Gesamtes Protokol
Ich eröffne unsere heutige Sitzung.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Brokdorf
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hönes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum ein halbes Jahr ist seit der Katastrophe in Tschernobyl vergangen, da nimmt die Bundesregierung als erster europäischer Staat ein neues Atomkraftwerk in Betrieb. Brokdorf also ist die menschenverachtende Antwort dieses Atomstaats auf die Sorgen von Millionen Menschen in diesem Lande. Mit einem miesen Taschenspielertrick versucht die christdemokratische Landesregierung von Schleswig-Holstein, der Bevölkerung vorzugaukeln, Brokdorf sei gar der sicherste Reaktor der Welt. Was hat diesen Reaktor innerhalb von zwei Monaten angeblich so sicher gemacht?Nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine hatte Herr Barschel die Genehmigung für den Atommeiler an der Unterelbe, das Symbol der Antiatomkraftbewegung, aus wahltaktischen Gründen zunächst ausgesetzt, um jetzt mit der Inbetriebnahme ein neues Sicherheitssystem aus dem Hut zu zaubern, ein Druckentlastungssystem nämlich, das bei einer Kernschmelze für schnelle Abhilfe sorgen soll. Zwar beteuern Barschel und all die anderen von der Atomindustrie geschmierten Sicherheitsphilosophen in diesem Land,
es werde bei uns nie einen Super-GAU geben. Aber sollte das Unmögliche doch eintreten, dann wissen diese Herren genau, wie das ablaufen wird. Für Herrn Barschel läuft eine solche Katastrophe immer so langsam ab, daß noch genügend Zeit bleibt, innerhalb von 24 Stunden eine Rohrleitung mit speziellem Filtersystem zu legen, um Dampf abzulassen und den Überdruck auszugleichen.
Nun weiß aber jeder Physikstudent im ersten Semester — Herr Laufs, das werden Sie mir bestätigen —, daß nur bei etwa 5 % aller theoretischen Kernschmelzen mit einem so langsamen und kontrollierbaren Verlauf gerechnet werden kann. Bei allen explosionsartigen Unfallverläufen wie in Tschernobyl bliebe Barschels Super-GAU-Schutz völlig wirkungslos, schon allein deshalb, weil er erst innerhalb von 24 Stunden montiert wäre.Fazit: Das hochgepriesene Zusatzsicherheitssystem ist reine Augenwischerei und ein Betrug am Sicherheitsbedürfnis weiter Kreise der Bevölkerung.
Brokdorf hält nicht einmal den Sicherheitsstandard anderer bundesdeutscher Atomkraftwerke ein, denn Brokdorf gehört zu den modernen AKWs der 80er Generation.
Diese sind auf Grund der atomrechtlichen Aufweichungen, die von dieser Regierung zu verantworten sind, sicherheitstechnisch bereits abgemagert worden. Wichtigster Punkt: Brokdorf ist nicht einmal mehr gegen einen einfachen GAU wie z. B. den Abriß der Rohrleitungen ausgelegt.
Meine Damen und Herren, auch von der energiepolitischen Seite her ist Brokdorf ein reiner Kropf. Niemand benötigt den Strom aus Brokdorf. Selbst der Hamburger Senat hat am 16. September zugegeben, dieses AKW sei für den Atomstrom nicht erforderlich; noch deutlicher am 23. September: Gegenwärtig bestehen im Kraftwerkspark der HEW erhebliche Überkapazitäten.Wohin also mit dem Atomstrom aus Brokdorf? — Auf eine Art Spotmarkt für Strom im europäischen Verbund. Dort wird er zu täglich neu festgesetzten Preisen verhökert. Deshalb das knallharte Festhalten an der Atominvestitionspolitik. GAU hin,
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Frau HönesTschernobyl her, die Antwort dieser Regierung auf das Tschernobyl-Trauma in der Bundesrepublik ist die Reaktion einer erstarrten industriellen Machtstruktur, die auf Herausforderungen nicht mit Innovationen, sondern mit Propaganda, Subventionsforderungen und brutalen Polizeieinsätzen reagiert.
Die Verzweiflung und die Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen, die in einer solchen Politik begründet liegen, hat diese Regierung ganz allein zu verantworten.
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede der Kollegin Hönes hat wieder einmal deutlich gemacht, warum es den GRÜNEN bisher nicht gelungen ist, nicht einmal 5 % der Wählerstimmen im Raum Brokdorf zu erhalten. Sie hat deutlich gemacht, daß das Beispiel Kernenergie den Unterschied zwischen Theorie und Praxis, von Anspruch und Wirklichkeit bei den Grünen ganz besonders zum Ausdruck bringt. Angenommen, Brokdorf wäre wie das wenige Kilometer entfernte Kraftwerk Brunsbüttel am Tage vor Tschernobyl in Betrieb gewesen, gäbe es heute diese Diskussion nicht, würde niemand verstehen, warum gerade beim neuesten, sichersten und ausgereiftesten Kraftwerk die Forderung nach Stilllegung erhoben würde. Dann wäre Brokdorf ein Faktum wie viele andere.
— Ich kenne diese Geschichte gut, weil ich in jener Region wohne.Weil das nicht geschehen ist, soll aus dem Kraftwerk ein Symbol für den Ausstieg gemacht werden, etwa nach der Irrenlogik: Wenn wir Brokdorf nicht sofort ausschalten, geht in der Sowjetunion der nächste Reaktor in die Luft.
Meine Damen und Herren, auch bei einem Ausstieg in der Bundesrepublik gäbe es zum Jahre 2000 europaweit — im Ostblock und in Mitteleuropa — rund 280 Kernkraftwerke.
— Es gibt Duves als Brüller. — Daran würde ein Detailaustieg aus Brokdorf nicht ein Millirem ändern. Wer aussteigt, kann aber nicht dazu beitragen, seine Sicherheitsphilosophie auch bei anderen durchzusetzen.
Aus diesem Grunde ist die Haltung der Bundesregierung und dieser unserer Fraktionen, die dieMehrheit stellen, eindeutig, zusammen mit der Mehrheit der Bürger im Wahlkreis: Wir sagen ja zur Entscheidung des Ministers für Reaktorsicherheit und Umweltschutz, weil wir Brokdorf für vernünftig halten, und zwar aus vier Gründen.Es ist das sicherste Kraftwerk. Es sichert Energieversorgung. Das Kraftwerk sichert umweltfreundlichen Strom. Der erzeugte Strom ist preisgünstig.
Brokdorf sichert viele Arbeitsplätze.Meine Damen und Herren, gegenüber unserer Position verhalten Sie sich äußerst unglaubwürdig. Das ist die Meinung unverdächtiger Zeugen.
— Warten Sie, ich will Ihnen gleich Zitate bringen. — Die SPD in Biblis hat sich entschlossen, sich nicht am Wahlkampf zu beteiligen. Der ehemalige SPD-Kollege im Bundestag Professor Lohmar verglich das Vorgehen seiner Genossen in Sachen Kernenergie mit Vorkommnissen im Mittelalter.
Er sagt: „Was die SPD hier in Gang gesetzt hat, ist nichts anderes als eine neue Hexenverbrennung.
Sie hat nicht sorgfältig und fachlich zuverlässig geprüft, wo denn ein besserer Weg zu finden sei. Die Bilder von gestern zu verbrennen", sagt Professor Lohmar, „war noch nie ein guter Weg zu neuer Einsicht." An anderer Stelle heißt es: „Wie sollen Mütter und Väter — ich bitte darüber einmal ernsthaft nachzudenken; es sind auch viele Genossen dabei —, die in der Kernkraftindustrie arbeiten, ihren Kindern plausibel machen, was sie dort beruflich tun, wenn eine große Volkspartei zu ihrer Verfemung aufruft?"
Der Ausdruck „große Volkspartei" fiel allerdings vor der Landtagswahl in Bayern.Die Betriebsräte aller deutschen Kernkraftwerke, die sich am 11. September in Brunsbüttel getroffen haben, wurden dann auch deutlich. Sie fühlen sich von SPD und DGB nicht mehr vertreten. Die Angst nach dem Unglück von Tschernobyl nehmen auch wir ernst, nehmen auch die Betriebsräte ernst.
Aber was sie mit uns ablehnen, das ist das wahltaktische Geschäft mit der Angst. Ihre Meinung: „Wir leisten täglich unseren Beitrag, um durch Sachargumente Ängste abzubauen." Für die Bundestagswahl am 25. Januar haben sie keine andere Entscheidung: „Wir fordern unsere Kolleginnen und
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18455
AustermannKollegen auf, die Partei zu wählen, die für die Erhaltung unserer Arbeitsplätze eintritt."
Meine Damen und Herren, unglaubwürdig verhält sich aber auch die hamburgische Landesregierung. Ich freue mich, daß Senator Kuhbier, der Aufsichtsvorsitzende der HEW, hier ist.
Über die HEW hat er noch am 13. August dieses Jahres den Antrag gestellt, die Genehmigung sofort zu vollziehen — was wir begrüßen —, aber öffentlich denkt man darüber nach, per Gerichtsbeschluß die Inbetriebnahme zu verhindern.
Ich würde diesen Widerspruch hier gerne aufgeklärt wissen.Meine Damen und Herren, Brokdorf ist ein wesentlicher Beitrag zum Umweltschutz,
der den Wäldern, der Luft, dem Wasser und dem Boden zugute kommt, da ein in Betrieb gehaltenes Kohlekraftwerk mehr Radioaktivität abgibt als Brokdorf. Wir sind der Meinung, daß wir dieses Kraftwerk vertreten können. Gespräche mit Betriebsräten der schleswig-holsteinischen Kraftwerke vor wenigen Tagen haben schnell zu einer Übereinstimmung geführt. Wir waren uns einig: Werkleiter und Arbeitnehmer garantieren mit ihrer verantwortungsvollen Arbeit unsere Sicherheit. Wir halten ihre Arbeitsplätze mit verantwortungsvollen Auflagen sicher, in beiderseitigem Interesse, auch in Brokdorf, für sichere, umweltfreundliche, preiswerte, arbeitsplatzerhaltende Energie. Deshalb wünsche ich als Abgeordneter aus dem Wahlkreis dem Kraftwerk Brokdorf und seinen Mitarbeitern ein herzliches Glückauf, den Mitbürgern im Umkreis, im Wahlkreis, nur noch friedliche Demonstrationen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war also die neue Nach-TschernobylNachdenklichkeit, die uns Herr Wallmann immer wieder versprochen hat.
Das war eben eine dumme und sich selbst lächerlich machende Rede wie vor zehn Jahren. Nichts gelernt, Herr Austermann. „Brokdorf ist ans Netz gegangen", wie wundersam ist unsere Sprache mit allerlei Absurditäten durch diese Atomtechnik angereichert worden. Da geht also nach der Spracheein ganzes Dorf ans Netz. Vor zehn Jahren war diese Formulierung noch unbekannt, ein Bild aus der Sprache des Absurden. Heute weiß jedes Kind, was diese Formel bedeutet; denn heute zappeln die Verantwortlichen — wir haben das auch eben gesehen — für eine verfehlte Energiepolitik im Netz ihrer eigenen Gigantomanie.
— Wissen Sie, wenn wir hier über Kultur reden, sind Sie immer ganz aufgeregt.
— Aber wenn man sich bemüht, auch einmal auf die Sprache einzugehen, kommen Sie mit dummdreisten Zwischenrufen.
Vor fast genau zehn Jahren fand die erste große Demonstration in Brokdorf auf der Wiese statt. Die Wiese war bestimmt, die Kühe waren bereits vertrieben. Allerdings stand noch der etwas brüchige Weidezaun. Vor fast genau zehn Jahren gab es den ersten Polizeieinsatz gegen Wiesenbesetzer. Berittene Polizei trabte zwischen die sitzenden Demonstranten, ein Symbol für Niederlage und Erfolge der ökologischen Bewegung, die um mehr Vernunft in der Umwelt- und Energiepolitik stritt,
die schon damals die Absurdität der falsch berechneten Zuwachsraten errechnete und dafür ausgelacht wurde.Ich erinnere mich noch gut an das Gelächter, auch eigener Genossen — ich sage das hier —, das ich auf einem Energiekongreß in Köln erntete, als ich die Forderung erhob, die allgemeine Wachstumskurve des Bruttosozialprodukts von der des Primärenergieverbrauchs abzukoppeln.
Das ist inzwischen wie von selbst geschehen.
Symbol für eine unsinnige und unnötige Landschafts- und Kulturbeschädigung: Die Wilster Marsch, eines der letzten unberührten Marschgebiete, ist durch dieses Kraftwerk total verwandelt worden, zum Gefallen des Abgeordneten Austermann, anscheinend.
Die Hoffnungen, die manche Bürger mit den wirtschaftlichen Impulsen verbanden, erweisen sich heute als trügerisch. Die Bautrupps sind längst abgezogen. Investitionen für deren Unterbringung
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Duvesind verfehlt. Erholungsgäste kommen nicht mehr in die Wilster Marsch.
Symbol für den Protest: Anders als in Frankreich war der Protest in der Bundesrepublik erfolgreich. Statt ursprünglich geplanter 54 000 MW Leistung haben wir heute 17 000 MW. Ohne die Demonstrationen hätte es die Wende in der Diskussion um die Energiepolitik nicht gegeben.
Symbol aber auch für die Sturheit und Rechthaberei einer ganzen Politikergeneration: In Kiel wird das aufgezwungene Kraftwerk immer mit den Namen Stoltenberg und Barschel verknüpft bleiben.
Eine ganze Generation hat ihre Phantasielücke als Energielücke ausgegeben und mit Hilfe von Polizei durchgesetzt.Symbol auch für Tausende von Polizisten, die sich ihr Leben lang fragen werden, warum sie eigentlich für eine verfehlte Energiepolitik Dutzende von Wochenenden in die Wilster Marsch haben fahren müssen.
Symbol aber auch für den Versuch militanter Gruppen, Gewalt in die Demonstrationen hineinzutragen, deren Veranstalter und Urheber immer friedliche Demonstrationen wollten.
Symbol auch für Medien, die sich in den Dienst der Energiepolitik glaubten stellen zu müssen, wie bei der Niedersachsen-Wahl, wo vor der Wahl nur die Steinewerfer im Fernsehen gezeigt wurden, erst nach der Wahl die Übergriffe von Polizisten.In Hamburg wollte Bürgermeister Klose das Vernünftige tun — Hamburg ist die von Kernkraftwerken am stärksten eingezingelte Großstadtregion in Europa —, er ist über Brokdorf aus dem Amt gedrängt worden.Heute gibt es neue Symbole: Wackersdorf, Cattenom. Wackersdorf ist die nächste Stufe, der Eintritt in die international vernetzte Plutoniumwirtschaft. Hände weg von Wackersdorf, das macht heute, Jahre vor Baubeginn und Monate nach Tschernobyl, noch Sinn. Zu was sich ein Barschel in Kiel nach Tschernobyl nicht hat durchringen können, mit uns nein zu sagen, gilt wohl auch für Strauß. Ich befürchte, Strauß bleibt beim altersstarren Ja. Eine aktuelle, aber eine traurige Stunde für die energiepolitische Vernunft der deutschen Politik.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten in der letzten Sitzungswoche ausreichend und zeitlich in großem Rahmen viel Gelegenheit, über die gesamte Energiepolitik zu diskutieren. Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, haben diese Diskussion wieder einseitig auf die Kernenergie verengt, und Sie, meine verehrten Kollegen von der SPD, haben sich bei dem leider mißlungenen Auftritt Ihres Kanzlerkandidaten überwiegend mit der Kohle beschäftigt. Die geplante Inbetriebnahme von Brokdorf war auch in der vorigen Sitzungswoche schon bekannt. Sie wurde von Ihnen allenfalls mit einem Nebensatz bedacht. Damals hätten Sie bereits Gelegenheit gehabt, alles in einem Gesamtzusammenhang darzustellen. Dann wäre aber auch zugleich deutlich geworden, daß Ihre einfältigen energiepolitischen Gedankenspielereien vorn und hinten nicht aufgehen.Im übrigen ist die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Brokdorf so aktuell und überraschend nun auch wieder nicht. Schließlich wurde ja seit Baubeginn darauf hingearbeitet. Daß daraus letztlich zehn Jahre wurden, wirft wieder einmal ein ganz bezeichnendes Licht auf die Schwierigkeiten der Durchführung von Großbauvorhaben in unserem Lande. Es ist aber auch ein deutlicher Beweis dafür, daß ein derartiges Vorhaben nach Recht und Gesetz durchzuführen ist. Wenn die entsprechenden Anforderungen erfüllt sind, dann ist auch eine Betriebsgenehmigung zu erteilen. Das mußte auch der Hamburger Senat anerkennen, der vor wenigen Wochen ja beschlossen hat, bis 1995 aus der Kernenergie auszusteigen. Wegen der außerordentlich geringen Erfolgsaussichten sieht er nunmehr von einer Klage gegen die Inbetriebnahme von Brokdorf ab.Da die GRÜNEN sonst immer so eifrig bei der Beantragung von Aktuellen Stunden sind, ist es um so verwunderlicher, daß sie keine Aktuelle Stunde einberufen haben, als der Block I in Tschernobyl wieder in Betrieb genommen wurde. Von der Bauart her gleicht er nämlich dem Unglücksreaktor. Es ist nicht zu erkennen, ob dort inzwischen Nachrüstungen vorgenommen wurden. Das kann auch in der Kürze der Zeit nicht viel gewesen sein. Dieses Ereignis ist Ihnen wohl kaum der Erwähnung wert. Hier offenbart sich wieder einmal Ihre Doppelzüngigkeit.Meine Damen und Herren, mit der Inbetriebnahme von Brokdorf erfolgt zugleich ein Einstieg in eine neue Phase der Vorsorge in bezug auf kerntechnische Sicherheit. Aufbauend auf den Empfehlungen der Enquete-Kommission des 8. Deutschen Bundestages
— Herr Kollege Schäfer, das möchte ich hier noch einmal betonen, denn Sie wissen es ja besonders gut —, die einstimmig erfolgten, wurden auf Initiative und auf der Grundlage der Vorschläge des Betreibers Vorkehrungen getroffen, um auch bei schweren Schäden am Reaktorkern oder bei Kern-
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Beckmannschmelzen Auswirkungen auf die Umgebung weitgehend auszuschließen.
Solche Auswirkungen sind mit diesen Maßnahmen und mit der Vorsorge im Hinblick auf irgendwelche Ereignisse nach ingenieurtechnischem und menschlichem Ermessen nicht möglich. Wir werden auch weiterhin dafür eintreten, daß alle Möglichkeiten der Technik und der wissenschaftlichen Forschung genutzt werden, um die Schäden von eigentlich ausschließbaren Unfällen in der Anlage zu begrenzen.Meine Damen und Herren von der SPD, das Kernkraftwerk Brokdorf war für Ihre Genossen in Hamburg der erste Anlauf, um aus der Kernenergie auszusteigen, gegen die Politik der damaligen sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt. Herr Duve, diese Erinnerung an eigenes, vorhergegangenes Tun habe ich bei Ihrem Ausflug in die niederdeutsche Literatur ein wenig vermißt. Es ist ja auch bezeichnend für die augenblickliche energiepolitische Diskussion in der SPD, daß hier als erster Redner der SPD kein Energiefachmann spricht, sondern ein Literat.
Im übrigen, meine Damen und Herren, hat wegen Brokdorf schon ein Bürgermeister seinen Abschied genommen. Aber auch der neue Bürgermeister ist über Ankündigungen und Pläne nicht hinausgekommen. Wie weit sich die Genossen von der Energiepolitik ihrer Parteifreunde entfernt haben, zeigt übrigens auch die Absicht von Bürgermeister von Dohnanyi, den Kernenergiestrom durch Strom aus Importkohle zu ersetzen.Lassen Sie mich schließen mit den Worten: Nicht die Regierungskoalition entfernt sich aus der gemeinsamen Kohlepolitik, wie der Ministerpräsident Rau es hier am vergangenen Sitzungsfreitag dargestellt hat, sondern, meine Damen und Herren von der SPD, es sind auch einige SPD-regierte Länder selbst. Wir, die Koalition, lassen uns von dem Verbund Kohle/Kernenergie nicht abbringen. Dazu gibt es gegenwärtig keine energiepolitische, wirtschaftspolitische und umweltpolitische Alternative.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren ist für Brokdorf abgeschlossen worden, nachdem seit der Antragstellung vom 12. März 1974 inzwischen zwölf Jahre vergangen sind. Das Kernkraftwerk Brokdorf ist also bis zum Jahre 1982 bereits acht Jahre lang auch in der bundesaufsichtlichen Prüfung gewesen und ist übrigens zu Zeiten der von der SPD geführten Bundesregierung bundesaufsichtlich niemals in irgendeiner Weise in Zweifel gezogen worden.
Jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, soll der Eindruck erweckt werden, nach dem schweren Unfall in Tschernobyl müßten die deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet werden.
Darum geht es doch im Kern. Es wird also behauptet, die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland seien in gleicher Weise gefährlich wie die in der Sowjetunion.
Dafür sind bis jetzt an keiner Stelle — ich wiederhole es: an keiner Stelle — irgendwelche Beweise oder Begründungen vorgetragen worden; es ist nicht einmal der Versuch gemacht worden.
Ich stelle auch heute noch einmal fest, daß das Kernkraftwerk Brokdorf wie auch alle anderen deutschen Kernkraftwerke sicherheitstechnisch mit der Anlage in Tschernobyl in gar keiner Weise vergleichbar ist. Der Reaktor in Tschernobyl ist grundsätzlich instabil; die Reaktoren in der Bundesrepublik Deutschland sind grundsätzlich inhärent sicher.
— Auf Ihren Zwischenruf hin sage ich Ihnen: Wer sagt „Tschernobyl ist überall", ist nicht nur unredlich, sondern sagt etwas, was er bei der geringsten Überprüfung vor sich selbst nicht verantworten kann.
Das Kernkraftwerk Brokdorf kann in Betrieb genommen werden, weil die Sicherheit gewährleistet ist. Diese Feststellung beruht auf dem sachverständigen Urteil nationaler wie internationaler Experten. Nicht verschwiegen werden darf in diesem Zusammenhang, daß nicht nur die Genehmigungsbehörde des Landes Schleswig-Holstein und das Bundesumweltministerium der Auffassung sind, daß dieses Kernkraftwerk Brokdorf auf Grund der sicherheitstechnischen Voraussetzungen in Betrieb genommen werden kann; auch die ÖTV ist der Auffassung, daß auf die Inbetriebnahme dieses Kernkraftwerkes nicht verzichtet werden darf.Das Kernkraftwerk Brokdorf entspricht höchsten Sicherheitsanforderungen. Ich weise noch einmal darauf hin, daß seit Beginn der Planung bis zur Fertigstellung sorgfältige Untersuchungen und Bewer-
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Bundesminister Dr. Wallmanntungen durch die Reaktorsicherheitskommission und auch durch die Strahlenschutzkommission vorgenommen worden sind. Am 19. März 1986 ist eine abschließende — ich füge hinzu: man glaubte seinerzeit eine abschließende — und detaillierte Empfehlung an den damals zuständigen Bundesinnenminister gegeben worden. Darin wird festgestellt, daß das sicherheitstechnische Konzept des Kernkraftwerkes Brokdorf allen Anforderungen genügt und daß alle einschlägigen Sicherheitskriterien, kerntechnischen Regeln sowie alle Leit- und Richtlinien erfüllt sind.Dann geschah das schwere Unglück in Tschernobyl, und deswegen wurde die Reaktorsicherheitskommission noch einmal beauftragt, auch an Hand der neuesten Erkenntnisse über den Unfall in Tschernobyl zu prüfen und zu berichten, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen sich für die in der Bundesrepublik Deutschland in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke, also auch im Hinblick auf das Kernkraftwerk Brokdorf, ergeben.
Die Reaktorsicherheitskommission hat am 17. September 1986 noch einmal ausführlich Stellung genommen. Sie bekräftigt noch einmal die schon in der Empfehlung vom 19. März 1986 enthaltene Feststellung, daß keinerlei sicherheitstechnische Bedenken gegen die Inbetriebnahme, gegen den Betrieb des Kernkraftwerkes Brokdorf bestehen.
Deswegen habe ich am 26. September 1986 in Ausübung der Bundesaufsicht über das atomrechtliche Genehmigungsverfahren der zuständigen Landesbehörde in Kiel mitgeteilt, daß gegen die Erteilung der Betriebsgenehmigung für Brokdorf keine Bedenken bestehen.
Diese Zustimmung habe ich allerdings an die Erfüllung einer Reihe von Anforderungen und Berichtsauflagen geknüpft.
Die Genehmigungsbehörde des Landes Schleswig-Holstein hat danach die Betriebsgenehmigung mit den ausgesprochenen Auflagen erteilt.Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß im Kernkraftwerk Brokdorf zum erstenmal eine Möglichkeit zur kontrollierten und gefilterten Druckentlastung des Reaktorsicherheitsbehälters geschaffen worden ist.
— Meine Damen und Herren, ich kenne das von Ihnen. Sie sind — verzeihen Sie — deswegen nicht ernst zu nehmen, weil immer dann, wenn über die Sache gesprochen wird, Sie sich dagegen wehren.Sie wollen lediglich Panik machen, Angst schüren, Sie sind nicht imstande zu einer rationalen Diskussion. Das ist das Entscheidende.
Ich füge im übrigen hinzu, weil der Herr Kollege Duve von der Sprache gesprochen hat: Wer in dieser Weise von der Sprache spricht und einen Super-GAU einführt, der muß sich sagen lassen, daß er die Grundregeln der deutschen Sprache nicht begriffen hat; denn der größte anzunehmende Unfall kann nicht gesteigert werden. Er ist der Superlativ. Weil wir dieses so ernst nehmen, überprüfen wir alle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben und zu stellen sind.
Die Nachdenklichkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, enthebt niemanden von der Notwendigkeit zur Entscheidung dort, wo die Entscheidung geboten ist. Nachdenklichkeit bedeutet, unvoreingenommen an Probleme heranzugehen, bedeutet abzuwägen, sorgfältig zu prüfen.
Nachdem das geschehen ist, Diskussion also stattgefunden hat, Gegenpositionen zur Kenntnis genommen worden sind, muß die Entscheidung getroffen werden. Politiker sind nicht dazu da, nur ständig Fragen zu stellen,
sondern sie haben Fragen aufzunehmen, zu stellen und dann zu entscheiden.Meine Damen und Herren, es handelt sich also bei der Auflage um eine Maßnahme, die zusätzliche Sicherheit und zusätzlichen Schutz gewährleistet im Kernkraftwerk Brokdorf.
Wir gehen damit über die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge hinaus. Ich lege auf diese Feststellung großen Wert. Heute wird die Reaktorsicherheitskommission in einer Pressemitteilung darüber berichten, was nach Meinung der Reaktorsicherheitskommission zusätzlich zu geschehen hat.
Es handelt sich um spezielle Filter, die gewährleisten, daß bei einem wenn auch noch so unwahr-
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Bundesminister Dr. Wallmannscheinlichen Fall eines Kernschmelzens die aerosolförmigen Spaltprodukte nahezu vollständig zurückgehalten werden können und gleichzeitig eine Zerstörung der Sicherheitshülle verhindert wird. Ich kann daher feststellen, daß das Kernkraftwerk Brokdorf höchsten Anforderungen an die Sicherheit genügt. Bundes- wie Landesregierung haben ihre Entscheidung zur Inbetriebnahme von Brokdorf nach sorgfältigster und gründlicher Überprüfung getroffen, auch und gerade unter Berücksichtigung der Erkenntnisse nach dem Unfall von Tschernobyl.Die Bundesregierung wird auch künftig dafür Sorge tragen, daß nur solche Kernkraftwerke in Betrieb gehen und in Betrieb bleiben, die unseren hohen Sicherheitsanforderungen in vollem Umfang entsprechen. Wir haben damit eine Entscheidung getroffen, die im Interesse unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, unserer Umwelt, der ökonomischen und der sozialen Notwendigkeiten unseres Staates liegt.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Senator für Wasserwirtschaft, Energie und Stadtentsorgung der Freien und Hansestadt Hamburg, Herr Kuhbier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Brokdorf ist energiepolitisch ohne Sinn.
Selbst ohne Brokdorf behindern schon heute erhebliche Überkapazitäten — eine Kapitalvernichtung, von der übrigens niemand gerne spricht — die Durchsetzungschancen einer Politik des Energiesparens und der umweltfreundlichen erneuerbaren Energiequellen.
Kein Verbraucher braucht Brokdorf!
Die HEW und die Preag haben schon jetzt mehr Stromkapazitäten, als durch den Bedarf auf dem Markt gerechtfertigt wäre.
Der Betrieb dieses Kernkraftwerks verstößt daher schon auf Grund energiepolitischer Bewertungen gegen das Gemeinwohl.
Leider findet die Untersagung nach dem Energiewirtschaftsgesetz nur Anwendung bei Baubeginn. Das ist ein Mangel. Wir werden uns daher dafür einsetzen, daß eine Bedarfsprüfung mit Untersagungsmöglichkeiten auch während des laufenden Betriebs eines Kraftwerks in Zukunft möglich ist.
Die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Brokdorf ist eine bewußte Provokation gegenüber all denjenigen, die sich seit vielen Jahren bis zuletzt mit guten Gründen gegen die Kernkraftwerke und damit auch gegen das Kernkraftwerk Brokdorf zur Wehr gesetzt haben.
Wenn dann jemand wie der Abgeordnete Duve, der sich seit zehn Jahren energiepolitischen Sachverstand aneignet und ihn hier auch eingebracht hat, disqualifiziert wird, dann spricht das auch für die Qualität dieses Arguments.
Die Inbetriebnahme ist eine Provokation gegen den Stadtstaat Hamburg, der sich gegenüber der genehmigenden Landesregierung Schleswig-Holstein und gegenüber dem zuständigen Bundesminister
wiederholt für eine gründliche Überprüfung der Sicherheitssysteme dieses Kraftwerks unter Einschaltung von Wissenschaftlern, die der Kerntechnologie kritisch gegenüberstehen, ausgesprochen hat. Hamburg ist von allen Untersuchungen, Informationen und Überlegungen die angeblich nach Tschernobyl von Schleswig-Holstein, der Bundesregierung, der Reaktorsicherheitskommission und dem Betreiber Preag angestellt worden sind, bewußt ausgeschlossen worden.
Berechtigte Interessen Hamburgs mit seinen 1,6 Millionen Menschen wurden gröblich verletzt und ignoriert.Das Unglaubliche dieses Vorganges wird nach der Wiener Konferenz besonders deutlich: Einerseits macht die Bundesregierung gen Osten internationale Nachbarschaftsrechte geltend, aber andererseits wird hier in der Bundesrepublik Deutschland das Nachbarland Hamburg schlicht übergangen.
Die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Brokdorf geschieht offensichtlich auch mit Blick auf die Bürgerschaftswahl in Hamburg, mit Blick auf den dadurch ausgelösten sozialen Unfrieden. Es ist eine besondere Tragik, daß sich Demonstrationsgewalttäter zu nützlichen Idioten — sprich: Wahlkampfhelfern — der CDU machen,
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18460 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Senator Kuhbier
eine Taktik, die in Niedersachsen aufgegangen ist und in Hamburg erneut angewandt werden soll.
Die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Brokdorf deckt die soziale Unverträglichkeit der Kerntechnologie mit aller Schärfe auf.
Die Beendigung eines Bauwerks nach einem Jahrzehnt mit einem Kostenaufwand von fast mehr als vier Milliarden DM ist in der Regel ein Anlaß zur Freude, zum Feiern und zu Sonntagsreden mit Presse. Brokdorf hingegen wird nach einer Reihe von hinhaltenden Erklärungen aus Kiel und Bonn durch die Hintertür — quasi klammheimlich, unter Ausschluß der Öffentlichkeit — in Betrieb genommen.
Die Verantwortlichen scheinen sich dessen nur allzu bewußt zu sein, daß sie den Marsch in den Atomstaat gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen, daß sie bewiesene und erlebte Risiken und Gefahren weiter leugnen. Herr Bundesminister Wallmann, ich hoffe für uns alle, daß wir den Beweis für die Gefährdung der Kernkraftwerke eben nicht durch einen Unfall, wie er in Tschernobyl geschehen ist, antreten müssen.
Gutachten, die die Bundesregierung selber in Auftrag gegeben hat, nehmen Sie nicht zur Kenntnis, Kritiker der Atomenergie und Politiker, die ihren Irrtum eingesehen haben, bekennen und daraus Konsequenzen ziehen wollen, qualifizieren Sie ab und diffamieren Sie. Mit einem Wort: Sie sind unbelehrbar.
Ferner: Die Inbetriebnahme von Brokdorf mißachtet die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung, erhöht das von der Kernenergie ausgehende Gefahrenpotential und vergrößert die Sorge um die nach wie vor ungelöste Entsorgung von Kernkraftwerken.
Die Bundesregierung leugnet alle von der Technik ausgehenden Gefährdungen, die ihren Ursprung in der Unzulänglichkeit des Menschen, in der Unzulänglichkeit der Technik und in der Unzulänglichkeit von Systemen und Verfahren haben.
Die raum- und zeitlosen Schäden, die uns mit derReaktorkatastrophe von Tschernobyl schrecklichdargelegt werden, werden ignoriert. Die Ernennungeines Bundesministers für Reaktorsicherheit war nicht das Ergebnis einer Neuorientierung,
sondern nur Bestandteil einer Beschwichtigungskampagne.
Das plötzlich wie ein Kaninchen aus dem Hut gezauberte Druckentlastungsventil mit Filter ist nichts anderes als ein simpler Taschenspielertrick.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist es eigentlich eine Auflage, oder ist es eine freiwillige Maßnahme des Betreibers? Wenn es eine Auflage ist, dann frage ich, wann die anderen Kernkraftwerke mit dieser Auflage nachgerüstet werden müssen.
Meine Damen und Herren, Tschernobyl war ein Menetekel, eine Warnung an die Menschen, ihrem technischen Hochmut Einhalt zu gebieten.
Bundesregierung und Landesregierung weigern sich aber, die Zeichen an der Wand wahrzunehmen.Der Hamburger Senat hat am 16. September 1986 eine klare Entscheidung getroffen, eine sichere Energieversorgung in Hamburg ohne Atomkraftwerke innerhalb eines Jahrzehnts. Das heißt: sofortige Stillegung von Stade, keine Inbetriebnahme von Brokdorf,
abschalten von Brunsbüttel und Krümmel innerhalb eines Jahrzehnts.Wir sind mit unseren Bemühungen, die Inbetriebnahme von Brokdorf zu verhindern, vorerst gescheitert: politisch, weil sich die Regierungen in Bonn und in Kiel als unbeweglich und unbelehrbar erwiesen haben, rechtlich, weil sich gezeigt hat, daß das Atomgesetz als ein Atomfördergesetz eben keinen Ansatz bietet, es gegen Brokdorf als Atomausstiegsgesetz anzuwenden. Hier helfen nur klare gesetzliche Änderungen, die Hamburg gemeinsam mit der SPD-Fraktion anstrebt. Hamburg wollte die Gerichte nicht für einen demonstrativen Schaueffekt vier Wochen vor der Wahl mißbrauchen. Wer daraus den Schluß ziehen sollte, der Senat sei wankelmütig geworden, ist auf dem Holzweg. Im Gegenteil, die momentane Hilflosigkeit, daß ein gewähltes Verfassungsorgan die Rechte seiner Bürger nicht wahrnehmen kann, hat uns in der Entschlossenheit und dem Willen bestärkt, das Atomgesetz so schnell wie möglich zu ändern.
Für den Ausstieg sprechen viele gute Gründe. Wer aber wie die CDU gegen den Ausstieg nur fadenscheinige wirtschaftliche Gründe geltend macht, Herr Abgeordneter, der muß sich fragen las-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18461
Senator Kuhbier
sen, ob er es eigentlich ernst meint mit dem Bekenntnis: Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit.
Meine Damen und Herren, es gibt viele gute Gründe für einen Ausstieg: ökonomische, technische, ökologische und auch finanzielle Gründe. Die SPD und der Hamburger Senat werden sich dafür einsetzen, daß diese Gründe auch Niederschlag in der Realität unserer Energiepolitik finden.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie generell darauf aufmerksam machen, daß die Menge der Zwischenrufe umgekehrt proportional zu ihrer Verständlichkeit ist. Das heißt als Konsequenz: Mäßigung. — Der nächste Redner ist Herr Gerstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich meine, für ein Mitglied der Landesregierung eines deutschen Bundeslandes war diese Rede, Herr Kuhbier, weiß Gott eine Rede, die sich im wesentlichen außerhalb von Recht und Gesetz bewegt hat,
eine Provokation! Nicht die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes ist eine Provokation, sondern eine solche Rede. Die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Brokdorf ist doch das Ergebnis eines abgeschlossenen Genehmigungsverfahrens.
Sie ist nach Recht und Gesetz erfolgt, und von daher begrüßen wir es sehr, daß dieses Kraftwerk, das dem höchsten Sicherheitsstandard entspricht, in Betrieb gegangen ist und nun Strom liefert, Strom, für den es — entgegen dem, was Herr Kuhbier uns hier vorerzählen wollte — auch Abnehmer gibt.Meine Damen und Herren, wir nehmen mit Genugtuung Kenntnis davon, daß — wie das Herr Minister Wallmann hier gerade ausgeführt hat — auch die erneute Sicherheitsüberprüfung durch die Reaktorsicherheitskommission, die nach dem Reaktorunfall und Tschernobyl veranlaßt worden ist, ergeben hat, daß sicherheitstechnische Bedenken gegen die Inbetriebnahme und Betrieb der Anlage nicht bestehen.Wir sind der Meinung, daß der Betrieb dieses Kernkraftwerks ebenso verantwortet werden kann wie der Betrieb der übrigen Kernkraftwerke in der Bundesrepublik.
Wir fragen Sie, warum Sie eigentlich diese Aktuelle Stunde veranstalten, obwohl wir bereits am 3. Oktober Anträge auf die Nichtinbetriebnahme von Brokdorf ebenso wie entsprechende Anträge der SPD hier mit Mehrheit abgelehnt haben.Ich bin sicher: In Wirklichkeit geht es Ihnen gar nicht um Fragen der Sicherheit, es geht Ihnen gar nicht um das Wohl der Menschen,
sondern es geht Ihnen doch viel eher um ein Symbol für den Ausstieg aus der Kernenergie, das Ihnen nun verlorengeht.Brokdorf war zehn Jahre lang ein Symbol des Widerstandes, Brokdorf stand zehn Jahre lang für Demonstration, für Gewalt und Kampf gegen die Atomenergie. Das eigentliche Problem ist doch wohl, daß mit der Inbetriebnahme dieses langjährige sehr nützliche Symbol gegen die Atomenergie ausgedient hat und Ihnen nicht mehr zur Verfügung steht.
Es macht Ihnen Sorge, daß dort nun keine Demonstrationen mehr stattfinden werden, durch die der Anschein erweckt werden kann, als wäre die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Kernenergie, was nicht der Fall ist. Es geht Ihnen nicht um die Sorgen der Menschen. Wenn es Ihnen wirklich um die Sorgen der Menschen und um die Sicherheit und Verantwortung ginge, hätten wir doch eine Demonstration oder zumindest eine Aktuelle Stunde im Zusammenhang mit der schnellen Wiederinbetriebnahme der unsicheren Schwester des Katastrophenreaktors in Tschernobyl nur fünf Monate nach der Katastrophe zu erwarten gehabt. Aber dies ist nicht geschehen. Sie stellen Brokdorf und nicht Tschernobyl in das Zentrum Ihrer Kritik.Dabei wollen Sie einfach nicht wahrhaben — Frau Hönes, Sie haben das vorhin unterschlagen —, daß nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch weltweit der Ausstieg aus der Kernenergie eben nicht stattfindet. So sind in diesem Jahr nach Tschernobyl inzwischen weltweit 17 Kernkraftwerke neu in Betrieb gegangen. Brokdorf ist eben das 18.Unsere Einstellung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie ist im Energiebericht, den wir in der vorigen Woche diskutiert haben, noch einmal deutlich geworden. Wir können und wollen auf keinen Energieträger verzichten. Wir bleiben bei Kohle und Kernenergie.In diesem Sinne halten wir es für notwendig und richtig, daß Brokdorf in diesen Tagen in Betrieb gegangen ist. Wir erwarten, daß dies auch bei den sich in der Fertigstellung befindlichen Kernkraftwerken der Fall sein wird, sobald die erforderlichen Genehmigungen erteilt sind. Wir sind sicher, daß die zur Inbetriebnahme anstehenden Kernkraftwerke in jeder nur denkbaren Weise zu verantworten sind. Durch unsere hohen Sicherheitsstandards ist ein voll ausreichender Schutz unserer Bevölkerung immer gewährleistet.
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18462 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Gerstein, für uns ist Brokdorf in der Tat ein Symbol, und zwar seit zehn Jahren. Ich glaube, es ist zu Recht ein Symbol, weil wir im Gegensatz zu Ihnen Sensibilität haben, indem wir uns der berechtigten Sorgen der Menschen annehmen. Eine solche Haltung kann ich bei Ihnen und auch beim schleswig-holsteinischen Kollegen Austermann nicht ausfindig machen.
Ich muß Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, fragen: Wann werden Sie endlich begreifen, daß sich das Zeitalter der Atomenergie überlebt hat?
Wann werden Sie endlich die Zäsur in der Energiepolitik vollziehen, die die Mehrheit der Bevölkerung spätestens nach Tschernobyl vollzogen hat? Wann geben Sie endlich die Kumpanei mit der Energiewirtschaft auf? Wann hören Sie auf, Ihre Regierungsgewalt gegen die Vernunft in die Waagschale zu werfen, wie gerade wieder durch die CDULandesregierung in Schleswig-Holstein geschehen? Wider alle Vernunft hat die rechte Landesregierung in Schleswig-Holstein die Betriebsgenehmigung für Brokdorf erteilt.
Wider alle Vernunft erklärt sie Atomstrom aus Brokdorf für notwendig. Wider besseres Wissen versucht sie obendrein auch noch, diejenigen, die gegen diese Entscheidung protestieren, die, die friedlich für das Leben demonstrieren, zu kriminalisieren. Es gibt keine friedliche Nutzung der Atomenergie.
Für mich stellt jedes einzelne Atomkraftwerk ein reales Vernichtungspotential dar. Dieses Potential an Gewalt hat die CDU-Landesregierung in Kiel mit Brokdorf vergrößert. Sie darf sich dabei des zweifelhaften Ruhmes erfreuen, auf diesem Vormarsch in vorderster Front zu stehen.
Brokdorf ist nach dem Inferno von Tschernobyl das erste Kernkraftwerk in der Welt, das neu ans Netz geht,
und das ausgerechnet in der Bundesrepublik. Wir Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein wollen Brokdorf nicht. Wir brauchen Brokdorf nicht, und wir werden nach dem Herbst des kommenden Jahres alle rechtlichen und politischen Mittel einsetzen, um Brokdorf wieder stillzulegen.
In der Bundesrepublik haben wir Überkapazitäten; darauf ist bereits hingewiesen worden. Im Januar 1985 hatten wir einen Spitzenbedarf an Atomstrom zu verzeichnen. Trotzdem gab es zu diesem Zeitpunkt einen Kapazitätenüberschuß von 32 %. Das Gerede von einer ausgemachten, einer angeblichen Versorgungslücke ist eindeutig als Blödsinn entlarvt worden.
Gleiches gilt für Schleswig-Holstein. 1984 hatten wir eine Spitzenlast von 1 589 MW. Mit Brokdorf ist jetzt in Schleswig-Holstein eine Kraftwerksleistung von 3 022 MW installiert. Dieses Verhältnis rechnet sich fast als hundertprozentiges Überangebot. Wer da noch von Engpässen spricht, weiß entweder nicht, wovon er redet, oder spricht ganz einfach die Unwahrheit.
Die Energieversorgung Schleswig-Holsteins wird auf Jahrzehnte hinaus zu 90 % und mehr von der Atomenergie abhängig sein. Diese Einseitigkeit steht in eklatantem Widerspruch zu einem tiefgreifenden strukturellen Wandel, den die norddeutsche Wirtschaft so dringend nötig hat. Brokdorf ist für uns im Norden der Republik kontraproduktiv, und das in jeder Beziehung.
Wir Sozialdemokraten wollen den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie. Wir Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein kämpfen seit zehn Jahren für dieses Ziel. Ich sage es noch einmal: Brokdorf war für uns ein Symbol des Widerstands, und Brokdorf bleibt für uns ein Symbol des Widerstands, und das, meine Damen und Herren von der Rechten, so lange, bis wir uns von der Gewalt der Atomtechnologie in der Bundesrepublik befreit haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Duve, als Sie sprachen, habe auch ich mich an Brokdorf erinnert, seinen Symbolgehalt, an die vielen Demonstrationen — viele negative Erinnerungen, positive Erinnerungen —, an das Verhalten der friedlichen Demonstranten, die sich gegen die gewalttätigen gestellt haben; das gab es auch. Positive Erinnerungen an ein wichtiges Urteil des Bundesverfassungsgerichts; sehr negative Erinnerungen an die letzten Demonstrationen, die j a in Gewalttätigkeit ausgeartet sind. Das ist ein Stück Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, aber auch unsere gemeinsame Geschichte, auch Ihre Geschichte.
Sie haben gesagt, Sie seien seit zehn Jahren dagegen. Die Regierung, die Sie mitgetragen haben, in der ich Minister war, hat einen Genehmigungsschritt nach dem anderen beschlossen. Der von Ihnen gestellte Bundeskanzler hat dieses Projekt
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18463
Baumebenso verantwortet, wie ich und andere das getan haben.
Nun müssen Sie uns einmal nachweisen, was sich eigentlich geändert hat.Ich war nach Ihrem Parteitag in Nürnberg immer der Meinung, daß Sie eine zehnjährige Ausstiegsfrist ins Auge gefaßt hätten.
Das ist offenbar nicht der Fall. Sie verhalten sich hier sehr opportunistisch. Dort reden Sie einigen Leuten nach dem Munde und sagen, das müsse jetzt geschehen.
Wo ist denn das Konzept, in das Sie diese Entscheidung einpassen? Sie selber haben in Nürnberg — ich wiederhole das — „zehn Jahre" gesagt und nicht „sofort" wie die andere Partei.
Jetzt wollen Sie, nachdem der Umweltminister nach Tschernobyl alles getan und abgescheckt hat, ob sich eine neue Situation ergeben hat, gegen Recht und Gesetz handeln;
denn die Behörden sind verpflichtet, diese Betriebsgenehmigung zu erteilen, wenn die Voraussetzungen nach dem Gesetz vorliegen. Und sie liegen unzweifelhaft vor, denn, Herr Senator Kuhbier, sonst wäre es völlig unverständlich, daß die Freie und Hansestadt Hamburg nicht klagt. Warum legen Sie denn keine Rechtsmittel ein, wenn Sie der Meinung sind, das Recht sei verletzt worden?
Ich finde, daß das, was Sie hier zum Ausdruck bringen, einigermaßen hilflos ist. Ein großer Anteil Ihres Stroms beruht doch auf Nuklearenergie. Sagen Sie der Bevölkerung doch offen, daß Sie diesen Anteil brauchen, auch in Hamburg. Sagen Sie doch bitte — ich sage es Ihnen jetzt noch einmal mit allem Nachdruck —: Diese Nachrüstung ist eine Auflage — das ist keine freiwillige Leistung —, die für alle in Betrieb befindlichen und neuen Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland gilt. Das zeigt, daß wir es mit der Sicherheitsphilosophie ernst meinen. Wir wollen Kernenergie eben nicht ohne Wenn und Aber, sondern unter engen, strengen Auflagen, die die Sicherheit der Bevölkerung immer wieder in den Vordergrund rücken.Ich halte Kernenergie mit meiner Partei für verantwortbar, solange es keine umweltfreundlichen anderen Energieformen gibt.
Wir werden alles tun, die Suche, die Forschung nach solchen Energiearten zu verstärken. Wir wollen aber nicht, daß wir durch die Alternativen wieder umweltunfreundliche Technologien nach vorne bringen.
Für mich ist auch ein vorläufiges Ende mit den Ausbaus dieser jetzt in Betrieb gehenden Kernkraftwerke erreicht, aber ich nehme für mich, die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien in Anspruch, daß wir uns hier entsprechend unseren früheren Beschlüssen und auch im Hinblick auf die Sicherheit der Bevölkerung vernünftig verhalten, daß wir Recht und Gesetz anwenden, daß wir das Notwendige tun, um die Bevölkerung vor Risiken zu schützen.Ich werfe Ihnen vor, daß Sie in wirklich erschrekkender Weise opportunistisch sind. Meine Damen und Herren von der Opposition, so kann man keine Politik machen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Roitzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte doch einmal etwas zu dem Herrn Senator aus Hamburg sagen. Herr Kuhbier, glauben Sie nicht, daß Sie einen etwas großen Schluck aus der Wahlkampfpulle genommen haben?
Denn das, was man Ihnen aufgeschrieben hat, können Sie so nicht vertreten. Wenn Sie sagen, Ihnen gehe in Hamburg die Sicherheit vor, dann muß man hier doch einmal sagen, was Sicherheit in Hamburg ist. Da können Mörder frei herumlaufen, können Menschen ermorden.
Da werden Kaufhäuser und Banken geplündert. Es gibt keine Sicherheit in Hamburg. Und dann erheben Sie hier einen solchen Anspruch. Herr Kuhbier, das nimmt Ihnen keiner ab.
— Herr Duve, wer schreit, hat doch immer unrecht. Lassen Sie doch den Quatsch.
Meine Damen, meine Herren, mit Brokdorf geht eines der sichersten Kernkraftwerke Europas ans Netz. Herr Kollege Heyenn, die Bundesregierung und die schleswig-holsteinische Landesregierung
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18464 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Frau Roitzsch
— Sie sind doch Lehrer — haben es sich mit ihrer Entscheidung sehr schwergemacht; denn die Bundesregierung und die Landesregierung nehmen gerade diese Ängste der Menschen sehr ernst.Meine Damen und Herren, dies ist eine ganz besondere Angst. Die Angst vor der Atomkraft rührt ja aus der schlimmen Erfahrung der ersten Nutzung der Atomkraft, nämlich der Atombombe. Daß die Menschen hier besondere Ängste haben, können wir, glaube ich, besser als Sie drüben in der Opposition verstehen. Aus diesem Grunde ist Brokdorf noch einmal überprüft worden, deshalb sind die zusätzlichen Sicherheitseinrichtungen angebracht worden, denn wir wollen sichergehen, daß dies eine sichere Energie ist. Kernkraftwerke mit unserem Sicherheitsstandard sind keine todbringenden Waffen. Sie sind saubere, billige und umweltfreundliche Energieträger.
Es ist richtig, so meine ich, daß die Bundesregierung und die Landesregierung Schleswig-Holsteins ihre Entscheidung auf der Basis von Verantwortung und nicht aus Angst gefällt haben.
Die GRÜNEN und leider auch die ehemals große demokratische Volkspartei SPD schüren nur Ängste, ohne Verantwortung tragen zu wollen. Wie war es denn, als die GRÜNEN 1983 in den Bundestag einzogen? Damals traten sie mit dem Anspruch an, das Waldsterben bekämpfen zu wollen. Wenn die GRÜNEN heute den Ausstieg aus der Kernenergie fordern, so würde das bedeuten, daß die Kernenergie durch fossile Brennstoffe ersetzt werden müßte. Das würde zusätzlich 450 000 t Schwefeldioxid und zusätzlich 250 000 t Stickoxide im Jahr bedeuten. Das ist die Politik der GRÜNEN.
Das würde den Verlust von 35 000 Arbeitsplätzen bedeuten. Das würde die Senkung der sozialen Sicherheit der Menschen bedeuten; denn auch die Strompreise würden gewaltig steigen müssen. Tatsächlich sind die GRÜNEN gar keine Umweltpartei, sie sind nur eine linke Protestpartei.
Die GRÜNEN geben vor, für das Leben einzutreten. Liest man aber das Parteiprogramm der GRÜNEN, dann nimmt man zur Kenntnis, daß sie die Abschaffung des totalen Schutzes des ungeborenen Lebens wollen. Dann liest man, daß GRÜNE Sex mit Kindern wollen.
— Ja, ja, es ist ja so. Die GRÜNEN rufen zum Widerstand auf, sie rufen zu Demonstrationen gegen Kernkraftwerke auf, und sie benutzen bei diesen Demonstrationen ihre kleinen Kinder alsSchutzschild. Tatsächlich wollen die GRÜNEN einen anderen Staat. Sie wollen die Beseitigung der Demokratie, und dazu mißbrauchen und schüren sie die Ängste der Mitbürger. Und die SPD ist auch nicht viel anders.Ich möchte noch einmal sagen: Brokdorf ist nicht Tschernobyl. Aber um uns herum stehen 337 Kernkraftwerke, auf die wir leider keinen Einfluß haben. Deshalb ist der vorgeschlagene Weg des Bundeskanzlers, eine Sicherheitskonferenz einzuberufen, um einen internationalen Sicherheitsstandard zu erlangen, der einzig sinnvolle Weg.Ich danke Ihnen.
Der nächste Redner ist der Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Roitzsch, es lohnt sich nicht, auf Ihre Formulierung einzugehen. Das Parlament hat erstmalig erlebt: Sex und Kernenergie; das haben wir Ihnen heute zu verdanken. Sex und Kernenergie, Frau Roitzsch, das war eine parlamentarische Hochleistung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es in der Energiepolitik nach den Gesetzen des Marktes ginge, wenn die Energieträger Kohle, Öl, Gas und Atomenergie marktwirtschaftlich beurteilt würden, gäbe es längst keine Diskussion über den Ausstieg aus der Atomenergie mehr. Atomenergie ist viel zu teuer, als daß sie auch nur annähernd im Grundlastbereich mit der Kohle mithalten könnte. Ausgerechnet diese Bundesregierung, deren Mitglieder schon feuchte Augen bekommen, wenn das Wort Marktwirtschaft fällt, gibt sich alle Mühe, auch die feinsten Ansätze der Marktwirtschaft aus der Kernenergie, aus der Energiepolitik herauszuhalten. Statt dessen hat sie sich in den vergangenen Jahren alle Mühe gegeben, preiswerten Kohlestrom zugunsten des teuren Atomstroms aus der Grundlast zu verdrängen.
Von 1984 bis zum Jahre 1985 ging die Stromerzeugung aus Braunkohle um knapp 7 % zurück, Herr Wallmann, aus Steinkohle um 3,5%, während Atomstrom um über 36% zunahm. Diese Entwicklung setzt die Bundesregierung auch nach Tschernobyl fort, unter anderem mit der Inbetriebnahme von Brokdorf, koste es, was es wolle, im wahrsten Sinne des Wortes. Wohlgemerkt, ich spreche nur von den Kosten und nicht von den Sicherheitsproblemen der Atomenergie.Bleiben wir streng bei den Kosten. Ich habe interessante Zahlen vorliegen, die wir sorgfältig nachgeprüft haben. Schauen wir uns einmal an, was Atomstrom wirklich kostet, Herr Wallmann.Die Kilowattstunde Strom aus dem Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich, das ebenfalls in diesen Tagen in Betrieb genommen wurde, dann wieder her-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18465
Lennartzausgenommen wurde, kostet 25 Pf. Die Kilowattstunde Strom aus dem Atomkraftwerk Brokdorf kostet mindestens 13 Pf ohne Nachfolgekosten. Die Kilowattstunde Strom aus einem neuen, entstickten und entschwefelten Braunkohlekraftwerk ähnlicher Größe kostet 11 N, Herr Kollege Beckmann. Das ist weit um die Hälfte weniger als MülheimKärlich.
Das ist die Wirklichkeit, Herr Beckmann. Selbst wenn Sie eine Mischkalkulation aus Braun- und Steinkohle machen, ist der Kostenvorteil gegenüber dem Atomstrom noch günstiger. Die Kilowattstunde, Herr Kollege, aus einem neuen, entstickten und entschwefelten Steinkohlekraftwerk kostet 17,5 Pfennig. Der Mischpreis bei den Kohlekraftwerken liegt also bei 14,25 Pfennig. Der Mischpreis bei den Atomkraftwerken Brokdorf und Mülheim-Kärlich liegt bei 19 Pfennig, Herr Kollege. Das sind fast 5 Pfennig pro Kilowattstunde mehr. Diese Rechnung geht also zugunsten der Kohle aus. So sieht das aus.
— Wenn Sie diese Zahlen anzweifeln, Herr Kollege, sei Ihnen mit einem Hinweis geholfen. Weder das RWE, das Mülheim-Kärlich betreibt, noch die Braunkohlekraftwerke im rheinischen Revier noch die Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke noch das Deutsche Atomforum oder wer auch immer sachkundig sein mag und sich sonst gern äußert, haben diese Zahlen bis zum heutigen Tag dementiert bzw. korrigiert.
Jeder, der Überblick über die Kostenstruktur der deutschen Stromerzeugung hat, wird Ihnen diese Zahlen bestätigen, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, weil er sonst nämlich berufliche Nachteile befürchten muß, meine Damen und Herren.
Die Energiepolitik der Bundesregierung und der Stromkonzerne setzt sich wider besseres Wissen über die wirklichen Kostenverhältnisse bei der Stromerzeugung hinweg, nicht nur mit der Inbetriebnahme von Brokdorf. In ihrem Energiebericht spricht die Bundesregierung von einem — ich zitiere, Herr Präsident — beachtlichen Kostenvorteil der Kernkraftwerke in der Grundlast. Von der Braunkohle heißt es 53 Seiten weiter lapidar, daß sie — ich zitiere — besonders wettbewerbsfähig sei. Wem gegenüber wettbewerbsfähig, wird geflissentlich verschwiegen. Das ist keine vornehme, keine zurückhaltende Formulierung; das ist eine bewußte irreführende Bezeichnung für den Energieträger Braunkohle, mit dem der Strom halb so teuer produziert wird wie mit der Atomenergie.
Bundespräsident von Weizsäcker hat im Zusammenhang mit der Atomenergie vor einigen Tagen gesagt — ich zitiere —: „Wer könnte verantwortlich behaupten, es kann, muß und wird alles so bleiben, wie es heute ist?" Man muß ihm leider antworten: Diese Bundesregierung behauptet das. Und sie tut mehr: Sie maßt sich an, langsam und stetig den Grundpfeiler einer sicheren, verfügbaren, preiswerten und unabhängigen nationalen Energieversorgung zu zerstören, nämlich die deutsche Kohle,
und sie weckt mit ihrer Atompolitik bei Millionen von Menschen Existenzsorgen, Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz, Sorgen um den Arbeitsplatz der Kinder, Sorgen auch um die Gesundheit, um das Leben.
— Entschuldigen Sie bitte, hier geht es auch um Leben und Gesundheit bei einem Atomunfall. Mit der Inbetriebnahme von Brokdorf wird diese Irrlehre der Atomwirtschaft weiter fortgesetzt.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr Senator Kuhbier, ich möchte Sie einmal fragen: Können Sie tatsächlich sagen, daß Brokdorf heimlich in Betrieb genommen worden ist? Können Sie das tatsächlich behaupten, wie Sie es eben in Ihrer Rede getan haben? Können Sie das tatsächlich behaupten?
Ich habe hier einen Brief, datiert vom 13. August dieses Jahres, also gerade zwei Monate alt. Es ist ein Brief der Hamburgischen Electricitäts-Werke, die sich — vom Stimmrecht her gesehen — zu 100 % im Besitz der Hansestadt Hamburg befinden. Zwar nicht im Briefkopf, aber immerhin in der Fußleiste steht „Vorsitzender des Aufsichtsrats: Senator Jörg Kuhbier". In diesem Brief wird ganz vehement gefordert, daß Brokdorf ans Netz gehen soll.
Die Begründung dafür ist gut, Herr Senator: „Das Kernkraftwerk Brokdorf wird für unser Versorgungsgebiet weitgehend das kohlegefeuerte Kraftwerk Wedel ersetzen."Was das bedeutet, das wissen diejenigen, die — wie Frau Roitzsch — in Hamburg oder in der Umgebung von Hamburg wohnen. Die wissen sehr gut, was es bedeuten würde, wenn endlich einmal dieser Stinker Wedel verschwinden würde.
Nun behaupten Sie, Herr Senator, obwohl dieser Brief von Ihrem Unternehmen stammt, Brokdorf sei heimlich oder gar klammheimlich in Betrieb ge-
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18466 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Uldallnommen worden. Das verstehe ich alles nicht, Herr Senator.
Man kann ja immer am besten durch diejenigen Argumente überzeugen, die der Betreffende selber bei anderer Gelegenheit vorgetragen hat. Deswegen möchte ich die Argumentation des Herrn Senators bzw. seines Unternehmens hier wiederholen. In dem Brief steht:Für das Jahr 1987 erwarten wir durch den Einsatz des Kernkraftwerks Brokdorf eine Reduzierung der Emissionen unserer konventionellen Kraftwerke um ca. 2 700 t SO2 und ca. 4 000 t NOx.Ist das nichts, Herr Senator? Wäre es nicht eine hervorragende umweltpolitische Verbesserung für unsere Vaterstadt, wenn wir Brokdorf anschalten würden?
Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie Sie, der Sie sonst engagiert für die Umwelt eingetreten sind, in diesem Fall eine solche Kehrtwendung innerhalb weniger Wochen vollziehen können.
Herr Kollege Lennartz, Sie sagen, es hätte bei den Wirtschaftlichkeitsberechnungen keinen Widerspruch dagegen gegeben, daß Strom aus Kernenergie teurer sei als aus Kohlekraftwerken.
Hier zitiere ich Hamburgische Electricitäts-Werke, Aufsichtsrat Senator Kuhbier:
Durch den Einsatz des Kernkraftwerks Brokdorf an Stelle von fossil gefeuerten Kraftwerken ergeben sich für die HEW Ersparnisse an Brennstoffkosten von etwa 2,25 Mio. DM.
Lachen Sie ruhig über diesen Brief.
Damit lachen Sie über den Senator Kuhbier. Insofern ist das eine traurige Sache.
Die Forderung der Hamburger SPD
nach einer Nichteinschaltung des KernkraftwerksBrokdorf bedeutet für unsere Stadt, ohnehin mitschweren Standortnachteilen versehen, weitere große Standortnachteile.
Früher hat Hamburg eine Spitzenstellung unter den wirtschaftlich starken Ländern eingenommen.
Heute sind wir in einer Schlußlichtposition.
Bei der Arbeitslosenquote stand Hamburg früher immer besser als der Bundesdurchschnitt da. Heute ist Hamburg um 50 % schlechter als der Bundesdurchschnitt.
Hier wird also genau der falsche Weg eingeschlagen. Er verschlechtert weiter unsere Standortbedingungen.
Herr Duve hat einen Griff in die Geschichte getan. Ich habe einen Zeitungsausschnitt mitgebracht. Darin steht: „Bundeskanzler zum Atomkraftwerk: Brokdorf muß gebaut werden."
Das ist nicht der Bundeskanzler Helmut Kohl, es ist der Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Dieser Bundeskanzler hat hier gesagt: Ich sage euch, eure Arbeitsplätze hängen davon ab, ob wir genug Kraftwerke bauen oder nicht. — Genau an diesem Wort hat sich nichts geändert, auch wenn dieser Zeitungsausschnitt inzwischen zehn Jahre alt ist.
Der gleiche Helmut Schmidt sollte in der laufenden Woche den SPD-Wahlkampf eröffnen. Obwohl überall die Plakate aufgehängt waren und die Veranstaltung angekündigt wurde, hat Helmut Schmidt seinen Kollegen in Hamburg eine schallende Ohrfeige versetzt; er hat die Veranstaltung abgesagt. Hat er Ihnen diese schallende Ohrfeige nicht deswegen versetzt, weil er nicht einen Wahlkampf einleiten wollte, in dessen Mittelpunkt die Abschaltung von Brokdorf stehen sollte, genau des Kraftwerkes, das er damals von der schleswig-holsteinischen Regierung engagiert gefordert hat?
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18467
Ich stelle deswegen abschließend fest: Mit dieser schallenden Ohrfeige haben Sie die Quittung für Ihre verfehlte Energiepolitik bekommen.
Das Wort hat noch einmal der Hamburger Senator Herr Kuhbier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Satz auf die Ausführungen von Herrn Uldall eingehen. Herr Uldall, Sie sind doch Wirtschaftsfachmann. Sie wissen ganz genau, welche Einflußmöglichkeiten man bei Aktiengesellschaften hat. Hamburg hält übrigens nicht 100 %, sondern 71,6%.
Aus dem Jahre 1974 gibt es einen Partnerschaftsvertrag zwischen den HEW und der Preag und der NWK, der der HEW verbindlich auferlegt, alles zu tun, damit das Werk so schnell wie möglich ans Netz gehen und praktisch produzieren kann. Das ist eine Verpflichtung, der die HEW nachgekommen ist. Die Rechnung, die die HEW aufgemacht hat, ist eine rein betriebswirtschaftliche auf Grund entsprechender vertraglicher Verpflichtungen. Ich habe Ihnen ausgeführt, daß ich nicht betriebswirtschaftlich argumentiere, sondern volkswirtschaftlich, ökologisch und energiepolitisch.
Das ist ein großer Unterschied.
Noch ein Wort zu Wedel. Wir haben es durch eine Reihe von Maßnahmen geschafft, daß Wedel, das 1983 noch 50 000 Tonnen SO2 emittiert hat, in diesem Jahr nur noch 17 000 Tonnen SO2 emittiert und in drei oder vier Jahren nur noch 5 000 Tonnen SO2 emittieren wird. Das ist also eine Reduzierung auf ein Zehntel innerhalb von vier Jahren. Das wäre auch ohne Brokdorf durchaus möglich.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist fast auf den Tag genau sechs Monate her, daß wir alle, auch in diesem Parlament, von der bislang größten Nuklearkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl betroffen gewesen sind. Wer sich den Debattenstil in diesem Hohen Hause und auch in der deutschen Öffentlichkeit unmittelbar nach der Nuklearkatastrophe noch einmal vor Augen hält und mit dem vergleicht, was sich heute hier darstellt, muß festhalten, daß das, was als neue Nachdenklichkeit bezeichnet worden ist, wirklich nur von kurzer Dauer war.
Wenn ich heute am Ende der Aktuellen Stunde die Positionen festhalten soll, muß ich sagen: Die Bundesregierung, an der Spitze Herr Wallmann, bleibt auf Atomkurs, ohne Wenn und Aber.
Die nach Tschernobyl zur Schau gestellte Nachdenklichkeit war nichts als ein Täuschungsmanöver, ein Placebo aus Wallmanns Atomapotheke für die beunruhigten Bürger.
Die Entscheidungen der Bundesregierung zum Schnellen Brüter in Kalkar, zu Wackersdorf und zu Brokdorf gehören alle in eine Reihe und belegen dies: Die Bundesregierung hält ohne Wenn und Aber an ihrem Atomkurs fest.
Dabei, meine Damen und Herren — und jetzt wende ich mich auch an Sie, Herr Beckmann —, ist bei keiner dieser drei Anlagen eine energiepolitische Notwendigkeit gegeben. Weder der Brüter noch die Wiederaufarbeitungsanlage noch Brokdorf sind energiepolitisch, energiewirtschaftlich, industriepolitisch, forschungspolitisch geboten.
Es ist bei keiner dieser drei Anlagen auch nur der geringste gesellschaftliche Nutzen erkennbar.
Feststeht aber, meine Damen und Herren: Mit jeder dieser Anlagen wächst das Atomrisiko, und mit jeder dieser Anlagen — auch für Brokdorf gilt dies — bürden wir den nach uns folgenden Generationen ohne jede Not zusätzliche irreversible Gefahren auf,
ein Gesichtspunkt, meine Damen und Herren, den Sie von der Koalition, nicht in einer Silbe, nicht in einem Wort überhaupt gestreift haben.
Was Sie heute demonstrieren, ist kein Ausdruck energiepolitischer Vernunft, das ist die Demonstration politischer Macht. Dies ist ein irrationales Signal an die Atomlobby: Wir lassen uns von unserem Atomkurs durch besorgte Bürger nicht abbringen.
Eines freilich, Herr Kollege Wallmann, muß man Ihnen lassen — da sind Sie Spitze —: Sie sind kein schlechter Verkäufer. Im Gegenteil, Sie sind ein guter Verpackungskünstler, eine Art Cristo der deut-
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Schäfer
schen Politik. Nur, Cristo verpackt etwas mit Substanz, im Gegensatz zu Ihnen.
Um das Kernkraftwerk Brokdorf akzeptabler werden zu lassen, haben Sie, Herr Wallmann, im Verein mit der schleswig-holsteinischen Landesregierung zunächst die Entscheidung nach Tschernobyl verzögert. Die von Ihnen angeordnete Sicherheitsüberprüfung sollte Beruhigung bringen, eine Sicherheitsüberprüfung übrigens, die von demselben Sachverständigengremium durchgeführt worden ist, das seit zehn Jahren das Kernkraftwerk Brokdorf als sicher und genehmigungsfähig betrachtet hat.
Warum soll eigentlich der Bürger erwarten, daß die Gremien, die zehn Jahre lang ihr Placet, was die Sicherheit angeht, zum Atomkraftwerk gegeben haben, plötzlich ihre Auffassung änderten?
Ich sage noch einmal: Auch das von Ihnen erfundene Notfallventil ändert nichts am Restrisiko. Das Restrisiko bleibt. Und Biedenkopf hat recht: Dies gilt grundsätzlich auch für die deutschen Kernkraftwerke. Das Neue in Tschernobyl war, so Biedenkopf, daß aus einem theoretischen Restrisiko tödliche Wirklichkeit geworden ist.
Und niemand kann für die Bundesrepublik Deutschland einen ähnlichen Unfall bei der sogenannten zivilen Nutzung der Atomenergie ausschließen, auch Sie nicht, Herr Kollege Wallmann.
Schauen wir mal das Notfallventil an, diese Zukkerpille zur Beruhigung der Bürger, die Bedenken haben. Wenn es tatsächlich so wäre, Herr Kollege Wallmann, daß dadurch das Kernkraftwerk Brokdorf katastrophentauglich, wie Ihre Leute es haben verkünden lassen, gemacht werden soll, wenn tatsächlich eine Kernschmelze bei langsamem Druckaufbau dadurch verhindert werden sollte, eine Kernschmelze, die nach Ihrer Philosophie ja im Grunde gar nicht eintreten darf, wenn es also tatsächlich so wäre, daß dieses Notfallventil gegen eine von mehreren Katastrophenvarianten helfen würde, wäre es doch Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, bei allen deutschen Kernkraftwerken dieses Notfallventil als gesetzliche Auflage vorzuschreiben. Davon ist keine Rede.
Davon ist bislang nicht die Rede, aber wir werden Sie beim Wort nehmen.Ein letzter Satz dazu: Warum sagen Sie dem Bürger nicht, daß auch mit einem Notfallventil bei einer Kernschmelze mit langsamen Druckaufbau — —
— Herr Grünbeck, Sie können sich nachher zu Wort melden.
Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ja. — Dadurch wird nur für eine der möglichen Katastrophenursachen angeblich oder tatsächlich Vorsorge getroffen. Was ist aber — —
Herr Abgeordneter, Sie können jetzt nicht mehr argumentieren. Die fünf Minuten sind um.
Kurzum, meine Damen und Herren, das Fazit ist: Die Bundesregierung bleibt auf Atomkurs. Auch das jüngste Mitglied der Bundesregierung, Bundesatomminister Wallmann, — —
Herr Abgeordneter, beenden Sie bitte Ihre Ausführungen.
Auch er zeichnet sich durch Lernunfähigkeit aus.
Ich bedanke mich sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ausstieg, Umstieg, Umsteuern — Herr Kollege Schäfer, Ihre Ausführungen machen deutlich, daß bei so viel Wortbrei der Durchstieg fehlt. Ich kann nur vermuten, daß Sie bei all diesen Worthülsen, die zum Thema „Kernenergie" von Ihnen fabriziert werden, selber nicht wissen, was Sie eigentlich wollen. Aussteigen, Umsteigen, Umsteuern, es ist ein Wortschwall; es ist, Herr Duve, ein semantischer Beitrag, der von der Sache ablenken soll. Darin wird auch das euphorische Wunschdenken der Opposition deutlich. Wir können heute feststellen: Sie stehen in der Tat mit beiden Beinen fest in der Luft.
Kernkraftwerk Brokdorf, das ist Ihr neues Reizthema. Sie sagen: Brokdorf muß abgeschaltet werden. Dort, wo Sie noch in der Verantwortung stehen, in Hessen, blasen Sie die Backen auf und vergessen das Pfeifen; hier aber bietet sich die Gelegenheit, wieder einmal auf die Union loszugehen.Ihnen ist jede Gelegenheit recht, jede Gelegenheit wird von Ihnen wahrgenommen, den Tschernobyl-Effekt warmzuhalten. Wo sind Ihre Sachargumente? An deren Stelle nur Verdächtigungen, Herr Kollege Schäfer! Wo sind echte Alternativen?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18469
SchmidbauerWie wollen Sie den berechtigten Anliegen unserer Bürger gerecht werden? Wie wollen Sie energiepolitisch unsere Zukunft gestalten? Vielleicht mit einer billigen Dreimonatskonzeption, die Sie vorgelegt haben? Sie geben keine Antwort. Sie stellen keine kritischen Fragen, sondern haben fertige Pseudoalternativen, Scheinalternativen auf Vorrat, die aber jedem nachdenklichen Bürger deutlich machen, welch verantwortungslosen energiepolitischen Zickzackkurs Sie nach Tschernobyl verfolgen.
Sie polemisieren gegen den zuständigen Minister. Herr Kollege Schäfer, warten Sie einmal ab, was sich aus unseren Anstrengungen ergibt, aus den Anstrengungen dieses verantwortlichen Ministers, die Sicherheit zu erhöhen. Sie werden sich noch wundern! Sie müssen nur einmal die Dinge verfolgen und müssen einmal abwarten, was alles noch geschieht!Aber diese Polemik soll Ihnen helfen, von Ihren eigenen politischen Zielvorstellungen aus den 70er Jahren abzulenken und sie zu verdrängen. Das war j a heute wieder deutlich. Der Herr Senator zitiert alle möglichen Politiker; den ehemaligen Bundeskanzler zitiert er nicht.Nach den Zwischenrufen von Frau Blunck möchte ich jetzt doch einmal sagen, was in diesem Unternehmen, in dem Herr Kuhbier Aufsichtsratsvorsitzender ist, in einem neuen Schreiben festgestellt wird. Da geht er erst einmal auf die Umweltsituation ein, die sich mit Brokdorf verbessert, und dann heißt es in diesem Schreiben weiter:Sowohl die Kostenersparnisse als auch die Verminderung der Schadstoffemission entsprechen unserem wesentlichen Unternehmerziel,
unsere Kunden unter Wahrung von Umweltschutzbelangen sicher mit preisgünstiger Energie zu versorgen.Das war schon die Antwort auf Herrn Lennartz.
— Aber, Frau Kollegin Blunck, was noch schlimmer ist: Nicht einmal beim Ausstieg sind Sie konsequent. Von einem klaren Ja bis zu einem klaren Nein ist bei Ihnen alles vorhanden. Wir, die CDU/ CSU, wollen die Sicherheit unserer Kernkraftwerke wesentlich erhöhen. Wir wollen und werden mit dazu beitragen, daß unsere Nachbarn auch ihre Kernkraftwerke ständig sicherer machen. Wir wollen unsere Forschungsanstrengungen verstärken, um alternative Energieformen weiterzuentwickeln. Wir wollen und werden im Bereich der Vorsorge alles tun, um deutlich zu machen, daß wir uns mit dem Argument, unsere Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt, nicht zufrieden geben, sondern nach neuen Antworten suchen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich habe eine Amtliche Mitteilung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um die erste Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Änderung des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen und des Asylverfahrensgesetzes — Drucksache 10/6151 — erweitert werden. Dieser Zusatzpunkt soll nach Punkt 17 a und b aufgerufen werden. Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit Fünf-Minuten-Beiträgen vereinbart worden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Roth, Dr. Jens, Rapp , Bernrath, Daubertshäuser, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Kretkowski, Dr. Kübler, Müller (Schweinfurt), Oostergetelo, Pfuhl, Ranker, Stahl (Kempen), Dr. Schwenk (Stade), Frau Weyel, Wolfram (Recklinghausen), Dr. Vogel und der Fraktion der SPDBenachteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen— Drucksachen 10/5784, 10/6089 —b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Doss, Hauser , Wissmann, Hinsken, Landré, Dr. Unland, Pohlmann, Kraus, Hinrichs, Schulze (Berlin), Frau WillFeld, Lenzer, Austermann, Bayha, Dr. Becker (Frankfurt), Dr. Blank, Bohlsen, Borchert, Dr. Bugl, Carstensen (Nordstrand), Dr. Czaja, Eigen, Engelsberger, Feilcke, Fellner, Funk, Frau Geiger, Dr. Götz, Haungs, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Höffkes, Dr. Hoffacker, Frau Hoffmann (Soltau), Hornung, Dr. Hüsch, Jäger (Wangen), Jagoda, Dr. Jobst, Jung (Lörrach), Kalisch, Dr:Ing. Kansy, Keller, Dr. Kunz (Weiden), Dr. Lammert, Lattmann, Dr. Laufs, Linsmeier, Löher, Louven, Lowack, Frau Männle, Milz, Dr. Möller, Müller (Wadern), Niegel, Dr.-Ing. Oldenstädt, Frau Pack, Rode (Wietzen), Dr. Rose, Rossmanith, Ruf, Sauer (Stuttgart), Sauter (Epfendorf), Sauter (Ichenhausen), Schartz (Trier), Schemken, Schmidbauer, Schreiber, Dr. Schroeder (Freiburg), Schulhoff, Schwarz, Dr. Schwörer, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Spilker, Dr. Stark, Stockhausen, Straßmeir, Strube, Susset, Frau Verhülsdonk, Graf von WaldburgZeil, Wilz, Wimmer (Neuss), Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Dr. Graf Lambsdorff, Bredehorn, Dr. Solms, Gattermann, Dr. Feldmann, Dr. Haussmann, Frau Seiler-Albring, Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Dr. Weng (Gerlingen), Cronenberg (Arnsberg) und der Fraktion der FDP
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18470 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Vizepräsident WestphalLage und Perspektiven des selbständigen Mittelstandes in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 10/5812, 10/6090 —Zu Tagesordnungspunkt 17 a liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6164 vor. Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b und eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antworten der Bundesregierung auf die Großen Anfragen der SPD und der Koalitionsparteien zur Mittelstandspolitik zeigen in bemerkenswerter Klarheit, daß die Selbständigen von dieser Bundesregierung nicht viel zu erwarten haben. Die vom gesamten Mittelstand geforderte steuerfreie Investitionsrücklage wird rundheraus abgelehnt. Maßnahmen für die im ruinösen Wettbewerb stehenden Einzelhändler hält die Bundesregierung — ich zitiere — „weder für erforderlich noch für angezeigt". Zwei der erfolgreichsten Förderprogramme, das Eigenkapitalhilfegesetz und das Personalkostenzuschußgesetz für Forschung und Entwicklungsfragen sollen, so deutet die Antwort an, nach der Wahl verschwinden. Das sind die Kernaussagen der Bundesregierung zu wichtigen Bereichen der Mittelstandspolitik.
Meine Damen und Herren, die Selbständigen in Handel, Handwerk, in den kleinen und mittleren Unternehmen der Industrie und in den freien Berufen sind ohne Zweifel das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Sie erbringen wichtige Leistungen z. B. für die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, für den Wettbewerb, für die Forschung und Entwicklung, für Innovation und insbesondere auch in der beruflichen Ausbildung und für den Arbeitsmarkt. Sie bilden über 80 % aller Lehrlinge in der Bundesrepublik aus und sie beschäftigen zur Zeit rund zwei Drittel aller Arbeitnehmer. Meine Damen und Herren, war vor mehreren Jahrzehnten die Schwerindustrie scheinbar der Schlüssel der volkswirtschaftlichen Entwicklung und schien noch vor einigen Jahrzehnten der multinationale Konzern der Träger der wirtschaftlichen Entwicklung, so wissen wir heute, welch großen und entscheidenden Beitrag die kleinen und mittleren Unternehmen für die ständige Erneuerung unserer Volkswirtschaft leisten.
Sicherlich wäre es, meine Damen und Herren, eine Illusion zu glauben, daß Basisinnovationen in unserer Volkswirtschaft in den kleinen und mittleren Unternehmen stattfinden, obgleich das auch schon in der Wirtschaftsgeschichte vorkam. Aber die vielfältige Umsetzung der grundlegenden Innovation findet besonders in kleinen und mittleren Unternehmen statt. Um ein Beispiel zu nennen: Sicherlich ist die Entwicklung des elektronischen Hochleistungsspeichers Megabit auf das Großunternehmen angewiesen. Wir müssen sogar zustimmen, daß Siemens und Philips zusammenarbeiten. Aber die Umsetzung dieser Technik findet indessen in den vielen kleinen Unternehmen nicht nur der Industrie, sondern auch im Handwerk, auch im Dienstleistungsgewerbe statt. Das ist eine neue Tendenz der Wirtschaftsgeschichte, daß die Umsetzung vor allem auch dezentral erfolgt.
Ohne die Mitarbeit und die Leistungsbereitschaft der Selbständigen sind die zentralen Herausforderungen, nämlich die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und die ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft, nicht zu bewältigen.
Die Bundesregierung bietet wenig konkrete Hilfestellung für diese Selbständigen bei der Überwindung ihrer spezifischen Nachteile. Dafür haben wir um so mehr ideologische Lippenbekenntnisse zum Mittelstand und vor allem Selbstzufriedenheit.
Die Einleitung zu den Antworten der Bundesregierung trieft geradezu von Eigenlob über scheinbare Erfolge der Wirtschaftspolitik.
Meine Damen und Herren, richtig ist, daß diese Bundesregierung die besten internationalen Voraussetzungen hatte. Sie hatte geradezu eine Traumkonstellation, was die Außenwirtschaft anbetrifft.
1984/1985 wirkte der hohe Dollarkurs geradezu als Exportdroge, 1985/1986 wirkten die Ölpreissenkungen wie ein großes nationales Nachfrage- und Beschäftigungsprogramm. Es ist schon ein Kunststück, in dieser Situation neue Pleiterekorde zustande zu bringen.
1986 werden es 14 000 Pleiten im Unternehmensbereich sein, 1985 waren es 13 500, 1981, im letzten vollen Regierungsjahr der sozialliberalen Koalition, waren es 8 500, also 5 000 weniger.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser bedrückenden Zahlen ist der regierungsamtlich verbreitete Optimismus zynisch. Diese Bundesregierung hat die einmalige Chance eines weltweiten Konjunkturaufschwungs nicht nützen können. Sie hat ihn angesichts der immer noch mehr als 2 Millionen Arbeitslosen im vierten Jahr des Aufschwungs regelrecht verspielt.
Leidtragende sind nicht nur die genannten Arbeitslosen, Leidtragende sind auch viele kleine Selbstän-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18471
Rothdige, an denen die wirtschaftliche Erholung in den letzten drei Jahren überwiegend vorbeigegangen ist.
Das gilt insbesondere für so typisch mittelständisch strukturierte Wirtschaftszweige wie Handel, Handwerk und Gaststätten. In diesen Wirtschaftsbereichen ging der reale Umsatz 1983, 1984 und 1985 zurück oder er stagnierte. Folgerichtig heißt es deshalb im Verbandsbericht der DEHOGA: „Die erwartete und angekündigte nachhaltige Entlastung der mittelständischen Wirtschaft und die damit erhoffte Verbesserung der Rahmenbedingungen ist bisher weitgehend auf der Strecke geblieben. Auch der vielgepriesene wirtschaftliche Aufschwung erfaßte nicht die breiten Bereiche der mittelständischen Wirtschaft und des Gastgewerbes." Das ist ein Zitat der DEHOGA, nicht aus der Sozialdemokratischen Partei.Eine der Hauptursachen für diese unbefriedigende Entwicklung lag auch darin, daß die Bundesregierung die Massenkaufkraft durch Steuern und Abgaben in Rekordhöhe auf die Arbeitnehmereinkommen sowie durch drastische Kürzungen der Renten und Sozialleistungen nachhaltig geschwächt hat. Dies muß zwangsläufig zu Auswirkungen auf mittelständische Betriebe führen, die in besonderem Umfang von der Binnennachfrage, also von der Kaufkraft der inländischen Kunden, abhängig sind.Hinzu kam, daß die Finanzpolitik dieser Bundesregierung die Investitionsquote des Bundeshaushaltes kontinuierlich gesenkt hat. Als sich für 1986 eine wirtschaftlich etwas bessere Lage für diese Wirtschaftsbereiche ergeben hat, so war dies nicht der Regierungskunst dieser Koalition, sondern dem drastisch gesunkenen Ölpreis zu verdanken.Angesichts dieser Sachlage muß man den Mut der Bundesregierung geradezu bewundern, die in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage ankündigt, sie habe eine besonders erfolgreiche Politik zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen und freiberuflich Tätiger betrieben.Viele Selbständige bewerten dies übrigens völlig anders. Ich möchte Ihnen aus der Presse der vergangenen Wochen einige Schlagzeilen vorhalten. „Nord-Handwerk", Juni 1986: „Die Kleinen zahlen die Zeche."
„Welt der Wirtschaft", September 1986, „FAZ": „Die freien Berufe fühlen sich von der CDU im Stich gelassen." .,,Handelsblatt", August 1986: „Bonn will den Mittelstand noch mehr benachteiligen." Und als Krönung: „Der Mittelstand in Deutschland wird getreten und gefoult — Mittelstand im Abseits." Aufruf der Mittelstandsinitiative Deutschland in der „Welt am Sonntag", August 1986.
Meine Damen und Herren, wir haben immer wieder kritisiert, daß diese Bundesregierung nichts zurBelebung des Binnenmarktes beigetragen, sondern ihn sogar abgetötet hat: Wir haben hier im Bundestag präzise Vorschläge gemacht. Ich nenne an erster Stelle unser Sondervermögen „Arbeit und Umwelt". Diese Umweltinvestitionsoffensive wäre gerade in die kleinen und mittleren Betriebe der Bauwirtschaft und der damit verbundenen Wirtschaft gegangen.
Sie haben das abgelehnt, obgleich die Notwendigkeit dazu besteht.Da die Bundesregierung mit der Zahl der Pleiten nun offensichtlich ganz schlecht abschneidet, versucht sie ihr Glück mit Zahlen zur Existenzgründung. Sie versucht, den Eindruck zu erwecken, unter ihrer Regierungsverantwortung habe eine geradezu große Existenzgründungswelle eingesetzt.
Auch hier ist es notwendig, einmal die Fakten zurechtzurücken. Ich lege dabei die Zahlen vor, die die Bundesregierung auf der Basis der Daten des Statistischen Bundesamtes in der Antwort auf unsere Anfrage selbst vorgelegt hat. Während die Zahl der Unternehmensgründungen in den Jahren der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung von 1979 bis 1982 von 156 000 auf 270 000 gestiegen ist, also um 75 % in vier Jahren, stagniert die Zahl der Unternehmensgründungen — trotz Konjunkturerholung, trotz Aufschwung, wie Sie das nennen — seither bei unter 300 000. Es gibt keine Zuwachsraten mehr. Der positive Saldo von Unternehmensgründungen und Unternehmensliquidationen war im letzten Jahr unserer Regierungsverantwortung 63 000. Seitdem ist dieser Saldo kontinuierlich bis 1985 auf nur noch 34 000 netto zurückgegangen — und das im dritten Jahr des Konjunkturaufschwungs! An diesen Feststellungen können all die Statistiken, die Sie hier verbreiten, nichts ändern.Meine Damen und Herren, die Antworten der Bundesregierung auf die Großen Anfragen zur Mittelstandspolitik sollten zur Pflichtlektüre jedes Selbständigen werden.
Die Bundesregierung behauptet, sie habe durch ihre Steuerpolitik kleine und mittlere Unternehmen gezielt entlastet.
Tatsache ist, daß die dicksten Brocken der Steuergeschenke dieser Bundesregierung geradezu auf die Großunternehmen gezielt waren. Das bezieht sich vor allem auf die Vermögenssteuersenkung, die überwiegend auf die Großbetriebe gegangen ist.Die Steuerentlastungen dieser Bundesregierung haben also in erster Linie dazu geführt, die Großunternehmen noch zu stärken.
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18472 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
RothOffensichtlich will die Bundesregierung diese Politik fortsetzen. Meine Damen und Herren, was soll es denn anderes sein, wenn das Hauptziel Ihrer Steuerpolitik die Absenkung des Spitzensteuersatzes ist? Wir wissen, daß die überwiegende Mehrheit der Selbständigenhaushalte nicht im Spitzensteuersatz liegt, sondern etwa bei 40 %. Warum nicht unser Tarifverlauf, der gerade in diesem Bereich Entlastung in großem Umfange bietet?
Während die Bundesregierung in ihrer Antwort die Investitionsrücklage knallhart ablehnt, ziehen führende Unionspolitiker durch die Lande und verkünden, dieses steuerpolitische Instrument sei auch für sie unverzichtbar. — Herr Hinsken, steuerfreie Investitionsrücklage! Alle, voran der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Herr Hauser, der — soweit ich weiß — heute noch reden wird, gefolgt von allen übrigen Handwerksvertretern, vom Vizepräsidenten des Deutschen Handwerks Ruf bis hin zu allen Mittelstandspolitikern, sprechen von der steuerfreien Investitionsrücklage.Meine Damen und Herren, Herr Hauser, Herr Hinsken, wir geben Ihnen heute eine schöne Möglichkeit, bei der steuerfreien Investitionsrücklage ja zu sagen. Wir fordern eine spezielle Abstimmung zum Punkt 1 unserer Vorlage. Darin steht nur der Satz: Steuerfreie Investitionsrücklage soll eingeführt werden. Da werde ich einmal Ihr Abstimmungsverhalten hier im Raum beobachten!Die Bundesregierung behauptet, sie hätte die Wettbewerbssituation der kleinen und mittleren Unternehmen verbessert. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf ihre Novelle zum Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Tatsache ist, daß im Hearing im Wirtschaftsausschuß des Bundestages kein Verbandsvertreter diese Novelle unterstützt hat. Die Bundesregierung hat die Konzentrationstendenzen in der Wirtschaft nicht nur nicht bekämpft, sondern z. B. durch die von ihr eingeführte steuerliche Begünstigung beim Aufkauf insolvenzgefährdeter Unternehmen sogar noch verschärft.Meine Damen und Herren, angesichts der Tatsache, daß Konzentration und Machtmißbrauch in der Wirtschaft ständig zunehmen — das Sechste Monopolgutachten kommt eindeutig zu dieser Aussage —, halte ich das Nichtstun der Bundesregierung in der Wettbewerbspolitik für völlig unverantwortlich. Und wenn man hört, daß man auch in der nächsten Legislaturperiode keine durchgreifende Novelle zum Kartellgesetz zu erwarten hat, dann zeigt sich hier, daß das Abwarten und das Zulassen der Konzentration weiter fortgesetzt werden würde, falls Sie die Macht dazu hätten.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung kündet in ihren Antworten an, daß sie das unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung entwickelte Eigenkapitalhilfe- und Personalkostenzuschuß-Programm für Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen kleiner und mittlerer Unternehmen nach der Wahl praktisch abschaffen will. Ich richte mich nun an die Bundesregierung, vertreten durch Herrn Grüner: Herr Grüner, es ist doch völlig zutreffend, daß die von uns gemeinsam — ich sage bewußt: auch von den Personen her — damals erarbeiteten Programme in den letzten Jahren erheblich zur Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen beigetragen haben: beim Gründen, beim Sichdurchsetzen und beim Forschen und Entwickeln. Weshalb setzt jetzt die Subventionsschere gerade an diesem Punkt an? Weshalb hat man Millionen und Abermillionen beispielsweise in der Landwirtschaft in Großbetriebe gesteckt?
Weshalb stärkt man nicht Forschung und Entwicklung im kleinen und mittleren Unternehmen, gerade in einer Phase, in der wir von der Elektronik her einen Entwicklungsschub haben? Warum kündigen Sie hier das Abschneiden an? Ich glaube, daß das ein typisches Beispiel dafür ist, wie sehr Sie sich in einer konzeptionslosen Subventionsdiskussion verfangen haben.Sie alle in der Koalition haben heute eine gute Chance, sich öffentlich von diesem Vorhaben der Bundesregierung, dem Abschneiden der Personalkostenzuschüsse und dem Abschneiden der Eigenkapitalhilfeprogramme zu distanzieren. Sie können — selten genug in einer Parlamentsdebatte — durch Ihre Beiträge hier etwas verändern. Herr Grüner, Sie können Abstand nehmen von diesem Vorhaben, das in Ihrer Antwort enthalten ist.Die Antworten der Bundesregierung auf die Großen Anfragen zeigen deutlich die Kluft zwischen Wort und Tat in der Mittelstandspolitik. Wir werden Ihnen einen Entschließungsantrag vorlegen, in dem wir unsere Schwerpunkte ganz knapp darstellen: Wir wollen eine steuerfreie Investitionsrücklage — das haben Sie bisher mit gefordert —, wir wollen eine wirksame Sicherung des Wettbewerbs, wir wollen — das hatten Sie über Jahre hinweg mitgetragen — das Eigenkapitalhilfe- und Personalkostenzuschußprogramm weiterführen, und wir wollen eine verbesserte Ausstattung bei Existenzgründung, insbesondere bei freien Berufen.Sie werden Gelegenheit haben, in aller Öffentlichkeit im Deutschen Bundestag deutlich zu machen, ob Sie diese bisher von Ihnen mitgetragenen Punkte innerhalb der nächsten Legislaturperiode im Deutschen Bundestag in den Abstimmungen weiter mittragen.Vielen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Hauser .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin fast gerührt über das, was der Kollege Roth
— ja, nur fast; ich werde Ihnen auch gleich sagen,warum — alles zum Mittelstand vorgetragen hat.Ich muß wirklich sagen: Der Wandlungsprozeß bei
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18473
Hauser
Ihnen in Richtung Mittelstand seit der Zeit Ihrer Opposition ist außerordentlich bemerkenswert,
denn alles das, was Sie hier vorgetragen haben, ist in den zurückliegenden zehn Jahren Gegenstand eingehender Beratungen gewesen. Da waren Sie diejenigen, die am lautesten gegen all das polemisiert haben.
Zu der Zeit, als Sie in der Regierung waren, arrangierten Sie eine Gelbe-Punkte-Aktion gegen den Einzelhandel,
da versuchten Sie, die Belastbarkeit der Unternehmen zu testen, da wurden die Ausbilder als Ausbeuter diffamiert.
Jetzt stellen Sie sich plötzlich hier hin und erzählen den Leuten von der Bedeutung des Mittelstandes, die Sie offenbar erst in den letzten Monaten erkannt haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jens?
Ja, bitte schön, Herr Kollege.
Herr Hauser, würden Sie der Wahrheit die Ehre geben und bestätigen und feststellen, daß während der Zeit der sozialliberalen Koalition die Eigenkapitalhilfe, die Lohnkostenzuschüsse eingeführt wurden und die Vorsteuerpauschale erhöht wurde und dergleichen mehr? Wir haben seinerzeit eine Fülle von mittelstandspolitischen Maßnahmen ergriffen. Stimmt das?
Herr Kollege Jens, würden Sie der Wahrheit die Ehre geben und gleichzeitig akzeptieren, daß Sie in Ihrer Regierungszeit unsere Anträge auf Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage abgelehnt haben, daß wir nur mit Hilfe unserer Mehrheit im Bundesrat
§ 37 a im GWB durchsetzen konnten, weil Sie ihn nicht wollten, daß wir nur mit Hilfe unserer Mehrheit im Bundesrat § 11 Abs. 3 der Baunutzungsverordnung haben novellieren können mit der Einschränkung der großflächigen Einzelhandelsunternehmen
und daß Sie in den Beratungen des Bundestages ständig gegen all diese Maßnahmen waren? Wenn schon Wahrheit, dann alles!
Herr Abgeordneter, da gibt es noch einen Wunsch des Abgeordneten Grünbeck zu einer Zwischenfrage.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Hauser, würden Sie mit mir übereinstimmen, daß das, was der Kollege Jens über die Leistungen der sozialliberalen Regierung in Sachen Mittelstand festgestellt hat, wahr ist, aber daß wir Freien Demokraten das nur gegen den härtesten Widerstand der SPD durchgesetzt haben?
Herr Kollege Grünbeck, ich würde Ihnen empfehlen — bei aller Sympathie, die wir für einander empfinden —, daß Sie diese Frage vielleicht separat mit dem früheren Koalitionspartner austragen.
Ich möchte gerne noch ein paar Bemerkungen zu der Antwort der Bundesregierung machen. Ich stelle fest, daß hier viele interessante, wichtige Daten und Fakten genannt worden sind und daß sie ein zutreffendes Spiegelbild der Bedeutung des Mittelstandes in unserer Volkswirtschaft geben. Aber wir möchten — Herr Staatssekretär, vielleicht sagen Sie das auch Ihrem Minister; ich sage dies gar nicht so als Vorwurf, sondern als eine wichtige Feststellung — die Bedeutung des Mittelstandes nicht auf ökonomische Fragen, auf die Frage von Wettbewerbsrecht und Gewerbesteuer eingeengt sehen, sondern wir sind der Meinung, daß, wenn wir heute über Mittelstand reden, auch die Frage der gesellschaftspolitischen Bedeutung und des Stellenwertes des Mittelstandes in dieser freiheitlichen Gesellschaft eine wichtige Aussage sein muß, die wir unterstreichen möchten.
Wir bestätigen, daß Mittelstandspolitik integraler Bestandteil der Wirtschaftspolitik ist, aber eben nicht nur. Deswegen sind die ökonomischen Daten für uns zwar interessant. Jedoch ist der Mittelstand für uns ein wichtiger, prägender und stabilisierender Faktor unserer freiheitlichen Gesellschaft.
Hier sind die Menschen zum Risiko bereit, sie sind zur Leistung bereit. Sie sind nicht irgendeine Randgruppe, die man so nebenbei einmal irgendwo behandeln kann.Ich will auch gleich auf einen anderen kritischen Punkt zu sprechen kommen, damit das hier nicht so
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18474 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Hauser
aussieht, als wäre das eine mittelstandspolitische Jubelveranstaltung. Herr Staatssekretär, die Bundesregierung sagt zum GWB, daß sie keinen Handlungsbedarf sehe. Ich sage Ihnen ganz klipp und klar, daß wir ihn sehen.
Gerade das, was der Präsident des Bundeskartellamtes, Kartte, gestern in München zu dem Sterben der sogenannten Tante-Emma-Läden und dem weiteren Ausufern der Konzentration im Lebensmittelhandel gesagt hat, ist für uns ein Signal, daß politischer Handlungsbedarf erforderlich ist.
Ich habe überhaupt kein Verständnis für die Monopolkommission, die diesen Konzentrationsprozeß zwar feststellt, aber meint, man könne auf Handlungen verzichten. Ich frage die Damen und Herren in diesem Gremium, wie die Dinge denn nach ihrer Vorstellung weitergehen sollen.Wir sind der Meinung, daß das geltende Kartellrecht überprüft werden muß. Zu dieser Frage gehört die Fusionskontrolle, zu dieser Frage gehören die Diskriminierungstatbestände, zu dieser Frage gehört auch die Problematik der Markt- und Kapitalmacht. Wir werden nicht zulassen, daß kleine und mittlere Unternehmen aus dem Markt verdrängt werden, weil sich einige große Monopolisten oder Oligopolisten zusammengetan haben, um mit einer gemeinsamen Wettbewerbsstrategie den Markt unter sich aufzuteilen.
Das ist auch eine Frage, die den Verbraucher angeht. Wir meinen, daß das der beste Verbraucherschutz wäre.Wir wollen keinen Schutzzaun, wie uns das in der Debatte um das Wettbewerbsrecht — nicht hier und heute — unterstellt wird. Wir wollen auch kein generelles Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis. Aber wir sind der Meinung, daß Wettbewerbsstrategien, die die Verdrängung zum Ziel haben, als Tatbestand der Diskriminierung im Gesetz festgeschrieben werden sollten, damit die Dinge eindeutig sind.In der Antwort auf unsere Frage 12 ist etwas zu den Lohnnebenkosten gesagt. Ich will mich darauf beschränken festzustellen: Ich bin der Meinung, daß es unser aller Aufgabe ist, diese Lohnzusatzkosten zu reduzieren, weil sie mit ein Anlaß sind für das immer stärkere Ausufern der Schwarzarbeit. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die Schattenwirtschaft um sich greift, wenn wir hier nicht zu klaren Entscheidungen, zu einem Zurückschrauben dieser Entwicklung kommen.
Ich möchte aber gerne noch Gelegenheit nehmen, auf ein paar Punkte einzugehen, die der Kollege Roth eben angesprochen hat. Er hat gesagt, daß durch Steuern und Abgaben, die die jetzige Koalition eingeführt habe, die Kaufkraft der Verbraucher reduziert worden sei; darunter habe der Mittelstand so sehr gelitten. Lieber Kollege Roth, als Sie die Regierungsverantwortung trugen, lagen die Preissteigerungsraten bei 6,1%. Heute liegen sie bei 01)/0. Wenn Sie wollen, können Sie für den Olpreis 1 % zugeben; dann beträgt die Differenz 5%. 1 % Preissteigerungsrate weniger stärkt die Kaufkraft der Arbeitnehmerhaushalte um 5 Milliarden DM und der Rentnerhaushalte um 2 Milliarden DM. Das sind 7 Milliarden DM. Das mal fünf sind 35 Milliarden DM Kaufkraft pro Jahr allein durch unsere solide Finanzpolitik, die die Stabilität der Preise in diesem Land gesichert hat.
Deswegen sollten Sie nicht so tun, als würde die Antwort auf unsere Große Anfrage vor Eigenlob triefen. Sie trieft nicht vor Eigenlob, sondern in ihr werden nüchtern die Fakten genannt, die sich aus der Politik der letzten Jahre ergeben haben.Nun kann die Bundesregierung j a nicht wie die Fraktionen Fragen stellen. Deswegen habe ich an Sie, Herr Kollege Roth, der Sie den Mittelstand haben so hochleben lassen und der Meinung sind, daß wir allen Anlaß hätten — darin stimmen wir überein —, dem Mittelstand wirklich die notwendige Basis für seine Existenz zu sichern, ein paar Fragen, die Sie dann vielleicht im Blick auf das beantworten können, was Sie in den letzten Wochen und Monaten alles so beschlossen haben. Ich bin eigentlich sehr überrascht, wie losgelöst von Parteitagsbeschlüssen und Kanzlerkandidaten-Worten die Fraktion in ihrer Großen Anfrage hier operiert. Ich habe z. B. die Frage: Wie wirkt sich die von Ihnen beschlossene Rückgängigmachung aller Steuersenkungen seit 1983 für den Mittelstand aus? Oder: Wie wirkt sich insbesondere die von Ihnen geplante „Kassierung" der Gewerbesteuersenkung und der Vermögensteuersenkung auf die mittelständischen Unternehmen aus?Um hier gleich einzublenden, was Sie soeben zur Vermögensteuer gesagt haben: Die Einführung des Freibetrags von 125 000 DM beim Betriebsvermögen zielte nicht auf die Großen, sondern auf die Kleinen und Mittleren. Allein durch diese Maßnahme ist ein Großteil der mittelständischen Betriebe aus der Vermögensteuerpflicht herausgefallen. Sie können also nicht so tun, als seien hier Dinge geschehen, die sich nur in Richtung auf große Unternehmen auswirken würden.Wie wirkt sich eigentlich die von Ihnen vorgesehene Streichung der Verbesserung der Abschreibungsbedingungen für Wirtschaftsgebäude auf das Bauhandwerk und die dort beschäftigten Arbeitnehmer aus? Oder: Wie wirkt sich die Einbeziehung der freien Berufe in die Gewerbesteuer auf die freien Berufe aus? Das sind doch alles Ihre Forderungen; das haben Sie alle doch auf dem Parteitag in Nürnberg beschlossen,
und der Herr Kanzlerkandidat hat dies alles dem erstaunten Publikum vorgeführt.Oder: Wie wirken sich die von Ihnen vorgesehenen zusätzlichen Abgaben — die Einführung einer
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18475
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allgemeinen Arbeitsmarktabgabe, einer Ausbildungsplatzabgabe, der Maschinensteuer oder der Wertschöpfungsabgabe à la Rau zur Finanzierung der Rentenversicherung — auf den Mittelstand aus? Wie wirkt sich die Einführung der Sonderabgabe Arbeit und Umwelt aus und dergleichen Dinge mehr? Wenn Sie darauf einmal eine Antwort geben würden, dann würde all das, was Sie hier soeben — mit Tränen in den Augen, was den Mittelstand angeht — vorgetragen haben, sehr viel glaubwürdiger wirken. Es wäre schön, wenn wir dazu etwas hören würden.
Nun zu Ihrem Entschließungsantrag mit der steuerstundenden Investitionsrücklage. Dies ist natürlich ein Thema, das wir hier weiter diskutieren, Sie haben den Kollegen Hinsken und mich in diesem Zusammenhang mit Recht angesprochen. Wir sehen die steuerstundende Investitionsrücklage als eine Möglichkeit zur Stärkung des Eigenkapitals in den Unternehmen an.
Aber für uns ist dies keine Ideologie, für uns ist vielmehr die Frage: Wie können wir im Rahmen der künftigen Steuerreform Maßnahmen einführen, die zur Stärkung und Pflege des Eigenkapitals führen? Dafür ist mir diese oder jede andere in die gleiche Richtung wirkende Maßnahme recht.
Deswegen sind wir nicht bereit zuzulassen, daß Sie hier mit einem ungedeckten Scheck in Richtung Mittelstand winken und den Mittelständlern gleichzeitig das Geld aus der Tasche ziehen.
Für wie dumm halten Sie eigentlich die Mittelständler? Glauben Sie etwa, Sie könnten ihnen mit dem kleinen Bonbon Investitionsrücklage das Geld durch die von Ihnen geplanten zusätzlichen Abgabeverpflichtungen, die ich soeben ja nur zum Teil aufgeführt habe, aus der Tasche ziehen? Mit uns können Sie dieses Geschäft nicht machen. Auf ein derart lächerliches Täuschungsmanöver fallen wir nicht herein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Ich habe nur noch zwei Minuten Herr Präsident. Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird, dann würde ich die Frage gerne zulassen.
Freitags vormittags bin ich großzügig.
Gut, Sie sind großzügig. — Bitte schön.
Herr Kollege Hauser, wie beurteilen Sie die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage 16? Das würde mich doch einmal interessieren. Das ist ja ein wichtiger Punkt. Frage 16 lautet: „Wie beurteilt die Bundesregierung den Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft?"
Herr Kollege Mann, ich habe gerade gesagt, daß die Antwort, die die Bundesregierung auf diese Frage gegeben hat, unbefriedigend ist. Ich sage das hier ganz deutlich. Ich habe gar keinen Anlaß, das zu verheimlichen, und ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, daß hier so klipp und klar gesagt wird: Eine GWBNovelle ist aus der Sicht der Bundesregierung nicht erforderlich. Ich sage: Aus unserer Sicht — ich spreche hier für die CDU/CSU-Fraktion — ist eine Novelle erforderlich.
Reicht Ihnen das?
Die Erleichterungen bei der Steuer zugunsten des Mitteilstandes sind für uns ein unverzichtbarer Bestandteil der nächsten Steuerreform. Wir werden das von der Bundesregierung vorgelegte Steuerpaket in der nächsten Legislaturperiode danach bewerten, ob es Elemente enthält, die die Eigenkapitalkraft der Unternehmen verstärken und stabilisieren. Ob das jetzt steuerstundende Investitionsrücklage ist oder was es auch immer an Möglichkeiten gibt, für uns, das sage ich hier, lieber Kollege Roth, ist die Absenkung des Spitzensteuersatzes im Zusammenhang mit der Steuerreform nicht das Thema Nummer eins.
Es ist an sich bedauerlich, daß sich nur ganze acht Mann aus der SPD für den Mittelstand interessieren. Trotzdem würde ich wünschen, daß wir hier nicht festgefahrene Meinungen bekommen, sondern daß wir hier dieses Thema wirklich diskutieren und uns nicht nur gegenseitig — —
— Ich muß leider auf die Uhr gucken, vielen Dank, Herr Kollege.
Herr Abgeordneter, wollen Sie in den letzten 50 Sekunden noch eine Zwischenfrage zulassen?
Nein, ich darf das nicht, Herr Präsident; Sie würden mir anschließend das Wort entziehen, und das wäre mir zu riskant.Ich möchte noch eine abschließende Bemerkung machen.
Meine Damen und Herren, wir haben in den Jahren der Opposition immer wieder versucht, die Probleme des Mittelstandes in diesem Haus zur Kenntnis zu bringen und deutlich zu machen. Wir haben
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nicht nur in unserer Partei, sondern auch im Parlament immer wieder deutlich gemacht, welche Bedeutung der Mittelstand hat. Wir haben nicht in unserer Oppositionszeit 13 Jahre lang für den Mittelstand gekämpft, um in der Zeit der Regierungsverantwortung diese Probleme zu vergessen oder kleinzuschreiben. Deswegen sage ich hier klipp und klar: Der Mittelstand kann sich auf die CDU/CSU in Zeiten der Opposition und erst recht in Zeiten der Regierungsverantwortung verlassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Tatge.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wer seriös über den Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland debattieren will, müßte eigentlich zuerst eine Definition geben, was er darunter versteht. Ich will dies für meine Fraktion tun.Unser Hauptaugenmerk richtet sich auf Klein-und Kleinstunternehmen. Auch für mich ist unumstritten, daß Flexibilität, Erschließung von Marktlücken, Kundennähe und oftmals die Einbeziehung von Mitarbeitern ins Produktionsgeschehen sowie die Innovation und der Erfindungsreichtum Vorteile von kleinen Unternehmen sind. Die ökonomische Analyse ergibt auch, daß Kleinunternehmen in rückläufigen Wirtschaftszweigen am ehesten in der Lage sind, ein bestimmtes Beschäftigungsniveau zu halten.Was uns volkswirtschaftlich und beschäftigungspolitisch Sorgen bereiten muß, ist die ständig steigende Zahl der Insolvenzen der Unternehmen und freien Berufe. Im Jahre 1985 hatten wir 13 625 Insolvenzen. Hier wäre das Handeln von Wirtschaftspolitikern gefragt. Untersuchungen über Insolvenzfaktoren bei kleinen Unternehmen haben ergeben, daß den außerbetrieblichen Faktoren wie Konkurrenz, Markt und Konjunkturlage nicht die entscheidende Bedeutung zukommt. Die Hauptprobleme sind mehr im Innern der Betriebe angelegt: Mangelnde kaufmännische Kenntnisse und Mängel im Rechnungswesen, Fehleinschätzungen bei der Kosten- und Leistungserfassung etc. sind die eigentlichen Probleme. Eine ökonomische und politische Bedrohung stellt ebenso der unaufhaltsame Konzentrationsprozeß der bundesdeutschen Wirtschaft dar.
Fast vier Jahre lang war diese Bundesregierung nicht bereit, und nicht in der Lage zu handeln. Statt das Kartellrecht zu novellieren, eine Verschärfung durchzuführen, nimmt man die Mitarbeiter des Bundeskartellamtes an die Kandare. Absurd ist es, daß das Bundeskartellamt bei der Fusion Daimler-Benz und AEG nicht einschreiten konnte. Daimler-Benz hat mit dem Erwerb der Großunternehmen MTU, Dornier und AEG eine systematische Ausweitungspolitik auch in andere Wirtschaftsbereiche vorgenommen. Der AEG stehen auf etlichen Märkten nur wenige, weitgestreute Großunternehmen der Elektrobranche gegenüber.Dazu heißt es im sechsten Hauptgutachten der Monopolkommission — ich zitiere —:Konglomerate Großfusionen sind daher wettbewerbs- wie gesellschaftspolitisch besonders bedenklich. Die wettbewerbspolitische Würdigung des Falles Daimler-Benz/AEG hat deutlich werden lassen, daß sich solche Großzusammenschlüsse nicht nur an Hand einer Betrachtung der Einzelmärkte ohne eine übergreifende Gesamtschau würdigen lassen.Zudem sind die gesellschaftlichen Risiken ökonomischer Machtzusammenballung zu beachten.
Sie entstehen einerseits dadurch, daß die Macht dazu benutzt werden kann, unkontrollierte Einflußnahme auf Entscheidungen politischer Institutionen auszuüben; andererseits hat das Verhalten von Großunternehmen zwangsläufig auch gesamtwirtschaftliche Auswirkungen.Unternehmensentscheidungen sehr großen Ausmaßes — so die Monopolkommission — lassen sich nicht mehr allein unter dem Aspekt der unternehmerischen Selbstbestimmung beurteilen. Sie berühren typischerweise auch das Gemeinwohl in erheblichem Maße.Wie recht die Monopolkommission hat, zeigt der Fall Flick und die Einflußmaßnahme der Vertreter des Hauses Flick auf die Bundestagsabgeordneten der etablierten Parteien.
Ebenso muß man die Einflußnahme oder zumindest die versuchte Einflußnahme der Versicherungswirtschaft, der Pharmaindustrie wie auch der Großkonzerne der Chemieindustrie konstatieren.
Ein weiteres Beispiel für die verhängnisvolle Konzentration in unserer Wirtschaft ist die Situation des Einzelhandels. So schreibt der BVD:Die Konzentration im Einzelhandel und der Vernichtungswettbewerb haben bereits heute zu einem Versorgungsnotstand in vielen Gebieten der Bundesrepublik geführt.Viele kleine Gemeinden und Dörfer haben keine Lebensmittelgeschäfte mehr. Über 62 % der Lebensmitteleinzelhandelsgeschäfte, nach dem Stand von 1962, haben in den letzten 23 Jahren geschlossen.
— Hören Sie mal zu.Weitere Schließungen von 3 200 Geschäften im Lebensmittelbereich werden 1985 erwartet.
— Jetzt können Sie weiter zuhören, dann lernen Sie noch etwas:Gegenüber den 3 400 Schließungen im Jahre 1984 haben 143 Selbstbedienungswarenhäuser und Verbrauchermärkte mit einer Verkaufsfläche von fast 2 000 m2 und einer gesamten Ver-
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Tatgekaufsfläche von fast 2 Millionen m2 neueröffnet.Aber auch in diesem Bereich ist die Lobby des Großhandels tätig. Deutlich geworden ist dies bei der Einflußnahme der Firma ALDI auf das Abfallbeseitigungsgesetz und bei den hektischen Aktivitäten der CDU-Mitglieder im Wirtschaftsausschuß, um den Interessen dieser Großfirma gerecht zu werden.Die Bundesregierung erhebt j a in penetranter Weise den Anspruch, gerade auch kleine Unternehmen zu unterstützen und zu fördern. Tatsache ist jedoch, daß sie fast ausschließlich Großbetriebe und Konzerne absichert. In der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" halten Sie an einem altem Dogma fest: Für Sie ist ein Betrieb immer nur noch dann förderungswürdig, wenn ein Großteil seiner Produkte überregional abgesetzt werden kann. Dies ist nicht nur ökonomisch unsinnig, sondern auch feindlich gegenüber den kleinen Unternehmen und den vielen ländlich strukturierten Regionen in der Bundesrepublik.Auch die Beratungsförderung — und dies zeigt das wahre Gesicht der Politik der Bundesregierung — wird systematisch zurückgeschraubt. Statt verstärkte Angebote zu machen, senken Sie die Förderungsmittel für die Beratung bei Existenzgründungen von 9,5 auf 7,5 Millionen DM, die Förderungsmittel für die Leistungssteigerung von kleinen und mittleren Unternehmen in Industrie, Verkehr und Dienstleistungen von 9,5 auf 7 Millionen DM.
Ihre Politik ist den kleinen Unternehmen und den Kleinstunternehmen gegenüber gleichgültig. Ihre Politik ist ebenso heuchlerisch wie widersprüchlich.Die Große Anfrage der CDU/CSU bzw. die Antworten der Bundesregierung sind kaum einer Erwähnung wert, da sie sich allenfalls in Lobeshymnen und allgemeinem Geplapper ergehen. Ein Skandal ist jedoch die Antwort der Bundesregierung auf die Frage Nr. 14 in der SPD-Anfrage betr. „Lücken der Beratungsförderung". Dort wird gefragt, ob die Bundesregierung bereit sei, angesichts der komplizierten Umweltschutzgesetze und der rapiden Entwicklung der Technologie ihre Beratung für kleine und mittlere Unternehmen auf diesen Gebieten auszubauen.Eine konkrete Antwort der Bundesregierung sucht man vergeblich. Für Herrn Bangemann und die Wirtschaftspolitiker der CDU scheint das Problem der Umsetzung der Umweltschutzgesetze in kleinen Unternehmen nicht zu existieren.Doch man höre und staune: Noch im Dezember 1984 ließ Bundesinnenminister Zimmermann verlautbaren — ich zitiere aus dem Konzept für den Umweltschutz der mittelständischen Wirtschaft —:Umwelttechnische Investitionen der mittelständischen Wirtschaft sind auf Grund nicht ausreichender Beratung und mangels eigener Stabsabteilungen häufig ökologisch und ökonomisch ineffizient.Wie reagieren Sie 1986 auf die Feststellung des Innenministeriums? — Sie senken genau die notwendigen Posten zur Beratung und Hilfestellung für die Betriebe. Ich kann nur wiederholen: Ihre Politik ist widersprüchlich und den Kleinstunternehmen gegenüber gleichgültig bis feindlich gesonnen.
Darüber hinaus diskriminiert die Bundesregierung durch ihre praktische Politik die alternativen, auf Selbstverwaltung ausgerichteten Betriebe. Wo eine besondere kaufmännische, finanzielle und rechtliche Beratung notwendig und sinnvoll wäre, kann und will die Bundesregierung die Probleme nicht erkennen. Wir werden deshalb auch dieses Jahr in den Haushaltsberatungen unsere Anträge zur Förderung der Gründung selbstverwalteter Betriebe sowie zur Förderung von Beratungsmaßnahmen in dem Ausschuß für Wirtschaft einbringen.
Darüber hinaus schlagen wir für die Unterstützung und Förderung von kleinen und Kleinstunternehmen vor, regionale Entwicklungsfonds aufzubauen. Unser Modell der regionalen Entwicklungsförderung operiert auf vier Standbeinen.Erstens. Der regionale Entwicklungsfonds betreibt Beobachtung und Analyse der regionalen Struktur.Zweitens. Er leistet betriebliche Beratung und finanzielle Unterstützung in Form von Krediten,
Zuschüssen oder öffentlichen Beteiligungen. Er berät vor allem Betriebe, die in einer Krise stecken oder vom Konkurs bedroht sind.Drittens. Er führt Weiterbildungsmaßnahmen, Umschulungs- und Qualifizierungsarbeit durch.Viertens. Er ist Träger der Förderung einer sozial verantwortlichen Technologie. Ähnlich wie bei dem Londoner Enterprise Board wird sich ein regionaler Entwicklungsfonds mit dem Einsatz von Produktionstechnologien in Förderprojekten beschäftigen. Wirtschaftsförderung im Konzept des regionalen Entwicklungsfonds ist eine gebietsbezogene und nicht allein betriebsbezogene Beratung.
Er ist mit seiner auflagenorientierten Investitionspolitik ein Interventionsinstrument und kein Planungsinstrument. An der Durchführung seiner Arbeit werden die dezentralen Entscheidungsträger beteiligt: Kommunalverbände, Arbeitnehmer- und Verbraucherverbände, Universitäten und Arbeitsverwaltungen, ortsansässige Unternehmen und Kreditinstitute.Daß die Bundesregierung jedoch bereit oder in der Lage wäre, über einen solchen kreativen Ansatz nachzudenken, ist nicht zu erwarten.
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TatgeBedingt durch althergebrachte ökonomische Theorien und die Abhängigkeit dieser Bundesregierung von der großen Industrie scheint Ihre Weltsicht mit Brettern vernagelt, meine Herren.
Wer eine Novellierung des Kartellrechts und den Erhalt des Einzelhandels will, wer eine verstärkte Beratung und Förderung konventioneller wie selbstverwalteter Betriebe will, wer in dem regionalen Entwicklungsfonds eine Chance sieht, der kann nur hoffen, daß diese Bundesregierung so schnell. wie möglich abgewählt wird.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte meine Ausführungen gern mit einer persönlichen Erklärung beginnen. Ich habe aufmerksam zugehört, was von der Opposition zur Mittelstandspolitik gesagt wird.
Ich sage Ihnen, wo die eigentliche Gefahr für den Mittelstand liegt. Ich sage Ihnen das als FDP-Mann und auch als praktizierender Unternehmer, der länger praktiziert, als Sie alt sind, der sich heute aber sagen lassen mußte, daß er eigentlich keine Ahnung hat. Die Gefahr für den Mittelstand bilden jene Leute, die von der Schulbank auf die Hochschulbank kommen, sich dort einen Langzeitaufenthalt sichern
und dann auf die Parteibank gehen, anschließend auf die Funktionärsbank und dann in der Parlamentsbank sitzen, aber noch nie in ihrem Leben eine Drehbank gesehen haben.
Aber vielleicht bleibt Ihnen die Bank für Gemeinwirtschaft noch als Zufluchtstätte erhalten.
Es ist ein Jammer, was man sich hier anhören muß. Aber ich möchte nun mit meinen eigentlichen Ausführungen beginnen.
Die Antwort der Bundesregierung zeigt deutlich, daß die FDP den Mittelstand schon immer als einen Eckpfeiler liberaler Wirtschaftspolitik gesehen hat. Ich stimme mit meinem Kollegen Hauser ausdrücklich überein, daß wir das nicht nur aus wirtschaftspolitischen, sondern wirklich als gesellschaftspolitischen Faktor einmal mehr unter die Lupe nehmen sollten.
Der Mittelstand ist entgegen den hier gemachten Ausführungen ein konjunkturelles Feld, das ganz große Bedeutung hat. Er ist in der arbeitsmarktpolitischen Entwicklung der bedeutendste Faktor. Das gilt insbesondere für die Ausbildung. Mehr als 80 % aller Ausbildungsplätze werden von mittelständischen Unternehmen bereitgestellt. Die große Bedeutung des Mittelstandes für die Steuereinnahmen ist in der Antwort der Bundesregierung aufgezeigt. Wir sehen in der Mittelstandspolitik aber auch einen Teil der sozialen Marktwirtschaft insgesamt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich warne davor, daß man etwa eine ordnungspolitische Offensive startet, indem man die kleinen und mittleren Betriebe von den großen Betrieben trennen will. Das wäre falsch. Die mittelständischen Betriebe sind mit den großen Betrieben durch ihre ungeheuer leistungsstarke Zulieferfunktion verflochten. Große Konzerne haben in der regionalen Strukturpolitik eine große Bedeutung, weil sie die Kaufkraft und die Investitionskraft der kleinen und mittleren Betriebe maßgeblich beeinflussen.
— Was verstehen Sie denn von einem Betrieb? Seien Sie mir nicht böse; ich will nur darauf eingehen, worauf es eigentlich ankommt.
Herr Abgeordneter, würden Sie vorher eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jens gestatten?
Wenn sie mir nicht angerechnet wird.
Auf keinen Fall.
Herr Grünbeck, könnten Sie vielleicht der These zustimmen, die sich durch viele Fälle in der letzten Zeit erhärtet hat, daß Großunternehmen nahezu niemals in Konkurs gehen und kleine und mittlere Unternehmen massenweise in Konkurs gegangen sind?
Ich verstehe nicht, daß ein so sachkundiger Politiker und hochgeschätzter Kollege wie Sie, Herr Jens, so eine Frage stellt. Der AEG-Prozeß allein hat belegt, daß es 25 000 mittelständische Betriebe waren, die natürlich — —
— Das ist die dynamische Kraft der Mittelständler. Die wirkt auch aufs Mikrophon.Ich bin sicher, daß auch große Konzerne in die Insolvenz kommen können. Da gerade Sie die Frage stellen, sollte ich Ihnen morgen mal meine ganzen Akten von der Neuen Heimat schicken. Da
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Grünbeckwürden Sie merken, daß auch große Unternehmen in ganz schwierige Situationen kommen können.
Ich hoffe, daß damit die Antwort — —
— Herr Jens, dann wiederholen Sie doch, worauf ich nicht befriedigend geantwortet habe.
Kleine Unternehmen, habe ich gesagt, gehen massenweise in Konkurs. Große — das begreifen doch die kleinen und mittleren — sind vor Konkurs nahezu gefeit. Sehen nicht auch Sie darin eine schreiende Ungerechtigkeit, und müssen wir nicht mehr tun, damit kleine und mittlere Unternehmen vor dem Konkurs geschützt werden?
Jetzt habe ich Sie begriffen. Da gebe ich Ihnen völlig recht. Nur haben Sie 13 Jahre den Justizminister gestellt und sich an die Insolvenzrechtsreform nicht herangewagt. Aber wir machen das jetzt. In der nächsten Legislaturperiode werden wir das machen.
Erstens. Mit dem ständigen und dynamischen Strukturwandel in der mittelständischen Wirtschaft müssen wir uns mehr als bislang beschäftigen. Dazu gehören die Rahmenbedingungen, die für diese Entwicklung notwendig sind.Zweitens. Für uns, für die FDP, ist vor allen Dingen die Stärkung der Finanzkraft der Unternehmen von ungeheurer Bedeutung — damit sie diesen Strukturwandel überhaupt bestehen können. Wir begrüßen, daß die Bundesregierung eine sorgfältige Ausgabenpolitik betreibt. Wir mittelständischen Unternehmen erwarten von der öffentlichen Hand einen sorgfältigen Umgang mit den Steuereinnahmen. Die Preis- und Geldwertstabilität wird einen großen Rang erhalten. Wir erwarten, daß der Mut zum Spielraum für Innovationen und Investitionen größer wird. Niedrigere Zinsen, meine Damen und Herren, sind für die Investoren von größerer Bedeutung als alles andere. Ein Prozent Zinsbewegung bedeutet für die mittelständische Wirtschaft eine Belastung von 8 Milliarden DM oder eine Entlastung von 8 Milliarden DM. Hier sind die entscheidenden Rahmenbedingungen zu setzen, damit das Vertrauen zum Staat gestärkt wird. Mittelständische Unternehmen mögen keine Schlamper in der öffentlichen Hand.Drittens. Der Abbau von Bürokratie und der Ausbau von Privatisierung ist uns in dieser Antwort der Bundesregierung nicht ausreichend behandelt. Allerdings sagen wir dazu, daß ein Schritt in die richtige Richtung begonnen hat. Wir brauchen den Abbau der Bürokratie, um die Gestaltungs- und Entfaltungskräfte in der mittelständischen Wirtschaft zu stärken.
Wir brauchen mehr Freiheit und weniger Staat, weil das die Lebensqualität unserer Bürger anhebt.Viertens. Ich glaube, daß sich dieser Deutsche Bundestag stärker als bislang mit dem Abbau der Schattenwirtschaft beschäftigen muß. Wenn wir tatsächlich hinnehmen, daß 150 oder mehr Milliarden DM Umsatz in diesem Bereich getätigt werden, müssen wir natürlich erkennen, welche Wettbewerbsverzerrung hier stattfindet. Ich will die Selbsthilfe und die Nachbarschaftshilfe nicht zur Disposition stellen, überhaupt nicht; aber wenn diese Entwicklung in der Bundesrepublik anhält, wird sie den mittelständischen Unternehmen ersten Schaden zufügen. Sie können kein Auto schwarz produzieren, aber Sie können jedes Auto schwarz reparieren und handeln. Das ist der Punkt, über den wir in der nächsten Legislaturperiode ernsthaft werden reden müssen. Ich kündige an, daß die FDP in der nächsten Zeit einen Maßnahmenkatalog für dieses Gebiet vorlegen wird.Fünftens. Wir brauchen eine Offensive, ja, ich möchte sagen, eine Generaloffensive für die Qualifikation in der gewerblichen Bildung. Wir brauchen die Weiterbildung und die Umschulung mit der Chance der Anschlußbeschäftigung. Ich begrüße auch die Zeitverträge, die die Bundesregierung eingeführt hat und die jetzt als flexibles Instrument immer mehr Beachtung und Akzeptanz finden. Ich glaube aber auch, daß gerade die Qualifikationsoffensive nur dann funktionieren wird, wenn die Arbeitsverwaltung, die Wirtschaft und die Gewerkschaften gemeinsam Verantwortung übernehmen.Sechstens. Wir hoffen auf eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine ordnungspolitische Erneuerung! Ich kann die Ausführungen, die Sie, Herr Roth, hier heute gemacht haben, nicht verstehen. Ich will es mir ersparen, die Fakten zu wiederholen, die der Kollege Hauser hier schon aufgezählt hat, die Angaben dazu, was Sie in dieser Legislaturperiode an neuen Steuern und Abgaben beantragt und auf dem Nürnberger Parteitag als Forderung beschlossen haben. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn Sie wieder einmal nach Nürnberg kommen und einen Parteitag abhalten, dann gehen Sie nicht in die für die Handwerker ehrwürdige Meistersingerhalle, sondern in den Komödienstadl; da paßt das besser hin.
Es gibt ja jetzt auch eine neue Offensive — ich habe das gestern abend in die Hand bekommen —: Handwerker für Johannes Rau.
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GrünbeckDas sind die Gewerkschaftsvertreter in den Handwerkskammern.
Die haben eine Offensive für Johannes Rau ins Leben gerufen, und da habe ich etwas Lustiges gefunden, nämlich die Forderung nach paritätischer Mitbestimmung in den mittelständischen Betrieben.
Ich gebe Ihnen heute einmal eine Aufgabe mit nach Hause: Sagen Sie bitte einmal, wie wir in den 1,7 Millionen Betrieben in der Bundesrepublik Deutschland, die weniger als zehn Beschäftigte haben — —
— Die Forderung ist doch nicht eingegrenzt! Ich kann mir j a vorstellen, daß Sie sich für dieses Papier schämen,
aber ich habe es ja nicht erfunden. Sie müssen mir bitte einmal sagen, wie die Mitbestimmung in den kleinen Betrieben anfängt. Wenn Sie dann mit dem Meister, mit den Gesellen und mit den Azubi — —
Ja, „Azubi" erinnert mich immer an ein japanisches Motorrad. Das ist auch so eine Ihrer glorreichen Erfindungen. Ich sage lieber auf Deutsch „Lehrling".Sagen Sie mir also bitte, wie Sie das machen wollen. Bis die paritätische Mitbestimmung beendet ist, ist doch der Tag um. Die mittelständischen Betriebe müssen aber arbeiten; sie können sich nicht von Palaver ernähren. Das ist bei uns die Problematik.
Wir sind Freunde der Mitbestimmung, aber wir sind keine Freunde der Fremdbestimmung. Was Sie wollen, ist nämlich etwas anderes: Sie wollen in den Betrieben die Fremdbestimmung, und Sie wollen die Einbringung der Ideologien. Wir wollen, daß wir miteinander arbeiten und miteinander die Dinge erledigen, die im Tagesgeschäft anfallen.Meine Damen und Herren, ich habe noch ein ernstes Problem anzusprechen, nämlich die Unternehmensnachfolge. Es macht uns in zunehmendem Maße Sorge, daß die Unternehmensnachfolge in den letzten Jahrzehnten nicht nur von hohen Erbschaftsteuern belastet ist, sondern auch durch einen Mangel an Motivation der jungen Generation, das Erbe der Väter anzutreten. Ich glaube, wir brauchen auch eine Offensive für die junge Generation, um mehr Mut, mehr Risikobereitschaft, mehr Verantwortung, auch soziale Verantwortung, und die Faszination der unternehmerischen Gestaltung zu vermitteln, damit wir sicherstellen, daß für die Betriebe Nachfolger gefunden werden.Wir sagen ja zu Existenzgründungen; da finden Sie uns immer an Ihrer Seite. Das ist eine Frischluftzufuhr, die die Wirtschaft braucht. Aber ich will keine Existenzgründungen, wie Sie sie wollen. Wenn Sie Kredite für sogenannte alternative Betriebe beantragen, wenn dann Leute ankommen, die als Unternehmer null Rechtsform haben, die null Vorstellungen über die Rückzahlung der ausgeliehenen Kredite haben
und die null Vorstellungen von ihrer Steuerpflicht haben, dann habe ich — das kann ich Ihnen nur sagen — null Bock auf solche Kredite.
Forschung und Entwicklung sind natürlich ein wichtiger Bestandteil.
— Sie können doch nicht mit mir über Forschung und Entwicklung reden, wenn Sie keine Ahnung von Forschung und Entwicklung in mittelständischen Betrieben haben. Wir brauchen die verstärkte Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und der Wissenschaft, und wir brauchen die überdurchschnittliche Leistung.Wir schätzen die freien Berufe. Was Sie dazu angeboten haben, war j a kabarettreif.
Sie wollen die freien Berufe verstärkt fördern, und gleichzeitig fordern Sie die Einführung der Gewerbesteuer für die freien Berufe, damit Sie die Förderung finanzieren können. Das ist Rothsche Logik.
Wir brauchen keine solchen Belehrungen. Ich möchte zum Schluß kommen.
— Es tut mir leid, Herr Kollege Roth, aber meine Redezeit ist vorbei. Ich möchte zum Schluß nur noch auf ein wichtiges Kapitel zu sprechen kommen und Ihnen folgendes ans Herz legen: Meine Tätigkeit in den letzten drei Monaten im Untersuchungsausschuß „Neue Heimat" hat neben den materiellen Erkenntnissen auch humane Erkenntnisse gebracht. Da wird eine Kälte gegen uns und gegen die sozial Schwachen ins Feld geführt, die kann einen erschrecken. Ich würde Ihnen nur mal eine Bildungsreise in die mittelständischen Betriebe empfehlen.Für mich — und, meine Damen und Herren, das sage ich mit vollem Ernst — ist die mittelständische Wirtschaft einer der größten Träger von Sozialleistungen in unserer Gesellschaft. Deshalb habe ich die Gesellschaftspolitik noch einmal ins Feld geführt. 50 % der Leistungen der gesetzlichen Sozial-
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Grünbeckversicherung bringen die mittelständischen Unternehmer auf. Darüber hinaus erfüllen sie fast zu 100% die tarifvertraglichen Leistungen, und sie leisten dafür in Anbetracht des gesamten Sozialpakets noch etwa 30 % freiwillige Leistungen aus ihrer eigenen Tasche, nicht aus den Taschen anderer; das ist ja viel einfacher.Hierzu kommt eine humane Arbeitswelt in den mittelständischen Betrieben, die noch von menschlichen Beziehungen und von menschlicher Wärme getragen ist. Hier reden der Meister, der Geselle und der Lehrling noch miteinander. Wir begleiten die Arbeitnehmer oft von der Taufe bis zur Hochzeit und leider Gottes manchmal bis zur Beerdigung. Wir brauchen diese menschlichen Kontakte, damit wir mit unseren Mitarbeitern die schweren Aufgaben lösen können. Wir suchen die Partnerschaft und wir bieten sie allen an. Wir brauchen keinen ideologischen Klassenkampf, sondern wir wollen die soziale Partnerschaft über unsere Menschlichkeit in dieser Welt erhalten. — Ich danke Ihnen sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Rapp .
Frau Präsidentin! Meine Herren Kollegen! Vor kurzem hat die SPDFraktion Leitlinien zur Selbständigenpolitik beschlossen. Aus der CDU/CSU-Fraktion kam daraufhin nach der Art eines Pawlowschen Reflexes eine geradezu selbstschädigende Presseerklärung: Die Leitlinien der SPD taugen nichts, hieß es da, und außerdem seien sie bei der CDU abgeschrieben. Eine derart kopflose Reaktion kommt aus dem Bauch. Da war einer in seinem Urgemüt aus der Balance gekommen ob der Anmaßung der Sozialdemokraten, Selbständige aus Handel, Handwerk und Gewerbe, aus den freien Berufen und der Landwirtschaft werbend anzusprechen: gehört doch, nicht wahr, „die Wirtschaft" — in Anführungszeichen — rechtens den bürgerlichen Parteien.Stark pointiert, gewiß, aber nicht falsch. Beispiele: Wenn der DGB sagt, die einzelnen Parteien bestimmten ihre Nähe oder Ferne zur Einheitsgewerkschaft durch ihr Verhalten und ihr Handeln selber und demgemäß bestehe eine größere Affinität zur SPD, dann schäumt das ganze sogenannte bürgerliche Lager. Gefahren für die Einheitsgewerkschaft werden beschworen, der Herr Esser darf den DGB eine Art Partei nennen. Hingegen hat es völlig seine Ordnung, wenn die großen Wirtschaftsverbände, die ja niemals Partei sind, nicht wahr, PR-Kampagnen machen, die wie zufällig zu denen des Adenauer-Hauses passen; wenn in Verbandsorganen die Position der derzeit oppositionellen SPD oft genug gar nicht, verkürzt oder verbogen zur Kenntnis gebracht wird; wenn die bis 1982 gute Übung immer mehr außer Brauch gerät, bei Verbandstagungen auch die Opposition zu Wort kommen zu lassen; und so weiter und so weiter. Bis in verkammerte, also öffentlich-rechtliche Bereiche hinein sorgen die Seilschaften dafür, daß möglichst nirgendwo ein Sozialdemokrat zur Geltung kommt.Vor kurzem kam ein kleiner Bauunternehmer, SPD-Mitglied, zu mir und sagte, der örtlich beherrschende Architekt, CDU-Stadtrat selbstverständlich, habe ihm gesagt, soweit sein Einfluß reiche werde es Aufträge erst dann geben, wenn er, der Bauunternehmer, sein SPD-Parteibuch zurückgebe. Diese Erfahrung machen viele SPD-Mitglieder im selbständigen Mittelstand zuhauf und fast täglich. Meine Damen und Herren, ist das die Freiheit, die Sie meinen? Pluralität ist das Maß der Freiheit, die Beherrschung ganzer gesellschaftlicher Bereiche durch eine Partei ist das genaue Gegenteil davon. Bitte, reflektieren Sie das mal und versetzen Sie sich in die Haut derjenigen, die Sie damit schädigen!
— Ersparen Sie es mir, diesen Zwischenruf zu qualifizieren.Meine Damen und Herren, demokratischer und unternehmerischer Wettbewerb haben vergleichbare Strukturprinzipien. Wer die des demokratischen Wettbewerbs nicht begreift, wird schwerlich denen ein verläßlicher Partner sein, die vermachte-ter Konkurrenz ausgesetzt sind. Erst gestern noch kam mir die Eingabe des Lebensmitteleinzelhandels auf den Tisch, wonach auch im Jahre 1985 per Saldo wieder 3 000 kleine und mittlere Geschäfte machtbestimmter Konkurrenz zum Opfer gefallen sind. Es werden da Maßnahmen gefordert, wie die SPD-Fraktion sie in der Debatte vom 18. Juni vorgeschlagen hat. Die Koalition hat sie abgelehnt.Was die Bundesregierung in ihren Antworten zu den Großen Anfragen dazu sagt, ist allenfalls mittelmäßige PR-Arbeit, Beschönigung, Vertröstung. Hilfe ist da nicht zu erwarten.
Wann und wo immer es in der Vergangenheit um die Erhaltung des Leistungswettbewerbs und seine Verbesserung gegangen ist, waren Sozialdemokraten die treibende Kraft — Sie nicht, Herr Grünbeck —, und so wird es auch bleiben.
Vielen Selbständigen, vor allem denen in den kleinen und mittleren Betrieben, werden die Leitlinien der SPD eher einleuchten als diese Antworten der Bundesregierung. Lieber Herr Hauser, wenn Sie mal wirklich eine stimmige Darstellung der gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bedeutung der Selbständigen im Mittelstand lesen wollen, dann studieren Sie diese Leitlinien!
Bei den Landtagswahlen im Saarland und in Nordrhein-Westfalen hat die SPD übrigens gerade in dieser Wählerschicht besonders deutlich hinzugewonnen, und bei der Bundestagswahl 1987 wird es wieder so sein. Es haben eben nicht alle vergessen und verdrängt, wie Sie, Herr Hauser, und anderen fällt es auch wieder ein, was sozialdemokratisch geführte Bundesregierungen zur Verbes-
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Rapp
serung der Lage des wirtschaftlichen Mittelstands geleistet haben,
von der Öffnung der Rentenversicherung über die Wettbewerbspolitik, über genau zielende steuerliche Entlastungen und Finanzierungshilfen bis hin zur Forschungsförderung und den Beratungshilfen. Und ersparen Sie es mir lieber Herr Grünbeck, jetzt die psychologische Kategorie zu nennen, die angezeigt ist, wenn jemand in derart manischer Weise wie Sie seine eigene Vergangenheit verbrennt.
Immer mehr Menschen, meine Damen und Herren, realisieren, wem denn die Vermögens- und Gewerbesteuersenkung der konservativen Regierung tatsächlich zugute gekommen ist. Den kleinen und mittleren Unternehmen jedenfalls kaum. Daß die gewiß notwendige und von uns bereits eingeleitete Rückführung der jährlichen Nettoneuverschuldung, soweit sie nicht dem Bundesbankgewinn zu verdanken ist, nach 1982 einseitig zu Lasten der Massenkaufkraft und also auch zu Lasten der auf den Binnenmarkt verwiesenen kleinen und mittleren Unternehmen ging, haben viele erfahren müssen; die nach 1982 stark gestiegenen Insolvenzzahlen weisen es aus. Selbst die Erwartung hat ja getrogen, daß dies alles den Investitionen und somit der Beschäftigung zugute käme. Ein Großteil der nach oben umgeschichteten Gelder wurde von Reagans Voodoo-Politik angesogen und dort absorbiert; für den Arbeitsmarkt blieb gar nichts mehr übrig.Damit Sie mir jetzt nicht mit dem Vorwurf der Schwarzmalerei kommen, sage ich: Es geht uns insgesamt gewiß nicht schlecht, allzu vielen einzelnen geht es schlechter, als es in unserer reichen Gesellschaft sein müßte.
Und es könnte uns in mancherlei Hinsicht besser gehen. Vor allem wird zu wenig Vorsorge getroffen, daß es in der Zukunft nicht schlechter geht. Die Zukunftsaufgaben bleiben liegen; das ist der Vorwurf, den wir erheben.
Ich weiß, meine Damen und Herren, „Leistung muß wieder lohnen". Aber welcher Leistungsbegriff, bitte, ist denn da gemeint? Soll wirklich gelten, daß der Manager, der 500 Mille verdient, 550 oder 600 haben muß, damit er 10 % mehr Leistung erbringt?
Soll denn das wirklich gelten, daß man den Leistungswillen des kleinen Mannes am besten dadurch stimuliert, daß man ihn kürzer hält und ihm das austreibt, was die Konservativen und Liberalen seine Anspruchsmentalität nennen? Ist das gemeint, haben Sie diesen Leistungsbegriff? Und welches Menschenbild steht denn dahinter? frage ich Sie.
Da man den Grenznutzen einer persönlich zurechenbaren Leistung nicht bestimmen kann, läuft dieses ganze Gerede doch nur auf die Tautologie und auf die Rechtfertigungsideologie hinaus, daß der, der mehr verdient, auch mehr leistet.
Wenn ich mehr Zeit hätte, meine Damen und Herren, würde ich genauer den Unternehmer beschreiben, den wir bei uns in der SPD brauchen; zuzugeben, Herr Grünbeck: von denen wir mehr haben sollten, weil wir die Erfahrung derer nicht entbehren können, die sich täglich im Markt und in sozialer und ökologischer Verantwortung bewähren müssen. Diese Unternehmerin, dieser Unternehmer hat gewiß einen anderen Leistungsbegriff als den, den ich dauernd von Ihnen höre. Mitbestimmung begreift er, Herr Grünbeck, als ein wertvolles und unverzichtbares Element der betrieblichen und der unternehmenswirtschaftlichen Entscheidungsstruktur und nicht als Bedrohung. Aus der Aufgabe der Ausbildung wird er sich nicht zu Lasten anderer wegstehlen. Er weiß, daß Kapital und Arbeit aufeinander verwiesen sind, aber doch stets so, daß die lebendige Arbeit Vorrang hat vor dem toten Kapital und seiner bloßen, von der Sicherung des Unternehmens abgehobenen Mehrung.
Er versteht, daß sich das Gemeinwohl nicht als die Summe des wirtschaftlichen Wohlergehens einzelner herstellt, sondern daß es dazu vielmehr auch staatlicher Gestaltung bedarf. Den Staat wie auch den Tarifvertragsgegner betrachtet er nicht als seinen Feind, er weiß vielmehr, daß das Gemeinwohl vom Zustandekommen und Wohlergehen aller abhängt. Die Art und Weise, wie Sie über den Staat reden, wie Sie ihn zum Feind des Mittelstandes machen, haben Sie selber zu verantworten.
Nun behaupten aber Herr Hauser und andere, auch Herr Grünbeck, der Staat sozialdemokratischer Provenienz überfordere die Wirtschaft. Nun, was die Bürokratielast anlangt, so verweise ich auf die Umfrage der Zeitschrift „Impulse", die ergeben hat, daß die Bürokratielast für die kleinen und mittleren Unternehmen seit 1982 um rund 70% gestiegen ist.
Im ganzen hat ja auch die Abgaben- und Steuerlast zugenommen. Und was da nun unsere Steuerbeschlüsse, unseren Tarifbeschluß und die Ergänzungsabgabe betrifft, so gilt, meine Damen und Herren, daß der SPD-Tarif für Verheirateteneinkommen bis zu 90 000 Mark Entlastungen bringt,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18483
Rapp
und das sind 80 % der Steuerfälle. Von welchem Facharbeiter, von welchem Handwerker, von welchem Einzelhändler reden Sie denn da, der dadurch in seiner Existenz bedroht sein soll?
Da sollten Ihre Redenschreiber sorgfältiger recherchieren.Meine Damen und Herren, das alles bereden wir vor dem Hintergrund drängender Zukunftsaufgaben: Wir müssen die Sozialversicherung sichern, Umweltaltlasten aufarbeiten, zu einer anderen Stromversorgung kommen, die Wirtschaft ökologisch erneuern, uns die internationale Solidarität mehr kosten lassen.
Das alles muß nicht der Staat erledigen; je mehr davon in gesellschaftlicher und unternehmerischer Verantwortung aufgearbeitet werden kann, desto besser.
Übrigbleiben wird aber doch, daß Entscheidendes von der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Finanzwirtschaft abhängt. Deshalb, meine Herren, versprechen wir Sozialdemokraten über die Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen hinaus keine weiteren Steuersenkungen.
Lassen Sie uns erst die Gemeinschafts- und die Zukunftsbedürfnisse aufarbeiten, das hat Vorrang; hernach wird man dann sehen. Wir sind nicht scharf auf eine hohe Staatsquote um ihrer Höhe willen, wohl aber auf die Fähigkeit des Staates, die ihm aufgetragenen Aufgaben zu erledigen.
Dabei wird keiner ärmer, nur die aus den 50er, 60er und 70er Jahren gewohnten Zuwachsraten an konsumierbarem Einkommen wird es wohl nicht mehr geben. Wir orientieren um: vom quantitativen Mehr zum qualitativen Besser.
Wie das geht, können Sie aus unserem Projekt Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" ersehen.
Gestern hat Herr Stoltenberg hier gesagt, wir müßten uns bescheiden; in diesem Sinne: j a. Wir Sozialdemokraten haben ihm Beifall gezollt, fügen allerdings hinzu: wir alle und nicht nur immer die kleinen Leute, im Gegenteil: die Starken — siehe Ergänzungsabgabe —
einstweilen und zeitbegrenzt etwas mehr.Meine Damen und Herren, es gibt ihn, den Unternehmer, der das alles genauso sieht und für richtig hält, der darin auch Chance und nicht nur Beschwernis sieht. Es gibt sie, die Unternehmer in der Sozialdemokratischen Partei. Es gibt übrigens Fachleute nicht nur in der FDP, sondern es gibt auch welche in anderen Parteien, lieber Herr Grünbeck. Gewiß ist es seine primäre Aufgabe, das Unternehmen in Takt zu halten und voranzubringen. Staat und Tarifparteien müssen ihm das ermöglichen.Die Leitlinien der SPD zur Selbständigenpolitik bieten den wirtschaftlich Selbständigen und fortschrittlichen unternehmerisch Tätigen Erhellende-res als die Antworten der Bundesregierung auf die Großen Anfragen. Wir Sozialdemokraten stellen uns da gerne dem Wettbewerb.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Grüner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Antworten auf die beiden Großen Anfragen zur Mittelstandspolitik und die heutige Debatte bieten eine gute Gelegenheit, jenen Teil der Volkswirtschaft in das rechte Licht zu rücken, der die Hälfte des Sozialprodukts in der Bundesrepublik Deutschland produziert, in dem rund zwei Drittel aller Arbeitnehmer beschäftigt sind — ich spreche jetzt von den Unternehmen mit einem bis 500 Beschäftigten — und bei dem vier Fünftel aller Lehrstellen bereitgestellt werden. Man kann auch hinzufügen: Zwei Drittel aller Lehrlinge werden in Betrieben mit einem bis 50 Arbeitnehmern beschäftigt. Ich glaube, daß diese Zahlen deutlich machen, daß der selbständige, gewerbliche und freiberufliche Mittelstand kein Anhängsel der Wirtschaft ist, sondern das Rückgrat unserer Wirtschaft darstellt.
Der Mittelstand leistet — und das ist in unserer Zeit besonders wichtig — einen unübersehbaren aktiven Beitrag zur Erreichung des derzeit wichtigsten Ziels der Wirtschaftspolitik, nämlich der Schaffung von mehr Arbeitsplätzen. Es ist eine Wende an der Beschäftigungsfront erreicht worden. Der Mittelstand hat daran einen entscheidenden Anteil. Die Zahl der Erwerbstätigen hat seit dem Tiefpunkt im Herbst 1983 bis August 1986 um rund 560 000 zugenommen. Wir haben zwar keine Statistik darüber, wie viele Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Unternehmen und bei den selbständigen und freien Berufen geschaffen worden sind; wissenschaftliche Untersuchungen lassen jedoch den Schluß zu, daß sie am Beschäftigungszuwachs überproportional beteiligt waren. Ich halte für ganz entscheidend, daß dies in der politischen Debatte auch draußen im Lande deutlicher gesehen wird, als das bisher der Fall ist.
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18484 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Parl. Staatssekretär GrünerDie überragende Bedeutung kleiner und mittlerer Unternehmen sowie Selbständiger bei der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze zeigt eine kürzlich vorgelegte Untersuchung der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Nach dieser Untersuchung hatte sich die Beschäftigtenzahl im Zeitraum 1978 bis 1984 bei kleinen Unternehmen von einem bis 49 Beschäftigten um 34 % erhöht, obwohl 1978 bis 1984 eine sehr kritische Zeit für die Beschäftigung war. Bei mittleren Unternehmen von 50 bis 499 Arbeitnehmern nahm die Beschäftigung im gleichen Zeitraum um 10 % zu. Demgegenüber hatte die Beschäftigung bei großen Unternehmen mit 500 und mehr Erwerbstätigen im gleichen Zeitraum um 13 % abgenommen, was nichts an der Bedeutung der Großunternehmen für unsere Volkswirtschaft und an der engen Verflechtung, die Herr Grünbeck mit recht herausgestellt hat, ändert, was aber deutlich macht, wo der Beschäftigungszuwachs offenbar erzielt worden ist.Diese herausragende Bedeutung der kleinen und mittleren Unternehmen, der Handwerker und anderer Selbständiger sowie der freien Berufe für die Beschäftigung rechtfertigt die von der Bundesregierung verfolgte Politik für den Mittelstand. Trotz der mangelnden statistischen Basis kann aus diesen Untersuchungsergebnissen in der Tendenz festgehalten werden: Der Aufschwung wird zu einem großen Teil von kleinen und mittleren Unternehmen getragen. Bei der Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen stehen die kleinen und mittleren Unternehmen in vorderster Linie. Die Dynamik der Volkswirtschaft hat eine solide mittelständische Grundlage. Wenn der Mittelstand seinen Part im Aufschwung voll spielt und zum Anstieg der Beschäftigung überproportional beiträgt, so ist das auch ein Ergebnis der Mittelstandspolitik, die dazu einen Beitrag geleistet hat, mehr nicht.Die Erfolge unserer Mittelstandspolitik spiegeln sich aber nicht nur in erfreulichen Arbeitsplatzeffekten, also auf der gesamtwirtschaftlichen Skala, wider. Dahinter stehen für mich konkrete individuelle Chancen von vielen unbekannten Arbeitnehmern und Selbständigen. Vergessen wir nicht: Die Wirtschaftspolitik hat letztendlich nicht bestimmte Wachstumsraten zum Ziel. Sie ist aufgerufen, den einzelnen Menschen günstige Bedingungen zur Erreichung ihrer wirtschaftlichen und persönlichen Ziele zu geben. Ich denke gerade auch an die kleinen und kleinsten Unternehmer, die im Vertauen auf unsere Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik ihre Leistungsfähigkeit und ihr mühsam erspartes Vermögen einsetzen, um ihre Existenz zu sichern. Für kleinste und kleine Unternehmen geht es oft nicht um Ertragsprozente, sondern um Erträge überhaupt. Die wirtschaftlichen Risiken, die von ihnen übernommen werden, sind vielfach zugleich persönliche existenzielle Risiken. Dieser Teil des Mittelstands behauptet sich im Konkurrenzkampf durch ein weit über den Durchschnitt hinausgehendes Engagement. Das ist nicht selten die einzig mögliche Form der Anpassung zur Sicherung seiner Existenz. Sein unternehmerisches Schicksal ist für die Wirtschaftspresse keine Meldungen wert.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tatge?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. Ich bitte um Nachsicht.Um so mehr müssen wir uns bewußt bleiben, daß Mittelstandspolitik auch dazu dient, dieser Gruppe von Selbständigen eine faire Chance zu bieten. Wenn dann noch zu erwarten ist, daß damit auch Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen werden, so ist diese Politik doppelt gerechtfertigt.Die Bedeutung, die wir der Mittelstandspolitik zumessen, läßt sich auch mit einer Zahl belegen. Trotz der nachhaltigen Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung liegt das heute für die Förderung des Mittelstandes verwendete Finanzvolumen mit 1,35 Milliarden DM pro Jahr um 16 % über dem des Jahres 1982. Das wirtschafts- und mittelstandspolitische Konzept erschöpft sich jedoch nicht in finanziellen, spezifischen Hilfen zur Selbsthilfe. Es gibt nämlich eine einfache, auch in dieser Debatte immer wieder in Zweifel gezogene Einsicht: Hohe Erträge und Ertragsaussichten stärken die Investitionsneigung und steigern somit die Beschäftigung. Seit Herbst 1982 sind daher alle Unternehmen, die das Rückgrat der Beschäftigung darstellen, in mehreren Schritten steuerlich um 8 Milliarden DM jährlich entlastet worden, um den Prozeß der Investitionsfähigkeit von der steuerlichen Seite her zu erleichtern.Die Wirkungskette: „Verbesserung der Ertragslage — Verstärkung der Investitionstätigkeit — Erhöhung der Beschäftigung" würde im Nerv getroffen, wenn man den steuerpolitischen Vorschlägen und Forderungen der Opposition folgte. Die Sozialdemokraten wollen nämlich trotz der bereits bestehenden hohen steuerlichen Belastung der Unternehmen — auch der kleinen Unternehmen — noch draufsatteln. Bereits heute haben wir ja die Situation, daß die Belastung der Einkommen aus der Beschäftigung von Arbeitnehmern, sprich: gewerbliche Einkünfte, höher ist, als jede andere Einkunftsart in der Besteuerung erfaßt wird.Wenn wir sagen, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stehe im Mittelpunkt unserer Politik, müssen wir uns schon der Frage zuwenden, ob wir steuerliche Maßnahmen für richtig halten, durch die Einkommen, die aus der Beschäftigung von Arbeitnehmern erzielt werden, höher belastet werden als jede andere Einkunftsart.Der Zusammenhang zwischen Ertragslage und Beschäftigung ist eindeutig durch eine entsprechende Untersuchung der Deutschen Bundesbank belegt. Das Ergebnis dieser Untersuchung, der eine Analyse von 14 000 Jahresabschlüssen von Wirtschaftsunternehmen aller Rechtsformen für den Zeitraum 1981 bis 1984 zugrunde liegt, lautet wie folgt: Bei Gesellschaften mit einer Umsatzrendite von über 5 % erhöhte sich die Beschäftigung um 1,2 % pro Jahr. Unternehmen mit einer Umsatzrendite zwischen 2 und 5% realisierten einen Beschäftigungszuwachs von 0,4 % pro Jahr. Demgegenüber verringerten Unternehmen mit einer Umsatzren-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18485
Parl. Staatssekretär Grünerdite von lediglich 0 bis 2 % ihren Personalbestand um 0,5% pro Jahr; Unternehmen, die Verluste hinnehmen mußten, bauten ihren Personalbestand sogar um 4,3% pro Jahr ab.
Diese Ergebnisse wurden von der Deutschen Bundesbank für Unternehmen mit einer aufwärtsgerichteten Ergebnisentwicklung ermittelt.Die Sozialdemokraten schwimmen dagegen mit ihrer Ergänzungsabgabe, dem vorgeschlagenen konvex-progressiven Tarif und z. B. der Forderung nach einer Revitalisierung der Gewerbesteuer gegen den Strom dieser beschäftigungspolitischen Erfolge.
Bei einer Realisierung ihrer Vorschläge wäre eine erhebliche Zahl von gewerbetreibenden bzw. selbständigen Steuerpflichtigen betroffen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rapp?
Ich möchte keine Fragen zulassen, Herr Rapp.Im Vergleich zu unserem im Steuersenkungsgesetz 1986/1988 verabschiedeten Tarif ist der SPDTarif ausgesprochen leistungsfeindlich. Er bringt Mehrbelastungen gegenüber dem geltenden Recht bereits für Facharbeiter und Angestellte. Man braucht kein Experte in Steuerfragen zu sein, um zu erkennen, daß dadurch auch und gerade kleine und mittlere Unternehmen betroffen wären.Das Konzept der SPD bedeutete eine Steuermehrbelastung schon für das Jahr 1987 — wenn die Forderungen umgesetzt würden — für die Träger der Beschäftigung in unserem Lande von 10 Milliarden DM. Davon entfallen 2,9 Milliarden DM auf die von den Sozialdemokraten geforderte Ergänzungsabgabe in Höhe von 5% der Körperschaftsteuerschuld und der Einkommensteuerschuld für zu versteuernde Einkommen über 60 000/120 000 DM . Mit diesem Konzept würde die Möglichkeit der Unternehmen, durch Neueinstellungen einen Beitrag zur Lösung unserer Beschäftigungsprobleme zu leisten, untergraben. Das ist keine Politik, die im Interesse des selbständigen Mittelstandes liegt. Noch viel weniger ist es eine Politik, die im Interesse der Arbeitnehmer liegt.Ich füge hinzu: Gerade bei dieser Ergänzungsabgabe wird ja überhaupt keine Rücksicht darauf genommen, daß das nominal hohe Einkommen der Gewerbebetriebe einen anderen Verwendungszweck hat als alle anderen Einkunftsarten, nämlich überwiegend zur Finanzierung der Investitionen dienen muß. Darauf wird mit einer solchen Ergänzungsabgabe in keiner Weise Rücksicht genommen.
— Dieser Verwendungszweck wird durch das Verhalten der Unternehmen sichergestellt. Ich habe nicht ohne Grund die Untersuchung der Bundesbank zitiert und dargestellt, wie die Bundesbank den Zusammenhang zwischen einer ausreichenden Ertragslage und der Beschäftigung sieht. Ich habe nicht ohne Grund die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen der kleinen und mittleren Unternehmen an Hand der Untersuchung der Kreditanstalt für Wiederaufbau dargestellt. Ohne daß ich den Unternehmen vorschreibe, was sie mit ihren Gewinnen zu tun haben, sprechen diese Zahlen eine eindeutige Sprache.
Das entspricht im übrigen auch durchaus unserer Lebenserfahrung.Die Einkommensteuer ist die wichtigste Steuer für die Unternehmen. Sie steht deshalb auch im Mittelpunkt unserer weiteren Überlegungen. Zielvorstellung ist ein linear-progressiver Tarifverlauf bei gleichzeitiger Anhebung des Grundfreibetrags. Das wird zu einer spürbaren Entlastung auch des Mittelstandes führen.Zu erwähnen ist hier auch die geplante weitere Rückführung der betrieblichen Vermögensteuer. Ich möchte das noch einmal betonen: Wenn wir von Vermögensteuer sprechen, dann sprechen wir von der betrieblichen Vermögensteuer, nicht von der privaten. Es geht uns um eine Steuerentlastung derer, die für ihre Werkzeuge, ihre Maschinen und Einrichtungen Vermögensteuer auch dann zahlen müssen, wenn sie nichts verdienen.
Ich meine, daß das in der Öffentlichkeit deutlicher gemacht werden muß und daß die Gewerkschaften ein Interesse daran haben müßten, daß diese betriebliche Vermögensteuer ganz wegfällt.
Schließlich — lassen Sie mich das sagen — wäre es auch notwendig, die Benachteiligung der Selbständigen bei der steuerlichen Behandlung ihrer Vorsorgeaufwendungen für Alter und Krankheit zu beseitigen.
Wenn wir wissen, daß Selbständigkeit notwendig ist, wenn wir an junge Menschen appellieren, sich selbständig zu machen — auch deshalb, weil der Staat nicht mehr in der Lage ist, diese Fülle von Hochschulabsolventen aufzunehmen, wie das in der Vergangenheit der Fall war —, dann müssen wir den jungen Leuten auch sagen können, daß sie in ihrer Altersversorgung und in ihrer Krankenversicherung nicht schlechter stehen als Nicht-Selbständige. Und das ist der heute gegebene Zustand.Die eingeleitete Politik muß fortgesetzt werden: für den selbständigen Mittelstand, damit aber unauflöslich verbunden für mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze.
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18486 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Das Wort hat Herr Abgeordneter Doss.
Frau Präsidentin! Wenn der Deutsche Bundestag über Mittelstandspolitik debattiert, spricht er über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von mindestens 17 Millionen Menschen. Knapp 2 Millionen Mitbürger arbeiten als Selbständige in Handel, Handwerk, in Dienstleistungen und in den freien Berufen. Sie beschäftigen 15 Millionen Arbeitnehmer. Schlafender wirtschaftlicher Riese Mittelstand. 17 Millionen Menschen verdienen also ihren Lebensunterhalt im und mit dem Mittelstand. Nicht nur diese beeindruckende Zahl, sondern auch der Beitrag des selbständigen Mittelstandes für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft machen diese Debatte und auch die Große Anfrage unverzichtbar, j a, notwendig.
Der Mittelstand ist Arbeitsplatzbeschaffer Nummer 1. Er ist Träger der beruflichen Bildung, der größte Steuerzahler, Hauptinvestor, Ideengeber und Motor des technischen Fortschritts. Die Bedeutung des Mittelstandes in der Politik steht in einem krassen Mißverhältnis hierzu. In den Parlamenten ist er deutlich unterrepräsentiert, in der Administration ist er nicht vertreten, er ist an Tarifvereinbarungen nicht beteiligt, sondern er wird von ihnen nur betroffen. Andere gesellschaftliche Gruppen sind Meister beim Formulieren und Durchsetzen ihrer neuen Ansprüche. Der Mittelstand schafft, zahlt und schweigt.
Der Selbständige arbeitet im Schnitt 56 Stunden in der Woche. Er zahlt einen Gesamtnettobeitrag von über 75% zur Staatsfinanzierung. Er hält auch — das ist bereits deutlich geworden — in Krisenzeiten seine Mitarbeiter. Auf zusätzliche Belastungen von außen reagiert er, indem er noch mehr schafft und noch mehr zahlt. Die Antwort der Bundesregierung weist nach: Die sicheren Arbeitsplätze sind im Mittelstand. Neue Arbeitsplätze entstehen vorwiegend im Mittelstand, während Großunternehmen in der Summe Arbeitsplätze im Mittelstand abbauen. Im Krisenjahr 1981 entließen die 20 größten Industrieunternehmen allein 46 000 Mitarbeiter. Wenn eines dieser Unternehmen — dann steht es in allen Zeitungen — heute 1 000 Mitarbeiter zurückholt, dann ist das eine spektakuläre Aktion.
Fazit: Die beste Wirtschaftspolitik, die beste Arbeitsmarktpolitik ist eine Politik, die sich an den kleinen und mittleren Betrieben orientiert.
Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind wieder positiv. Das hat auch Herr Rapp hier vorgetragen. Die Umkehr des breiten Negativtrends sämtlicher Konjunkturdaten hat das Klima für den selbständigen Mittelstand erheblich verbessert. Die reale Zunahme der Zahl der Selbständigen um 100 000 ist ein beeindruckender Beleg dafür. Der zunächst noch von der exportierenden Industrie getragene Aufschwung kommt in der Zwischenzeit im Auftragsbuch des Handwerksmeisters und in der Ladenkasse des Einzelhändlers an. Die Belebung der Inlandsnachfrage um 3 % ist eine Konjunkturspritze für den Mittelstand. 4 % weniger Zinsen als 1981 bedeuten 40 Milliarden DM Kostenersparnis für den unterkapitalisierten Mittelstand.
Neun von zehn Unternehmen sind Personengesellschaften, die durch die Abflachung des progressiven Einkommensteuertarifs 1986/88 unmittelbar entlastet werden.
Der Bund leistet Hilfestellung bei Existenzgründungen, fördert Unternehmensberatungen, Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Mittelstand. Aktive Mittelstandspolitik ist aktive Beschäftigungspolitik. Aktive Mittelstandspolitik setzt auf Leistung, Engagement und Risikobereitschaft des selbständigen Mittelstandes. Aktive Mittelstandspolitik, das ist die Politik der Sozialen Marktwirtschaft.
Die von der Bundesregierung vorgelegte Zwischenbilanz ist eine für den gewerblichen und freiberuflichen Mittelstand positive Bestandsaufnahme. Die Voraussetzungen zur völligen Konsolidierung der mittelständischen Wirtschaft wurden von uns geschaffen.
Über diese positive Bilanz hinaus ist die Antwort der Bundesregierung auch ein Katalog der noch zu erledigenden mittelstandspolitischen Aufgaben. Die mittelstandspolitischen Erfolge wie auch die Perspektiven rechtfertigen das Vertrauen der Mittelständler in diese Bundesregierung. Die Privatisierung nicht hoheitlicher öffentlicher Leistungen, die vom selbständigen Mittelstand besser und kostengünstiger erbracht werden können, wird durch die Umkehr der Beweislast forciert. Die Ausweitung der leistungsfeindlichen Gewerbesteuer auf die freien Berufe kommt für uns nicht in Frage. Das ist deutlich geworden. Mit der Novellierung der Baunutzungs-Verordnung ergreift die Bundesregierung eine wirksame Maßnahme gegen die Verdrängung des kleinen Einzelhandels.
In der nächsten Legislaturperiode wird eine Fülle mittelstandsrelevanter weiterer Sachprobleme zu lösen sein. Der Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft bedarf der konsequenten Gegensteuerung im Rahmen ordnungspolitisch vertretbarer Möglichkeiten. Ein vom Monopol und Konzernen beherrschter Markt läßt dem Mittelstand keine Wettbewerbschance; freiheitlich am Markt verlaufende Prozesse sind dann sicher nicht mehr möglich. Die Konzentration hat in der Zwischenzeit ein Stadium erreicht, in dem es nicht mehr ausreicht, mit Aufmerksamkeit zu beobachten. Hier muß gehandelt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Abgeordneter Herr Roth, bitte.
Wird die Frage angerechnet? — Gut, Herr Roth.
Ich finde Ihre Aussage bemerkenswert, deshalb meine Frage: Ist es nicht so, daß es dann, wenn Sie diese Auffassung vertreten, dringend notwendig ist, daß wir in der nächsten Legislaturperiode eine umfassende Reform des Kartellgesetzes vornehmen?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18487
Herr Roth, Sie wissen, daß die Union in diesem Punkt eine andere Auffassung hat als die Freien Demokraten. Wir lernen voneinander, und für uns wäre es gut, wenn Herrn Roths Auffassung in seiner Partei mehrheitsfähig wäre,
dann würden wir auch einiges von Ihnen übernehmen können.
Die steuerliche Benachteiligung der Selbständigen bei den Vorsorgeaufwendungen gegenüber Arbeitnehmern beträgt in diesem Jahr rund 8 000 DM. Hier hat sich eine Zweiklassengesellschaft in der Alters- und Krankheitsvorsorge entwickelt. Die Prüfung dieses Sachverhaltes, lieber Herr Grüner, ist seit 1979 in Gang. Es ist mit Sicherheit für dieses Hohe Haus von großem Interesse, in welcher der Legislaturperioden mit dem Abschluß dieser Prüfungen gerechnet werden kann. Das Problemfeld, das von der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über die Lohnnebenkosten bis hin zur Schwarzarbeit reicht, muß dringend aufgearbeitet werden. Um die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes zu erhalten, muß legale Arbeit bezahlbar sein.
Zentrale mittelstandspolitische Aufgabe für die nächste Legislaturperiode bleibt die steuerliche Entlastung der Selbständigen und die Verbesserung des Eigenkapitals in den Betrieben. Die Substanzauszehrung der 70er Jahre konnte noch nicht überwunden werden. Trotz höherer Erträge im Mittelstand hat sich der Eigenkapitalanteil an der Bilanzsumme bisher nicht erhöht. Die Summe aus Steuern und Abgaben — auch hier sind wir leider Weltmeister — hat das Eigenkapital insbesondere der mittelständischen Unternehmen nahezu aufgezehrt. Die von der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU geforderte befristete, steueraufschiebende Investitionsrücklage kann diese Eigenkapitalschwäche überbrücken helfen. Sie ersetzt nicht eine nachhaltige Entlastung — da gehen wir wieder auseinander — der Betriebe von Steuern und Abgaben.
Dies haben wir in der nächsten Legislaturperiode vor.
Eine Alternative für den Mittelstand ist in den Ankündigungen und Programmen der Sozialdemokraten nicht erkennbar. Die Anfrage der SPD zur Lage des Mittelstandes, lieber Kollege Dr. Jens, kommt viereinhalb Jahre zu spät. Die Benachteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen war 1982 auf ihrem Höhepunkt: Zinsen bei 10%, Wachstum bei minus 1 %, Inflation bei 5,7 %, Arbeitslosenzahlenexplosion bei plus 44 %, Investitionen bei minus 6,7 % und die Staatsquote bei 49,8%. Hinzu kamen: steigende Steuer- und Abgabenlast, sich verschlechternde Ertragslage, ungünstigere Finanzierungsbedingungen, überproportional steigende Lohn- und Lohnnebenkosten, überlastete soziale Sicherungen, verkrustete Tarifstrukturen und wuchernde bürokratische Hemmnisse.
Der Mittelstand drohte damals zwischen den Blök-ken Staat, Gewerkschaften und Großindustrie zerrieben zu werden. Nach vier Jahren Opposition entdeckt die SPD nun endlich den Mittelstand und fragt nach Benachteiligungen, die sie in vielen Fällen selbst verursacht hat.
Die mit dieser SPD-Anfrage zur Schau gestellte Mittelstandsfreundlichkeit erweist sich — es tut mir leid, sympathischer Kollege Dr. Jens — als Mogelpackung. Sozialdemokratische Mittelstandspolitik heißt heute: Ergänzungsabgabe gleich Mittelstandssondersteuer, Umwelt- und Energieabgabe, Zurücknahme investitionsfördernder Steuersenkungen, Erhöhung der Gewerbesteuer und Ausdehnung auf die freien Berufe, Wertschöpfungssteuer. In der Summe ergibt das steuerliche Mehrbelastungen von rund 50 Milliarden DM. Die steuerstundende Investitionsrücklage ist das Etikett auf dieser Mogelpackung.
Die SPD-Mittelstandsanfrage ist nichts anderes als ein Nebelwerfer, der das eigene Versagen überdekken soll.
Die Bundesregierung hat eine beachtliche mittelstandspolitische Zwischenbilanz vorgelegt. Sie hat aber auch dokumentiert, daß angesichts des noch bestehenden Handlungsbedarfs kein Anlaß zur Selbstzufriedenheit besteht. Noch ist das Ziel nicht erreicht. Der Handlungsauftrag ist klar definiert. Wir haben den Willen und die Fähigkeit, die Probleme des Mittelstandes zu lösen. Wir sind auf dem richtigen Weg. Weiter so, Mittelstand!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte die Debatte aus der Sicht der Sozialdemokraten abschließen und mit wenigen Bemerkungen zusammenfassen. Ich habe bisher den Eindruck: Die Debatte, Herr Kollege Doss, hat wirklich keinen vom Stuhl gerissen. Zum Teil war es auch wirklich gespielte Aktivität. Das merken die Mittelständler auch. Das liegt vielleicht auch an den dürftigen Antworten, die uns die Bundesregierung auf unsere Fragen gegeben hat. Das mag auch sein.
Auf Grund der Aussagen von Herrn Grüner möchte ich zunächst festhalten: Es läßt sich überhaupt nicht leugnen — das kann jeder in der Statistik nachlesen —, daß wir trotz drei Jahren Aufschwung und trotz Zuwachsraten beim Bruttosozialprodukt immer noch nicht die Beschäftigtenzahl erreicht haben, die wir zur Zeit des Tiefpunktes 1982 hatten. Wir haben also noch kein Mehr an Beschäftigung gegenüber der Zeit der tiefsten Kri-
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18488 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Dr. Jensse. Das ist nach drei Jahren Aufschwung sehr bedauerlich. Der nächste Abschwung kommt mit Sicherheit und wird uns dann dazu bringen, daß die Arbeitslosigkeit erheblich ansteigt.
— Wenn ich das hier so höre, habe ich manchmal wirklich das Gefühl: Die Damen und Herren von der Regierungskoalition wissen nicht mehr ganz genau, wie es in kleinen und mittleren Unternehmen wirklich aussieht.
Mein Bruder ist auch kleiner Händler. Ich spreche von Zeit zu Zeit mit ihm.
80 % der Einkommensteuerzahler verdienen weniger als 80 000 DM. Sie haben ein niedrigeres zu versteuerndes Einkommen als 80 000 DM. Alle diese würden von den Steuervorschlägen der Sozialdemokraten mehr profitieren als von denen der Regierungskoalition.
Ich möchte Herrn Grüner weiterhin sagen: Ich glaube, daß wir auch die Angebotsbedingungen in der Wirtschaft verbessern müssen. Wir haben das getan. Wir haben schon während der Zeit der sozialliberalen Koalition von 1980 bis 1982 manches für die kleinen und mittleren Unternehmen getan. Ich habe ein paar Punkte erwähnt.Aber Ihre Politik greift einfach zu kurz, wenn Sie sagen: Nur die Verbesserung der Angebotsbedingungen führt dazu, daß die Arbeitslosigkeit beseitigt wird. Das ist ein Irrtum; das müssen Sie langsam begreifen, Herr Kollege Grüner. Zwingend notwendig ist vielmehr, daß auch die Nachfrage erhöht wird. Alle unsere Maßnahmen, die wir vorgesehen haben, zielen darauf ab, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu verbessern. Das liegt auch im Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen.
Wenn jemand den Investitionsprozeß in der privaten Wirtschaft wirklich in Gang bringen will, dann geht es nicht nur um die Gewinne, dann geht es nicht nur um die Nachfrage; dann muß auch der Zins so niedrig sein, daß wirklich investiert wird, und zwar in Sachkapital und nicht in Finanzkapital.
Der derzeitige Realzins in der Bundesrepublik ist noch immer der höchste, den wir je hatten. Er ist viel zu hoch, und die Bundesregierung tut nichts, damit er nach unten kommt. Das geht zu Lasten der kleinen und mittleren Unternehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hauser?
Wird das nicht angerechnet? Vizepräsident Frau Renger: Nein.
Herr Kollege Jens, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß die Haushaltspolitik der Bundesregierung dazu beigetragen hat, daß das Niveau der Kapitalmarktzinsen von 1981 mit im Durchschnitt 11 % auf heute im Durchschnitt 6 % — die Differenz beträgt also 5% — abgesunken ist und daß 1 % Zins weniger eine Entlastung der Kapitalnehmer von 10 Milliarden DM ausmacht? Das heißt, das sind 50 Milliarden DM pro anno für die kleinen und mittleren Unternehmen, die die Kredite brauchen, weil Ihre Politik die Eigenkapitalbasis zum Erliegen gebracht hat.
Zunächst ist richtig: Ein Prozentpunkt Zins weniger bedeutet eine Entlastung von 6 bis 8 Milliarden DM in der gesamten Wirtschaft.
Zweitens muß ich Ihnen sagen — so wie Sie das bei mir vorhin auch gemacht haben —: Diese Regierung erhöht alljährlich die Neuverschuldung um 25, wenn nicht gar um 27 Milliarden DM.
Diese Regierung hat dazu beigetragen, daß die Kreditaufnahme nicht gesunken ist. Sie ist durch die Bundesbankgewinne begünstigt worden. Diese Regierung hat überhaupt nichts dazu getan, daß die Kreditaufnahme seitens der öffentlichen Hand verringert wurde. Damit hat sie auch nichts dazu beigetragen, daß die Zinsen etwa von dieser Seite gesenkt werden. Das ist leider die Wahrheit, Herr Hauser.
Sie wissen, wir haben einen Entschließungsantrag vorgelegt. Wir bitten darum, daß darüber abgestimmt wird, meinetwegen auch einzeln, Punkt für Punkt. Wir fordern in diesem Entschließungsantrag die sofortige Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage in Höhe von insgesamt 50 000 DM. Das ist keine Subvention und auch keine Lenkungsmaßnahme, wie einige Verbände der Großwirtschaft es gerne behaupten. Diese Verbände wollen nur generelle Steuererleichterungen, weil davon ihre Klientel weitaus am meisten profitiert. Zweck unseres steuerpolitischen Vorschlages ist es, kleinen und mittleren Unternehmen mit diskontinuierlichem Investitionsverhalten und schwankender Gewinnhöhe eine mittelfristige Investitionsplanung zu ermöglichen, wie es sie bei Großunternehmen seit langem gibt. Wir bitten darüber abzustimmen und wir hoffen nach dem, was hier bisher gesagt wurde, sehr, daß Sie dieser Maßnahme zustimmen.Wir fordern — zweitens — wirksame Maßnahmen gegen die zunehmende Konzentration und den Machtmißbrauch insbesondere im Handel. Der von dieser Regierung eingeführte Kontrahierungs-
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Dr. Jenszwang für Unternehmen, die Werbung betreiben, muß abgeschafft werden. Die Ausweitung des Ladenschlusses an Verkehrsknotenpunkten schadet dem stationären Handel und nützt ihm nicht. Hilfreich wäre eine Verbesserung der Baunutzungsverordnung oder des Schutzes der gewerblichen Mieter. Vor allem geht es um die Abkoppelung der Fusionskontrolle vom Marktbeherrschungsbegriff und die Herabsetzung der Eingriffsschwelle, damit wir insbesondere den Konzentrationsprozeß im Handel besser in den Griff bekommen. Ich hoffe sehr, wir einigen uns. Wir haben einen Antrag vorgelegt. Sie hätten schon lange Gelegenheit gehabt, Herr Hauser, diesem zuzustimmen.Wir fordern — drittens —: Die Personalkostenzuschüsse für Forschung und Entwicklung und das Eigenkapitalhilfeprogramm dürfen nicht auslaufen, wie es diese Regierung in der Antwort andeutet. Diese Maßnahmen wurden von den Sozialdemokraten während ihrer Regierungszeit eingeführt. Sie sind von der Wirtschaft akzeptiert. Das Personalkostenzuschußprogramm hilft insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen bei ihren Forschungsanstrengungen, aber auch den jungen Ingenieuren und Technikern bei der Arbeitsplatzsuche. Gerade im Bereich Forschung und Entwicklung — das machen unsere Anträge deutlich — müssen wir wesentlich mehr tun als bisher.Wir fordern — viertens — in diesem Antrag: Die Ansparförderung muß fortgeführt und verbessert werden. Es gibt darin zwei Schönheitsfehler, einmal eine Diskriminierung der freien Berufe. Das muß beseitigt werden. Die freien Berufe müssen in die Ansparförderung hineingenommen werden. Schließlich muß auch in diesem Bereich für Forschung und Entwicklung mehr getan werden. Ich hoffe, daß Sie auch dem zustimmen können, Herr Kollege Hauser.Eine knappe Bemerkung zur Steuerpolitik. Ich hatte schon gesagt: Mehr als 80% verdienen weniger als 80 000 DM und würden von unseren Vorschlägen mehr profitieren als von Ihren. Das ist die Wahrheit. Es ist schlichtweg falsch, wenn die konservative Regierung behauptet, wir wollten die kleinen und mittleren Unternehmen besonders mit Steuern belasten. Ich behaupte: Wenn wir die Steuerbelastung mehr auf Kleine und Mittlere abstellen, entlasten wir in großem Ausmaß auch kleine und mittlere Unternehmer. Einigen konservativen Politikern ist offenbar jede Kenntnis über die wirkliche Einkommenslage abhanden gekommen. Von einer Senkung des Spitzensteuersatzes von 56 % auf 51 oder 46 % hätte der kleine und mittlere Unternehmer überhaupt nichts. Darauf können wir wirklich verzichten. Ich hoffe, Sie widersetzen sich dem Begehren der FDP auf diesem Felde.
Notwendig ist zweifellos eine Reform der Gewerbesteuer. Das gebe ich zu. Da gibt es auch aus meiner Sicht Punkte, die verändert werden müssen. Es ist unerträglich, daß eine Kapitalgesellschaft das Geschäftsführergehalt vom Gewerbeertrag absetzen kann. Derjenige, der eine Personengesellschaft führt, kann das nicht. Es ist auch unerträglich, daßdie Aufnahme von Fremdkapital deutlich besser gestellt wird als der Einsatz des Eigenkapitals.Über Schwarzarbeit ist viel gesprochen worden, meine Damen und Herren. Wir alle sind da, glaube ich, nicht ganz ehrlich. Es läßt sich doch überhaupt nicht leugnen, daß die Zunahme der Schwarzarbeit ökonomische Gründe hat. Mit Gesetzen können wir dem nicht beikommen. Wenn die normale Handwerkerstunde 50 DM kostet und eine Schwarzarbeiterstunde 20 DM und der Betreffende noch gut daran verdient, ist es logisch, daß es zur Zunahme der Schwarzarbeit kommt.
Wir müssen also dafür sorgen, daß die Abgabenbelastung der Unternehmen endlich reduziert wird.
1981 betrug die Abgabenquote 39,3%. 1985 betrug sie 42,7 %, mit steigender Tendenz. Damit tragen auch Sie — das können Sie doch nicht immer alles auf die sozialliberale Koalition schieben — zur Zunahme der Schwarzarbeit bei. Eine mögliche Mehrwertsteuererhöhung in der nächsten Legislaturperiode würde im übrigen weitere Handelsunternehmen in den Konkurs treiben und förderte zusätzlich die Schwarzarbeit.
Nein, meine Damen und Herren, das ist kein Weg, den wir den kleinen und mittleren Unternehmen anbieten könnten. Dieser Weg führt in die Irre. Ich hoffe sehr, die kleinen und mittleren Unternehmen haben das begriffen.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Hinsken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mir Ihre Gesichter vor Augen führe und nach links schaue und feststelle, welch große Bedeutung und welchen Stellenwert Sie der Mittelstandspolitik beimessen,
und gleichzeitig beobachten muß, daß beim Hauptsprecher Ihrer Fraktion, Herrn Roth, nur sieben Kollegen der SPD anwesend waren,
daß darüber hinaus der Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger in der SPD in dieser Debatte überwiegend durch Abwesenheit geglänzt hat, ist es meines Erachtens Augenwischerei, wenn man hier schöne Töne für den Mittelstand
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18490 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Hinskenfindet, diesem andererseits aber eben nicht die notwendige Bedeutung beimißt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth, Herr Kollege Hinsken?
Nein, weil ich sowieso nur 12 Minuten habe. Sie möchte ich hier im Sinne des Mittelstandes verwenden.
— Gut, dann bin ich bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen.
In Ordnung. — Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage, Herr Roth.
Können Sie mir folgende Frage beantworten: Laut Veröffentlichung Ihrer Fraktion hat der Arbeitskreis Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion 122 Mitglieder. Wie können Sie mir erklären, daß nur 17, also knapp 10 % der Mitglieder dieses Arbeitskreises, anwesend sind?
Herr Kollege Roth, ich gehe davon aus, daß sie noch in großen Scharen herbeiströmen werden. Es wäre für sie nämlich eine Zumutung gewesen, all das anhören zu müssen, was Sie speziell zur Mittelstandspolitik gesagt haben.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Kollege?
Herr Hinsken, vielleicht können Sie doch den Kollegen Roth einmal bitten, vorzurechnen, wie denn 10% von 121 zu 17 stehen.
Hinsken (CDU/CSU): Herr Dr. Unland,
wie gut die Sozis rechnen können, haben sie j a in den 13 Jahren zwischen 1969 und 1982 gezeigt. Hier hat doch gerade der Mittelstand miterlebt, wie weit er mit dieser verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik gekommen ist, die federführend von Ihrer Partei gestaltet worden ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier zum Ende einer Legislaturperiode eine kleine Bilanz ziehen. Es ist ein Anlaß für Rückblick und ein Anlaß für Ausblick. Die heutige Debatte zur Mittelstandspolitik gibt die Möglichkeit, auf die Erfolge, aber auch auf die Sorgen und Nöte dieser tragenden Säule unserer Wirtschaft einzugehen. Ich kenne diese sehr genau, da ich wie Sie, Herr Jens, zwar keinen Bruder, aber zu Hause selbst einen mittelständischen Betrieb habe. Vieles in der Antwort der
Bundesregierung, j a, ich möchte sagen, der überwiegende Teil, Herr Staatssekretär Grüner, ist als positiv zu bewerten. Mit einigen Aussagen bin ich als CSU-Politiker aber nicht zufrieden, und ich erlaube mir, darauf besonders einzugehen, da nach wie vor gilt — das sage ich oftmals draußen bei den verschiedensten Veranstaltungen —: Die CSU ist die Heimat des Mittelstandes, und das lassen wir uns von niemandem streitig machen.
Meine Damen und Herren, die Mittelstandspolitik ist in die Wirtschaftspolitik eingebettet, und hier stimmen die Rahmenbedingungen. Wir haben die niedrigste Inflationsrate seit 32 Jahren, die niedrigsten Zinsen seit neun Jahren, die niedrigste Staatsquote seit elf Jahren; wir haben den höchsten Zuwachs an Arbeitsplätzen seit 17 Jahren,
den höchsten Zuwachs der Außenhandelsbilanz seit Kriegsende.
— Hören Sie gut zu! Wir haben das höchste Wirtschaftswachstum seit sieben Jahren.
Meine Damen und Herren, unsere Leistungsbilanz kann sich also sehen lassen.
Denn erstens bedeuten stabile Preise stabile Kosten. Zweitens sind Zinssenkungen und eine niedrige Staatsquote das beste Mittelstands- und Konjunkturprogramm; sie drücken die Lohnnebenkosten. Drittens bedeutet Wirtschaftswachstum mehr Wohlstand für alle. Viertens entstehen durch Wachstum neue, sichere Arbeitsplätze. Fünftens ist der Wirtschaftsaufschwung durch und durch gesund; er hat Dynamik und Perspektive. Sechstens verstärken bessere Erträge die Investitionsneigung und machen die Unternehmen wetterfest. Siebentens unterstützen wir durch das ERP-Existenzgründungsprogramm, das Ansparprogramm und das Eigenkapitalhilfeprogramm wiederum den Mittelstand. Achtens haben wir durch Sonderabschreibungen und verbesserte Abschreibungsbedingungen für Wirtschaftsgebäude u. a. der Bauwirtschaft wirksam unter die Arme gegriffen.
Herr Kollege Roth, ich würde Sie bitten, jetzt aufzupassen, denn Sie haben die Frage angesprochen, wie man der Bauwirtschaft hätte unter die Arme greifen können. Wir haben etwas getan! Ich muß leider Gottes davon ausgehen, daß Sie das nicht zur Kenntnis genommen haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich lasse mich nicht mehr stören.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18491
HinskenNeuntens haben wir in der Sozialpolitik durch das Nebentätigkeitsbegrenzungsgesetz, das Jugendarbeitsschutzgesetz, das Schwerbehindertengesetz sowie das Arbeitsförderungsgesetz Maßstäbe zum Wohle von Arbeitnehmern, Jugendlichen und Mittelstand gesetzt. Zehntens waren wir bei der Entbürokratisierung bereits durch 144 Einzelmaßnahmen erfolgreich, und elftens hat CSU-Minister Dr. Schneider bei der Novellierung des Bundesbaugesetzes im Interesse einer verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung erfolgreich darauf hingewirkt, daß eine Mittelstandskomponente in die Bauleitplanung aufgenommen wird. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie angesichts dessen, was wir alles vorweisen können, vor Neid erblassen.
Kurz und gut, meine Damen und Herren, unsere Devise bleibt: Initiative, Innovation und Investition. Dies hebt sich wohltuend von der Minusbilanz der Opposition ab, bestehend aus Aussteigerpartei und Rückschrittspartei sowie charakterisiert durch Steuererhöhungs- und Schuldenpartei. Sie haben doch als Alternative nur den Griff in die Taschen der Bürger vor. Das ist ein Gruselkatalog ohnegleichen, der heute schon vom Hauptsprecher unser Fraktion, dem Kollegen Hauser, und darüber hinaus von meinem Vorredner, dem Kollegen Doss, angesprochen worden ist. Sagen Sie doch den Mittelständlern, was Sie wollen, nämlich die Einführung von Wirtschafts- und Sozialräten. Sagen Sie ihnen doch, daß Sie das Vetorecht für Betriebsräte wollen, wenn neue Technologien eingeführt werden sollen. Sagen Sie ihnen, daß Sie für die 35-Stunden-Woche kämpfen wollen,
wovon ein mittelständischer Unternehmer bei der doppelten Arbeitszeit, die er hat, noch nicht einmal zu träumen wagt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
Frau Präsidentin, ich hatte gesagt, ich möchte fortfahren, und ich möchte im Rahmen meiner Redezeit bleiben.
Sie lassen also generell keine Zwischenfragen mehr zu? — Gut.
Herr Kollege Roth, Sie müßten aus dem Mund eines selbständigen Mittelständlers einmal mitbekommen, was ihn im großen und ganzen drückt. Ich habe ja gesagt, wie unserer Meinung nach angesetzt werden soll.
Mir scheint, daß Sie mit Ihrem Gruselkatalog ein sozialpolitisches Füllhorn, finanziert durch Steuererhöhungen, Schulden und die Ausweitung der Staatsquote, ausschütten wollen.Es wäre hier noch vieles hinzuzufügen, aber ich möchte es dabei belassen, weil ich glaube, daß das in Ansätzen schon zeigt, wie weit wir kommen würden, wenn Sie in der Bundesrepublik Deutschland noch einmal das Regierungsruder übernehmen würden.
Sie würden nämlich eine handwerks- und mittelstandsfeindliche Politik betreiben und gerade die Risiko- und Leistungsträger bestrafen. Aber ich sage Ihnen: Der Bürger wird dies im Bund genauso verhindern, wie er es jüngst in Bayern verhindert hat.Wir aber, insbesondere die CSU, verfallen nicht auf Grund unserer nachweisbaren Erfolgsbilanz in Jubeltöne, wir ruhen uns nicht auf den Lorbeeren aus, sondern sehen uns weiter herausgefordert, die großen Wachstumspotentiale des Mittelstandes auszuschöpfen. Es gilt, in der kommenden Legislaturperiode nicht nur den Anstieg der Lohnnebenkosten weiter zu bremsen und die Schattenwirtschaft noch wirksamer zu bekämpfen, sondern auch in der Steuer- und Wettbewerbspolitik weiter voranzukommen. In der Wettbewerbspolitik besteht nach wie vor akuter Handlungsbedarf. Herr Kollege Roth, da pflichte ich Ihnen in gewisser Hinsicht sogar bei.Nach der UWG-Novelle, die beachtliche Verbesserungen bringt, muß die Gesamtproblematik von Konzentration und Verdrängungswettbewerb im Handel angegangen und gelöst werden. Ich kann an dieser Stelle Handel und Handwerk beruhigen. Ihre Anliegen, die auch die Anliegen unserer Fraktion und der CSU sind, haben wir nicht vergessen. Wir haben stets betont, daß der viel wichtigere zweite Schritt, die dringend erforderliche Kartellgesetznovellierung realisiert werden muß. Ich appelliere hier an die Kollegen von der FDP, sich auf diesem Gebiet nicht weiter zu verweigern. Nachfragemachtmißbrauch, Rabattdiskriminierung und systematische Verkäufe unter Einstandspreis sind einfach nicht hinnehmbar. Nicht Marktmacht, sondern Leistungswettbewerb muß entscheiden. Ich weiß, daß der wirtschaftliche Wettbewerb kein Sonntagsspaziergang ist. Ich will auch keinen Schutzzaun. Aber Ziel muß sein: gleiche Chancen auch für den gewerblichen Mittelstand und für das Handwerk und den Handel schlechthin.
Meine Damen und Herren, bei der angestrebten großen Steuertarifreform ist eine zentrale Forderung der CSU die Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage für kleine und mittlere Betriebe. Hier widerspreche ich der Auffassung der Bundesregierung und besonders Wirtschaftsminister Bangemann, die das nach der Antwort auf die Anfrage der SPD nicht anstreben wollen. Die CSU will sie und wird ihre Umsetzung weiter verfolgen. Sie kann allerdings nicht, wie heute von der SPD gefordert, als Schuß aus der Hüfte kommen, sondern sie muß durchdacht sein und muß in das Steuertarifkonzept Eingang finden. Ich appelliere vor allen Dingen an die Kollegen von der FDP. Denn wer diese steuerstundende Investitionsrücklage für ordnungspolitisch falsch hält, sollte sich einmal mit den Bilanzen kleiner und mittlerer Unternehmen
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Hinskenbefassen. Sie ist ein Schritt in die Richtung des Abbaus von Benachteiligungen kleiner und mittlerer Betriebe bei der Investitionsfinanzierung. Im Betrieb können rechtzeitig und kontinuierlich die erforderlichen Investitionsmittel angesammelt werden. Die FDP, aber auch einige ihr nahestehende Spitzenbeamte im Bundesfinanzministerium sollten sich endlich einen Ruck geben: keine Investitionsrücklage, keine Änderung des GWB, dafür aber Änderung der Ladenschlußzeiten: Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, werden Sie doch endlich nicht nur mit Worten, sondern auch in der Praxis mittelstandsfreundlich. Denken Sie auf diesem Gebiet bitte um.Meine Damen und Herren, wir brauchen ein Steuersystem, mit dem wir im internationalen Wettbewerb der Steuersysteme — denken Sie nur an die steuerliche Revolution in den USA — Schritt halten und uns, was Leistungs- und Innovationsanreize anbelangt, auch behaupten können. Das von der Bayerischen Staatsregierung unter dem Stichwort „Tarif 90" beschlossene steuerpolitische Konzept ist das solideste, was bislang in die steuerpolitische Reformdiskussion eingebracht wurde. Das Schwergewicht der Reform liegt beim Einkommensteuertarif und umfaßt auch die Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage für kleine und mittlere Unternehmen. Unser Ziel ist und bleibt, den mittelständischen Unternehmen die kontinuierliche Finanzierung von Investitionen zu erleichtern. Steuererhöhungen an anderer Stelle, etwa der Mehrwertsteuer, lehnen ich und viele Kollegen von mir ab.Unser Ziel muß es bleiben, erstens wieder mehr Spielräume für unternehmerische Entscheidungen zu öffnen, zweitens den Staatseinfluß durch öffentliche Sparsamkeit, Begrenzung von Subventionen und sinnvolle Privatisierung einzudämmen und drittens das Investitions- und Innovationsklima sowie die allgemeine Leistungsbereitschaft zu fördern.Nicht unerwähnt lassen will ich auch die positiven Beiträge, die hier von seiten der Bundesregierung für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur gekommen sind. Der Anteil der kleinen und mittleren Unternehmen am geförderten Investitionsvolumen betrug im Zeitraum 1982 bis 1985 83 %. Gerade diese Mittel wurden also in erster Linie von vielen kleineren und mittleren Betrieben am stärksten in Anspruch genommen. Deshalb ein Kompliment gerade in Sachen Regionalpolitik an die Bundesregierung schlechthin. In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, möchte ich aber erwähnen, daß es auch im Sinne des Mittelstands gilt — das sollte uns alle berühren —,
von der EG geplante zentralistische Maßnahmen, die das Subsidiaritätsprinzip verletzen, abzuwehren.Lassen Sie mich abschließend feststellen: Heuer ist schon das Jahr des Verbrauchers. Er kann die Früchte der Politik der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft ernten. Leistung lohnt sich wieder.Es gibt weniger Steuern und mehr Kaufkraft. Das macht sich auch beim Mittelstand bemerkbar; es klingelt wieder in der Ladenkasse.Lassen Sie uns im Sinne eines weiteren Erblühens unserer Volkswirtschaft daran arbeiten, daß aus dem Jahre des Verbrauchers ein Jahrzehnt des Mittelstandes wird. Alle, die dem Mittelstand und seinen Problemen gegenüber wirklich aufgeschlossen sind, können dies auch durch die Unterstützung bei der Änderung des GWB bzw. der Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage unter Beweis stellen.
Ihre Redezeit ist seit längerer Zeit zu Ende, Herr Kollege.
Einen Satz bitte noch.
Die CDU/CSU ist sich der stabilisierenden Kräfte des Mittelstandes für Wirtschaft und Gesellschaft bewußt. Diese Kräfte gilt es zu erhalten und zu stärken, und es gilt dafür auch das notwendige Verständnis bei den Kollegen zu finden.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Auf Antrag der CDU/CSU nach § 88 Abs. 2 der Geschäftsordnung wird die Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6164 auf den nächsten Sitzungstag vertagt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Änderung des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen und des Asylverfahrensgesetzes
— Drucksache 10/6151 —
Interfraktionell ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Wird dagegen Widerspruch erhoben? — Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lowack.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht heute wieder einmal um das Asyl. Wir haben es mit einem besonders prekären und diffizilen Bereich zu tun: Es ist das Zusammentreffen einer im Ausland begangenen Straftat sowie der Auslieferung und dem Asyl bzw. Asylantrag. Es geht um die Frage, wie dieser Konfliktfall durch ein harmonisches juristisches Verfahren besser gelöst werden kann. Das Parlament ergreift dabei von sich aus die Inititative; es ist unser Beitrag zur Problemlösung. Die gesetzgeberische Arbeit wird allerdings dadurch überlagert, daß das letzte Wort über die Auslieferung auch in Zukunft nicht
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Lowackbei der Justiz, sondern bei der Politik — genauer: dem Bundesaußenminister — liegt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es laufen etliche wegen Mordes und anderer schwerer krimineller Taten verfolgte Asylbewerber und Asylanten frei bei uns herum. Der Konfliktfall ist gegeben, weil deutsche Oberlandesgerichte zwar die Auslieferung gerichtlich bestätigt haben, die politische Ebene aber einer Auslieferung nicht zustimmt, weil sie den Asylbewerber oder Asylanten politischer Verfolgung in seinem Heimatland ausgesetzt sieht. Ich lasse offen, ob diese versteckte Kritik an unserer ordentlichen Gerichtsbarkeit gerechtfertigt ist. Jedenfalls wollen wir ihr mit dieser Gesetzesinitiative einerseits etwas den Wind aus den Segeln nehmen, andererseits aber auch gewährleisten, daß in die Entscheidungen der Oberlandesgerichte die Kenntnis von Richtern einfließt, die in Asylverfahren besonders erfahren sind. Auch wollen wir das Asylverfahren bei Zusammentreffen von Asylantrag und Auslieferungsverfahren in vielen Fällen vereinfachen und verkürzen.Wir erwarten, daß die Regierungsebene die Grundsätze der Neuregelung sowie die danach ergehenden richterlichen Entscheidungen in der Regel respektiert. Das ist für uns eine Frage, ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit. Ein Alibi für die Vergangenheit wollen wir nicht liefern.
Mit einer Änderung und Ergänzung des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 soll klargestellt werden, daß ein unanfechtbar anerkannter Asylant nicht ausgeliefert werden darf, wenn trotz der mit der Auslieferung verbundenen Sicherungen — ich zitiere — „zu besorgen ist", daß er mit der Auslieferung politischer Verfolgung ausgesetzt ist. Dies ermöglicht eine justizielle Entscheidung, die bisher im wesentlichen von der politischen Ebene ausgeführt wurde.Mit einer weiteren Ergänzung des Gesetzes soll das Auslieferungsverfahren erst zugelassen werden, wenn feststeht, daß entweder dem Asylantrag bestandskräftig stattgegeben wurde oder die Ablehnung durch Erhebung einer gerichtlichen Klage jedenfalls nicht endgültig ist. Bei Zulässigkeit des Auslieferungsverfahrens entscheidet dann ein Senat des Oberlandesgerichts, dem zwei Richter des Oberverwaltungsgerichts beigeordnet werden.Ob die bislang vorgesehene Regelung der Weisheit letzter Schluß ist, daß vier der fünf Richter — schamhaft als „zwei Drittel" bezeichnet — die Auslieferung beschließen müssen, wenn das Asyl unanfechtbar anerkannt ist oder über eine Klage noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, muß im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens geprüft werden. Das gleiche gilt für einige ergänzende Regelungen zum Verfahren, die im Rechtsausschuß noch einmal durchdacht werden müssen.Jedenfalls ist rundum begrüßenswert, wenn die Bearbeitungszeit beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Auslieferungsfällen mit einer Ergänzung des § 12 des Asylverfahrensgesetzes entscheidend verkürzt werden soll. Ob die bisher avisierten drei Monate für den Regelfall ausreichen, muß dann wohl die Praxis erweisen.Insgesamt halten wir den Gesetzentwurf für eine wichtige Ergänzung des derzeitigen Asyl- und Auslieferungsverfahrensrechts und bitten um Überweisung entsprechend der Weisheit des Ältestenrats.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist grundsätzlich erfreulich, daß die Koalition dieses außerordentlich wichtige Problem kurz vor Toresschluß doch noch aufgreift. Kein Verständnis haben wir allerdings dafür, daß dies erst jetzt, unmittelbar vor dem Ende dieser Legislaturperiode, geschehen soll.
Unser Gesetzentwurf zur Harmonisierung des Asylverfahrens mit dem Auslieferungsverfahren wurde schon am 22. Februar 1984, also vor mehr als zweieinhalb Jahren, im Bundestag eingebracht und im Rechtsausschuß mehrfach beraten, ohne daß triftige, die Hinhaltetaktik der Regierung sachlich rechtfertigende Argumente dagegen vorgetragen werden konnten.Schon eine erste kurze Überprüfung des in dieser Woche von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurfs ließ bei uns allerdings erhebliche Zweifel aufkommen, ob die Regelungen, die Sie für den Grenzbereich zwischen Asyl- und Auslieferungsverfahren vorsehen, geeignet sind, die vorhandenen Schwierigkeiten zu beseitigen.Wie wir im Fall Altun gesehen haben, geht es in den von diesen Vorschriften betroffenen Fällen nicht selten um Leben oder Tod, so daß wir mit denkbar größter Sorgfalt eine Lösung erarbeiten müssen. Wir können wirklich nicht verstehen, weshalb Sie sich nach wie vor dagegen sträuben, für rechtskräftig anerkannte Asylbewerber ein gesetzliches Auslieferungsverbot einzuführen. Die von Ihnen nunmehr vorgeschlagene Lösung ändert am gegenwärtigen Rechtszustand praktisch nichts. Danach wird es immer noch möglich sein, daß Asylbewerber, obwohl sie als politische Flüchtlinge rechtskräftig anerkannt sind, ausgeliefert werden. Diese Möglichkeit sollten wir, so unser Vorschlag, generell verbieten.
Ob der durch Ihren Gesetzentwurf neu einzuführende erweiterte Senat des Oberlandesgerichts ein geeignetes Instrument darstellt, den offensichtlich auch von Ihnen als unzuträglich empfundenen Rechtszustand entscheidend zu verbessern, werden wir im Rechtsausschuß noch gründlich prüfen müssen. Insbesondere werden wir uns damit zu beschäftigen haben, ob dem verfassungsrechtlichen Gebot des gesetzlichen Richters durch diese Lösung
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18494 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
Bachmaierin hinreichendem Umfange Rechnung getragen wird, ob wir nicht ausländischen Staaten — auch dies wird ein wichtiger Punkt sein — letztlich die Möglichkeit einräumen, durch ein Auslieferungsgesuch mit darüber zu bestimmen, welcher Spruchkörper in unserem Lande letztlich darüber entscheidet, ob ein Asylbewerber anerkannt wird oder nicht. Schauen Sie sich dies einmal genau an.Gründlich werden wir auch darüber beraten müssen, ob es rechtsstaatlich vertretbar ist, daß die Entscheidungen des neu geschaffenen, erweiterten OLG-Senats unanfechtbar und somit nicht rechts-mittelfähig sind. Schaffen wir dadurch nicht eine Benachteiligung der Asylbewerber, deren Auslieferung begehrt wird, gegenüber allen anderen Asylbewerbern, denen gegebenenfalls das Rechtsmittel der Berufung oder der Revision zur Verfügung steht?Meine Damen und Herren, dies sind nur einige Beispiele von Fragen, die wir im Rechtsausschuß in denkbar kürzester Zeit noch zu klären haben. Wir sind gerne bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten, daß noch in dieser Legislaturperiode der schwierige Grenzbereich zwischen Asyl- und Auslieferungsrecht gesetzlich so geklärt wird, wie es von einer humanen Rechtsordnung erwartet werden kann. Wir haben allerdings erhebliche Zweifel, ob die Gremien des Bundestages in der Schlußhektik der letzten Beratungswochen noch die notwendige Ruhe und Beratungsintensität aufbringen können, die für die zu diskutierenden sensiblen Fragen unserer Rechtsordnung zwingend geboten sind.Unser Gesetzentwurf liegt — das habe ich schon gesagt — dem Bundestag und seinen Gremien seit zweieinhalb Jahren vor. Er bietet klare und eindeutige, einem humanen Rechtsstaat angemessene Lösungen an. Dieser Gesetzentwurf wurde gründlich vorbereitet und vorberaten. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, diesen Gesetzentwurf auch für sich akzeptieren, können Sie sicher sein, daß die Probleme, die mit Ihrem nunmehr vorgelegten Gesetzentwurf verbunden sind, nicht entstehen werden. Wir bitten Sie daher nochmals zu erwägen, ob nicht unser Vorschlag eine auch von Ihnen zu akzeptierende, bessere, rechtsstaatlichere Lösung darstellt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Gewiß hat der Gesetzentwurf der SPD den Vorzug, Herr Kollege Bachmaier, daß er völlig klar ist, nicht zu zusätzlichen verfahrensrechtlichen Anstrengungen Anlaß gibt und das Problem ein für allemal lösen würde.Es ist uns jedoch von sachkundiger Seite gesagt worden, daß es nach wie vor Fälle gibt, in denen wir u. a. aus internationalen Verpflichtungen, seien sie rechtlicher oder tatsächlicher Art, auch da, wo Asyl beantragt oder gewährt worden ist, und auch nach unserer Rechts- und Staatsauffassung zu Auslieferungen kommen müssen. Das ist der Grund dafür, daß wir uns nicht der von Ihnen vorgeschlagenen einfacheren Lösung anschließen konnten, sondern versucht haben, die sehr unbefriedigende Tatsache zu berücksichtigen, daß wir hier in Fragen, in denen es tatsächlich um Leben und Tod geht, zwei Instanzenzüge haben, die absolut unabhängig voneinander über Fragen entscheiden, die in einem sehr innigen Zusammenhang miteinander stehen. Dieses Problem glaubten wir in der gegebenen Situation nicht anders als wie vorgeschlagen lösen zu können.Wir bitten schon heute bei den betroffenen Richtern um Verständnis für die zweifellos nach unserem Verfahren im großen ganzen fremde Lösung, die hier mit dem gemeinsamen Senat gefunden worden ist. Wir glauben aber, daß diese Verzahnung des beiderseitigen Sachverstandes die beste Möglichkeit ist, den nach Meinung aller zutage getretenen Problemen gerecht zu werden. Es würde sicherlich nicht verstanden werden, wenn wir weiterhin den Zustand dulden, daß hier völlig unabhängig voneinander über so eng zusammenhängende Dinge entschieden wird. Deshalb haben wir diesen Vorschlag hier vorgelegt.Zweifellos wäre es für die Zukunft eine schöne Perspektive, auf diesen Senat wieder verzichten zu können, indem man sich schließlich dem annähert, was Sie von der SPD vorgeschlagen haben. Da die Verhältnisse im Augenblick nicht so sind, müssen wir diesen komplizierteren Weg gehen und hoffen, daß sich bei weiterer Betrachtung und weiterem Zeitablauf die Sache noch einmal anders betrachten läßt.Ich darf am Rande darauf hinweisen, daß wir immerhin bei aller Fremdheit des Vorgangs vergleichbare Regelungen schon jetzt in unserem Verfahrensrecht haben. Zum Beispiel haben wir die Kammern in Bausachen, die aus Richtern sowohl des Verwaltungsgerichts als auch des ordentlichen Gerichts zusammengesetzt sind, so daß man nicht sagen kann, wir hätten hier absolutes Neuland betreten.Zur Frage des Zeitablaufs darf ich jedenfalls eines besonders für die Freien Demokraten in Anspruch nehmen: Solange Hans-Dietrich Genscher Bundesaußenminister und Herr Engelhard Justizminister sind — das war aber auch unter ihren Vorgängern so —, hat die Möglichkeit, die letzte Entscheidung ohne Rücksicht auf das Ergebnis der gerichtlichen Verfahren in Auslieferungssachen dort zu treffen, dazu geführt, daß sich nach unserer Ansicht ein aktueller Handlungsbedarf nicht ergeben konnte. Wir wollen lediglich aus Gründen der Rechtsklarheit hier nunmehr eine rechtliche Regelung treffen, ohne uns auf die genannten Institutionen außerhalb rechtsförmlicher Verfahren zu verlassen, zumal wir nicht für alle Ewigkeit sicher sind, wie diese Stellen besetzt sein werden.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986 18495
Das Wort hat der Abgeordnete Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Liebe Männer und Frauen! Die Koalition hat drei Jahre gebraucht, bis sie die Konsequenzen aus dem erschütternden Tod des Kemal Altun in Berlin ziehen wollte. Der Kollege Lowack hat zur Begründung dieses Gesetzentwurfs u. a. ausgeführt, es liefen in der Bundesrepublik Leute herum, die verdächtig seien, in ihren Heimatländern, in ihren Herkunftsländern schwere Straftaten begangen zu haben; die müßten doch in irgendeiner Weise wieder dahin zurückgebracht werden können. Herr Kollege Lowack, dann sagen Sie auch ganz klar, wen Sie da meinen. Meinen Sie damit die Widerstandskämpfer, die beispielsweise aus Chile in der Bundesrepublik sind? Wollen Sie die auf diese Art und Weise zurückbringen? Oder wollen Sie die Leute, die aus politischen Gründen in der Türkei verfolgt sind, auf diese Art und Weise der türkischen Regierung und Justiz überantworten? Auch das müßten Sie konkret sagen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lowack, Herr Ströbele?
Herr Kollege Ströbele, nachdem Sie mich direkt gefragt haben, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es mir darum ging, ein justizielles, durch den Gesetzgeber geregeltes Verfahren anzustreben, und um nichts anderes?
Es ging mir darum, aufzuzeigen, was Sie als Begründung für diesen Gesetzentwurf heranziehen. Ich komme auf den Inhalt dieses Entwurfs jetzt zurück.Nach dem Tod von Kemal Altun bestand Handlungsbedarf. Das war klar. Die Fraktion der GRÜNEN hat bereits im September 1983 einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Der SPD-Entwurf deckt sich in weiten Teilen mit dem von den GRÜNEN ein halbes Jahr vorher vorgelegten Entwurf.Kemal Altun hat es nicht verstanden, es wollte einfach nicht in seinen Kopf hinein, daß es in der Bundesrepublik möglich ist, daß das eine Gericht sagt, du bist aus politischen Gründen in deinem Heimatland verfolgt und bekommst deshalb Asyl, während ein anderes Gericht in der Bundesrepublik sagen kann, trotzdem wirst du in dein Heimatland, in das Herkunftsland, in das Land, wo du politisch verfolgt wirst, abgeschoben. Das hat Kemal Altun nicht verstanden. Da hat er keinen anderen Ausweg gesehen, als Schluß zu machen, als sich das Leben zu nehmen.Wenn man diesen Gesetzentwurf anschaut, sieht man, daß Sie von diesem Konflikt nichts begriffen haben, weil genau der Konflikt, der Widerspruch, der Kemal Altun in den Tod getrieben hat, aufrechterhalten wird. Nach wie vor soll es möglich sein, Menschen, die beispielsweise durch die Verwaltungsgerichte — bis zum Bundesverwaltungsgericht — rechtskräftig als Asylberechtigte, als politisch Verfolgte anerkannt sind, in ihre Herkunftsländer, in das Folterland, in das Land der Verfolgung auszuliefern, und zwar immer dann, wenn dieses Herkunftsland erklärt, daß es sich ändern wird, daß es ihnen nur in bestimmtem Maße bei der Strafverfolgung zu Leibe geht.Wir wissen doch, wie die Praxis aussieht. Das sieht dann so aus, daß beispielsweise von der türkischen Regierung oder der deutschen Botschaft in der Türkei eine Stellungnahme abgegeben wird, wonach es in der Türkei sehr wohl auch ordentliche Verfahren gebe und davon auszugehen sei, daß sich die türkische Regierung daran halte, was sie sage. Dann kann nach Ihrem Gesetzentwurf ein in der Bundesrepublik als asylberechtigt Anerkannter beispielsweise in die Türkei abgeschoben werden. Das ist die Reverenz, die Sie dem NATO-Bundespartner Türkei erweisen. Sie wissen auch, daß es sich bei vielen dieser Fälle, die zum Problem geworden sind, um türkische Flüchtlinge gehandelt hat und handelt.Sie müssen sich fragen lassen, ob es das gewesen ist, was der Parlamentarische Rat mit der Einführung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG erreichen wollte. Da steht doch nicht: Politisch Verfolgte genießen Asyl, es sei denn, sie werden ausgeliefert, weil der Staat, in den sie ausgeliefert werden sollen, erklärt, er werde sich an rechtsstaatliche Verfahren halten. Vielmehr steht da ganz eindeutig — ohne jede Einschränkung —: Politische Verfolgte — nur das muß festgestellt werden — genießen in der Bundesrepublik Asyl. Diesen Grundsatz wollen Sie wieder einmal mit einer Gesetzesinitiative durchbrechen. Sie wollen diese Leute im wahrsten Sinne des Wortes an die Verfolgerländer ausliefern.Ganz nebenbei versuchen Sie, durch diese Einrichtung des gemeinsamen Senats — darüber hat hier gar keiner gesprochen — den Instanzenzug für Asylbewerber in der Bundesrepublik in ganz entscheidendem Maße zu verkürzen.
— Dann Entschuldigung; das habe ich nicht gehört.— Sie schaffen für Asylbewerber, gegen die ein Auslieferungsersuchen vorliegt, praktisch nur noch eine einzige Instanz dieses gemeinsamen oder großen Senats oder wie immer er genannt wird.
— Sie haben j a auch schon den Plan. Er steht ja auch in anderen Entwürfen. Danach soll das Oberverwaltungsgericht zur alleinigen Instanz für Entscheidungen über Asylbegehren gemacht werden. Das liegt auf derselben Linie. Der Instanzenzug wird den Asylbewerbern vorenthalten. Letztlich ist das eine weitere Maßnahme, die zeigt, wie ernst Sie von der Koalition das Grundrecht auf Asyl nehmen. Diese Maßnahme steht in einer Linie mit den von Ihnen beschlossenen und in Vorbereitung befindlichen Abschreckungsgesetzen, die Sie erlassen wollen, um asylberechtigte politisch Verfolgte davon abzuhalten, in der Bundesrepublik um Asyl nachzusuchen, steht in einer Reihe mit den Maßnahmen, die Sie mit der DDR ausgekungelt haben, um asylberechtigte politisch eindeutig Verfolgte von den Grenzen der Bundesrepublik fernzuhalten.
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18496 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Oktober 1986
StröbeleDeshalb kann eine solche Gesetzesinitiative niemals unsere Zustimmung finden. Für uns ist das im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf politisches Asyl unantastbar. Es gibt im übrigen den Grundsatz, daß auch internationale Regeln nicht geeignet sind, Grundrechte außer Kraft zu setzen. Verfassungsrecht geht diesen Regeln in der Bundesrepublik vor. Wir werden dieses Grundrecht im Ausschuß und auch bei weiteren Lesungen dieses Gesetzentwurfs im Bundestag verteidigen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf Drucksache 10/6151 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu noch weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, denn 22. Oktober 1986, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.