben, für den, der es nicht gelesen hat, d. h. an den Anfang noch einmal die grundsätzlichen Forderungen gestellt, die in Genehmigungsverfahren insgesamt zu befriedigen, zu erfüllen sind.



Bundesminister Dr. Töpfer
Dies ist vielleicht nicht die innere Stringenz, aber es ist ein Aufgreifen der gewachsenen Tradition von Genehmigungsverfahren im deutschen Umweltrecht und bringt uns deswegen einen wesentlichen Schritt weiter. Wenn wir an einer Stelle in der Begründung geschrieben haben, dieses müsse nicht der letzte Schritt sein, dann nicht deswegen, weil wir selbst an der Güte des Gesetzentwurfs zweifelten, sondern deswegen, weil wir pragmatisch, auch ein gut Stück aus der Verwaltung heraus politisch denken, daß sich solche Dinge erst mal weiterentwickeln und finden müssen, bevor wir einen letzten Schritt für sinnvoll und notwendig erachten.
Vieles — ich greife auch das gerne auf — von dem, was in dem Entschließungsantrag der SPD enthalten ist, findet sich wieder. Aber da kann man nur fragen: Was sollen wir denn, bitte schön, den Mitgliedern des Sachverständigenrats für Umweltfragen, Herr Abgeordneter Schäfer, sagen, wenn wir ihnen mitteilen, daß wir nach all den Diskussionen in den vielen Jahren beim Königsweg der Umweltpolitik nicht mehr ihren, sondern den Rat anderer wünschen? Wie soll ich denen das erläutern? — Da kann ich doch eher hinkommen, indem ich sage: Gehen wir doch in die Arbeitsvorgabe für diesen Sachverständigenrat hinein, und nehmen wir ergänzende Maßnahmen auf. — Warum denn nicht?

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wenn wir uns da verständigen können!)

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat sich mit der UVP beschäftigt, hat eine Stellungnahme dazu abgegeben.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Mit dem Verfahren!)

Ich glaube, das wäre eine ganz naheliegende und, wie ich meine, vernünftige Vorgehensweise.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist ein bißchen unter Ihrem Niveau!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107427400
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brauer?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107427500
Aber sehr gerne.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107427600
Herr Minister — es ist nur eine Verständnisfrage — , waren Sie in diesem Rat, als er beschlossen hat, daß die beste Regelung der Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung die in einem eigenständigen Gesetz sei?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107427700
Ja, ich habe zu konstatieren, daß dieser Sachverständigenrat aus Ihrer Sicht offenbar so viel Sachverstand und Kenntnisse hat, daß wir eines neuen Rates nicht mehr bedürfen; denn offensichtlich hat er Ihnen schon das geliefert, was Sie brauchen, und Sie unterstützen damit nur meine Position.
Ich greife an dieser einen Stelle auf, was diese Debatte gekennzeichnet hat, und warne nachhaltig davor, zu glauben, weil wir bisher die aus Ihrer Sicht falschen Entscheidungen gefällt oder empfohlen bekommem haben, müßten wir nur eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorsehen, und alles wäre berechtigt. Wenn ich Sie, Herr Abgeordneter Brauer, richtig verstanden habe, wäre für Sie die Umweltverträglichkeitsprüfung dann am besten angelegt, wenn es überhaupt keine Projekte mehr gäbe, deren Umweltverträglichkeit man überprüfen könnte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Brauer [GRÜNE]: Genau so! Genau richtig! Da müßten wir eigentlich ansetzen!)

— Ich finde es hervorragend, daß Sie mir sogar das noch als richtig bestätigen. Das war prima.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das war ein Eigentor! — Stahl [Kempen] [SPD]: Wir müssen alle barfuß gehen und Fahrrad fahren, und dann ist die Welt in Ordnung!)

Dies also, meine Damen und Herren, wollen wir nicht, sondern wir wollen aus der Tradition eines, wie ich glaube, richtig gewachsenen deutschen Umweltrechts mit handfesten, die Öffentlichkeitsbeteiligung kultivierenden Verfahren weiterkommen. Ich mache auch keinen Hehl aus der Tatsache, daß ich dabei in Zeitnot bin, nicht nur deswegen, weil es hier blinkt, sondern auch bei dem Gesetzentwurf.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Da zeigt es rot!)

Ich habe im Oktober letzten Jahres dem Umweltausschuß mitgeteilt, daß ich ein solches Artikelgesetz erarbeiten ließe.
Ich habe meinen Mitarbeitern nachhaltig zu danken, daß sie mit ganz großem Arbeitseinsatz diesen Gesetzentwurf so weit vorangebracht haben, daß wir ihn jetzt in die Abstimmung hereingeben konnten. Ich glaube, es ist wirklich dringlich notwendig, vornehmlich denen zu danken, die den Gesetzentwurf gemacht haben.

(Zuruf des Abg. Dr. Bötsch [CDU/CSU] — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Referentenentwurf!)

— Ja. Wissen Sie, ich beteilige mich im Deutschen Bundestag nicht an Diskussionen über die Qualifikation des einen oder anderen Mitarbeiters in meinem Ministerium. Ich bin der Meinung, daß ich Verantwortung für alle habe. Und ich habe vor allem die Überzeugung, daß jeder Mitarbeiter in meinem Ministerium auf dem Platz, wo ich ihn als richtig ansehe, hervorragende Arbeit leistet. So wird es bleiben. Dieser Referentenentwurf, den wir eingebracht haben, ist ein Beleg dafür, daß die, die in meinem Ministerium daran arbeiten, hochqualifizierte Arbeit geleistet haben. Ich habe dafür zu danken und wäre dankbar, wenn wir eines aus dieser Debatte mitnähmen:

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107427800
Herr Minister!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107427900
Wenn die Umweltverträglichkeitsprüfung wirklich so wichtig ist, bedarf sie der Unterstützung aller. Darauf hoffe ich.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Stahl [Kempen] [SPD])





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107428000
Der Minister kennt meine Bemerkung zu den Zeit-Fragen. Deswegen habe ich sie nicht wiederholt.
Herr Brauer, Sie haben noch einmal das Wort.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107428100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe vorhin aufgehört, als die Uhr Null zeigte. Eigentlich müßten wir heute abend eine dritte Runde machen, und zwar über das, was Herr Töpfer soeben gesagt hat, nämlich über diesen Referentenentwurf.
Die Durchführung des Gesetzentwurfs der GRÜNEN ist auch eine Chance zur Demokratisierung der Verwaltung. In diesem Zusammenhang zitiere ich die Humanistische Union, die 1980 feststellte:
Gemessen an der obrigkeitsstaatlichen Tradition bürokratischen Handelns in diesem Lande ist die Forderung nach Transparenz geradezu revolutionär; gemessen am demokratischen Modell, dem dieses Land und seine staatliche Bürokratie verpflichtet sein sollen, eigentlich banal.
Und da versuchen Sie, Öffentlichkeit und Beteiligung auszuschließen. Ich glaube, das spricht nicht gerade sehr für Ihre Umweltpolitik.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Ein Krebsschaden!)

Das gilt ebenso für die Berücksichtigung der Interessen der Betroffenen in umweltrelevanten Verfahren.
Wir haben in unserem Gesetzentwurf ein praktikables Verfahren zur Öffentlichkeitsbeteiligung gefunden. Lassen Sie die Verwaltung des Jahres 2000 damit beginnen. Ich glaube, da müssen wir noch sehr viel tun.
Im Antrag der SPD wird bei der Festlegung des Untersuchungsrahmens nur eine Beteiligung der anerkannten Umweltverbände und der Träger öffentlicher Belange vorgesehen. Eine Öffentlichkeitsbeteiligung erfolgt erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn schon längst wichtige Vorentscheidungen gefallen sind.
Frau Hartenstein hat sich vorhin vehement für die Verbandsklage eingesetzt. Wenn Sie die Verbandsklage hier so mutig formulieren, sollten Sie das ganz lauthals auch in Düsseldorf tun. Dort wehren sich Johannes Rau

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Aus guten Gründen!)

und die SPD-Landesregierung seit langem mit Händen und Füßen gegen das Verbandsklagerecht.

(Frau Dr. Hartenstein [SPD]: Sie ist von Sozialdemokraten eingeführt worden!)

— Ich habe soeben Nordrhein-Westfalen angesprochen.

(Frau Dr. Hartenstein [SPD]: Es gibt noch mehr sozialdemokratisch regierte Bundesländer!)

Nach dem Referentenentwurf des Bundesumweltministeriums soll die Genehmigungsbehörde auch die UVP durchführen. Damit ist eine Interessenkollision immament. Der Untersuchungsrahmen soll zwischen dem Antragsteller und der Behörde festgelegt werden. Die Unterlagen werden von dem Antragsteller
selber in Auftrag gegeben. Da wird doch wieder gemauschelt. Eine vorgezogene Öffentlichkeitsbeteiligung findet überhaupt nicht statt. Alle Mängel der herkömmlichen Verfahren werden beibehalten. Hinter den verschlossenen Türen kann es genau so weitergehen, wie es früher bemängelt worden ist.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, daß staatliche Stellen in der Bundesrepublik UVP bislang, wenn überhaupt, nur zur Standortoptimierung benutzt haben. Minister Töpfer hat das sehr deutlich gemacht, als er vorhin sagte: Wir haben dann angepaßt, es anders gemacht, hier herumgewendet und dieses und jenes noch getan. Also es ging eigentlich nur um Standortoptimierung bzw. in den meisten Fällen um Standortlegitimierung, und zwar immer dann, wenn es sich um politisch schwierig durchsetzbare Anlagen handelte, zum Beispiel Sonderabfallbeseitigungsanlagen. Das Ziel der präventiven Abwehr — also der Vorsorge — von Umweltschäden ist dabei völlig vergessen worden. Die zu erwartende UVP der Regierung scheint zu einem Instrument der Akzeptanzerhöhung umfunktioniert zu werden. Eine solche UVP lehnen wir ab.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen kein Standortoptimierungsinstrument nach dem Motto: Widerstandsvorsorge statt Umweltvorsorge. Die UVP ist kein Hitzeschild zur Abwehr von Bürgerinitiativen. Eine solche minimalistische UVP ist ein umweltpolitisch gefährliches Instrument, weil es in dem Sinne zur Umweltzerstörung mißbraucht werden kann: Prüfsiegel „UVP-geprüft". Die Bevölkerung kann man so glauben machen, es würde alles für die Umwelt getan.
Minister Töpfer steht an verantwortlicher Stelle für die Umweltpolitik in diesem Lande. Sein Verhalten hat ganz erhebliche Auswirkungen für die Umwelt, deshalb muß auch dieser Minister einer UVP unterzogen werden. Für den Fall, daß Ihr Referentenentwurf so umgesetzt werden sollte, kann das Ergebnis nur lauten: Töpfer umweltunverträglich.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von den GRÜNEN: Das gilt für die ganze Regierung!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107428200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1107428300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich zu den beiden Anträgen komme, darf ich vielleicht noch einige kurze Grundsätze der Union zur Umweltpolitik darlegen, die auch die Umsetzung der UVP-
Richtlinie bestimmen. Der erste ist: Vorsorge ist besser als heilen, denn so notwendig die Abwehr bereits akuter Gefahren für die Umwelt oder gar die Beseitigung eingetretener Störungen ist, um so wichtiger ist es, diese Störungen und Gefahren gar nicht erst eintreten zu lassen, mithin Umweltvorsorge weiterhin zu betreiben. Der Minister hat sie betrieben, und er wird dies auch in Zukunft tun.
Vernünftige Umweltvorsorge heißt natürlich auch, daß die Umsetzung einer fach- und medienübergreifenden Umweltverträglichkeitsprüfung in nationales



Dr. Lippold (Offenbach)

Recht ein Musterbeispiel vorsorgender Umweltpolitik ist.
Zweitens. An die Stelle des nach- und entsorgenden Umweltschutzes muß der integrierte Umweltschutz treten, eine Politik, die die Bundesregierung, die der Minister und wir bislang vertreten haben. Das setzt allerdings voraus, daß die Umweltverträglichkeitsprüfung möglichst frühzeitig greift. In diesem Sinne ist sie ein ganz wesentlicher Beitrag und stellt einen wesentlichen Schritt in die richtige Richtung dar.
Darüber hinaus ist es wesentlich, daß wir drittens zur Harmonisierung auf EG-Ebene kommen. Anlaß der Entwicklung einer EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung war — und das, Frau Hartenstein, muß Ihnen noch einmal deutlich gesagt werden — , daß der hohe Stand des deutschen Umweltrechts in eine EG-einheitliche Fassung gebracht werden soll. Weiten wir die EG-Richtlinie über unsere Standards hinaus aus, wird dieses Ziel nicht erreicht. Deshalb muß bei der Umsetzung der EG-Richtlinie berücksichtigt werden, daß im Sinne der Errichtung eines einheitlichen Binnenmarktes und im Sinne eines wirksamen Umweltschutzes nicht über die EG-Richtlinienanforderungen hinausgegangen wird.
Viertens. Umweltschutz ist nur in Kooperation mit den gesellschaftlichen Gruppen möglich. Wir unterstreichen das. Jedes neue Gesetz bringt die Gefahr mit sich, daß Eigeninitiative erstickt und Eigenverantwortung aufgehoben wird. Die Umsetzung der UVP-
Richtlinie bietet dagegen mit dem neuen Ansatz einer fach- und medienübergreifenden Umweltverträglichkeitsprüfung sowie der Öffentlichkeitsbeteiligung die Chance, im Sinne von Deregulierung und Entbürokratisierung bei größerer Beteiligung der Öffentlichkeit zu einem strafferen Verfahren zu kommen.
Die Effizienz und die Wirksamkeit der UVP für den Umweltschutz hängt deshalb davon ab, daß es gelingt, die unbestimmten Regelungen der Richtlinie ohne neue zusätzliche Verfahren und ohne neue Behörden in unser bestehendes Umweltrecht zu integrieren und dabei mit verbindlichen Vorgaben sowie überschaubaren Verfahrensregelungen der Wirtschaft einen Anreiz zu mehr Eigeninitiative zu geben.
Ich möchte zu einigen Anmerkungen der GRÜNEN und der SPD betreffend die gesetzlichen Vorschriften kommen. Der Entwurf lehnt sich zum einen an das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes an und versteht sich zugleich offensichtlich — das geht in Ihre Richtung, Herr Brauer — als Musterentwurf für entsprechende landesrechtliche Regelungen. Wir meinen, daß die Gefahr der Rechtszersplitterung dann gegeben ist, wenn der Bund seine mögliche Rechtsetzungskompetenz hier nicht in vollem Umfange nutzt.
Ich muß natürlich auch eines anmerken, Herr Brauer: Der Gesetzentwurf der GRÜNEN geht weit über den Richtlinienentwurf der EG hinaus. In ihrem Übereifer gingen die GRÜNEN sogar so weit, für das 1972 — bereits 1972, Herr Kollege — verbotene Herstellen oder In-Verkehr-Bringen von DDT jetzt noch eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu verlangen.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Es wird ja von deutschen Firmen exportiert! — Brauer [GRÜNE]: Wir brauchen eine Produkt UVP!)

Sie sehen also, daß man, wenn man sich in der Materie nicht auskennt, manchmal zu weit geht.
Sinn und Zweck der EG-Richtlinie sind den GRÜNEN offensichtlich nicht bekannt. Es war und ist beabsichtigt, aus den bereits weitgehenden deutschen Regelungen zur UVP — ich verweise nur auf Bauleitplanverfahren, Genehmigungsverfahren, Immissionsschutzgesetz und Wasserhaushaltsgesetz — ein für die ganze EG möglichst einheitliches Konzept zur UVP zu entwickeln. Damit soll einerseits ein weiterer Schritt zu mehr Umweltvorsorge getan werden, andererseits sollen aber auch investitions- und innovationshemmende Wettbewerbsverzerrungen durch differierende nationalstaatliche Lösungen vermieden werden. Unter allen Umständen soll an dem Ziel festgehalten werden, keine Anforderungen zu stellen, die darüber hinausgehen, und durch eine richtliniengetreue Umsetzung dem Bild eines europäischen Binnenmarktes einen weiteren Mosaikstein hinzuzufügen.
Der Gesetzentwurf der GRÜNEN sieht weiter ein verwaltungsbehördliches Zulassungsverfahren vor, dem ein besonderes Verfahren vorgeschaltet ist, für dessen Durchführung eine neue Behörde geschaffen werden soll. In einer Zeit, in der wir in der Bundesrepublik nicht über zuwenig Bürokratie, sondern über zuviel Bürokratie klagen,

(Brauer [GRÜNE]: Aber über zuwenig wissenschaftlichen Sachverstand!)

ist dies sicherlich ein völlig verfehlter Ansatz. Er widerspricht übrigens auch dem Beschluß des Bundestages aus dem Jahre 1983, in dem ausdrücklich festgehalten wurde, daß bei der Umsetzung weder neue Verfahren noch neue Behörden geschaffen werden sollen.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Ein törichter Beschluß! )

— Dazu kann man ganz unterschiedlich stehen.
Richtiger und wichtiger ist es, den medien- und fachübergreifenden Ansatz der UVP dafür zu nutzen, bisher nebeneinander laufende Verfahren zu koordinieren und dadurch der verbreiteten Unsitte entgegenzuwirken, Verantwortung zwischen Behörden hin- und herzuschieben. Nur dann kann die EG-Intention vernünftig umgesetzt werden.
Die EG-Richtlinie selbst sieht eine sehr weitgehende Beteiligung der Öffentlichkeit im Rahmen der UVP vor. Es entspricht aber nicht der Richtlinie, darüber hinaus ein Verbandsklagerecht — hier, Herr Kollege Baum, unterscheiden wir uns — und ein grenzüberschreitendes Beteiligungsrecht für Einzelpersonen einzuführen. Es ist sinnvoll, aber auch völlig ausreichend, bei erheblichen Auswirkungen ausländische Behörden zu unterrichten und Konsultationen nach den Grundsätzen von Gegenseitigkeit und Gleichwertigkeit durchzuführen.



Dr. Lippold (Offenbach)

Auch in dem SPD-Antrag finden sich viele Vorschläge, die weit über den Inhalt der EG-Richtlinie hinausgehen und deshalb aus Gründen der Harmonisierung und Rechtsvereinheitlichung abgelehnt werden müssen. Ich nenne hier exemplarisch nur die geforderte Nachkontrolle, die Verbandklage oder die Einführung eines Sachverständigenrates zur Umweltverträglichkeitsprüfung.
Ein weiterer wesentlicher Punkt ist aber, daß in der Einleitung des Entwurfs die Gesichtspunkte Rechtsklarheit, Bürgerfreundlichkeit und Wirksamkeit genannt sind, die ich als Zielvorstellungen bei Ihnen nur unterstreichen kann. Leider haben diese Zielvorstellungen in Ihrem Entwurf aber keinen inhaltlichen Niederschlag gefunden.
Die Aspekte der Praktikabilität und Wirksamkeit bei der Umsetzung der EG-Richtlinie lassen zudem die Frage nach dem Anwendungsbereich offen. Es ist zu beachten, daß der sinnvolle Ansatz einer fach- und medienübergreifenden Umweltverträglichkeitsprüfung nicht dadurch überstrapaziert wird, daß er für Vorhaben jeder Größenordnung und für jedes Änderungsvorhaben gilt. Dies widerspricht übrigens auch dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

(Schäfer [Offenbach] [SPD]: Steht gar nicht drin! — Stahl [Kempen] [SPD]: Lesen Sie das doch einmal richtig durch!)

— Ich beziehe mich in diesem Falle auf Ihre beiderseitigen Vorstellungen. — Vorhaben, die der Landesverteidigung dienen, müssen von den Vorschriften der Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen werden. Das war zwischen uns bislang eigentlich Konsens. Wenn Sie davon abweichen wollen, unterliegen Sie eigentlich einem besonderen Begründungszwang.

(Brauer [GRÜNE]: Gerade das Militär macht unheimliche Umweltschäden!)

Es bleibt deshalb abschließend und zusammenfassend festzustellen: Erstens. Das Ziel der EG-Harmonisierung erfordert, daß die Umsetzung richtliniengetreu durchgesetzt, vielleicht, wie der Bundeswirtschaftsminister sagt, auch durch untergesetzliche Maßnahmen durchgeführt wird und nicht durch darüber hinausgehende Regelungen neue Wettbewerbsverzerrungen, Rechtszersplitterungen schafft.
Zweitens. Bei der Umsetzung der EG-Richtlinie ist darauf zu achten, und zwar insbesondere angesichts des hochentwickelten Standes des Umweltrechts in der Bundesrepublik, daß weder neue Verfahren noch neue Behörden geschaffen werden, sondern der fach- und medienübergreifende Ansatz der UVP in das bestehende Verfahren integriert wird und Verfahrensumfang und Verfahrensdauer gestrafft werden. Eine darüber hinausgehende Kontrolldichte wirkt kontraproduktiv. Wir wollen kein Verhinderungsgesetz. Schließlich — das muß ich ganz ehrlich sagen — wundert mich eigentlich Ihr Entwurf vor dem Hintergrund, daß ja auch in Ihren Reihen etliche Kommunalpolitiker zu finden sind.
Drittens. Rechtsklarheit und Praktikabilität erfordern, daß bei der Umsetzung der Richtlinie verbindliche Maßstäbe für die UVP festgelegt, die förmliche
Umweltverträglichkeitsprüfung nicht über das notwendige Maß hinaus ausgedehnt wird, mit bestimmten, genau definierten Begriffen gearbeitet wird und die Regelungsbereiche festgelegt werden. Das Ergebnis der Umweltverträglichkeitsprüfung muß alle zu berücksichtigenden Belange bei der Abwägung der endgültigen Entscheidung einbeziehen.
Ich glaube, wir streiten darüber, wie dies am besten zu erreichen ist, ob mit neuen Behörden und mit neuen Verfahren — wie Sie sagen — , oder aber mit bewährten Kräften und mit eingespielten Verfahren.
Unser Weg ist der letztere. Deshalb werden wir diesen Weg auch beschreiten, weil wir glauben, daß wir so schneller materielles Umweltrecht, wie es erforderlich ist, zur Vorsorge durchsetzen können.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Knabe [GRÜNE]: Aber die Bündelung spricht dagegen! — Brauer [GRÜNE]: Die Leute gibt es doch gar nicht!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107428400
Das Wort hat der Abgeordnete Schütz.

Dietmar Schütz (SPD):
Rede ID: ID1107428500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir die Diskussion heute anhöre und auch lese, dann kommt mir der Satz in den Sinn: Ein Berg kreißt, und heraus kommt eine kleine Maus.

(Baum [FDP]: Sie beschreiben doch nicht etwa Ihren eigenen Antrag!)

— Nein, ich meine schon das, was ich aus der Koalitionsrunde gehört habe.
Ich habe den nachhaltigen Eindruck, daß wir im Ergebnis keine bessere und keine weitergehende Regelung haben werden als eigentlich jetzt schon bekannte Verfahrensweisen im Planfeststellungsverfahren.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist der Punkt!)

Das, was wir aus dem Referentenentwurf kennen, und das, was heute von Ihnen vorgetragen wurde, bringt mich nicht zu der Meinung, daß jetzt die große Erleuchtung kommt und daß wir durch unsere heutige Mitternachtsdiskussion noch irgend etwas ändern.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Bei uns ist erst um zwölfe Mitternacht!)

— Fast-Mitternachtsdiskussion.
Der Gesetzentwurf der Koalition wird meines Erachtens nach — das wurde hier von Herrn Töpfer gesagt — die Änderung bestehender Rechts- und Verwaltungsstrukturen vermeiden. Er wird die Umweltverträglichkeitsprüfung in den bestehenden Verwaltungsverfahren verstecken und im Kern keine eigene Umweltverträglichkeitsprüfung einführen oder gar eigenständige Stellen mit einer derartigen Prüfung betrauen.
Wir sollten das einmal an einem Beispiel aufzeigen. Beispiele lehren! Wir sollten z. B. einen Hafen bauen und prüfen, wie weit sich die geltenden Planfeststellungsverfahren von dem zusätzlich integrierten Um-



Schütz
weltverträglichkeitsprüfungsverfahren unterscheiden. Das jetzige Planfeststellungsverfahren für einen Hafenbau wird von der Wasser- und Schiffahrtsdirektion durchgeführt. Die Wasser- und Schiffahrtsdirektion ist ansonsten für die Planung und Unterhaltung von Wasserstraßen zuständig, sie ist also eine Behörde, die uns allen bei der Frage: Wer soll eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen? nicht unmittelbar sofort einfällt.
Der für das Planfeststellungsverfahren zuständige Jurist ist auf Grund seiner sonstigen Tätigkeit nicht einer, der einen geschärften Umweltblick bekommt.

(Brauer [GRÜNE]: Genau!)

Seine Kollegen sind Wasserbauingenieure oder Verwaltungsbeamte wie er.

(Brauer [GRÜNE]: Sehr richtig!)

Bei der Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung wird beim Hafenausbau diese Behörde gleichwohl zuständig, wie Herr Töpfer das noch einmal gesagt hat. Es wird sich also am Zustand wenig ändern: Die gleichen Leute werden das gleiche machen.

(Brauer [GRÜNE]: Genau! So ist es! — Baum [FDP]: Wollen Sie die gesamten Behördenzuständigkeiten ändern?)

Allenfalls, Herr Baum, werden zwei oder drei zusätzliche Prüfkriterien eingeführt. Das ist dann der medien- und fachübergreifende Ansatz. Es steht schon im Referentenentwurf: Ansonsten verbieten die politischen Vorgaben die Einführung neuer Verfahren und Behörden. Formelles und materielles Recht dürfen nur so gering wie möglich geändert werden. Ein Umdenken wird nicht geschehen, ein eigenständiges Umweltverträglichkeitsprüfverfahren wird nicht eingeführt. Es wird auch nicht darüber nachgedacht, was denn das integrierte Verfahren bedeuten soll.

(Fellner [CDU/CSU]: Sollen wir die Wasserbauingenieure entlassen?)

— Nein, die Wasserbauingenieure sollen Wasserbauten machen.

(Baum [FDP]: Wer soll denn überhaupt noch entscheiden?)

— Ich komme gleich darauf, Herr Baum.
Innerhalb der Behörden gibt es keine anderen Organisationsformen und keine andere Ablauforganisation. Ein so ausgestattetes Gesetz — das wollen wir der Bundesregierung für die Abschlußberatung im Kabinett mit auf den Weg geben — verdient den Namen Umweltverträglichkeitsprüfung nicht. Es wäre eine Falschetikettierung, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die bisherige Diskussion läßt vermuten, daß nur verwässerter Wein in geflickten Schläuchen als Qualitätsware verkauft wird. Das ist dann eine Umweltverträglichkeitsprüfung!
Dieses Programm der Minimalisierung der Umweltverträglichkeitsprüfung wird von den Befürwortern in der Weise verteidigt — Herr Töpfer hat das gerade wieder getan —, daß es eine neutrale Lösung eines derartigen Gesetzes geben muß, die die Umweltverträglichkeitsprüfung in bestehende Verfahren und Organisationen integriert, daß dies erst ein erster Schritt sei, mit dem man Erfahrungen auf einem längerfristigen Weg der Rechtsharmonisierung sammeln wolle — nichts Neues.
Meine Damen und Herren, wie will man Erfahrungen sammeln, wenn praktisch alles beim alten bleibt? Erfahrungen sammelt man doch nur, wenn man vorsichtig neue Wege, neue Ablauforganisationen, neue Denkansätze wagt. Was tut also not? Was soll dann ein Umweltverträglichkeitsgesetz leisten? Ich will hier nur einige Aspekte aufzeigen, weil die Grundsatzdiskussion schon 1983 einmal gelaufen ist und vorhin auch schon angesprochen wurde.
Ich will zwei, drei Aspekte herausgreifen: Wir sollten sehr deutlich vom Projektträger nicht nur die von seiner Anlage ausgehenden Ursachen für Umweltbelastungen verlangen, was das alte Recht jetzt schon tut, wir sollten auch die Wirkungen der Ursachen abfragen, was auch Sie wollen; das ist die EG-Vorgabe. Wir sollten darüber hinaus aber auch fragen: Welchen Ressourcenverbrauch gibt es? Wir sollten alle denkbaren Alternativen einschließlich der Nullvariante zwingend abfragen. Das tun Sie in Ihrer Vorlage nicht.
Die Vereinigten Staaten haben mit ihrer zehnjährigen Erfahrung zum „environment impact assessment" den alternativen Vergleich als das Herzstück ihres Verfahrens angesehen. Wir bemerken, meine Damen und Herren, gerade dann, wenn die öffentliche Hand Planer und auch Planfeststeller ist, häufig die Haltung, daß eine im stillen Kämmerlein ohne öffentliche Diskussion getroffene Entscheidung und gefundene Position beibehalten und durchgedrückt wird. Es wäre eine Aufwertung des Prinzips Öffentlichkeit, wenn tatsächlich Planungsvarianten und Standortalternativen aus den Planungsprozessen immer zwingend vorgeschrieben würden und so die Entscheidung transparent und ihre Umweltauswirkungen breit abschätzbar wären. Wir haben zwar jetzt schon in allen förmlichen Verfahren die zwingende Öffentlichkeitsbeteiligung, aber dies ist eine formelle. Wir müssen sie durch tiefere Information der Öffentlichkeit und durch breitere materielle Mitwirkungsmöglichkeiten erheblich ausbauen.
Meine Damen und Herren, ich will auf einen entscheidenden Aspekt eingehen, der, wie ich meine, nicht durch die Entscheidung, die Sie 1983 ohne mein Zutun getroffen haben, verboten sein soll. Ich meine nämlich den Aspekt der Organisation der Umweltverträglichkeitsprüfung. Ich will dies noch einmal herausheben. Die wirksame Regelung der Zuständigkeit für die Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung gehört meines Erachtens bei uns zu den Scharnierstellen des tatsächlichen Erfolgs einer Umweltverträglichkeitsprüfung. Die Regierungsparteien sagen schlicht — Herr Töpfer hat es gerade wieder getan — : Zuständige Behörde ist diejenige, die auch über die Zulässigkeit des Verfahrens selbst entscheidet.
Um bei dem Eingangsbeispiel zu bleiben: Die Wasser- und Schiffahrtsdirektion, die zwar den Hafen nicht selbst baut und auch nicht beantragt, ansonsten aber viele Arbeiten im Zusammenhang mit einem derartigen Hafen bei sich erledigt und dadurch auch er-



Schütz
hebliches Personal bindet, führt das Planfeststellungsverfahren durch und trifft die Entscheidungen sowohl über die Umweltverträglichkeitsprüfung als auch über den Planfeststellungsbescheid.

(Baum [FDP]: Wer soll es denn bei Ihnen machen!)

Ihre Beamten sind immer noch fast ausschließlich Wasserbauingenieure oder Verwaltungsbeamte, die für den Hafenausbau und für die Unterhaltung von Wasserstraßen zuständig sind. Sie sind durch ihre Ausbildung und Tätigkeit — ich will es vorsichtig formulieren — für Umweltfragen nicht sensibel.

(Baum [FDP]: Sie brauchen doch zu dem Verfahren Wasserbauingenieure!)

— Wir brauchen auch Wasserbauingenieure. Es wäre in einer solchen Behörde, Herr Baum, nicht denkbar, daß eine Nullvariante überhaupt ernsthaft diskutiert wird, weil z. B. auch Eigeninteresse bei solchen Beamten herrscht.

(Baum [FDP]: Das kann durchaus sein!)

Aus Umweltsicht ist unseres Erachtens eine Trennung von Prüfungs- und Entscheidungsinstanz für das Ergebnis fast zwingend.

(Baum [FDP]: Wer soll es bei Ihnen machen?)

— Ich komme gleich darauf. Ich will erst noch sagen: In Kanada und in den Niederlanden haben wir diese Trennung des Verfahrens. Die Niederländer haben uns das sehr deutlich gesagt. Die Vermischung und Vermauschelung von Problemen tritt dort nicht ein. Wenn Umweltgesichtspunkte aus übergeordneten anderen Positionen letztlich nicht zum Zuge kommen, muß dieses öffentlich gesagt werden, und das wird damit deutlich.
Diesen Aspekt haben die GRÜNEN und auch der Entwurf der DNR zum Gegenstand gemacht. Sie haben ein eigenständiges Umweltamt gefordert, das, gedanklich lupenrein, sich — Herr Töpfer hat darauf hingewiesen — als eigenständige Behörde dem Vorwurf der Interessenskonkordanz mit dem Projektträger oder den anderen Abteilungen im Hause nicht aussetzen muß.
Wir sind diesem Problem praktisch dadurch näher getreten: Wir reden untechnisch — das muß ich sagen — von einer unabhängigen Stelle und verwenden den Behördenbegriff ganz bewußt nicht. Es erscheint uns unrealistisch, die Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung durch neue Behördenstrukturen durchzuführen. Wir würden dadurch quasi wieder eine Gebiets- und Verwaltungsreform schaffen, nur noch größer, auf Bundesebene. Wir müssen uns aber dem Problem stellen und müssen auf der fachbehördlichen Ebene — das sind vor allen Dingen die Regierungspräsidenten — fragen: Muß das die Stelle machen, die das Verfahren auch durch das Planfeststellungsverfahren beschließt?
Es erscheint uns denkbar, durch ablaufspezifische Regelungen und durch Teilausgliederung aus der Hierarchie, etwa auf der Regierungspräsidentenebene, auf der diese Verfahren eben durchgeführt
werden, unabhängige Stellen mit der Durchführung der UVP zu betrauen,

(Baum [FDP]: Was heißt „unabhängige"?)

die gegenüber der Entscheidungsstelle eigenständig sind und gleichwohl dem Diskussionsprozeß über das Verfahren nicht allzu fernstehen.
Ich will Ihnen eine Beispiel nennen: Ich kenne z. B. aus meiner Behörde — ich war Verwaltungsbeamter — die Situation, daß z. B. das Wattenmeer-Dezernat in dem Regierungspräsidium aus der Hierarchie ausgegliedert ist, die Information auf der Regierungspräsidiumsebene fließt, gleichwohl aber dieses Dezernat in Niedersachsen direkt unterstellt ist. Das heißt also: Nur der Präsident hat auf eine eventuelle Entscheidung den direkten Zugriff und dann der Umweltminister. Ich habe als Verwaltungsbeamter selber Verfahren durchgeführt und wußte immer, welche einheitliche Behördenmeinung zu vertreten war. Diese Problematik sollten Sie endlich erkennen und darüber nachdenken, wie man das Problem in den Griff bekommt, und nicht einfach sagen: Wir machen hier ein einheitliches Verfahren.

(Baum [FDP]: Das ist eine schwierige Frage, die Behördenstruktur!)

— Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage, aber sie muß angegangen werden. Man muß Ablaufüberlegungen anstellen, wie man das in den Griff kriegt. Das können wir nicht durch eigenständige Ämter machen
— das weiß ich —, weil wir dann nämlich die breite Diskussion haben. Aber dieses Problem nicht zu beachten, dieses Problem auszuklammern halte ich für fahrlässig. Ich meine, wir sollten dieses Problem anpacken. — Ich sehe hier das Blinken und will daher hier gar nichts mehr sagen.

(Frau Traupe [SPD]: Das ist eine gute Idee!)

Wir haben zur Verbandsklage deutlich etwas gesagt. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Aber ich sage Ihnen: Wenn das Verfahren nicht durchgeführt wird, dann stimmt das, was ich jetzt sage: Gute Nacht.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Brauer [GRÜNE]: Gute Rede!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107428600
Für die soeben erst eingetroffenen Kollegen teile ich mit, daß jetzt die letzte Rednerin dieses Abends das Wort bekommt. Frau Dr. Segall, bitte.

Dr. Inge Segall (FDP):
Rede ID: ID1107428700
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Es ist ein eigenartiges Gefühl, hier als letzter Redner zu sprechen. Ich hatte eigentlich erwartet, es würde mir vielleicht gelingen, den Saal leerzureden. Aber nachdem da so viel Verstärkung von der FDP gekommen ist, sehe ich da relativ schwarz.

(Beifall bei der FDP — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das war ein schönes Wortspiel: Relativ viel Verstärkung von der FDP, deswegen sehe ich schwarz! — Heiterkeit bei der SPD, der FDP und den GRÜNEN)




Frau Dr. Segall
— Ja, so etwas passiert einem, wenn man hier einmal spontan frei spricht. — Ich will jetzt zum Thema Umweltverträglichkeitsprüfung fortfahren. Wir haben es hier mit dem Gesetzentwurf der GRÜNEN und einem Antrag der SPD zu tun. Dabei geht es also um Umweltverträglichkeitsanalysen, Umweltverträglichkeitsuntersuchung, ökologische Wirkungsanalyse, ökologische Bilanzierung. Mit einem Wort: lauter Synonyme für eben die Umweltverträglichkeitsprüfung, viele Begriffe für ein Anliegen. Das heißt, daß wir dem Vorsorgeprinzip im Umweltbereich mehr Rechnung tragen sollten. Dabei geht es im wesentlichen darum, daß die Öffentlichkeitsbeteiligung gesichert, daß der Projektbezug gewährleistet wird, und vor allen Dingen darum, daß die Vorhaben medienübergreifend geprüft werden. Was heißt „medienübergreifend"? Das heißt: Man sollte auch Rücksicht auf Wasser, Boden und Luft nehmen. Ich möchte hier an dieser Stelle auch die Hoffnung aussprechen, daß also auch auf den Menschen Rücksicht genommen wird und auch seine Belange vielleicht einbezogen werden.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Soweit es sich um die Grundsätze der Umweltverträglichkeitsprüfung handelt, haben wir auch keinen großen Streit unter den Parteien des Bundestages, die GRÜNEN sogar eingeschlossen. Aber wie so häufig: Man ist sich zwar darüber einig, was man machen will, aber man ist sich nie ganz einig darüber, wie man's machen will. Und da habe ich wieder einmal ganz besondere Schwierigkeiten mit den GRÜNEN. Ich darf mir einmal einen Punkt herausnehmen, nämlich Ihre Vorstellung von einem Umweltverträglichkeitsprüfungsamt. Also, ich habe schon angesichts dieser Wortbildung so meine Bauchschmerzen.

(Zuruf von der FDP: Das gibt Planstellen!)

— Genau, das gibt Planstellen. — Dort werden dann die Ortsbezogenheit, die Projektbezogenheit und damit auch die fachspezifischen Beziehungen so anonymisiert, könnte man sagen, daß ich im Grunde nicht mehr der Meinung bin, daß eine solche Zentralbehörde die sinnvolle Lösung ist. Wenn ich an solche Mammutbehörden denke, frage ich mich immer: Glauben die eigentlich, daß der Verstand oder gar die Weisheit um so größer wird, je größer die Behörde ist?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Aber die Besoldung ist höher, wenn die Behörde größer ist! — Baum [FDP]: Der Verstand wächst mit der Besoldung!)

Was Sie sich da vorstellen, was außer der Prüfung noch alles in diesem Amt passieren soll! Da ist ein großes Dokumentationszentrum anzulegen. Da ist viel Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Da sind Tätigkeitsberichte an den Deutschen Bundestag abzuliefern, damit wir hier noch mehr Nachtdebatten haben.

(Brauer [GRÜNE]: So ernst nehmen wir die Umwelt!)

Da soll dann vor allem eine große Datenbank entstehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Datenschutz!)

— Jetzt komme ich zu einem Problem, wo es für einen Liberalen tatsächlich sehr schwierig wird. Für uns gilt Datenschutz als Nummer eins. Aber wir haben in leidvoller Erfahrung festgestellt, daß es im Umweltbereich leider ohne Kontrollen, auf die wir Liberalen immer gerne verzichten würden, nicht geht. Da sind wir als Liberale immer wirklich in einem Zwiespalt. Aber wenn dann schon Kontrollen sein müssen, dann aber doch bitte sinnvoll und nicht einäugig.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Aber richtige!)

— Ja, richtige schon. Sinnvolle sind richtige. Das ist der Punkt. Aber bitte nicht einäugig.
Dann aber bitte keine Kontrollen für etwas, was es gar nicht mehr gibt. Ich erinnere nur daran, daß im Gesetzentwurf der GRÜNEN auf eine Anlage 1 Ziffer 11 Bezug genommen wird. Da wollen Sie eine Umweltverträglichkeitsprüfung für die Vorschriften über das Inverkehrbringen von DDT einführen,

(Lachen bei der CDU/CSU)

für DDT, das es seit 1972 gar nicht mehr gibt. Ich kann hier das Gesetz von 1972 zitieren. Danach ist es verboten, DDT herzustellen, einzuführen, auszuführen, in den Verkehr zu bringen, zu erwerben und anzuwenden. Nach § 7 ist eine Freiheitsstrafe von unter Umständen bis zu zwei Jahren vorgesehen. — Aber wir führen noch einmal eine Umweltverträglichkeitsprüfung durch. Heute abend darf man so etwas wohl auch einmal in dieser etwas ironischen Form vortragen. Insofern möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Übereifer ist vielleicht ganz gut. Aber er darf nicht in blinde Reglementierungswut ausarten, die einer sachlichen Prüfung nicht mehr ganz standhält.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von den GRÜNEN: Wir wollen sachlich prüfen, verehrte Frau Kollegin)

Ich will heute abend noch ein Problem ansprechen, die Umweltverträglichkeitsprüfung. Mir tun ja, ehrlich gesagt, die armen Stenographen leid, die heute abend hier noch anmarschieren müssen.

(Beifall)

Da sie nun doch schon da sind, soll es sich jedenfalls gelohnt haben.
Insofern möchte ich noch ganz kurz auf ein Problem hinweisen. Es reizt einfach, daß man hier dazu noch einige Worte spricht. Es geht um die nicht vorgenommene Umweltverträglichkeitsprüfung für das Hotelprojekt Dayan in der Türkei. Wir haben bereits EG-Richtlinien für eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Im Ergebnis lag dies insbesondere daran, daß die türkischen Stellen der Geschäftsführung der DEG solche Bedenken verschwiegen haben, die für dieses Projekt bestanden. Die Bundesregierung konnte sich deshalb mit ökologischen Bedenken erst befassen, als der Beschluß über das DEG-Engagement bereits gefallen war. Hier hätte allerdings eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorbeugend gewirkt. Man hätte schon den Beschluß über das finanzielle Engagement von dem positiven Ergebnis einer Umweltverträglichkeitsprüfung abhängig machen können.
Allerdings — mit dieser Forderung an die Bundesregierung möchte ich schließen — zeigt gerade das Dayan-Hotelprojekt, daß die Umweltverträglichkeits-



Frau Dr. Segall
prüfung nicht auf die EG beschränkt bleiben darf. Allzu häufig werden Entwicklungshilfeprojekte mit enormen ökologischen Auswirkungen ohne eine Umweltverträglichkeitsprüfung als Bewilligungsvoraussetzung gefördert. Ich appelliere dringend an Bundesumweltminister Töpfer und an den zuständigen Ressortminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, künftig finanzielle Mittel für Entwicklungshilfeprojekte von dem positiven Ergebnis einer Umweltverträglichkeitsprüfung abhängig zu machen; denn die Umweltverträglichkeit von Projekten darf nicht ein Privileg der hochindustrialisierten Länder bleiben.
Ich danke für Ihre Geduld.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107428800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. April 1988, 9 Uhr ein.
Guten Abend und gute Nacht ist uns schon gewünscht worden. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Die Sitzung ist geschlossen.