Protokoll:
10095

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 10

  • date_rangeSitzungsnummer: 95

  • date_rangeDatum: 26. Oktober 1984

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 08:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 11:29 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 10/95 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 95. Sitzung Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 Inhalt: Abwicklung der Tagesordnung 6955 A Absetzung der Punkte 17 und 30 von der Tagesordnung 6955 B Änderung der Überweisung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Altölgesetzes — Drucksache 10/1435 — an Ausschüsse 6955 B Aktuelle Stunde betr. die türkischen Militäroperationen gegen die Kurden und die Rolle der NATO-Verteidigungshilfe der Bundesrepublik Deutschland Schneider (Berlin) GRÜNE 6955 C Dr. Pohlmeier CDU/CSU 6956 B Frau Huber SPD 6957 B Schäfer (Mainz) FDP 6958 A Jungmann SPD 6958 D Dr.-Ing. Oldenstädt CDU/CSU 6959 D Duve SPD 6960 D Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU . . 6961 C Möllemann, Staatsminister AA 6962 B Frau Luuk SPD 6964 A Jäger (Wangen) CDU/CSU 6964 D Schneider (Berlin) GRÜNE 6965 C Schwarz CDU/CSU 6966 B Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Burgmann und der Fraktion DIE GRÜNEN Umweltfreundliche Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland hier: Allgemeine Fragen — Drucksachen 10/1382, 10/1774 — Erklärungen nach § 31 GO Schäfer (Offenburg) SPD 6967 B Burgmann GRÜNE 6968 A Namentliche Abstimmung 6968 C Ergebnis der Abstimmung 6978 D Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu der Verfassungsstreitsache 2 BvE 2/84 — Organklage der Bundespartei DIE GRÜNEN betreffend das Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze vom 22. Dezember 1983 — Drucksache 10/2171 — 6968 D Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversichrung (Arbeitsförderungs- und Rentenversicherungs-Änderungsgesetz) — Drucksache 10/2176 — Müller (Remscheid) CDU/CSU 6969 A Heyenn SPD 6972 D II Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 Cronenberg (Arnsberg) FDP . . . 6976 A, 6992 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 6989 C, 6980 B Frau Potthast GRÜNE 6984 A Glombig SPD 6986 A Weinhofer SPD 6991 A Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes — Drucksache 10/1863 — 6993 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. März 1984 zur Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönlands — Drucksache 10/2120 — 6993 C Nächste Sitzung 6993 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 6995* A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 6995* B Anlage 3 Anpassung der Richtlinien für die Durchführung von Bauaufgaben des Bundes an die neue Honorarordnung für Architekten und Ingenieure MdlAnfr 3 19.10.84 Drs 10/2163 Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Dr. Jahn BMBau . . 6995* D Anlage 4 Künftige Aufgaben von Staatsminister Möllemann MdlAnfr 10 19.10.84 Drs 10/2163 Frau Fuchs (Köln) SPD SchrAntw StMin Möllemann AA . . . . 6996* A Anlage 5 Volkswirtschaftlicher Nutzen einer Wiederaufarbeitungsanlage MdlAnfr 55 19.10.84 Drs 10/2163 Dr. Jobst CDU/CSU SchrAntw PStSekr Dr. Probst BMFT . . 6996* B Anlage 6 Mittel des DEG-Sonderfonds; Vergütung an DEG-Mitarbeiter aus DEG-Geschäften neben dem Engagement bei Entwicklungsbanken MdlAnfr 64, 65 19.10.84 Drs 10/2163 Bindig SPD SchrAntw PStSekr Dr. Köhler BMZ . . . 6996* B Anlage 7 Abführung der Vergütungen für Aufsichtsratstätigkeiten bei Entwicklungsbanken an den DEG-Sonderfonds; Vergütungen aus dem DEG-Sonderfonds von 1980 bis 1983 MdlAnfr 66, 67 19.10.84 Drs 10/2163 Dr. Hauchler SPD SchrAntw PStSekr Dr. Köhler BMZ . . . 6996* D Anlage 8 Vergütung an Mitarbeiter der Deutschen Entwicklungsgesellschaft für Aufsichtsratstätigkeiten bei Entwicklungsbanken aus dem DEG-Sonderfonds MdlAnfr 68, 69 19.10.84 Drs 10/2163 Toetemeyer SPD SchrAntw PStSekr Dr. Köhler BMZ . . . 6997* A Anlage 9 Einrichtung eines Sonderfonds der Deutschen Entwicklungsgesellschaft für Aufsichtsratsvergütungen aus dem Entwicklungsbankenengagement MdlAnfr 70 19.10.84 Drs 10/2163 Frau Luuk SPD SchrAntw PStSekr Dr. Köhler BMZ . . . 6997* C Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6955 95. Sitzung Bonn, den 26. Oktober 1984 Beginn: 8.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens** 26. 10. Dr. Barzel 26. 10. Bastian 26. 10. Frau Beck-Oberdorf 26. 10. Ertl 26. 10. Eylmann 26. 10. Frau Gottwald 26. 10. Haar 26. 10. Handlos 26. 10. Dr. Hauff 26. 10. Hedrich 26. 10. Höffkes 26. 10. Kastning 26. 10. Frau Kelly 26. 10. Kroll-Schlüter 26. 10. Dr. Graf Lambsdorff 26. 10. Lenzer*** 26. 10. Dr. Mertens (Bottrop) 26. 10. Dr. Mertes (Gerolstein) 26. 10. Dr. Müller** 26. 10. Dr. Müller-Emmert 26. 10. Petersen 26. 10. Porzner 26. 10. Reddemann*** 26. 10. Reuschenbach 26. 10. Frau Roitzsch (Quickborn) 26. 10. Schmidt (Hamburg) 26. 10. Schröder (Hannover) 26. 10. Dr. Stark (Nürtingen) 26. 10. Graf Stauffenberg* 26. 10. Voigt (Sonthofen) 26. 10. Frau Dr. Vollmer 26. 10. Weiskirch (Olpe) 26. 10. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates *** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Präsident hat gemäß § 80 Abs. 3 der Geschäftsordnung die nachstehende Vorlage überwiesen: Bundesbericht Forschung 1984 - Drucksache 10/1543 - zuständig: Ausschuß für Forschung und Technologie (federführend) Haushaltsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Anlagen zum Stenographischen Bericht Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat mit Schreiben vom 18. Oktober 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß von einer Berichterstattung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung über die nachstehenden Vorlagen absieht: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Agrarbericht 1984 - Drucksachen 10/980, 10/981 - Unterrichtung durch die Bundesregierung: Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" für den Zeitraum 1984 bis 1987 - Drucksache 10/1419 - Der Vorsitzende des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat mit Schreiben vom 19. Oktober 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende EG-Vorlage zur Kenntnis genommen hat: Vorschlag für einen Beschluß des Rates über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinaflüchtlinge (UNRWA) über Hilfsmaßnahmen der Flüchtlinge in den Nahostländern - KOM(84) 113 endg. - Drucksachen 10/1212 Nr. 7, 10/1278 - Der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 18. Oktober 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß von einer Beratung der nachstehenden EG-Vorlage abgesehen hat: Entwurf einer Verordnung (EWG) des Rates zur Durchführung von Arbeitskostenerhebungen im produzierenden Gewerbe, im Groß- und im Einzelhandel sowie im Bank- und im Versicherungsgewerbe - Drucksache 10/133 Nr. 7 - Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat mit Schreiben vom 17. Oktober 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende EG-Vorlage zur Kenntnis genommen hat: Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über Maßnahmen zur Deckung des Ausgabenbedarfs des Haushaltsjahres 1984 in Anbetracht der völligen Ausschöpfung der eigenen Mittel - KOM(84) 250 endg. - Drucksache 10/1792 - Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Jahn auf die Frage des Abgeordneten Stiegler (SPD) (Drucksache 10/2163 Frage 3): Inwieweit werden die Vorschriften der neuen Honorarordnung für Architekten und Ingenieure in die Richtlinien für die Durchführung von Bauaufgaben des Bundes im Zuständigkeitsbereich der Finanzbauverwaltungen umgesetzt, und was unternimmt die Bundesregierung, um auch die Länder dazu zu veranlassen, das neue Recht in ihre Vergabebestimmungen aufzunehmen? Die ab 1. Januar 1985 in Kraft tretende „Erste Verordnung zur Änderung der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure" hat zur Folge, daß zu den Richlinien für die Durchführung von Bauaufgaben des Bundes im Zuständigkeitsbereich der Finanzbauverwaltungen (RBBau) neue Vertragsmuster für Ingenieure geschaffen und bestehende Ver- 6996* Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 tragsmuster für Architekten und Ingenieure geändert werden müssen. Diese Vertragsmuster werden in Absprache mit den Finanzbauverwaltungen der Länder erarbeitet und bis zum Jahresende veröffentlicht sein. Der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau wird den Ländern empfehlen, im Hinblick auf ein einheitliches Verwaltungshandeln für Landesbauten entsprechend zu verfahren. Anlage 4 Antwort des Staatsministers Möllemann auf die Frage der Abgeordneten Frau Fuchs (Köln) (SPD) (Drucksache 10/2163 Frage 10): Deutet die Äußerung des verdienten Staatsministers im Auswärtigen Amt, Möllemann, das derzeitige Rentensystem sei nicht mehr finanzierbar und alle Menschen, die heute Geld verdienten, sollten sich zusätzlich durch eine private Versicherung absichern, darauf hin, daß ihm innerhalb der Bundesregierung ein neues Aufgabenfeld auf sozialpolitischem Gebiet zuwächst oder zuwachsen soll, und wenn nein, welche Aufgaben soll der Staatsminister künftig innerhalb der Bundesregierung wahrnehmen? Ihre Frage beantworte ich mit „Nein". Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Probst auf die Frage des Abgeordneten Dr. Jobst (CDU/CSU) (Drucksache 10/2163 Frage 55): Wie beurteilt die Bundesregierung den betriebs- und volkswirtschaftlichen Nutzen einer Wiederaufarbeitungsanlage? Der Einfluß einer Wiederaufarbeitungsanlage auf die regionale Wirtschaft, insbesondere in einer wirtschaftlich schwachen Region, wird sicher ganz erheblich sein. Von den derzeit geschätzten Gesamtkosten von über 4 Milliarden DM einer Wiederaufarbeitungsanlage wird ein erheblicher Teil in die regionale Wirtschaft fließen. Der Betrieb der Anlage wird direkt 1 600 bis 1 800 Dauerarbeitsplätze schaffen. In der Bauphase wird die Zahl der Arbeitsplätze mehr als doppelt so hoch sein. Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Köhler auf die Fragen des Abgeordneten Bindig (SPD) (Drucksache 10/2163 Fragen 64 und 65): Wieviel Mittel sind bisher insgesamt und in den Jahren 1980 bis 1983 in den bei der DEG (Deutsche Finanzierungsgesellschaft für Beteiligungen in Entwicklungsländern) angelegten Sonderfonds geflossen, der aus Mitteln gespeist wird, welche die DEG-Mitarbeiter für die Wahrnehmung der Aufsichtsratsmandate bei Entwicklungsbanken erhalten haben'? Sind Mitarbeitern der DEG auch aus anderen — als dem Engagement bei den Entwicklungsbanken — Geschäften der DEG Mittel zugeflossen, und wie wurde mit diesen verfahren? Zu Frage 64: Diese Frage kann nicht vollständig beantwortet werden. Der Grund liegt in der Konstruktion der DEG als GmbH. Nach dem GmbH-Gesetz § 52 in Verbindung mit § 111, Abs. 2 Aktiengesetz ist die Geschäftsführung nur dem Aufsichtsrat zur Auskunft verpflichtet. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß der Aufsichtsrat ordnungsgemäß unterrichtet worden ist und der Regelung zugestimmt hat. Zu Frage 65: Es gehört zu den Aufgaben der DEG, in den Aufsichtsratsgremien der von ihr mitfinanzierten Projektgesellschaften mitzuwirken. Außer an Entwicklungsbanken ist die DEG auch an gewerblichen Projektgesellschaften (Firmen) beteiligt. Für die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten bzw. die Teilnahme an Aufsichtsratssitzungen zahlen eine Reihe von Projektgesellschaften und — entsprechend ihren Satzungen — den von der DEG entsandten Vertretern, wie den übrigen Mitgliedern dieser Aufsichtsräte, Vergütungen. Es ist ein Grundsatz der DEG, sich in Aufsichtsräten nur dann für Vergütungen auszusprechen, wenn das Unternehmen Gewinne erwirtschaftet. Die von der DEG in die Aufsichtsratsgremien einer Projektgesellschaft entsandten Vertreter führen sämtliche von ihnen bezogene Aufsichtsratsvergütungen an die DEG in einen Sonderfonds ab. Für alle Vergütungen besteht also dieselbe Regelung. Gemäß den geltenden Aufsichtsratsbeschlüssen leistet die DEG aus diesem Sonderfonds an Geschäftsführer und Mitarbeiter Zahlungen. Diese Zahlungen sind vertraglicher Bestandteil der ordentlichen Bezüge der Geschäftsführer und Mitarbeiter. Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Köhler auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Hauchler (SPD) (Drucksache 10/2163 Fragen 66 und 67): Sind alle Vergütungen, welche DEG-Mitarbeiter für die Wahrnehmung der Aufsichtsratsmandate bei Entwicklungsbanken zugeflossen sind, in den dafür bei der DEG eingerichteten Sonderfonds eingezahlt worden? Welche Beträge hat die Geschäftsführung der DEG aus dem bei der DEG angelegten Sonderfonds für Aufsichtsratsvergütungen aus dem Entwicklungsbankenengagement der DEG in den Jahren 1980 bis 1983 erhalten'? Zu Frage 66: Die von der DEG in die Aufsichtsgremien ihrer Projektgesellschaften (Firmen und Entwicklungsbanken) entsandten Vertreter führen aufgrund einzelvertraglicher Abmachung, sämtliche von ihnen Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 95. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Oktober 1984 6997* bezogene Aufsichtsratsvergütungen an den bei der DEG eingerichteten Sonderfonds ab. Zu Frage 67: Nach dem GmbH-Gesetz § 52 in Verbindung mit § 111, Abs. 2 Aktiengesetz ist die Geschäftsführung nur dem Aufsichtsrat zur Auskunft verpflichtet. Deswegen können Beträge in diesem Fall nicht angegeben werden. Ich kann Ihnen jedoch soviel sagen, daß der Aufsichtsrat im Oktober 1977 die Höhe der Zuwendungen an die Geschäftsführer festgelegt und seitdem nicht geändert hat. Anlage 8 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Köhler auf die Fragen des Abgeordneten Toetemeyer (SPD) (Drucksache 10/2163 Fragen 68 und 69): Wie viele Mitarbeiter haben aus dem bei der DEG angelegten Sonderfonds für Mittel aus der Wahrnehmung der Aufsichtsratstätigkeit bei Entwicklungsbanken eine Vergütung erhalten, und nach welchen „leistungsbezogenen Gesichtspunkten" wurden diese Mittel verteilt? Wie bewertet es die Bundesregierung, daß Mitarbeiter der DEG, die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben ein volles Gehalt erhalten, aus Mitteln, welche im Rahmen der entwicklungspolitischen Aufgaben der DEG eingesetzt werden, ein erhebliches Zubrot verdienen? Zu Frage 68: Gemäß den Aufsichtsratsbeschlüssen aus den Jahren 1968 und 1977 erhalten Geschäftsführung und leitende Mitarbeiter, und nach einem weiteren Aufsichtsratsbeschluß vom Juni 1982 auch nicht-leitende Mitarbeiter, Zuwendungen aus dem Sonderfonds. Dabei hat der Aufsichtsrat die Geschäftsführung ermächtigt, die Höhe dieser Zuwendungen im Einzelfall für alle Mitarbeiter nach internen Leistungsgesichtspunkten festzusetzen. Hiervon ausgenommen ist die Höhe der Zuwendungen an die Geschäftsführer selbst, die der Aufsichtsrat in einem absoluten Betrag festgelegt hat. Zu Frage 69: Die Zahlungen, die die DEG an Geschäftsführer und Mitarbeiter aus diesem Sonderfonds leistet, sind vertraglicher Bestandteil der ordentlichen Bezüge. Diese Regelung, welcher der Aufsichtsrat zugestimmt hat, hält die Bundesregierung wegen ihrer Flexibilität und ihres Leistungsanreizes für besser als eine starre Gehaltsregelung. Anlage 9 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Köhler auf die Frage der Abgeordneten Frau Luuk (SPD) (Drucksache 10/2163 Frage 70): Seit wann ist der Bundesregierung bekannt, daß bei der DEG ein Sonderfonds für Aufsichtsratsvergütungen aus dem Entwicklungsbankenengagement angelegt worden ist, und welche Konsequenzen sachlicher und personeller Art wird die Bundesregierung ziehen? Das Präsidium befaßte sich erstmals 1968 mit der Regelung des Sonderfonds. Ihm gehören der Aufsichtsratsvorsitzende sowie seine beiden Stellvertreter — einer von ihnen ist der Staatssekretär des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit — an. Der Aufsichtsrat hat sich dann wiederholt mit diesem Fragenkomplex befaßt und zum Beispiel im Oktober 1977 eine zusammenfassende Regelung hinsichtlich des Sonderfonds beschlossen. Ich bin überzeugt, daß der Aufsichtsrat auch in Zukunft in dieser Hinsicht seiner Aufsichtspflicht genügen wird.
Gesamtes Protokol
Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009500000
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich habe zunächst einiges bekanntzumachen.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die heutige Tagesordnung wie folgt abgewickelt werden: Zusatzpunkt 6: Aktuelle Stunde, namentliche Abstimmung über den Entschließungsantrag Drucksache 10/2189, Punkt 28: Verfassungsstreitsache, Zusatzpunkt 4: Erste Beratung des Entwurfs eines Arbeitsförderungs- und RentenversicherungsÄnderungsgesetzes, Punkt 29: Zweite Änderung des Hochschulrahmengesetzes, Punkt 31: Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönlands.
Punkt 30 — Förderung der Drittmittelforschung im Rahmen der Grundlagenforschung — soll von der Tagesordnung abgesetzt werden.
Nach einer weiteren Vereinbarung im Ältestenrat soll der von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachte Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Altölgesetzes — Drucksache 10/1435 — in Abänderung der in der 75. Sitzung am 8. Juni 1984 getroffenen Entscheidung nunmehr zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden.
Noch eine Mitteilung: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll Punkt 17 der Tagesordnung, Frage des Beitritts von Spanien und Portugal zur Europäischen Gemeinschaft, abgesetzt werden.
Sind Sie mit diesen Regelungen einverstanden? — Es ergibt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Die türkischen Militäroperationen gegen die Kurden und die Rolle der NATO-Verteidigungshilfe der Bundesrepublik Deutschland
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schneider.

Dirk Schneider (GRÜNE):
Rede ID: ID1009500100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die GRÜNEN im Bundestag haben diese Aktuelle Stunde nicht wegen irgendwelcher Militäraktionen beantragt, wie es in der offiziellen Ankündigung heißt, sondern weil derzeit offensichtlich im Namen der westlichen Wertegemeinschaft in den Grenzgebieten Türkisch-Kurdistans von einem NATO-Verbündeten der Bundesrepublik ein regelrechter Krieg stattfindet. Der Mann, der hinter der Fassade von Scheinparlament und angeblicher Demokratisierung die Macht in der Türkei ausübt, nämlich General Evren, hat dies selbst genauso ausgesprochen, einen Tag nachdem in diesem Hause in der letzten Türkei-Debatte z. B. Frau Hamm-Brücher noch „Fortschritte in -der Normalisierung" konstatieren zu müssen glaubte und Herr Schwarz von der „Pflicht" der türkischen Armee sprach.
Die Vollstreckung der Todesurteile an Ilyas Has nur wenige Stunden nach dieser Debatte im Bundestag und an Hidir Arslan gestern morgen zeigen mit schrecklicher Deutlichkeit, daß Beschönigungen angesichts der Wirklichkeit in der Türkei nicht mehr ausgesprochen werden können.
Warum brauchen Sie, meine Damen und Herren, eigentlich immer blutigere Beweise um zu erkennen, daß sich an Terror und Menschenrechtsverletzungen im Lande Ihres NATO-Partners nichts geändert hat? Hinrichtungen, Folter, systematische Unrechtsprechung, Parteienverbote, Nichtzulassung von Gewerkschaften, Pressezensur, das ist die Realität in der Türkei.
Vor diesem Hintergrund findet der vergessene Krieg in Kurdistan statt, und die Bundesrepublik finanziert diesen Krieg mit.
Kurz die Fakten: Seit Wochen kämpft die Armee gegen die türkische Bevölkerung in der Osttürkei. Das iranisch-irakisch-türkische Grenzgebiet soll entvölkert werden; drei Grenzdörfer wurden bereits umgesiedelt. Bis zum 15. November 1984 soll ein Niemandsstreifen entstehen, 50 Dörfer sollen bis weit in das Land hinein umgesiedelt werden. Von diesem Militärprogramm sind vor allem die Kurden vom Stamm der Jirkis betroffen. Viele Stammes-



Schneider (Berlin)

mitglieder sind in die Berge geflohen. Kommentar der Zeitung „Milliet": „Die Suche nach den zum Tode Verurteilten in den evakuierten Gebieten wird fortgesetzt, und es wird angenommen, daß sie bald gefaßt sind." In den Dörfern werden die Menschen zusammengetrieben, eingeschüchtert, es gibt Massenverhaftungen und viele Todesopfer. Mehrere Jirki-Dörfer sind am 20. September bombardiert worden.
Die Transportflugzeuge, Lastwagen, Waffen und Munition, die mittels der NATO-Verteidigungshilfe aus der Bundesrepublik angeschafft werden konnten, dienen eben nicht der Verteidigung des Landes, sondern der Einschüchterung und der Unterdrükkung der Kurden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN — Bindig [SPD]: Leider wahr!)

Das ist kalkuliert. Genau für einen solchen Einsatz ist diese militärische Ausrüstung auch bestimmt. Denn es geht eben nicht um den Kampf gegen Separatisten und Banditen oder Terroristen, sondern darum, die Kurdengebiete in der Osttürkei für den Ausbau von NATO-Stützpunkten zu sichern. Es war auch kein Zufall, daß sich NATO-Oberbefehlshaber Rogers wenige Stunden vor Beginn dieses Krieges, der sich „Aktion Sonne" nennt, am 15. August in der Türkei aufhielt. Die türkische Zeitung „Cumhuriyet" zitierte Richard Burt vom US-Außenministerium: „Im Falle der Bedrohung der Sicherheit der Türkei werden wir die auf uns zukommenden Aufgaben ohne Zögern erfüllen."
Die Türkei soll zum westlichen Sicherheitsposten im sogenannten Krisenbogen, der von Pakistan bis Ägypten reicht, ausgebaut werden. Bereits seit dem Herbst vergangenen Jahres wird der Helikopterflugplatz Hakkari, nur wenige Kilometer entfernt von der Grenze zum Iran und zum Irak, auch mit NATO-Mitteln ausgebaut. Für 1985 veranschlagen die USA 1 Milliarde US-Dollar für den Ausbau von Großflugplätzen, Horchposten, Waffen- und Materialdepots, die nahezu alle in der Osttürkei liegen. Der Preis dafür ist die Unterdrückung der Kurden, und das soll offensichtlich sofort geschehen.
Vor diesem Hintergrund fordern wir die Rücknahme des Beschlusses über den Beitrag der Bundesrepublik im Rahmen der NATO-Verteidigungshilfe in Höhe von 130 Millionen DM; denn es handelt sich um Militärhilfe an einen kriegführenden Staat.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009500200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pohlmeier.

Dr. Heinrich Pohlmeier (CDU):
Rede ID: ID1009500300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es macht einen Sinn, daß wir in diesem Hause an diesem frühen Morgen eine Debatte über Probleme eines mit uns verbündeten — und, wie ich hinzufügen möchte, uns auch in weiten Bereichen freundschaftlich verbundenen — Landes führen. Ich weiß aber nicht, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ob die provokative
Art, in der Sie dieses Thema hier heute morgen behandeln,

(Zurufe von den GRÜNEN)

eine Aussicht bietet, an den Dingen wirklich etwas zu verbessern und die Lage zu verändern.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Sie haben das zu Afghanistan auch so provokativ gemacht!)

Die Kurden in der Türkei sind in diesem Staat eine Minderheit, wie sie auch in den Nachbarländern Minderheiten sind. Kurdische Probleme, auch Probleme mit Aufständen der Kurden, hat es in den letzten Jahren weiß Gott auch in den Nachbarländern Irak, Iran usw. zur Genüge gegeben.

(Frau Dr. Hickel [GRÜNE]: Soll das entschuldigen?)

Das kurdische Volk gehört zu den orientalischen Völkern im Nahen Osten, die niemals in ihrer Geschichte einen eigenen Staat besessen haben. Der kurdische Bevölkerungsteil in der Türkei hat weiterhin den ganz erheblichen Nachteil, in dem entlegensten, gebirgigen Teil dieses Landes leben zu müssen — ohne eine entsprechende Infrastruktur, mit gravierenden sozialen Benachteiligungen, als ärmster Bevölkerungsteil in diesem Lande überhaupt mit einem großen Entwicklungsrückstand.
Minderheiten in einem Staat, in einer Nation haben es allüberall in Ländern der Dritten Welt sehr schwer. Sie geraten vor allem dann unter Druck, wenn es für diese Länder darum geht, die Integrität ihrer Grenzen und die Identität der Nation erst zu schaffen oder in einem frühen Stadium zu erhalten und zu bewahren.
Die Verfolgungen von ethnischen Minderheiten in diesen Staaten erstrecken sich durch nahezu alle Länder in der Dritten Welt. Denken Sie an Äthiopien, oder schauen Sie in den Sudan hinein. Überlegen Sie bitte auch einmal, was ein Herr Mugabe in Simbabwe im Matabele-Land in den letzten Jahren und noch in den letzten Wochen angestellt hat.

(Burgmann [GRÜNE]: Die Türkei ist aber NATO-Partner!)

Meine Damen und Herren, ich habe es eingangs gesagt: Deswegen bemühen wir uns in besonderer Weise, diese Dinge durch interne Gespräche mit den Türken zu verbessern.
Es muß also die Aufforderung an die Türkei wie auch an andere Länder in der Dritten Welt gerichtet werden, einen anständigen Umgang mit ihren Minderheiten zu schaffen und zu erlernen. Aber, meine Damen und Herren, gelingen kann das ganz sicher nicht, wenn die Aufstandsbewegung weiter um sich greift und es Verbindungen, so wie die „Neue Zürcher Zeitung" noch Anfang September zu berichten wußte, zur türkischen Kommunistischen Partei, die j a wohl von Ost-Berlin aus operiert, gibt, wenn es Waffenfunde aus sowjetischen Beständen im kurdischen Aufstandsgebiet in der Türkei gibt.
Ich glaube nicht, daß das Voraussetzungen dafür sind, daß wir hier zu einer Befriedung kommen.



Dr. Pohlmeier
In den letzten Wochen und Tagen häuften sich die Berichte von Überfällen auf kurdische Dörfer, auch von kurdischen Aufständischen auf kurdische Dörfer. Nomadengruppen wurden überfallen, Herden wurden vernichtet. Ich glaube, diese Seite der Entwicklung, meine Damen und Herren — Herr Schneider, Sie vor allem —, dürften Sie, wenn Sie hier über die kurdische Minderheit in der Türkei sprechen, nicht verschweigen.

(Duve [SPD]: Können Sie eine Quelle für diese Behauptung nennen?)

— Ich habe mich auf einen Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung" von Anfang September bezogen. Es wäre dort nachzuschlagen.
Ich richte deswegen einen Appell an die türkische Regierung, eingebettet in den Demokratisierungsprozeß, in dem sich dieses Land befindet und den wir zu fördern in der Lage und auch willens sind, durch unsere wirtschaftliche Hilfe, durch unseren Rat, durch unsere Diskussion mit allen befreundeten Menschen in der Türkei, auf der politischen Ebene und auf anderen Ebenen, auch einen Weg zu finden, mit der türkischen Minderheit der Kurden in dieser entlegenen Ecke ihres Landes fertig zu werden und sie in ihren Staat einzufügen.
Ich bedanke mich sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009500400
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.

Antje Huber (SPD):
Rede ID: ID1009500500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Begriff Kurden, den der amtliche türkische Sprachgebrauch nicht kennt, beschreibt ein Volk, das sich nach dem Ende des Osmanischen Reiches auf sechs Nationen aufgeteilt wiederfand und keinen Staat bekam, obwohl man es ihm ursprünglich im Vertrag von Sèvres von 1920 zugesagt hatte. In der Folgezeit hat es an Unruhen und Aufständen nicht gefehlt.
Heute reden wir hier nun über die große Minderheit der Kurden, die in der Türkei lebt. Es sind etwa 6 Millionen. Sie stellen wahrscheinlich die Hälfte aller Kurden überhaupt und mehr als 10 % der Einwohner des Landes dar.
Daß wir Anlaß dazu haben, darüber zu reden, ist darin begründet, daß sich seit Mitte August die Unruhen in diesem Teil Anatoliens wieder häufen, daß es auch Überfälle gegeben hat, besonders bei Eru und Semdinli. Die Aktionen scheinen uns zum Teil Protest zu sein gegen die besonders harte Verfolgung der Kurden, die nicht nur um demokratische Rechte, sondern auch um ihre Minderheitsrechte kämpfen. Schließlich hat man ihnen j a ihre kulturellen Organisationen, ihre Zeitungen verboten und erlaubt ihnen nur den Privatgebrauch ihrer Sprache. Zum Teil sind die Überfälle sicher auch in der Separatistenbewegung begründet, die durch die Auseinandersetzung zwischen Irak und Iran begünstigt wird, und die auch eingebettet ist in durchaus weitreichende Überlegungen der angrenzenden Staaten, die die Auseinandersetzung nutzen wollen, die die kurdischen Stämme unter sich haben.
Deshalb muß man sich hier hüten, in den fünf Minuten, die eine Aktuelle Stunde gewährt, zu einer zu einfachen Schilderung dieses Problems zu kommen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Wir haben auch nicht die Absicht, hier die territoriale Integrität des türkischen Staates anzugreifen. Uns treibt nur die Sorge um, daß unter den verschärften Bedingungen am Dreiländereck durch Verhaftungen, Verfolgungen, Durchsuchungen, Prozesse usw. wieder jene Häufung von Menschenrechtsverletzungen eingetreten ist, die wir hier schon im April beklagt haben und die die Schwierigkeiten einer Minderheit erhöht, die man einfach zu Bergtürken ernannt hat, ob sie das nun wollten oder nicht.
Wir billigen nicht die bewaffneten Überfälle und verstehen auch, daß sie Sicherheitsmaßnahmen auslösen. Ob sie aber solche Maßnahmen auslösen müssen, muß sehr bezweifelt werden. Wir beklagen und verurteilen heute erneut die Tatsache, daß es noch in so vielen Provinzen Kriegsrecht gibt, daß es Bürgerrechtsbeschränkungen, Prozesse und sogar Hinrichtungen gibt. Jeder demokratische Staat der Welt kann dies nur mißbilligen.
Wir denken vielmehr, daß mit einem Blick auf die soziale Unterentwicklung gerade dieser Region in Südostanatolien vielleicht die Frage von Ursache und Wirkung neu zu überdenken wäre.

(Beifall bei der SPD)

Dies soll in aller Bescheidenheit unser Rat an das uns befreundete türkische Volk sein.
Wir, die SPD-Fraktion, haben in diesem Jahr die Verteidigungshilfe an die Türkei abgelehnt. Wir denken, das ist nach wie vor begründet, weil wir Demokratisierungsfortschritte nicht deutlich erkennen. Wir stimmen keineswegs mit der amtlichen türkischen Aussage überein, daß die amerikanische und die deutsche Verteidigungshilfe zeigen, daß Kritik an der Türkei nicht angebracht oder gar zum Scheitern verurteilt ist.

(Beifall bei der SPD)

Unkritisches Verhalten, meine Damen und Herren, ist überhaupt kein Beweis von Freundschaft.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte auch dem Außenminister etwas mehr Sorgfalt empfehlen. Es ist außerordentlich unbefriedigend, wenn ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages zur Haltung in bezug auf die Kurdenfrage nachfragt und ihm nur gesagt wird, es sei alles noch so wie von Herrn Staatsminister Möllemann vor einem Jahr in der Fragestunde hier dargestellt. Dieser hat aber damals nur dargestellt, es sei alles noch so, wie es Staatsminister Corterier vor weiteren anderthalb Jahren hier dargestellt habe. Ich glaube, das ist ein bißchen wenig.

(Beifall bei der SPD)




Frau Huber
Meine Damen und Herren, die Kurden sind von uns zwar räumlich weit weg; ihre Probleme sind uns aber doch näher, als die Regierung glaubt.

(Beifall bei der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009500600
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1009500700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich hier schon einmal darüber beklagt, daß das Instrument der Aktuellen Stunde dazu benutzt wird, in morgendlicher Frühe zu sehr komplizierten Themen sehr kurze Stellungnahmen abzugeben, die uns nicht weiterhelfen. Ich weiß nicht, ob sich das Parlament einen Gefallen damit tut, wenn es diese Prozedur fortsetzt, unter allen Umständen in jeder Woche drei Aktuelle Stunden durchzuziehen, gleichgültig, über welches Thema.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich sage das deshalb, weil auch aus den Ausführungen meines Kollegen von den GRÜNEN deutlich geworden ist, daß hier wieder einmal alle möglichen Dinge vermischt werden. Ich glaube, eine Debatte über die Kurden bedarf einer sehr viel gründlicheren Auseinandersetzung mit diesem Problem als diese Attacken auf die Türkei und damit die NATO; das eigentlich bezwecken Sie. Die Kurden waren sozusagen nur der Vorwand für die eigentliche Tendenz, die Sie hier zum Ausdruck bringen wollen.

(Klein [München] [CDU/CSU]: Sehr richtig! — Zurufe von den GRÜNEN)

Ich halte das im Interesse des Kurdenproblems einfach nicht für sauber, ehrlich und richtig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, als stellte sich das Kurdenproblem als ein aktuelles Problem. Das wissen Sie genausogut wie ich. Es stellt sich auch nicht nur in der Türkei. Das ist bereits in den Ausführungen meiner Vorredner deutlich geworden. Gestern ist es uns offensichtlich durch die Aktuelle Stunde geglückt, die Freilassung von Abouchar zu erreichen. Er ist inzwischen, wie Sie wissen, begnadigt worden. Das ist möglicherweise auf die Aktuelle Stunde zurückzuführen. Vielleicht lösen wir auch das Kurdenproblem hier. Ich darf das einmal ironischerweise sagen.

(Bindig [SPD]: Das ist unter Ihrem Niveau, was Sie jetzt sagen!)

Ich muß Ihnen sagen: Ich halte es für bedenklich, wenn wir eine solche Frage hier aktualisieren und ihr damit eigentlich die Bedeutung rauben, die sie hat.
Sie können dann auch nicht einfach nur die Türkei attackieren, sondern Sie müssen beispielsweise auch die Frage aufgreifen, was im Iran passiert ist und noch passiert und was im Irak passiert. Alle diese Staaten sind nicht bereit, ein freies Kurdistan zu schaffen. Darüber gibt es in allen diesen Staaten eine Übereinstimmung. Es gibt bei allen diesen Staaten, soweit wir das beobachten können, die Bereitschaft, den Kurden bis zu einem gewissen Grad eine kulturelle Autonomie zuzugestehen. Aber es gibt nicht die Bereitschaft, Separatismus oder Anschläge hinzunehmen.
Ich meine, Sie müssen auch der Türkei zumindest zugestehen, daß auf militärische Aktionen, wie sie in Anatolien geschehen sind, Antworten erfolgen. Ich bin mit Ihnen einig: Über die Art und Weise dieser Antworten wird sicher in einem demokratischen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland anders gedacht, als das in der Türkei der Fall ist. Aber daraus den Schluß zu ziehen, die Türkei insgesamt verurteilen und denunzieren zu können, nur weil dieses Problem seit Atatürk anhält und nicht gelöst werden konnte und Grausamkeiten geschehen sind und leider auch noch geschehen, halte ich einfach nicht für berechtigt.
Sie versuchen im Grunde genommen, mit dem Kurdenproblem die NATO zu treffen. Ich glaube, das wird immer deutlicher. Sie kommen damit einer Lösung des Kurdenproblems einfach nicht näher.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Das ist meine Intervention an diesem Morgen. Ich wünsche mir, daß wir die Kurdenfrage wirklich einmal sehr ausführlich und unter Hinzuziehung von Leuten, die etwas davon verstehen, im Auswärtigen Ausschuß, wohin sie gehört, behandeln und dann zu sinnvollen Folgerungen kommen anstatt am frühen Morgen in Fünfminutenbeiträgen, die diesem Problem nicht gerecht werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009500800
Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1009500900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, das Verspritzen von Moralinsäure, wie Sie das getan haben, hätten Sie sich sparen können.

(Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!)

Ich möchte diese Aktuelle Stunde ausdrücklich begrüßen.
Es geht nicht nur darum, die Türkei zu verurteilen und so zu tun, als könnten wir mit der Aktuellen Stunde das Kurdenproblem in der Türkei lösen, sondern es geht auch darum, daß diese Bundesregierung trotz der Anmahnung der Verbesserung der Menschenrechte, trotz der Anmahnung der Verbesserung der Situation der kurdischen Minderheit in diesem Jahr wieder beschlossen hat, eine Militärhilfe in Höhe von 130 Millionen DM an die Türkei zu leisten. Das darf, glaube ich, nicht unwidersprochen hingenommen werden. Deshalb ist diese Aktuelle Stunde zu begrüßen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die Türkei ist zwar Mitglied der NATO und erfüllt in diesem Bereich wichtige Aufgaben.

(Klein [München] [CDU/CSU]: Aber was heißt das schon bei Ihnen?)




Jungmann
Ihre militärische Bedeutung darf aber nicht vergessen machen — Herr Kollege Klein —, daß seit über vier Jahren elementare Menschenrechte, Minderheitsrechte in der Türkei unterdrückt werden. Die Wahlen haben kaum Verbesserungen gebracht. Noch immer haben die Militärs das Sagen. In der Türkei herrscht eine Demokratie unter Kuratel.
Was uns zusätzlich betroffen machen muß, ist der regelrechte Krieg gegen die kurdische Minderheit, der sogar über die Grenzen der Türkei hinaus auf das Gebiet des Iraks ausgedehnt worden ist. Das Problem der kurdischen Minderheit und die Forderung nach kultureller Eigenständigkeit dürfen nicht mit Waffengewalt gelöst werden und sind nicht durch Waffengewalt zu lösen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die Verletzung der Menschenrechte in der Türkei und das Vorgehen gegen die Kurden haben die letzte von der SPD geführte Bundesregierung dazu veranlaßt, die fällige 13. Tranche an Militärhilfe im Jahre 1982 auszusetzen. Die Türkei wurde damals wiederholt energisch und mit Nachdruck aufgefordert, wieder demokratische Verhältnisse einzuführen und die Menschenrechte zu achten.
Anders Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Gerade diejenigen, die immer wieder den Charakter der NATO vor allem als Wertegemeinschaft betonen, bewerten offensichtlich die militärische Kooperation mit der Türkei höher als die Einhaltung der Menschenrechte und ganz besonders die Versuche, eine militärische Endlösung der Kurdenfrage herbeizuführen. Gegen den Widerstand der SPD hat die Wenderegierung nach dem Dezember 1982 weitere Militärhilfe bewilligt. Jetzt sollen weitere 130 Millionen DM fließen.

(Klein [München] [CDU/CSU]: Gott sei Dank, daß wir das machen!)

Im einzelnen sind das u. a.: 6,4 Millionen DM für das Heer, insbesondere für die Einsatzfähigkeit von Panzern, 45 Millionen DM für die Verbesserung der Lufttransportmittel,

(Klein [München] [CDU/CSU]: Ausgezeichnet!)

35 Millionen DM für Komponenten eines zusätzlichen U-Bootes und 7,1 Millionen DM für zwei Flugzeuge des Generalstabs. Schließlich sollen im Rahmen der Militärhilfe weitere F 104, Kampfpanzer M 48, Lastwagen und Munition im Werte von 26 Millionen DM geliefert werden.
Diese Mittel könnten zu einem großen Teil direkt für die menschenverachtende Politik der Türkei gegen die kurdische Minderheit eingesezt werden.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das?)

— Sie müssen zuhören, Herr Kollege. Ich habe gesagt: könnten.

(Klein [München] [CDU/CSU]: Das ist doch keine Information!)

Als Beispiel für die Wirklichkeit der Verbindungen zwischen der NATO und damit auch der Bundesrepublik Deutschland und dem Krieg gegen die
Kurden seien nur die Bombardements der kurdischen Dörfer in der Türkei und im Irak im Mai 1983 und jetzt wieder genannt.

(Hornung [CDU/CSU]: Haben Sie das Problem damals gelöst? — Klein [München] [CDU/CSU]: Ich wünschte, Frau Huber hätte die doppelte Redezeit gekriegt!)

Eine Brigade der türkischen Armee drängte in den Irak ein, gerade als in dem Gebiet ein Manöver der NATO begonnen hatte, bei dem die Einrichtung schneller Eingreiftruppen geübt wurde. Hier muß die Bundesregierung ihre Verantwortung erkennen und durch praktische Konsequenzen verdeutlichen. Da hilft nicht Geschrei im Parlament, Herr Kollege Klein.
Die Bundesrepublik gerät ungeachtet aller Beteuerungen und Initiativen in den Verdacht, die menschenverachtende Politik der türkischen Regierung gegen ihre eigene Bevölkerung und gegen die kurdische Minderheit zu unterstützen.

(Klein [München] [CDU/CSU]: In wessen Interesse reden Sie denn? Das ist ja unglaublich! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Durch die aktuellen Vorgänge in der Türkei gegen die kurdischen Minderheiten fühlen wir uns in unserer Ablehnung der Militärhilfe bestätigt

(Klein [München] [CDU/CSU]: Auch Moskau!)

und fordern Sie, die Bundesregierung, nachdrücklich auf, die Militärhilfe nicht durchzuführen und durch energischen Druck auf die Türkei zu erreichen, daß die Minderheitenrechte der Kurden geachtet und die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei nicht weiter durchgeführt werden.
Fortschritte in Menschenrechtsfragen sichtbar zu machen würde ...

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009501000
Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1009501100
... würde der Türkei und dem Ansehen der NATO in der Welt helfen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009501200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Oldenstädt.

Dr. Martin Oldenstädt (CDU):
Rede ID: ID1009501300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Stoßrichtung dieser Aktuellen Stunde ist klar: Es soll eine unmittelbare Verbindung zwischen NATOVerteidigungshilfe und den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, den tatsächlichen wie vor allen Dingen den behaupteten, gezogen werden.

(Burgmann [GRÜNE]: Sehr richtig!)

Anders ausgedrückt: Die Bundesregierung und die Koalition sollen für diese Verletzungen verantwortlich gemacht werden.

(Burgmann [GRÜNE]: Mitverantwortlich!)




Dr.-Ing. Oldenstädt
Damit wird, so hofft man, erstens die moralische Verurteilung der Mehrheit in diesem Hause und zweitens die Schwächung des Bündnisses erreicht. Beides, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird nicht gelingen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In meiner Entgegnung werde ich mich als Verteidigungspolitiker insbesondere der zweiten Zielsetzung zuwenden und auf diese Weise gleichzeitig Wiederholungen vermeiden.
Die Türkei gehört der Nordatlantischen Allianz seit 1952 an, nachdem sie sich bereits 1947 auf Grund ihrer historischen Erfahrungen unter den Schutz der Vereinigten Staaten gestellt hatte. Das Sicherheitsbedürfnis der Türkei ist regierungsstrategisch bestimmt durch eine lange, offene Schwarzmeerküste und eine gemeinsame Landgrenze mit der Sowjetunion von etwa 500 Kilometern Länge. Aus der Sicht des Bündnisses gewinnt die Türkei ihre besondere Bedeutung als Vorposten und Eckpfeiler dadurch, daß sie die Meerengen zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis bewacht, daß sie den Überflug sowjetischer Kampfflugzeuge auf dem direkten Wege nach Nordafrika verhindern oder doch wenigstens behindern kann, und dadurch, daß die Transitwege von Europa in den Nahen Osten über ihr Territorium führen.
Innerhalb des Bündnisses unterhält die Türkei mit etwa 500 000 Soldaten das größte stehende Heer. Sie bindet damit etwa 30 sowjetische Divisionen, die sonst der Bedrohung in Abschnitt Europa Mitte zugeführt werden könnten.

(Bindig [SPD]: Was hat das mit der Folter der Kurden zu tun?)

Die türkischen Soldaten sind gut motiviert und ausgebildet. Ihre Ausrüstung ist nicht die modernste, jedoch in bestem Zustand.
Die notwendige Verteidigungsanstrengung zu leisten, ist das Land aus eigener Kraft nicht in der Lage, obwohl es, gemessen am Bruttosozialprodukt, weit mehr als wir, in absoluten Zahlen jedoch nur etwa ein Siebtel dessen aufbringt, was wir ausgeben müssen.
Auf Grund dieser wirtschaftlichen Schwäche haben wir neben den Vereinigten Staaten seit 1964 erhebliche Hilfe gewährt. Dies geschah in Übereinstimmung mit Art. 3 des NATO-Vertrages, wonach die Ziele der Allianz durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung verwirklicht werden sollen.

(Jungmann [SPD]: Und was ist mit Art. 1, Demokratie und Menschenrechte?)

In jedem einzelnen Vertrag über diese Hilfen, die ausschließlich aus Materiallieferungen und Dienstleistungen bestehen, ist festgelegt, daß sie nur im Einklang mit Art. 5 des Nordatlantikvertrages verwendet werden dürfen, d. h. nur zur Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff auf das NATO-Gebiet.
Unter diesen Bedingungen hat die Türkei seit 1964 eine unentgeltliche Hilfe von insgesamt 2,8 Milliarden DM von uns bekommen. Die Hilfen haben sich konzentriert auf die Errichtung von zwei Panzerinstandsetzungswerken, die Einrichtung einer Fabrik für Handfeuerwaffen, den Aufbau einer Überholungswerkstatt und Wartungsanlage für Triebwerke, die logistische Versorgung von 20 Transall-Transportmaschinen und die Unterstützung beim Ausbau von zwei Marinewerften.
Diese Beispiele machen nicht nur den defensiven Charakter unserer Unterstützung deutlich, sondern weisen zugleich auf die Bedeutung auch für den türkischen Arbeitsmarkt hin.
Die 14. Tranche unserer Verteidigungshilfe — von Mitte 1984 bis Ende 1985 zu zahlen; mit einem Wert von 130 Millionen D-Mark hat sie den gleichen Wert wie die 13. Tranche —

(Jungmann [SPD]: Nicht ein Wort zur Unterdrückung der Minderheiten!)

dient im wesentlichen der Fortsetzung und Ergänzung der genannten Projekte. Ich freue mich, daß sie in den zuständigen Ausschüssen beschlosen wurde. Sie trägt dazu bei, die Panzerverbände an den Meerengen einsatzfähig zu erhalten, die ÄgäisZugänge zu sichern und den Lufttransport innerhalb der Türkei zu gewährleisten.

(Burgmann [GRÜNE]: Hoch, hoch!)

Mit diesem Beitrag, meine sehr verehrten Damen und Herren, erhöhen wir unsere gemeinsame Sicherheit

(Duve [SPD]: Mit diesem Beitrag haben Sie nichts erhöht!)

und fördern wir die Entwicklung der traditionell guten Beziehungen zwischen der Türkei und uns.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Jungmann [SPD]: Unverschämt, kein Wort zu Minderheiten, kein Wort zu den Kurden! — Weitere Zurufe von der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009501400
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.

(Dr. Rose [CDU/CSU]: Das ist doch ein Umweltpolitiker!)


Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1009501500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war ein erstaunliches Beispiel für die Selbstgerechtigkeit, mit der jemand aus dem Verteidigungsausschuß nicht ein Wort zu der hier in Rede stehenden Problematik sagt,

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

sondern etwas herbetet, was in der Verteidigungsdiskussion seit Trumans Zeiten diskutiert wird.

(Dr. Pohlmeier [CDU/CSU]: Es muß nicht jeder alles sagen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, als sich anläßlich der Eröffnung des kurdischen Kulturinstituts vor zwei Jahren in Paris der türkische Botschafter beim Außenminister in einer offiziellen Demarche beschwerte, sagte Herr Cheysson sehr souverän:



Duve
„Herr Botschafter, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Es gibt nach Ihrer offiziellen Darstellung keine Kurden in der Türkei." Das Gespräch war dann mit dieser Bemerkung beendet.
Es geht hier heute überhaupt nicht darum, eine Seite des Hauses irgendwo hinzustellen. Ich freue mich ausdrücklich, daß hier alle Parteien von dem kurdischen Volk gesprochen haben — das ist ein Novum —,

(Klein [München] [CDU/CSU]: Das ist bei uns kein Novum, Herr Duve!)

daß alle Parteien hier heute morgen festgestellt haben: Es gibt die Kurden. Denn in Ihren Gesprächen mit den Türken werden Sie immer wieder darauf stoßen, daß es sie gar nicht geben darf.
„Die Kurden — ein Volk, das es nicht geben darf", so hat auch Ulrich Tilgner einen Film über die Kurden genannt. Wir Mitglieder des Parlaments haben überhaupt kein Recht — ich begrüße es, daß das hier auch nicht geschehen ist —, die diplomatische Verneinung einer eigenständigen Kultur zu akzeptieren. Damit tasten wir die Frage der nationalen Integrität des jeweiligen Staates zwar nie an, aber wir stellen verschärft immer wieder die Frage nach der moralischen Integrität solcher Staaten, die mit ihren kulturellen Minderheiten so umgehen. Die ihre Minderheiten mit Krieg überziehen und es ihnen nicht erlauben, ihre Kinder in der eigenen Sprache zu unterrichten, ihre eigenen Lieder zu singen, ihre eigenen Dichter zu kennen und ihre eigene Geschichte zu lernen. Das sind die eigentlichen Probleme. Vielleicht können wir hier in einer ausführlichen Debatte einmal über die kurdische Kultur reden. Dann allerdings werden wir den türkischen Staat noch sehr viel schärfer und präziser angreifen müssen, als es in fünf Minuten möglich ist.

(Schäfer [Mainz] [FDP]: Nicht nur den türkischen!)

Meine Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung auf, die Bemühungen deutscher Organisationen, voran die des Roten Kreuzes, zu unterstützen, die hier in der Bundesrepublik eine ganz ausgezeichnete Arbeit für die kurdischen Flüchtlinge leisten. Ich darf hier einmal eine kleine Broschüre zeigen — ihr Erscheinen wäre in der Türkei unmöglich —, in kurdischer Sprache gedruckt, die den Kurden hilft, etwas zu tun, was sie in der Türkei nicht dürfen,

(Zuruf des Abg. Dr. Rose [CDU/CSU])

sich nämlich in ihrer Sprache — und viele können nur die kurdische Sprache — über wichtige Dinge im kulturellen, im sozialen Bereich schriftlich zu informieren.
Ich fordere die Bundesregierung auf, es der französischen Regierung gleichzutun und die kulturelle und soziale Arbeit der Kurden bei uns mit dem gleichen Selbstbewußtsein gegenüber dem Staat Türkei zu unterstützen, mit dem die französiche Regierung das tut. Ich glaube, dann wären wir der Lösung des Problems sehr viel näher.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Schäfer [Mainz] [FDP])


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009501600
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hoffmann.

Ingeborg Hoffmann (CDU):
Rede ID: ID1009501700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Probleme der Kurden kann man nur im Zusammenhang mit der Gesamtlage in der Osttürkei diskutieren. Ich meine, zu dieser Gesamtlage gehören auch die anderen Minderheiten, die in Ostanatolien leben. Frau Huber und Herr Schäfer haben schon gesagt, daß es unmöglich ist, in fünf Minuten die Gesamtproblematik dieser vielschichtigen Frage zu diskutieren. Ich werde mich deshalb bei meinem Beitrag ausschließlich mit der Situation dieser Minderheiten in der Osttürkei befassen.
Das Kerngebiet der syrisch-orthodoxen Christen liegt in Ostanatolien. Insgesamt kann man sagen, daß diese Menschen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart in ständiger Angst um ihre Existenz leben. Wegen ihrer landwirtschaftlichen, handwerklichen und kaufmännischen Tätigkeit sind sie häufig Ziel von Übergriffen. Sie leiden zudem — das ist für uns Europäer fast unvorstellbar — unter Mord, Frauenraub, Vieh- und Getreidediebstahl. Kurdische Terroristen überfallen ihre Dörfer. Dies ist leider nicht selten.
Bei meinem letzten Türkeiaufenthalt, meine Damen und Herren, sprach ich mit einem katholischen Priester. Dieser zeigte mir einen Hilferuf aus einem christlichen Dorf in der Osttürkei, das gerade von Kurden überfallen worden war und das Angst hatte, weitere Überfälle würden folgen, sich aber relativ sicher fühle, weil türkische Soldaten anwesend seien und sie verteidigen.

(Hornung [CDU/CSU]: Darüber sprechen die GRÜNEN nicht!)

Was aber, wenn diese abzögen?, so der Hilferuf dieser Christen.
Es ist auch eine kulturelle Unterdrückung zu beklagen.

(Zuruf des Abg. Duve [SPD])

— Es wäre gut, Sie würden sich als Christ auch mit der Frage der Christen in der Osttürkei befassen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Duve [SPD]: Ich habe ja gesagt, es gibt viele! Diese türkischen Christen sind in der gleichen Situation, sie sind Kurden!)

— Natürlich gibt es die, aber ich wollte jetzt nacheinander alle Minderheiten kurz behandeln.
Es ist eine kulturelle Unterdrückung zu beklagen. In der Schule ist eine Unterrichtung in ihrer eigenen Sprache, Geschichte und Kultur untersagt. Die einzigen Zufluchtsorte sind die kirchlichen Schulen, die wiederum vom Staat als illegal abgelehnt werden. So sind die syrisch-orthodoxen Christen fast vollständig isoliert.

(Duve [SPD]: In welcher Form mindert das das Leiden der Kurden?)




Frau Hoffmann (Soltau)

Dies stärkt ihren Wunsch nach Auswanderung und Abwanderung in westliche Gebiete der Türkei und nach Westeuropa.
Die zweite Gruppe, die Jesiden, sind ein relativ kleines Volk mit rund hunderttausend Menschen. In jüngster Zeit ist zu beobachten, daß sie aus mehreren Gebieten mit ehemals dichterer Konzentration ihrer Siedlungen vertrieben werden. Sie suchen als Flüchtlinge eine neue Heimat, vor allem in Europa.
Die Situation der Armenier ist gekennzeichnet durch eine stark repressive Kulturpolitik des Staates, und dies seit Jahrzehnten. Sie werden nur als ethnische, nicht aber als eine religiöse Minderheit anerkannt. Auf dem Papier genießen sie als ethnische Minderheit nur sehr schmale Rechte. Selbst die wenigen Rechte sind seit Anfang der 70er Jahre zunehmend eingeschränkt worden. Ganze Dörfer mit armenischer Bevölkerung wurden zwangsislamisiert. Kulturelle Belange können sie nur zu Hause pflegen, in der Öffentlichkeit dürfen sie sich nicht zu ihrer Kultur bekennen.

(Jungmann [SPD]: Wer macht das alles?)

— Ich möchte zur Versachlichung beitragen und hier die Dinge deutlich sagen. Ich habe als erste darum gebeten, daß wir uns auch mit den christlichen Repräsentanten in Istanbul unterhalten und die Gesamtlage erfahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Duve [SPD]: Sie können die Christen doch nicht mißbrauchen, das andere zu verharmlosen!)

Zugegeben, meine Damen und Herren, die Kurdenfrage ist die drückendste. Das ist das drückendste Problem geworden. Sie wehren sich gegen Zentralisierung und Verwestlichung ihrer Kultur. Zudem leiden sie unter einer schlechten medizinischen Versorgung, einer hohen Analphabetenrate, einer ökonomischen Unterentwicklung und einer ungerechten Bodenbesitzverteilung. Es bleibt festzuhalten, daß insgesamt in dieser schwierigen Lage ...

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009501800
Frau Abgeordneten, ich bitte, zum Schluß zu kommen.

Ingeborg Hoffmann (CDU):
Rede ID: ID1009501900
... auch dieses Gebiet, dieser Bereich berücksichtigt werden muß. Und hier ist es wichtiger, Wirtschaftshilfe zu leisten und dem türkischen Volk und der türkischen Regierung zu helfen, damit es diesen Menschen in Zukunft besser geht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Duve [SPD]: Wichtiger als Militärhilfe, hätten Sie dazusagen sollen!)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009502000
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt.

Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1009502100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Kurdenproblem stellt sich in den Grenzregionen nicht nur der Türkei, sondern auch des Iraks und des Irans, im Libanon, in Syrien und der Sowjetunion.

(Zuruf des Abg. Jungmann [SPD])

Wir haben es dabei mit einem der schwierigsten, vielschichtigsten und explosivsten Probleme der Gegenwart zu tun, das eine beträchtliche Sprengkraft für viele Staaten der Region besitzt. Die Türkei erkennt ein Kurdenproblem auf türkischem Boden nicht an. Sie unterdrückt alle kurdischen politischen Forderungen und Ansprüche auf Separatismus. Seit Atatürk 1923 die moderne Türkei gründete,

(Duve [SPD]: Separatist!)

sind Zentralismus und Nationalismus Grundprinzipien der türkischen Staatsauffassung.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: So ist es!)

Eine Desintegration des türkischen Staates durch ethnische Spannungen wird keine türkische Regierung hinnehmen.
Nach allem, was wir wissen — und vielleicht ist bei dem Thema die von dem Kollegen Schäfer angesprochene Behutsamkeit und Sachlichkeit angezeigt —, werden aber Kurden unter der Voraussetzung, daß sie sich als türkische Staatsbürger bekennen, nicht diskriminiert. Es wird niemand von staatlichen Organen verfolgt, nur weil er sich öffentlich als Kurde bezeichnet. Kurden haben immer wieder Zugang auch zu höchsten Staatsämtern gefunden.

(Duve [SPD]: Aber nicht zur kurdischen!)

Im Osten und Südosten der Türkei, dem Hauptsiedlungsgebiet der Kurden, wird auf der Straße kurdisch gesprochen.

(Zuruf des Abg. Jungmann [SPD])

Notverordnungsähnliche Regelungen aus den 20er Jahren, die den Gebrauch der kurdischen Sprache verboten hatten,

(Duve [SPD]: Schrift! Sie sprechen von der Schriftsprache!)

werden von den Behörden nicht mehr durchgesetzt. Allerdings darf Kurdisch an Schulen und Hochschulen nicht gelehrt werden.

(Duve [SPD]: Nicht gesprochen werden!)

Die Einfuhr im Ausland veröffentlichter Drucksachen, Schallplatten und ähnlicher Gegenstände in kurdischer Sprache ist offiziell verboten. Es gibt keine Minderheitsrechte für die türkischen Kurden.

(Duve [SPD]: Hört! Hört!)

Hierüber ähnlich behutsam und intensiv mit der türkischen Regierung zu sprechen, wie wir es in vergleichbaren Fällen mit anderen Regierungen an vielen Plätzen dieser Welt tun, ist zweifellos notwendig und sachdienlich. Ich habe nur den Zweifel, daß das so geschehen kann, wie es vom Antragsteller dieser Aktuellen Stunde begründet worden ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die ethnische Frage ist verbunden mit einer sozialen Frage, mit dem alten wirtschaftlichen und



Staatsminister Möllemann
sozialen West-Ost-Gefälle in der Türkei. Ost- und Südostanatolien sind die unterentwickeltsten Gebiete dieses Landes mit all den Folgen, die diese Aussage beinhaltet. Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Özal scheint sich der durch diese Lage gestellten Aufgaben bewußt zu sein. Bei der Förderung benachteiligter Provinzen soll die Osttürkei besonders berücksichtigt werden. Durch eine Politik der Arbeitsplatzförderung ist beabsichtigt, die Landflucht und die innere Emigration zu bremsen. Mitte Oktober fand unter Vorsitz von Staatsminister Özdaglar eine erste Sitzung zur Koordinierung der Förderung von Familienkleinbetrieben sowie von Infrastrukturvorhaben wirtschaftlicher und sozialer Art in Ostanatolien statt.
Nun zu den jüngsten Zusammenstößen im türkischen Grenzgebiet zum Irak. Nach den uns vorliegenden Informationen — auch da muß ich sagen: mit Vorbehalt — ergibt sich folgendes Bild: Nach etwa vier Jahren Ruhe wurden Mitte August erstmals wieder türkische Militäreinrichtungen im Grenzgebiet zum Irak von bewaffneten Personen angegriffen. Anfang Oktober, während der Besuche von Präsident Evren und von Ministerpräsident Ozal in Ostanatolien, erfolgten drei weitere Überfälle auf Militärpatrouillen und Fahrzeuge. 15 Offiziere und Soldaten haben dabei ihr Leben verloren. Mindestens acht Rebellen kamen bei diesen Zusammenstößen ums Leben.
Nach unseren Erkenntnissen steht hinter diesen Überfällen die Partei der Arbeiter Kurdistans (PKK). Die Zentralen der PKK, die auch in einem Bericht von amnesty international vom August 1981 als marxistisch-leninistisch charakterisiert wird, werden in Bagdad und in Damaskus vermutet.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Ausbildungslager und Einrichtungen sollen sich u. a. im türkisch-irakischen Grenzgebiet befinden. Dort werden mehrere Hundert bewaffneter Anhänger vermutet. Verbindungen soll die PKK außerdem zu den Anhängern des iranischen Kurdenführers Barzani und zu den Talabanikurden sowie zu der armenischen Terrororganisation Asala besitzen.
Das Aufflammen gewaltsamer Aktionen kurdischer Separatisten auf türkischem Staatsgebiet hat in der Türkei verständlicherweise großes Aufsehen erregt. Als Reaktion auf die Überfälle verstärkte die Armee ihre Präsenz im Grenzgebiet. Ich glaube, das wäre in jedem anderen Staat auch so. Ministerpräsident Ozal hat in einer Unterrichtung des türkischen Parlaments am 17. Oktober die Festnahme von 1 415 Personen bekanntgegeben. Davon seien 619 wieder freigelassen und 60 an die Militärbehörden übergeben worden. Der Rest werde noch verhört. Gleichzeitig betonte Ministerpräsident Ozal, daß türkische Truppen bisher nicht auf irakisches Gebiet vorgestoßen seien. Am vergangenen Wochenende hatte Ministerpräsident Ozal ausdrücklich eine angebliche Verminung der Grenzen und angebliche größere Evakuierungs- und Umsiedlungsaktionen in grenznahen Dörfern dementiert.
Auf Grund der angesprochenen Überfälle hat die türkische Regierung eine Reihe von außenpolitischen Aktionen unternommen. Am 13. und 14. Oktober besuchte Außenminister Halefoglu Bagdad. Es wird vermutet, daß von türkischer Seite — wie schon 1983 — darum gebeten wurde, türkischen Streitkräften die Genehmigung zur Verfolgung von Terroristen auf irakischem Gebiet bis zu einer bestimmten Tiefe zu erteilen. Bei ihren Beziehungen zum Irak — auch bei Fragen der Grenzsicherung — wird die Türkei stets darauf bedacht sein, ihre Neutralität im Golfkrieg zu wahren. Diese Politik setzt daher auch ihrer Kooperation mit dem Irak Grenzen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung keinen Anlaß, von einem Krieg der Türkei gegen die Kurden zu sprechen.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir sollten uns hüten, kleine militante Gruppierungen mit den Kurden in der Türkei gleichzusetzen.
Zum Schluß noch eine Bemerkung zu unserer NATO-Verteidigungshilfe. In allen Abkommen über Verteidigungsfähigkeit ist festgelegt, daß das von uns gelieferte Material ausschließlich im Einklang mit Art. 5 des Nordatlantikvertrages verwendet werden darf. In den 20 Jahren der Vergabe unserer Hilfe hat es bisher keinen Anlaß gegeben, einen Verstoß gegen diese Bestimmung zu vermuten.

(Zuruf des Abg. Jungmann [SPD])

— Nun möchte ich Sie, Herr Kollege Jungmann — das ist ja allmählich eine Übung, die man hier von Woche zu Woche durchführen muß —, doch einmal daran erinnern, daß die Verteidigungshilfe von der Vorgängerregierung auch noch zu einem Zeitpunkt gewährt wurde, in dem die Situation in der Türkei unter Menschenrechtsgesichtspunkten ganz sicher als schlechter anzusehen war.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Bei aller Kritik, die legitim ist, wird man nicht bestreiten wollen, daß es in den vergangenen zwei Jahren Verbesserungen gegeben hat. Ich unterstreiche: Wir möchten darauf hinwirken, daß es weitere gibt. Der Beitrag der Kollegin Hoffmann hat ja ein Feld aufgezeigt, auf dem es noch weitere Verbesserungen geben muß.
Ich möchte Sie daran erinnern, Herr Kollege Jungmann, daß es doch unser Kollege Matthöfer, der Ihrer Partei angehört, gewesen ist, der sich mit großen und verdienstvollen Bemühungen darum gekümmert hat, um weltweit Hilfe für die Türkei zusammenzubringen, und zwar noch zu einer Zeit, in der die Menschenrechtssituation in diesem Land sicherlich auch nicht besser war als heute. Dahinter steckte und steckt erstens die Überzeugung, daß wir durch den kritischen Dialog mit diesem Land mehr Einfluß auf die Politik dort ausüben können, als das durch ein Ausgrenzen geschehen kann. Dahinter steckte und steckt zweitens die Überzeugung, daß dadurch auch konkrete Verbesserungen eingetreten sind. Drittens steckte und steckt dahinter in der Tat die Überzeugung, daß wir den Partner Türkei in



Staatsminister Möllemann
der NATO zur Sicherung der Südostflanke brauchen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009502200
Das Wort hat Frau Abgeordnete Luuk.

Dagmar Luuk (SPD):
Rede ID: ID1009502300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hatte in ihrem Antrag zur Situation in der Türkei im April dieses Jahres erklärt:
Der Deutsche Bundestag sieht insbesondere die Forderung nach der Sicherung der Grund-und Menschenrechte, die dieser Bundestag 1981 aufgestellt hat, als noch nicht erfüllt an.
Diesen Antrag — daran erinnern wir uns alle — haben die Koalitionsfraktionen abgelehnt. Heute morgen sehen wir einmal mehr, wie ungerechtfertigt diese Ablehnung war und wie recht die Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten mit ihrer Einschätzung der Lage in der Türkei hatte.
Ich meine auch, daß heute morgen recht deutlich geworden ist, daß die Kurden unter den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei weitaus am meisten zu leiden haben. Wir haben schon wiederholt gehört, daß es in der Türkei nach dortiger Definition keine Minderheiten gibt, sondern nur Türken. Wer wie etwa Armenier oder Kurden das Recht auf eine eigene kulturelle, sprachliche oder religiöse Identität beansprucht, wer sich als Angehöriger einer Volksgruppe fühlt, der gilt als Separatist, als Gefahr für die Einheit der Nation und den Bestand der Republik.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Staatspräsident Evren hat erst Ende August vor den Streitkräften seines Landes jene Menschen als Verräter bezeichnet, die im Dienst böser Mächte stünden und deren Ziel die Zerstörung der türkischen Nation sei.
Die Minderheiten der Armenier und Kurden werden mit Entschlossenheit und, wie die gegenwärtigen Ereignisse im Grenzgebiet zum Irak zeigen, auch mit Brutalität assimiliert — was allerdings nicht mit Gleichberechtigung zu verwechseln ist. Nicht ohne Bitterkeit pflegte sich der jüngst verstorbene Filmemacher Yilmaz Güney einen „assimilierten Kurden" zu nennen.
Eine Politik der Gleichberechtigung aller Volksgruppen hätte längst helfen müssen, Kurden und Armenier mit der türkischen Republik zu versöhnen. Unterdrückung aber fördert nur Haß und Konflikte.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Unter zusätzlichen Menschenrechtsverletzungen zu leiden haben die kurdischen Yezidi, die auch schon erwähnt worden sind, eine religiöse Minderheit unter den Kurden selbst. Ihre ganz besonders hoffnungslose Lage sollte eigentlich zur Folge haben, daß wir ihnen unseren Schutz gewähren. Diesen Appell möchte ich von hier aus ganz ausdrücklich an den niedersächsischen Innenminister Möcklinghoff richten: Schieben Sie die kurdischen Yezidi, die bei Ihnen um Asyl gebeten haben, nicht ab.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Seien Sie so großzügig, wie es die verzweifelte Lage dieser Menschen gebietet, und dulden Sie sie weiter in Ihrem Bundesland.
Was Kurden hinter den Mauern türkischer Gefängnisse erdulden müssen, löst Empörung aus. Dies gilt nicht nur für die Lage in den Zivilgefängnissen, deren Alltag schon Menschenverachtung prägt, sondern insbesondere für die in den Militärgefängnissen. Eine deutsche Delegation unter der Leitung des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Hirsch hatte die Gelegenheit, das Gefängnis im Kurdenzentrum Diyarbakir zu besuchen. Sie berichtet, der gesundheitliche Zustand der Häftlinge habe an die Beschreibungen aus den KZ erinnert.
Wir sollten unsere Proteste hier nicht zur Routine werden lassen. Ich habe die Hoffnung, daß das auch nicht der Fall ist. Wir sollten unsere Proteste allerdings auch so emotional äußern, wie es notwendig ist, um sie auch bei denen, die in der Türkei die Macht haben, ankommen zu lassen und um die Freiheit insbesondere der politischen Häftlinge zu erreichen.
Die Politik der Bundesregierung darf sich nicht darin erschöpfen — insofern kann ich wirklich froh sein, daß hier seitens der Regierung etwas andere Töne angeschlagen worden sind, als von den Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß —, die Türkei für ihre Bemühungen zur Wiedererrichtung der Demokratie zu belobigen und gleichzeitig die Augen vor den Verfolgungen, den Folterungen und den Morden an der kurdischen Minderheit zu verschließen. Wenn es wahr ist, daß internationale Zusammenarbeit unter Freunden untrennbar mit dem Ziel verbunden sein muß, zu Fortschritten im Bereich der Menschenrechte zu gelangen, muß diese Bundesregierung ihren Einfluß auf die Türkei ausüben und sie drängen, trotz der zweifellos vorhandenen Vielzahl von Problemen bei der Demokratisierung nach der Ära der Militärdiktatur die Menschenrechte auch gegenüber den Kurden wieder in Kraft zu setzen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009502400
Das Wort hat der Abgeordnete Jäger (Wangen).

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1009502500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer der kurdischen Volksgruppe helfen will — und wer von uns will dieser Volksgruppe in der Türkei nicht helfen?; darin sind wir ja, wie die Debatte zeigt, alle einig —, muß zuallererst mit denen reden, die in der Türkei das Sagen haben, mit den türkischen Politikern, mit den Abgeordneten, mit der Regierung.

(Duve [SPD]: Aber auch mit den Kurden!)

Wer, meine Damen und Herren, nur mit Schaum vor dem Mund und mit ideologischen und klassenkämpferischen Parolen wie die Kollegen der GRÜNEN hier auftritt, der wird nicht mit den



Jäger (Wangen)

Türken reden können, und der wird nichts für die kurdische Minderheit zu erreichen imstande sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer der kurdischen Minderheit helfen will, meine Damen und Herren, der darf auch nicht, wie das die GRÜNEN tun, auf die NATO-Hilfe einschlagen. Denn wir haben doch gehört — und das kann auch niemand ernsthaft bestreiten —, daß die Probleme der Kurden aus jenen nationalistischen Bestrebungen heraus erwachsen sind, die mit dem Namen Kemal verbunden sind und die nicht abgeschwächt und gemildert, sondern verstärkt würden, wenn wir die Türkei aus der Solidarität der Atlantischen Gemeinschaft hinausstießen. Deswegen ist jede Bestrebung, die atlantische Hilfe ablehnt, keine Bestrebung zum Nutzen der Kurden, sondern nur zum Schaden der Kurden.

(Beifall von der CDU/CSU)

Wer mit den türkischen Kollegen redet, wie ich das im Europarat immer wieder tun kann, der muß das tun unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, zu denen sich ja auch die Türkei bekannt hat in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und wenn es uns gelingt, den Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, jene Bestimmung über das Verbot der Diskriminierung auch wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, wie es dort ausdrücklich heißt, in der Türkei durchzusetzen — das kann sicher nur allmählich geschehen —, haben wir die Chance, der kurdischen Volksgruppe, wirkungsvoll zu helfen.
Deswegen möchte ich an dieser Stelle an die türkische Regierung und an das türkische Parlament appellieren, doch in die Beratung darüber einzutreten, ob nicht auch die Türkei, wie es inzwischen fast alle anderen Mitgliedstaaten des Europarats getan haben, die individuelle Menschenrechtsbeschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg anerkennt und damit Einzelpersonen das Recht einräumt, sich an diese europäische Menschenrechts-Institution zu wenden. Auf diesem Wege könnten dann einzelne Kurden ihre Beschwerde vortragen und würden nicht in die Hände jener Terroristen getrieben, von denen Herr Staatsminister Möllemann vorhin gesprochen hat.
Meine Damen und Herren, das Schicksal der kurdischen Volksgruppe — und ich füge hinzu: das Schicksal vieler anderer Volksgruppen,

(Duve [SPD]: Volksgruppe? — Sieben Millionen Menschen!)

die Nachteile erleiden — ich würde mich gefreut haben, wenn die Damen und Herren der GRÜNEN auch einmal etwa an die deutschen Volksgruppen in Osteuropa gedacht hätten, von denen diese Damen und Herren aber nie reden —, in der Türkei erfordert unser Engagement, unsere Hilfe und unsere Aufmerksamkeit. Vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem türkischen Parlament und mit der von ihm getragenen Regierung sind unseres Erachtens dazu der beste Weg.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009502600
Das Wort hat der Abgeordnete Schneider (Berlin).

(Unruhe)

— Meine Damen und Herren, ich darf doch bitten, Platz zu nehmen. Wir haben noch drei Wortmeldungen abzuwickeln. Ich bitte doch um etwas mehr Ruhe.

Dirk Schneider (GRÜNE):
Rede ID: ID1009502700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Möllemann, Sie haben wieder einmal einen so richtig knochentrokkenen Staatsbericht gehalten, hinter dem die Wirklichkeit verschwindet, weil Sie sie aufzulösen verstehen in eine Reihe von nüchternen Zahlen und Fakten, die in einem krassen Gegensatz stehen z. B. zu dem leidenschaftlichen Engagement, das aus der Rede von Frau Luuk herausgeleuchtet hat. Aber in dieser Art, wie Sie das Problem behandelt haben, sind Sie auch an dem Kern der Sache weitgehend vorbeigegangen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Jäger (Wangen) hat sich wieder einmal hinter seinem Schild der Wohlanständigkeit versteckt und hat dort die schrecklichen „marxistischen Attacken" abblitzen lassen. Andere aus dem Regierungslager sind an der Sache völlig vorbeigegangen und haben von Minderheitenproblemen gesprochen und hier ethnische Kleindetails aufgetischt. Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß die Kurden, wenn man von ihrer Zahl ausgeht, keine Minderheit sind. Die Kurden sind in den drei Ländern Irak, Iran und der Türkei ungefähr 20 Millionen Menschen. In der Türkei sind es 7 bis 9 Millionen; auf diese Zahl werden sie geschätzt. Sie haben auch schon von dem türkischen Staat, weil sie in den Kriegen bei Atatürk mitgekämpft haben, einmal eine Autonomie und sogar einen eigenen Staat zugesprochen bekommen. Das ist ein Problem der Kurden mit den Türken, das man auch nicht durch Krieg oder durch Unterdrückung lösen kann, sondern nur politisch lösen, indem man ihnen Gleichberechtigung gibt, indem man den Kurden in der Türkei wirklich Menschenrechte einräumt, die Rechte auf ihre Kultur, die Rechte darauf, sich selbst verwirklichen zu können. All das wird von der türkischen Regierung nicht gewährt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Warum wird das jetzt plötzlich so aktuell, warum wird heute mit einer so starken militärischen Macht auf diese kurdische große Volksgruppe in der Türkei eingeschlagen? Sie wissen, die türkische Armee hat 570 000 Mann unter Waffen.

(Unruhe)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009502800
Einen Moment, Herr Abgeordneter. — Meine Damen und Herren, ich darf bitten, Platz zu nehmen und etwas mehr Ruhe zu bewahren.
Bitte sehr.




Dirk Schneider (GRÜNE):
Rede ID: ID1009502900
Zwei Drittel der über 570 000 Mann starken türkischen Armee sind heute in Kurdistan stationiert, und sehr viele sind an diesen Unterdrückungsmaßnahmen beteiligt, die in Härte und Brutalität gegen die kurdische Bevölkerung durchgeführt werden. Ich sage noch einmal, was ich in meinem ersten Beitrag gesagt habe: Der Grund hierfür ist der Druck der NATO-Partner, der Druck der USA, die Südflanke, die Südostflanke der NATO in der Türkei gegen die Sowjetunion auszubauen und militärisch zu stärken.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Dafür wird die ganze ungeheure Menge an militärischem Material hier hineingepumpt,

(Hornung [CDU/CSU]: Die Marine wird gegen die Kurden eingesetzt!)

und deswegen hat auch die Bundesregierung in dieser Frage wieder einmal Militärhilfe gewährt.
Unsere Auffassung ist, daß sich die deutsche Regierung mitschuldig macht an einem Völkermord in der Türkei,

(Klein [München] [CDU/CSU]: Hört doch auf mit so einem Quatsch!)

an Menchenrechtsverletzungen, und deswegen ist das kein Problem, das Sie in die Türkei zurückverlagern können, in irgendeinen vergessenen Winkel im Drei-Länder-Eck, sondern dieses Problem steckt direkt in der Moralität und in der Verantwortung dieser Regierung und dieses deutschen Staates.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Hornung [CDU/CSU]: Legt doch eine Schallplatte auf!)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009503000
Das Wort hat der Abgeordnete Schwarz.

Heinz Schwarz (CDU):
Rede ID: ID1009503100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was der Kollege Schneider hier am Schluß losgelassen hat, zeigt sehr deutlich die eigentliche Richtung dieses, Antrags.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU — Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)

In der Substanz geht es ihm nicht um die Kurden, in der Substanz geht es ihm darum, deutsche Innenpolitik mit diesem Menschen, mit diesem Problem zu machen.

(Duve [SPD]: Das haben Sie doch jetzt gerade gemacht! Es geht Ihnen gar nicht um die Kurden, es geht Ihnen um die GRÜNEN!)

— Ich glaube, das, was meine Kollegen hier vorgetragen haben, Herr Duve, zeigt sehr deutlich, was die Problematik hier ist.

(Duve [SPD]: Sagen Sie mal was zu den Kurden, und machen Sie keine Innenpolitik! — Unruhe)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009503200
Herr Abgeordneter, einen Augenblick. Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal um etwas mehr Ruhe bitten.

(Duve [SPD]: Kollege Schwarz, sagen Sie was zu den Kurden!)


Heinz Schwarz (CDU):
Rede ID: ID1009503300
Die Tatsache, mein lieber Herr Duve, daß Sie dauernd dazwischenschreien, zeigt doch, daß hier Akzente aufgezeigt werden, die Ihnen offensichtlich nicht sympathisch sind.

(Duve [SPD]: Nun sagen Sie mal was zu den Kurden!)

Meine Kollegen — so haben wir uns das abgesprochen —, der Kollege Pohlmeier und die Frau Kollegin Hoffmann, haben ganz klar gesagt, wie das Problem der Kurden bei uns gesehen wird.

(Duve [SPD]: Also geht es Ihnen auch um die Innenpolitik!)

Hier geht es um eine entscheidende Frage. Wir haben vor drei Wochen über die Türkei gesprochen. Vor drei Wochen hat der Kollege Reents gesagt: Es wird ein Krieg geführt gegen das kurdische Volk.

(Duve [SPD]: Sie blicken nicht mehr durch!)

Der Ministerpräsident der Türkei hat am 17. Oktober — Staatsminister Möllemann hat darauf hingewiesen — einen Situationsbericht in seinem Parlament gegeben.

(Duve [SPD]: Sagen Sie doch mal was zu den Kurden!)

Ich glaube, daß wir hier im deutschen . Parlament, statt mit den türkischen Parlamentariern zu reden, permanent über die Parlamentarier reden,

(Duve [SPD]: Über die Kurden! — Zurufe von der SPD)

daß wir den Dialog mit den türkischen Abgeordneten nicht suchen. Ich halte diesen Weg für falsch. Ich glaube, es ist dringend notwendig, daß wegen der Zusammenarbeit der Regierung auch die Parlamentarier beider Parlamente den Dialog suchen. Man sprach schon früher von der fernen Türkei, wo die Völker aufeinanderschlagen und über deren Bedingungen und Probleme das Wissen begrenzt ist. Hier wird seitens der GRÜNEN ein Problem im Grunde genommen mit dem Ziel hochgezogen, die türkische Regierung, die NATO und im Grunde genommen diese Bundesregierung zu treffen.

(Duve [SPD]: Im Grunde genommen haben Sie nichts gesagt!)

— Daß die Sozialdemokraten, Herr Duve, hier immer dazwischenschreien, zeigt, daß Sie — ich glaube, das hat Herr Staatsminister Möllemann sehr deutlich gesagt — jetzt so tun, als ob die NATO-Hilfe und die Zusammenarbeit mit der Türkei eine Erfindung dieser Regierung wären. Wir halten das, was wir jetzt tun, für vernünftig; das ist die kontinuierliche Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei nicht nur im Bereich der Militärhilfe, die Sie uns angekreidet haben, sondern auch im Bereich der Entwicklung dieses Landes.
Die türkische Regierung hat ein spezielles Programm entwickelt, um insbesondere dieser Region



Schwarz
der Türkei zu helfen, ein Entwicklungsprogramm im wirtschaftlichen Bereich, um die sozialen Bedingungen in dieser Region zu verbessern und um damit den Menschen in dieser Region, die Kurden sind, eine bessere Lebenschance zu geben. Ich hoffe, daß wir uns wenigstens darüber einig sind.
Sie sagen, das alles sei unannehmbar, weil dort gegen die Menschenrechte vorgegangen werde. Ich antworte Ihnen: Keine Regierung in der Türkei in den letzten Jahrzehnten hat sich so bemüht wie die jetzige Regierung, Schritt für Schritt die Demokratie zu verstärken und Menschenrechtsverletzungen abzubauen. Wie können wir denn, wenn wir einem Freund helfen wollen, uns so verhalten, daß wir, statt Hilfe zu leisten, alle drei Wochen nichts anderes tun, als — teilweise auf beleidigende Weise — über die Regierung, über die Menschen, über das Land zu reden? Ich finde, wir sollten, wie die Regierung es tut, zum Dialog mit dem Parlament kommen, damit wir nicht ständig über die Türkei und über die Türken, sondern mit den Türken reden.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009503400
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe noch einmal Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Burgmann und der Fraktion DIE GRÜNEN
Umweltfreundliche Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland
hier: Allgemeine Fragen
— Drucksache 10/1382, 10/1774 —
Heute ist über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2189 abzustimmen.
Das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Schäfer (Offenburg).

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1009503500
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion wird den Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 10/2189 in der namentlichen Abstimmung ablehnen.

(Zurufe von den GRÜNEN) Dies hat folgende Gründe:

Wir alle sorgen uns gerade in diesen Tagen um das Ansehen des Parlaments, um das Ansehen unserer parlamentarischen Demokratie. Zum Ansehen und zur Autorität des Parlaments gehört auch, daß wir unsere Entscheidungen sorgfältig beraten.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Dies gilt um so mehr, wenn es sich um Entscheidungen von grundlegender Bedeutung für die Zukunft
unseres Landes handelt, wenn wir der besonderen
Verantwortung für die nach uns kommenden Generationen gerecht werden wollen.

(Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

Das von der Fraktion der GRÜNEN beantragte Verfahren wird diesem Anspruch nicht gerecht. Bei Ihnen klaffen hier Anspruch und Wirklichkeit auseinander!

(Beifall bei der SPD — Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, sie legen kurzfristig einen Antrag zur Abstimmung vor, ohne dem Parlament ausreichende Beratungsmöglichkeiten einzuräumen. Ihnen geht es in Wirklichkeit in dieser Frage nicht um eine Entscheidung zur Sache,

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) sondern um einen reinen Schaueffekt!


(Beifall bei der SPD, der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Zurufe von den GRÜNEN)

Sie alle, das ganze Plenum und die deutsche Öffentlichkeit wissen genau: An der Haltung der Sozialdemokraten kann nicht gerüttelt werden.

(Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

Wir haben auf unserem Parteitag in Essen am 20. Mai dieses Jahres beschlossen — ich zitiere wörtlich —, „daß über die Versuchsanlage in Karlsruhe hinaus die Wiederaufarbeitung in der Bundesrepublik nicht weiterverfolgt wird". Am 22. Mai 1984 hat unsere Fraktion einen entsprechenden Antrag mit der gleichen Forderung im Deutschen Bundestag eingebracht. Dieser Antrag liegt zur Beratung den Ausschüssen vor. Unsere Position ist eindeutig: Mit uns wird es keine kommerzielle Wiederaufarbeitung geben. Ich füge hinzu: Wer von Plutoniumwirtschaft redet, wer sie will, kann sich nicht auf Beschlüsse meiner Partei berufen.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, wird in Bonn gestellt, zielt aber auf Hessen. Deswegen will ich aus einer Erklärung des hessischen Wirtschaftsministers Ulrich Steger zitieren. Ich zitiere:
Nach dem Gesetz muß alles getan werden, damit — —

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009503600
Herr Abgeordneter, darf ich Sie unterbrechen. Ich bitte Sie, sich an § 31 der Geschäftsordnung zu halten und nicht zur Sache zu sprechen.

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1009503700
Zur Abstimmung, Entschuldigung. Ich zitiere:
Nach dem Gesetz muß alles getan werden, damit der Mißbrauch von Kernbrennstoffen für militärische Zwecke ausgeschlossen wird. Dies muß ich sicherstellen. Deshalb gibt es keinen Marsch in die Plutoniumgesellschaft, aber auch keinen Marsch in die Aussteigergesellschaft. Die Entsorgung über die Wiederaufarbeitung von Brennelementen ist überflüssig.



Schäfer (Offenburg)

So der hessische Wirtschaftsminister Ulrich Steger.
Es gelingt Ihnen nicht, meine Damen und Herren, die SPD in Bund und Ländern auseinanderzudividieren. Meine Fraktion lehnt das Verfahren, das Sie mit Ihrem Antrag praktizieren, ab.

(Beifall bei der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009503800
Ich erteile das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten Burgmann.

Dieter Burgmann (GRÜNE):
Rede ID: ID1009503900
Meine Damen und Herren, wir haben diesen Antrag gestellt in Zusammenhang mit der Debatte über die Energieversorgung, die wir gestern geführt haben, und in Zusammenhang mit aktuellen Entwicklungen, die zur Zeit ablaufen. Es ist nach der Geschäftsordnung zulässig, über diesen Antrag direkt abzustimmen. Das ist nach unserer Einschätzung auch notwendig, weil hier konkrete Sachzwänge vorliegen, zu entscheiden, bevor vollendete Tatsachen geschaffen werden. Wir haben hier schon sehr lange über sehr vieles in den Ausschüssen diskutiert. Auch in Sachen Geschwindigkeitsbegrenzung hat sich j a herausgestellt, daß dieses Parlament sehr oft debattiert, in den Ausschüssen berät, während vollendete Tatsachen, in diesem Fall das Sterben des Waldes, sich vollziehen. Wir meinen, daß hier gehandelt werden muß, ehe wieder vollendete Tatsachen geschaffen werden. Die vollendete Tatsache wäre in diesem Fall ein weiterer Schritt in die Plutoniumwirtschaft.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009504000
Herr Abgeordneter, ich darf Sie unterbrechen. Ich bitte, hier auch nur zur Abstimmung etwas zu erklären und nicht zur Sache zu sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter Burgmann (GRÜNE):
Rede ID: ID1009504100
Mir geht es in diesem Zusammenhang wie wohl manchem, wenn wir überlegen, wie wir uns zu neuen Technologien stellen. Da hat mancher von uns schon vor einem Problem gestanden, daß er sich fühlt wie Goethes Zauberlehrling und sich sagt: Die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los. Nirgends, bei keinem Punkt ist mir dieser Eindruck so massiv vor Augen — —

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009504200
Herr Abgeordneter, ich ermahne Sie noch einmal, sich zur Abstimmung zu erklären und nicht zur Sache zu sprechen.

Dieter Burgmann (GRÜNE):
Rede ID: ID1009504300
Ich erkläre mich zur Abstimmung. Ich erkläre, warum ich die Abstimmung über diesen Antrag befürworte. Denn gerade in der Plutoniumwirtschaft geht es uns wie dem Zauberlehrling: Die Geister, die wir hier rufen, werden wir nicht los, und zwar über Jahrtausende nicht los.

(Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)

Wir werden in diesem Hause noch rufen nach dem Meister, der uns wieder von diesen Geistern befreit. Deshalb kann ich nur ganz herzlich an alle appellieren...

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009504400
Herr Abgeordneter, ich mache Sie darauf auf – - -
Burgmann (GRÜNE) ..., dem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1009504500
Meine Damen und Herren, die Fraktion der GRÜNEN verlangt gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Wer dem Entschließungsantrag auf Drucksache 10/2189 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die JaKarte, wer dagegen stimmt oder sich der Stimme enthalten will, den bitte ich, die entsprechende Abstimmungskarte in eine der hier vorne aufgestellten Urnen zu legen.
Ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, ich frage, ob ein Mitglied seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat.
— Ich frage das letzte Mal, ob jemand seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat. — Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Ich bitte damit einverstanden zu sein, daß wir bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses in die Behandlung der nächsten Tagesordnungspunkte eintreten.
— Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe Punkt 28 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu der Verfassungsstreitsache 2 BvE 2/84 — Organklage der Bundespartei DIE GRÜNEN betreffend das Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze vom 22. Dezember 1983
— Drucksache 10/2171 —
Berichterstatter: Abgeordnete Bohl Dr. Emmerlich
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wird zur Berichterstattung das Wort gewünscht?
— Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Mir liegen keine Wortmeldungen vor.

(Widerspruch der Abg. Frau Nickels [GRÜNE])

Ich schließe die Aussprache und komme zur Abstimmung.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Nein!)

— Einen Augenblick, wir sind in der Abstimmung.
— Wer der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 10/2171 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist damit angenommen.



Vizepräsident Wurbs
Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversicherung (Arbeitsförderungs- und Rentenversicherungs-Änderungsgesetz)

— Drucksache 10/2176 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Für die Aussprache sind zwei Stunden vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Herr Abgeordneter Müller, Sie sprechen auch gleich zur Sache? — Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Sie haben das Wort.

(Vorsitz: Vizepräsident Frau Renger)


Adolf Müller (CDU):
Rede ID: ID1009504600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP bringen heute gemeinsam einen Gesetzentwurf zur Änderung der Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversicherung ein. Damit verfolgen wir drei wichtige Ziele: Erstens. Der Arbeitslosenversicherungsschutz älterer Arbeitnehmer soll spürbar verbessert werden. Zweitens. Wir wollen einer Ausnutzung der Solidargemeinschaft durch Arbeitnehmer, die ihre Arbeitslosigkeit schuldhaft herbeigeführt haben, zukünftig effektiver entgegenwirken. Drittens. Wir werden den Beitragssatz in der Rentenversicherung um 0,2 Prozentpunkte geringfügig erhöhen, um ihn in der Arbeitslosenversicherung um die gleichen 0,2 Prozentpunkte zu ermäßigen, so daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber hierdurch nicht zusätzlich belastet werden.
Absoluten Vorrang hat die Verbesserung des Arbeitslosenversicherungsschutzes älterer Arbeitnehmer. Deshalb soll mit Wirkung vom 1. Januar 1985 die Höchstdauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld auf 18 Monate verlängert werden. Bisher war dieser Anspruch auf höchstens 12 Monate begrenzt. Begünstigt werden Arbeitnehmer, die bei Eintritt der Arbeitslosigkeit bereits das 49. Lebensjahr vollendet haben. Gestaffelt nach der Dauer ihrer beitragspflichtigen Beschäftigung wird sich die Dauer ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld verlängern.
Da die überwältigende Mehrheit der älteren Arbeitnehmer in den letzten sieben Jahren vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes mindestens sechs Jahre lang beitragspflichtig beschäftigt war, wird sich für sie die Dauer des Arbeitslosengeldbezuges ab dem 1. Januar 1985 sofort um ein halbes Jahr auf 18 Monate verlängern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Auch diejenigen älteren Arbeitnehmer, die schon
vor Inkrafttreten dieser Novelle arbeitslos geworden sind, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld aber
noch nicht erschöpft ist, werden von der Besserstellung profitieren können.
Seit dem Machtverlust fördert die ehemals führende Regierungspartei SPD in ihren Reihen und auch gegenüber der Öffentlichkeit einen Verdrängungsprozeß und möchte ihr früheres Arbeitsmarktpolitisches Versagen in ein gnädiges Dunkel tauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Egert [SPD]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)

Deshalb müssen die Fakten von damals auf den Tisch, damit vor der Erblast der Vergangenheit die heutige Arbeitsmarktlage zutreffend beurteilt werden kann.
Ich weiß, meine Damen und Herren von der SPD, daß ich bei Ihnen heftige Proteste auslöse, wenn ich Ihnen folgende Daten vor Augen führe: Als wir am 1. Oktober 1982 die Regierungsverantwortung übernahmen, mußten wir uns mit einem explosionsartigen Zuwachs der Arbeitslosigkeit auseinandersetzen. In den letzten zwei Jahren Ihrer Regierungsverantwortung, also von Oktober 1980 bis zum Oktober 1982, nahm die Zahl der Arbeitslosen rapide um über eine Million zu; mit wachsendem Tempo stieg sie von 888 000 auf 1 920 000. Dank unserer umfassenden wirtschafts-, haushalts- und sozialpolitischen Anstrengungen ist es uns innerhalb von zwei Jahren gelungen, das Tempo des Anstiegs der Arbeitslosigkeit im Jahre 1983 deutlich zu verlangsamen und in diesem Jahr schließlich zum Stillstand zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Neuerdings gibt es einen Hoffnungsschimmer. Die Bundesanstalt für Arbeit hat zwar Ende September immer noch 2,14 Millionen Arbeitslose registriert, aber noch aussagefähiger als der statistische Rückgang der Arbeitslosenzahl um 60 000 gegenüber dem Vormonat ist die Tatsache, daß die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl im September wieder um 6 000 gefallen ist.
Als Sozialpolitiker verhehle ich nicht, daß mir neben der Zahl vor allem die Struktur der Arbeitslosen große Sorgen bereitet. Für einzelne Gruppen von Arbeitnehmern verschärfen sich die Probleme der Arbeitslosigkeit, je länger diese auf hohem Niveau stagniert. Ältere Arbeitslose werden meistens mit mehreren Handicaps konfrontiert, die ihre Wiedereinstellungschancen erheblich vermindern. Viele sind gesundheitlich angeschlagen, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse können häufig nicht mehr mit dem sich dynamisch wandelnden Anforderungsprofil moderner Arbeitsplätze Schritt halten. Deshalb ist allmählich ein harter Kern von meist älteren Arbeitslosen angewachsen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind.
Diese bedenkliche Entwicklung schlägt sich in der Struktur der Leistungsempfänger der Bundesanstalt für Arbeit deutlich nieder. Der Anteil der Bezieher von Arbeitslosengeld ist seit dem Jahre 1983 deutlich zurückgegangen. Er liegt heute nur noch bei rund 35% aller registrierten Arbeitslosen. Ohne daß der Gesetzgeber in diesem Zeitraum eine



Müller (Remscheid)

Änderung der Vorschriften beschlossen hätte, ist es allein durch die Arbeitsmarktlage zu einer schleichenden Ausgrenzung von Leistungsempfängern aus dem System der Arbeitslosenversicherung gekommen.

(Buschfort [SPD]: Dank der CDU/CSU! — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das haben doch Sie gemacht!)

Wenn man sich den Lebenslauf von älteren Langzeitarbeitslosen anschaut, dann stellt man fest, daß die allermeisten von ihnen über Jahrzehnte hinweg in einem unterunterbrochenen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Sie haben damit als Mitglieder der Solidargemeinschaft ebensolange treu ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt. Es muß diese Arbeitslosen nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes wie ein doppelter Schock treffen, daß sie bereits nach einjähriger Beschäftigungslosigkeit ihren Versicherungsanspruch auf Arbeitslosengeld verlieren und danach auf die vom Ergebnis einer Bedürftigkeitsprüfung abhängige Arbeitslosenhilfe angewiesen sind.
Das Problem der älteren Langzeitarbeitslosen ist mit besonderer Schärfe in diesem Jahr zutage getreten. Wir sind heute in der Lage, die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung der kommenden Jahre einigermaßen zuverlässig abzuschätzen. Damit können der finanzielle Rahmen und die Aktionsmöglichkeiten der Sozialversicherungsträger abgesteckt werden. Auf der Basis dieses gesicherten Datenkranzes hat die Koalition der Mitte deshalb unverzüglich gehandelt. Hauptsächlich wegen einer bewußt vorsichtigen Kalkulation der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen konnte die Bundesanstalt für Arbeit nach jahrelangen Defiziten erstmals wieder ausreichende Rücklagen erwirtschaften.

(Hornung [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Sie wird am Ende dieses Jahres voraussichtlich 3,1 Milliarden DM in ihren Kassen haben. Dieses finanzielle Polster verschafft uns den nötigen Spielraum für eine gezielte Verbesserung des Instrumentariums des Arbeitsförderungsgesetzes.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Längere Sperrfristen z. B.!)

Es wird die Lage eines besonders schutz- und hilfsbedürftigen Personenkreises sofort und nachhaltig verbessern.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, daß der Gesetzgeber hier unter relativ großem Zeitdruck schnellwirkende Einzelmaßnahmen ergreifen muß. Die CDU/CSU versteht sie als einen ersten Schritt in Richtung auf eine stärkere Differenzierung der Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes. Zukünftig sollte die Dauer der vor Beginn der Arbeitslosigkeit zurückgelegten beitragspflichtigen Beschäftigungszeiten die Dauer des Versicherungsanspruchs bestimmen. Damit trüge man dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit Rechnung und befände man sich zugleich auch im Einklang mit den Kriterien des Versicherungsprinzips. Wer über Jahrzehnte hinweg
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, darf mit Fug und Recht eine längere Unterstützung durch die Solidargemeinschaft erwarten als derjenige, der ihr vielleicht erst drei Jahre als Versicherter angehört.
Diese wichtige Änderung des Systems der Versicherungsleistungen im Arbeitsförderungsgesetz wird man nicht von heute auf morgen verwirklichen können. Wir benötigen nämlich hierfür zunächst einen computergerechten Aufbau sämtlicher Beitragskonten der bei der Bundesanstalt für Arbeit versicherten Arbeitnehmer, wie dies bei den Rentenversicherungsträgern schon heute der Fall ist. Die Bundesregierung hat uns wissen lassen, daß sie die notwendigen vorbereitenden Maßnahmen alsbald in die Wege leiten wird. Wir begrüßen diese Absicht ausdrücklich, und ihre Realisierung werden wir nachdrücklich unterstützen.
In einem engen sachlichen Zusammenhang mit der personenbezogenen Ausweitung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung steht eine Änderung des AFG, die noch effektiver als bisher mögliche Leistungsmißbräuche verhindern soll. Einem Arbeitslosen, der seine Arbeitslosigkeit ohne triftigen Grund, d. h. durch willkürliche Kündigung, schuldhaft selbst herbeigeführt hat, droht bereits nach geltendem Recht eine Sperrfrist von acht Wochen.

(Frau Potthast [GRÜNE]: Leider!)

Diese Sanktion soll vor dem Hintergrund einer gegenwärtig auf hohem Niveau stagnierenden Arbeitslosigkeit auf zwölf Wochen verlängert werden. Es ist eigentlich ein Gebot des Eigeninteresses, einen gesicherten Arbeitsplatz nicht leichtfertig durch Kündigung aufs Spiel zu setzen. Wer heute das Risiko der Arbeitslosigkeit ohne sichere Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle durch eine willkürliche Kündigung freiwillig auf sich nimmt,

(Frau Potthast [GRÜNE]: Der muß einen wichtigen Grund haben!)

handelt zugleich unsolidarisch gegenüber der Versichertengemeinschaft.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr richtig! — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!)

Er bürdet ihr ohne Not zusätzliche finanzielle Lasten auf. Dieses Verhalten muß angesichts der äußerst angespannten Finanzlage von Hunderttausenden von Langzeitarbeitslosen mit einer verschärften Sperrfrist deutlicher als bisher geahndet werden.
Meine Damen und Herren, ich wende mich jetzt dem zweiten Teil unseres Gesetzentwurfs zu, nämlich der Veränderung der Beitragssätze in der Rentenversicherung und nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Durch verantwortungsloses Krisengerede haben SPD-Politiker vor allem im Vorfeld der nordrhein-westfälischen Kommunalwahl für negative Schlagzahlen über die Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung gesorgt.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Wie bitte? — Lebhafte Zurufe von der SPD)




Müller. (Remscheid)

Eine besonders unrühmliche Rolle spielte dabei der Sozialminister von Nordrhein-Westfalen, Farthmann.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Er verstieg sich zu der düsteren Prophezeiung einer angeblichen Rentenpleite.

(Egert [SPD]: Da hat er recht!)

Einige Sozialexperten der SPD-Bundestagsfraktion haben dabei fleißig mitgemischt. Es wird deutlich, welche Ziele mit derartigen sogenannten Aufklärungskampagnen à la SPD verfolgt werden.

(Zurufe von der SPD)

Man will den älteren Mitbürgern, die mit den gesetzlichen Grundlagen und den komplizierten finanziellen Verhältnissen nicht vertraut sind, Angst einj agen.

(Abg. Egert [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009504700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Adolf Müller (CDU):
Rede ID: ID1009504800
Nein.

(Lebhafte Zurufe von der SPD)

— Herr Kollege Egert, ich bin bei der Einbringung eines Gesetzentwurfs. Da sind Zwischenfragen nach meinem Wissen nicht zulässig.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009504900
Herr Kollege, da muß ich Sie noch einmal fragen. Mir wurde gesagt, daß damit gleichzeitig die Aussprache eröffnet ist.

(Egert [SPD]: Sie bringen keinen Gesetzentwurf ein, sondern polemisieren! Unmöglich ist das!)


Adolf Müller (CDU):
Rede ID: ID1009505000
Ich lasse keine Zwischenfragen zu.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009505100
Das ist eine andere Sache. Dann fahren Sie bitte fort.

Adolf Müller (CDU):
Rede ID: ID1009505200
Diese Angst um ihre materielle Existenz, so hofft man, soll sich in Wahlstimmen für die SPD auszahlen. Möglicherweise hat der Vorsitzende der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Walter Quartier, übrigens ein Gewerkschaftler, der kraft seines Amtes zur Objektivität verpflichtet ist, diese Panikmache mit Entschiedenheit zurückgewiesen.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Welcher Partei gehört er denn an?)

Jede Rente, meine Damen und Herren, wird Monat für Monat, wie das Gesetz es befiehlt, pünktlich gezahlt. Kraft gesetzlichen Auftrages ist jede Bundesregierung verpflichtet, dies unter allen denkbaren Umständen zu garantieren. Die von uns 1982 und 1983 beschlossenen Sanierungsmaßnahmen haben zwar den drohenden finanziellen Kollaps der Rentenversicherung abgewendet. Der Bund mußte seine Garantie nicht mit zusätzlichen Milliardenbeiträgen einlösen. Trotzdem muß die gesetzliche Rentenversicherung noch immer eine finanzielle
Durststrecke überwinden. Denn es ist ihr bis heute leider noch nicht gelungen, ausreichende finanzielle Polster für vorübergehende Liquiditätsengpässe anzusammeln. Die unbefriedigende Beschäftigungslage und auch die immer noch andauernden Strukturveränderungen bei der Zahl und der Dauer der gezahlten Renten spielen dabei eine gewichtige Rolle. Sie erschweren unsere Bemühungen, das Schiff der Rentenversicherung soweit flottzumachen, daß wieder eine beruhigende Sicherheitsmarge an liquiden Mitteln besteht.

(Heyenn [SPD]: Im Moment liegt es auf Grund!)

Dann brauchten wir uns wegen unterjähriger Liquiditätsschwankungen auf Grund unregelmäßiger Beitragseingänge keine Gedanken zu machen.
Die SPD fordert die Bemessung der von der Bundesanstalt für Arbeit für ihre Leistungsempfänger zu zahlenden Rentenversicherungsbeiträge nach dem früheren — vor Eintritt der Arbeitslosigkeit tatsächlich gezahlten — Arbeitsentgelt.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der SPD: Das ist doch sehr vernünftig!)

Allerdings bleibt sie eine überzeugende Antwort auf die Frage schuldig, wie die dann entstehenden Defizite der Bundesanstalt für Arbeit gedeckt werden sollen.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sie können doch nicht zu Lasten der Arbeitslosen konsolidieren!)

Ihr Hinweis auf den Bundeszuschuß ist nichts anderes als eine verschleierte Rückkehr zur katastrophalen Schuldenpolitik, die in entscheidendem Maße für die Finanzkrise der Sozialversicherungsträger mit verantwortlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Pfui-Rufe von der SPD)

Sie haben offensichtlich immer noch nicht begriffen, daß kein Zweig der Sozialversicherung von den überwiegend strukturbedingten Problemen des deutschen Arbeitsmarktes verschont bleibt.

(Zuruf von der SPD: Ein schöner Satz!)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf einen weiteren Grund hinweisen. Die aktuelle Entwicklung der Löhne und Gehälter aller versicherungspflichtigen Arbeitnehmer hat leider nicht zur Erleichterung der Finanzprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung beigetragen.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Deswegen ist Herr Blüm für eine Lohnpause!)

Kurz vor Abschluß der diesjährigen Tarifrunde steht fest, daß 1985 und auch 1986 die Bruttoentgelte der Versicherten wesentlich geringer ansteigen werden, als allgemein zu Beginn dieses Jahres angenommen worden ist. Denn abweichend von ihrer früheren Praxis haben Arbeitgeber und Gewerkschaften in der diesjährigen Tarifrunde vereinbart, den Zuwachs der Wertschöpfung unserer Volkswirtschaft in weitaus stärkerem Maße als frü-



Müller (Remscheid)

her für Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich in Anspruch zu nehmen. Das hat zwangsläufig Folgen für zusätzliche nominale Lohnerhöhungen. Sie fallen, wie das Beispiel der Metallindustrie zeigt, deutlich niedriger als in füheren Jahren aus.

(Kolb [CDU/CSU]: Die Rentner kriegen jetzt mehr!)

Ein reales volkswirtschaftliches Plus läßt sich eben nur einmal verteilen.
Es liegt mir fern, die autonome Entscheidung der Tarifvertragsparteien zu kritisieren.

(Zuruf von der SPD: Das wäre ja noch schöner!)

Ein negatives Urteil wäre schon deshalb nicht angebracht, weil die Tarifabschlüsse dieses Jahres zunächst einmal die Lohnstückkosten der deutschen Wirtschaft senken und damit einen Beitrag zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit leisten. Das kann in den kommenden Monaten positive Impulse für die Beschäftigungslage auslösen, deren Ausmaß sich heute allerdings kaum quantifizieren läßt.
Eine vorausschauende und verantwortungsbewußte Politik darf sich nicht auf solche unbestimmten Hoffnungen stützen. Es ist deswegen notwendig und vernünftig, das Zurückbleiben der tatsächlichen Beitragseinnahmen hinter den ursprünglichen Annahmen durch eine geringfügige Anhebung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung um 0,2 Prozentpunkte auszugleichen. Weder den Arbeitnehmern noch den Unternehmen entstehen hierdurch finanzielle Nachteile. Denn durch die gleichzeitige Senkung des Beitragssatzes zur Bundesanstalt für Arbeit bleibt die Gesamtbeitragsbelastung unverändert.
Die Bundesanstalt für Arbeit kann den Rückgang ihrer Beitragseinnahmen um knapp 1,4 Milliarden DM

(Zuruf des Abg. Egert [SPD])

trotz finanzieller Mehraufwendungen für die Langzeitarbeitslosen durchaus verkraften. Abgesichert durch die Finanzpolster der Rücklagen in Höhe von 3,1 Milliarden DM, braucht sie in den kommenden Jahren nicht zu befürchten, wieder zum Kostgänger des Bundes zu werden. Ihrem neuen Haushaltsentwurf liegt eine realistische Planung der Einnahmen und Ausgaben zugrunde.
Ergänzend zu den Beitragssatzänderungen treffen wir folgende Vorsorgemaßnahmen. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte kann im Fall vorübergehender und kurzfristiger Liquiditätsengpässe in den kommenden Jahren einen zinslosen Betriebsmittelkredit des Bundes bis zur Höhe von 5 Milliarden DM in Anspruch nehmen. Damit wird die ohnehin kraft Gesetzes bestehende abstrakte Bundesgarantie für die Praxis der Rentenversicherung konkretisiert und anwendbar gemacht.
Der Bundesminister der Finanzen und der Bundesarbeitsminister sind sich darüber hinaus einig, daß die für den Haushalt 1985 vorgesehene Regelung, falls erforderlich, in den folgenden Jahren wiederholt werden kann.
Mit diesem Maßnahmebündel erbringt die Koalition der Mitte den Beweis, daß sie kurzfristig entstehende Probleme schnell und überzeugend lösen kann.
Dabei tragen wir den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung, indem wir jede zusätzliche Belastung von Wirtschaft und Beitragszahlern vermeiden.
Unsere Politik trägt bereits jetzt reichlich Früchte.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Die Konsolidierung der Staatsfinanzen und der Systeme der sozialen Sicherheit hat die wirtschaftliche und finanzielle Lage des einzelnen Arbeitnehmers spürbar verbessert.

(Zuruf von der SPD: Wo denn?)

Alle Anzeichen sprechen dafür, daß sich der von uns eingeleitete Aufschwung im kommenden Jahr fortsetzen wird. Wir haben allen Anlaß, mit Optimismus in die überschaubare Zukunft zu blicken.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Egert [SPD]: Das war eine miese Rede!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009505300
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1009505400
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es war wenig überzeugend, was eben begründet wurde. Es ist wenig überzeugend, daß wir bei einer Regierung, die angetreten ist, die Belastung der Arbeitnehmer nicht zu erhöhen, jetzt vor der dritten Beitragserhöhung in dieser Legislaturperiode stehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Und die Belastungen?)

Ich kann dazu nur sagen: Dies ist Flickschusterei.

(Beifall bei der SPD)

Dies ist nicht nur die Woche der Herrenausstatter in Bonn, sondern es ist auch die Woche der Flickschusterei.

(Zuruf von der SPD: Flickwerk! — Pohlmann [CDU/CSU]: Billige Verbindung!)

Ich kann Ihnen, sehr verehrter Herr Arbeitsminister, den Vorwurf oder die Bezeichnung nicht ersparen, daß Sie der oberste Flickschuster in dieser Nation sind.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Herr Arbeitsminister, Sie haben Ihr Talent in dieser Woche gleich zweimal unter Beweis gestellt. Zum einen: Flickschusterei bei der Hinterbliebenenversorgung.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Reden Sie mal zur Sache!)




Heyenn
Darüber wird noch zu reden sein.

(Kolb [CDU/CSU]: Die ist besser als die eurige!)

Unser heutiges Thema ist, die Rentenversicherung vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren. Wenn der Herr Kollege Müller davon gesprochen hat, daß man mit diesem Gesetz das Schiff der Rentenversicherung wieder flottmachen wolle, so kann ich ihm darauf nur antworten: Dies reicht nicht. Es muß Wasser unter dem Kiel sein. Das Schiff ist zur Zeit auf Grund.

(Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Die Bundesgarantie wird ausgefüllt!)

Ich will das Urteil über diesen Gesetzentwurf vorwegnehmen: Er ist untauglich. Die erneute Verschiebung von Geldern zwischen der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung ist eine Politik, die wir Sozialdemokraten ablehnen.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Ihr habt doch Verschiebebahnhöfe gebaut!)

Was hat denn der Herr Bundesarbeitsminister noch vor wenigen Tagen gesagt? Am 2. Oktober — das ist noch nicht einmal einen Monat her — ließ er den Regierungssprecher verkünden: Die gesetzliche Rentenversicherung wurde nicht nur aktuell aus der Gefahrenzone gebracht. Auch langfristig wurden die Weichen für eine Stabilisierung gestellt. Die Renten sind wieder sicher.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Wer hat das gesagt?)

— Das hat Norbert Blüm dem Regierungssprecher am 2. Oktober dieses Jahres sagen lassen.

(Zuruf der CDU/CSU: Das stimmt ja auch!)

end was hat der Arbeitsminister selbst gesagt? Er sagte am 1. Oktober vor dem Bundesausschuß seiner Partei: Wir werden die Probleme in der Rentenversicherung nicht auf dem alten Verschiebebahnhof lösen, sondern dort, wo sie auftreten.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Genau das hat er getan! — Kolb [CDU/CSU]: Wir sind aus eurem Verschiebebahnhof heraus!)

Was aber tut er? Er verschiebt! Sowohl das Eigenlob als auch die Absage an den Verschiebebahnhof, Herr Kolb, sind vier Wochen später verstummt. Sie kennen den Entwurf, der uns vorliegt.

(Zuruf der CDU/CSU: Das ist ja gar nicht wahr!)

Der vermeintliche Retter der Rentenversicherung erlebt sein rentenpolitisches Waterloo. Er setzt seine Karriere als Vorsteher des sozialpolitischen Verschiebebahnhofs fort. Dies ist die rentenpolitische Wirklichkeit des Norbert Blüm.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Bislang haben wir nur eine Aneinanderreihung von Schlagworten gehört!)

Mit all seinen flotten Sprüchen und hohlen Phrasen hat er lange seine Unfähigkeit überdeckt, eine solide Sozialpolitik zu betreiben. Aber spätestens heute bei der dritten Beitragserhöhung in der Ren-
tenversicherung in dieser Legislaturperiode geht jedem auf: Der Arbeitsminister hat den Mund wieder einmal zu voll genommen. Er hat nichts als kurzatmige Krisenpolitik zuwege gebracht. Wie hat er denn nach dem Regierungswechsel hier im Bundestag gesprochen? Es hieß: Meine Sozialpolitik orientiert sich an Prinzipien und ist nicht manipulativ.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: So ist es! Das hat er bewiesen!)

In der Realität hat er sich seither durchgewurstelt. Die Finanzen der Sozialkassen hat er heruntergewirtschaftet.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr habt sie geplündert!)

Herr Bundesarbeitsminister, Sie versuchen, von Ihrem eigenen Versagen durch Polemik abzulenken. Dann muß wieder — wie bei Herrn Müller eben auch — das Argument von der angeblichen Erblast herhalten.

(Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: So ist es j a auch!)

Dieses Argument bringen Sie doch immer nur, wenn Sie mit Ihrem Latein am Ende sind.

(Beifall bei der SPD)

Soll ich einmal in Ihr Gedächtnis zurückrufen, wie es mit der Rentenversicherung am Ende der sozialliberalen Koalition bestellt war?

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Ganz mies!)

Wir hatten am Ende des Jahres 1982 eine ausreichende Liquidität. Die Schwankungsreserve lag Ende 1982 bei zwei Monatsausgaben.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

Herr Blüm und meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie waren es, die unmittelbar nach dem Regierungswechsel 5 Milliarden DM von den Rentenkassen in den Bundeshaushalt verschoben haben.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: So ist es!)

Wenn Sie sagen, Herr Quartier — der j a nicht nur Vorstandsvorsitzender der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und Vertreter der DAG,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein guter Mann!)

sondern auch Ihr Parteifreund ist — warne vor Panikmache, so muß ich Ihnen zugleich sagen, daß dieser Herr Quartier auch ausführt, ohne die Wegnahme der Beiträge aus der Arbeitslosenversicherung und Verschiebung auf die Rentenversicherung gebe es heute bei den Rentenfinanzen keine Schwierigkeiten.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Das war doch eine Mogelpackung!)

Wir haben von Anfang an vor diesem Schritt gewarnt. Sie haben die Rentenversicherung mit der Verringerung der Beitragszahlungen wieder von der Arbeitslosigkeit abhängig gemacht.

(Kolb [CDU/CSU]: Sie haben eine Mogelpackung gebaut!)




Heyenn
Solange Sie das nicht rückgängig machen, lieber Herr Kolb, so lange werden Sie im Bereich der Rentenfinanzen keine Ruhe haben.

(Zustimmung bei der SPD — Weiterer Zuruf des Abg. Kolb [CDU/CSU])

Sie können diese Löcher in der Rentenversicherung nicht schließen. Das haben die letzten zwei Jahre doch deutlich gezeigt.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

Zahlreiche schmerzliche Eingriffe in die Rentenversicherung zu Lasten der Rentner haben die Renten um kein Jota sicherer gemacht.

(Kolb [CDU/CSU]: Herr Kollege, dann zahlt doch der Steuerzahler die Renten!)

Was muß also passieren? Sie müssen die volle Beitragsleistung für die Arbeitslosen von der Arbeitslosenversicherung an die Rentenversicherung wiederherstellen.

(Beifall bei der SPD)

Und da kommt Herr Müller her und fragt: Wie ist es denn mit der Deckung? Herr Müller, ich wundere mich, daß Ihnen diese Frage einfällt, wenn es um Rentner mit 700 DM Rente im Monat geht, daß Sie sich diese Frage aber nicht gestellt haben, als es um 20 Milliarden DM für die Landwirte ging.

(Beifall bei der SPD -Hornung [CDU/ CSU]: Unverschämt!)

— Das ist nicht unverschämt. Die Rentenversicherung lebt auf Pump. Die laufenden Ausgaben müssen zur Zeit auf dem Kapitalmarkt gedeckt werden — einmalig in der Geschichte, Premiere durch Norbert Blüm in der über 100jährigen Geschichte der deutschen Rentenversicherung.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Verschuldung heißt das! Schuldenmacher! — Kolb [CDU/ CSU]: Da gab es einen Kanzler, der hat gesagt: Die Sparkasse müssen wir leermachen! — Jagoda [CDU/CSU]: Das war der große Weltökonom!)

Sie versuchen, dieses selbstverschuldete Dilemma anderen in die Schuhe zu schieben, u. a. den Gewerkschaften. Sie wollen von Ihrem Versagen ablenken. Und die Gewerkschaften werden in ihrem Kampf um die 35-Stunden-Woche zu Sündenbökken abgestempelt. Aber genauso dumm und töricht, wie es ist, die Gewerkschaften für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich zu machen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer macht das denn?)

ist es auch, sie mit den Löchern in der Rentenversicherung in Zusammenhang zu bringen;

(Beifall bei der SPD)

denn der gewerkschaftliche Kampf um die 35-Stunden-Woche ist und bleibt ein Kampf um mehr Beschäftigung. Und mehr Beschäftigung, Herr Kolb, bedeutet auch mehr Beiträge in der Rentenversicherung.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Dann kriegen die Rentner Freizeit! — Pohlmann [CDU/CSU]: Herr Heyenn, das glauben Sie doch selber nicht!)

Unter dem Strich kann für die Rentenversicherung durch eine Verkürzung der Arbeitszeit mehr herauskommen. Nur setzt das voraus, daß die Aktiven wegen der Arbeitszeitverkürzung keine allzu hohen Lohneinbußen erleiden.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Mehr Lohn und mehr Freizeit!)

Diesen Zusammenhang hat Herr Blüm bewußt verwischt.
Aus Ihrer Verantwortung, Herr Blüm, hätten Sie dafür eintreten müssen, daß die Verkürzung der Arbeitszeit keine nachteiligen Folgen für die Rentenkassen hat. Aber Sie haben genau das Gegenteil gefordert. Erst haben Sie sich für eine Lohnpause ausgesprochen — Gott sei Dank ist Ihnen niemand gefolgt; denn sonst wären die Löcher in der Rentenversicherung sehr viel früher entstanden und sehr viel größer geworden —,

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Ja!)

und dann haben Sie die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit mit vollem Lohnausgleich verteufelt. Ich weiß nicht, Herr Arbeitsminister, ob Sie nicht merken, wie widersprüchlich dieses Bild ist.
Meine Damen und Herren, die Verantwortung für diese Rentenmisere — Renten auf Pump, Renten über Darlehen auf dem Kapitalmarkt — können Sie nicht anderen in die Schuhe schieben. Dafür tragen Sie allein die Verantwortung.

(Egert [SPD]: Sehr wahr!)

Und es gibt nur einen Ausweg — ich wiederhole mich hier bewußt —: Die Rentenversicherung darf nicht länger mit dem Arbeitsmarktrisiko belastet werden. Es müssen wieder volle Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden.

(Beifall bei der SPD — Egert [SPD]: Das ist ein vernünftiger Vorschlag! — Pohlmann [CDU/CSU]: Wer wollte denn auf 70 % herunter?)

— Meine Fraktion wollte das nie.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Denken Sie mal an Ihren Arbeitsminister Ehrenberg! — Kolb [CDU/CSU]: Wo ist er?)

Wir haben noch im September 1982 durch Eugen Glombig von diesem Pult aus sagen lassen, daß wir dies ablehnen.

(Beifall bei der SPD)

Aber Sie haben offenkundig nichts gelernt aus der Vergangenheit.

(Egert [SPD]: Das ist wahr!)

Der Verschiebebahnhofsvorsteher Norbert Blüm hat in der Vergangenheit doch immer wieder gefordert — soll ich Ihnen das aus den Reden hier vorlesen? —, das Hin- und Herrangieren zu beenden. Ich



Heyenn
meine, er soll seine eigenen Worte mal ernst nehmen.

(Jagoda [CDU/CSU]: Macht er doch! — Pohlmann [CDU/CSU]: Sie nehmen wir nicht ernst!)

Die strukturelle Maßnahme, die Wiederherstellung der Beitragsleistungen, ist die entscheidende und nötige, um die Renten sicher zu machen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn ich mir die Berechnungen mit dem erhöhten Beitragssatz von 18,7 % ansehe, fällt auf, daß schon im September nächsten Jahres 1 Milliarde DM von der notwendigen Liquiditätsreserve fehlen wird — eine halbe Monatsausgabe. Im Oktober nächsten Jahres werden 3,8 Milliarden DM, im November 5,9 Milliarden DM fehlen. Im Dezember wird es dann durch die Einmalzahlungen wieder etwas besser aussehen. Wenn Sie uns trotzdem vorgaukeln, daß die Rentenversicherung über den Berg sei, streuen Sie den Rentnern Sand in die Augen.

(Dreßler [SPD]: Leider wahr!)

Die Wahrheit ist: Weder die Erhöhung des Beitragssatzes auf 18,7 % noch das erneute Vorziehen des Bundeszuschusses sichern die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung im nächsten Jahr.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

Auch das zinslose Betriebsmitteldarlehen — Zinsen durch den Bundeshaushalt — löst dieses Problem nicht. Denn auch im kommenden Jahr wird die Bundesanstalt für Arbeit Mittel auf dem Kapitalmarkt aufnehmen müssen,

(Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Die Bundesanstalt für Arbeit hat Rücklagen!)

ebenso die Bundesanstalt für Angestellte

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht ablesen!) — Vielen Dank.

Dies ist dann der absolute Tiefpunkt in der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung.
Ich halte es für ein Unding, daß dem Bundestag diese untauglichen Maßnahmen überhaupt vorgelegt werden.

(Kolb [CDU/CSU]: Welche würden Sie denn vorschlagen?)

— Ich habe es schon dreimal gesagt, ich sage es gerne ein viertes Mal: Wiederherstellung der vollen Beiträge. Die Koalitionsfraktionen mögen sich abfinden mit dem, was hier passiert. Ich empfinde es als Zumutung, daß hier ein derartig untaugliches Flickwerk präsentiert wird.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009505500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolb?

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1009505600
Gerne.

Elmar Kolb (CDU):
Rede ID: ID1009505700
Herr Kollege Heyenn, ist Ihnen bewußt, daß Sie, wenn Sie Ihre Regelung einführen wollen, den Steuerzahler über die Bundesanstalt für Arbeit indirekt die Renten bezahlen lassen?

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1009505800
Herr Kollege Kolb, mir ist bekannt, daß wir, die sozialliberale Koalition, das Risiko der Arbeitslosigkeit durch die Bundesanstalt für Arbeit haben tragen lassen. Mit unserer gesetzlichen Regelung wären die Rentenfinanzen heute noch in Ordnung. Sie haben das zum Nachteil aller verändert.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Aber der Steuerzahler bezahlt! — Pohlmann [CDU/CSU]: Herr Heyenn, wie groß war denn das Loch bei der Bundesanstalt für Arbeit?)

— Melden Sie sich zu einer Zwischenfrage, aber lassen Sie das andere.
Ihre Berechnungen beruhen im übrigen auf Zahlen, die geschönt sind. Das Herbstgutachten der Konjunkturforscher hat in dieser Woche bestätigt, daß es mit einer Zunahme der Beschäftigung um 0,2 % wohl nichts werden wird. Dort redet man von einer Stagnation.

(Feilcke [CDU/CSU]: Das freut Sie aber, was?)

— Nein, aber ich habe mich doch nüchtern mit den Tatsachen auseinanderzusetzen und nicht immer wieder neue schöne Zahlen zu präsentieren, um ein halbes Jahr später dem Parlament die nächste Beitragserhöhung vorzulegen.

(Feilcke [CDU/CSU]: Nicht nüchtern, sondern hämisch!)

Wenn es null Prozent sind, plus/minus null, dann sind die Rentenfinanzen noch stärker im Keller, als ich das Ihnen heute vorgerechnet habe.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist doch wahrscheinlich!)

Die gesetzliche Rentenversicherung ist ja nun seit Jahren im Gerede. Ich will offen zugeben: Auch wir waren daran nicht ganz schuldlos.

(Feilcke [CDU/CSU]: Aha! „Nicht ganz"!)

Was wir aber seit dem Regierungswechsel erleben, erschüttert dieses Vertrauen in die Rentenversicherung aufs schärfste: kurzatmiges Lavieren, ständiges Verschieben von Lasten zwischen Rentnern und Beitragszahlern, zwischen den einzelnen Zweigen der Rentenversicherung und der Sozialversicherung insgesamt. Dies führt zu Verunsicherung. Wenn diese Politik nicht endlich aufhört, dann wird der Bürger sein Vertrauen in die Rentenversicherung insgesamt letztendlich verlieren.
Herr Kollege Blüm, ich lese in der „Welt" vom 24. Oktober — die steht uns wirklich nicht nahe —: „In der Rentenversicherung bahnt sich eine gigantische Geldschneiderei an ... Blüms Jongleurkünste". Wir fordern Sie auf: Hören Sie auf, beenden Sie diese gigantische Geldschneiderei! Schaffen Sie wieder Vertrauen, Sicherheit in den einzelnen Systemen, wie es zu unseren Zeiten vorhanden war! Zahlen Sie wieder die vollen Beiträge für die Arbeitslosen an die Rentenversicherung!



Heyenn
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD — Pohlmann [CDU/ CSU]: 13 Milliarden minus in der Bundesanstalt für Arbeit!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009505900
Bitte schön, Herr Abgeordneter Cronenberg.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1009506000
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal — und zwar nicht nur an die Adresse des Kollegen Heyenn, sondern selbstverständlich auch an die Adresse des Bundesarbeitsministers — möchte ich eine kleine Klarstellung vornehmen, indem ich aus dem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache — 1974 in der DDR erschienen — einiges zitiere. Im Zusammenhang mit „Verschiebebahnhof" heißt es daselbst: Dieses würde bedeuten, die Verhältnisse wieder in Ordnung bringen. Man beruft sich in diesem Zusammenhang auf Bebel.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU)

Verschiebebahnhof — meine verehrten Damen und Herren, das habe ich schon einmal von dieser Stelle gesagt —

(Dreßler [SPD]: Seit wann bezieht sich Cronenberg im Plenum auf die DDR? Das ist ja toll!)

ist ja an sich eine sehr sinnvolle Institution: Dort werden Waggons auf richtige Gleise gebracht. Was man sagen will, ist doch etwas ganz anderes. Man will prüfen, ob hier möglicherweise Falsches getan wird, Finanzmassen von einem Versicherungssystem ins andere unsystematisch verschoben werden, und das geschieht in der Tat mit diesem Gesetz nicht.
Nun zum Gesetz mit dem Namen Arbeitsförde-rungs- und Rentenversicherungs-Anderungsgesetz.

(Dreßler [SPD]: Das ist ein schrecklicher Name! Auch ein unwahrer Name!)

Mit Verlaub gesagt: ein schrecklicher Name.
Zur Sache selbst. Es geht darum, einen Problemkreis im Zusammenhang mit der Alterssicherung zu lösen, den ich kurzfristige Liquiditätssicherung nennen möchte.

(Dreßler [SPD]: Das war aber beschönigt!)

Wir möchten heute nicht über das Problem der Hinterbliebenenversorgung reden, ein Problem der Rentenversicherung, mit dem wir uns auch noch zu beschäftigen haben, und auch nicht über die langfristigen Strukturprobleme unserer Rentenversicherung. Ich möchte ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß wir in den Maßnahmen, die wir Ihnen heute vorschlagen, keine Ansätze für die Lösung der langfristigen Strukturprobleme sehen, und bitte Sie, dies bei der Beurteilung der vorgeschlagenen Maßnahmen zu berücksichtigen. Bei der Strukturreform zur langfristigen Sicherung des Rentensystems gilt es auf die veränderten Rahmenbedingungen — stark ansteigender Rentneranteil, stark steigender Anteil von weiblichen Beschäftigten, die demographische Entwicklung und andere
Faktoren — Rücksicht zu nehmen. Wir schlagen Ihnen zur Lösung der kurzfristig anstehenden Probleme vor, die Beiträge in der Rentenversicherung um 0,2 % anzuheben und, was wichtig ist, die Bundesgarantie für die Rentenversicherung zu konkretisieren.
Lassen Sie mich vorab einige Bemerkungen über die Ursachen, die zu dieser Liquiditätsschwierigkeit geführt haben, machen. Die Bundesregierung ist in ihrem Rentenanpassungsbericht von deutlich höheren Entgeltsteigerungen für die Jahre 1984 und 1985 ausgegangen. Die Lohnabschlüsse des Jahres 1984 liegen, was die nominale Erhöhung der Entgelte anbelangt, unter diesen Annahmen. Was die Wertigkeit der Tarifabschlüsse anbelangt, so liegen diese durchaus im Rahmen der Prognosen. Mit der Wertigkeit meine ich die Kosten für die Unternehmen, die sich aus der Lohnerhöhung plus Arbeitszeitverkürzung ergeben. Wie jedermann weiß, kann der Produktivitätsfortschritt nur einmal verfrühstückt werden. Bei den diesjährigen Tarifvertragsverhandlungen ist ein Teil in Form von höherem Lohn und ein anderer Teil in Form von Arbeitszeitverkürzung vereinbart worden. Bemessungsgrundlage für die Beiträge in der Rentenversicherung ist aber nun einmal der Lohn und nicht die Freizeit.
Ich darf also feststellen, Kollege Heyenn, daß die aufgetretenen Probleme maßgeblich auf die Arbeitszeitverkürzung zurückzuführen sind. Diese Feststellung ist nicht neu. Während der Tarifvertragsverhandlungen habe ich immer wieder auf diese Problematik aufmerksam gemacht, und man muß dies auch bei zukünftigen Tarifvertragsabschlüssen berücksichtigen. Es geht nicht an, daß letztendlich die Tarifvertragsabschlüsse, weil mehr Freizeit und weniger Lohnerhöhung vereinbart wird, auf Kosten der Rentenversicherung, d. h. in letzter Konsequenz auf Kosten der Rentner, gehen.
Sie wissen, meine Damen und Herren, wie hartnäckig — einige sagen sogar: stur — sich die Freien Demokraten für Beitragsstabilität in der Sozialversicherung einsetzen. Wir tun das, weil wir überzeugt sind, daß die Belastung der Arbeitnehmer ohnehin an der Grenze des Erträglichen angelangt ist. Jedermann weiß, daß der Unterschied zwischen dem brutto Verdienten und dem netto Ausgezahlten erschreckend groß ist. Wir tun dies auch, weil wir der festen Überzeugung sind, daß der Preis für Arbeit nicht verteuert werden darf. Die Verteuerung des Faktors Arbeit, auch und gerade durch Sozialversicherungsbeiträge, fördert die ohnehin erschreckend zunehmende Schwarzarbeit. Genaugenommen sind Sozialversicherungsbeitragserhöhungen ein — wie soll ich sagen? — Schwarzarbeitsförderungsgesetz,

(Buschfort [SPD]: Und so etwas macht ihr!)

und aus diesem Grunde haben wir uns sehr nachhaltig für den anderen Teil des vorliegenden Gesetzentwurfes, nämlich die Beitragssenkung in der Arbeitslosenversicherung, eingesetzt.
Man darf also feststellen, daß die Senkung der Beiträge in der Arbeitslosenversicherung und die Erhöhung der Beiträge in der Rentenversicherung



Cronenberg (Arnsberg)

für den einzelnen Arbeitnehmer und für die Arbeitgeber kostenneutral sind.
Trotz der Senkung der Beiträge in der Arbeitslosenversicherung ist es möglich, eine Leistungsverbesserung für ältere Arbeitslose vorzunehmen, auf die ich später noch zu sprechen komme.
Die These, daß teure Arbeit, zu teure Arbeit, Ursache eines Teils unserer Strukturprobleme und somit Ursache hoher Arbeitslosigkeit ist, hat Professor Schiller am 3. September in seinem Interview dankenswerterweise deutlich gemacht. Verehrte Kollegen von der SPD, Ihr Bundesgeschäftsführer Glotz hat diese These vor der Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen — ebenfalls in der richtigen Erkenntnis, daß bei uns die Arbeit zu teuer ist — ebenfalls verbreitet,

(Dreßler [SPD]: Nun zitieren Sie mal richtig!)

und da ich annehme, daß es sich dabei nicht nur um Streicheleinheiten für ein paar selbständige Genossen handelt,

(Dreßler [SPD]: Das sind 40 000, nicht ein paar!)

sollte die ganze Partei diese richtige Erkenntnis akzeptieren und konsequenterweise diesem Gesetzesvorschlag zustimmen.
Kollege Dreßler, wenn Sie das Zitat hören wollen,

(Dreßler [SPD]: Ich bitte darum!) kann Ihnen geholfen werden. Glotz wörtlich:

Wenn ich sage, die Arbeit sei zu teuer, dann
meine ich nicht, die Löhne seien zu hoch,

(Dreßler [SPD]: Aha!)

sondern ich meine, daß die gesamtwirtschaftliche und soziale Last auf dem Faktor Arbeit zu schwer ist.

(Buschfort [SPD]: Und jetzt erhöhen Sie sie weiter! — Dreßler [SPD]: Ja, Sie erhöhen sie weiter!)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, seitdem ich mich im Deutschen Bundestag mit der Rentenproblematik beschäftige, glaubt die jeweilige Opposition, parteipolitisches Kapital aus der Verunsicherung der Rentner zu schlagen. Die einzige Entschuldigung dafür, daß Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dieses Instrument benutzen, ist, daß Sie das von den Kollegen der CDU/ CSU gelernt haben. Sonst gibt es wirklich keine Entschuldigung für ein solches Verhalten!

(Zurufe von der SPD)

Die Zahlung der Renten ist gesichert. Jedermann, der die Rentenversicherung ein wenig von der Sache her kennt, weiß, daß in § 1384 der RVO die Garantie des Bundes für die Rentenversicherungsträger festgelegt ist. Damit aber die letzten Zweifel an dieser Bundesgarantie und auch einige Beanstandungen des Rechnungshofes wegen vorzeitiger Zahlung von Bundeszuschüssen an die Rentenversicherung ausgeräumt werden, haben wir eine Konkretisierung der Bundesgarantie für notwendig gehalten. Dabei ist es doch nicht mehr als normal, daß der Bund seinen Verpflichtungen dann nachkommt, wenn die Beitragseinnahmen nicht besonders hoch sind, ohne daß damit das Gesamtzuschußvolumen verändert würde.
Natürlich halte auch ich eine höhere — und zwar liquide — Schwankungsreserve für erforderlich. Leider sind die Mittel zum Teil langfristig festgelegt. Nun, das ist nicht mehr zu ändern. Deswegen ist es auch zu verantworten, daß der Bund kurzfristig mit bis zu 5 Milliarden DM aushilft. Und das ist wichtig. Zinsbelastungen entstehen der Rentenversicherung dadurch nicht.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009506100
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1009506200
Selbstverständlich, bitte.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009506300
Herr Abgeordneter Kirschner!

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1009506400
Herr Kollege Cronenberg, wenn Sie heute unsere Vorschläge zur vollen Wiederherstellung der Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung für die Arbeitslosen ablehnen bzw. wenn Sie dies bereits im vorletzten Haushaltsgesetz vollzogen haben, können Sie mir eigentlich einmal den Grund dafür nennen, warum Sie in der sozialliberalen Koalition dies damals gemacht haben?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1009506500
Herr Kollege Kirschner, wenn Sie sich die Ausführungen des Kollegen Glotz, Ihres Bundesgeschäftsführers, in denen er genau das zum Ausdruck bringt, was ich eben gesagt habe, nämlich „keine Verteuerung des Faktors Arbeit", deutlich vor Augen führen, müssen Sie mir zugeben, daß der von Ihnen gemachte Vorschlag nur dazu führt, daß die Arbeitslosenversicherungsbeiträge zu Lasten des Preises für Arbeit kräftig erhöht werden, was Arbeitsplätze kostet.

(Zuruf von der SPD: Warum eigentlich?)

Deswegen erinnere ich an den Vorschlag der alten Regierung, die j a einmal die Idee gehabt hat, sowohl bei den Leistungsansprüchen in der Rentenversicherung als auch bei den Abgaben der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherungsträger etwa 70 % zur Grundlage zu machen.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sind Sie bereit, das mitzumachen, Herr Cronenberg?)

Da hätten Leistungsanspruch und Beitragszahlung übereingestimmt. Das ist das Ziel. Bei dieser Gelegenheit fordere ich den Bundesarbeitsminister gleich auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Differenz, die wir jetzt haben, im Zusammenhang mit der Strukturreform beseitigt wird.
Meine Damen und Herren, ich bin leider in Zeitdruck und muß mir also einige Bemerkungen ersparen.

(Dreßler [SPD]: Nicht nur in Zeitdruck!)




Cronenberg (Arnsberg)

Ich möchte in diesem Zusammenhang aber noch einmal ganz deutlich machen, daß dieses Programm zur Liquiditätssicherung nicht die langfristigen Probleme unserer Rentenversicherung löst und daß diese Aufgabe vor uns liegt. Wir haben die Lösung in dieser Legislaturperiode zu beginnen, um sie in der nächsten zu einem hoffentlich guten Abschluß zu bringen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß die FDP, insbesondere Wolfgang Mischnick, seit langer Zeit der Auffassung war und ist, daß die Arbeitslosen, die lange in der Arbeitslosenversicherung Beiträge gezahlt haben, auch länger Arbeitslosengeld empfangen müssen. In Verfolgung dieser Idee ist der Leistungszeitraum für ältere Arbeitslose gestaffelt verlängert worden. Dies entspricht sicher noch nicht den Vorstellungen der Freien Demokraten. Aber wir sehen in dieser sozialpolitisch sicher gerechtfertigten Maßnahme einen Einstieg und hoffen, daß es dem Bundesarbeitsminister recht bald gelingt, den Grundsatz, Beitragszeit und Leistungszeit müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen, in der Arbeitslosenversicherung durchzusetzen und uns bald konkrete Vorschläge vorzulegen.
An dieser Stelle möchte ich nicht verhehlen, daß ich für die älteren Arbeitslosen ein ungelöstes Problem sehen. Nur ein Teil der Arbeitslosengeldberechtigten erhält Arbeitslosenhilfe. Es erscheint mir in diesem Zusammenhang notwendig, eine Überprüfung der Bedürftigkeitsregelungen vorzunehmen.
Lassen Sie mich auch ein offenes Wort zur Verlängerung der Sperrfrist für Selbstkundiger sagen. Die Begründung für diese Verlängerung ist exakt die gleiche wie beim AFKG, das wir am 12. November 1981 verabschiedet haben. Wir meinen, daß derjenige, der in der derzeitigen Situation sein Arbeitsverhältnis selbst kündigt, ohne die Sicherheit eines neuen Arbeitsplatzes zu haben, das sich aus diesem seinem Verhalten ergebende Risiko nicht auf die Solidaritätsgemeinschaft abwälzen darf. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß die bisherigen Ausnahmeregelungen, z. B. die Kündigung aus wichtigem Grund, hiervon unberührt bleiben.

(Beifall bei der FDP)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie aus dem vorliegenden Gesetz ersehen, sind die Beitragserhöhungen befristet. Es ist und bleibt unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß diese Befristung nicht nur ein frommer Wunsch bleibt, sondern daß sie wirklich Realität wird. Die Grundvoraussetzung hierfür ist, daß wir die Bedingungen für Arbeit verbessern. Dies kann nur dadurch geschehen, daß wir die Konsolidierungspolitik konsequent fortsetzen und keine unverantwortlichen Leistungsausweitungen, wo auch immer, vornehmen. Das Ergebnis des sparsamen Haushaltens sowohl in den öffentlichen Haushalten wie in den Sozialhaushalten ist eine erfreulich niedrige Inflationsrate. Wie schon neulich in der Aktuellen Stunde dargelegt, mir sind niedrige Rentenerhöhungen bei niedrigen Inflationsraten dreimal lieber als hohe Rentenerhöhungen, aber unterhalb der Inflationsraten. Dies bedeutet nämlich im Ergebnis Kaufkraftverlust für den einzelnen Rentner. Auch die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, durch niedrige Tarifabschlüsse ihren Solidaritätsbeitrag für die Arbeitslosen zu leisten.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Und was ist dann mit den Rentenbeiträgen?)

Dies gilt insbesondere für den öffentlichen Dienst, der j a de facto null Arbeitsplatzrisiko hat.
Frau Kollegin Fuchs, weniger Lohnerhöhungen für die Beschäftigten, bezahlbarer Preis für Arbeit ist eine entscheidende Voraussetzung für zusätzliche Einstellungen. Das hilft den Arbeitslosen. Mehr Beschäftigte aber bedeuten eine höhere Gesamtlohnsumme, und die ist entscheidend für die Beitragszahlungen, nicht die Beitragsleistung des einzelnen, sondern die Gesamtlohnsumme. Lassen Sie uns durch mehr Beschäftigte die Gesamtlohnsumme steigern, dann haben Sie auch die wünschenswerten Mehreinnahmen in den Sozialversicherungssystemen. So kann man also in diesem Zusammenhang, Frau Kollegin Fuchs, wieder mal feststellen, ein wenig weniger ist mehr, und dafür möchten wir plädieren.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009506600
Meine Damen und Herren, ich darf zwischendurch noch ein Abstimmungsergebnis bekanntgeben. Bei der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN: abgegebene Stimmen 465, keine ungültigen Stimmen, mit Ja haben gestimmt 20, mit Nein haben gestimmt 442, Enthaltungen 3 Stimmen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 465; davon
ja: 20
nein: 442
enthalten: 3
Ja
DIE GRÜNEN
Frau Dr. Bard Burgmann
Drabiniok
Dr. Ehmke (Ettlingen) Fischer (Frankfurt) Frau Dr. Hickel Horacek
Hoss
Dr. Jannsen
Kleinert (Marburg) Krizsan
Frau Nickels
Frau Potthast
Frau Reetz
Sauermilch
Schily
Schneider (Berlin) Frau Schoppe Stratmann
Verheyen (Bielefeld)

Nein
CDU/CSU
Dr. Abelein
Dr. Althammer
Frau Augustin
Austermann
Bayha
Dr. Becker (Frankfurt) Berger
Frau Berger (Berlin)

Biehle
Dr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Böhm (Melsungen)

Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen
Borchert Boroffka Breuer
Broll



Vizepräsident Frau Renger
Brunner
Bühler (Bruchsal)

Dr. Bugl Buschbom
Carstens (Emstek) Carstensen (Nordstrand) Clemens
Conrad (Riegelsberg)

Dr. Czaja Dr. Daniels
Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger Dolata
Doss
Dr. Dregger
Echternach
Ehrbar
Eigen
Engelsberger
Erhard

(Bad Schwalbach)

Dr. Faltlhauser
Feilcke Fellner Frau Fischer
Fischer (Hamburg) Francke (Hamburg)
Dr. Friedmann
Ganz (St. Wendel)

Frau Geiger
Dr. Geißler
Dr. von Geldern
Dr. George
Gerlach (Obernau) Gerstein
Gerster (Mainz)

Glos
Dr. Göhner
Götzer
Günther Dr. Hackel
Dr. Häfele
von Hammerstein
Hanz (Dahlen)

Haungs
Hauser (Esslingen)

Hauser (Krefeld)

Freiherr Heereman
von Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig
Helmrich Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höpfinger Dr. Hoffacker
Frau Hoffmann (Soltau) Dr. Hornhues
Hornung
Frau Hürland
Dr. Hüsch Dr. Hupka
Jäger (Wangen)

Jagoda
Dr. Jahn (Münster)

Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung (Lörrach)

Kalisch Dr.-Ing. Kansy
Keller
Kiechle Kittelmann
Klein (München)

Dr. Köhler (Duisburg)

Dr. Köhler (Wolfsburg)

Dr. Kohl Kolb
Kraus
Dr. Kreile Krey
Frau Krone-Appuhn
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz (Weiden) Lamers
Dr. Lammert
Landré
Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs
Link (Diepholz)

Link (Frankfurt) Linsmeier Lintner
Dr. Lippold Löher
Lohmann (Lüdenscheid) Dr. h. c. Lorenz
Louven
Lowack
Maaß
Magin
Marschewski
Dr. Marx Metz
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Miltner Milz
Dr. Möller
Müller (Remscheid) Müller (Wadern)
Müller (Wesseling)

Nelle
Frau Dr. Neumeister Niegel
Dr.-Ing. Oldenstädt
Dr. Olderog Pesch
Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pinger Pohlmann Dr. Pohlmeier
Dr. Probst Rawe
Regenspurger
Repnik
Dr. Riedl (München)

Dr. Riesenhuber
Rode (Wietzen)

Frau Rönsch
Dr. Rose
Rossmanith Roth (Gießen)

Rühe
Ruf
Sauer (Salzgitter)

Sauer (Stuttgart)

Sauter (Epfendorf)

Sauter (Ichenhausen)

Dr. Schäuble
Schartz (Trier)

Schemken Scheu
Schlottmann Schmidbauer
Schmitz (Baesweiler)

von Schmude
Schneider (Idar-Oberstein)

Dr. Schneider (Nürnberg) Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder (Freiburg) Schulhoff
Dr. Schulte

(Schwäbisch Gmünd) Schulze (Berlin)

Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling Dr. Schwörer
Seehofer Seesing Seiters
Dr. Freiherr
Spies von Büllesheim Spilker
Spranger Dr. Sprung
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken
Stockhausen
Dr. Stoltenberg
Straßmeir Strube
Stücklen Stutzer
Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer
Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel (Ennepetal)

Dr. Voigt (Northeim)

Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke
Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß
Werner
Frau Dr. Wex
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer (Neuss) Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Dr. Wörner Würzbach Dr. Wulff Zierer
Dr. Zimmermann
Zink
SPD
Amling
Antretter Dr. Apel Bachmaier Bahr
Bamberg
Becker (Nienberge) Bernrath
Berschkeit Bindig
Frau Blunck
Brandt
Brück
Buckpesch Büchler (Hof)

Büchner (Speyer)

Dr. von Bülow
Buschfort Catenhusen
Collet
Conradi
Dr. Corterier
Curdt
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Delorme Dr. Diederich (Berlin) Dreßler
Duve
Egert
Dr. Ehmke (Bonn)

Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Dr. Enders Esters
Ewen
Fiebig
Fischer (Homburg) Fischer (Osthofen)
Frau Fuchs (Köln)

Frau Fuchs (Verl)

Gansel
Gerstl (Passau)

Gilges
Glombig Dr. Glotz Grunenberg
Dr. Haack Haase (Fürth)

Haehser
Hansen (Hamburg)

Frau Dr. Hartenstein
Dr. Hauchler
Hauck
Heimann Heistermann
Herterich Hettling Heyenn Hiller (Lübeck)

Hoffmann (Saarbrücken) Dr. Holtz
Horn
Frau Huber
Huonker Ibrügger
Immer (Altenkirchen) Jahn (Marburg)
Jaunich Dr. Jens
Jung (Düsseldorf) Junghans Jungmann
Kiehm
Kirschner Kisslinger Klein (Dieburg)

Dr. Klejdzinski
Kolbow Kretkowski
Dr. Kübler Kühbacher Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart Frau Dr. Lepsius
Liedtke Löffler
Lohmann (Witten)

Lutz
Frau Luuk
Frau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier Matthöfer
Meininghaus
Menzel
Dr. Mitzscherling
Müller (Düsseldorf) Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Nehm
Neumann (Bramsche)

Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oostergetelo
Paterna



Vizepräsident Frau Renger
Pauli
Dr. Penner Peter (Kassel) Pfuhl
Polkehn
Poß
Purps
Rapp (Göppingen)

Rappe (Hildesheim) Reimann
Frau Renger Reschke
Reuter
Rohde (Hannover)

Sander
Schäfer (Offenburg) Schanz
Dr. Scheer Schlaga
Schlatter
Frau Schmedt

(Lengerich)

Dr. Schmidt (Gellersen) Schmidt (München) Schmidt (Wattenscheid) Schmitt (Wiesbaden)
Dr. Schöfberger
Schreiner
Schröer (Mülheim)

Schulte (Unna)

Dr. Schwenk (Stade)

Sieler
Frau Simonis
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Dr. Sperling Dr. Spöri
Stahl (Kempen)

Steiner
Frau Steinhauer
Stiegler
Stobbe
Stockleben Dr. Struck Frau Terborg Tietjen
Frau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe Urbaniak
Vahlberg
Verheugen Dr. Vogel
Vogelsang
Voigt (Frankfurt)

Vosen
Waltemathe Walther
Wartenberg (Berlin) Weinhofer
Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel Wiefel
von der Wiesche Wimmer (Neuötting) Wischnewski
Witek
Dr. de With Wolfram

(Recklinghausen) Würtz

Zander
Zeitler
Frau Zutt
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum
Beckmann Bredehorn
Cronenberg (Arnsberg) Engelhard
Gallus
Gattermann Genscher Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Dr. Hirsch Hoffie
Hoppe
Kleinert (Hannover) Kohn
Dr.-Ing. Laermann Mischnick Möllemann Neuhausen Paintner
Ronneburger Dr. Rumpf Schäfer (Mainz)

Frau Seiler-Albring
Dr. Solms Dr. Weng
Wolfgramm (Göttingen) Wurbs
Enthalten
SPD
Jansen
Dr. Wieczorek
FDP
Dr. Feldmann
Damit ist der Antrag abgelehnt.

(Feilcke [CDU/CSU]: Wie viele GRÜNE gibt es eigentlich hier?)

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1009506700
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erfüllen unsere Arbeit. Wir ziehen Furche für Furche; ob das Wetter gut ist oder schlecht, wir beackern das sozialpolitische Feld. Wir erledigen unsere Aufgaben, Schritt für Schritt und solide, nicht mit Patentrezepten, die gibt es nämlich in der Politik nicht.
Die Bundesregierung hat zusammen mit den Koalitionsfraktionen in dieser Woche drei wichtige Schritte vorwärts getan: 1. Reform der Hinterbliebenenrente mit Erziehungszeiten; 2. Verlängerung der Bezugszeiten für die älteren Arbeitslosen; 3. Beitrag zur Sicherung der Rente mit einer neuen Sicherheitsautomatik, einer neuen Liquiditätssicherung.
Soziale Sicherheit, meine Damen und Herren, wie immer das System organisiert ist, wie immer im übrigen die Regierung besetzt ist, wie immer der Arbeitsminister heißt, bleibt auf Arbeit angewiesen. Das muß der Mittelpunkt auch unserer Überlegungen bleiben. Die soziale Sicherheit fällt doch nicht vom Himmel. Bezahlt wird sie immer aus der Arbeit.

(Zuruf der Abg. Frau Potthast [GRÜNE]) — Bei den GRÜNEN mag das anders sein.

Auf der Welt — nicht im Wolkenkuckucksheim — wird soziale Sicherheit von denjenigen bezahlt, die Arbeit haben. Deshalb sind Bevölkerungsrückgang, eine familienfeindliche Politik und Arbeitslosigkeit die größten Feinde der sozialen Sicherheit.

(Frau Potthast [GRÜNE]: Machen Sie was dran!)

Wenn nämlich die Bevölkerungszahl zurückgeht, gibt es morgen weniger Beitragszahler, ohne daß unmittelbar auch die Zahl der Leistungsempfänger zurückgeht. Wenn Arbeitslosigkeit herrscht, haben wir weniger Beitragszahler und mehr Leistungsempfänger. Sie sehen: Eine Politik der Vollbeschäftigung und eine familienfreundliche Politik sind die besten Bedingungen für soziale Sicherheit.
Die Vollbeschäftigung — das ist die erste wichtige Aufgabe — wird nicht erreicht, wenn die Lohnnebenkosten in die Höhe klettern. Deshalb bleibt die Bundesregierung bei ihrer Politik, die Gesamtbelastung in Schach und Proportionen zu halten. Ziel ist die gesamtwirtschaftliche Beitragsneutralität: Wenn wir die Beiträge auf der einen Seite erhöhen müssen, versuchen wir, sie — soweit dies in unserem Einflußbereich liegt — auf der anderen Seite zu senken. Deshalb kombinieren wir unumgängliche Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung mit Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung.
Das liegt auch im Interesse der zahlenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber; denn beide sind an der Grenze der Belastbarkeit angekommen. Wenn heute schon von 1 DM Lohnerhöhung durchschnittlich 0,50 DM — bei manchen noch mehr — abkassiert werden, ist der Leistungsanreiz völlig verschwunden. Die von uns vorgesehene Steuerentlastung würde um ihren Sinn gebracht, wenn wir an der Beitragsschraube drehten.
Meine Damen und Herren, in der Rentenversicherung sind Beitragserhöhungen auch deshalb nötig, weil wir in einem Jahr schwerer wirtschaftlicher Erschütterungen stehen. Streik und Aussperrung haben der Rentenversicherung nicht gutgetan. Das Ergebnis von Streik und Aussperrung, nämlich 2 % Lohnerhöhung, mag unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten erträglich sein, aber der Rentenversicherung fehlen die Einnahmen, mit denen sie gerechnet hatte, mit denen auch wir gerechnet hatten.



Bundesminister Dr. Blüm
Sie werden sich daran erinnern, daß wir in dem ganzen ersten Halbjahr 1984 immer auf das Dilemma hingewiesen haben: Eine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich geht gegen die Arbeitslosen; eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich geht gegen die Rentner. Ich entsinne mich: Damals gab es schallendes Gelächter auf den Bänken der Opposition. Leider Gottes hatten wir recht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will heute gar keine Rechthaberdebatte führen. Die Vergangenheit ist vergangen, und durch Gejammere kommt auch keine Mark mehr in die Rentenkasse. Aber wenn ich mir die Beiträge der Opposition anhöre, will ich doch einmal darauf aufmerksam machen, wo die Ursachen dafür liegen, daß wir korrigieren müssen. Auf die schädlichen Folgen dieser Ursachen haben wir rechtzeitig aufmerksam gemacht.
Ein Zweites muß ich hinzufügen. Die Rückkehrförderung für unsere ausländischen Mitbürger war erfolgreicher, als wir selber geschätzt haben. Nicht 60 000 ausländische Mitbürger haben die vorzeitige Auszahlung der Rentenanwartschaften in Anspruch genommen, sondern 140 000. Ich denke, das hat diesen ausländischen Mitbürgern geholfen. Sie konnten mit Geld in der Hand in ihre Heimat zurückkehren, sie waren nicht mittellos. Es hat auch unserem Arbeitsmarkt geholfen. Der Rentenversicherung hat das allerdings kurzfristig mehr Geld entzogen, als wir vorgesehen hatten. Tarifabschluß, Rückkehrförderung sind also zwei Gründe.
Verehrte Frau Kollegin Fuchs, damit das gleich beantwortet wird, was Sie vorhin durch einen Zwischenruf behauptet haben: ich stünde im Widerspruch zu meinem eigenen Vorschlag der Lohnpause, will ich doch einmal darauf aufmerksam machen, daß ich den nie in einer Zeit gemacht habe, in der es Wachstum gab, daß ich den vielmehr gemacht habe bei einem Nullwachstum, als wir auch den Rentnern eine Pause zugemutet haben. Jetzt haben wir aber auf Grund einer guten Politik Gott sei Dank wieder Wachstum. In dieser Zeit halte ich es für rücksichtslos gegenüber den Rentnern, den Zuwachs vornehmlich denjenigen zugute kommen zu lassen, die Arbeitszeitverkürzung wollen. Die Rentner haben Freizeit; sie haben nichts von der Arbeitszeitverkürzung.

(Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)

Sie hängen an der Lohnentwicklung, und deshalb war dieser Lohnabschluß für die Rentenversicherung schädlich.

(Hornung [CDU/CSU]: Die drücken sich vor der Verantwortung!)

Beitragserhöhung auf der einen Seite und Beitragssenkung auf der anderen halte ich im übrigen auch für die ehrliche Lösung. Das Geld muß dort beschafft werden, wo es fehlt — in der Rentenversicherung —, und dort, wo Überschuß ist, kann der Beitrag gesenkt werden. Wir machen keine Verschiebung hinter dem Rücken der Beitragszahler. Die Alternative, die vorgeschlagen wird — die Beiträge sowohl bei der Bundesanstalt für Arbeit wie bei der Rentenversicherung nicht zu ändern, dafür aber mehr Geld von der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung zu geben —, halte ich für eine Sanierung hinter dem Rücken der Beitragszahler. Das halte ich — wenn Sie schon mit dem Wort Verschiebebahnhof arbeiten — für eine Politik des Verschiebebahnhofs unter Abdeckung durch Nebelwerfer. Da werden Nebelkerzen geworfen, damit niemand merkt, wie das Geld hin und her geschoben wird.
Ich will das einmal an einem Beispiel deutlich machen. 1978 bis 1982 hat die Bundesanstalt von 100% des Bruttolohns der Arbeitslosen Beiträge an die Rentenversicherung gezahlt. In derselben Zeit hat der Bund an die Bundesanstalt 17,3 Milliarden DM gezahlt und die Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung 17,1 Milliarden DM. Das Geld, das der Bund an die Bundesanstalt gezahlt hat — ich weiß nicht, ob die noch eine Briefmarke auf den Brief geklebt haben —, hat sie also gleich weitergegeben an die Rentenversicherung. Was soll eigentlich diese Karusselltechnik, was soll eigentlich diese Umwegfinanzierung?
Ich finde, das Geld muß immer dort eingenommen werden, wo es gebraucht wird, und wo es einen Überschuß gibt, da muß eben ein Nachlaß gewährt werden.
Unsere Regelung, nach der die Bundesanstalt Beiträge zahlt unter Zugrundelegung der Höhe des Arbeitslosengeldes, ist verläßlich. Das ist eine handfeste Kategorie. Wenn das Arbeitslosengeld steigt, steigen auch die Beiträge. Wenn das Arbeitslosengeld sinkt, sinken auch die Beiträge. Ihren Vorschlag, von 70 % des Lohnes Beitrag zu zahlen, verstehe ich nicht. Mir muß einmal jemand erklären, wie Sie auf 70 % kommen.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Reine Willkür!)

Wo haben Sie diese 70 % abgerufen? Beim Wetteramt in Offenbach oder bei der „Süddeutschen Klassenlotterie"? Ich fürchte, da haben die Buchhalter ausgerechnet, wieviel Geld gebraucht wird. In eine solche Rentenpolitik ist doch das Hin und Her eingebaut.
Ich gebe zu, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß der Arbeitsmarkt eine größere Bedeutung für die Rentenversicherung hat, wenn man den Beitrag an das Arbeitslosengeld bindet. Das ist richtig. Aber es gibt doch gar keine Sozialversicherung, die unabhängig wäre vom Arbeitsmarkt und von der Konjunktur. Wer behauptet, wir könnten eine Rentenversicherung bauen, die gar keine Rücksicht nehmen müßte auf das, was an Wachstum vorhanden ist, was an Vollbeschäftigung vorhanden ist, der ist das Opfer einer Sozialillusion. Es gehört zur Lebenswahrheit der Sozialversicherung, daß es keinen Zweig, auch nicht die Rentenversicherung, auf einer Insel der Seligen gibt, die sich nicht um das kümmern müßten, was ringsum passiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber wenn es so ist, daß es keine derartige Sozialversicherung gibt, dann müssen wir allerdings den Sicherheitspuffer in der Rentenversicherung ver-



Bundesminister Dr. Blüm
stärken, dann kann es nicht — da folge ich den kritischen Einwänden — bei einer Rücklage in Höhe einer Monatsausgabe bleiben, da braucht man — um in dem Bild zu bleiben, das der Kollege Heyenn vorhin verwendet hat — Wasser unter dem Kiel, und zwar mehr Wasser als eine Monatsausgabe. Nur, das kann ich nicht von heute auf morgen, das müssen wir aufbauen; zaubern kann auch diese Regierung nicht. Aber es bleibt unser Ziel, einen größeren Sicherheitspuffer zu haben. Bis wir dort sind, steht der Bund als jederzeitiger Nothelfer zur Verfügung, und zwar nicht mit einer abstrakten Bundesgarantie — darauf würde ich mich nicht ausruhen —, sondern mit einer Form der konkreten Liquiditätssicherung. Das haben Sie doch nie zustande gebracht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir stellen fest, daß im Notfall in jedem Augenblick die Bundesregierung mit einem zinslosen Betriebsmitteldarlehen zur Verfügung steht, einspringt, und zwar automatisch; da muß nicht der Bundestag erst große Beschlüsse fassen.
Deshalb: Treiben Sie keine Politik mit der Angst der Rentner. Ich erkläre hier: Monat für Monat wird pünktlich die Rente gezahlt. Kein Rentner braucht Angst zu haben um seine Rente.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wir hier machen, eine Beitragsanhebung, gefällt uns auch nicht. Sie ist aber notwendig. Beitragsanhebung und Liquiditätssicherung auf gesetzlicher Grundlage, das ist ein Stützpfeiler für die Rentensicherheit.
Meine Damen und Herren, eines habe ich gar nicht verstanden, ich habe nochmals darüber nachgedacht. Wie soll ich denn die Kritik der Opposition an der Rentenpolitik verstehen? Sie ist heute zum wiederholten Mal vorgetragen worden. Da gibt es zwei große Vorwürfe. Erstens, wir hätten zuviel gespart, und zweitens, wir hätten die Beiträge zu sehr erhöht; also, wir hätten zuviel gekürzt und zuviel Beitrag eingenommen. Ja wie wollten eigentlich Sie zu Geld kommen, wenn Sie die Rentenversicherung sanieren wollen? Außer Leistungseinschränkungen und Einnahmeverbesserungen müßten Sie mir einmal die dritte Quelle nennen, wie Sie an Geld kommen wollen. Hätten wir nicht gehandelt — was schmerzhaft war —, dann wäre die Rentenversicherung im August 1983 zahlungsunfähig geworden.

(Jagoda [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)

Sie haben die Rentenversicherung wohlbehalten mit einer Zehnmonatsrücklage übernommen. Daß wir uns jetzt mit einer Monatsrücklage herumschlagen müssen, ist doch ein Teil der Erblast, die Sie uns hinterlassen haben. Mit zehn Monatsausgaben als Rücklage in den Rentenkassen haben wir unsere liebe, gute Rentenversicherung in Ihre Hände übergeben.

(Krizsan [GRÜNE]: Das Argument hält auch bis 1987, Herr Minister!)

— Das hält so lange,

(Krizsan [GRÜNE]: Das hält bis zum Jahr 2000!)

bis wir die Wunden geheilt haben, die der Rentenversicherung geschlagen wurden.
Meine Damen und Herren, wir haben Einnahmeverbesserungen und Leistungskürzungen in Höhe von 89 Milliarden DM durchführen müssen. Das sind die Rentenausgaben von fast einem Dreivierteljahr. Selbst wenn wir abziehen, was Sie attakkiert haben, nämlich Einnahmeverlust durch Senkung der Beiträge der Bundesanstalt, haben wir der Rentenversicherung immer noch 60 Milliarden DM mehr Geld verschafft durch Leistungskürzungen und Einnahmeverbesserungen.

(Glombig [SPD]: Auf Kosten der Rentner!)

— Lieber Herr Glombig, wenn Sie das beklagen: Wie hätten Sie der Rentenversicherung, wenn Sie nicht besonders gute Beziehungen zum lieben Gott oder zu Geldfälschern haben, wie hätten wir ihr denn Geld bringen können? Es geht doch nur auf diesen zwei Wegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Potthast [GRÜNE]: Durch Kürzung des Rüstungsetats!)

Meine Damen und Herren, ich will diese Debatte nicht damit bestreiten, daß ich mich hier hinstelle und sage: Wir haben in der Rentenversicherung alle Aufgaben gelöst. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, es gibt nur „Problemehen". Da gab's früher einmal einen bedeutenden Bundeskanzler, der vor den Wahlen nur „Problemehen" sah, und nach der Wahl mußte dann die fällige Rentenanpassung verschoben werden. Nein, wir haben noch die Aufgabe einer großen Strukturreform; wir werden solide vorgehen. Um so mehr war es notwendig, die Reform der Hinterbliebenenrente, die wir in dieser Woche im Kabinett beschlossen haben, kostenneutral durchzuführen. Ihre Vorschläge würden die Rentenversicherung 10 bis 12 Milliarden DM mehr kosten. Woher wollen Sie die eigentlich nehmen?

(Pohlmann [CDU/CSU]: Die waren immer schon unseriös!)

Wir dagegen haben, wie gesagt, einen kostenneutralen Vorschlag vorgelegt. Meine Damen und Herren, es gibt zwar Probleme, aber es bleibt bei der Zusage: Die Rentner können sich auf uns verlassen.
Ich will auch, um die Proportionen richtig darzustellen, darauf aufmerksam machen, daß wir derzeit einen Nachkriegsrekord hinsichtlich des Nettorentenniveaus haben. Das ist ja das, worauf es eigentlich ankommt: Rente, verglichen mit den Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. Denn die können j a auch nicht von den Steuern und den Beiträgen leben; die müssen sie ja abführen. Wie gesagt, wir haben gegenwärtig in dieser Hinsicht einen Nachkriegsrekord — mit Ausnahme des Jahres 1977. Als Helmut Schmidt seine letzte Regierungserklärung vorgelegt hat, hat er auf ein Nettorentenniveau von 71 % hingewiesen; er war sehr stolz darauf. Die Berechtigung zu diesem Stolz bestreite ich ihm ja gar nicht; aber ohne diesen Stolz weise ich heute darauf



Bundesminister Dr. Blüm
hin, daß wir nach 45 Beitragsjahren nicht ein Nettorentenniveau von 71 %, haben, sondern eines, das zwei Prozentpunkte höher ist.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU — Hornung [CDU/CSU]: Hervorragend!)

Der Normalrentner lebt nicht in Armut. Ich denke, wir sollten vorsichtig damit sein, das Gespenst der Armut und des Elends an die Wand zu malen. Wir beleidigen sonst die Elenden in der Welt. Elend sieht nämlich anders aus als das, was es in unserem Sozialstaat gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage ausdrücklich: Das, was unser Sozialstaat
— das ist nicht der Staat einer Partei — an Leistungen erbracht hat, an denen alle mitgewirkt haben
— Gewerkschaften, Arbeitgeber und auch alle Parteien —, kann sich durchaus sehen lassen.
Meine Damen und Herren, der zweite große Schritt dieser Woche betrifft die Arbeitslosen. Trotz Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung können wir die Bezugszeit für Arbeitslosengeld für die älteren Arbeitnehmer verlängern. Meine Damen und Herren, als ich mein Amt angetreten habe, haben wir nicht über Überschüsse gestritten, sondern da hatten wir 13 Milliarden DM Defizit.

(Pohlmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Das ist so viel, wie die ganze Kriegsopferversorgung kostet. Darüber geht heute offenbar jeder wie selbstverständlich hinweg. Wir mußten 13 Milliarden DM Defizit, 13 Milliarden DM Schulden wegschaffen. Jetzt können wir nach zwei Jahren erstens die Beiträge senken und zweitens die Bezugszeit für das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer verlängern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will — auch andere haben schon darauf hingewiesen — noch darauf hinweisen, was der innere Grund dafür ist. Meine Damen und Herren, es kann niemand als gerecht empfinden, daß ein älterer Arbeitnehmer — sagen wir, er hat 30 Jahre gearbeitet, stellen wir uns einen 50jährigen vor; wenn er mit 15 Jahren in die Lehre gegangen ist, dann hat er sogar länger als 30 Jahre gearbeitet —, der Monat für Monat seinen Beitrag gezahlt hat und dann zum ersten Mal arbeitslos wird, nur für die gleiche Zeit Arbeitslosengeld bekommt wie der, der nur drei Jahre gearbeitet hat.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Sehr wahr!)

Soll der 50jährige, der 30 Jahre Beitrag gezahlt hat, genauso lange Arbeitslosengeld bekommen wie der 25jährige, der möglicherweise nur drei Jahre Beitrag gezahlt hat? Meinem Gerechtigkeitsempfinden entspricht das nicht. Ich glaube, wir müssen die Länge der Bezugszeit, das, was jemand an Arbeitslosengeld erhält, auch in Beziehung zu dem Beitrag setzen, den er der Solidargemeinschaft geleistet hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Und da hat der ältere Arbeitnehmer eben länger Beitrag geleistet.

Ich denke auch — wir machen Sozialpolitik nicht aus der Ideologie heraus,

(Pohlmann [CDU/CSU]: Gott sei Dank nicht!)

sondern mit dem Blick aufs Leben — an jene älteren Arbeitslosen, die sich von ihrem Lohn ein Häuschen abgespart, die möglicherweise auf den Urlaub verzichtet haben, jetzt zum ersten Mal arbeitslos sind und sich bei der Feststellung der Höhe der Arbeitslosenhilfe möglicherweise ihr Haus anrechnen lassen müssen.
Ich bin dem Kollegen Cronenberg sehr dankbar dafür, daß er darauf hingewiesen hat, daß wir über Bedürftigkeitsprüfungen nachdenken müssen, daß wir den Sparwillen auch der Arbeitnehmer nicht dadurch untergraben dürfen, daß derjenige, der mit seinem Geld hausgehalten hat, am Schluß genauso schlecht oder noch schlechter dasteht als derjenige, der aus dem vollen gelebt hat. Das ist unsere Sozialpolitik. Wir schöpfen nicht aus der Ideologie, nicht aus den Lehrbüchern, sondern aus dem Leben und seinen Erfahrungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt mir auch zu denken, meine Damen und Herren, daß die Leistungsquote in der Arbeitslosenversicherung, also die Zahl derjenigen, die die originäre Versicherungsleistung erhalten, rapide abgesunken ist. Auch das war der Grund, daß wir die Zeit des Bezugs von Arbeitslosengeld verlängern, zumal gerade die älteren Arbeitnehmer die Hauptbetroffenen der Langzeitarbeitslosigkeit sind.
Ich will jedoch über allen diesen Unterstützungsveränderungen nicht vergessen, auf eines hinzuweisen. Besser als jede Unterstützungsverbesserung ist eine Politik, die diese Unterstützung nicht nötig macht, weil Arbeit für alle da ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Über allen sozialpolitischen Verbesserungen wollen wir das nicht vergessen.
Eine zweite Maßnahme soll und muß hier begründet werden. Wir wollen die Sperrzeit für die Selbstkündiger verlängern. Die Zeit, in der diejenigen, die aus eigener Entscheidung kündigen, ohne einen wichtigen Grund zu haben, kein Arbeitslosengeld bekommen, betrug bisher acht Wochen. Sie soll jetzt zwölf Wochen betragen. Hier appelliere ich wiederum an die Solidarität meiner Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitnehmerschaft. Wer einen Arbeitsplatz hat, der muß in einer Zeit, in der über zwei Millionen Arbeitnehmer arbeitslos sind, mit seinem Arbeitsplatz sorgfältig und verantwortlich umgehen. Er muß es sich dreimal überlegen, ob er kündigt und sich dann auf die Arbeitsplatzsuche macht, in dem Bewußtsein: Irgendwo wird mir die Arbeitsplatzsuche durch die Solidargemeinschaft finanziert. Ich halte Mobilität für notwendig. Aber bevor man kündigt, sollte man den neuen Arbeitsplatz haben. Man sollte nicht darauf vertrauen, daß



Bundesminister Dr. Blüm
die Sozialkassen die Arbeitsplatzsuche finanzieren. Die müssen ihr Geld für anderes ausgeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

So begründe auch ich dies nicht als eine Sparmaßnahme, sondern als die notwendige Konsequenz aus Gründen der Solidarität, die in dieser Zeit gefordert ist.
Meine Damen und Herren, ich begrüße die Initiative der Koalitionsfraktionen. Ich bitte den Ausschuß, im Interesse der Rentner, im Interesse der Arbeitslosen die Beratung in der gewohnten Kooperationsbereitschaft durchzuführen. Ich bedanke mich im voraus dafür.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009506800
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Potthast.

Gabriele Potthast (GRÜNE):
Rede ID: ID1009506900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Blüm, ich muß Ihnen meine Achtung aussprechen, tatsächlich. Alle Achtung!, kann ich da nur sagen. Alle Achtung, wie Sie sich stets aufs neue bemühen, Hosen, die Sie selbst zerrissen haben, und zwar ganz bewußt, so zu flicken, daß zumindest Sie immer notdürftig bekleidet herumlaufen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversicherung versuchen Sie j a auch gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

(Krizsan [GRÜNE]: Mit einer Hose!)

Einerseits gilt es ein riesiges Loch in der Rentenversicherung zu stopfen — entsprechend wollen Sie den Beitrag zur Rentenversicherung um 0,2 Prozentpunkte erhöhen —, andererseits trauen Sie sich aber nicht, die Beitragszahler endlos zu strapazieren — also senken Sie die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um eben den prozentualen Anteil, um den die Rentenversicherungsbeiträge erhöht worden sind.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Richtigerweise!)

— Ich komme gleich zur Bewertung, Herr Cronenberg.
Einerseits sehen Sie, daß die Langzeitarbeitslosigkeit gerade auch bei älteren Arbeitnehmern immer unerträglicher wird, und bieten genau dieser Gruppe, einer relativ winzigen Gruppe innerhalb der Arbeitslosen, einen Zuckerguß für Ihre bitteren Pillen an, verlängern also die Höchstdauer für den Bezug von Arbeitslosengeld um sechs Monate, andererseits darf diese Maßnahme den Bundeshaushalt nicht belasten. Flugs werden Einsparungen auf Kosten einer anderen Gruppe von Arbeitslosen gemacht, indem Sie nämlich die Sperrzeit bei der Arbeitslosenversicherung von acht auf zwölf Wochen verschärfen.
Was ist der Hintergrund dieser Maßnahme,

(Pohlmann [CDU/CSU]: Das ist ja Mengenlehre!)

— richtig! — und wie sind sie zu bewerten? Sie, Herr Blüm, haben mindestens ein Problem

(Zuruf von der CDU/CSU: Da sind noch mehr!)

— klar haben Sie noch mehr; das streitet niemand ab; bei der Politik können ja auch nur Probleme entstehen —, das so aussieht, daß sich nicht verheimlichen ließ, daß die Bundesanstalt für Arbeit einen Überschuß in Milliardenhöhe zu verzeichnen hat. Und das zu rechtfertigen, Herr Blüm, ist Ihr eigentliches Problem, das zu rechtfertigen vor dem Hintergrund der neuen Armut, einer neuen Armut, die Sie nicht zuletzt auch durch Ihre Haushaltsbegleitgesetze aus dem vorigen Jahr gnadenlos herbei geführt haben.

(Beifall des Abg. Krizsan [GRÜNE])

Herr Blüm, wenn Sie sich hierherstellen und behaupten, soziales Elend gebe es nicht, dann kann ich nur feststellen, daß Sie sich vom Alltag der Normalbürger bereits so weit entfernt haben, daß Sie soziales Elend nicht einmal mehr sehen. Denn mit Ihrem Ministergehalt können Sie auch gut Spargesetze beschließen, von denen Sie j a überhaupt nicht betroffen sind.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht schön! Ihr nehmt das Geld doch auch!)

Milliardenüberschuß also angesichts, oder sollte ich nicht vielleicht sogar besser sagen: wegen der neuen Armut, die dadurch nämlich unter anderem entsteht, daß immer mehr Menschen arbeitslos werden, immer mehr Menschen langzeitarbeitslos werden und dann vom Arbeitslosengeld in die Arbeitslosenhilfe rutschen und last not least Sozialhilfeempfänger werden. Milliardenüberschuß also vor diesem Hintergrund einer neuen bzw. neu produzierten Armut, während mit Geldern, die Sie darüber hinaus den sozial Schwachen dieses Landes weggenommen haben, weiterhin Steuerentlastungsgesetze für Unternehmer finanziert werden.

(Kriszan [GRÜNE]: Richtig!)

Gerade ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden zu hoffnungslosen Sozialfällen; hoffnungslos deshalb, weil sie nicht erwarten können, mit 50 Jahren wieder einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden. Ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die in die Arbeitslosenhilfe abgedrängt werden, stehen vor dem Problem, ihr mühsam über 30 Jahre knallharter Knochenarbeit erworbenes Häuschen verkaufen zu müssen, einfach um sich ernähren zu können. Denn nur wer bedürftig ist, erhält Arbeitslosenhilfe; wer jedoch ein Eigenheim besitzt oder aber mindestens durchschnittlich verdienende enge Verwandte hat, bekommt nichts. Diesen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen geben Sie vor, damit zu helfen, daß Sie die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld von 12 auf 18 Monate verlängern, sofern der Betroffene in den letzten sieben Jahren sechs Jahre beitragspflichtig gearbeitet hat.



Frau Potthast
So sehr ich diese kleine Erleichterung auch begrüße: Sie ist und bleibt nichts anderes als ein Trostpflästerchen, ein Tropfen auf den heißen Stein.

(Beifall des Abg. Krizsan [GRÜNE])

Sie verschieben das Problem nämlich ganz einfach um sechs Monate. Danach wird der 50jährige Arbeitslose nach wie vor mit dem Problem konfrontiert sein, in die Armut, ins gesellschaftliche Abseits fallen zu müssen. Denn ein 50jähriger — ich habe es vorhin schon erwähnt — hat, nachdem er sich in einem immer unmenschlicher werdenden Produktionsprozeß verschlissen hat, so gut wie keine Chance mehr, einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden.
Um die Ursachen der Armut zu bekämpfen, bedarf es also grundsätzlicherer Maßnahmen, Maßnahmen, die in der Wirtschaftspolitik sofort eingeleitet werden müssen, wenn wir nicht wollen — aber wahrscheinlich stehen wir da ja auf einem anderen Standpunkt —, daß die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Eine völlige Umstrukturierung des Erwerbstätigkeitssektors ist deshalb dringend geboten. Denn solange der Erwerbstätigkeitssektor die einzige Möglichkeit ist, gesellschaftlichen Reichtum einigermaßen umzuverteilen, muß dieser Erwerbstätigkeitssektor für alle zugänglich sein. Und wenn ich „alle" sage, dann meine ich nicht nur die derzeit registrierten 2,3 Millionen Arbeitslosen, sondern dann meine ich auch die sogenannte stille Reserve, also all die Leute, die sich überhaupt erst gar nicht mehr arbeitslos melden, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, auf dem Arbeitsmarkt noch einen Arbeitsplatz zu finden; darüber hinaus meine ich all jene, die aus dem Erwerbsleben auf Grund einer, wie ich schon häufig betont habe, Frauen benachteiligenden Familienideologie ausgegrenzt worden sind und weiterhin ausgegrenzt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Soziales Elend wird nicht dadurch behoben, daß es gedehnt oder verwaltet wird. Radikale Arbeitszeitverkürzung ist hier also vonnöten, um alle Menschen in die Lage zu versetzen, am Erwerbsleben teilzunehmen und sich damit die eigene Existenz finanziell abzusichern.
Die Verlängerung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld von 12 auf 18 Monate für eine winzige Gruppe von Arbeitslosen ist, wie gesagt, nichts anderes als der Zuckerguß über der bitteren Pille des sozialen Elends und wird darüber hinaus noch mit der Verschärfung der Sperrzeiten von acht auf zwölf Wochen bei der Arbeitslosenversicherung erkauft, und zwar für all diejenigen, die, wie es so schön heißt, die Arbeitslosigkeit schuldhaft selbst herbeigeführt haben. Schuldhaftes Verhalten liegt aber — damit sage ich Ihnen wahrscheinlich auch nichts Neues — bereits bei einer eigenen Kündigung vor, wenn nicht ein zwingender Grund genannt werden kann. Zwingende Gründe, Herr Cronenberg, können aber häufig nicht bewiesen werden.
Damit sind wir bei dem eigentlichen Problem. Wir wissen, daß beispielsweise Streitigkeiten unter
Belegschaftsmitgliedern eines Betriebes das Arbeiten dort zur Hölle machen können. Schikanen — davon können unsere ausländischen Kolleginnen und Kollegen ein Lied singen — laufen meist derartig subtil, derartig fein ab, daß sie eben nicht bewiesen werden können. Sie verurteilen mit diesen Sperrfristen Leute, die unter einem unerträglichen Betriebsklima leiden, dazu, sich weiterhin terrorisieren zu lassen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, durch eine eigene Kündigung drei Monate lang keinen Pfennig zum Lebensunterhalt zur Verfügung zu haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Verlängerung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld kostet Geld. Die Sperrfristenverlängerung hilft Geld einsparen. So einfach ist das. Im Klartext heißt das: Hier wird die eine Gruppe von Arbeitslosen gegen eine andere Gruppe von Arbeitslosen ausgespielt.
Dieser Gesetzentwurf enthält aber noch mehr. Da ist die Anhebung der Beiträge für die Rentenversicherung um 0,2 % bei gleichzeitiger Senkung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung. Dahinter verbirgt sich nicht mehr und nicht weniger, als daß das Riesenloch in der Rentenversicherung einmal kurz notdürftig auf Kosten der Arbeitslosenversicherung gestopft wird. Die Bundesanstalt für Arbeit hat es ja. Im kommenden Jahr — die Spatzen pfeifen es inzwischen von den Dächern — fehlen der Rentenversicherung voraussichtlich 3 Milliarden DM. Anstatt die Zahlungsschwierigkeiten der Rentenversicherung grundsätzlich zu beheben, erweisen Sie sich hier — das ist vorhin auch schon mehrfach angesprochen worden — als großer Schieber, Herr Blüm. Ich habe mich immer gefragt, was für ein Gefühl man haben muß, wenn man Milliardenbeträge einmal kurz zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung hin- und herschiebt. Vielleicht können Sie mir das nach diesen großen Transaktionsübungen einmal sagen.
Im Gegensatz zu dem Hin- und Herschieben von Milliardenbeträgen zwischen der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung — einmal 0,2 % hoch, einmal 0,2 % herunter —, sind die Alternativen der GRÜNEN eine ehrliche Angelegenheit: Erstens. Die Bundesanstalt für Arbeit soll die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose sofort wieder bruttolohnbezogen an die Rentenversicherung auszahlen. Das zu erwartende Defizit im nächsten Jahr würde gar nicht erst entstehen können, hätten Sie nicht willkürlich die Beitragsbemessungsgrenze für die Arbeitslosen gesenkt. Wenn Sie diesen offensichtlichen Fehler rückgängig machen würden, könnte die Rentenversicherung mit einem Schlag über Mehreinnahmen von 5 Milliarden DM verfügen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, daß die Rentenversicherung für die Lasten einer durch verfehlte wirtschaftspolitische Maßnahmen verschuldeten Massenerwerbslosigkeit aufkommen soll.

(Beifall des Abg. Krizsan [GRÜNE])




Frau Potthast
Zum zweiten fordern die GRÜNEN auch in diesem Jahr — wir werden in dieser Hinsicht sehr penetrant sein —

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Nicht nur da!)

die Erhöhung des Bundeszuschusses an die Rentenversicherung um 19 Milliarden DM. Der Bundeszuschuß für die aus den Rentenkassen finanzierten Fremdleistungen, d. h. für Leistungen, die nicht Leistungen der Alterssicherung sind, ist seit 1957 systematisch abgesenkt worden. Das heißt, seit 1957 sind die Rentner und Rentnerinnen um mehr als 200 Milliarden DM betrogen worden. Dieser Betrug an der Solidargemeinschaft muß ein Ende finden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Das heute vorgelegte Gesetz ist. für uns nichts als ein Mosaiksteinchen in einer Politik, die sich als unsozial beschreiben lassen muß.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009507000
Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.

Eugen Glombig (SPD):
Rede ID: ID1009507100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mir soeben sagen lassen, daß von seiten der Koalition keine Wortmeldungen mehr vorlägen. Ich erwähne das nicht deswegen, weil es mich besonders wunderte — im Gegenteil, ich bin nicht überrascht. Ich möchte aber besonders darauf hinweisen, daß diese Koalition natürlich an der Debatte zu diesem Gesetzentwurf kein Interesse hat,

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: So ist es!)

im Gegensatz zu gleichartigen Debatten in der Zeit, wo die CDU/CSU in der Opposition war. Übrigens gilt das auch für Sie, Herr Mischnick — damit das mal ganz klar ist, auch für die FDP.

(Beifall bei der SPD)

Denn an die Sprüche der FDP während der Zeit der sozialliberalen Koalition kann ich mich sehr gut erinnern. Ich würde mich da wirklich nicht hinsetzen und so tun, als wäre ich für die Solidität der Rentenfinanzen nun besonders zuständig.

(Beifall bei der SPD)

So haben Sie nämlich in der vergangenen Zeit getan. Dies ärgert mich sehr; denn ich kann mindestens so gut beurteilen wie Sie, was sich da abgespielt hat. — Nun ist das auch so bei diesem Arbeitsminister.
Daß mir die Wende, die mit Hilfe der FDP zustande gekommen ist, nicht gefallen hat, wird mir wohl jeder abnehmen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Verständlich!)

— Das können doch hoffentlich auch Sie verstehen.
Ich habe aber auch — ich sage das mal ganz offen — eine Hoffnung in diesen Bundesarbeitsminister gesetzt.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das war schon falsch, Herr Kollege! — Zuruf von der CDU/CSU: Hätten Sie mal so einen gehabt!)

Ich habe ihm seine Sprüche während der Zeit der sozialliberalen Koalition zum Teil geglaubt.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Na so was! — Zuruf von der CDU/CSU: Sprüche machen Sie!)

Heute weiß ich, daß er nur Sprücheklopfer geblieben ist.

(Beifall bei der SPD)

Dies ist ein hartes Urteil, aber trotzdem will ich Ihnen sagen: Es ist so. Kein Vorschlag, der wirklich solide ist. Auf diese Spruchweisheiten von Herrn Blüm will ich nicht mehr eingehen. Es lohnt sich wirklich nicht.
Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die deutsche Presse, deren Lieblingskind Herr Blüm ja bis jetzt gewesen ist, auch hier eine Trendwende, glaube ich, vollzieht — wenn ich mir die Pressekommentare und die Pressemeldungen der letzten Tage ansehe. Ich finde, dies sollten Sie aufmerksam zur Kenntnis nehmen,

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

damit Sie nicht glauben, das, was hier von seiten der Sozialdemokraten gesagt wird, wäre alles nur billige Propaganda, um gegen Herrn Blüm oder gegen Sie als Koalition vorzugehen.
Gegen Sie als Koalition mit Argumenten vorzugehen, ist doch sehr einfach, wie diese Debatte gezeigt hat. Aber Herrn Blüm hat man geglaubt und glaubt man zum Teil noch. Ich finde, hier gilt es nun wirklich, ihm diesen Nebel, den er selbst wirft, vom Angesicht wegzublasen, damit man ganz klar in dieses Gesicht hineingucken kann.

(Beifall bei der SPD)

Ich beginne mit der „Süddeutschen Zeitung". Überschrift: „Flickschusterei im Rentensystem". Ich zitiere:
In der Bonner Rentenpolitik haben pragmatische Winkelzüge wieder einmal Vorrang vor allen beschworenen Prinzipien ... Für sich genommen wäre die Koalitionsentscheidung über die — für Arbeitnehmer und Arbeitgeber belastungsneutrale — Verschiebung von zwei Beitragspunktzehnteln aus Nürnberg an die Rentenversicherung durchaus in Ordnung. Aber die Einnahmeverbesserung um 1,4 Milliarden Mark reicht zum einen nicht aus, um die 1985 drohende doppelt so hohe Finanzlücke zu stopfen. Zum anderen bedeutet dies die Fortsetzung des Herumjonglierens mit Beitragsgeldern, für das das Wort vom „Verschiebebahnhof" gilt.
Meine Damen und Herren, das war eine Stimme.
Nun kommt eine andere: „NRZ". Überschrift: „Blüm bekommt schlechte Noten". Diese Zeitung



Glombig
setzt sich mit dem Presseseminar des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger auseinander, das gestern, d. h. nach der Entscheidung des Kabinetts in der Sache der Verschiebung der Beiträge von einem Träger der sozialen Sicherung zum anderen, stattgefunden hat. Da heißt es:
Bundesarbeitsminister Norbert Blüm hat seine Schularbeiten gemacht.
Ich meine: schlechte. Aber dazu kommen die dann auch.
Das Kabinett hat sein Gesetzespaket verabschiedet. Darauf ist er stolz.
Wir haben es j a gehört.
Aber von den Rentenversicherungen bekommt er dafür keine guten Noten. Deren Urteil lautet: drei bis vier.

(Zuruf von der SPD: Das ist noch zu gut!)

Nun heißt es zur Sache: „Zunächst einmal das Baby-Jahr" — weil j a der Herr Blüm stolz darauf ist, daß er zum Baby-Jahr einen Beschluß des Kabinetts hat herbeiführen lassen. Dieses Baby-Jahr ist eine zentrale Frage der Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung, und zwar über das Jahr 1989 hinaus. Über das Jahr 1989 hinaus läßt man uns im unklaren, wie es weitergeht. Weil man uns im unklaren läßt — ich komme noch darauf —, wird diese Operation wieder zu Lasten der Rentner gehen.

(Beifall bei der SPD — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

Ich werde versuchen, Ihnen das klarzumachen. Ich finde, die Rentner haben das nicht verdient. Alle diejenigen, die selbst bereit sind, Ihren Winkelzügen zu folgen, haben es nicht verdient, daß sie von Ihnen hinters Licht geführt werden.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU: Na, na! — Was soll denn das? — Das kann doch wohl nicht wahr sein! — Sie wissen doch genau, daß die große Rentenreform ansteht!)

— Ich sage dies. Ich finde, jetzt muß auch zur Sache geredet werden.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Für Sie waren das alles Problemchen!)

Es heißt hier:
Das Mißtrauen, daß diese neue Milliardenlast am Ende doch nicht vom Bundeshaushalt (also vom Steuerzahler), sondern von der Rentenversicherung getragen werden muß, ist groß.
Wenn die Rentenversicherung diese Milliardenlast trägt, tragen sie die Rentner. Wer sonst? Auf Grund der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung in unserem Lande haben doch bisher nur die Rentner diese Lasten getragen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da brauchen Sie doch nicht so zu schreien!)

— Gut.
Weiter heißt es: Hinter der vorgehaltenen Hand ist zu hören, daß Blüm auch die Begrenzung auf alle Frauen ab dem Jahrgang 1921 nicht durchhält.
Wir wollen es hoffen.
Es wird hier eine Stimme zitiert:
„Die Trümmer-Frauen", so heißt es, „werden den Parteien den Marsch blasen."
Ich kann nur sagen: Den Sozialdemokraten braucht der Marsch nicht geblasen zu werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die haben nichts getan!)

Wir sind hier auf dem richtigen Dampfer. Aber dieser Koalition muß noch der Marsch geblasen werden, und ich hoffe, mit großem Erfolg.
Es heißt dann weiter:
Auch die Kosten, die Bonn für das Baby-Jahr errechnet hat, halten die Rentenversicherungen für viel zu niedrig. Nach dem Jahr 2000, so sagen sie,
— die Rentenversicherungsträger, die uns mit ihren Analysen j a immer vorgehalten wurden —
werden es acht bis neun Milliarden Mark im Jahr sein.
Also im Jahr 2000 acht bis neun Milliarden Mark! Geschockt sind die Rentenfachleute
— so heißt es weiter —
darüber, daß die Bundesregierung 1985 zum ersten Mal einen „Betriebsmittelkredit" von fünf Milliarden Mark zur Verfügung stellen will, damit die Renten bei Ebbe in der Kasse im Herbst auch ausgezahlt werden können.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Also Kreditfinanzierung!)

Hier ist ein Punkt, der gar nicht in dem Gesetzentwurf steht, den wir beraten, der aber mit zu dieser Finanzoperation gehört. Er findet seinen Niederschlag im Haushaltsgesetz 1985, ist aber auch von Ihnen nicht behandelt worden, jedenfalls nicht in der Weise, wie es sich eigentlich gehörte, Herr Cronenberg.
In der NRZ heißt es dann weiter: „Wären seine Vorgänger
— nämlich die sozialdemokratischen Arbeitsminister —
noch im Amt und würden das machen", — das, was dieser Arbeitsminister macht —
so macht ein Teilnehmer am Rande der Veranstaltung seinem Herzen Luft, „und Blüm wäre in der Opposition, dann würde er einen Veitstanz veranstalten.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Oh ja!)

Heiner Geißler würden sicher noch schlimmere Sachen einfallen als das Wort vom Rentenbetrug."

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)




Glombig
Und da war man j a nun wirklich nicht zimperlich, mit dem Wort vom Rentenbetrug.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber es stimmte! — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Aber jetzt ist er wirklich da!)

Ich frage Sie, worauf dies, was Sie hier veranstalten, denn letzten Endes hinausgeht. Diese Frage wird doch wohl berechtigt sein.

(Beifall bei der SPD — Pohlmann [CDU/ CSU]: Wer hat denn von „Problemchen" gesprochen?)

— Ach Gott, „Problemchen" und Rentenbetrug, das ist ein großer Unterschied. Kommen Sie mir nicht mit solchen Sachen! Das sind Albernheiten.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Das sind keine Albernheiten!)

Die Rentenversicherungen
— so heißt es weiter —
wollen keine Beitragserhöhungen, sondern die fünf Milliarden an Beiträgen für die Arbeitslosen wiederhaben,

(Zustimmung der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD])

die von den Sparkommissaren vor zwei Jahren gestrichen worden sind.
Ich finde das deswegen sehr gut, weil dieser Kommentar im Grunde genommen das wiedergibt, was Sache ist.
Zum Schluß heißt es:
Auch mit dem Blüm-Vorschlag zur Gleichstellung von Mann und Frau im Rentenrecht ist der Verband der Rentenversicherungsträger nicht zufrieden. Sie stellen sich vor, daß Blüms Gesetzentwurf keineswegs das letzte Wort ist. Man müsse einen Kompromiß zwischen dem alten Teilhabemodell und Blüms Anrechnungsmodell finden, sagte Vorstandsvorsitzender Dr. Doetsch, denn für solch eine wichtige Entscheidung sollte man eine möglichst breite Mehrheit auch im Parlament haben.
Ich meine auch, daß bei einer so wichtigen Entscheidung eine breitere Mehrheit durch das Parlament hergestellt werden muß.

(Jagoda [CDU/CSU]: Wir wünschen auch, daß Sie zustimmen!)

Hier wünschte ich mir auch, Herr Jagoda, daß es nicht mehr nur um Sprüche Ihres Arbeitsministers und um Sprüche Ihrer Fraktion geht, Sie seien um einen solchen Konsens bemüht. Ich sage Ihnen: Eine solche Bemühung hat ernstlich nicht stattgefunden. Die einzige Bemühung ging dahin, uns klarzumachen: Hier habt ihr das Anrechnungsmodell,

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig! Jawohl!)

schluckt es, und wenn ihr es geschluckt habt, haben wir den Konsens hergestellt! Es hat aber kein ernsthaftes Gespräch über Anrechnung oder über Für und Wider des Anrechnungsmodells auf der einen
Seite und des Teilhabemodells auf der anderen Seite gegeben.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Selbst die FDP hat hier klein beigegeben, obwohl sie eigentlich für das Teilhabemodell sein müßte und sich auch immer dafür ausgesprochen hat. Ich denke nur an Schmidt (Kempten), der ja Vertreter der FDP in der Kommission gewesen ist. Man kann all dies über Bord werfen, wenn das die Opportunität scheinbar erfordert.
Wenn wir von dieser Regierung und den Koalitionsparteien nicht schon bis über die Ohren mit Affären eingedeckt wären, dann müßte man allein schon die Umstände, unter denen das heute zu beratende Gesetz vorbereitet und eingebracht worden ist, als einen politischen Skandal bezeichnen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist erst 14 Tage her, da konnte man in der Sonderausgabe des „Bulletin" der Bundesregierung vom 2. Oktober 1984 folgendes lesen:
Die Renten sind wieder sicher.
— Nach dem Motto: Sicher ist sicher ist sicherer —
Die gesetzliche Rentenversicherung wurde nicht nur aktuell aus der Gefahrenzone gebracht; auch langfristig wurden die Weichen für eine Stabilisierung gestellt. Unstimmigkeiten im Rentenrecht wurden beseitigt und dieses strukturell angepaßt und verbessert.
Erreicht werden konnten diese Ziele mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983, durch das Schritte zur Anpassung der Rentenfinanzen an das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen eingeleitet wurden, sowie mit den Neuregelungen, die Anfang dieses Jahres in Kraft getreten sind.
Meine Damen und Herren, eine dreistere Unwahrheit hat man selten in offiziellen Verlautbarungen einer Regierung finden können.

(Zustimmung der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD])

Denn es ist klar: Schon bevor dieser Text geschrieben und gedruckt wurde, hat man im Arbeitsministerium und bei den Sozialpolitikern der Koalitionsfraktionen die Sanierungsmaßnahmen vorbereitet, die uns jetzt in Form eines eilig eingebrachten Gesetzentwurfes vorliegen. In voller Kenntnis, daß die Rentenversicherung vor einer unmittelbar drohenden Zahlungsunfähigkeit steht, hat die Bundesregierung das Gegenteil behauptet.
Wir sehen es außerdem als eine Brüskierung des Parlaments an — mal ganz abgesehen davon, daß ich das auch persönlich als Brüskierung empfinde, unter welchen Druck man auch den Ausschußvorsitzenden und den ganzen Ausschuß setzen kann —,

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!)

daß die Bundesregierung ein seit Monaten erkennbares und erkanntes Problem so lange auf die lange
Bank schiebt, bis sie zum Schluß gezwungen ist,



Glombig
ihre unumgängliche Gesetzesinitiative als Fraktionsantrag zu verpacken und damit auf das ordnungsgemäße Gesetzesverfahren zu verzichten und im Eilverfahren durch das Gesetzgebungsverfahren zu jagen. Es gibt keinen vergleichbaren Vorgang

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig! — Widerspruch der Abg. Frau Hürland [CDU/ CSU])

unter so spektakulären Umständen.

(Beifall bei der SPD)

Sagen Sie nicht, dies habe die sozialliberale Koalition auch getan! Nennen Sie mir einen Vorgang in der Zeit der sozialliberalen Koalition, wo ein solches Gesetzgebungsverfahren so behandelt worden ist, obwohl während der Sommerpause über dieses Thema gesprochen worden ist. Auf Grund der Leistungskürzungen bei der Bundesanstalt wären bis zum Ende des Jahres Milliarden an sogenannten Überschüssen vorhanden.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Da hat der Blüm doch geschlafen!)

Der Herr Bundesarbeitsminister hat gesagt, dies müsse man bis zum Ende des Jahres abwarten, dies habe noch viel Zeit. So macht er es ja ständig mit seinen Gesetzgebungsvorhaben!
Er kommt in seinem Kabinett damit aber nicht durch und braucht lange Monate, um seine Freunde vom Finanzressort und vom Wirtschaftsressort davon zu überzeugen, daß das, was er gerne machen will, richtig ist. Und dann kommt so ein Ding bei uns auf den Tisch, und es wird verlangt, daß wir in kürzester Zeit, möglichst innerhalb einer Woche, hier die Einbringung, die Beratung, die Sachverständigenanhörung und auch noch die zweite und die dritte Lesung durchführen. Bei der Arbeitslage dieses Parlaments können Sie sich ausrechnen, was das, was Sie von uns verlangen, bedeutet. Wir werden ja nachher noch eine Sondersitzung haben, in der wir auf besonderen Wunsch Ihrer Fraktion einen Beschluß herbeiführen.
Ich sehe rot, ich sehe das Ende.

(Clemens [CDU/CSU]: Was sollen Sie sonst sehen? — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Ja, das Ende!)

Ich sehe das Ende, aber obwohl ich das Ende sehe, (Dr. George [CDU/CSU]: „respice finem"!) gestatten Sie mir noch einen, zwei Sätze.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt mal richtig zur Sache!)

— Ach, zur Sache habe ich ja wohl gesprochen. Kommen Sie mir doch nicht mit solchen Dingen!
Ich will sagen, daß Sie, Herr Arbeitsminister, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Scheitern Ihrer bisherigen Rentenpolitik offiziell dokumentiert haben. Aber die Versuche, den Gewerkschaften, insbesondere ihrer eigenen Gewerkschaft, die Schuld anzulasten, wie Sie es hier auf diese unappetitliche Weise heute erneut gemacht haben, sind absurd. Sie sind auch von der Sache her absurd, und sie stehen zudem im Widerspruch zu der offiziellen Ideologie der Bundesregierung und der früheren Opposition, nach der niedrige Lohnsteigerungen doch angeblich gut für die Beschäftigung und damit auch für das Steueraufkommen und die Beitragseinnahmen der Sozialversicherung sein sollen.

(Glocke des Präsidenten)

Diesen Widerspruch sollen Sie erst einmal bei sich, in Ihrer Regierung aufklären, und Sie sollten sich bei solchen Äußerungen — auch was die Sache angeht — etwas zurückhalten.

(Glocke des Präsidenten)

— Ich werde jetzt die Frau Präsidentin nicht länger ärgern. Ich gehe freiwillig.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009507200
Vielen Dank, Herr Kollege.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Schon wieder? — Glombig [SPD]: Dann ist die Debatte wieder eröffnet! — Zuruf von den GRÜNEN: Sie waren schon einmal dran, Herr Blüm!)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1009507300
Meine Damen und Herren, es kann dem Dialog ja nur dienen, wenn hier einige Klarstellungen zu dem Thema vorgenommen werden, das Herr Glombig jetzt in die Debatte eingeführt hat, das allerdings nicht Gegenstand des Gesetzentwurfes ist, nämlich zur Reform der Hinterbliebenenversorgung. Dazu in aller Kürze nur folgende Feststellungen:
Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 ein Urteil zur Gleichberechtigung von Mann und Frau im Rentenrecht gesprochen. 1982, als wir die Regierung übernahmen, fanden wir Pläne, Papiere und Probleme vor, aber keinen einzigen Paragraphen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wir haben in zwei Jahren einen Gesetzentwurf vorgelegt!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist der Unterschied. Erst sieben Jahre Diskussion, sieben Jahre Papier, sieben Jahre Absichten, aber keinen Paragraphen!

(Zuruf von der CDU/CSU: Keine Lösung!) Den legen wir vor.


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009507400
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1009507500
Bitte.

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1009507600
Herr Bundesarbeitsminister, sind Sie bereit, im Arbeitsministerium noch einmal in den Akten wälzen zu lassen? Denn ich habe einen paragraphierten Gesetzentwurf hinterlassen.




Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1009507700
Verehrte Frau Kollegin Fuchs, in welcher Schublade, weiß ich nicht; die Schublade des Kabinetts hat dieser Gesetzentwurf jedenfalls nie erreicht, und erst ab da beginnen Gesetze in der Öffentlichkeit relevant zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir schon über Erziehungszeiten sprechen, muß man, so finde ich, auf das Baby-Jahr Bezug nehmen, das Sie 1972 vorgeschlagen haben. Da will ich Ihnen den Unterschied nennen: Er ist wie der Unterschied zwischen einem Fahrrad, dem alle Reifen fehlen, und einem anständigen Automobil.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Das ist der Unterschied zwischen Ihrem Baby-Jahr und unseren Erziehungszeiten!
Erstens war Ihr Baby-Jahr nur für die berufstätigen Frauen gedacht. Ich wende mich an alle Frauen mit der Frage, ob sie ein solch diskriminierendes Gesetz als ein Reformgesetz betrachten würden. Es war ein Gesetz nur für berufstätige Frauen, und zwar nur für diejenigen, die einen Anspruch auf Rente hatten. Um in die Altersrente zu kommen, mußte man damals 15 Jahre Beitrag gezahlt haben. Also ein Baby-Jahr zum einen nur für berufstätige Frauen und zum zweiten noch nicht nicht einmal für alle berufstätigen, sondern nur für die, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, also nur für einen Teil der Gruppe der Frauen und dann nur für einen Teil dieses Teils! Weiter verkleinern kann man den Kreis ja nicht.
Zweitens war das Baby-Jahr je nach Rentenhöhe unterschiedlich. Es betrug für die einen 1,20 DM im Monat und für die anderen 23 DM. Für uns ist Kind Kind, bei uns bekommt jede Mutter auf der Grundlage von 75% Durchschnittsverdienst 25 DM.

(Beifall bei der CDU/CSU)

1,20 DM haben Sie als Baby-Jahr angeboten! Da braucht einer ein Vergrößerungsglas, da ist das Wort größer als die ganze Geldleistung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Porto wäre größer gewesen als die ganze Rentenleistung. Da kommen Sie heute her und machen mir Vorwürfe über die Anrechnung von Erziehungszeiten, die wir jetzt einführen.
Drittens, meine Damen und Herren — und jetzt hören Sie und staunen —: Herr Glombig hat sich erregt, daß nicht klar sei, wer es 1989 bezahlt. Ich stelle fest, im Gesetzentwurf steht drin: Dies wird durch Erhöhung des Bundeszuschusses bezahlt und der Rentenversicherung erstattet. Bitte, keine Legenden!
Ich nenne das auch deshalb, weil die SPD in ihrem Regierungsentwurf 1972 dies von den Beitragszahlern bezahlen lassen wollte. Herr Glombig, warum erzählen Sie nicht die ganze Geschichte? Das hätte die Rentenversicherung bis 1986 18 Milliarden DM gekostet. Woher nehmen Sie eigentlich so viel — jetzt will ich ein ganz vorsichtiges Wort suchen — Mut, sich hier hinzustellen und etwas zu attackieren, was in unserem Gesetzentwurf nicht vorhanden ist, aber in Ihrem Gesetzentwurf enthalten war? Betreiben Sie Selbstanklage, oder haben Sie die Adresse verwechselt? Sie schießen ein Selbsttor.
Nächster Punkt. In der Tat, bei unserem Erziehungsjahr geht es auch nur um die Zukunft. Diesen Nachteil — und den mache ich Ihnen gar nicht zum Vorwurf — hatte allerdings auch das 1972 von der SPD vorgeschlagene Baby-Jahr. Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, weil wir ein hundertjähriges Unrecht gegenüber den Müttern nicht 100 Jahre danach wettmachen können. Dazu fehlt uns die Finanzkraft. Wer jetzt Gleichbehandlung über alle schreibt, muß die Gleichbehandlung zum Nulltarif fortsetzen, der muß das Unrecht fortsetzen. Das wollen wir nicht. Die Sozialpolitik, die nach dem Motto „alles oder nichts" arbeitet, landet bei nichts. Wir machen das Schritt für Schritt. Deshalb werden alle ab Jahrgang 1921, die in Rente gehen, ein Erziehungsjahr bekommen.
Jetzt appelliere ich auch die Großmütter. In der Tat fehlt uns das Geld, um 100 Jahre Unrecht wettzumachen. Aber ist es für sie nicht — ich benutze das Wort — ein starker Trost, daß ihren Kindern und Enkeln gegenüber dieses Unrecht nicht fortgesetzt wird, daß die CDU damit Schluß macht? Das ist eine Jahrhundertleistung. Solange es Sozialversicherung gab, gab es das nie. Ab jetzt wird, wenn das Gesetz hier die Zustimmung des Hohen Hauses findet, endlich Erziehung im Rentenrecht berücksichtigt, wird endlich die Erziehungsarbeit auch für die Rentenversicherung gewertet. Und ich denke, die Mütter müssen gar nicht danke schön sagen; denn sie haben mit der Erziehung von Kindern überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß übermorgen noch Renten finanziert werden.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009507800
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?

Eugen Glombig (SPD):
Rede ID: ID1009507900
Herr Bundesarbeitsminister, habe ich eben eigentlich richtig gehört, daß Sie bezüglich der Mütter, die unter wesentlich schwierigeren sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen die Last der Kindererziehung getragen haben, auf Berücksichtigung verzichten wollen und an diese Frauen appellieren, damit ihre Kinder Zeiten der Kindererziehung in ihren Renten gutgeschrieben bekommen, obwohl diese Renten im Verhältnis zu den Renten dieser Großmütter bedeutend niedriger sind als die Renten dieser Mütter? Ist dies Ihr Ernst?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1009508000
Das ist mir so ernst, wie es Ihnen 1972 mit Ihrem Gesetzentwurf war, der auch nur die Zukunft betroffen hat.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Den haben Sie doch damals verhindert!)

Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei! Was haben die Rentner und die älteren und jungen Mütter davon, daß die SPD ständig darüber diskutiert hat, aber nie einen Gesetzentwurf vorgelegt hat'? Bei Ihnen haben es weder die Jüngeren noch die



Bundesarbeitsminister Dr. Blüm
Älteren bekommen. Es fällt mir schwer — ich gestehe es —, es ab Jahrgang 1921 für die zu machen, die mit 65 in Rente gehen.
Ich will darauf hinweisen, daß es noch eine Alternative gab, nämlich erst für die Kinder, die jetzt geboren werden. Das wäre allerdings eine Erziehungszeit gewesen, die in der Rente erst in 30 Jahren aufgetreten wäre. Das haben wir nicht gemacht. Aber mit den vorhandenen Mitteln ist das das Maximum, das erreichbar ist. Machen wir das jetzt und setzen wir das Unrecht nicht fort. Dies wollte ich zur Klarstellung sagen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009508100
Das Wort hat der Abgeordnete Weinhofer.

(Lutz [SPD]: Gott sei Dank! Das war nämlich eine üble Rede!)


Karl Weinhofer (SPD):
Rede ID: ID1009508200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der „Süddeutschen Zeitung" dieser Woche war ein Lob meines Kollegen Seehofer auf dem Parteitag der CSU zu lesen, der den Bundesarbeitsminister als „Meister des Verkaufs" bezeichnet hat. Wahrlich, Herr Arbeitsminister, Sie sind ein Meister des Verkaufs.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Mogelpackung!)

Sie sind auch in Ihrem Beitrag heute wieder Ihren Grundsätzen treu geblieben. Sie handeln immer nach dem Motto „jedem etwas" oder nach dem ersten jesuitischen Agitationsgrundsatz: „Komme mit dem, was den anderen berührt, und gehe heim mit dem, was dich berührt". Auf diese Weise macht der Bundesarbeitsminister Politik:

(Zuruf des Abg. Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU])

Er sucht immer den Beifall einer Gruppe, um die andere auszuspielen.

(Beifall bei der SPD)

Die Beispiele dafür sind in den zwei Jahren dieser Rechtsregierung mittlerweile Legion. Ich erwähne in diesem Zusammenhang das Beschäftigungsförderungsgesetz. Es heißt, daß man Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung durchführen muß. Aber im Gegensatz dazu bauen Sie Arbeitsschutzrechte ab.

(Frau Dr. Timm [SPD]: So ist es!) Sie höhlen den Kündigungsschutz aus.


(Dr. George [CDU/CSU]: Falsche Rede!)

— Ich komme sofort dazu. Nehmen wir das Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit. Da heißt es in der Tonart des Bundesarbeitsministers: Wir müssen ausbildungshemmende Vorschriften abbauen. In Wirklichkeit bauen Sie Jugendarbeitsschutzrechte ab.
Ich erwähne ferner das Schwerbehindertengesetz. In der Broschüre des Ministeriums ist von mehr Beschäftigungschancen die Rede. Sie wissen, Herr Minister, daß nach den Berechnungen des VdK und des Reichsbunds durch die Herausnahme der Ausbildungsplätze aus der Berechnungsgrundlage für die Pflichtplätze 60 000 bis 70 000 Schwerbehinderte arbeitslos werden.
Lassen Sie mich jetzt konkret zu dem kommen, was Sie gesagt haben. Es ist ganz interessant, wenn man in den Archiven nachschaut und sich Ihre Propaganda ansieht, die Sie anläßlich der Bundestagswahl 1976 herausgegeben haben. Da ist z. B. die Rede davon, SPD und FDP — Ihr jetziger Koalitionspartner — seien zwei, die die Rente gefährdeten. Wenn Sie redlich argumentieren, müssen Sie zugeben, daß die Renten in der Zeit der sozialliberalen Koalition nie gefährdet waren.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt aber haben Sie den Punkt erreicht, da die Schwankungsreserve weniger als eine Monatsausgabe ausmacht.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn Sie, Herr Bundesarbeitsminister, sich hier hinstellen und meinen, die Sozialdemokraten hätten kein Babyjahr für alle Hausfrauen gefordert, dann ist dies schlicht eine falsche Aussage. Nach dem damaligen Regierungsentwurf sollten alle versicherten Frauen zur Abgeltung eines zusätzlichen Versicherungsjahres einen Zuschlag zu ihrer Rente erhalten. Aber bei den Ausschußberatungen im Deutschen Bundestag wurde dies dahin gehend geändert, daß bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre ein zusätzliches Versicherungsjahr als Babyjahr angerechnet werden sollte. Diese Regelung sollte für alle versicherten Frauen gelten.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

Da mit dem Rentenreformgesetz allen Hausfrauen der Beitritt zur gesetzlichen Rentenversicherung auf freiwilliger Grundlage eröffnet wurde, wären auch Hausfrauen auf freiwilliger Basis auf Grund der freiwilligen Versicherung in den Genuß dieses Babyjahrs gekommen.

(Zuruf der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD])

Ich möchte mit Nachdruck feststellen: Zwischen der pflichtversicherten und der freiwillig versicherten Hausfrau machte der damalige Regierungsentwurf beim Babyjahr keinen Unterschied.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich ganz kurz auf folgenden Aspekt dieses Gesetzes zurückkommen. Jeder, der Zeitungen liest, weiß, daß Ihnen der Bundesfinanzminister Stoltenberg die Finanzmittel zur Finanzierung des Babyjahrs verweigert hat.
Welchen Trick wenden Sie an? Einerseits erweitern Sie die Sperrzeiten, mit der finanzpolitischen Konsequenz, daß die Bundesanstalt für Arbeit Mehreinnahmen in einem Umfang von 250 Millionen DM hat. Andererseits ist als positives Element, das sicherlich auch von uns begrüßt wird, festzustellen — es ist j a gerade Ihr Dreh, daß Sie immer auch ein positives Element dabei haben —, daß das Arbeitslosengeld statt 12 jetzt 18 Monate gezahlt wird. Darauf hat die Kollegin Potthast schon hingewiesen. Dadurch erreichen Sie eine Entlastung der Bundesanstalt für Arbeit. Wenn man das quantifiziert, kommt man — mit steigender Tendenz — auf 800 bis 920 Millionen DM. Die genauen Zahlen habe ich hier, aber ich will es mir ersparen, sie jetzt vor-



Weinhofer
zulesen. Ich will das nur über den Daumen gepeilt sagen.
Auf diese Weise haben Sie eine Entlastung des Bundeshaushaltes, weil Sie den zweiten Verschiebebahnhof Baby-Jahr aufmachen. Sie finanzieren auf diese Weise, d. h. eigentlich mit den Beiträgen der Bundesanstalt für Arbeit, Ihr Baby-Jahr.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Das bedeutet für uns Sozialdemokraten eine unsaubere Finanzierung.

(Beifall bei der SPD — Lutz [SPD]: „Unsauber" ist sehr milde ausgedrückt!)

Ich bin mir darüber klar, daß Sie es als politischer Billardspieler auch in Zukunft immer verstehen werden, nur dort zu pumpen, wo das Loch des großen Geldes ist.

(Lutz [SPD]: Immer über Bande!) — So ist es.

Ich will auch noch einen anderen Aspekt ansprechen, der sich auf Grund des beratenen Gesetzes ergibt. Das ist die Auswirkung auf die Kommunen. In der „Süddeutschen Zeitung" war zu lesen, daß sich die kommunalen Spizenverbände dagegen gewehrt hätten, ständig zur Kasse gebeten zu werden. Sie fordern ganz klar und deutlich, daß die Überschüsse, die bei der Bundesanstalt für Arbeit erzielt werden, in erster Linie dazu benutzt werden sollten, um das Leistungsniveau anzuheben.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Wir wissen aus der Haushaltsoperation 1982, daß z. B. der Sozialhilfehaushalt einer Stadt wie Hannover durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsklauseln, durch die Verlängerung der Sperrzeiten schon damals um 14 Millionen DM mehr belastet wurde. Die Verlängerung der Sperrzeiten im vorliegenden Fall wird denselben Effekt haben.
Deswegen bin ich der Meinung, daß Ihnen, Herr Minister Blüm, mit dieser Vorlage nur zweierlei geglückt ist: Erstens bürden Sie den Gemeinden wieder eine größere Belastung auf. Zweitens tun Sie arbeitsmarktpolitisch nichts.
Wenn Sie sich hingegen unseren Antrag zur Förderung der Beschäftigung vor Augen führen, müßten Sie eigentlich sehen, daß wir Sozialdemokraten ganz konkrete Vorschläge gemacht haben, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

(Zuruf von der FDP: Aber ohne Haushaltsdeckung!)

Zu diesen Vorschlägen gehören z. B. die Programme, die in unserer Regierungszeit entstanden sind und zum Ziel haben, insbesondere die Benachteiligten zu fördern. Es müssen neue Impulse gegeben werden.

(Zustimmung bei der SPD)

Wir wissen, daß den Arbeitsämtern kein Geld gegeben wird, um z. B. im Benachteiligtenbereich, im Schwerbehindertenbereich spürbare Maßnahmen durchzuführen. Die von der Rechtskoalition vorgesehenen Sperrfristen — —

(Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Die Seite haben Sie schon einmal verlesen!)

— Nein, nein. Wissen Sie, ich versuche, frei zu reden, ohne Manuskript. Da kann es schon einmal vorkommen, daß man sich bei dem Papiersalat vergreift.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten fordern, daß die Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit für arbeitsfördernde Maßnahmen genutzt werden. Deshalb haben wir unseren Antrag „Förderung der Beschäftigung" vorgelegt. Wir bestehen darauf, daß zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung die Eingliederungshilfen für Jugendliche nach der Ausbildung, für ältere Arbeitnehmer, für längerfristig Arbeitslose und für Schwerbehinderte ausgebaut werden.
Ich sehe, daß die Redezeit abgelaufen ist. Ich bedanke mich bei Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009508300
Als letzter hat das Wort Herr Abgeordneter Cronenberg.

(Zuruf von der SPD: Was? Noch einmal? — Muß das sein?)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1009508400
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht ganz schnell.
Lieber Eugen Glombig, die Fraktionen, die die alte Koalition getragen haben, waren besser als ihr Ruf. Sie haben gemeinsam — wir beide — eingebracht: AFKG — Drucksache 9/799 —, das Sechste Rentenversicherungs-Änderungsgesetz — Drucksache 9/1957 —, das Sozialversicherungs-Änderungsgesetz — Drucksache 9/1958 —, das Haushaltsstrukturgesetz — Drucksache 9/795 —, und zwar immer aus dem gleichen Grund: weil die Regierung nicht schnell genug war. Die Koalitionsfraktionen haben der Regierung immer geholfen, und das ist auch vernünftig und richtig so.
Unterstützen möchte ich allerdings die Kritik von Eugen Glombig — da habe ich überhaupt keine Probleme —, daß es bedauerlich ist, daß die Beratungszeiten nicht in genügendem Umfang zur Verfügung stehen. Dies ist auch eine ernstgemeinte Aufforderung an den Bundesarbeitsminister, mit dazu beizutragen, daß wir ausreichend Beratungszeit haben.
Warum ich mich überhaupt gemeldet habe, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die letzte Stunde der Debatte habe ich fast nicht mehr verstanden. Wir reden hier über die Sicherung der Liquidität in der Rentenversicherung in den nächsten Jahren und über eine Beitragssenkung in der Arbeitslosenversicherung. Beides sind wichtige Maßnahmen für die gesamte Beitragsstabilität. Aber die Hinterbliebenenversorgung und das Baby-Jahr stehen weder in dem Gesetzentwurf, den wir zu beraten haben, noch hat das mit den Themen von heute irgend etwas zu tun.



Cronenberg (Arnsberg)

Damit aber Eugen Glombig ein ruhiges Wochenende hat: Die FDP ist in der neuen Koalition genauso lästig und stur wie in der alten, insofern kannst du denen jetzt den Ärger gönnen, den du früher selber gehabt hast. Das Baby-Jahr wird ab 1989 selbstverständlich aus dem Haushalt finanziert, oder es wird in diesem Bundestag nicht mit den Stimmen der Freien Demokraten verabschiedet werden.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Dann seid ihr doch gar nicht mehr hier!)

Diese Wochenendberuhigung wollte ich Eugen Glombig mit nach Hamburg geben.
Herzlichen Dank für Ihre zusätzliche Geduld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1009508500
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/2176 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft sowie zur Mitberatung und Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch, es gibt auch keine zusätzlichen Bemerkungen. Dann ist dies so beschlossen.
Zwischendurch darf ich ganz schnell einmal sagen, daß ich gebeten worden bin, Ihnen mitzuteilen, daß die CDU/CSU-Fraktionssitzung um 11.45 Uhr und die FDP-Fraktionssitzung unmittelbar nach Schluß der Sitzung beginnen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes
— Drucksache 10/1863 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Das Wort wird nicht gewünscht. Der Minister verzichtet auf eine Begründung.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 10/1863 an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. — Kein Widerspruch. Keine zusätzlichen Wünsche. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 30 ist abgesetzt.
Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 31 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag von 13. März 1984 zur Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönlands
— Drucksache 10/2120 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Hierzu wird eine Aussprache nicht erbeten.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Keine weiteren Vorschläge. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer Tagesordnung angekommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages am Montag, dem 5. November 1984, 14.30 Uhr durchzuführen.
Die Sitzung ist geschlossen.