Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich habe zunächst einiges bekanntzumachen.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die heutige Tagesordnung wie folgt abgewickelt werden: Zusatzpunkt 6: Aktuelle Stunde, namentliche Abstimmung über den Entschließungsantrag Drucksache 10/2189, Punkt 28: Verfassungsstreitsache, Zusatzpunkt 4: Erste Beratung des Entwurfs eines Arbeitsförderungs- und RentenversicherungsÄnderungsgesetzes, Punkt 29: Zweite Änderung des Hochschulrahmengesetzes, Punkt 31: Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönlands.
Punkt 30 — Förderung der Drittmittelforschung im Rahmen der Grundlagenforschung — soll von der Tagesordnung abgesetzt werden.
Nach einer weiteren Vereinbarung im Ältestenrat soll der von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachte Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Altölgesetzes — Drucksache 10/1435 — in Abänderung der in der 75. Sitzung am 8. Juni 1984 getroffenen Entscheidung nunmehr zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden.
Noch eine Mitteilung: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll Punkt 17 der Tagesordnung, Frage des Beitritts von Spanien und Portugal zur Europäischen Gemeinschaft, abgesetzt werden.
Sind Sie mit diesen Regelungen einverstanden? — Es ergibt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Die türkischen Militäroperationen gegen die Kurden und die Rolle der NATO-Verteidigungshilfe der Bundesrepublik Deutschland
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schneider.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die GRÜNEN im Bundestag haben diese Aktuelle Stunde nicht wegen irgendwelcher Militäraktionen beantragt, wie es in der offiziellen Ankündigung heißt, sondern weil derzeit offensichtlich im Namen der westlichen Wertegemeinschaft in den Grenzgebieten Türkisch-Kurdistans von einem NATO-Verbündeten der Bundesrepublik ein regelrechter Krieg stattfindet. Der Mann, der hinter der Fassade von Scheinparlament und angeblicher Demokratisierung die Macht in der Türkei ausübt, nämlich General Evren, hat dies selbst genauso ausgesprochen, einen Tag nachdem in diesem Hause in der letzten Türkei-Debatte z. B. Frau Hamm-Brücher noch „Fortschritte in -der Normalisierung" konstatieren zu müssen glaubte und Herr Schwarz von der „Pflicht" der türkischen Armee sprach.Die Vollstreckung der Todesurteile an Ilyas Has nur wenige Stunden nach dieser Debatte im Bundestag und an Hidir Arslan gestern morgen zeigen mit schrecklicher Deutlichkeit, daß Beschönigungen angesichts der Wirklichkeit in der Türkei nicht mehr ausgesprochen werden können.Warum brauchen Sie, meine Damen und Herren, eigentlich immer blutigere Beweise um zu erkennen, daß sich an Terror und Menschenrechtsverletzungen im Lande Ihres NATO-Partners nichts geändert hat? Hinrichtungen, Folter, systematische Unrechtsprechung, Parteienverbote, Nichtzulassung von Gewerkschaften, Pressezensur, das ist die Realität in der Türkei.Vor diesem Hintergrund findet der vergessene Krieg in Kurdistan statt, und die Bundesrepublik finanziert diesen Krieg mit.Kurz die Fakten: Seit Wochen kämpft die Armee gegen die türkische Bevölkerung in der Osttürkei. Das iranisch-irakisch-türkische Grenzgebiet soll entvölkert werden; drei Grenzdörfer wurden bereits umgesiedelt. Bis zum 15. November 1984 soll ein Niemandsstreifen entstehen, 50 Dörfer sollen bis weit in das Land hinein umgesiedelt werden. Von diesem Militärprogramm sind vor allem die Kurden vom Stamm der Jirkis betroffen. Viele Stammes-
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6956 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Schneider
mitglieder sind in die Berge geflohen. Kommentar der Zeitung „Milliet": „Die Suche nach den zum Tode Verurteilten in den evakuierten Gebieten wird fortgesetzt, und es wird angenommen, daß sie bald gefaßt sind." In den Dörfern werden die Menschen zusammengetrieben, eingeschüchtert, es gibt Massenverhaftungen und viele Todesopfer. Mehrere Jirki-Dörfer sind am 20. September bombardiert worden.Die Transportflugzeuge, Lastwagen, Waffen und Munition, die mittels der NATO-Verteidigungshilfe aus der Bundesrepublik angeschafft werden konnten, dienen eben nicht der Verteidigung des Landes, sondern der Einschüchterung und der Unterdrükkung der Kurden.
Das ist kalkuliert. Genau für einen solchen Einsatz ist diese militärische Ausrüstung auch bestimmt. Denn es geht eben nicht um den Kampf gegen Separatisten und Banditen oder Terroristen, sondern darum, die Kurdengebiete in der Osttürkei für den Ausbau von NATO-Stützpunkten zu sichern. Es war auch kein Zufall, daß sich NATO-Oberbefehlshaber Rogers wenige Stunden vor Beginn dieses Krieges, der sich „Aktion Sonne" nennt, am 15. August in der Türkei aufhielt. Die türkische Zeitung „Cumhuriyet" zitierte Richard Burt vom US-Außenministerium: „Im Falle der Bedrohung der Sicherheit der Türkei werden wir die auf uns zukommenden Aufgaben ohne Zögern erfüllen."Die Türkei soll zum westlichen Sicherheitsposten im sogenannten Krisenbogen, der von Pakistan bis Ägypten reicht, ausgebaut werden. Bereits seit dem Herbst vergangenen Jahres wird der Helikopterflugplatz Hakkari, nur wenige Kilometer entfernt von der Grenze zum Iran und zum Irak, auch mit NATO-Mitteln ausgebaut. Für 1985 veranschlagen die USA 1 Milliarde US-Dollar für den Ausbau von Großflugplätzen, Horchposten, Waffen- und Materialdepots, die nahezu alle in der Osttürkei liegen. Der Preis dafür ist die Unterdrückung der Kurden, und das soll offensichtlich sofort geschehen.Vor diesem Hintergrund fordern wir die Rücknahme des Beschlusses über den Beitrag der Bundesrepublik im Rahmen der NATO-Verteidigungshilfe in Höhe von 130 Millionen DM; denn es handelt sich um Militärhilfe an einen kriegführenden Staat.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pohlmeier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es macht einen Sinn, daß wir in diesem Hause an diesem frühen Morgen eine Debatte über Probleme eines mit uns verbündeten — und, wie ich hinzufügen möchte, uns auch in weiten Bereichen freundschaftlich verbundenen — Landes führen. Ich weiß aber nicht, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ob die provokativeArt, in der Sie dieses Thema hier heute morgen behandeln,
eine Aussicht bietet, an den Dingen wirklich etwas zu verbessern und die Lage zu verändern.
Die Kurden in der Türkei sind in diesem Staat eine Minderheit, wie sie auch in den Nachbarländern Minderheiten sind. Kurdische Probleme, auch Probleme mit Aufständen der Kurden, hat es in den letzten Jahren weiß Gott auch in den Nachbarländern Irak, Iran usw. zur Genüge gegeben.
Das kurdische Volk gehört zu den orientalischen Völkern im Nahen Osten, die niemals in ihrer Geschichte einen eigenen Staat besessen haben. Der kurdische Bevölkerungsteil in der Türkei hat weiterhin den ganz erheblichen Nachteil, in dem entlegensten, gebirgigen Teil dieses Landes leben zu müssen — ohne eine entsprechende Infrastruktur, mit gravierenden sozialen Benachteiligungen, als ärmster Bevölkerungsteil in diesem Lande überhaupt mit einem großen Entwicklungsrückstand.Minderheiten in einem Staat, in einer Nation haben es allüberall in Ländern der Dritten Welt sehr schwer. Sie geraten vor allem dann unter Druck, wenn es für diese Länder darum geht, die Integrität ihrer Grenzen und die Identität der Nation erst zu schaffen oder in einem frühen Stadium zu erhalten und zu bewahren.Die Verfolgungen von ethnischen Minderheiten in diesen Staaten erstrecken sich durch nahezu alle Länder in der Dritten Welt. Denken Sie an Äthiopien, oder schauen Sie in den Sudan hinein. Überlegen Sie bitte auch einmal, was ein Herr Mugabe in Simbabwe im Matabele-Land in den letzten Jahren und noch in den letzten Wochen angestellt hat.
Meine Damen und Herren, ich habe es eingangs gesagt: Deswegen bemühen wir uns in besonderer Weise, diese Dinge durch interne Gespräche mit den Türken zu verbessern.Es muß also die Aufforderung an die Türkei wie auch an andere Länder in der Dritten Welt gerichtet werden, einen anständigen Umgang mit ihren Minderheiten zu schaffen und zu erlernen. Aber, meine Damen und Herren, gelingen kann das ganz sicher nicht, wenn die Aufstandsbewegung weiter um sich greift und es Verbindungen, so wie die „Neue Zürcher Zeitung" noch Anfang September zu berichten wußte, zur türkischen Kommunistischen Partei, die j a wohl von Ost-Berlin aus operiert, gibt, wenn es Waffenfunde aus sowjetischen Beständen im kurdischen Aufstandsgebiet in der Türkei gibt.Ich glaube nicht, daß das Voraussetzungen dafür sind, daß wir hier zu einer Befriedung kommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6957
Dr. PohlmeierIn den letzten Wochen und Tagen häuften sich die Berichte von Überfällen auf kurdische Dörfer, auch von kurdischen Aufständischen auf kurdische Dörfer. Nomadengruppen wurden überfallen, Herden wurden vernichtet. Ich glaube, diese Seite der Entwicklung, meine Damen und Herren — Herr Schneider, Sie vor allem —, dürften Sie, wenn Sie hier über die kurdische Minderheit in der Türkei sprechen, nicht verschweigen.
— Ich habe mich auf einen Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung" von Anfang September bezogen. Es wäre dort nachzuschlagen.Ich richte deswegen einen Appell an die türkische Regierung, eingebettet in den Demokratisierungsprozeß, in dem sich dieses Land befindet und den wir zu fördern in der Lage und auch willens sind, durch unsere wirtschaftliche Hilfe, durch unseren Rat, durch unsere Diskussion mit allen befreundeten Menschen in der Türkei, auf der politischen Ebene und auf anderen Ebenen, auch einen Weg zu finden, mit der türkischen Minderheit der Kurden in dieser entlegenen Ecke ihres Landes fertig zu werden und sie in ihren Staat einzufügen.Ich bedanke mich sehr.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Begriff Kurden, den der amtliche türkische Sprachgebrauch nicht kennt, beschreibt ein Volk, das sich nach dem Ende des Osmanischen Reiches auf sechs Nationen aufgeteilt wiederfand und keinen Staat bekam, obwohl man es ihm ursprünglich im Vertrag von Sèvres von 1920 zugesagt hatte. In der Folgezeit hat es an Unruhen und Aufständen nicht gefehlt.Heute reden wir hier nun über die große Minderheit der Kurden, die in der Türkei lebt. Es sind etwa 6 Millionen. Sie stellen wahrscheinlich die Hälfte aller Kurden überhaupt und mehr als 10 % der Einwohner des Landes dar.Daß wir Anlaß dazu haben, darüber zu reden, ist darin begründet, daß sich seit Mitte August die Unruhen in diesem Teil Anatoliens wieder häufen, daß es auch Überfälle gegeben hat, besonders bei Eru und Semdinli. Die Aktionen scheinen uns zum Teil Protest zu sein gegen die besonders harte Verfolgung der Kurden, die nicht nur um demokratische Rechte, sondern auch um ihre Minderheitsrechte kämpfen. Schließlich hat man ihnen j a ihre kulturellen Organisationen, ihre Zeitungen verboten und erlaubt ihnen nur den Privatgebrauch ihrer Sprache. Zum Teil sind die Überfälle sicher auch in der Separatistenbewegung begründet, die durch die Auseinandersetzung zwischen Irak und Iran begünstigt wird, und die auch eingebettet ist in durchaus weitreichende Überlegungen der angrenzenden Staaten, die die Auseinandersetzung nutzen wollen, die die kurdischen Stämme unter sich haben.Deshalb muß man sich hier hüten, in den fünf Minuten, die eine Aktuelle Stunde gewährt, zu einer zu einfachen Schilderung dieses Problems zu kommen.
Wir haben auch nicht die Absicht, hier die territoriale Integrität des türkischen Staates anzugreifen. Uns treibt nur die Sorge um, daß unter den verschärften Bedingungen am Dreiländereck durch Verhaftungen, Verfolgungen, Durchsuchungen, Prozesse usw. wieder jene Häufung von Menschenrechtsverletzungen eingetreten ist, die wir hier schon im April beklagt haben und die die Schwierigkeiten einer Minderheit erhöht, die man einfach zu Bergtürken ernannt hat, ob sie das nun wollten oder nicht.Wir billigen nicht die bewaffneten Überfälle und verstehen auch, daß sie Sicherheitsmaßnahmen auslösen. Ob sie aber solche Maßnahmen auslösen müssen, muß sehr bezweifelt werden. Wir beklagen und verurteilen heute erneut die Tatsache, daß es noch in so vielen Provinzen Kriegsrecht gibt, daß es Bürgerrechtsbeschränkungen, Prozesse und sogar Hinrichtungen gibt. Jeder demokratische Staat der Welt kann dies nur mißbilligen.Wir denken vielmehr, daß mit einem Blick auf die soziale Unterentwicklung gerade dieser Region in Südostanatolien vielleicht die Frage von Ursache und Wirkung neu zu überdenken wäre.
Dies soll in aller Bescheidenheit unser Rat an das uns befreundete türkische Volk sein.Wir, die SPD-Fraktion, haben in diesem Jahr die Verteidigungshilfe an die Türkei abgelehnt. Wir denken, das ist nach wie vor begründet, weil wir Demokratisierungsfortschritte nicht deutlich erkennen. Wir stimmen keineswegs mit der amtlichen türkischen Aussage überein, daß die amerikanische und die deutsche Verteidigungshilfe zeigen, daß Kritik an der Türkei nicht angebracht oder gar zum Scheitern verurteilt ist.
Unkritisches Verhalten, meine Damen und Herren, ist überhaupt kein Beweis von Freundschaft.
Ich möchte auch dem Außenminister etwas mehr Sorgfalt empfehlen. Es ist außerordentlich unbefriedigend, wenn ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages zur Haltung in bezug auf die Kurdenfrage nachfragt und ihm nur gesagt wird, es sei alles noch so wie von Herrn Staatsminister Möllemann vor einem Jahr in der Fragestunde hier dargestellt. Dieser hat aber damals nur dargestellt, es sei alles noch so, wie es Staatsminister Corterier vor weiteren anderthalb Jahren hier dargestellt habe. Ich glaube, das ist ein bißchen wenig.
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Frau HuberMeine Damen und Herren, die Kurden sind von uns zwar räumlich weit weg; ihre Probleme sind uns aber doch näher, als die Regierung glaubt.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich hier schon einmal darüber beklagt, daß das Instrument der Aktuellen Stunde dazu benutzt wird, in morgendlicher Frühe zu sehr komplizierten Themen sehr kurze Stellungnahmen abzugeben, die uns nicht weiterhelfen. Ich weiß nicht, ob sich das Parlament einen Gefallen damit tut, wenn es diese Prozedur fortsetzt, unter allen Umständen in jeder Woche drei Aktuelle Stunden durchzuziehen, gleichgültig, über welches Thema.
Ich sage das deshalb, weil auch aus den Ausführungen meines Kollegen von den GRÜNEN deutlich geworden ist, daß hier wieder einmal alle möglichen Dinge vermischt werden. Ich glaube, eine Debatte über die Kurden bedarf einer sehr viel gründlicheren Auseinandersetzung mit diesem Problem als diese Attacken auf die Türkei und damit die NATO; das eigentlich bezwecken Sie. Die Kurden waren sozusagen nur der Vorwand für die eigentliche Tendenz, die Sie hier zum Ausdruck bringen wollen.
Ich halte das im Interesse des Kurdenproblems einfach nicht für sauber, ehrlich und richtig.
Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, als stellte sich das Kurdenproblem als ein aktuelles Problem. Das wissen Sie genausogut wie ich. Es stellt sich auch nicht nur in der Türkei. Das ist bereits in den Ausführungen meiner Vorredner deutlich geworden. Gestern ist es uns offensichtlich durch die Aktuelle Stunde geglückt, die Freilassung von Abouchar zu erreichen. Er ist inzwischen, wie Sie wissen, begnadigt worden. Das ist möglicherweise auf die Aktuelle Stunde zurückzuführen. Vielleicht lösen wir auch das Kurdenproblem hier. Ich darf das einmal ironischerweise sagen.
Ich muß Ihnen sagen: Ich halte es für bedenklich, wenn wir eine solche Frage hier aktualisieren und ihr damit eigentlich die Bedeutung rauben, die sie hat.
Sie können dann auch nicht einfach nur die Türkei attackieren, sondern Sie müssen beispielsweise auch die Frage aufgreifen, was im Iran passiert ist und noch passiert und was im Irak passiert. Alle diese Staaten sind nicht bereit, ein freies Kurdistan zu schaffen. Darüber gibt es in allen diesen Staaten eine Übereinstimmung. Es gibt bei allen diesen Staaten, soweit wir das beobachten können, die Bereitschaft, den Kurden bis zu einem gewissen Grad eine kulturelle Autonomie zuzugestehen. Aber es gibt nicht die Bereitschaft, Separatismus oder Anschläge hinzunehmen.
Ich meine, Sie müssen auch der Türkei zumindest zugestehen, daß auf militärische Aktionen, wie sie in Anatolien geschehen sind, Antworten erfolgen. Ich bin mit Ihnen einig: Über die Art und Weise dieser Antworten wird sicher in einem demokratischen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland anders gedacht, als das in der Türkei der Fall ist. Aber daraus den Schluß zu ziehen, die Türkei insgesamt verurteilen und denunzieren zu können, nur weil dieses Problem seit Atatürk anhält und nicht gelöst werden konnte und Grausamkeiten geschehen sind und leider auch noch geschehen, halte ich einfach nicht für berechtigt.
Sie versuchen im Grunde genommen, mit dem Kurdenproblem die NATO zu treffen. Ich glaube, das wird immer deutlicher. Sie kommen damit einer Lösung des Kurdenproblems einfach nicht näher.
Das ist meine Intervention an diesem Morgen. Ich wünsche mir, daß wir die Kurdenfrage wirklich einmal sehr ausführlich und unter Hinzuziehung von Leuten, die etwas davon verstehen, im Auswärtigen Ausschuß, wohin sie gehört, behandeln und dann zu sinnvollen Folgerungen kommen anstatt am frühen Morgen in Fünfminutenbeiträgen, die diesem Problem nicht gerecht werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, das Verspritzen von Moralinsäure, wie Sie das getan haben, hätten Sie sich sparen können.
Ich möchte diese Aktuelle Stunde ausdrücklich begrüßen.Es geht nicht nur darum, die Türkei zu verurteilen und so zu tun, als könnten wir mit der Aktuellen Stunde das Kurdenproblem in der Türkei lösen, sondern es geht auch darum, daß diese Bundesregierung trotz der Anmahnung der Verbesserung der Menschenrechte, trotz der Anmahnung der Verbesserung der Situation der kurdischen Minderheit in diesem Jahr wieder beschlossen hat, eine Militärhilfe in Höhe von 130 Millionen DM an die Türkei zu leisten. Das darf, glaube ich, nicht unwidersprochen hingenommen werden. Deshalb ist diese Aktuelle Stunde zu begrüßen.
Die Türkei ist zwar Mitglied der NATO und erfüllt in diesem Bereich wichtige Aufgaben.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6959
JungmannIhre militärische Bedeutung darf aber nicht vergessen machen — Herr Kollege Klein —, daß seit über vier Jahren elementare Menschenrechte, Minderheitsrechte in der Türkei unterdrückt werden. Die Wahlen haben kaum Verbesserungen gebracht. Noch immer haben die Militärs das Sagen. In der Türkei herrscht eine Demokratie unter Kuratel.Was uns zusätzlich betroffen machen muß, ist der regelrechte Krieg gegen die kurdische Minderheit, der sogar über die Grenzen der Türkei hinaus auf das Gebiet des Iraks ausgedehnt worden ist. Das Problem der kurdischen Minderheit und die Forderung nach kultureller Eigenständigkeit dürfen nicht mit Waffengewalt gelöst werden und sind nicht durch Waffengewalt zu lösen.
Die Verletzung der Menschenrechte in der Türkei und das Vorgehen gegen die Kurden haben die letzte von der SPD geführte Bundesregierung dazu veranlaßt, die fällige 13. Tranche an Militärhilfe im Jahre 1982 auszusetzen. Die Türkei wurde damals wiederholt energisch und mit Nachdruck aufgefordert, wieder demokratische Verhältnisse einzuführen und die Menschenrechte zu achten.Anders Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Gerade diejenigen, die immer wieder den Charakter der NATO vor allem als Wertegemeinschaft betonen, bewerten offensichtlich die militärische Kooperation mit der Türkei höher als die Einhaltung der Menschenrechte und ganz besonders die Versuche, eine militärische Endlösung der Kurdenfrage herbeizuführen. Gegen den Widerstand der SPD hat die Wenderegierung nach dem Dezember 1982 weitere Militärhilfe bewilligt. Jetzt sollen weitere 130 Millionen DM fließen.
Im einzelnen sind das u. a.: 6,4 Millionen DM für das Heer, insbesondere für die Einsatzfähigkeit von Panzern, 45 Millionen DM für die Verbesserung der Lufttransportmittel,
35 Millionen DM für Komponenten eines zusätzlichen U-Bootes und 7,1 Millionen DM für zwei Flugzeuge des Generalstabs. Schließlich sollen im Rahmen der Militärhilfe weitere F 104, Kampfpanzer M 48, Lastwagen und Munition im Werte von 26 Millionen DM geliefert werden.Diese Mittel könnten zu einem großen Teil direkt für die menschenverachtende Politik der Türkei gegen die kurdische Minderheit eingesezt werden.
— Sie müssen zuhören, Herr Kollege. Ich habe gesagt: könnten.
Als Beispiel für die Wirklichkeit der Verbindungen zwischen der NATO und damit auch der Bundesrepublik Deutschland und dem Krieg gegen dieKurden seien nur die Bombardements der kurdischen Dörfer in der Türkei und im Irak im Mai 1983 und jetzt wieder genannt.
Eine Brigade der türkischen Armee drängte in den Irak ein, gerade als in dem Gebiet ein Manöver der NATO begonnen hatte, bei dem die Einrichtung schneller Eingreiftruppen geübt wurde. Hier muß die Bundesregierung ihre Verantwortung erkennen und durch praktische Konsequenzen verdeutlichen. Da hilft nicht Geschrei im Parlament, Herr Kollege Klein.Die Bundesrepublik gerät ungeachtet aller Beteuerungen und Initiativen in den Verdacht, die menschenverachtende Politik der türkischen Regierung gegen ihre eigene Bevölkerung und gegen die kurdische Minderheit zu unterstützen.
Durch die aktuellen Vorgänge in der Türkei gegen die kurdischen Minderheiten fühlen wir uns in unserer Ablehnung der Militärhilfe bestätigt
und fordern Sie, die Bundesregierung, nachdrücklich auf, die Militärhilfe nicht durchzuführen und durch energischen Druck auf die Türkei zu erreichen, daß die Minderheitenrechte der Kurden geachtet und die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei nicht weiter durchgeführt werden.Fortschritte in Menschenrechtsfragen sichtbar zu machen würde ...
Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
... würde der Türkei und dem Ansehen der NATO in der Welt helfen.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Oldenstädt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Stoßrichtung dieser Aktuellen Stunde ist klar: Es soll eine unmittelbare Verbindung zwischen NATOVerteidigungshilfe und den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, den tatsächlichen wie vor allen Dingen den behaupteten, gezogen werden.
Anders ausgedrückt: Die Bundesregierung und die Koalition sollen für diese Verletzungen verantwortlich gemacht werden.
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6960 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Dr.-Ing. OldenstädtDamit wird, so hofft man, erstens die moralische Verurteilung der Mehrheit in diesem Hause und zweitens die Schwächung des Bündnisses erreicht. Beides, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird nicht gelingen.
In meiner Entgegnung werde ich mich als Verteidigungspolitiker insbesondere der zweiten Zielsetzung zuwenden und auf diese Weise gleichzeitig Wiederholungen vermeiden.Die Türkei gehört der Nordatlantischen Allianz seit 1952 an, nachdem sie sich bereits 1947 auf Grund ihrer historischen Erfahrungen unter den Schutz der Vereinigten Staaten gestellt hatte. Das Sicherheitsbedürfnis der Türkei ist regierungsstrategisch bestimmt durch eine lange, offene Schwarzmeerküste und eine gemeinsame Landgrenze mit der Sowjetunion von etwa 500 Kilometern Länge. Aus der Sicht des Bündnisses gewinnt die Türkei ihre besondere Bedeutung als Vorposten und Eckpfeiler dadurch, daß sie die Meerengen zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis bewacht, daß sie den Überflug sowjetischer Kampfflugzeuge auf dem direkten Wege nach Nordafrika verhindern oder doch wenigstens behindern kann, und dadurch, daß die Transitwege von Europa in den Nahen Osten über ihr Territorium führen.Innerhalb des Bündnisses unterhält die Türkei mit etwa 500 000 Soldaten das größte stehende Heer. Sie bindet damit etwa 30 sowjetische Divisionen, die sonst der Bedrohung in Abschnitt Europa Mitte zugeführt werden könnten.
Die türkischen Soldaten sind gut motiviert und ausgebildet. Ihre Ausrüstung ist nicht die modernste, jedoch in bestem Zustand.Die notwendige Verteidigungsanstrengung zu leisten, ist das Land aus eigener Kraft nicht in der Lage, obwohl es, gemessen am Bruttosozialprodukt, weit mehr als wir, in absoluten Zahlen jedoch nur etwa ein Siebtel dessen aufbringt, was wir ausgeben müssen.Auf Grund dieser wirtschaftlichen Schwäche haben wir neben den Vereinigten Staaten seit 1964 erhebliche Hilfe gewährt. Dies geschah in Übereinstimmung mit Art. 3 des NATO-Vertrages, wonach die Ziele der Allianz durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung verwirklicht werden sollen.
In jedem einzelnen Vertrag über diese Hilfen, die ausschließlich aus Materiallieferungen und Dienstleistungen bestehen, ist festgelegt, daß sie nur im Einklang mit Art. 5 des Nordatlantikvertrages verwendet werden dürfen, d. h. nur zur Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff auf das NATO-Gebiet.Unter diesen Bedingungen hat die Türkei seit 1964 eine unentgeltliche Hilfe von insgesamt 2,8 Milliarden DM von uns bekommen. Die Hilfen haben sich konzentriert auf die Errichtung von zwei Panzerinstandsetzungswerken, die Einrichtung einer Fabrik für Handfeuerwaffen, den Aufbau einer Überholungswerkstatt und Wartungsanlage für Triebwerke, die logistische Versorgung von 20 Transall-Transportmaschinen und die Unterstützung beim Ausbau von zwei Marinewerften.Diese Beispiele machen nicht nur den defensiven Charakter unserer Unterstützung deutlich, sondern weisen zugleich auf die Bedeutung auch für den türkischen Arbeitsmarkt hin.Die 14. Tranche unserer Verteidigungshilfe — von Mitte 1984 bis Ende 1985 zu zahlen; mit einem Wert von 130 Millionen D-Mark hat sie den gleichen Wert wie die 13. Tranche —
dient im wesentlichen der Fortsetzung und Ergänzung der genannten Projekte. Ich freue mich, daß sie in den zuständigen Ausschüssen beschlosen wurde. Sie trägt dazu bei, die Panzerverbände an den Meerengen einsatzfähig zu erhalten, die ÄgäisZugänge zu sichern und den Lufttransport innerhalb der Türkei zu gewährleisten.
Mit diesem Beitrag, meine sehr verehrten Damen und Herren, erhöhen wir unsere gemeinsame Sicherheit
und fördern wir die Entwicklung der traditionell guten Beziehungen zwischen der Türkei und uns.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war ein erstaunliches Beispiel für die Selbstgerechtigkeit, mit der jemand aus dem Verteidigungsausschuß nicht ein Wort zu der hier in Rede stehenden Problematik sagt,
sondern etwas herbetet, was in der Verteidigungsdiskussion seit Trumans Zeiten diskutiert wird.
Meine Damen und Herren, als sich anläßlich der Eröffnung des kurdischen Kulturinstituts vor zwei Jahren in Paris der türkische Botschafter beim Außenminister in einer offiziellen Demarche beschwerte, sagte Herr Cheysson sehr souverän:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6961
Duve„Herr Botschafter, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Es gibt nach Ihrer offiziellen Darstellung keine Kurden in der Türkei." Das Gespräch war dann mit dieser Bemerkung beendet.Es geht hier heute überhaupt nicht darum, eine Seite des Hauses irgendwo hinzustellen. Ich freue mich ausdrücklich, daß hier alle Parteien von dem kurdischen Volk gesprochen haben — das ist ein Novum —,
daß alle Parteien hier heute morgen festgestellt haben: Es gibt die Kurden. Denn in Ihren Gesprächen mit den Türken werden Sie immer wieder darauf stoßen, daß es sie gar nicht geben darf.„Die Kurden — ein Volk, das es nicht geben darf", so hat auch Ulrich Tilgner einen Film über die Kurden genannt. Wir Mitglieder des Parlaments haben überhaupt kein Recht — ich begrüße es, daß das hier auch nicht geschehen ist —, die diplomatische Verneinung einer eigenständigen Kultur zu akzeptieren. Damit tasten wir die Frage der nationalen Integrität des jeweiligen Staates zwar nie an, aber wir stellen verschärft immer wieder die Frage nach der moralischen Integrität solcher Staaten, die mit ihren kulturellen Minderheiten so umgehen. Die ihre Minderheiten mit Krieg überziehen und es ihnen nicht erlauben, ihre Kinder in der eigenen Sprache zu unterrichten, ihre eigenen Lieder zu singen, ihre eigenen Dichter zu kennen und ihre eigene Geschichte zu lernen. Das sind die eigentlichen Probleme. Vielleicht können wir hier in einer ausführlichen Debatte einmal über die kurdische Kultur reden. Dann allerdings werden wir den türkischen Staat noch sehr viel schärfer und präziser angreifen müssen, als es in fünf Minuten möglich ist.
Meine Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung auf, die Bemühungen deutscher Organisationen, voran die des Roten Kreuzes, zu unterstützen, die hier in der Bundesrepublik eine ganz ausgezeichnete Arbeit für die kurdischen Flüchtlinge leisten. Ich darf hier einmal eine kleine Broschüre zeigen — ihr Erscheinen wäre in der Türkei unmöglich —, in kurdischer Sprache gedruckt, die den Kurden hilft, etwas zu tun, was sie in der Türkei nicht dürfen,
sich nämlich in ihrer Sprache — und viele können nur die kurdische Sprache — über wichtige Dinge im kulturellen, im sozialen Bereich schriftlich zu informieren.Ich fordere die Bundesregierung auf, es der französischen Regierung gleichzutun und die kulturelle und soziale Arbeit der Kurden bei uns mit dem gleichen Selbstbewußtsein gegenüber dem Staat Türkei zu unterstützen, mit dem die französiche Regierung das tut. Ich glaube, dann wären wir der Lösung des Problems sehr viel näher.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hoffmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Probleme der Kurden kann man nur im Zusammenhang mit der Gesamtlage in der Osttürkei diskutieren. Ich meine, zu dieser Gesamtlage gehören auch die anderen Minderheiten, die in Ostanatolien leben. Frau Huber und Herr Schäfer haben schon gesagt, daß es unmöglich ist, in fünf Minuten die Gesamtproblematik dieser vielschichtigen Frage zu diskutieren. Ich werde mich deshalb bei meinem Beitrag ausschließlich mit der Situation dieser Minderheiten in der Osttürkei befassen.Das Kerngebiet der syrisch-orthodoxen Christen liegt in Ostanatolien. Insgesamt kann man sagen, daß diese Menschen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart in ständiger Angst um ihre Existenz leben. Wegen ihrer landwirtschaftlichen, handwerklichen und kaufmännischen Tätigkeit sind sie häufig Ziel von Übergriffen. Sie leiden zudem — das ist für uns Europäer fast unvorstellbar — unter Mord, Frauenraub, Vieh- und Getreidediebstahl. Kurdische Terroristen überfallen ihre Dörfer. Dies ist leider nicht selten.Bei meinem letzten Türkeiaufenthalt, meine Damen und Herren, sprach ich mit einem katholischen Priester. Dieser zeigte mir einen Hilferuf aus einem christlichen Dorf in der Osttürkei, das gerade von Kurden überfallen worden war und das Angst hatte, weitere Überfälle würden folgen, sich aber relativ sicher fühle, weil türkische Soldaten anwesend seien und sie verteidigen.
Was aber, wenn diese abzögen?, so der Hilferuf dieser Christen.Es ist auch eine kulturelle Unterdrückung zu beklagen.
— Es wäre gut, Sie würden sich als Christ auch mit der Frage der Christen in der Osttürkei befassen.
— Natürlich gibt es die, aber ich wollte jetzt nacheinander alle Minderheiten kurz behandeln.Es ist eine kulturelle Unterdrückung zu beklagen. In der Schule ist eine Unterrichtung in ihrer eigenen Sprache, Geschichte und Kultur untersagt. Die einzigen Zufluchtsorte sind die kirchlichen Schulen, die wiederum vom Staat als illegal abgelehnt werden. So sind die syrisch-orthodoxen Christen fast vollständig isoliert.
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6962 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Frau Hoffmann
Dies stärkt ihren Wunsch nach Auswanderung und Abwanderung in westliche Gebiete der Türkei und nach Westeuropa.Die zweite Gruppe, die Jesiden, sind ein relativ kleines Volk mit rund hunderttausend Menschen. In jüngster Zeit ist zu beobachten, daß sie aus mehreren Gebieten mit ehemals dichterer Konzentration ihrer Siedlungen vertrieben werden. Sie suchen als Flüchtlinge eine neue Heimat, vor allem in Europa.Die Situation der Armenier ist gekennzeichnet durch eine stark repressive Kulturpolitik des Staates, und dies seit Jahrzehnten. Sie werden nur als ethnische, nicht aber als eine religiöse Minderheit anerkannt. Auf dem Papier genießen sie als ethnische Minderheit nur sehr schmale Rechte. Selbst die wenigen Rechte sind seit Anfang der 70er Jahre zunehmend eingeschränkt worden. Ganze Dörfer mit armenischer Bevölkerung wurden zwangsislamisiert. Kulturelle Belange können sie nur zu Hause pflegen, in der Öffentlichkeit dürfen sie sich nicht zu ihrer Kultur bekennen.
— Ich möchte zur Versachlichung beitragen und hier die Dinge deutlich sagen. Ich habe als erste darum gebeten, daß wir uns auch mit den christlichen Repräsentanten in Istanbul unterhalten und die Gesamtlage erfahren.
Zugegeben, meine Damen und Herren, die Kurdenfrage ist die drückendste. Das ist das drückendste Problem geworden. Sie wehren sich gegen Zentralisierung und Verwestlichung ihrer Kultur. Zudem leiden sie unter einer schlechten medizinischen Versorgung, einer hohen Analphabetenrate, einer ökonomischen Unterentwicklung und einer ungerechten Bodenbesitzverteilung. Es bleibt festzuhalten, daß insgesamt in dieser schwierigen Lage ...
Frau Abgeordneten, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
... auch dieses Gebiet, dieser Bereich berücksichtigt werden muß. Und hier ist es wichtiger, Wirtschaftshilfe zu leisten und dem türkischen Volk und der türkischen Regierung zu helfen, damit es diesen Menschen in Zukunft besser geht.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Kurdenproblem stellt sich in den Grenzregionen nicht nur der Türkei, sondern auch des Iraks und des Irans, im Libanon, in Syrien und der Sowjetunion.
Wir haben es dabei mit einem der schwierigsten, vielschichtigsten und explosivsten Probleme der Gegenwart zu tun, das eine beträchtliche Sprengkraft für viele Staaten der Region besitzt. Die Türkei erkennt ein Kurdenproblem auf türkischem Boden nicht an. Sie unterdrückt alle kurdischen politischen Forderungen und Ansprüche auf Separatismus. Seit Atatürk 1923 die moderne Türkei gründete,
sind Zentralismus und Nationalismus Grundprinzipien der türkischen Staatsauffassung.
Eine Desintegration des türkischen Staates durch ethnische Spannungen wird keine türkische Regierung hinnehmen.Nach allem, was wir wissen — und vielleicht ist bei dem Thema die von dem Kollegen Schäfer angesprochene Behutsamkeit und Sachlichkeit angezeigt —, werden aber Kurden unter der Voraussetzung, daß sie sich als türkische Staatsbürger bekennen, nicht diskriminiert. Es wird niemand von staatlichen Organen verfolgt, nur weil er sich öffentlich als Kurde bezeichnet. Kurden haben immer wieder Zugang auch zu höchsten Staatsämtern gefunden.
Im Osten und Südosten der Türkei, dem Hauptsiedlungsgebiet der Kurden, wird auf der Straße kurdisch gesprochen.
Notverordnungsähnliche Regelungen aus den 20er Jahren, die den Gebrauch der kurdischen Sprache verboten hatten,
werden von den Behörden nicht mehr durchgesetzt. Allerdings darf Kurdisch an Schulen und Hochschulen nicht gelehrt werden.
Die Einfuhr im Ausland veröffentlichter Drucksachen, Schallplatten und ähnlicher Gegenstände in kurdischer Sprache ist offiziell verboten. Es gibt keine Minderheitsrechte für die türkischen Kurden.
Hierüber ähnlich behutsam und intensiv mit der türkischen Regierung zu sprechen, wie wir es in vergleichbaren Fällen mit anderen Regierungen an vielen Plätzen dieser Welt tun, ist zweifellos notwendig und sachdienlich. Ich habe nur den Zweifel, daß das so geschehen kann, wie es vom Antragsteller dieser Aktuellen Stunde begründet worden ist.
Die ethnische Frage ist verbunden mit einer sozialen Frage, mit dem alten wirtschaftlichen und
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Staatsminister Möllemannsozialen West-Ost-Gefälle in der Türkei. Ost- und Südostanatolien sind die unterentwickeltsten Gebiete dieses Landes mit all den Folgen, die diese Aussage beinhaltet. Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Özal scheint sich der durch diese Lage gestellten Aufgaben bewußt zu sein. Bei der Förderung benachteiligter Provinzen soll die Osttürkei besonders berücksichtigt werden. Durch eine Politik der Arbeitsplatzförderung ist beabsichtigt, die Landflucht und die innere Emigration zu bremsen. Mitte Oktober fand unter Vorsitz von Staatsminister Özdaglar eine erste Sitzung zur Koordinierung der Förderung von Familienkleinbetrieben sowie von Infrastrukturvorhaben wirtschaftlicher und sozialer Art in Ostanatolien statt.Nun zu den jüngsten Zusammenstößen im türkischen Grenzgebiet zum Irak. Nach den uns vorliegenden Informationen — auch da muß ich sagen: mit Vorbehalt — ergibt sich folgendes Bild: Nach etwa vier Jahren Ruhe wurden Mitte August erstmals wieder türkische Militäreinrichtungen im Grenzgebiet zum Irak von bewaffneten Personen angegriffen. Anfang Oktober, während der Besuche von Präsident Evren und von Ministerpräsident Ozal in Ostanatolien, erfolgten drei weitere Überfälle auf Militärpatrouillen und Fahrzeuge. 15 Offiziere und Soldaten haben dabei ihr Leben verloren. Mindestens acht Rebellen kamen bei diesen Zusammenstößen ums Leben.Nach unseren Erkenntnissen steht hinter diesen Überfällen die Partei der Arbeiter Kurdistans . Die Zentralen der PKK, die auch in einem Bericht von amnesty international vom August 1981 als marxistisch-leninistisch charakterisiert wird, werden in Bagdad und in Damaskus vermutet.
Ausbildungslager und Einrichtungen sollen sich u. a. im türkisch-irakischen Grenzgebiet befinden. Dort werden mehrere Hundert bewaffneter Anhänger vermutet. Verbindungen soll die PKK außerdem zu den Anhängern des iranischen Kurdenführers Barzani und zu den Talabanikurden sowie zu der armenischen Terrororganisation Asala besitzen.Das Aufflammen gewaltsamer Aktionen kurdischer Separatisten auf türkischem Staatsgebiet hat in der Türkei verständlicherweise großes Aufsehen erregt. Als Reaktion auf die Überfälle verstärkte die Armee ihre Präsenz im Grenzgebiet. Ich glaube, das wäre in jedem anderen Staat auch so. Ministerpräsident Ozal hat in einer Unterrichtung des türkischen Parlaments am 17. Oktober die Festnahme von 1 415 Personen bekanntgegeben. Davon seien 619 wieder freigelassen und 60 an die Militärbehörden übergeben worden. Der Rest werde noch verhört. Gleichzeitig betonte Ministerpräsident Ozal, daß türkische Truppen bisher nicht auf irakisches Gebiet vorgestoßen seien. Am vergangenen Wochenende hatte Ministerpräsident Ozal ausdrücklich eine angebliche Verminung der Grenzen und angebliche größere Evakuierungs- und Umsiedlungsaktionen in grenznahen Dörfern dementiert.Auf Grund der angesprochenen Überfälle hat die türkische Regierung eine Reihe von außenpolitischen Aktionen unternommen. Am 13. und 14. Oktober besuchte Außenminister Halefoglu Bagdad. Es wird vermutet, daß von türkischer Seite — wie schon 1983 — darum gebeten wurde, türkischen Streitkräften die Genehmigung zur Verfolgung von Terroristen auf irakischem Gebiet bis zu einer bestimmten Tiefe zu erteilen. Bei ihren Beziehungen zum Irak — auch bei Fragen der Grenzsicherung — wird die Türkei stets darauf bedacht sein, ihre Neutralität im Golfkrieg zu wahren. Diese Politik setzt daher auch ihrer Kooperation mit dem Irak Grenzen.Meine Kolleginnen und Kollegen, vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung keinen Anlaß, von einem Krieg der Türkei gegen die Kurden zu sprechen.
Wir sollten uns hüten, kleine militante Gruppierungen mit den Kurden in der Türkei gleichzusetzen.Zum Schluß noch eine Bemerkung zu unserer NATO-Verteidigungshilfe. In allen Abkommen über Verteidigungsfähigkeit ist festgelegt, daß das von uns gelieferte Material ausschließlich im Einklang mit Art. 5 des Nordatlantikvertrages verwendet werden darf. In den 20 Jahren der Vergabe unserer Hilfe hat es bisher keinen Anlaß gegeben, einen Verstoß gegen diese Bestimmung zu vermuten.
— Nun möchte ich Sie, Herr Kollege Jungmann — das ist ja allmählich eine Übung, die man hier von Woche zu Woche durchführen muß —, doch einmal daran erinnern, daß die Verteidigungshilfe von der Vorgängerregierung auch noch zu einem Zeitpunkt gewährt wurde, in dem die Situation in der Türkei unter Menschenrechtsgesichtspunkten ganz sicher als schlechter anzusehen war.
Bei aller Kritik, die legitim ist, wird man nicht bestreiten wollen, daß es in den vergangenen zwei Jahren Verbesserungen gegeben hat. Ich unterstreiche: Wir möchten darauf hinwirken, daß es weitere gibt. Der Beitrag der Kollegin Hoffmann hat ja ein Feld aufgezeigt, auf dem es noch weitere Verbesserungen geben muß.Ich möchte Sie daran erinnern, Herr Kollege Jungmann, daß es doch unser Kollege Matthöfer, der Ihrer Partei angehört, gewesen ist, der sich mit großen und verdienstvollen Bemühungen darum gekümmert hat, um weltweit Hilfe für die Türkei zusammenzubringen, und zwar noch zu einer Zeit, in der die Menschenrechtssituation in diesem Land sicherlich auch nicht besser war als heute. Dahinter steckte und steckt erstens die Überzeugung, daß wir durch den kritischen Dialog mit diesem Land mehr Einfluß auf die Politik dort ausüben können, als das durch ein Ausgrenzen geschehen kann. Dahinter steckte und steckt zweitens die Überzeugung, daß dadurch auch konkrete Verbesserungen eingetreten sind. Drittens steckte und steckt dahinter in der Tat die Überzeugung, daß wir den Partner Türkei in
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Staatsminister Möllemannder NATO zur Sicherung der Südostflanke brauchen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Luuk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hatte in ihrem Antrag zur Situation in der Türkei im April dieses Jahres erklärt:
Der Deutsche Bundestag sieht insbesondere die Forderung nach der Sicherung der Grund-und Menschenrechte, die dieser Bundestag 1981 aufgestellt hat, als noch nicht erfüllt an.
Diesen Antrag — daran erinnern wir uns alle — haben die Koalitionsfraktionen abgelehnt. Heute morgen sehen wir einmal mehr, wie ungerechtfertigt diese Ablehnung war und wie recht die Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten mit ihrer Einschätzung der Lage in der Türkei hatte.
Ich meine auch, daß heute morgen recht deutlich geworden ist, daß die Kurden unter den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei weitaus am meisten zu leiden haben. Wir haben schon wiederholt gehört, daß es in der Türkei nach dortiger Definition keine Minderheiten gibt, sondern nur Türken. Wer wie etwa Armenier oder Kurden das Recht auf eine eigene kulturelle, sprachliche oder religiöse Identität beansprucht, wer sich als Angehöriger einer Volksgruppe fühlt, der gilt als Separatist, als Gefahr für die Einheit der Nation und den Bestand der Republik.
Staatspräsident Evren hat erst Ende August vor den Streitkräften seines Landes jene Menschen als Verräter bezeichnet, die im Dienst böser Mächte stünden und deren Ziel die Zerstörung der türkischen Nation sei.
Die Minderheiten der Armenier und Kurden werden mit Entschlossenheit und, wie die gegenwärtigen Ereignisse im Grenzgebiet zum Irak zeigen, auch mit Brutalität assimiliert — was allerdings nicht mit Gleichberechtigung zu verwechseln ist. Nicht ohne Bitterkeit pflegte sich der jüngst verstorbene Filmemacher Yilmaz Güney einen „assimilierten Kurden" zu nennen.
Eine Politik der Gleichberechtigung aller Volksgruppen hätte längst helfen müssen, Kurden und Armenier mit der türkischen Republik zu versöhnen. Unterdrückung aber fördert nur Haß und Konflikte.
Unter zusätzlichen Menschenrechtsverletzungen zu leiden haben die kurdischen Yezidi, die auch schon erwähnt worden sind, eine religiöse Minderheit unter den Kurden selbst. Ihre ganz besonders hoffnungslose Lage sollte eigentlich zur Folge haben, daß wir ihnen unseren Schutz gewähren. Diesen Appell möchte ich von hier aus ganz ausdrücklich an den niedersächsischen Innenminister Möcklinghoff richten: Schieben Sie die kurdischen Yezidi, die bei Ihnen um Asyl gebeten haben, nicht ab.
Seien Sie so großzügig, wie es die verzweifelte Lage dieser Menschen gebietet, und dulden Sie sie weiter in Ihrem Bundesland.
Was Kurden hinter den Mauern türkischer Gefängnisse erdulden müssen, löst Empörung aus. Dies gilt nicht nur für die Lage in den Zivilgefängnissen, deren Alltag schon Menschenverachtung prägt, sondern insbesondere für die in den Militärgefängnissen. Eine deutsche Delegation unter der Leitung des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Hirsch hatte die Gelegenheit, das Gefängnis im Kurdenzentrum Diyarbakir zu besuchen. Sie berichtet, der gesundheitliche Zustand der Häftlinge habe an die Beschreibungen aus den KZ erinnert.
Wir sollten unsere Proteste hier nicht zur Routine werden lassen. Ich habe die Hoffnung, daß das auch nicht der Fall ist. Wir sollten unsere Proteste allerdings auch so emotional äußern, wie es notwendig ist, um sie auch bei denen, die in der Türkei die Macht haben, ankommen zu lassen und um die Freiheit insbesondere der politischen Häftlinge zu erreichen.
Die Politik der Bundesregierung darf sich nicht darin erschöpfen — insofern kann ich wirklich froh sein, daß hier seitens der Regierung etwas andere Töne angeschlagen worden sind, als von den Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß —, die Türkei für ihre Bemühungen zur Wiedererrichtung der Demokratie zu belobigen und gleichzeitig die Augen vor den Verfolgungen, den Folterungen und den Morden an der kurdischen Minderheit zu verschließen. Wenn es wahr ist, daß internationale Zusammenarbeit unter Freunden untrennbar mit dem Ziel verbunden sein muß, zu Fortschritten im Bereich der Menschenrechte zu gelangen, muß diese Bundesregierung ihren Einfluß auf die Türkei ausüben und sie drängen, trotz der zweifellos vorhandenen Vielzahl von Problemen bei der Demokratisierung nach der Ära der Militärdiktatur die Menschenrechte auch gegenüber den Kurden wieder in Kraft zu setzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Jäger .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer der kurdischen Volksgruppe helfen will — und wer von uns will dieser Volksgruppe in der Türkei nicht helfen?; darin sind wir ja, wie die Debatte zeigt, alle einig —, muß zuallererst mit denen reden, die in der Türkei das Sagen haben, mit den türkischen Politikern, mit den Abgeordneten, mit der Regierung.
Wer, meine Damen und Herren, nur mit Schaum vor dem Mund und mit ideologischen und klassenkämpferischen Parolen wie die Kollegen der GRÜNEN hier auftritt, der wird nicht mit den
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Jäger
Türken reden können, und der wird nichts für die kurdische Minderheit zu erreichen imstande sein.
Wer der kurdischen Minderheit helfen will, meine Damen und Herren, der darf auch nicht, wie das die GRÜNEN tun, auf die NATO-Hilfe einschlagen. Denn wir haben doch gehört — und das kann auch niemand ernsthaft bestreiten —, daß die Probleme der Kurden aus jenen nationalistischen Bestrebungen heraus erwachsen sind, die mit dem Namen Kemal verbunden sind und die nicht abgeschwächt und gemildert, sondern verstärkt würden, wenn wir die Türkei aus der Solidarität der Atlantischen Gemeinschaft hinausstießen. Deswegen ist jede Bestrebung, die atlantische Hilfe ablehnt, keine Bestrebung zum Nutzen der Kurden, sondern nur zum Schaden der Kurden.
Wer mit den türkischen Kollegen redet, wie ich das im Europarat immer wieder tun kann, der muß das tun unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, zu denen sich ja auch die Türkei bekannt hat in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und wenn es uns gelingt, den Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, jene Bestimmung über das Verbot der Diskriminierung auch wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, wie es dort ausdrücklich heißt, in der Türkei durchzusetzen — das kann sicher nur allmählich geschehen —, haben wir die Chance, der kurdischen Volksgruppe, wirkungsvoll zu helfen.Deswegen möchte ich an dieser Stelle an die türkische Regierung und an das türkische Parlament appellieren, doch in die Beratung darüber einzutreten, ob nicht auch die Türkei, wie es inzwischen fast alle anderen Mitgliedstaaten des Europarats getan haben, die individuelle Menschenrechtsbeschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg anerkennt und damit Einzelpersonen das Recht einräumt, sich an diese europäische Menschenrechts-Institution zu wenden. Auf diesem Wege könnten dann einzelne Kurden ihre Beschwerde vortragen und würden nicht in die Hände jener Terroristen getrieben, von denen Herr Staatsminister Möllemann vorhin gesprochen hat.Meine Damen und Herren, das Schicksal der kurdischen Volksgruppe — und ich füge hinzu: das Schicksal vieler anderer Volksgruppen,
die Nachteile erleiden — ich würde mich gefreut haben, wenn die Damen und Herren der GRÜNEN auch einmal etwa an die deutschen Volksgruppen in Osteuropa gedacht hätten, von denen diese Damen und Herren aber nie reden —, in der Türkei erfordert unser Engagement, unsere Hilfe und unsere Aufmerksamkeit. Vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem türkischen Parlament und mit der von ihm getragenen Regierung sind unseres Erachtens dazu der beste Weg.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schneider .
— Meine Damen und Herren, ich darf doch bitten, Platz zu nehmen. Wir haben noch drei Wortmeldungen abzuwickeln. Ich bitte doch um etwas mehr Ruhe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Möllemann, Sie haben wieder einmal einen so richtig knochentrokkenen Staatsbericht gehalten, hinter dem die Wirklichkeit verschwindet, weil Sie sie aufzulösen verstehen in eine Reihe von nüchternen Zahlen und Fakten, die in einem krassen Gegensatz stehen z. B. zu dem leidenschaftlichen Engagement, das aus der Rede von Frau Luuk herausgeleuchtet hat. Aber in dieser Art, wie Sie das Problem behandelt haben, sind Sie auch an dem Kern der Sache weitgehend vorbeigegangen.
Herr Jäger hat sich wieder einmal hinter seinem Schild der Wohlanständigkeit versteckt und hat dort die schrecklichen „marxistischen Attacken" abblitzen lassen. Andere aus dem Regierungslager sind an der Sache völlig vorbeigegangen und haben von Minderheitenproblemen gesprochen und hier ethnische Kleindetails aufgetischt. Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß die Kurden, wenn man von ihrer Zahl ausgeht, keine Minderheit sind. Die Kurden sind in den drei Ländern Irak, Iran und der Türkei ungefähr 20 Millionen Menschen. In der Türkei sind es 7 bis 9 Millionen; auf diese Zahl werden sie geschätzt. Sie haben auch schon von dem türkischen Staat, weil sie in den Kriegen bei Atatürk mitgekämpft haben, einmal eine Autonomie und sogar einen eigenen Staat zugesprochen bekommen. Das ist ein Problem der Kurden mit den Türken, das man auch nicht durch Krieg oder durch Unterdrückung lösen kann, sondern nur politisch lösen, indem man ihnen Gleichberechtigung gibt, indem man den Kurden in der Türkei wirklich Menschenrechte einräumt, die Rechte auf ihre Kultur, die Rechte darauf, sich selbst verwirklichen zu können. All das wird von der türkischen Regierung nicht gewährt.
Warum wird das jetzt plötzlich so aktuell, warum wird heute mit einer so starken militärischen Macht auf diese kurdische große Volksgruppe in der Türkei eingeschlagen? Sie wissen, die türkische Armee hat 570 000 Mann unter Waffen.
Einen Moment, Herr Abgeordneter. — Meine Damen und Herren, ich darf bitten, Platz zu nehmen und etwas mehr Ruhe zu bewahren.Bitte sehr.
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Zwei Drittel der über 570 000 Mann starken türkischen Armee sind heute in Kurdistan stationiert, und sehr viele sind an diesen Unterdrückungsmaßnahmen beteiligt, die in Härte und Brutalität gegen die kurdische Bevölkerung durchgeführt werden. Ich sage noch einmal, was ich in meinem ersten Beitrag gesagt habe: Der Grund hierfür ist der Druck der NATO-Partner, der Druck der USA, die Südflanke, die Südostflanke der NATO in der Türkei gegen die Sowjetunion auszubauen und militärisch zu stärken.
Dafür wird die ganze ungeheure Menge an militärischem Material hier hineingepumpt,
und deswegen hat auch die Bundesregierung in dieser Frage wieder einmal Militärhilfe gewährt.
Unsere Auffassung ist, daß sich die deutsche Regierung mitschuldig macht an einem Völkermord in der Türkei,
an Menchenrechtsverletzungen, und deswegen ist das kein Problem, das Sie in die Türkei zurückverlagern können, in irgendeinen vergessenen Winkel im Drei-Länder-Eck, sondern dieses Problem steckt direkt in der Moralität und in der Verantwortung dieser Regierung und dieses deutschen Staates.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schwarz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was der Kollege Schneider hier am Schluß losgelassen hat, zeigt sehr deutlich die eigentliche Richtung dieses, Antrags.
In der Substanz geht es ihm nicht um die Kurden, in der Substanz geht es ihm darum, deutsche Innenpolitik mit diesem Menschen, mit diesem Problem zu machen.
— Ich glaube, das, was meine Kollegen hier vorgetragen haben, Herr Duve, zeigt sehr deutlich, was die Problematik hier ist.
Herr Abgeordneter, einen Augenblick. Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal um etwas mehr Ruhe bitten.
Die Tatsache, mein lieber Herr Duve, daß Sie dauernd dazwischenschreien, zeigt doch, daß hier Akzente aufgezeigt werden, die Ihnen offensichtlich nicht sympathisch sind.
Meine Kollegen — so haben wir uns das abgesprochen —, der Kollege Pohlmeier und die Frau Kollegin Hoffmann, haben ganz klar gesagt, wie das Problem der Kurden bei uns gesehen wird.
Hier geht es um eine entscheidende Frage. Wir haben vor drei Wochen über die Türkei gesprochen. Vor drei Wochen hat der Kollege Reents gesagt: Es wird ein Krieg geführt gegen das kurdische Volk.
Der Ministerpräsident der Türkei hat am 17. Oktober — Staatsminister Möllemann hat darauf hingewiesen — einen Situationsbericht in seinem Parlament gegeben.
Ich glaube, daß wir hier im deutschen . Parlament, statt mit den türkischen Parlamentariern zu reden, permanent über die Parlamentarier reden,
daß wir den Dialog mit den türkischen Abgeordneten nicht suchen. Ich halte diesen Weg für falsch. Ich glaube, es ist dringend notwendig, daß wegen der Zusammenarbeit der Regierung auch die Parlamentarier beider Parlamente den Dialog suchen. Man sprach schon früher von der fernen Türkei, wo die Völker aufeinanderschlagen und über deren Bedingungen und Probleme das Wissen begrenzt ist. Hier wird seitens der GRÜNEN ein Problem im Grunde genommen mit dem Ziel hochgezogen, die türkische Regierung, die NATO und im Grunde genommen diese Bundesregierung zu treffen.
— Daß die Sozialdemokraten, Herr Duve, hier immer dazwischenschreien, zeigt, daß Sie — ich glaube, das hat Herr Staatsminister Möllemann sehr deutlich gesagt — jetzt so tun, als ob die NATO-Hilfe und die Zusammenarbeit mit der Türkei eine Erfindung dieser Regierung wären. Wir halten das, was wir jetzt tun, für vernünftig; das ist die kontinuierliche Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei nicht nur im Bereich der Militärhilfe, die Sie uns angekreidet haben, sondern auch im Bereich der Entwicklung dieses Landes.Die türkische Regierung hat ein spezielles Programm entwickelt, um insbesondere dieser Region
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Schwarzder Türkei zu helfen, ein Entwicklungsprogramm im wirtschaftlichen Bereich, um die sozialen Bedingungen in dieser Region zu verbessern und um damit den Menschen in dieser Region, die Kurden sind, eine bessere Lebenschance zu geben. Ich hoffe, daß wir uns wenigstens darüber einig sind.Sie sagen, das alles sei unannehmbar, weil dort gegen die Menschenrechte vorgegangen werde. Ich antworte Ihnen: Keine Regierung in der Türkei in den letzten Jahrzehnten hat sich so bemüht wie die jetzige Regierung, Schritt für Schritt die Demokratie zu verstärken und Menschenrechtsverletzungen abzubauen. Wie können wir denn, wenn wir einem Freund helfen wollen, uns so verhalten, daß wir, statt Hilfe zu leisten, alle drei Wochen nichts anderes tun, als — teilweise auf beleidigende Weise — über die Regierung, über die Menschen, über das Land zu reden? Ich finde, wir sollten, wie die Regierung es tut, zum Dialog mit dem Parlament kommen, damit wir nicht ständig über die Türkei und über die Türken, sondern mit den Türken reden.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe noch einmal Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Burgmann und der Fraktion DIE GRÜNEN
Umweltfreundliche Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland
hier: Allgemeine Fragen
— Drucksache 10/1382, 10/1774 —
Heute ist über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2189 abzustimmen.
Das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion wird den Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 10/2189 in der namentlichen Abstimmung ablehnen.
Dies hat folgende Gründe:
Wir alle sorgen uns gerade in diesen Tagen um das Ansehen des Parlaments, um das Ansehen unserer parlamentarischen Demokratie. Zum Ansehen und zur Autorität des Parlaments gehört auch, daß wir unsere Entscheidungen sorgfältig beraten.
Dies gilt um so mehr, wenn es sich um Entscheidungen von grundlegender Bedeutung für die Zukunft
unseres Landes handelt, wenn wir der besonderen
Verantwortung für die nach uns kommenden Generationen gerecht werden wollen.
Das von der Fraktion der GRÜNEN beantragte Verfahren wird diesem Anspruch nicht gerecht. Bei Ihnen klaffen hier Anspruch und Wirklichkeit auseinander!
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, sie legen kurzfristig einen Antrag zur Abstimmung vor, ohne dem Parlament ausreichende Beratungsmöglichkeiten einzuräumen. Ihnen geht es in Wirklichkeit in dieser Frage nicht um eine Entscheidung zur Sache,
sondern um einen reinen Schaueffekt!
Sie alle, das ganze Plenum und die deutsche Öffentlichkeit wissen genau: An der Haltung der Sozialdemokraten kann nicht gerüttelt werden.
Wir haben auf unserem Parteitag in Essen am 20. Mai dieses Jahres beschlossen — ich zitiere wörtlich —, „daß über die Versuchsanlage in Karlsruhe hinaus die Wiederaufarbeitung in der Bundesrepublik nicht weiterverfolgt wird". Am 22. Mai 1984 hat unsere Fraktion einen entsprechenden Antrag mit der gleichen Forderung im Deutschen Bundestag eingebracht. Dieser Antrag liegt zur Beratung den Ausschüssen vor. Unsere Position ist eindeutig: Mit uns wird es keine kommerzielle Wiederaufarbeitung geben. Ich füge hinzu: Wer von Plutoniumwirtschaft redet, wer sie will, kann sich nicht auf Beschlüsse meiner Partei berufen.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, wird in Bonn gestellt, zielt aber auf Hessen. Deswegen will ich aus einer Erklärung des hessischen Wirtschaftsministers Ulrich Steger zitieren. Ich zitiere:
Nach dem Gesetz muß alles getan werden, damit — —
Herr Abgeordneter, darf ich Sie unterbrechen. Ich bitte Sie, sich an § 31 der Geschäftsordnung zu halten und nicht zur Sache zu sprechen.
Zur Abstimmung, Entschuldigung. Ich zitiere:Nach dem Gesetz muß alles getan werden, damit der Mißbrauch von Kernbrennstoffen für militärische Zwecke ausgeschlossen wird. Dies muß ich sicherstellen. Deshalb gibt es keinen Marsch in die Plutoniumgesellschaft, aber auch keinen Marsch in die Aussteigergesellschaft. Die Entsorgung über die Wiederaufarbeitung von Brennelementen ist überflüssig.
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Schäfer
So der hessische Wirtschaftsminister Ulrich Steger.Es gelingt Ihnen nicht, meine Damen und Herren, die SPD in Bund und Ländern auseinanderzudividieren. Meine Fraktion lehnt das Verfahren, das Sie mit Ihrem Antrag praktizieren, ab.
Ich erteile das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten Burgmann.
Meine Damen und Herren, wir haben diesen Antrag gestellt in Zusammenhang mit der Debatte über die Energieversorgung, die wir gestern geführt haben, und in Zusammenhang mit aktuellen Entwicklungen, die zur Zeit ablaufen. Es ist nach der Geschäftsordnung zulässig, über diesen Antrag direkt abzustimmen. Das ist nach unserer Einschätzung auch notwendig, weil hier konkrete Sachzwänge vorliegen, zu entscheiden, bevor vollendete Tatsachen geschaffen werden. Wir haben hier schon sehr lange über sehr vieles in den Ausschüssen diskutiert. Auch in Sachen Geschwindigkeitsbegrenzung hat sich j a herausgestellt, daß dieses Parlament sehr oft debattiert, in den Ausschüssen berät, während vollendete Tatsachen, in diesem Fall das Sterben des Waldes, sich vollziehen. Wir meinen, daß hier gehandelt werden muß, ehe wieder vollendete Tatsachen geschaffen werden. Die vollendete Tatsache wäre in diesem Fall ein weiterer Schritt in die Plutoniumwirtschaft.
Herr Abgeordneter, ich darf Sie unterbrechen. Ich bitte, hier auch nur zur Abstimmung etwas zu erklären und nicht zur Sache zu sprechen.
Mir geht es in diesem Zusammenhang wie wohl manchem, wenn wir überlegen, wie wir uns zu neuen Technologien stellen. Da hat mancher von uns schon vor einem Problem gestanden, daß er sich fühlt wie Goethes Zauberlehrling und sich sagt: Die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los. Nirgends, bei keinem Punkt ist mir dieser Eindruck so massiv vor Augen — —
Herr Abgeordneter, ich ermahne Sie noch einmal, sich zur Abstimmung zu erklären und nicht zur Sache zu sprechen.
Ich erkläre mich zur Abstimmung. Ich erkläre, warum ich die Abstimmung über diesen Antrag befürworte. Denn gerade in der Plutoniumwirtschaft geht es uns wie dem Zauberlehrling: Die Geister, die wir hier rufen, werden wir nicht los, und zwar über Jahrtausende nicht los.
Wir werden in diesem Hause noch rufen nach dem Meister, der uns wieder von diesen Geistern befreit. Deshalb kann ich nur ganz herzlich an alle appellieren...
Herr Abgeordneter, ich mache Sie darauf auf – - -
Burgmann ..., dem Antrag zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der GRÜNEN verlangt gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Wer dem Entschließungsantrag auf Drucksache 10/2189 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die JaKarte, wer dagegen stimmt oder sich der Stimme enthalten will, den bitte ich, die entsprechende Abstimmungskarte in eine der hier vorne aufgestellten Urnen zu legen.Ich eröffne die namentliche Abstimmung.Meine Damen und Herren, ich frage, ob ein Mitglied seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat.— Ich frage das letzte Mal, ob jemand seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat. — Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Ich bitte damit einverstanden zu sein, daß wir bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses in die Behandlung der nächsten Tagesordnungspunkte eintreten.— Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich rufe Punkt 28 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu der Verfassungsstreitsache 2 BvE 2/84 — Organklage der Bundespartei DIE GRÜNEN betreffend das Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze vom 22. Dezember 1983— Drucksache 10/2171 —Berichterstatter: Abgeordnete Bohl Dr. EmmerlichIm Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wird zur Berichterstattung das Wort gewünscht?— Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Mir liegen keine Wortmeldungen vor.
Ich schließe die Aussprache und komme zur Abstimmung.
— Einen Augenblick, wir sind in der Abstimmung.— Wer der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 10/2171 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist damit angenommen.
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Vizepräsident WurbsIch rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversicherung
— Drucksache 10/2176 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOFür die Aussprache sind zwei Stunden vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Herr Abgeordneter Müller, Sie sprechen auch gleich zur Sache? — Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP bringen heute gemeinsam einen Gesetzentwurf zur Änderung der Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversicherung ein. Damit verfolgen wir drei wichtige Ziele: Erstens. Der Arbeitslosenversicherungsschutz älterer Arbeitnehmer soll spürbar verbessert werden. Zweitens. Wir wollen einer Ausnutzung der Solidargemeinschaft durch Arbeitnehmer, die ihre Arbeitslosigkeit schuldhaft herbeigeführt haben, zukünftig effektiver entgegenwirken. Drittens. Wir werden den Beitragssatz in der Rentenversicherung um 0,2 Prozentpunkte geringfügig erhöhen, um ihn in der Arbeitslosenversicherung um die gleichen 0,2 Prozentpunkte zu ermäßigen, so daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber hierdurch nicht zusätzlich belastet werden.Absoluten Vorrang hat die Verbesserung des Arbeitslosenversicherungsschutzes älterer Arbeitnehmer. Deshalb soll mit Wirkung vom 1. Januar 1985 die Höchstdauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld auf 18 Monate verlängert werden. Bisher war dieser Anspruch auf höchstens 12 Monate begrenzt. Begünstigt werden Arbeitnehmer, die bei Eintritt der Arbeitslosigkeit bereits das 49. Lebensjahr vollendet haben. Gestaffelt nach der Dauer ihrer beitragspflichtigen Beschäftigung wird sich die Dauer ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld verlängern.Da die überwältigende Mehrheit der älteren Arbeitnehmer in den letzten sieben Jahren vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes mindestens sechs Jahre lang beitragspflichtig beschäftigt war, wird sich für sie die Dauer des Arbeitslosengeldbezuges ab dem 1. Januar 1985 sofort um ein halbes Jahr auf 18 Monate verlängern.
Auch diejenigen älteren Arbeitnehmer, die schonvor Inkrafttreten dieser Novelle arbeitslos geworden sind, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld abernoch nicht erschöpft ist, werden von der Besserstellung profitieren können.Seit dem Machtverlust fördert die ehemals führende Regierungspartei SPD in ihren Reihen und auch gegenüber der Öffentlichkeit einen Verdrängungsprozeß und möchte ihr früheres Arbeitsmarktpolitisches Versagen in ein gnädiges Dunkel tauchen.
Deshalb müssen die Fakten von damals auf den Tisch, damit vor der Erblast der Vergangenheit die heutige Arbeitsmarktlage zutreffend beurteilt werden kann.Ich weiß, meine Damen und Herren von der SPD, daß ich bei Ihnen heftige Proteste auslöse, wenn ich Ihnen folgende Daten vor Augen führe: Als wir am 1. Oktober 1982 die Regierungsverantwortung übernahmen, mußten wir uns mit einem explosionsartigen Zuwachs der Arbeitslosigkeit auseinandersetzen. In den letzten zwei Jahren Ihrer Regierungsverantwortung, also von Oktober 1980 bis zum Oktober 1982, nahm die Zahl der Arbeitslosen rapide um über eine Million zu; mit wachsendem Tempo stieg sie von 888 000 auf 1 920 000. Dank unserer umfassenden wirtschafts-, haushalts- und sozialpolitischen Anstrengungen ist es uns innerhalb von zwei Jahren gelungen, das Tempo des Anstiegs der Arbeitslosigkeit im Jahre 1983 deutlich zu verlangsamen und in diesem Jahr schließlich zum Stillstand zu bringen.
Neuerdings gibt es einen Hoffnungsschimmer. Die Bundesanstalt für Arbeit hat zwar Ende September immer noch 2,14 Millionen Arbeitslose registriert, aber noch aussagefähiger als der statistische Rückgang der Arbeitslosenzahl um 60 000 gegenüber dem Vormonat ist die Tatsache, daß die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl im September wieder um 6 000 gefallen ist.Als Sozialpolitiker verhehle ich nicht, daß mir neben der Zahl vor allem die Struktur der Arbeitslosen große Sorgen bereitet. Für einzelne Gruppen von Arbeitnehmern verschärfen sich die Probleme der Arbeitslosigkeit, je länger diese auf hohem Niveau stagniert. Ältere Arbeitslose werden meistens mit mehreren Handicaps konfrontiert, die ihre Wiedereinstellungschancen erheblich vermindern. Viele sind gesundheitlich angeschlagen, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse können häufig nicht mehr mit dem sich dynamisch wandelnden Anforderungsprofil moderner Arbeitsplätze Schritt halten. Deshalb ist allmählich ein harter Kern von meist älteren Arbeitslosen angewachsen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind.Diese bedenkliche Entwicklung schlägt sich in der Struktur der Leistungsempfänger der Bundesanstalt für Arbeit deutlich nieder. Der Anteil der Bezieher von Arbeitslosengeld ist seit dem Jahre 1983 deutlich zurückgegangen. Er liegt heute nur noch bei rund 35% aller registrierten Arbeitslosen. Ohne daß der Gesetzgeber in diesem Zeitraum eine
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Müller
Änderung der Vorschriften beschlossen hätte, ist es allein durch die Arbeitsmarktlage zu einer schleichenden Ausgrenzung von Leistungsempfängern aus dem System der Arbeitslosenversicherung gekommen.
Wenn man sich den Lebenslauf von älteren Langzeitarbeitslosen anschaut, dann stellt man fest, daß die allermeisten von ihnen über Jahrzehnte hinweg in einem unterunterbrochenen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Sie haben damit als Mitglieder der Solidargemeinschaft ebensolange treu ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt. Es muß diese Arbeitslosen nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes wie ein doppelter Schock treffen, daß sie bereits nach einjähriger Beschäftigungslosigkeit ihren Versicherungsanspruch auf Arbeitslosengeld verlieren und danach auf die vom Ergebnis einer Bedürftigkeitsprüfung abhängige Arbeitslosenhilfe angewiesen sind.Das Problem der älteren Langzeitarbeitslosen ist mit besonderer Schärfe in diesem Jahr zutage getreten. Wir sind heute in der Lage, die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung der kommenden Jahre einigermaßen zuverlässig abzuschätzen. Damit können der finanzielle Rahmen und die Aktionsmöglichkeiten der Sozialversicherungsträger abgesteckt werden. Auf der Basis dieses gesicherten Datenkranzes hat die Koalition der Mitte deshalb unverzüglich gehandelt. Hauptsächlich wegen einer bewußt vorsichtigen Kalkulation der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen konnte die Bundesanstalt für Arbeit nach jahrelangen Defiziten erstmals wieder ausreichende Rücklagen erwirtschaften.
Sie wird am Ende dieses Jahres voraussichtlich 3,1 Milliarden DM in ihren Kassen haben. Dieses finanzielle Polster verschafft uns den nötigen Spielraum für eine gezielte Verbesserung des Instrumentariums des Arbeitsförderungsgesetzes.
Es wird die Lage eines besonders schutz- und hilfsbedürftigen Personenkreises sofort und nachhaltig verbessern.
Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, daß der Gesetzgeber hier unter relativ großem Zeitdruck schnellwirkende Einzelmaßnahmen ergreifen muß. Die CDU/CSU versteht sie als einen ersten Schritt in Richtung auf eine stärkere Differenzierung der Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes. Zukünftig sollte die Dauer der vor Beginn der Arbeitslosigkeit zurückgelegten beitragspflichtigen Beschäftigungszeiten die Dauer des Versicherungsanspruchs bestimmen. Damit trüge man dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit Rechnung und befände man sich zugleich auch im Einklang mit den Kriterien des Versicherungsprinzips. Wer über Jahrzehnte hinwegBeiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, darf mit Fug und Recht eine längere Unterstützung durch die Solidargemeinschaft erwarten als derjenige, der ihr vielleicht erst drei Jahre als Versicherter angehört.Diese wichtige Änderung des Systems der Versicherungsleistungen im Arbeitsförderungsgesetz wird man nicht von heute auf morgen verwirklichen können. Wir benötigen nämlich hierfür zunächst einen computergerechten Aufbau sämtlicher Beitragskonten der bei der Bundesanstalt für Arbeit versicherten Arbeitnehmer, wie dies bei den Rentenversicherungsträgern schon heute der Fall ist. Die Bundesregierung hat uns wissen lassen, daß sie die notwendigen vorbereitenden Maßnahmen alsbald in die Wege leiten wird. Wir begrüßen diese Absicht ausdrücklich, und ihre Realisierung werden wir nachdrücklich unterstützen.In einem engen sachlichen Zusammenhang mit der personenbezogenen Ausweitung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung steht eine Änderung des AFG, die noch effektiver als bisher mögliche Leistungsmißbräuche verhindern soll. Einem Arbeitslosen, der seine Arbeitslosigkeit ohne triftigen Grund, d. h. durch willkürliche Kündigung, schuldhaft selbst herbeigeführt hat, droht bereits nach geltendem Recht eine Sperrfrist von acht Wochen.
Diese Sanktion soll vor dem Hintergrund einer gegenwärtig auf hohem Niveau stagnierenden Arbeitslosigkeit auf zwölf Wochen verlängert werden. Es ist eigentlich ein Gebot des Eigeninteresses, einen gesicherten Arbeitsplatz nicht leichtfertig durch Kündigung aufs Spiel zu setzen. Wer heute das Risiko der Arbeitslosigkeit ohne sichere Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle durch eine willkürliche Kündigung freiwillig auf sich nimmt,
handelt zugleich unsolidarisch gegenüber der Versichertengemeinschaft.
Er bürdet ihr ohne Not zusätzliche finanzielle Lasten auf. Dieses Verhalten muß angesichts der äußerst angespannten Finanzlage von Hunderttausenden von Langzeitarbeitslosen mit einer verschärften Sperrfrist deutlicher als bisher geahndet werden.Meine Damen und Herren, ich wende mich jetzt dem zweiten Teil unseres Gesetzentwurfs zu, nämlich der Veränderung der Beitragssätze in der Rentenversicherung und nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Durch verantwortungsloses Krisengerede haben SPD-Politiker vor allem im Vorfeld der nordrhein-westfälischen Kommunalwahl für negative Schlagzahlen über die Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung gesorgt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6971
Müller.
Eine besonders unrühmliche Rolle spielte dabei der Sozialminister von Nordrhein-Westfalen, Farthmann.
Er verstieg sich zu der düsteren Prophezeiung einer angeblichen Rentenpleite.
Einige Sozialexperten der SPD-Bundestagsfraktion haben dabei fleißig mitgemischt. Es wird deutlich, welche Ziele mit derartigen sogenannten Aufklärungskampagnen à la SPD verfolgt werden.
Man will den älteren Mitbürgern, die mit den gesetzlichen Grundlagen und den komplizierten finanziellen Verhältnissen nicht vertraut sind, Angst einj agen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
— Herr Kollege Egert, ich bin bei der Einbringung eines Gesetzentwurfs. Da sind Zwischenfragen nach meinem Wissen nicht zulässig.
Herr Kollege, da muß ich Sie noch einmal fragen. Mir wurde gesagt, daß damit gleichzeitig die Aussprache eröffnet ist.
Ich lasse keine Zwischenfragen zu.
Das ist eine andere Sache. Dann fahren Sie bitte fort.
Diese Angst um ihre materielle Existenz, so hofft man, soll sich in Wahlstimmen für die SPD auszahlen. Möglicherweise hat der Vorsitzende der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Walter Quartier, übrigens ein Gewerkschaftler, der kraft seines Amtes zur Objektivität verpflichtet ist, diese Panikmache mit Entschiedenheit zurückgewiesen.
Jede Rente, meine Damen und Herren, wird Monat für Monat, wie das Gesetz es befiehlt, pünktlich gezahlt. Kraft gesetzlichen Auftrages ist jede Bundesregierung verpflichtet, dies unter allen denkbaren Umständen zu garantieren. Die von uns 1982 und 1983 beschlossenen Sanierungsmaßnahmen haben zwar den drohenden finanziellen Kollaps der Rentenversicherung abgewendet. Der Bund mußte seine Garantie nicht mit zusätzlichen Milliardenbeiträgen einlösen. Trotzdem muß die gesetzliche Rentenversicherung noch immer eine finanzielleDurststrecke überwinden. Denn es ist ihr bis heute leider noch nicht gelungen, ausreichende finanzielle Polster für vorübergehende Liquiditätsengpässe anzusammeln. Die unbefriedigende Beschäftigungslage und auch die immer noch andauernden Strukturveränderungen bei der Zahl und der Dauer der gezahlten Renten spielen dabei eine gewichtige Rolle. Sie erschweren unsere Bemühungen, das Schiff der Rentenversicherung soweit flottzumachen, daß wieder eine beruhigende Sicherheitsmarge an liquiden Mitteln besteht.
Dann brauchten wir uns wegen unterjähriger Liquiditätsschwankungen auf Grund unregelmäßiger Beitragseingänge keine Gedanken zu machen.Die SPD fordert die Bemessung der von der Bundesanstalt für Arbeit für ihre Leistungsempfänger zu zahlenden Rentenversicherungsbeiträge nach dem früheren — vor Eintritt der Arbeitslosigkeit tatsächlich gezahlten — Arbeitsentgelt.
Allerdings bleibt sie eine überzeugende Antwort auf die Frage schuldig, wie die dann entstehenden Defizite der Bundesanstalt für Arbeit gedeckt werden sollen.
Ihr Hinweis auf den Bundeszuschuß ist nichts anderes als eine verschleierte Rückkehr zur katastrophalen Schuldenpolitik, die in entscheidendem Maße für die Finanzkrise der Sozialversicherungsträger mit verantwortlich ist.
Sie haben offensichtlich immer noch nicht begriffen, daß kein Zweig der Sozialversicherung von den überwiegend strukturbedingten Problemen des deutschen Arbeitsmarktes verschont bleibt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf einen weiteren Grund hinweisen. Die aktuelle Entwicklung der Löhne und Gehälter aller versicherungspflichtigen Arbeitnehmer hat leider nicht zur Erleichterung der Finanzprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung beigetragen.
Kurz vor Abschluß der diesjährigen Tarifrunde steht fest, daß 1985 und auch 1986 die Bruttoentgelte der Versicherten wesentlich geringer ansteigen werden, als allgemein zu Beginn dieses Jahres angenommen worden ist. Denn abweichend von ihrer früheren Praxis haben Arbeitgeber und Gewerkschaften in der diesjährigen Tarifrunde vereinbart, den Zuwachs der Wertschöpfung unserer Volkswirtschaft in weitaus stärkerem Maße als frü-
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6972 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Müller
her für Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich in Anspruch zu nehmen. Das hat zwangsläufig Folgen für zusätzliche nominale Lohnerhöhungen. Sie fallen, wie das Beispiel der Metallindustrie zeigt, deutlich niedriger als in füheren Jahren aus.
Ein reales volkswirtschaftliches Plus läßt sich eben nur einmal verteilen.Es liegt mir fern, die autonome Entscheidung der Tarifvertragsparteien zu kritisieren.
Ein negatives Urteil wäre schon deshalb nicht angebracht, weil die Tarifabschlüsse dieses Jahres zunächst einmal die Lohnstückkosten der deutschen Wirtschaft senken und damit einen Beitrag zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit leisten. Das kann in den kommenden Monaten positive Impulse für die Beschäftigungslage auslösen, deren Ausmaß sich heute allerdings kaum quantifizieren läßt.Eine vorausschauende und verantwortungsbewußte Politik darf sich nicht auf solche unbestimmten Hoffnungen stützen. Es ist deswegen notwendig und vernünftig, das Zurückbleiben der tatsächlichen Beitragseinnahmen hinter den ursprünglichen Annahmen durch eine geringfügige Anhebung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung um 0,2 Prozentpunkte auszugleichen. Weder den Arbeitnehmern noch den Unternehmen entstehen hierdurch finanzielle Nachteile. Denn durch die gleichzeitige Senkung des Beitragssatzes zur Bundesanstalt für Arbeit bleibt die Gesamtbeitragsbelastung unverändert.Die Bundesanstalt für Arbeit kann den Rückgang ihrer Beitragseinnahmen um knapp 1,4 Milliarden DM
trotz finanzieller Mehraufwendungen für die Langzeitarbeitslosen durchaus verkraften. Abgesichert durch die Finanzpolster der Rücklagen in Höhe von 3,1 Milliarden DM, braucht sie in den kommenden Jahren nicht zu befürchten, wieder zum Kostgänger des Bundes zu werden. Ihrem neuen Haushaltsentwurf liegt eine realistische Planung der Einnahmen und Ausgaben zugrunde.Ergänzend zu den Beitragssatzänderungen treffen wir folgende Vorsorgemaßnahmen. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte kann im Fall vorübergehender und kurzfristiger Liquiditätsengpässe in den kommenden Jahren einen zinslosen Betriebsmittelkredit des Bundes bis zur Höhe von 5 Milliarden DM in Anspruch nehmen. Damit wird die ohnehin kraft Gesetzes bestehende abstrakte Bundesgarantie für die Praxis der Rentenversicherung konkretisiert und anwendbar gemacht.Der Bundesminister der Finanzen und der Bundesarbeitsminister sind sich darüber hinaus einig, daß die für den Haushalt 1985 vorgesehene Regelung, falls erforderlich, in den folgenden Jahren wiederholt werden kann.Mit diesem Maßnahmebündel erbringt die Koalition der Mitte den Beweis, daß sie kurzfristig entstehende Probleme schnell und überzeugend lösen kann.Dabei tragen wir den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung, indem wir jede zusätzliche Belastung von Wirtschaft und Beitragszahlern vermeiden.Unsere Politik trägt bereits jetzt reichlich Früchte.
Die Konsolidierung der Staatsfinanzen und der Systeme der sozialen Sicherheit hat die wirtschaftliche und finanzielle Lage des einzelnen Arbeitnehmers spürbar verbessert.
Alle Anzeichen sprechen dafür, daß sich der von uns eingeleitete Aufschwung im kommenden Jahr fortsetzen wird. Wir haben allen Anlaß, mit Optimismus in die überschaubare Zukunft zu blicken.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es war wenig überzeugend, was eben begründet wurde. Es ist wenig überzeugend, daß wir bei einer Regierung, die angetreten ist, die Belastung der Arbeitnehmer nicht zu erhöhen, jetzt vor der dritten Beitragserhöhung in dieser Legislaturperiode stehen.
Ich kann dazu nur sagen: Dies ist Flickschusterei.
Dies ist nicht nur die Woche der Herrenausstatter in Bonn, sondern es ist auch die Woche der Flickschusterei.
Ich kann Ihnen, sehr verehrter Herr Arbeitsminister, den Vorwurf oder die Bezeichnung nicht ersparen, daß Sie der oberste Flickschuster in dieser Nation sind.
Herr Arbeitsminister, Sie haben Ihr Talent in dieser Woche gleich zweimal unter Beweis gestellt. Zum einen: Flickschusterei bei der Hinterbliebenenversorgung.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6973
HeyennDarüber wird noch zu reden sein.
Unser heutiges Thema ist, die Rentenversicherung vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren. Wenn der Herr Kollege Müller davon gesprochen hat, daß man mit diesem Gesetz das Schiff der Rentenversicherung wieder flottmachen wolle, so kann ich ihm darauf nur antworten: Dies reicht nicht. Es muß Wasser unter dem Kiel sein. Das Schiff ist zur Zeit auf Grund.
Ich will das Urteil über diesen Gesetzentwurf vorwegnehmen: Er ist untauglich. Die erneute Verschiebung von Geldern zwischen der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung ist eine Politik, die wir Sozialdemokraten ablehnen.
Was hat denn der Herr Bundesarbeitsminister noch vor wenigen Tagen gesagt? Am 2. Oktober — das ist noch nicht einmal einen Monat her — ließ er den Regierungssprecher verkünden: Die gesetzliche Rentenversicherung wurde nicht nur aktuell aus der Gefahrenzone gebracht. Auch langfristig wurden die Weichen für eine Stabilisierung gestellt. Die Renten sind wieder sicher.
— Das hat Norbert Blüm dem Regierungssprecher am 2. Oktober dieses Jahres sagen lassen.
end was hat der Arbeitsminister selbst gesagt? Er sagte am 1. Oktober vor dem Bundesausschuß seiner Partei: Wir werden die Probleme in der Rentenversicherung nicht auf dem alten Verschiebebahnhof lösen, sondern dort, wo sie auftreten.
Was aber tut er? Er verschiebt! Sowohl das Eigenlob als auch die Absage an den Verschiebebahnhof, Herr Kolb, sind vier Wochen später verstummt. Sie kennen den Entwurf, der uns vorliegt.
Der vermeintliche Retter der Rentenversicherung erlebt sein rentenpolitisches Waterloo. Er setzt seine Karriere als Vorsteher des sozialpolitischen Verschiebebahnhofs fort. Dies ist die rentenpolitische Wirklichkeit des Norbert Blüm.
Mit all seinen flotten Sprüchen und hohlen Phrasen hat er lange seine Unfähigkeit überdeckt, eine solide Sozialpolitik zu betreiben. Aber spätestens heute bei der dritten Beitragserhöhung in der Ren-tenversicherung in dieser Legislaturperiode geht jedem auf: Der Arbeitsminister hat den Mund wieder einmal zu voll genommen. Er hat nichts als kurzatmige Krisenpolitik zuwege gebracht. Wie hat er denn nach dem Regierungswechsel hier im Bundestag gesprochen? Es hieß: Meine Sozialpolitik orientiert sich an Prinzipien und ist nicht manipulativ.
In der Realität hat er sich seither durchgewurstelt. Die Finanzen der Sozialkassen hat er heruntergewirtschaftet.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie versuchen, von Ihrem eigenen Versagen durch Polemik abzulenken. Dann muß wieder — wie bei Herrn Müller eben auch — das Argument von der angeblichen Erblast herhalten.
Dieses Argument bringen Sie doch immer nur, wenn Sie mit Ihrem Latein am Ende sind.
Soll ich einmal in Ihr Gedächtnis zurückrufen, wie es mit der Rentenversicherung am Ende der sozialliberalen Koalition bestellt war?
Wir hatten am Ende des Jahres 1982 eine ausreichende Liquidität. Die Schwankungsreserve lag Ende 1982 bei zwei Monatsausgaben.
Herr Blüm und meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie waren es, die unmittelbar nach dem Regierungswechsel 5 Milliarden DM von den Rentenkassen in den Bundeshaushalt verschoben haben.
Wenn Sie sagen, Herr Quartier — der j a nicht nur Vorstandsvorsitzender der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und Vertreter der DAG,
sondern auch Ihr Parteifreund ist — warne vor Panikmache, so muß ich Ihnen zugleich sagen, daß dieser Herr Quartier auch ausführt, ohne die Wegnahme der Beiträge aus der Arbeitslosenversicherung und Verschiebung auf die Rentenversicherung gebe es heute bei den Rentenfinanzen keine Schwierigkeiten.
Wir haben von Anfang an vor diesem Schritt gewarnt. Sie haben die Rentenversicherung mit der Verringerung der Beitragszahlungen wieder von der Arbeitslosigkeit abhängig gemacht.
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6974 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
HeyennSolange Sie das nicht rückgängig machen, lieber Herr Kolb, so lange werden Sie im Bereich der Rentenfinanzen keine Ruhe haben.
Sie können diese Löcher in der Rentenversicherung nicht schließen. Das haben die letzten zwei Jahre doch deutlich gezeigt.
Zahlreiche schmerzliche Eingriffe in die Rentenversicherung zu Lasten der Rentner haben die Renten um kein Jota sicherer gemacht.
Was muß also passieren? Sie müssen die volle Beitragsleistung für die Arbeitslosen von der Arbeitslosenversicherung an die Rentenversicherung wiederherstellen.
Und da kommt Herr Müller her und fragt: Wie ist es denn mit der Deckung? Herr Müller, ich wundere mich, daß Ihnen diese Frage einfällt, wenn es um Rentner mit 700 DM Rente im Monat geht, daß Sie sich diese Frage aber nicht gestellt haben, als es um 20 Milliarden DM für die Landwirte ging.
— Das ist nicht unverschämt. Die Rentenversicherung lebt auf Pump. Die laufenden Ausgaben müssen zur Zeit auf dem Kapitalmarkt gedeckt werden — einmalig in der Geschichte, Premiere durch Norbert Blüm in der über 100jährigen Geschichte der deutschen Rentenversicherung.
Sie versuchen, dieses selbstverschuldete Dilemma anderen in die Schuhe zu schieben, u. a. den Gewerkschaften. Sie wollen von Ihrem Versagen ablenken. Und die Gewerkschaften werden in ihrem Kampf um die 35-Stunden-Woche zu Sündenbökken abgestempelt. Aber genauso dumm und töricht, wie es ist, die Gewerkschaften für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich zu machen,
ist es auch, sie mit den Löchern in der Rentenversicherung in Zusammenhang zu bringen;
denn der gewerkschaftliche Kampf um die 35-Stunden-Woche ist und bleibt ein Kampf um mehr Beschäftigung. Und mehr Beschäftigung, Herr Kolb, bedeutet auch mehr Beiträge in der Rentenversicherung.
Unter dem Strich kann für die Rentenversicherung durch eine Verkürzung der Arbeitszeit mehr herauskommen. Nur setzt das voraus, daß die Aktiven wegen der Arbeitszeitverkürzung keine allzu hohen Lohneinbußen erleiden.
Diesen Zusammenhang hat Herr Blüm bewußt verwischt.Aus Ihrer Verantwortung, Herr Blüm, hätten Sie dafür eintreten müssen, daß die Verkürzung der Arbeitszeit keine nachteiligen Folgen für die Rentenkassen hat. Aber Sie haben genau das Gegenteil gefordert. Erst haben Sie sich für eine Lohnpause ausgesprochen — Gott sei Dank ist Ihnen niemand gefolgt; denn sonst wären die Löcher in der Rentenversicherung sehr viel früher entstanden und sehr viel größer geworden —,
und dann haben Sie die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit mit vollem Lohnausgleich verteufelt. Ich weiß nicht, Herr Arbeitsminister, ob Sie nicht merken, wie widersprüchlich dieses Bild ist.Meine Damen und Herren, die Verantwortung für diese Rentenmisere — Renten auf Pump, Renten über Darlehen auf dem Kapitalmarkt — können Sie nicht anderen in die Schuhe schieben. Dafür tragen Sie allein die Verantwortung.
Und es gibt nur einen Ausweg — ich wiederhole mich hier bewußt —: Die Rentenversicherung darf nicht länger mit dem Arbeitsmarktrisiko belastet werden. Es müssen wieder volle Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden.
— Meine Fraktion wollte das nie.
Wir haben noch im September 1982 durch Eugen Glombig von diesem Pult aus sagen lassen, daß wir dies ablehnen.
Aber Sie haben offenkundig nichts gelernt aus der Vergangenheit.
Der Verschiebebahnhofsvorsteher Norbert Blüm hat in der Vergangenheit doch immer wieder gefordert — soll ich Ihnen das aus den Reden hier vorlesen? —, das Hin- und Herrangieren zu beenden. Ich
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6975
Heyennmeine, er soll seine eigenen Worte mal ernst nehmen.
Die strukturelle Maßnahme, die Wiederherstellung der Beitragsleistungen, ist die entscheidende und nötige, um die Renten sicher zu machen.
Wenn ich mir die Berechnungen mit dem erhöhten Beitragssatz von 18,7 % ansehe, fällt auf, daß schon im September nächsten Jahres 1 Milliarde DM von der notwendigen Liquiditätsreserve fehlen wird — eine halbe Monatsausgabe. Im Oktober nächsten Jahres werden 3,8 Milliarden DM, im November 5,9 Milliarden DM fehlen. Im Dezember wird es dann durch die Einmalzahlungen wieder etwas besser aussehen. Wenn Sie uns trotzdem vorgaukeln, daß die Rentenversicherung über den Berg sei, streuen Sie den Rentnern Sand in die Augen.
Die Wahrheit ist: Weder die Erhöhung des Beitragssatzes auf 18,7 % noch das erneute Vorziehen des Bundeszuschusses sichern die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung im nächsten Jahr.
Auch das zinslose Betriebsmitteldarlehen — Zinsen durch den Bundeshaushalt — löst dieses Problem nicht. Denn auch im kommenden Jahr wird die Bundesanstalt für Arbeit Mittel auf dem Kapitalmarkt aufnehmen müssen,
ebenso die Bundesanstalt für Angestellte
— Vielen Dank.
Dies ist dann der absolute Tiefpunkt in der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung.Ich halte es für ein Unding, daß dem Bundestag diese untauglichen Maßnahmen überhaupt vorgelegt werden.
— Ich habe es schon dreimal gesagt, ich sage es gerne ein viertes Mal: Wiederherstellung der vollen Beiträge. Die Koalitionsfraktionen mögen sich abfinden mit dem, was hier passiert. Ich empfinde es als Zumutung, daß hier ein derartig untaugliches Flickwerk präsentiert wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolb?
Gerne.
Herr Kollege Heyenn, ist Ihnen bewußt, daß Sie, wenn Sie Ihre Regelung einführen wollen, den Steuerzahler über die Bundesanstalt für Arbeit indirekt die Renten bezahlen lassen?
Herr Kollege Kolb, mir ist bekannt, daß wir, die sozialliberale Koalition, das Risiko der Arbeitslosigkeit durch die Bundesanstalt für Arbeit haben tragen lassen. Mit unserer gesetzlichen Regelung wären die Rentenfinanzen heute noch in Ordnung. Sie haben das zum Nachteil aller verändert.
— Melden Sie sich zu einer Zwischenfrage, aber lassen Sie das andere.Ihre Berechnungen beruhen im übrigen auf Zahlen, die geschönt sind. Das Herbstgutachten der Konjunkturforscher hat in dieser Woche bestätigt, daß es mit einer Zunahme der Beschäftigung um 0,2 % wohl nichts werden wird. Dort redet man von einer Stagnation.
— Nein, aber ich habe mich doch nüchtern mit den Tatsachen auseinanderzusetzen und nicht immer wieder neue schöne Zahlen zu präsentieren, um ein halbes Jahr später dem Parlament die nächste Beitragserhöhung vorzulegen.
Wenn es null Prozent sind, plus/minus null, dann sind die Rentenfinanzen noch stärker im Keller, als ich das Ihnen heute vorgerechnet habe.
Die gesetzliche Rentenversicherung ist ja nun seit Jahren im Gerede. Ich will offen zugeben: Auch wir waren daran nicht ganz schuldlos.
Was wir aber seit dem Regierungswechsel erleben, erschüttert dieses Vertrauen in die Rentenversicherung aufs schärfste: kurzatmiges Lavieren, ständiges Verschieben von Lasten zwischen Rentnern und Beitragszahlern, zwischen den einzelnen Zweigen der Rentenversicherung und der Sozialversicherung insgesamt. Dies führt zu Verunsicherung. Wenn diese Politik nicht endlich aufhört, dann wird der Bürger sein Vertrauen in die Rentenversicherung insgesamt letztendlich verlieren.Herr Kollege Blüm, ich lese in der „Welt" vom 24. Oktober — die steht uns wirklich nicht nahe —: „In der Rentenversicherung bahnt sich eine gigantische Geldschneiderei an ... Blüms Jongleurkünste". Wir fordern Sie auf: Hören Sie auf, beenden Sie diese gigantische Geldschneiderei! Schaffen Sie wieder Vertrauen, Sicherheit in den einzelnen Systemen, wie es zu unseren Zeiten vorhanden war! Zahlen Sie wieder die vollen Beiträge für die Arbeitslosen an die Rentenversicherung!
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6976 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
HeyennIch danke Ihnen.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Cronenberg.
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal — und zwar nicht nur an die Adresse des Kollegen Heyenn, sondern selbstverständlich auch an die Adresse des Bundesarbeitsministers — möchte ich eine kleine Klarstellung vornehmen, indem ich aus dem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache — 1974 in der DDR erschienen — einiges zitiere. Im Zusammenhang mit „Verschiebebahnhof" heißt es daselbst: Dieses würde bedeuten, die Verhältnisse wieder in Ordnung bringen. Man beruft sich in diesem Zusammenhang auf Bebel.
Verschiebebahnhof — meine verehrten Damen und Herren, das habe ich schon einmal von dieser Stelle gesagt —
ist ja an sich eine sehr sinnvolle Institution: Dort werden Waggons auf richtige Gleise gebracht. Was man sagen will, ist doch etwas ganz anderes. Man will prüfen, ob hier möglicherweise Falsches getan wird, Finanzmassen von einem Versicherungssystem ins andere unsystematisch verschoben werden, und das geschieht in der Tat mit diesem Gesetz nicht.Nun zum Gesetz mit dem Namen Arbeitsförde-rungs- und Rentenversicherungs-Anderungsgesetz.
Mit Verlaub gesagt: ein schrecklicher Name.Zur Sache selbst. Es geht darum, einen Problemkreis im Zusammenhang mit der Alterssicherung zu lösen, den ich kurzfristige Liquiditätssicherung nennen möchte.
Wir möchten heute nicht über das Problem der Hinterbliebenenversorgung reden, ein Problem der Rentenversicherung, mit dem wir uns auch noch zu beschäftigen haben, und auch nicht über die langfristigen Strukturprobleme unserer Rentenversicherung. Ich möchte ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß wir in den Maßnahmen, die wir Ihnen heute vorschlagen, keine Ansätze für die Lösung der langfristigen Strukturprobleme sehen, und bitte Sie, dies bei der Beurteilung der vorgeschlagenen Maßnahmen zu berücksichtigen. Bei der Strukturreform zur langfristigen Sicherung des Rentensystems gilt es auf die veränderten Rahmenbedingungen — stark ansteigender Rentneranteil, stark steigender Anteil von weiblichen Beschäftigten, die demographische Entwicklung und andereFaktoren — Rücksicht zu nehmen. Wir schlagen Ihnen zur Lösung der kurzfristig anstehenden Probleme vor, die Beiträge in der Rentenversicherung um 0,2 % anzuheben und, was wichtig ist, die Bundesgarantie für die Rentenversicherung zu konkretisieren.Lassen Sie mich vorab einige Bemerkungen über die Ursachen, die zu dieser Liquiditätsschwierigkeit geführt haben, machen. Die Bundesregierung ist in ihrem Rentenanpassungsbericht von deutlich höheren Entgeltsteigerungen für die Jahre 1984 und 1985 ausgegangen. Die Lohnabschlüsse des Jahres 1984 liegen, was die nominale Erhöhung der Entgelte anbelangt, unter diesen Annahmen. Was die Wertigkeit der Tarifabschlüsse anbelangt, so liegen diese durchaus im Rahmen der Prognosen. Mit der Wertigkeit meine ich die Kosten für die Unternehmen, die sich aus der Lohnerhöhung plus Arbeitszeitverkürzung ergeben. Wie jedermann weiß, kann der Produktivitätsfortschritt nur einmal verfrühstückt werden. Bei den diesjährigen Tarifvertragsverhandlungen ist ein Teil in Form von höherem Lohn und ein anderer Teil in Form von Arbeitszeitverkürzung vereinbart worden. Bemessungsgrundlage für die Beiträge in der Rentenversicherung ist aber nun einmal der Lohn und nicht die Freizeit.Ich darf also feststellen, Kollege Heyenn, daß die aufgetretenen Probleme maßgeblich auf die Arbeitszeitverkürzung zurückzuführen sind. Diese Feststellung ist nicht neu. Während der Tarifvertragsverhandlungen habe ich immer wieder auf diese Problematik aufmerksam gemacht, und man muß dies auch bei zukünftigen Tarifvertragsabschlüssen berücksichtigen. Es geht nicht an, daß letztendlich die Tarifvertragsabschlüsse, weil mehr Freizeit und weniger Lohnerhöhung vereinbart wird, auf Kosten der Rentenversicherung, d. h. in letzter Konsequenz auf Kosten der Rentner, gehen.Sie wissen, meine Damen und Herren, wie hartnäckig — einige sagen sogar: stur — sich die Freien Demokraten für Beitragsstabilität in der Sozialversicherung einsetzen. Wir tun das, weil wir überzeugt sind, daß die Belastung der Arbeitnehmer ohnehin an der Grenze des Erträglichen angelangt ist. Jedermann weiß, daß der Unterschied zwischen dem brutto Verdienten und dem netto Ausgezahlten erschreckend groß ist. Wir tun dies auch, weil wir der festen Überzeugung sind, daß der Preis für Arbeit nicht verteuert werden darf. Die Verteuerung des Faktors Arbeit, auch und gerade durch Sozialversicherungsbeiträge, fördert die ohnehin erschreckend zunehmende Schwarzarbeit. Genaugenommen sind Sozialversicherungsbeitragserhöhungen ein — wie soll ich sagen? — Schwarzarbeitsförderungsgesetz,
und aus diesem Grunde haben wir uns sehr nachhaltig für den anderen Teil des vorliegenden Gesetzentwurfes, nämlich die Beitragssenkung in der Arbeitslosenversicherung, eingesetzt.Man darf also feststellen, daß die Senkung der Beiträge in der Arbeitslosenversicherung und die Erhöhung der Beiträge in der Rentenversicherung
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6977
Cronenberg
für den einzelnen Arbeitnehmer und für die Arbeitgeber kostenneutral sind.Trotz der Senkung der Beiträge in der Arbeitslosenversicherung ist es möglich, eine Leistungsverbesserung für ältere Arbeitslose vorzunehmen, auf die ich später noch zu sprechen komme.Die These, daß teure Arbeit, zu teure Arbeit, Ursache eines Teils unserer Strukturprobleme und somit Ursache hoher Arbeitslosigkeit ist, hat Professor Schiller am 3. September in seinem Interview dankenswerterweise deutlich gemacht. Verehrte Kollegen von der SPD, Ihr Bundesgeschäftsführer Glotz hat diese These vor der Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen — ebenfalls in der richtigen Erkenntnis, daß bei uns die Arbeit zu teuer ist — ebenfalls verbreitet,
und da ich annehme, daß es sich dabei nicht nur um Streicheleinheiten für ein paar selbständige Genossen handelt,
sollte die ganze Partei diese richtige Erkenntnis akzeptieren und konsequenterweise diesem Gesetzesvorschlag zustimmen.Kollege Dreßler, wenn Sie das Zitat hören wollen,
kann Ihnen geholfen werden. Glotz wörtlich:
Wenn ich sage, die Arbeit sei zu teuer, dannmeine ich nicht, die Löhne seien zu hoch,
sondern ich meine, daß die gesamtwirtschaftliche und soziale Last auf dem Faktor Arbeit zu schwer ist.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, seitdem ich mich im Deutschen Bundestag mit der Rentenproblematik beschäftige, glaubt die jeweilige Opposition, parteipolitisches Kapital aus der Verunsicherung der Rentner zu schlagen. Die einzige Entschuldigung dafür, daß Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dieses Instrument benutzen, ist, daß Sie das von den Kollegen der CDU/ CSU gelernt haben. Sonst gibt es wirklich keine Entschuldigung für ein solches Verhalten!
Die Zahlung der Renten ist gesichert. Jedermann, der die Rentenversicherung ein wenig von der Sache her kennt, weiß, daß in § 1384 der RVO die Garantie des Bundes für die Rentenversicherungsträger festgelegt ist. Damit aber die letzten Zweifel an dieser Bundesgarantie und auch einige Beanstandungen des Rechnungshofes wegen vorzeitiger Zahlung von Bundeszuschüssen an die Rentenversicherung ausgeräumt werden, haben wir eine Konkretisierung der Bundesgarantie für notwendig gehalten. Dabei ist es doch nicht mehr als normal, daß der Bund seinen Verpflichtungen dann nachkommt, wenn die Beitragseinnahmen nicht besonders hoch sind, ohne daß damit das Gesamtzuschußvolumen verändert würde.Natürlich halte auch ich eine höhere — und zwar liquide — Schwankungsreserve für erforderlich. Leider sind die Mittel zum Teil langfristig festgelegt. Nun, das ist nicht mehr zu ändern. Deswegen ist es auch zu verantworten, daß der Bund kurzfristig mit bis zu 5 Milliarden DM aushilft. Und das ist wichtig. Zinsbelastungen entstehen der Rentenversicherung dadurch nicht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich, bitte.
Herr Abgeordneter Kirschner!
Herr Kollege Cronenberg, wenn Sie heute unsere Vorschläge zur vollen Wiederherstellung der Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung für die Arbeitslosen ablehnen bzw. wenn Sie dies bereits im vorletzten Haushaltsgesetz vollzogen haben, können Sie mir eigentlich einmal den Grund dafür nennen, warum Sie in der sozialliberalen Koalition dies damals gemacht haben?
Herr Kollege Kirschner, wenn Sie sich die Ausführungen des Kollegen Glotz, Ihres Bundesgeschäftsführers, in denen er genau das zum Ausdruck bringt, was ich eben gesagt habe, nämlich „keine Verteuerung des Faktors Arbeit", deutlich vor Augen führen, müssen Sie mir zugeben, daß der von Ihnen gemachte Vorschlag nur dazu führt, daß die Arbeitslosenversicherungsbeiträge zu Lasten des Preises für Arbeit kräftig erhöht werden, was Arbeitsplätze kostet.
Deswegen erinnere ich an den Vorschlag der alten Regierung, die j a einmal die Idee gehabt hat, sowohl bei den Leistungsansprüchen in der Rentenversicherung als auch bei den Abgaben der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherungsträger etwa 70 % zur Grundlage zu machen.
Da hätten Leistungsanspruch und Beitragszahlung übereingestimmt. Das ist das Ziel. Bei dieser Gelegenheit fordere ich den Bundesarbeitsminister gleich auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Differenz, die wir jetzt haben, im Zusammenhang mit der Strukturreform beseitigt wird.Meine Damen und Herren, ich bin leider in Zeitdruck und muß mir also einige Bemerkungen ersparen.
Metadaten/Kopzeile:
6978 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Cronenberg
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber noch einmal ganz deutlich machen, daß dieses Programm zur Liquiditätssicherung nicht die langfristigen Probleme unserer Rentenversicherung löst und daß diese Aufgabe vor uns liegt. Wir haben die Lösung in dieser Legislaturperiode zu beginnen, um sie in der nächsten zu einem hoffentlich guten Abschluß zu bringen.Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß die FDP, insbesondere Wolfgang Mischnick, seit langer Zeit der Auffassung war und ist, daß die Arbeitslosen, die lange in der Arbeitslosenversicherung Beiträge gezahlt haben, auch länger Arbeitslosengeld empfangen müssen. In Verfolgung dieser Idee ist der Leistungszeitraum für ältere Arbeitslose gestaffelt verlängert worden. Dies entspricht sicher noch nicht den Vorstellungen der Freien Demokraten. Aber wir sehen in dieser sozialpolitisch sicher gerechtfertigten Maßnahme einen Einstieg und hoffen, daß es dem Bundesarbeitsminister recht bald gelingt, den Grundsatz, Beitragszeit und Leistungszeit müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen, in der Arbeitslosenversicherung durchzusetzen und uns bald konkrete Vorschläge vorzulegen.An dieser Stelle möchte ich nicht verhehlen, daß ich für die älteren Arbeitslosen ein ungelöstes Problem sehen. Nur ein Teil der Arbeitslosengeldberechtigten erhält Arbeitslosenhilfe. Es erscheint mir in diesem Zusammenhang notwendig, eine Überprüfung der Bedürftigkeitsregelungen vorzunehmen.Lassen Sie mich auch ein offenes Wort zur Verlängerung der Sperrfrist für Selbstkundiger sagen. Die Begründung für diese Verlängerung ist exakt die gleiche wie beim AFKG, das wir am 12. November 1981 verabschiedet haben. Wir meinen, daß derjenige, der in der derzeitigen Situation sein Arbeitsverhältnis selbst kündigt, ohne die Sicherheit eines neuen Arbeitsplatzes zu haben, das sich aus diesem seinem Verhalten ergebende Risiko nicht auf die Solidaritätsgemeinschaft abwälzen darf. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß die bisherigen Ausnahmeregelungen, z. B. die Kündigung aus wichtigem Grund, hiervon unberührt bleiben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie aus dem vorliegenden Gesetz ersehen, sind die Beitragserhöhungen befristet. Es ist und bleibt unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß diese Befristung nicht nur ein frommer Wunsch bleibt, sondern daß sie wirklich Realität wird. Die Grundvoraussetzung hierfür ist, daß wir die Bedingungen für Arbeit verbessern. Dies kann nur dadurch geschehen, daß wir die Konsolidierungspolitik konsequent fortsetzen und keine unverantwortlichen Leistungsausweitungen, wo auch immer, vornehmen. Das Ergebnis des sparsamen Haushaltens sowohl in den öffentlichen Haushalten wie in den Sozialhaushalten ist eine erfreulich niedrige Inflationsrate. Wie schon neulich in der Aktuellen Stunde dargelegt, mir sind niedrige Rentenerhöhungen bei niedrigen Inflationsraten dreimal lieber als hohe Rentenerhöhungen, aber unterhalb der Inflationsraten. Dies bedeutet nämlich im Ergebnis Kaufkraftverlust für den einzelnen Rentner. Auch die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, durch niedrige Tarifabschlüsse ihren Solidaritätsbeitrag für die Arbeitslosen zu leisten.
Dies gilt insbesondere für den öffentlichen Dienst, der j a de facto null Arbeitsplatzrisiko hat.Frau Kollegin Fuchs, weniger Lohnerhöhungen für die Beschäftigten, bezahlbarer Preis für Arbeit ist eine entscheidende Voraussetzung für zusätzliche Einstellungen. Das hilft den Arbeitslosen. Mehr Beschäftigte aber bedeuten eine höhere Gesamtlohnsumme, und die ist entscheidend für die Beitragszahlungen, nicht die Beitragsleistung des einzelnen, sondern die Gesamtlohnsumme. Lassen Sie uns durch mehr Beschäftigte die Gesamtlohnsumme steigern, dann haben Sie auch die wünschenswerten Mehreinnahmen in den Sozialversicherungssystemen. So kann man also in diesem Zusammenhang, Frau Kollegin Fuchs, wieder mal feststellen, ein wenig weniger ist mehr, und dafür möchten wir plädieren.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich darf zwischendurch noch ein Abstimmungsergebnis bekanntgeben. Bei der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN: abgegebene Stimmen 465, keine ungültigen Stimmen, mit Ja haben gestimmt 20, mit Nein haben gestimmt 442, Enthaltungen 3 Stimmen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 465; davonja: 20nein: 442enthalten: 3JaDIE GRÜNENFrau Dr. Bard BurgmannDrabiniokDr. Ehmke Fischer (Frankfurt) Frau Dr. Hickel HoracekHossDr. JannsenKleinert KrizsanFrau NickelsFrau PotthastFrau ReetzSauermilchSchilySchneider Frau Schoppe StratmannVerheyen
NeinCDU/CSUDr. AbeleinDr. AlthammerFrau AugustinAustermannBayhaDr. Becker BergerFrau Berger
BiehleDr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Böhm
Dr. Bötsch BohlBohlsenBorchert Boroffka BreuerBroll
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6979
Vizepräsident Frau RengerBrunnerBühler
Dr. Bugl BuschbomCarstens Carstensen (Nordstrand) ClemensConrad
Dr. Czaja Dr. DanielsDawekeFrau DempwolfDeresDörflinger DolataDossDr. DreggerEchternachEhrbarEigenEngelsbergerErhard
Dr. FaltlhauserFeilcke Fellner Frau FischerFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedmannGanz
Frau GeigerDr. GeißlerDr. von GeldernDr. GeorgeGerlach GersteinGerster
GlosDr. GöhnerGötzerGünther Dr. HackelDr. Häfelevon HammersteinHanz
HaungsHauser
Hauser
Freiherr Heeremanvon ZuydtwyckFrau Dr. HellwigHelmrich Dr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höpfinger Dr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesHornungFrau HürlandDr. Hüsch Dr. HupkaJäger
JagodaDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
Kalisch Dr.-Ing. KansyKellerKiechle KittelmannKlein
Dr. Köhler
Dr. Köhler
Dr. Kohl KolbKrausDr. Kreile KreyFrau Krone-AppuhnDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertLandréDr. Langner Lattmann Dr. LaufsLink
Link Linsmeier LintnerDr. Lippold LöherLohmann Dr. h. c. LorenzLouvenLowackMaaßMaginMarschewskiDr. Marx MetzDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. Miltner MilzDr. MöllerMüller Müller (Wadern)Müller
NelleFrau Dr. Neumeister NiegelDr.-Ing. OldenstädtDr. Olderog PeschPfeffermann PfeiferDr. Pinger Pohlmann Dr. PohlmeierDr. Probst RaweRegenspurgerRepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberRode
Frau RönschDr. RoseRossmanith Roth
RüheRufSauer
Sauer
Sauter
Sauter
Dr. SchäubleSchartz
Schemken ScheuSchlottmann SchmidbauerSchmitz
von SchmudeSchneider
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schulze (Berlin)
SchwarzDr. Schwarz-Schilling Dr. SchwörerSeehofer Seesing SeitersDr. FreiherrSpies von Büllesheim SpilkerSpranger Dr. SprungDr. StavenhagenDr. SterckenStockhausenDr. StoltenbergStraßmeir StrubeStücklen StutzerSussetTillmannDr. TodenhöferUldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Dr. Voigt
Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarnkeDr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeirichWeißWernerFrau Dr. WexFrau Will-FeldFrau Dr. WilmsWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannDr. Wörner Würzbach Dr. Wulff ZiererDr. ZimmermannZinkSPDAmlingAntretter Dr. Apel Bachmaier BahrBambergBecker BernrathBerschkeit BindigFrau BlunckBrandtBrückBuckpesch Büchler
Büchner
Dr. von BülowBuschfort CatenhusenColletConradiDr. CorterierCurdtFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDelorme Dr. Diederich DreßlerDuveEgertDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichDr. Enders EstersEwenFiebigFischer Fischer (Osthofen)Frau Fuchs
Frau Fuchs
GanselGerstl
GilgesGlombig Dr. Glotz GrunenbergDr. Haack Haase
HaehserHansen
Frau Dr. HartensteinDr. HauchlerHauckHeimann HeistermannHerterich Hettling Heyenn Hiller
Hoffmann Dr. HoltzHornFrau HuberHuonker IbrüggerImmer Jahn (Marburg)Jaunich Dr. JensJung Junghans JungmannKiehmKirschner Kisslinger Klein
Dr. KlejdzinskiKolbow KretkowskiDr. Kübler Kühbacher Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart Frau Dr. LepsiusLiedtke LöfflerLohmann
LutzFrau LuukFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier MatthöferMeininghausMenzelDr. MitzscherlingMüller Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelNehmNeumann
Dr. NöbelFrau Odendahl OostergeteloPaterna
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6980 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Vizepräsident Frau RengerPauliDr. Penner Peter PfuhlPolkehnPoßPurpsRapp
Rappe ReimannFrau Renger ReschkeReuterRohde
SanderSchäfer SchanzDr. Scheer SchlagaSchlatterFrau Schmedt
Dr. Schmidt Schmidt (München) Schmidt (Wattenscheid) Schmitt (Wiesbaden)Dr. SchöfbergerSchreinerSchröer
Schulte
Dr. Schwenk
SielerFrau SimonisFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SoellDr. Sperling Dr. SpöriStahl
SteinerFrau SteinhauerStieglerStobbeStockleben Dr. Struck Frau Terborg TietjenFrau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe UrbaniakVahlbergVerheugen Dr. VogelVogelsangVoigt
VosenWaltemathe WaltherWartenberg WeinhoferWeisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau Weyel Wiefelvon der Wiesche Wimmer WischnewskiWitekDr. de With Wolfram
Würtz
ZanderZeitlerFrau ZuttFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBeckmann BredehornCronenberg EngelhardGallusGattermann Genscher Grünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannDr. Hirsch HoffieHoppeKleinert KohnDr.-Ing. Laermann Mischnick Möllemann Neuhausen PaintnerRonneburger Dr. Rumpf Schäfer
Frau Seiler-AlbringDr. Solms Dr. WengWolfgramm WurbsEnthaltenSPDJansenDr. WieczorekFDPDr. FeldmannDamit ist der Antrag abgelehnt.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erfüllen unsere Arbeit. Wir ziehen Furche für Furche; ob das Wetter gut ist oder schlecht, wir beackern das sozialpolitische Feld. Wir erledigen unsere Aufgaben, Schritt für Schritt und solide, nicht mit Patentrezepten, die gibt es nämlich in der Politik nicht.Die Bundesregierung hat zusammen mit den Koalitionsfraktionen in dieser Woche drei wichtige Schritte vorwärts getan: 1. Reform der Hinterbliebenenrente mit Erziehungszeiten; 2. Verlängerung der Bezugszeiten für die älteren Arbeitslosen; 3. Beitrag zur Sicherung der Rente mit einer neuen Sicherheitsautomatik, einer neuen Liquiditätssicherung.Soziale Sicherheit, meine Damen und Herren, wie immer das System organisiert ist, wie immer im übrigen die Regierung besetzt ist, wie immer der Arbeitsminister heißt, bleibt auf Arbeit angewiesen. Das muß der Mittelpunkt auch unserer Überlegungen bleiben. Die soziale Sicherheit fällt doch nicht vom Himmel. Bezahlt wird sie immer aus der Arbeit.
— Bei den GRÜNEN mag das anders sein.
Auf der Welt — nicht im Wolkenkuckucksheim — wird soziale Sicherheit von denjenigen bezahlt, die Arbeit haben. Deshalb sind Bevölkerungsrückgang, eine familienfeindliche Politik und Arbeitslosigkeit die größten Feinde der sozialen Sicherheit.
Wenn nämlich die Bevölkerungszahl zurückgeht, gibt es morgen weniger Beitragszahler, ohne daß unmittelbar auch die Zahl der Leistungsempfänger zurückgeht. Wenn Arbeitslosigkeit herrscht, haben wir weniger Beitragszahler und mehr Leistungsempfänger. Sie sehen: Eine Politik der Vollbeschäftigung und eine familienfreundliche Politik sind die besten Bedingungen für soziale Sicherheit.Die Vollbeschäftigung — das ist die erste wichtige Aufgabe — wird nicht erreicht, wenn die Lohnnebenkosten in die Höhe klettern. Deshalb bleibt die Bundesregierung bei ihrer Politik, die Gesamtbelastung in Schach und Proportionen zu halten. Ziel ist die gesamtwirtschaftliche Beitragsneutralität: Wenn wir die Beiträge auf der einen Seite erhöhen müssen, versuchen wir, sie — soweit dies in unserem Einflußbereich liegt — auf der anderen Seite zu senken. Deshalb kombinieren wir unumgängliche Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung mit Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung.Das liegt auch im Interesse der zahlenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber; denn beide sind an der Grenze der Belastbarkeit angekommen. Wenn heute schon von 1 DM Lohnerhöhung durchschnittlich 0,50 DM — bei manchen noch mehr — abkassiert werden, ist der Leistungsanreiz völlig verschwunden. Die von uns vorgesehene Steuerentlastung würde um ihren Sinn gebracht, wenn wir an der Beitragsschraube drehten.Meine Damen und Herren, in der Rentenversicherung sind Beitragserhöhungen auch deshalb nötig, weil wir in einem Jahr schwerer wirtschaftlicher Erschütterungen stehen. Streik und Aussperrung haben der Rentenversicherung nicht gutgetan. Das Ergebnis von Streik und Aussperrung, nämlich 2 % Lohnerhöhung, mag unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten erträglich sein, aber der Rentenversicherung fehlen die Einnahmen, mit denen sie gerechnet hatte, mit denen auch wir gerechnet hatten.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6981
Bundesminister Dr. BlümSie werden sich daran erinnern, daß wir in dem ganzen ersten Halbjahr 1984 immer auf das Dilemma hingewiesen haben: Eine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich geht gegen die Arbeitslosen; eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich geht gegen die Rentner. Ich entsinne mich: Damals gab es schallendes Gelächter auf den Bänken der Opposition. Leider Gottes hatten wir recht.
Ich will heute gar keine Rechthaberdebatte führen. Die Vergangenheit ist vergangen, und durch Gejammere kommt auch keine Mark mehr in die Rentenkasse. Aber wenn ich mir die Beiträge der Opposition anhöre, will ich doch einmal darauf aufmerksam machen, wo die Ursachen dafür liegen, daß wir korrigieren müssen. Auf die schädlichen Folgen dieser Ursachen haben wir rechtzeitig aufmerksam gemacht.Ein Zweites muß ich hinzufügen. Die Rückkehrförderung für unsere ausländischen Mitbürger war erfolgreicher, als wir selber geschätzt haben. Nicht 60 000 ausländische Mitbürger haben die vorzeitige Auszahlung der Rentenanwartschaften in Anspruch genommen, sondern 140 000. Ich denke, das hat diesen ausländischen Mitbürgern geholfen. Sie konnten mit Geld in der Hand in ihre Heimat zurückkehren, sie waren nicht mittellos. Es hat auch unserem Arbeitsmarkt geholfen. Der Rentenversicherung hat das allerdings kurzfristig mehr Geld entzogen, als wir vorgesehen hatten. Tarifabschluß, Rückkehrförderung sind also zwei Gründe.Verehrte Frau Kollegin Fuchs, damit das gleich beantwortet wird, was Sie vorhin durch einen Zwischenruf behauptet haben: ich stünde im Widerspruch zu meinem eigenen Vorschlag der Lohnpause, will ich doch einmal darauf aufmerksam machen, daß ich den nie in einer Zeit gemacht habe, in der es Wachstum gab, daß ich den vielmehr gemacht habe bei einem Nullwachstum, als wir auch den Rentnern eine Pause zugemutet haben. Jetzt haben wir aber auf Grund einer guten Politik Gott sei Dank wieder Wachstum. In dieser Zeit halte ich es für rücksichtslos gegenüber den Rentnern, den Zuwachs vornehmlich denjenigen zugute kommen zu lassen, die Arbeitszeitverkürzung wollen. Die Rentner haben Freizeit; sie haben nichts von der Arbeitszeitverkürzung.
Sie hängen an der Lohnentwicklung, und deshalb war dieser Lohnabschluß für die Rentenversicherung schädlich.
Beitragserhöhung auf der einen Seite und Beitragssenkung auf der anderen halte ich im übrigen auch für die ehrliche Lösung. Das Geld muß dort beschafft werden, wo es fehlt — in der Rentenversicherung —, und dort, wo Überschuß ist, kann der Beitrag gesenkt werden. Wir machen keine Verschiebung hinter dem Rücken der Beitragszahler. Die Alternative, die vorgeschlagen wird — die Beiträge sowohl bei der Bundesanstalt für Arbeit wie bei der Rentenversicherung nicht zu ändern, dafür aber mehr Geld von der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung zu geben —, halte ich für eine Sanierung hinter dem Rücken der Beitragszahler. Das halte ich — wenn Sie schon mit dem Wort Verschiebebahnhof arbeiten — für eine Politik des Verschiebebahnhofs unter Abdeckung durch Nebelwerfer. Da werden Nebelkerzen geworfen, damit niemand merkt, wie das Geld hin und her geschoben wird.Ich will das einmal an einem Beispiel deutlich machen. 1978 bis 1982 hat die Bundesanstalt von 100% des Bruttolohns der Arbeitslosen Beiträge an die Rentenversicherung gezahlt. In derselben Zeit hat der Bund an die Bundesanstalt 17,3 Milliarden DM gezahlt und die Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung 17,1 Milliarden DM. Das Geld, das der Bund an die Bundesanstalt gezahlt hat — ich weiß nicht, ob die noch eine Briefmarke auf den Brief geklebt haben —, hat sie also gleich weitergegeben an die Rentenversicherung. Was soll eigentlich diese Karusselltechnik, was soll eigentlich diese Umwegfinanzierung?Ich finde, das Geld muß immer dort eingenommen werden, wo es gebraucht wird, und wo es einen Überschuß gibt, da muß eben ein Nachlaß gewährt werden.Unsere Regelung, nach der die Bundesanstalt Beiträge zahlt unter Zugrundelegung der Höhe des Arbeitslosengeldes, ist verläßlich. Das ist eine handfeste Kategorie. Wenn das Arbeitslosengeld steigt, steigen auch die Beiträge. Wenn das Arbeitslosengeld sinkt, sinken auch die Beiträge. Ihren Vorschlag, von 70 % des Lohnes Beitrag zu zahlen, verstehe ich nicht. Mir muß einmal jemand erklären, wie Sie auf 70 % kommen.
Wo haben Sie diese 70 % abgerufen? Beim Wetteramt in Offenbach oder bei der „Süddeutschen Klassenlotterie"? Ich fürchte, da haben die Buchhalter ausgerechnet, wieviel Geld gebraucht wird. In eine solche Rentenpolitik ist doch das Hin und Her eingebaut.Ich gebe zu, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß der Arbeitsmarkt eine größere Bedeutung für die Rentenversicherung hat, wenn man den Beitrag an das Arbeitslosengeld bindet. Das ist richtig. Aber es gibt doch gar keine Sozialversicherung, die unabhängig wäre vom Arbeitsmarkt und von der Konjunktur. Wer behauptet, wir könnten eine Rentenversicherung bauen, die gar keine Rücksicht nehmen müßte auf das, was an Wachstum vorhanden ist, was an Vollbeschäftigung vorhanden ist, der ist das Opfer einer Sozialillusion. Es gehört zur Lebenswahrheit der Sozialversicherung, daß es keinen Zweig, auch nicht die Rentenversicherung, auf einer Insel der Seligen gibt, die sich nicht um das kümmern müßten, was ringsum passiert.
Aber wenn es so ist, daß es keine derartige Sozialversicherung gibt, dann müssen wir allerdings den Sicherheitspuffer in der Rentenversicherung ver-
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6982 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Bundesminister Dr. Blümstärken, dann kann es nicht — da folge ich den kritischen Einwänden — bei einer Rücklage in Höhe einer Monatsausgabe bleiben, da braucht man — um in dem Bild zu bleiben, das der Kollege Heyenn vorhin verwendet hat — Wasser unter dem Kiel, und zwar mehr Wasser als eine Monatsausgabe. Nur, das kann ich nicht von heute auf morgen, das müssen wir aufbauen; zaubern kann auch diese Regierung nicht. Aber es bleibt unser Ziel, einen größeren Sicherheitspuffer zu haben. Bis wir dort sind, steht der Bund als jederzeitiger Nothelfer zur Verfügung, und zwar nicht mit einer abstrakten Bundesgarantie — darauf würde ich mich nicht ausruhen —, sondern mit einer Form der konkreten Liquiditätssicherung. Das haben Sie doch nie zustande gebracht.
Wir stellen fest, daß im Notfall in jedem Augenblick die Bundesregierung mit einem zinslosen Betriebsmitteldarlehen zur Verfügung steht, einspringt, und zwar automatisch; da muß nicht der Bundestag erst große Beschlüsse fassen.Deshalb: Treiben Sie keine Politik mit der Angst der Rentner. Ich erkläre hier: Monat für Monat wird pünktlich die Rente gezahlt. Kein Rentner braucht Angst zu haben um seine Rente.
Was wir hier machen, eine Beitragsanhebung, gefällt uns auch nicht. Sie ist aber notwendig. Beitragsanhebung und Liquiditätssicherung auf gesetzlicher Grundlage, das ist ein Stützpfeiler für die Rentensicherheit.Meine Damen und Herren, eines habe ich gar nicht verstanden, ich habe nochmals darüber nachgedacht. Wie soll ich denn die Kritik der Opposition an der Rentenpolitik verstehen? Sie ist heute zum wiederholten Mal vorgetragen worden. Da gibt es zwei große Vorwürfe. Erstens, wir hätten zuviel gespart, und zweitens, wir hätten die Beiträge zu sehr erhöht; also, wir hätten zuviel gekürzt und zuviel Beitrag eingenommen. Ja wie wollten eigentlich Sie zu Geld kommen, wenn Sie die Rentenversicherung sanieren wollen? Außer Leistungseinschränkungen und Einnahmeverbesserungen müßten Sie mir einmal die dritte Quelle nennen, wie Sie an Geld kommen wollen. Hätten wir nicht gehandelt — was schmerzhaft war —, dann wäre die Rentenversicherung im August 1983 zahlungsunfähig geworden.
Sie haben die Rentenversicherung wohlbehalten mit einer Zehnmonatsrücklage übernommen. Daß wir uns jetzt mit einer Monatsrücklage herumschlagen müssen, ist doch ein Teil der Erblast, die Sie uns hinterlassen haben. Mit zehn Monatsausgaben als Rücklage in den Rentenkassen haben wir unsere liebe, gute Rentenversicherung in Ihre Hände übergeben.
— Das hält so lange,
bis wir die Wunden geheilt haben, die der Rentenversicherung geschlagen wurden.Meine Damen und Herren, wir haben Einnahmeverbesserungen und Leistungskürzungen in Höhe von 89 Milliarden DM durchführen müssen. Das sind die Rentenausgaben von fast einem Dreivierteljahr. Selbst wenn wir abziehen, was Sie attakkiert haben, nämlich Einnahmeverlust durch Senkung der Beiträge der Bundesanstalt, haben wir der Rentenversicherung immer noch 60 Milliarden DM mehr Geld verschafft durch Leistungskürzungen und Einnahmeverbesserungen.
— Lieber Herr Glombig, wenn Sie das beklagen: Wie hätten Sie der Rentenversicherung, wenn Sie nicht besonders gute Beziehungen zum lieben Gott oder zu Geldfälschern haben, wie hätten wir ihr denn Geld bringen können? Es geht doch nur auf diesen zwei Wegen.
Meine Damen und Herren, ich will diese Debatte nicht damit bestreiten, daß ich mich hier hinstelle und sage: Wir haben in der Rentenversicherung alle Aufgaben gelöst. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, es gibt nur „Problemehen". Da gab's früher einmal einen bedeutenden Bundeskanzler, der vor den Wahlen nur „Problemehen" sah, und nach der Wahl mußte dann die fällige Rentenanpassung verschoben werden. Nein, wir haben noch die Aufgabe einer großen Strukturreform; wir werden solide vorgehen. Um so mehr war es notwendig, die Reform der Hinterbliebenenrente, die wir in dieser Woche im Kabinett beschlossen haben, kostenneutral durchzuführen. Ihre Vorschläge würden die Rentenversicherung 10 bis 12 Milliarden DM mehr kosten. Woher wollen Sie die eigentlich nehmen?
Wir dagegen haben, wie gesagt, einen kostenneutralen Vorschlag vorgelegt. Meine Damen und Herren, es gibt zwar Probleme, aber es bleibt bei der Zusage: Die Rentner können sich auf uns verlassen.Ich will auch, um die Proportionen richtig darzustellen, darauf aufmerksam machen, daß wir derzeit einen Nachkriegsrekord hinsichtlich des Nettorentenniveaus haben. Das ist ja das, worauf es eigentlich ankommt: Rente, verglichen mit den Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. Denn die können j a auch nicht von den Steuern und den Beiträgen leben; die müssen sie ja abführen. Wie gesagt, wir haben gegenwärtig in dieser Hinsicht einen Nachkriegsrekord — mit Ausnahme des Jahres 1977. Als Helmut Schmidt seine letzte Regierungserklärung vorgelegt hat, hat er auf ein Nettorentenniveau von 71 % hingewiesen; er war sehr stolz darauf. Die Berechtigung zu diesem Stolz bestreite ich ihm ja gar nicht; aber ohne diesen Stolz weise ich heute darauf
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6983
Bundesminister Dr. Blümhin, daß wir nach 45 Beitragsjahren nicht ein Nettorentenniveau von 71 %, haben, sondern eines, das zwei Prozentpunkte höher ist.
Der Normalrentner lebt nicht in Armut. Ich denke, wir sollten vorsichtig damit sein, das Gespenst der Armut und des Elends an die Wand zu malen. Wir beleidigen sonst die Elenden in der Welt. Elend sieht nämlich anders aus als das, was es in unserem Sozialstaat gibt.
Ich sage ausdrücklich: Das, was unser Sozialstaat— das ist nicht der Staat einer Partei — an Leistungen erbracht hat, an denen alle mitgewirkt haben— Gewerkschaften, Arbeitgeber und auch alle Parteien —, kann sich durchaus sehen lassen.Meine Damen und Herren, der zweite große Schritt dieser Woche betrifft die Arbeitslosen. Trotz Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung können wir die Bezugszeit für Arbeitslosengeld für die älteren Arbeitnehmer verlängern. Meine Damen und Herren, als ich mein Amt angetreten habe, haben wir nicht über Überschüsse gestritten, sondern da hatten wir 13 Milliarden DM Defizit.
Das ist so viel, wie die ganze Kriegsopferversorgung kostet. Darüber geht heute offenbar jeder wie selbstverständlich hinweg. Wir mußten 13 Milliarden DM Defizit, 13 Milliarden DM Schulden wegschaffen. Jetzt können wir nach zwei Jahren erstens die Beiträge senken und zweitens die Bezugszeit für das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer verlängern.
Ich will — auch andere haben schon darauf hingewiesen — noch darauf hinweisen, was der innere Grund dafür ist. Meine Damen und Herren, es kann niemand als gerecht empfinden, daß ein älterer Arbeitnehmer — sagen wir, er hat 30 Jahre gearbeitet, stellen wir uns einen 50jährigen vor; wenn er mit 15 Jahren in die Lehre gegangen ist, dann hat er sogar länger als 30 Jahre gearbeitet —, der Monat für Monat seinen Beitrag gezahlt hat und dann zum ersten Mal arbeitslos wird, nur für die gleiche Zeit Arbeitslosengeld bekommt wie der, der nur drei Jahre gearbeitet hat.
Soll der 50jährige, der 30 Jahre Beitrag gezahlt hat, genauso lange Arbeitslosengeld bekommen wie der 25jährige, der möglicherweise nur drei Jahre Beitrag gezahlt hat? Meinem Gerechtigkeitsempfinden entspricht das nicht. Ich glaube, wir müssen die Länge der Bezugszeit, das, was jemand an Arbeitslosengeld erhält, auch in Beziehung zu dem Beitrag setzen, den er der Solidargemeinschaft geleistet hat.
Und da hat der ältere Arbeitnehmer eben länger Beitrag geleistet.
Ich denke auch — wir machen Sozialpolitik nicht aus der Ideologie heraus,
sondern mit dem Blick aufs Leben — an jene älteren Arbeitslosen, die sich von ihrem Lohn ein Häuschen abgespart, die möglicherweise auf den Urlaub verzichtet haben, jetzt zum ersten Mal arbeitslos sind und sich bei der Feststellung der Höhe der Arbeitslosenhilfe möglicherweise ihr Haus anrechnen lassen müssen.Ich bin dem Kollegen Cronenberg sehr dankbar dafür, daß er darauf hingewiesen hat, daß wir über Bedürftigkeitsprüfungen nachdenken müssen, daß wir den Sparwillen auch der Arbeitnehmer nicht dadurch untergraben dürfen, daß derjenige, der mit seinem Geld hausgehalten hat, am Schluß genauso schlecht oder noch schlechter dasteht als derjenige, der aus dem vollen gelebt hat. Das ist unsere Sozialpolitik. Wir schöpfen nicht aus der Ideologie, nicht aus den Lehrbüchern, sondern aus dem Leben und seinen Erfahrungen.
Es gibt mir auch zu denken, meine Damen und Herren, daß die Leistungsquote in der Arbeitslosenversicherung, also die Zahl derjenigen, die die originäre Versicherungsleistung erhalten, rapide abgesunken ist. Auch das war der Grund, daß wir die Zeit des Bezugs von Arbeitslosengeld verlängern, zumal gerade die älteren Arbeitnehmer die Hauptbetroffenen der Langzeitarbeitslosigkeit sind.Ich will jedoch über allen diesen Unterstützungsveränderungen nicht vergessen, auf eines hinzuweisen. Besser als jede Unterstützungsverbesserung ist eine Politik, die diese Unterstützung nicht nötig macht, weil Arbeit für alle da ist.
Über allen sozialpolitischen Verbesserungen wollen wir das nicht vergessen.Eine zweite Maßnahme soll und muß hier begründet werden. Wir wollen die Sperrzeit für die Selbstkündiger verlängern. Die Zeit, in der diejenigen, die aus eigener Entscheidung kündigen, ohne einen wichtigen Grund zu haben, kein Arbeitslosengeld bekommen, betrug bisher acht Wochen. Sie soll jetzt zwölf Wochen betragen. Hier appelliere ich wiederum an die Solidarität meiner Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitnehmerschaft. Wer einen Arbeitsplatz hat, der muß in einer Zeit, in der über zwei Millionen Arbeitnehmer arbeitslos sind, mit seinem Arbeitsplatz sorgfältig und verantwortlich umgehen. Er muß es sich dreimal überlegen, ob er kündigt und sich dann auf die Arbeitsplatzsuche macht, in dem Bewußtsein: Irgendwo wird mir die Arbeitsplatzsuche durch die Solidargemeinschaft finanziert. Ich halte Mobilität für notwendig. Aber bevor man kündigt, sollte man den neuen Arbeitsplatz haben. Man sollte nicht darauf vertrauen, daß
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6984 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Bundesminister Dr. Blümdie Sozialkassen die Arbeitsplatzsuche finanzieren. Die müssen ihr Geld für anderes ausgeben.
So begründe auch ich dies nicht als eine Sparmaßnahme, sondern als die notwendige Konsequenz aus Gründen der Solidarität, die in dieser Zeit gefordert ist.Meine Damen und Herren, ich begrüße die Initiative der Koalitionsfraktionen. Ich bitte den Ausschuß, im Interesse der Rentner, im Interesse der Arbeitslosen die Beratung in der gewohnten Kooperationsbereitschaft durchzuführen. Ich bedanke mich im voraus dafür.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Potthast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Blüm, ich muß Ihnen meine Achtung aussprechen, tatsächlich. Alle Achtung!, kann ich da nur sagen. Alle Achtung, wie Sie sich stets aufs neue bemühen, Hosen, die Sie selbst zerrissen haben, und zwar ganz bewußt, so zu flicken, daß zumindest Sie immer notdürftig bekleidet herumlaufen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversicherung versuchen Sie j a auch gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
Einerseits gilt es ein riesiges Loch in der Rentenversicherung zu stopfen — entsprechend wollen Sie den Beitrag zur Rentenversicherung um 0,2 Prozentpunkte erhöhen —, andererseits trauen Sie sich aber nicht, die Beitragszahler endlos zu strapazieren — also senken Sie die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um eben den prozentualen Anteil, um den die Rentenversicherungsbeiträge erhöht worden sind.
— Ich komme gleich zur Bewertung, Herr Cronenberg.Einerseits sehen Sie, daß die Langzeitarbeitslosigkeit gerade auch bei älteren Arbeitnehmern immer unerträglicher wird, und bieten genau dieser Gruppe, einer relativ winzigen Gruppe innerhalb der Arbeitslosen, einen Zuckerguß für Ihre bitteren Pillen an, verlängern also die Höchstdauer für den Bezug von Arbeitslosengeld um sechs Monate, andererseits darf diese Maßnahme den Bundeshaushalt nicht belasten. Flugs werden Einsparungen auf Kosten einer anderen Gruppe von Arbeitslosen gemacht, indem Sie nämlich die Sperrzeit bei der Arbeitslosenversicherung von acht auf zwölf Wochen verschärfen.Was ist der Hintergrund dieser Maßnahme,
— richtig! — und wie sind sie zu bewerten? Sie, Herr Blüm, haben mindestens ein Problem
— klar haben Sie noch mehr; das streitet niemand ab; bei der Politik können ja auch nur Probleme entstehen —, das so aussieht, daß sich nicht verheimlichen ließ, daß die Bundesanstalt für Arbeit einen Überschuß in Milliardenhöhe zu verzeichnen hat. Und das zu rechtfertigen, Herr Blüm, ist Ihr eigentliches Problem, das zu rechtfertigen vor dem Hintergrund der neuen Armut, einer neuen Armut, die Sie nicht zuletzt auch durch Ihre Haushaltsbegleitgesetze aus dem vorigen Jahr gnadenlos herbei geführt haben.
Herr Blüm, wenn Sie sich hierherstellen und behaupten, soziales Elend gebe es nicht, dann kann ich nur feststellen, daß Sie sich vom Alltag der Normalbürger bereits so weit entfernt haben, daß Sie soziales Elend nicht einmal mehr sehen. Denn mit Ihrem Ministergehalt können Sie auch gut Spargesetze beschließen, von denen Sie j a überhaupt nicht betroffen sind.
Milliardenüberschuß also angesichts, oder sollte ich nicht vielleicht sogar besser sagen: wegen der neuen Armut, die dadurch nämlich unter anderem entsteht, daß immer mehr Menschen arbeitslos werden, immer mehr Menschen langzeitarbeitslos werden und dann vom Arbeitslosengeld in die Arbeitslosenhilfe rutschen und last not least Sozialhilfeempfänger werden. Milliardenüberschuß also vor diesem Hintergrund einer neuen bzw. neu produzierten Armut, während mit Geldern, die Sie darüber hinaus den sozial Schwachen dieses Landes weggenommen haben, weiterhin Steuerentlastungsgesetze für Unternehmer finanziert werden.
Gerade ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden zu hoffnungslosen Sozialfällen; hoffnungslos deshalb, weil sie nicht erwarten können, mit 50 Jahren wieder einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden. Ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die in die Arbeitslosenhilfe abgedrängt werden, stehen vor dem Problem, ihr mühsam über 30 Jahre knallharter Knochenarbeit erworbenes Häuschen verkaufen zu müssen, einfach um sich ernähren zu können. Denn nur wer bedürftig ist, erhält Arbeitslosenhilfe; wer jedoch ein Eigenheim besitzt oder aber mindestens durchschnittlich verdienende enge Verwandte hat, bekommt nichts. Diesen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen geben Sie vor, damit zu helfen, daß Sie die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld von 12 auf 18 Monate verlängern, sofern der Betroffene in den letzten sieben Jahren sechs Jahre beitragspflichtig gearbeitet hat.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6985
Frau PotthastSo sehr ich diese kleine Erleichterung auch begrüße: Sie ist und bleibt nichts anderes als ein Trostpflästerchen, ein Tropfen auf den heißen Stein.
Sie verschieben das Problem nämlich ganz einfach um sechs Monate. Danach wird der 50jährige Arbeitslose nach wie vor mit dem Problem konfrontiert sein, in die Armut, ins gesellschaftliche Abseits fallen zu müssen. Denn ein 50jähriger — ich habe es vorhin schon erwähnt — hat, nachdem er sich in einem immer unmenschlicher werdenden Produktionsprozeß verschlissen hat, so gut wie keine Chance mehr, einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden.Um die Ursachen der Armut zu bekämpfen, bedarf es also grundsätzlicherer Maßnahmen, Maßnahmen, die in der Wirtschaftspolitik sofort eingeleitet werden müssen, wenn wir nicht wollen — aber wahrscheinlich stehen wir da ja auf einem anderen Standpunkt —, daß die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Eine völlige Umstrukturierung des Erwerbstätigkeitssektors ist deshalb dringend geboten. Denn solange der Erwerbstätigkeitssektor die einzige Möglichkeit ist, gesellschaftlichen Reichtum einigermaßen umzuverteilen, muß dieser Erwerbstätigkeitssektor für alle zugänglich sein. Und wenn ich „alle" sage, dann meine ich nicht nur die derzeit registrierten 2,3 Millionen Arbeitslosen, sondern dann meine ich auch die sogenannte stille Reserve, also all die Leute, die sich überhaupt erst gar nicht mehr arbeitslos melden, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, auf dem Arbeitsmarkt noch einen Arbeitsplatz zu finden; darüber hinaus meine ich all jene, die aus dem Erwerbsleben auf Grund einer, wie ich schon häufig betont habe, Frauen benachteiligenden Familienideologie ausgegrenzt worden sind und weiterhin ausgegrenzt werden.
Soziales Elend wird nicht dadurch behoben, daß es gedehnt oder verwaltet wird. Radikale Arbeitszeitverkürzung ist hier also vonnöten, um alle Menschen in die Lage zu versetzen, am Erwerbsleben teilzunehmen und sich damit die eigene Existenz finanziell abzusichern.Die Verlängerung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld von 12 auf 18 Monate für eine winzige Gruppe von Arbeitslosen ist, wie gesagt, nichts anderes als der Zuckerguß über der bitteren Pille des sozialen Elends und wird darüber hinaus noch mit der Verschärfung der Sperrzeiten von acht auf zwölf Wochen bei der Arbeitslosenversicherung erkauft, und zwar für all diejenigen, die, wie es so schön heißt, die Arbeitslosigkeit schuldhaft selbst herbeigeführt haben. Schuldhaftes Verhalten liegt aber — damit sage ich Ihnen wahrscheinlich auch nichts Neues — bereits bei einer eigenen Kündigung vor, wenn nicht ein zwingender Grund genannt werden kann. Zwingende Gründe, Herr Cronenberg, können aber häufig nicht bewiesen werden.Damit sind wir bei dem eigentlichen Problem. Wir wissen, daß beispielsweise Streitigkeiten unterBelegschaftsmitgliedern eines Betriebes das Arbeiten dort zur Hölle machen können. Schikanen — davon können unsere ausländischen Kolleginnen und Kollegen ein Lied singen — laufen meist derartig subtil, derartig fein ab, daß sie eben nicht bewiesen werden können. Sie verurteilen mit diesen Sperrfristen Leute, die unter einem unerträglichen Betriebsklima leiden, dazu, sich weiterhin terrorisieren zu lassen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, durch eine eigene Kündigung drei Monate lang keinen Pfennig zum Lebensunterhalt zur Verfügung zu haben.
Die Verlängerung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld kostet Geld. Die Sperrfristenverlängerung hilft Geld einsparen. So einfach ist das. Im Klartext heißt das: Hier wird die eine Gruppe von Arbeitslosen gegen eine andere Gruppe von Arbeitslosen ausgespielt.Dieser Gesetzentwurf enthält aber noch mehr. Da ist die Anhebung der Beiträge für die Rentenversicherung um 0,2 % bei gleichzeitiger Senkung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung. Dahinter verbirgt sich nicht mehr und nicht weniger, als daß das Riesenloch in der Rentenversicherung einmal kurz notdürftig auf Kosten der Arbeitslosenversicherung gestopft wird. Die Bundesanstalt für Arbeit hat es ja. Im kommenden Jahr — die Spatzen pfeifen es inzwischen von den Dächern — fehlen der Rentenversicherung voraussichtlich 3 Milliarden DM. Anstatt die Zahlungsschwierigkeiten der Rentenversicherung grundsätzlich zu beheben, erweisen Sie sich hier — das ist vorhin auch schon mehrfach angesprochen worden — als großer Schieber, Herr Blüm. Ich habe mich immer gefragt, was für ein Gefühl man haben muß, wenn man Milliardenbeträge einmal kurz zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung hin- und herschiebt. Vielleicht können Sie mir das nach diesen großen Transaktionsübungen einmal sagen.Im Gegensatz zu dem Hin- und Herschieben von Milliardenbeträgen zwischen der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung — einmal 0,2 % hoch, einmal 0,2 % herunter —, sind die Alternativen der GRÜNEN eine ehrliche Angelegenheit: Erstens. Die Bundesanstalt für Arbeit soll die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose sofort wieder bruttolohnbezogen an die Rentenversicherung auszahlen. Das zu erwartende Defizit im nächsten Jahr würde gar nicht erst entstehen können, hätten Sie nicht willkürlich die Beitragsbemessungsgrenze für die Arbeitslosen gesenkt. Wenn Sie diesen offensichtlichen Fehler rückgängig machen würden, könnte die Rentenversicherung mit einem Schlag über Mehreinnahmen von 5 Milliarden DM verfügen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, daß die Rentenversicherung für die Lasten einer durch verfehlte wirtschaftspolitische Maßnahmen verschuldeten Massenerwerbslosigkeit aufkommen soll.
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6986 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Frau PotthastZum zweiten fordern die GRÜNEN auch in diesem Jahr — wir werden in dieser Hinsicht sehr penetrant sein —
die Erhöhung des Bundeszuschusses an die Rentenversicherung um 19 Milliarden DM. Der Bundeszuschuß für die aus den Rentenkassen finanzierten Fremdleistungen, d. h. für Leistungen, die nicht Leistungen der Alterssicherung sind, ist seit 1957 systematisch abgesenkt worden. Das heißt, seit 1957 sind die Rentner und Rentnerinnen um mehr als 200 Milliarden DM betrogen worden. Dieser Betrug an der Solidargemeinschaft muß ein Ende finden.
Das heute vorgelegte Gesetz ist. für uns nichts als ein Mosaiksteinchen in einer Politik, die sich als unsozial beschreiben lassen muß.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mir soeben sagen lassen, daß von seiten der Koalition keine Wortmeldungen mehr vorlägen. Ich erwähne das nicht deswegen, weil es mich besonders wunderte — im Gegenteil, ich bin nicht überrascht. Ich möchte aber besonders darauf hinweisen, daß diese Koalition natürlich an der Debatte zu diesem Gesetzentwurf kein Interesse hat,
im Gegensatz zu gleichartigen Debatten in der Zeit, wo die CDU/CSU in der Opposition war. Übrigens gilt das auch für Sie, Herr Mischnick — damit das mal ganz klar ist, auch für die FDP.
Denn an die Sprüche der FDP während der Zeit der sozialliberalen Koalition kann ich mich sehr gut erinnern. Ich würde mich da wirklich nicht hinsetzen und so tun, als wäre ich für die Solidität der Rentenfinanzen nun besonders zuständig.
So haben Sie nämlich in der vergangenen Zeit getan. Dies ärgert mich sehr; denn ich kann mindestens so gut beurteilen wie Sie, was sich da abgespielt hat. — Nun ist das auch so bei diesem Arbeitsminister.Daß mir die Wende, die mit Hilfe der FDP zustande gekommen ist, nicht gefallen hat, wird mir wohl jeder abnehmen.
— Das können doch hoffentlich auch Sie verstehen.Ich habe aber auch — ich sage das mal ganz offen — eine Hoffnung in diesen Bundesarbeitsminister gesetzt.
Ich habe ihm seine Sprüche während der Zeit der sozialliberalen Koalition zum Teil geglaubt.
Heute weiß ich, daß er nur Sprücheklopfer geblieben ist.
Dies ist ein hartes Urteil, aber trotzdem will ich Ihnen sagen: Es ist so. Kein Vorschlag, der wirklich solide ist. Auf diese Spruchweisheiten von Herrn Blüm will ich nicht mehr eingehen. Es lohnt sich wirklich nicht.Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die deutsche Presse, deren Lieblingskind Herr Blüm ja bis jetzt gewesen ist, auch hier eine Trendwende, glaube ich, vollzieht — wenn ich mir die Pressekommentare und die Pressemeldungen der letzten Tage ansehe. Ich finde, dies sollten Sie aufmerksam zur Kenntnis nehmen,
damit Sie nicht glauben, das, was hier von seiten der Sozialdemokraten gesagt wird, wäre alles nur billige Propaganda, um gegen Herrn Blüm oder gegen Sie als Koalition vorzugehen.Gegen Sie als Koalition mit Argumenten vorzugehen, ist doch sehr einfach, wie diese Debatte gezeigt hat. Aber Herrn Blüm hat man geglaubt und glaubt man zum Teil noch. Ich finde, hier gilt es nun wirklich, ihm diesen Nebel, den er selbst wirft, vom Angesicht wegzublasen, damit man ganz klar in dieses Gesicht hineingucken kann.
Ich beginne mit der „Süddeutschen Zeitung". Überschrift: „Flickschusterei im Rentensystem". Ich zitiere:In der Bonner Rentenpolitik haben pragmatische Winkelzüge wieder einmal Vorrang vor allen beschworenen Prinzipien ... Für sich genommen wäre die Koalitionsentscheidung über die — für Arbeitnehmer und Arbeitgeber belastungsneutrale — Verschiebung von zwei Beitragspunktzehnteln aus Nürnberg an die Rentenversicherung durchaus in Ordnung. Aber die Einnahmeverbesserung um 1,4 Milliarden Mark reicht zum einen nicht aus, um die 1985 drohende doppelt so hohe Finanzlücke zu stopfen. Zum anderen bedeutet dies die Fortsetzung des Herumjonglierens mit Beitragsgeldern, für das das Wort vom „Verschiebebahnhof" gilt.Meine Damen und Herren, das war eine Stimme.Nun kommt eine andere: „NRZ". Überschrift: „Blüm bekommt schlechte Noten". Diese Zeitung
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6987
Glombigsetzt sich mit dem Presseseminar des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger auseinander, das gestern, d. h. nach der Entscheidung des Kabinetts in der Sache der Verschiebung der Beiträge von einem Träger der sozialen Sicherung zum anderen, stattgefunden hat. Da heißt es:Bundesarbeitsminister Norbert Blüm hat seine Schularbeiten gemacht.Ich meine: schlechte. Aber dazu kommen die dann auch.Das Kabinett hat sein Gesetzespaket verabschiedet. Darauf ist er stolz.Wir haben es j a gehört.Aber von den Rentenversicherungen bekommt er dafür keine guten Noten. Deren Urteil lautet: drei bis vier.
Nun heißt es zur Sache: „Zunächst einmal das Baby-Jahr" — weil j a der Herr Blüm stolz darauf ist, daß er zum Baby-Jahr einen Beschluß des Kabinetts hat herbeiführen lassen. Dieses Baby-Jahr ist eine zentrale Frage der Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung, und zwar über das Jahr 1989 hinaus. Über das Jahr 1989 hinaus läßt man uns im unklaren, wie es weitergeht. Weil man uns im unklaren läßt — ich komme noch darauf —, wird diese Operation wieder zu Lasten der Rentner gehen.
Ich werde versuchen, Ihnen das klarzumachen. Ich finde, die Rentner haben das nicht verdient. Alle diejenigen, die selbst bereit sind, Ihren Winkelzügen zu folgen, haben es nicht verdient, daß sie von Ihnen hinters Licht geführt werden.
— Ich sage dies. Ich finde, jetzt muß auch zur Sache geredet werden.
Es heißt hier:Das Mißtrauen, daß diese neue Milliardenlast am Ende doch nicht vom Bundeshaushalt , sondern von der Rentenversicherung getragen werden muß, ist groß.Wenn die Rentenversicherung diese Milliardenlast trägt, tragen sie die Rentner. Wer sonst? Auf Grund der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung in unserem Lande haben doch bisher nur die Rentner diese Lasten getragen.
— Gut.Weiter heißt es: Hinter der vorgehaltenen Hand ist zu hören, daß Blüm auch die Begrenzung auf alle Frauen ab dem Jahrgang 1921 nicht durchhält.Wir wollen es hoffen.Es wird hier eine Stimme zitiert:„Die Trümmer-Frauen", so heißt es, „werden den Parteien den Marsch blasen."Ich kann nur sagen: Den Sozialdemokraten braucht der Marsch nicht geblasen zu werden.
Wir sind hier auf dem richtigen Dampfer. Aber dieser Koalition muß noch der Marsch geblasen werden, und ich hoffe, mit großem Erfolg.Es heißt dann weiter:Auch die Kosten, die Bonn für das Baby-Jahr errechnet hat, halten die Rentenversicherungen für viel zu niedrig. Nach dem Jahr 2000, so sagen sie,— die Rentenversicherungsträger, die uns mit ihren Analysen j a immer vorgehalten wurden —werden es acht bis neun Milliarden Mark im Jahr sein.Also im Jahr 2000 acht bis neun Milliarden Mark! Geschockt sind die Rentenfachleute— so heißt es weiter —darüber, daß die Bundesregierung 1985 zum ersten Mal einen „Betriebsmittelkredit" von fünf Milliarden Mark zur Verfügung stellen will, damit die Renten bei Ebbe in der Kasse im Herbst auch ausgezahlt werden können.
Hier ist ein Punkt, der gar nicht in dem Gesetzentwurf steht, den wir beraten, der aber mit zu dieser Finanzoperation gehört. Er findet seinen Niederschlag im Haushaltsgesetz 1985, ist aber auch von Ihnen nicht behandelt worden, jedenfalls nicht in der Weise, wie es sich eigentlich gehörte, Herr Cronenberg.In der NRZ heißt es dann weiter: „Wären seine Vorgänger— nämlich die sozialdemokratischen Arbeitsminister —noch im Amt und würden das machen", — das, was dieser Arbeitsminister macht —so macht ein Teilnehmer am Rande der Veranstaltung seinem Herzen Luft, „und Blüm wäre in der Opposition, dann würde er einen Veitstanz veranstalten.
Heiner Geißler würden sicher noch schlimmere Sachen einfallen als das Wort vom Rentenbetrug."
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6988 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
GlombigUnd da war man j a nun wirklich nicht zimperlich, mit dem Wort vom Rentenbetrug.
Ich frage Sie, worauf dies, was Sie hier veranstalten, denn letzten Endes hinausgeht. Diese Frage wird doch wohl berechtigt sein.
— Ach Gott, „Problemchen" und Rentenbetrug, das ist ein großer Unterschied. Kommen Sie mir nicht mit solchen Sachen! Das sind Albernheiten.
Die Rentenversicherungen— so heißt es weiter —wollen keine Beitragserhöhungen, sondern die fünf Milliarden an Beiträgen für die Arbeitslosen wiederhaben,
die von den Sparkommissaren vor zwei Jahren gestrichen worden sind.Ich finde das deswegen sehr gut, weil dieser Kommentar im Grunde genommen das wiedergibt, was Sache ist.Zum Schluß heißt es:Auch mit dem Blüm-Vorschlag zur Gleichstellung von Mann und Frau im Rentenrecht ist der Verband der Rentenversicherungsträger nicht zufrieden. Sie stellen sich vor, daß Blüms Gesetzentwurf keineswegs das letzte Wort ist. Man müsse einen Kompromiß zwischen dem alten Teilhabemodell und Blüms Anrechnungsmodell finden, sagte Vorstandsvorsitzender Dr. Doetsch, denn für solch eine wichtige Entscheidung sollte man eine möglichst breite Mehrheit auch im Parlament haben.Ich meine auch, daß bei einer so wichtigen Entscheidung eine breitere Mehrheit durch das Parlament hergestellt werden muß.
Hier wünschte ich mir auch, Herr Jagoda, daß es nicht mehr nur um Sprüche Ihres Arbeitsministers und um Sprüche Ihrer Fraktion geht, Sie seien um einen solchen Konsens bemüht. Ich sage Ihnen: Eine solche Bemühung hat ernstlich nicht stattgefunden. Die einzige Bemühung ging dahin, uns klarzumachen: Hier habt ihr das Anrechnungsmodell,
schluckt es, und wenn ihr es geschluckt habt, haben wir den Konsens hergestellt! Es hat aber kein ernsthaftes Gespräch über Anrechnung oder über Für und Wider des Anrechnungsmodells auf der einenSeite und des Teilhabemodells auf der anderen Seite gegeben.
Selbst die FDP hat hier klein beigegeben, obwohl sie eigentlich für das Teilhabemodell sein müßte und sich auch immer dafür ausgesprochen hat. Ich denke nur an Schmidt , der ja Vertreter der FDP in der Kommission gewesen ist. Man kann all dies über Bord werfen, wenn das die Opportunität scheinbar erfordert.Wenn wir von dieser Regierung und den Koalitionsparteien nicht schon bis über die Ohren mit Affären eingedeckt wären, dann müßte man allein schon die Umstände, unter denen das heute zu beratende Gesetz vorbereitet und eingebracht worden ist, als einen politischen Skandal bezeichnen.
Es ist erst 14 Tage her, da konnte man in der Sonderausgabe des „Bulletin" der Bundesregierung vom 2. Oktober 1984 folgendes lesen:Die Renten sind wieder sicher.— Nach dem Motto: Sicher ist sicher ist sicherer —Die gesetzliche Rentenversicherung wurde nicht nur aktuell aus der Gefahrenzone gebracht; auch langfristig wurden die Weichen für eine Stabilisierung gestellt. Unstimmigkeiten im Rentenrecht wurden beseitigt und dieses strukturell angepaßt und verbessert.Erreicht werden konnten diese Ziele mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983, durch das Schritte zur Anpassung der Rentenfinanzen an das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen eingeleitet wurden, sowie mit den Neuregelungen, die Anfang dieses Jahres in Kraft getreten sind.Meine Damen und Herren, eine dreistere Unwahrheit hat man selten in offiziellen Verlautbarungen einer Regierung finden können.
Denn es ist klar: Schon bevor dieser Text geschrieben und gedruckt wurde, hat man im Arbeitsministerium und bei den Sozialpolitikern der Koalitionsfraktionen die Sanierungsmaßnahmen vorbereitet, die uns jetzt in Form eines eilig eingebrachten Gesetzentwurfes vorliegen. In voller Kenntnis, daß die Rentenversicherung vor einer unmittelbar drohenden Zahlungsunfähigkeit steht, hat die Bundesregierung das Gegenteil behauptet.Wir sehen es außerdem als eine Brüskierung des Parlaments an — mal ganz abgesehen davon, daß ich das auch persönlich als Brüskierung empfinde, unter welchen Druck man auch den Ausschußvorsitzenden und den ganzen Ausschuß setzen kann —,
daß die Bundesregierung ein seit Monaten erkennbares und erkanntes Problem so lange auf die langeBank schiebt, bis sie zum Schluß gezwungen ist,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6989
Glombigihre unumgängliche Gesetzesinitiative als Fraktionsantrag zu verpacken und damit auf das ordnungsgemäße Gesetzesverfahren zu verzichten und im Eilverfahren durch das Gesetzgebungsverfahren zu jagen. Es gibt keinen vergleichbaren Vorgang
unter so spektakulären Umständen.
Sagen Sie nicht, dies habe die sozialliberale Koalition auch getan! Nennen Sie mir einen Vorgang in der Zeit der sozialliberalen Koalition, wo ein solches Gesetzgebungsverfahren so behandelt worden ist, obwohl während der Sommerpause über dieses Thema gesprochen worden ist. Auf Grund der Leistungskürzungen bei der Bundesanstalt wären bis zum Ende des Jahres Milliarden an sogenannten Überschüssen vorhanden.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat gesagt, dies müsse man bis zum Ende des Jahres abwarten, dies habe noch viel Zeit. So macht er es ja ständig mit seinen Gesetzgebungsvorhaben!Er kommt in seinem Kabinett damit aber nicht durch und braucht lange Monate, um seine Freunde vom Finanzressort und vom Wirtschaftsressort davon zu überzeugen, daß das, was er gerne machen will, richtig ist. Und dann kommt so ein Ding bei uns auf den Tisch, und es wird verlangt, daß wir in kürzester Zeit, möglichst innerhalb einer Woche, hier die Einbringung, die Beratung, die Sachverständigenanhörung und auch noch die zweite und die dritte Lesung durchführen. Bei der Arbeitslage dieses Parlaments können Sie sich ausrechnen, was das, was Sie von uns verlangen, bedeutet. Wir werden ja nachher noch eine Sondersitzung haben, in der wir auf besonderen Wunsch Ihrer Fraktion einen Beschluß herbeiführen.Ich sehe rot, ich sehe das Ende.
Ich sehe das Ende, aber obwohl ich das Ende sehe, gestatten Sie mir noch einen, zwei Sätze.
— Ach, zur Sache habe ich ja wohl gesprochen. Kommen Sie mir doch nicht mit solchen Dingen!Ich will sagen, daß Sie, Herr Arbeitsminister, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Scheitern Ihrer bisherigen Rentenpolitik offiziell dokumentiert haben. Aber die Versuche, den Gewerkschaften, insbesondere ihrer eigenen Gewerkschaft, die Schuld anzulasten, wie Sie es hier auf diese unappetitliche Weise heute erneut gemacht haben, sind absurd. Sie sind auch von der Sache her absurd, und sie stehen zudem im Widerspruch zu der offiziellen Ideologie der Bundesregierung und der früheren Opposition, nach der niedrige Lohnsteigerungen doch angeblich gut für die Beschäftigung und damit auch für das Steueraufkommen und die Beitragseinnahmen der Sozialversicherung sein sollen.
Diesen Widerspruch sollen Sie erst einmal bei sich, in Ihrer Regierung aufklären, und Sie sollten sich bei solchen Äußerungen — auch was die Sache angeht — etwas zurückhalten.
— Ich werde jetzt die Frau Präsidentin nicht länger ärgern. Ich gehe freiwillig.Schönen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Meine Damen und Herren, es kann dem Dialog ja nur dienen, wenn hier einige Klarstellungen zu dem Thema vorgenommen werden, das Herr Glombig jetzt in die Debatte eingeführt hat, das allerdings nicht Gegenstand des Gesetzentwurfes ist, nämlich zur Reform der Hinterbliebenenversorgung. Dazu in aller Kürze nur folgende Feststellungen:
Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 ein Urteil zur Gleichberechtigung von Mann und Frau im Rentenrecht gesprochen. 1982, als wir die Regierung übernahmen, fanden wir Pläne, Papiere und Probleme vor, aber keinen einzigen Paragraphen.
Wir haben in zwei Jahren einen Gesetzentwurf vorgelegt!
Das ist der Unterschied. Erst sieben Jahre Diskussion, sieben Jahre Papier, sieben Jahre Absichten, aber keinen Paragraphen!
Den legen wir vor.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Bundesarbeitsminister, sind Sie bereit, im Arbeitsministerium noch einmal in den Akten wälzen zu lassen? Denn ich habe einen paragraphierten Gesetzentwurf hinterlassen.
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6990 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Verehrte Frau Kollegin Fuchs, in welcher Schublade, weiß ich nicht; die Schublade des Kabinetts hat dieser Gesetzentwurf jedenfalls nie erreicht, und erst ab da beginnen Gesetze in der Öffentlichkeit relevant zu werden.
Wenn wir schon über Erziehungszeiten sprechen, muß man, so finde ich, auf das Baby-Jahr Bezug nehmen, das Sie 1972 vorgeschlagen haben. Da will ich Ihnen den Unterschied nennen: Er ist wie der Unterschied zwischen einem Fahrrad, dem alle Reifen fehlen, und einem anständigen Automobil.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrem Baby-Jahr und unseren Erziehungszeiten!
Erstens war Ihr Baby-Jahr nur für die berufstätigen Frauen gedacht. Ich wende mich an alle Frauen mit der Frage, ob sie ein solch diskriminierendes Gesetz als ein Reformgesetz betrachten würden. Es war ein Gesetz nur für berufstätige Frauen, und zwar nur für diejenigen, die einen Anspruch auf Rente hatten. Um in die Altersrente zu kommen, mußte man damals 15 Jahre Beitrag gezahlt haben. Also ein Baby-Jahr zum einen nur für berufstätige Frauen und zum zweiten noch nicht nicht einmal für alle berufstätigen, sondern nur für die, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, also nur für einen Teil der Gruppe der Frauen und dann nur für einen Teil dieses Teils! Weiter verkleinern kann man den Kreis ja nicht.
Zweitens war das Baby-Jahr je nach Rentenhöhe unterschiedlich. Es betrug für die einen 1,20 DM im Monat und für die anderen 23 DM. Für uns ist Kind Kind, bei uns bekommt jede Mutter auf der Grundlage von 75% Durchschnittsverdienst 25 DM.
1,20 DM haben Sie als Baby-Jahr angeboten! Da braucht einer ein Vergrößerungsglas, da ist das Wort größer als die ganze Geldleistung.
Das Porto wäre größer gewesen als die ganze Rentenleistung. Da kommen Sie heute her und machen mir Vorwürfe über die Anrechnung von Erziehungszeiten, die wir jetzt einführen.
Drittens, meine Damen und Herren — und jetzt hören Sie und staunen —: Herr Glombig hat sich erregt, daß nicht klar sei, wer es 1989 bezahlt. Ich stelle fest, im Gesetzentwurf steht drin: Dies wird durch Erhöhung des Bundeszuschusses bezahlt und der Rentenversicherung erstattet. Bitte, keine Legenden!
Ich nenne das auch deshalb, weil die SPD in ihrem Regierungsentwurf 1972 dies von den Beitragszahlern bezahlen lassen wollte. Herr Glombig, warum erzählen Sie nicht die ganze Geschichte? Das hätte die Rentenversicherung bis 1986 18 Milliarden DM gekostet. Woher nehmen Sie eigentlich so viel — jetzt will ich ein ganz vorsichtiges Wort suchen — Mut, sich hier hinzustellen und etwas zu attackieren, was in unserem Gesetzentwurf nicht vorhanden ist, aber in Ihrem Gesetzentwurf enthalten war? Betreiben Sie Selbstanklage, oder haben Sie die Adresse verwechselt? Sie schießen ein Selbsttor.
Nächster Punkt. In der Tat, bei unserem Erziehungsjahr geht es auch nur um die Zukunft. Diesen Nachteil — und den mache ich Ihnen gar nicht zum Vorwurf — hatte allerdings auch das 1972 von der SPD vorgeschlagene Baby-Jahr. Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, weil wir ein hundertjähriges Unrecht gegenüber den Müttern nicht 100 Jahre danach wettmachen können. Dazu fehlt uns die Finanzkraft. Wer jetzt Gleichbehandlung über alle schreibt, muß die Gleichbehandlung zum Nulltarif fortsetzen, der muß das Unrecht fortsetzen. Das wollen wir nicht. Die Sozialpolitik, die nach dem Motto „alles oder nichts" arbeitet, landet bei nichts. Wir machen das Schritt für Schritt. Deshalb werden alle ab Jahrgang 1921, die in Rente gehen, ein Erziehungsjahr bekommen.
Jetzt appelliere ich auch die Großmütter. In der Tat fehlt uns das Geld, um 100 Jahre Unrecht wettzumachen. Aber ist es für sie nicht — ich benutze das Wort — ein starker Trost, daß ihren Kindern und Enkeln gegenüber dieses Unrecht nicht fortgesetzt wird, daß die CDU damit Schluß macht? Das ist eine Jahrhundertleistung. Solange es Sozialversicherung gab, gab es das nie. Ab jetzt wird, wenn das Gesetz hier die Zustimmung des Hohen Hauses findet, endlich Erziehung im Rentenrecht berücksichtigt, wird endlich die Erziehungsarbeit auch für die Rentenversicherung gewertet. Und ich denke, die Mütter müssen gar nicht danke schön sagen; denn sie haben mit der Erziehung von Kindern überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß übermorgen noch Renten finanziert werden.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Herr Bundesarbeitsminister, habe ich eben eigentlich richtig gehört, daß Sie bezüglich der Mütter, die unter wesentlich schwierigeren sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen die Last der Kindererziehung getragen haben, auf Berücksichtigung verzichten wollen und an diese Frauen appellieren, damit ihre Kinder Zeiten der Kindererziehung in ihren Renten gutgeschrieben bekommen, obwohl diese Renten im Verhältnis zu den Renten dieser Großmütter bedeutend niedriger sind als die Renten dieser Mütter? Ist dies Ihr Ernst?
Das ist mir so ernst, wie es Ihnen 1972 mit Ihrem Gesetzentwurf war, der auch nur die Zukunft betroffen hat.
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei! Was haben die Rentner und die älteren und jungen Mütter davon, daß die SPD ständig darüber diskutiert hat, aber nie einen Gesetzentwurf vorgelegt hat'? Bei Ihnen haben es weder die Jüngeren noch die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6991
Bundesarbeitsminister Dr. BlümÄlteren bekommen. Es fällt mir schwer — ich gestehe es —, es ab Jahrgang 1921 für die zu machen, die mit 65 in Rente gehen.Ich will darauf hinweisen, daß es noch eine Alternative gab, nämlich erst für die Kinder, die jetzt geboren werden. Das wäre allerdings eine Erziehungszeit gewesen, die in der Rente erst in 30 Jahren aufgetreten wäre. Das haben wir nicht gemacht. Aber mit den vorhandenen Mitteln ist das das Maximum, das erreichbar ist. Machen wir das jetzt und setzen wir das Unrecht nicht fort. Dies wollte ich zur Klarstellung sagen.
Das Wort hat der Abgeordnete Weinhofer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der „Süddeutschen Zeitung" dieser Woche war ein Lob meines Kollegen Seehofer auf dem Parteitag der CSU zu lesen, der den Bundesarbeitsminister als „Meister des Verkaufs" bezeichnet hat. Wahrlich, Herr Arbeitsminister, Sie sind ein Meister des Verkaufs.
Sie sind auch in Ihrem Beitrag heute wieder Ihren Grundsätzen treu geblieben. Sie handeln immer nach dem Motto „jedem etwas" oder nach dem ersten jesuitischen Agitationsgrundsatz: „Komme mit dem, was den anderen berührt, und gehe heim mit dem, was dich berührt". Auf diese Weise macht der Bundesarbeitsminister Politik:
Er sucht immer den Beifall einer Gruppe, um die andere auszuspielen.
Die Beispiele dafür sind in den zwei Jahren dieser Rechtsregierung mittlerweile Legion. Ich erwähne in diesem Zusammenhang das Beschäftigungsförderungsgesetz. Es heißt, daß man Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung durchführen muß. Aber im Gegensatz dazu bauen Sie Arbeitsschutzrechte ab.
Sie höhlen den Kündigungsschutz aus.
— Ich komme sofort dazu. Nehmen wir das Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit. Da heißt es in der Tonart des Bundesarbeitsministers: Wir müssen ausbildungshemmende Vorschriften abbauen. In Wirklichkeit bauen Sie Jugendarbeitsschutzrechte ab.Ich erwähne ferner das Schwerbehindertengesetz. In der Broschüre des Ministeriums ist von mehr Beschäftigungschancen die Rede. Sie wissen, Herr Minister, daß nach den Berechnungen des VdK und des Reichsbunds durch die Herausnahme der Ausbildungsplätze aus der Berechnungsgrundlage für die Pflichtplätze 60 000 bis 70 000 Schwerbehinderte arbeitslos werden.Lassen Sie mich jetzt konkret zu dem kommen, was Sie gesagt haben. Es ist ganz interessant, wenn man in den Archiven nachschaut und sich Ihre Propaganda ansieht, die Sie anläßlich der Bundestagswahl 1976 herausgegeben haben. Da ist z. B. die Rede davon, SPD und FDP — Ihr jetziger Koalitionspartner — seien zwei, die die Rente gefährdeten. Wenn Sie redlich argumentieren, müssen Sie zugeben, daß die Renten in der Zeit der sozialliberalen Koalition nie gefährdet waren.
Jetzt aber haben Sie den Punkt erreicht, da die Schwankungsreserve weniger als eine Monatsausgabe ausmacht.
Wenn Sie, Herr Bundesarbeitsminister, sich hier hinstellen und meinen, die Sozialdemokraten hätten kein Babyjahr für alle Hausfrauen gefordert, dann ist dies schlicht eine falsche Aussage. Nach dem damaligen Regierungsentwurf sollten alle versicherten Frauen zur Abgeltung eines zusätzlichen Versicherungsjahres einen Zuschlag zu ihrer Rente erhalten. Aber bei den Ausschußberatungen im Deutschen Bundestag wurde dies dahin gehend geändert, daß bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre ein zusätzliches Versicherungsjahr als Babyjahr angerechnet werden sollte. Diese Regelung sollte für alle versicherten Frauen gelten.
Da mit dem Rentenreformgesetz allen Hausfrauen der Beitritt zur gesetzlichen Rentenversicherung auf freiwilliger Grundlage eröffnet wurde, wären auch Hausfrauen auf freiwilliger Basis auf Grund der freiwilligen Versicherung in den Genuß dieses Babyjahrs gekommen.
Ich möchte mit Nachdruck feststellen: Zwischen der pflichtversicherten und der freiwillig versicherten Hausfrau machte der damalige Regierungsentwurf beim Babyjahr keinen Unterschied.
Lassen Sie mich ganz kurz auf folgenden Aspekt dieses Gesetzes zurückkommen. Jeder, der Zeitungen liest, weiß, daß Ihnen der Bundesfinanzminister Stoltenberg die Finanzmittel zur Finanzierung des Babyjahrs verweigert hat.Welchen Trick wenden Sie an? Einerseits erweitern Sie die Sperrzeiten, mit der finanzpolitischen Konsequenz, daß die Bundesanstalt für Arbeit Mehreinnahmen in einem Umfang von 250 Millionen DM hat. Andererseits ist als positives Element, das sicherlich auch von uns begrüßt wird, festzustellen — es ist j a gerade Ihr Dreh, daß Sie immer auch ein positives Element dabei haben —, daß das Arbeitslosengeld statt 12 jetzt 18 Monate gezahlt wird. Darauf hat die Kollegin Potthast schon hingewiesen. Dadurch erreichen Sie eine Entlastung der Bundesanstalt für Arbeit. Wenn man das quantifiziert, kommt man — mit steigender Tendenz — auf 800 bis 920 Millionen DM. Die genauen Zahlen habe ich hier, aber ich will es mir ersparen, sie jetzt vor-
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6992 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984
Weinhoferzulesen. Ich will das nur über den Daumen gepeilt sagen.Auf diese Weise haben Sie eine Entlastung des Bundeshaushaltes, weil Sie den zweiten Verschiebebahnhof Baby-Jahr aufmachen. Sie finanzieren auf diese Weise, d. h. eigentlich mit den Beiträgen der Bundesanstalt für Arbeit, Ihr Baby-Jahr.
Das bedeutet für uns Sozialdemokraten eine unsaubere Finanzierung.
Ich bin mir darüber klar, daß Sie es als politischer Billardspieler auch in Zukunft immer verstehen werden, nur dort zu pumpen, wo das Loch des großen Geldes ist.
— So ist es.
Ich will auch noch einen anderen Aspekt ansprechen, der sich auf Grund des beratenen Gesetzes ergibt. Das ist die Auswirkung auf die Kommunen. In der „Süddeutschen Zeitung" war zu lesen, daß sich die kommunalen Spizenverbände dagegen gewehrt hätten, ständig zur Kasse gebeten zu werden. Sie fordern ganz klar und deutlich, daß die Überschüsse, die bei der Bundesanstalt für Arbeit erzielt werden, in erster Linie dazu benutzt werden sollten, um das Leistungsniveau anzuheben.
Wir wissen aus der Haushaltsoperation 1982, daß z. B. der Sozialhilfehaushalt einer Stadt wie Hannover durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsklauseln, durch die Verlängerung der Sperrzeiten schon damals um 14 Millionen DM mehr belastet wurde. Die Verlängerung der Sperrzeiten im vorliegenden Fall wird denselben Effekt haben.Deswegen bin ich der Meinung, daß Ihnen, Herr Minister Blüm, mit dieser Vorlage nur zweierlei geglückt ist: Erstens bürden Sie den Gemeinden wieder eine größere Belastung auf. Zweitens tun Sie arbeitsmarktpolitisch nichts.Wenn Sie sich hingegen unseren Antrag zur Förderung der Beschäftigung vor Augen führen, müßten Sie eigentlich sehen, daß wir Sozialdemokraten ganz konkrete Vorschläge gemacht haben, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Zu diesen Vorschlägen gehören z. B. die Programme, die in unserer Regierungszeit entstanden sind und zum Ziel haben, insbesondere die Benachteiligten zu fördern. Es müssen neue Impulse gegeben werden.
Wir wissen, daß den Arbeitsämtern kein Geld gegeben wird, um z. B. im Benachteiligtenbereich, im Schwerbehindertenbereich spürbare Maßnahmen durchzuführen. Die von der Rechtskoalition vorgesehenen Sperrfristen — —
— Nein, nein. Wissen Sie, ich versuche, frei zu reden, ohne Manuskript. Da kann es schon einmal vorkommen, daß man sich bei dem Papiersalat vergreift.
Wir Sozialdemokraten fordern, daß die Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit für arbeitsfördernde Maßnahmen genutzt werden. Deshalb haben wir unseren Antrag „Förderung der Beschäftigung" vorgelegt. Wir bestehen darauf, daß zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung die Eingliederungshilfen für Jugendliche nach der Ausbildung, für ältere Arbeitnehmer, für längerfristig Arbeitslose und für Schwerbehinderte ausgebaut werden.Ich sehe, daß die Redezeit abgelaufen ist. Ich bedanke mich bei Ihnen.
Als letzter hat das Wort Herr Abgeordneter Cronenberg.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht ganz schnell.Lieber Eugen Glombig, die Fraktionen, die die alte Koalition getragen haben, waren besser als ihr Ruf. Sie haben gemeinsam — wir beide — eingebracht: AFKG — Drucksache 9/799 —, das Sechste Rentenversicherungs-Änderungsgesetz — Drucksache 9/1957 —, das Sozialversicherungs-Änderungsgesetz — Drucksache 9/1958 —, das Haushaltsstrukturgesetz — Drucksache 9/795 —, und zwar immer aus dem gleichen Grund: weil die Regierung nicht schnell genug war. Die Koalitionsfraktionen haben der Regierung immer geholfen, und das ist auch vernünftig und richtig so.Unterstützen möchte ich allerdings die Kritik von Eugen Glombig — da habe ich überhaupt keine Probleme —, daß es bedauerlich ist, daß die Beratungszeiten nicht in genügendem Umfang zur Verfügung stehen. Dies ist auch eine ernstgemeinte Aufforderung an den Bundesarbeitsminister, mit dazu beizutragen, daß wir ausreichend Beratungszeit haben.Warum ich mich überhaupt gemeldet habe, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die letzte Stunde der Debatte habe ich fast nicht mehr verstanden. Wir reden hier über die Sicherung der Liquidität in der Rentenversicherung in den nächsten Jahren und über eine Beitragssenkung in der Arbeitslosenversicherung. Beides sind wichtige Maßnahmen für die gesamte Beitragsstabilität. Aber die Hinterbliebenenversorgung und das Baby-Jahr stehen weder in dem Gesetzentwurf, den wir zu beraten haben, noch hat das mit den Themen von heute irgend etwas zu tun.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6993
Cronenberg
Damit aber Eugen Glombig ein ruhiges Wochenende hat: Die FDP ist in der neuen Koalition genauso lästig und stur wie in der alten, insofern kannst du denen jetzt den Ärger gönnen, den du früher selber gehabt hast. Das Baby-Jahr wird ab 1989 selbstverständlich aus dem Haushalt finanziert, oder es wird in diesem Bundestag nicht mit den Stimmen der Freien Demokraten verabschiedet werden.
Diese Wochenendberuhigung wollte ich Eugen Glombig mit nach Hamburg geben.Herzlichen Dank für Ihre zusätzliche Geduld.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/2176 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft sowie zur Mitberatung und Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch, es gibt auch keine zusätzlichen Bemerkungen. Dann ist dies so beschlossen.
Zwischendurch darf ich ganz schnell einmal sagen, daß ich gebeten worden bin, Ihnen mitzuteilen, daß die CDU/CSU-Fraktionssitzung um 11.45 Uhr und die FDP-Fraktionssitzung unmittelbar nach Schluß der Sitzung beginnen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes
— Drucksache 10/1863 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Das Wort wird nicht gewünscht. Der Minister verzichtet auf eine Begründung.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 10/1863 an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. — Kein Widerspruch. Keine zusätzlichen Wünsche. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 30 ist abgesetzt.
Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 31 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag von 13. März 1984 zur Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönlands
— Drucksache 10/2120 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Hierzu wird eine Aussprache nicht erbeten.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Keine weiteren Vorschläge. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer Tagesordnung angekommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages am Montag, dem 5. November 1984, 14.30 Uhr durchzuführen.
Die Sitzung ist geschlossen.