Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich darf beginnen mit einem Glückwunsch an den Herrn Abgeordneten Schulhoff, der gestern seinen 72. Geburtstag feierte.
Wir sprechen ihm die besten Wünsche des Hauses aus.
Es liegt Ihnen folgende Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Vorlage des Bundeskanzlers
Betr.: Raumordnungsbericht 1970
Bezug: § 11 des Raumordnungsgesetzes
— Drucksache VI/1340 —
zuständig: Innenausschuß
Ausschuß für Städtebau und Wohnungswesen
Vorlage des Bundesministers für Verkehr
Betr.: Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes
Bezug: Beschluß des Bundestages vom 22. Januar 1969 — Drucksache VI/1402 —zuständig: Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
Vorlage des Sprechers der Deutschen Delegation bei der Beratenden Versammlung des Europarates
Betr.: Bericht über die Gemeinsame Tagung der Beratenden Versammlung und des Europäischen Parlaments am 17. September 1970 und die Herbsttagung der Beratenden Versammlung des Europarates vom 18. bis 25. September 1970 in Straßburg
— Drucksache VI/1423 —
zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Vorlage des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister des Auswärtigen
Betr.: Rechtsstellung und Ausbildung der deutschen Be-
amten für internationale Aufgaben
Bezug: Beschluß des Bundestages vom 2. Juli 1969
— Drucksache VI/1465 —zuständig: Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß
— Ich höre keinen Widerspruch; die Überweisung ist beschlossen.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 13. November 1970 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt:
Gesetz zur Änderung des Zerlegungsgesetzes
Gesetz zur Änderung des Durchführungsgesetzes EWG-Richtlinie Frisches Fleisch
Gesetz zu dem Abkommen vom 3. November 1969 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die steuerliche Behandlung von Straßenfahrzeugen im internationalen Verkehr
Gesetz zu dem Abkommen vom 18. November 1969 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich über die steuerliche Behandlung von Kraftfahrzeugen im grenzüberschreitenden Verkehr
Gesetz zu dem Vertrag vom 22. April 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Gesetz zu dem Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften
Die Antwort des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Henze, Burger, Dr. Fuchs, Frau Stommel und Genossen betr. Richtlinien für den Bundesjugendplan — Drucksache VI/1296 — ist in geänderter Fassung als Drucksache VI/1382 verteilt.
Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat am 19. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kiep, Breidbach, Josten, Dr. Preiß, Pieroth, Dr. Rinsche, Roser, Werner, Frau Dr. Wolf, Dr. Wulff und Genossen betr. Entwicklungspolitik der Bundesregierung — Drucksache VI/1412 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1447 verteilt.
Das Presse und Informationsamt der Bundesregierung hat am 17. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Leicht, Dr. Pohle, Dr. Althammer, Wohlrabe und der Fraktion der CDU/CSU betr. Veröffentlichungen des Presse- und Informationsamtes — Drucksache VI/1375 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1456 verteilt.
Der Bundesminister der Verteidigung hat am 19. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Klepsch, Dr. Zimmermann, Damm, Ernesti, Dr. Abelein, Dr. Wörner, Dr. Marx und Genossen betr. Ausbildung und Bildung der Soldaten — Drucksache VI/1356 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1457 verteilt.
Der Bundesminister für Wirtschaft hat am 23. November 1970 die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Pohle und der Fraktion der CDU/CSU betr. Auswirkungen der DM-Aufwertung auf den Fremdenverkehr — Drucksache VI/1367 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1461 verteilt.
Der Bundesminister der Finanzen hat am 20. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Pohle, Strauß, Leicht, Dr. Marx und der Fraktion der CDU/CSU betr. mögliche finanzielle Folgen der Ostpolitik der Bundesregierung — Drucksache VI/1404 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1462 verteilt.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen hat am 24. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hauser , Rösing, Dr. Kliesing (Honnef), Dr. Frerichs und Genossen betr. Ergebnisse des „Expertenkolloquiums Bundesbauten Bonn" im September 1970 — Drucksache VI/1358 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1466 verteilt.
Der Bundesminister der Verteidigung hat am 24. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß und Genossen betr. Waffendiebstähle — Drucksache VI/1345 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1475 verteilt.
Der Bundesminister der Verteidigung hat am 24. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Klepsch, Dr. Zimmermann, Stahlberg, Ernesti, Damm, Dr. Marx und Genossen betr. Weißbuchdebatte 1970 — Drucksache VI/1357 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1476 verteilt.
4516 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Präsident von Hassel
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft hat am 26. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Fellermaier, Dr. Apel, Ollesch und der Fraktionen der SPD, FDP betr. Automobilpreise in der EWG — Drucksache VI/1405 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1483 verteilt.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft hat am 26. November 1970 die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Schmidt und der Fraktion der CDU/CSU betr. finanziellle Aufwendungen des Bundes für Verbraucheraufklärung — Drucksache VI/1403 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1484 verteilt.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen hat am 26. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lemmrich, Dr. Gruhl, Unertl und Genossen betr. Ablösung der Hubraumsteuer — Drucksache VI/1426 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1485 verteilt.
Das Presse- und Informationsamt der Bundesregirung hat am 23. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Stücklen, Dr. Althammer und Genossen betr. Presse- und Informationsamt — Drucksache VI/1427 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1486 verteilt.
Die Stellungnahme des Bundesrates sowie die Auffassung der Bundesregierung zu dem Beschluß des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1971 ist als zu Drucksache VI/1100 verteilt.
Die Stellungnahme des Bundesrates sowie die Auffassung der Bundesregierung zu dem Beschluß des Bundesrates zum Finanzplan des Bundes 1970 bis 1974 ist als zu Drucksache VI/1101 verteilt.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehende Vorlage auch dem Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen:
Verordnung des Rates über die Satzung einer Europäischen Aktiengesellschaft
— Drucksache VI/1109 —
Der Ausschuß für Wirtschaft, der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und der Finanzausschuß haben gegen die nachfolgenden, vom Rat der EG inzwischen verkündeten Verordnungen keine Bedenken erhoben:
Verordnung des Rates zur Verlängerung der Geltungsdauer der Artikel 1 bis 4 der Verordnung Nr. 290/69 zur Festlegung der Kriterien für die Bereitstellung von Getreide für die Nahrungsmittelhilfe
— Drucksache VI/1171 —
Verordnung des Rates über Sondermaßnahmen für das Brennen von Birnen, die Gegenstand von Interventionsmaßnahmen waren
Verordnung des Rates über Sondermaßnahmen für den Auftrag zur Verarbeitung von Tomaten und Birnen, die Gegenstand von Interventionsmaßnahmen waren
— Drucksache VI/1200 —
Verordnung des Rates zur Ausdehnung des Anhangs der Verordnung (EWG) Nr. 109/70 des Rates vom 19. 12. 1969 zur Festlegung einer gemeinsamen Regelung für die Einfuhr aus Staatshandelsländern auf weitere Einfuhren (2. Erweiterung)
— Drucksache VI/1095 —Verordnung des Rates
über die Finanzierung von Interventionsausgaben auf dem Binnenmarkt für Milch und Milcherzugnisse
— Drucksach VI/603 —
Verordnung des Rates
über die Finanzierung von Interventionsausgaben auf dem Binnenmarkt für Rindfleisch
— Drucksache VI/682 —
Verordnung des Rates betreffend allgemeine Durchführungsbestimmungen zu Artikel 6 und Artikel 7 Absatz der Verordnung (EWG) Nr. 2517/69 zur Festlegung einiger Maßnahmen zur Sanierung der Obsterzeugung in der Gemeinschaft
— Drucksache VI/1103 —
Der Bundeskanzler hat am 27. November 1970 gemäß § 20 Abs. 5 des Milch- und Fettgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. Dezember 1952 die vom Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu erlassende Verordnung über Mindestpreise für Trinkmilch mit der Bitte um Bekanntgabe übersandt. Sie liegt im Archiv zur Einsichtnahme aus.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksachen VI/1480, VI/1490 —
Zunächst zwei dringliche Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Fellermaier auf:
Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß die allgemeinen Preiserhöhungen fast aller Automobilhersteller in der Bundesrepublik Deutschland von durchschnittlich 6 % durch Kostenerhöhungen gerechtfertigt sind?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Rosenthal.
Herr Kollege, es ist schwierig, ohne eine genaue Untersuchung der Kosten und Gewinne zu der Frage global Stellung zu nehmen. Es ist jedoch zuzugeben, daß die Automobilindustrie Steigerungen sowohl bei den Material- als auch den Personalkosten aufzufangen hat. Im übrigen trifft es nicht zu, daß alle Automobilhersteller in der Bundesrepublik die Preise um durchschnittlich 6 % erhöht haben. Bisher haben nur drei Unternehmen die Preise erhöht, andere bereits im Sommer, aber um teilweise erheblich geringere Prozentsätze.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fellermaier.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es auch Ankündigungen anderer Unternehmen gibt, in den Preiserhöhungen nachzuziehen, so daß man die Schlußfolgerung treffen muß, daß in einem gewissen Zeitraum alle Automobilfabriken gleichmäßig die Preise um durchschnittlich mehr als 6 % anheben? Kann man daraus nicht doch gewisse Schlüsse ziehen?
Herr Kollege, mir ist bekannt, daß in einigen Werken solche Überlegungen stattfinden. Ich habe es aber nicht von allen Werken gehört. Im übrigen sind die Personal- und Materialkosten ja für alle Automobilwerke gestiegen.
Präsident- von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fellermaier.
Herr Staatssekretär, würden Sie meiner Feststellung zustimmen können, daß die Materialkosten bei den einzelnen Werken sehr differenziert sind, weil sie abhängig sind von verschiedenen Einkaufsfaktoren, von Konzernverbünden bei Automobilwerken und auch davon, in welchem Umfang Material tatsächlich auf dem Weltmarkt eingekauft wird?
Dem würde ich bis zu einem gewissen Grade zustimmen, Herr Kollege.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Niegel.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Meinung, daß Erhöhungen der Tarife zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften bei den Preiserhöhungen eventuell auch eine Rolle gespielt haben?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4517
Selbstverständlich gehören Lohnerhöhungen auch zu den Faktoren, die einen Einfluß auf die Kosten haben können.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dasch.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung die Befürchtung der Automobilfirmen bekannt, daß sie im nächsten Jahr mit den jetzt angekündigten Preiserhöhungen gar nicht auskommen, und ist die Bundesregierung bereit, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Kostensteigerungen ein Ende finden, so daß diese Begründung wegfällt?
Herr Kollege, von solchen Befürchtungen ist mir nichts bekannt.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Fellermaier auf:
Ist die Bundesregierung gegebenenfalls bereit, von ihrem Weisungsrecht gegenüber dem Bundeskartellamt Gebrauch zu machen und das Kartellamt anzuweisen, eine Untersuchung über das Marktverhalten und die Kostenentwicklung bei den Automobilherstellern durchzuführen?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Kollege, eine Weisung an das Bundeskartellamt erübrigt sich, da dieses, wie Sie gerade aus den Ereignissen der letzten Zeit wissen, von sich aus ständig bemüht ist, überhöhte Preise anzugreifen, wenn begründete Anhaltspunkte für eine mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung oder eine mißbräuchliche Handhabung der Preisbindung gegeben sind. Sie werden, wie ich glaube, den Pressemeldungen in den nächsten Tagen entnehmen können, wie wirksam das Kartellamt die lückenhafte Preisbindung angreift und in welcher Weise es tätig wird.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Fellermaier.
Herr Staatssekretär, der Vorwurf, der in der Öffentlichkeit und auch in Teilen der Wirtschaftspublizistik gegen die Automobilfabriken erhoben wird, ist ja der, daß man über die tatsächliche Kostenentwicklung einen Schleier senkt. Würden Sie daraus nicht folgern, daß es notwendig ist, daß das Bundeskartellamt einmal eine Generaluntersuchung anstellt, damit man auch in der Wirtschaftspolitik zu Fakten kommt, die es erlauben, die Unternehmens- und Preispolitik der Automobilkonzerne nach strengsten objektiven Maßstäben zu messen?
Herr Kollege, ich kann in die derzeitigen Befugnisse des Bundeskartellamts nicht eingreifen.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Fellermaier.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen wenigstens bekannt, ob die Leitung des Bundeskartellamts in Berlin, veranlaßt durch die Preissteigerungen der vergangenen 14 Tage, von sich aus eine solche Untersuchung durchführen will?
Es ist mir bekannt, daß dies der Fall ist.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Mertes.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß auch die Automobilwerke in der Bundesrepublik einem starken Wettbewerb auf dem Markt ausgesetzt sind und daß damit ein entsprechendes Regulativ gegeben ist?
Ich teile Ihre Meinung, daß die Automobilbranche einem Wettbewerb ausgesetzt ist. Ich habe meine Antwort auf die Frage des Kollegen Fellermaier vorhin deshalb so vorsichtig formuliert, weil es — ohne eine genaue Einsicht in die Kalkulationen — schwer ist, jetzt ein Urteil darüber abzugeben, welche Preiserhöhungen berechtigt sind und welche nicht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, haben Sie in Ihre Antwort, daß es einen internationalen Wettbewerb auf unserem Markte gibt, auch die Tatsache mit einbezogen, daß z. B. die französischen Automobilhersteller ihre Produkte auf dem deutschen Markt zu wesentlich höheren Preisen anbieten als auf dem einheimischen Markt?
Herr Kollege, diese Frage ist von mir bereits einmal an anderer Stelle beantwortet worden, wobei ich auch auf die Maßnahmen eingegangen bin, die auf deutscher bzw. EG-Ebene in dieser Hinsicht ergriffen werden.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit sind die Dringlichen Mündlichen Fragen beantwortet.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Städtebau und Wohnungswesen. Zunächst rufe ich die Frage 1 des Abgeordneten Niegel auf:
Welche schwerwiegenden Mängel des Bodenrechts meint der Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen, die er laut Mitteilung der Neuen Heimat in einer Teilnovelle vorab beheben will, und welche gesellschaftlich notwendigen Steuerungsaufgaben sollen dabei erfüllt werden?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ravens, bitte!
4518 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Herr Kollege, die schwerwiegenden Mängel, die Herr Minister Dr. Lauritzen in seinem Referat vor dem Deutschen Volksheimstättenwerk angesprochen hat, bestehen in erster Linie darin, daß im geltenden Recht Handhaben fehlen, die eine Realisierung städtebaulicher Zielvorstellungen ermöglichen, die unseren heutigen Anforderungen an Leben, Wohnen und Arbeiten entsprechen.
Die öffentliche Hand muß in unser aller Interesse bei ihrer planerischen Tätigkeit eine optimale städtebauliche Lösung anstreben. Dies ist im Hinblick auf die hohen Grundstückspreise vielfach nicht möglich. Das wiederum hat zur Folge, daß die Festsetzungen über das, was im Einzelfall auf einem Grundstück aus städtebaulichen Gründen gebaut werden soll, z. B. Wohnungen, ein Kindergarten, eine Straße, ein Verwaltungsgebäude, eine Schule und ähnliches, heute nicht immer aus dem Blickpunkt der Notwendigkeit und der Zweckmäßigkeit heraus bestimmt wird. Maßgebend ist leider allzuoft die zufällige Verfügbarkeit des Grund und Bodens. Dies gilt insbesondere dann, wenn die für infrastrukturelle Maßnahmen benötigten Grundstücke im allgemeinen Geschäftsverkehr zu einem derart hohen Preis gehandelt werden, daß die Realisierung dieser Maßnahmen bereits aus finanziellen Erwägungen nicht mehr möglich ist. Will der Städtebau seiner gesellschaftlichen Steuerungsaufgabe gerecht werden, so müssen wir durch gesetzgeberische Initiativen erreichen, daß der benötigte Boden an den jeweiligen Orten des Bedarfs zur Verfügung steht, und zwar zu Preisen, die jede Spekulation wegen der zukünftigen Nutzung ausschließen.
Mit dem Entwurf eines Städtebauförderungsgesetzes haben die Bundesregierung und auch Ihre Fraktion, Herr Kollege, einen ersten Schritt in dieser Richtung getan. Es gilt nun auch den zweiten Schritt zu tun, um die Sozialbindung des Eigentums im Hinblick auf die in ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung ständig wachsenden Aufgaben im Städtebau allgemein stärker zum Tragen zu bringen. Bei der beabsichtigten Novellierung werden wir daher prüfen müssen, ob die bodenrechtlichen Mängel, die Herr Minister Lauritzen angesprochen hat, vorab in einer ersten Novelle behoben werden können. Im übrigen, Herr Kollege, habe ich mir erlaubt, Ihnen das Referat von Herrn Minister Lauritzen zuzusenden. Es sind dort noch weitere Punkte angesprochen, die mit in die Überlegungen zur Novellierung des Bundesbaugesetzes einbezogen werden müssen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Ist folglich von Ihnen beabsichtigt, mehr oder weniger den gesamten Grund und Boden diesen harten Bestimmungen des von Ihnen angestrebten Bodenrechts zu unterwerfen?
Herr Kollege, wir sind durch Verfassungsgerichtsurteil von 1967 und durch viele Äußerungen in der Öffentlichkeit aufgefordert, die Sozialpflichtigkeit von Grund und Boden mehr als bisher in unsere Überlegungen einzubeziehen. Wir haben dies im Städtebauförderungsgesetz getan. Aber ich denke, Sie teilen mit mir die Auffassung, daß auf die Dauer ein gespaltenes Bodenrecht in der Bundesrepublik Deutschland nicht ertragbar ist.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß die gesellschaftlich notwendigen Steuerungsaufgaben, von denen Herr Bundesminister Lauritzen ebenfalls gesprochen hat, durch eine Kommunalisierung von Grund und Boden gelöst werden sollten, wie sie z. B. der Münchener SPD-Parteitag oder der Herr stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Martin Hirsch gefordert hat?
Nein.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Baier.
Herr Staatssekretär, nachdem kürzlich Ihr Minister erklärt hat, in dieser Legislaturperiode keine Novellierung des Bundesbaugesetzes vornehmen zu wollen, und Sie heute auf die Dringlichkeit der Neuordnung des Bodenrechts hinweisen, darf ich Sie fragen, ob Sie noch in dieser Legislaturperiode dem Bundestag konkrete Vorschläge unterbreiten werden.
Herr Kollege Baier, das wird im wesentlichen von den Ergebnissen der Arbeiten der Sachverständigengruppe abhängen, die, wie Sie wissen, in unserem Hause eingerichtet wurde und die an Arbeitsvorschlägen für die Novellierung des bodenrechtlichen Teils und des Instrumentariums des Bundesbaugesetzes arbeitet. Davon wird es im wesentlichen abhängig sein, ob noch in dieser Legislaturperiode eine solche Novelle eingebracht werden kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Antworten, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ravens, und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen auf, zuerst die Frage 2 des Herrn Abgeordneten Dr. Gatzen:
Ist der Bundesregierung bekannt, in welchem Ausmaß Vermögenswerte von Personen, die aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland geflohen sind, von Behörden der DDR konfisziert werden?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Herold.
Ich
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4519
Parlamentarischer Staatssekretär Herold
darf die Frage des Herrn Kollegen Dr. Gatzen folgendermaßen beantworten.
Herr Kollege, Sie knüpfen mit Ihren Fragen an die Diskussion an, die wir am 3. und am 19. Juni hier in diesem Hause geführt haben. Ich habe damals ausführlich die Behandlung des Flüchtlingsvermögens in der DDR seit Kriegsende dargestellt und auch über die jüngsten Maßnahmen der Jahre 1968/69 berichtet.
Ich kann Ihnen dazu heute mitteilen, daß mein Haus eine umfangreiche Dokumentation fertiggestellt hat, deren Druck und Veröffentlichung in Buchform zur Zeit vorbereitet wird. Darüber hinaus soll in einer kurzgefaßten Darstellung auch die breite Öffentlichkeit über die Behandlung des Flüchtlingsvermögens in der DDR unterrichtet werden. Wir haben den Mitgliedern des Innerdeutschen Ausschusses bereits ein Rechtsgutachten zugehen lassen, das zu dem Ergebnis kommt, daß die DDR auf Grund ihrer enteignungsähnlichen Maßnahmen Flüchtlinge in der Bundesrepublik nicht zur Kasse bitten kann; eine Auffassung, die ich schon im Juni hier nachdrücklich vertreten habe.
Das tatsächliche Ausmaß der Vermögensentziehungen, die im Zusammenhang mit der im November 1968 veröffentlichten Verordnung vorgenommen wurden, läßt sich auch heute noch nicht übersehen. Uns sind zwar seit dem Juni dieses Jahres eine Reihe von Fällen bekanntgeworden, in denen Grundstücke von DDR-Flüchtlingen ohne Wissen und Zustimmung des Eigentümers veräußert worden sind bzw. in denen nunmehr keine Auskünfte über Vermögenswerte in der DDR erteilt werden. Die Anzahl der bekanntgewordenen Fälle ist jedoch zu gering, als daß eine abschließende Beurteilung der in der DDR durchgeführten Maßnahmen schon möglich wäre.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Gatzen.
Herr Staatssekretär, da mir inzwischen auch brieflich bekanntgeworden ist, daß sich diese Konfiszierungen weiter ausdehnen, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung inzwischen schon einmal mit den Behörden der DDR über diesen Tatbestand gesprochen hat und wie eventuell der Stand der Verhandlungen ist.
Sie wissen, daß wir vor Verhandlungen stehen. Das erste Arbeitsgespräch ist geführt. Ich habe bereits damals bei den Fragen am 2. und am 19. Juni hier erklärt, daß selbstverständlich auch diese Probleme mit in die Gespräche einbezogen werden.
Noch eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Gatzen.
Herr Staatssekretär, würde die Bundesregierung eine mögliche Lösung darin sehen, daß die Sowjetzonenflüchtlinge, die
sich in der Bundesrepublik befinden, gegebenenfalls durch Schenkungsakt auf ihre Vermögensanteile verzichten, um die Repressalien von ihren Verwandten drüben abzuwenden?
Das sind Diskussionsbeiträge, die wir selbstverständlich aufnehmen. Es gibt verschiedene Vorschläge, die dann beraten werden müssen.
Sie haben im Augenblick keine Zusatzfragen mehr. Nach der Antwort auf Ihre zweite Frage können Sie weitere Zusatzfragen stellen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten von Fircks.
Herr Staatssekretär, sind die Betroffenen durch irgendwelche staatlichen Stellen aufgefordert worden, Erfahrungen, die sie in ihrer eigenen Sache machen, an Behörden der Bundesrepublik oder der Länder weiterzuleiten, damit Sie sich ein möglichst umfangreiches Bild zum jeweiligen Stand der Dinge machen können?
Herr Kollege Fircks, Sie wissen, daß wir durch das Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz bereits die ersten Anmeldungen haben. Es ist ein großer Teil Anträge eingegangen. Auf Grund der Verabschiedung der 23. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz werden wir wahrscheinlich eine zusätzliche Möglichkeit zur Antragstellung eröffnen, damit wir uns mit Hilfe des Bundesausgleichsamts einen entsprechenden Überblick verschaffen können.
Darüber hinaus tritt selbstverständlich ein Teil der betroffenen Personen mit uns in Verbindung. Ich muß Ihnen aber sagen, daß die Zahl derjenigen, die bis jetzt mit uns in Verbindung getreten sind, relativ gering ist. Es sind nur 15 bis 20 Fälle, die wir im Augenblick ganz klar vorliegen haben.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Gatzen auf:
Ist der Bundesregierung weiter bekannt, ob durch diese Maßnahmen auch die in der DDR verbliebenen Verwandten betroffen werden?
Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Bisher liegen der Bundesregierung keine Anzeichen dafür vor, daß durch die hier zur Debatte stehenden Maßnahmen auch die in der DDR verbliebenen Verwandten betroffen werden. Vereinzelt ist bekanntgeworden, daß die in der DDR verbliebenen Angehörigen von den dortigen Behörden aufgefordert wurden, sich den Eigentumsanteil an einem Grund-
4520 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Herold
stück von den im Bundesgebiet lebenden Angehörigen überschreiben zu lassen. Die Anzahl solcher Fälle, die der Bundesregierung bisher bekanntgeworden sind, ist auch hier so gering, daß Rückschlüsse auf generelle Maßnahmen der DDR-Behörden noch nicht möglich sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Gatzen.
Herr Staatssekretär, darf ich davon ausgehen, daß der Bundesregierung nicht bekannt ist, daß auch Bewohner in der DDR, deren Verwandte in die Bundesrepublik geflohen sind, aufgefordert werden, deren Vermögensanteile vom Staat zurückzukaufen, und daß auf diese Weise z. B. Eigentümer eines Eigenheims, besonders wenn sie im vorgeschrittenen Alter sind, dadurch in große persönliche Not geraten, daß sie für ihre eigene Wohnung nunmehr Miete zahlen müssen?
Mir ist ein solcher Vorgang nicht bekanntgeworden. Es gibt z. B. den Fall, daß man den Verwandten drüben entsprechende Kredite anbietet, um Eigentumsanteile der westlichen Verwandten käuflich zu erwerben. Dies ist bekanntgeworden.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Gatzen.
Herr Staatssekretär, da ganz offensichtlich derartige Fälle vorliegen bzw. sich entwickeln, möchte ich fragen, ob es die Bundesregierung nicht für angezeigt hält, zu diesem Tatbestand einmal eine eindeutige Erklärung abzugeben, auch zur Entlastung der Betroffenen in beiden Teilen Deutschlands, da eine derartige Erklärung ganz sicher auch im Sinne der Normalisierung der Beziehungen läge.
Ich glaube, die Bundesregierung hat bereits am 19. Juni eindeutige Erklärungen in diesem Sachzusammenhang abgegeben. Wir wollen in keinem Fall, daß die Bürger in der Bundesrepublik darunter zu leiden haben; deshalb auch die Entscheidung über die 23. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz. Im übrigen habe ich bereits bei der Beantwortung der ersten Frage angedeutet, daß die Bundesregierung zur Aufklärung der betroffenen Bürger eine Broschüre drucken und veröffentlichen wird. Dies soll geschehen, damit die notwendige Aufklärung gegeben werden kann.
Wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Der Abgeordnete Breidbach ist nicht im Saal. Die
Frage 4 wird deshalb schriftlich beantwortet. Ich
danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Nunmehr kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Ich rufe zunächst die Frage 92 des Abgeordneten Gallus auf:
Ist die Bundesregierung bereit, bei landwirtschaftlichen Zugmaschinen mit einer Höchstgeschwindigkeit bis zu 30 km/h, den Prüfungszeitraum von einem Jahr auf zwei Jahre auszudehnen?
Ist der Abgeordnete im Saal? — Der Abgeordnete ist im Saal. Bitte, Herr Bundesminister Leber!
Nach einem Vorschlag meines Hauses soll der Prüfungszeitraum für Zugmaschinen mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit bis einschließlich 40 km in der Stunde auf zwei Jahre festgesetzt werden. Das bedeutet für Zugmaschinen mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von mehr als 20 bis einschließlich 40 km in der Stunde eine Ausdehnung der Untersuchungsfrist auf zwei Jahre. Der Vorschlag wird in Kürze mit den beteiligten Bundesressorts und den Ländern beraten. Auch die interessierten Verbände und Organisationen sollen dazu noch gehört werden.
Keine Zusatzfrage? Ich rufe die Frage 93 des Abgeordneten Cramer auf:
Warum wird die Bahnsteigkarte nicht auf allen Bahnhöfen abgeschafft, nachdem die Mehrzahl der Bahnsteige bereits ohne Kontrolle betreten werden kann?
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister!
Die Deutsche Bundesbahn, in deren Hand die Regelung dieser Dinge liegt, hat mir auf eine Anfrage folgendes mitgeteilt. Zur Sicherung der Fahrgeldeinnahmen sind im Bereich der Deutschen Bundesbahn zur Zeit bei rund 100 Bahnhöfen mit starkem Publikumsverkehr die Eingangssperren noch besetzt. Nur hier müssen Kunden, die die Bahnsteige betreten wollen, eine Bahnsteigkarte vorweisen. Ziel der Deutschen Bundesbahn ist die Aufhebung aller Bahnsteigsperren. Wenn das vollzogen ist, wird auch die Bahnsteigkarte entfallen.
Eine Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Cramer.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß gerade auf größeren Bahnhöfen die Zugänge zum Bahnsteig unkontrolliert sind?
Es gibt zwar größere Bahnhöfe, auf denen die Zugänge zu den Bahnsteigen unkontrolliert sind; es gibt aber noch größere Bahnhöfe, auf denen sie kontrolliert sind.
Eine zweite Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Cramer.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4521
Herr Minister, wie hoch sind denn überhaupt die Einnahmen aus dem Verkauf der Bahnsteigkarten?
Ich kann das im Augenblick nicht beziffern. Ich will es Ihnen aber gern sagen. Ich weiß nur, daß der Verlust, den die Deutsche Bundesbahn, soweit sie ihn ermitteln kann, erleidet und der dadurch entsteht, daß nicht kontrolliert wird, sicher in einem vergleichbaren Verhältnis dazu steht.
Ich rufe die Frage 94 des Abgeordneten Baier auf:
Trifft es zu, daß infolge der steigenden Personalkosten bei der Deutschen Bundesbahn in den kommenden Jahren die geplanten Investitionen der Bundesbahn eingeschränkt werden müssen?
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister.
Zwischen Personalkosten und Investitionen bei der Deutschen Bundesbahn besteht unmittelbar kein Zusammenhang. Inwieweit die geplanten Investitionen der Deutschen Bundesbahn durchgeführt werden können, hängt zuerst und wesentlich davon ab, ob die zur Finanzierung notwendigen Kredite am Kapitalmarkt zeitgerecht beschafft werden können.
Eine Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Baier.
Herr Bundesminister, ist das nun als Dementi gegenüber Äußerungen der Deutschen Bundesbahn anzusehen, daß sie im Hinblick auf die zu erwartenden steigenden Lohnkosten nicht in der Lage sein werde, ihre Investitionsmaßnahmen im kommenden Jahr im vorgesehenen Rahmen durchzuführen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Baier, würden Sie es als unangemessen empfinden, wenn ich Sie bitte, mir zu gestatten, auf diese Frage beim nächsten Tagesordnungspunkt ausführlich einzugehen? Ich habe nämlich den Eindruck, das sprengt etwas den Rahmen der Fragestunde, wenn man es gründlich machen will.
Eine zweite Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Baier.
Selbstverständlich, Herr Bundesminister!
Ich darf aber eine zweite Frage anfügen. Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie nicht daran denken, in der Zukunft die vorgesehenen Investitionsmaßnahmen der Deutschen Bundesbahn einzuschränken?
Ich denke nicht daran, Herr Kollege Baier. Ich verschließe mich allerdings
auch nicht der Möglichkeit, daß eine Situation eintritt, in der man solche Überlegungen anstellen muß. Meine Politik ist darauf gerichtet, daß die Kostensteigerungen, die die öffentlichen Unternehmen zu tragen haben, durch die Einnahmen, die sie erzielen, abgedeckt und Kapitalmarktmittel ausschließlich zur Finanzierung von Investitionen verwendet werden. Dort liegt die Linie.
Ich rufe die Frage 95 des Abgeordneten Werner auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 96 des Abgeordneten Dr. Kempfler sowie die Fragen 97 und 98 des Abgeordneten Rasner werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 99 des Abgeordneten Lenzer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Äußerungen von Bundesminister Leber im bayerischen Landtagswahlkampf, daß er als der grüßte Dienstherr in Europa und größte Auftraggeber für die deutsche Industrie in Zukunft Firmen bei der Auftragsvergabe benachteiligen werde, wenn diese der CSU Wahlspenden gegeben hätten?
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister!
Herr Präsident, wenn die Herren Kollegen einverstanden sind, würde ich darum bitten, die Fragen 99 und 100 wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantworten zu dürfen.
Sind beide Kollegen damit einverstanden? — Dann rufe ich noch die Frage 100 des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider auf:
Welche Konsequenzen gedenkt die Bundesregierung aus der Erklärung von Bundesminister Leber zu ziehen, er werde als größter Auftraggeber der deutschen Industrie prüfen, ob Interessenten für Aufträge der Bundesbahn, Bundespost oder beim Straßenbau sich als Förderer der Unionsparteien betätigt hätten und danach die Aufträge bemessen, und ist sie bereit, die deutschen Unternehmer vor parteilichen und verfassungswidrigen Ermessensentscheidungen bei der Vergabe von Aufträgen zu schützen?
Bitte schön, Herr Kollege Schneider!
Herr Bundesminister, die Frage 100 beinhaltet im zweiten Teil etwas anderes als die Frage 99.
Einverstanden!
Herr Präsident, die gestellten Fragen sind mir ein willkommener Anlaß, hier zur Sache Stellung zu nehmen. Zunächst ist es nicht richtig, daß ich, wie mir unterstellt wird, geäußert hätte, ich würde bei der Erteilung von Aufträgen an die deutsche Industrie in Zukunft Firmen dann bei der Auftragserteilung benachteiligen, wenn diese der CSU Wahlspenden gegeben hätten, oder daß ich, wie mir in einer anderen Frage unterstellt wird, gar prüfen würde, ob sich Interessenten für Aufträge der Deutschen Bundesbahn, der Bundespost oder im Stra-
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Bundesminister Leber
ßenbau als Förderer der Unionsparteien bestätigt hätten, und danach die Aufträge bemessen. Derartige Sätze gibt es in der Äußerung, die ich getan habe, gar nicht.
Es ist aber richtig, daß ich mich sinngemäß etwa so geäußert habe, wie es überwiegend publiziert worden ist, auch wenn meine Bemerkungen — verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen — zum Teil etwas anderes wiedergeben als das, was ich gesagt habe. In der Sache stelle ich hier fest: Ich persönlich rechne keine Kalkulationen nach. Und nur davon, daß wir schärfer nachrechnen würden, hatte ich gesprochen. Ich rechne gar nicht nach; ich habe auch nicht die Absicht, das künftig zu tun. Niemand in meinem Zuständigkeitsbereich hat eine Weisung oder einen Auftrag erhalten, bei irgend jemandem irgendeinen Unterschied in der Nachprüfung von eingehenden Angeboten oder Kalkulationen zu machen. Ich habe auch nicht die Absicht, künftig solche Aufträge oder Weisungen zu erteilen.
Es braucht sich also niemand Sorgen zu machen, wir würden auf Grund dieser Ankündigung die Kalkulationen derer, die in besonderem Maße ihre Gelder bestimmten Parteien zukommen lassen, besonders nachrechnen, weil wir dort genügend Spielraum vermuteten, um für die Allgemeinheit noch eine Preisvergünstigung zu erzielen. Es braucht sich niemand bedrängt zu fühlen, wenn er, wie ich gelesen habe, aus staatsbürgerlicher Gesinnung oder aus welchen Gründen auch immer seine Silberlinge im politischen Kraftfeld anlegt. Damit habe ich niemanden besonders gemeint.
Damit ist das Thema, ohne daß ich etwas zurückzunehmen habe oder mich bei jemandem zu entschuldigen brauche, für mich erledigt. Es wäre nicht schlecht, wenn sich alle Fälle, die sich im bayerischen Wahlkampf ereignet haben, so leicht und ohne daß Schaden bliebe, bereinigen ließen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lenzer.
Herr Bundesminister, sind Sie nicht der Meinung, daß Äußerungen wie etwa die von der „Frankfurter Neuen Presse" am 19. November aus München gemeldete — wenn sie zutreffen, und darum bitte ich Sie, das zu bestätigen —, die lautet:
Man kann künftig von uns nicht mehr verlangen, daß man nach Wahlen freundlich empfangen wird, wenn man vor den Wahlen die andere Partei finanziert hat.
zumindest mißverständlich ausgelegt werden können und in der Fragestellung dann eventuell zu Unterstellungen führen könnten?
Herr Kollege, wie
freundlich ich meine Gesprächspartner behandle, bleibt nach wie vor meine Sache.
Das habe ich auch in der Frage nicht anzweifeln wollen, Herr Bundesminister.
Aber ich bin meistens freundlich.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lenzer.
Wenn in diesem schon zitierten Zeitungsartikel steht: „Wir werden ihre Kalkulationen noch schärfer durchrechnen als bisher", sind Sie dann nicht der Meinung, Herr Bundesminister, daß man auch den Eindruck haben könnte, dies sei bisher vielleicht bei der Ausgabe von öffentlichen Mitteln nicht in so strenger Form geschehen?
Es ist bisher immer gewissenhaft nachgerechnet worden, so wie das Gesetz es vorsieht. Genauso wird auch künftig verfahren werden. Ich habe ja soeben angedeutet, es gibt auch für die Zukunft keine Anweisung, in bestimmten Fällen noch sorgfältiger nachzurechnen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Riedl.
Herr Bundesminister, darf ich Sie, nachdem Sie hier vor dem Deutschen Bundestag von Ihren Äußerungen weitgehend abgerückt sind, fragen, wie Sie zu der Mitteilung Ihres Pressesprechers Colditz gegenüber einem Vertreter des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel" stehen, der Ihre Ausführungen in Bayern nicht nur bestätigt hat, sondern der wörtlich erklärt hat: „Der Minister kennt Beispiele, aber Zahlen und Namen nennt er nicht."?
Ja, ich kenne natürlich Beispiele von Leuten, die Parteien — auch einer bestimmten Partei — Geld gegeben haben, wenn Sie das meinen, Herr Kollege. Davon rücke ich natürlich nicht ab. Die Frage ist hier nur, ob ich von Amts wegen daraus Schlußfolgerungen ziehe. Und dies werde ich nicht tun.
Herr Kollege Riedl, es sind zwei Fragen aufgerufen worden. Sie können, wenn Sie wollen, zu beiden eine Zusatzfrage stellen. — Bitte schön, eine zweite Zusatzfrage!
Herr Bundesminister, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch
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Dr. Riedl
den ersten Teil meiner Frage beantworten würden, der darauf abzielte, Sie darauf hinzuweisen, daß Ihr Pressesprecher die Äußerungen, die Sie hier heute in Abrede gestellt haben, weitgehend bestätigt hat.
Ich weiß nicht, welche Äußerungen mein Pressesprecher getan hat. Ich habe in München zu der Sache, die hier zur Debatte steht, gesagt — ich gebe das jetzt sinngemäß wieder, aber ich kann Ihnen das Band zur Verfügung stellen; dann erfahren Sie es wörtlich —: Wer einer Partei in so großzügigem Maße Geld zur Verfügung stellt, muß Geld haben; wir werden künftig, wenn solche Firmen Angebote abgeben, noch besser nachrechnen, ob nicht bei solchen Firmen, die ja viel Geld haben müssen, bei der Festsetzung der Preise ein Vorteil für die Allgemeinheit herauskommt. Das-habe ich in München gesagt.
— Herr Kollege Lemmrich, ich rede hier allgemein. Das habe ich in München gesagt. Dies war eine Absichtserklärung. Ich sage Ihnen hier: ich werde keine Weisung geben, dies künftig durchzuführen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lemmrich.
Herr Bundesminister, als Sie in Ihren Ausführungen in München davon sprachen, daß diese Aufträge bei der Deutschen Bundesbahn so eingehend nachgerechnet werden sollen, war Ihnen eigentlich nicht bekannt — oder ist Ihnen das Bundesbahngesetz so unzureichend bekannt —, daß Sie nicht wissen, daß Sie hier überhaupt keine gesetzlichen Möglichkeiten in diesem Sinne haben?
Herr Kollege Lemmrich, Sie beschäftigen sich hier mit etwas, was es gar nicht gibt. Ich habe in München weder die Deutsche Bundesbahn genannt, noch an sie gedacht, noch ist mir der Inhalt dieses Bundesbahngesetzes unbekannt, sondern ich habe nur von Aufträgen, die von uns vergeben werden, gesprochen, von nichts anderem.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Lemmrich.
Herr Bundesminister, ist dann die Ausführung in der „Süddeutschen Zeitung" vom 20. November 1970 falsch, wo es heißt: Leber, der in der Bayern-Halle des Ausstellungsparks an Stelle des erkrankten Bundeskanzlers Willy Brandt sprach, wies darauf hin, daß Bundesbahn und Bundespost in der Bundesrepublik zu den größten Auftraggebern für die Wirtschaft gehören." ?
Diese Äußerung der „Süddeutschen Zeitung" ist falsch.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Stücklen.
Herr Bundesminister, Sie haben hier erklärt, daß Sie eine Bandaufnahme über Ihre Äußerungen haben. Da es anscheinend widersprüchlich ist, was Sie tatsächlich gesagt haben, wie es verstanden wurde, wie es interpretiert wurde, darf ich Sie fragen: Sind Sie bereit, uns eine amtliche Abschrift dieser Bandaufnahme zuzuleiten?
Ich kann sie Ihnen sogar selber zur Verfügung stellen, Herr Kollege Stücklen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dasch.
Herr Bundesminister, gemäß Ihrer Antwort würden Sie in Zukunft die Angebote mißachten, die kostengünstig abgegeben werden, weil Sie nur prüfen, ob die Firma Luft in der Kalkulation hat. Damit würden Sie rationelle Firmen, die sehr kostengünstig arbeiten, doch weitgehend benachteiligen.
Herr Kollege, Sie scheinen nicht zugehört haben, als ich meine Antwort gegeben habe. Ich wiederhole hier noch einmal: Ich werde keine Unterschiede in der Nachprüfung irgendwelcher Kalkulationen machen. Sie kriegen hier von mir nicht die Antwort, die Sie gerne hätten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Baier.
Herr Bundesminister, nachdem Sie eben in der Wiedergabe Ihrer Münchner Äußerungen sagten, Sie wollten bei den besagten Firmen besser nachrechnen als bisher, vorher aber hier äußerten, Sie hätten keinerlei Weisung gegeben, ein anderes Verfahren bei der Überprüfung der Angebote vorzunehmen, darf ich Sie nun fragen: was ist richtig?
Gar nichts. Ich habe auch gar nichts Widersprüchliches gesagt.
Ich habe Ihnen hier sinngemäß wiedergegeben, was ich in München gesagt habe. Dies war eine Absichtserklärung in einer Wahlveranstaltung, und ich habe hier gesagt, das was ich in München angekündigt habe, werde ich nicht durchführen. Das ist alles. Das mag Ihnen nicht gefallen, weil Sie vielleicht lieber hätten, ich würde bei meiner Münchner Absicht bleiben, damit die Artikel weiter geschrieben werden können. Ich werde das aber nicht tun.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir allmählich zum Ende
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Präsident von Hassel
kommen müssen. Ich gebe jetzt noch drei Zusatzfragen dazu, und dann ist Schluß.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Niegel.
Herr Bundesminister, wenn Sie sagen, daß die Meldung der „Süddeutschen Zeitung" falsch sei, dann würden fast sämtliche Meldungen in den bayerischen Zeitungen falsch sein, weil die dort anwesenden Journalisten in ähnlichem Sinne berichtet haben wie die „Süddeutsche Zeitung". Warum haben Sie dann nicht sofort dementieren lassen?
Ich habe mich überhaupt nicht dazu geäußert, weil ich dachte, das sei sinnlos, bei den vielen einstweiligen Verfügungen, die es in dem bayerischen Wahlkampf bis dahin schon gegeben hatte, überhaupt noch etwas zu dementieren. Geschrieben wird doch das, was man gern hört, oder über das, was man gern so gehört hätte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Höcherl.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, die Bemerkung, die Sie in München gemacht haben, zurückzunehmen?
Ich brauche nichts zurückzunehmen, Herr Kollege Höcherl. Ich führe nur nicht aus, was ich dort angekündigt habe; das reicht.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Häfele.
Herr Bundesminister, glauben Sie nicht, daß es besser wäre, wenn Sie heute hier erklärten, daß es klüger gewesen wäre, die Äußerung in München nicht getan zu haben?
Ich gebe Ihnen zu, daß es so war. Aber da Sie mich danach fragen, muß ich Ihnen sagen, daß ich das aus einer bestimmten Stimmung heraus getan habe. Sie werden wissen, daß man auch Stimmungen unterliegt. Ich spreche im allgemeinen nicht alles aus, sondern ich habe, glaube ich, auch den Ruf, daß ich mich beherrschen kann. Ich habe aber unterwegs zur Wahlveranstaltung in München gehört — ich will Ihnen das hier sagen, damit Sie auch meine Hintergründe kennen —, daß ein Gespräch zwischen namhaften Vertretern einer bestimmten Partei und solchen Leuten, die diese Partei finanziell unterstützen, stattgefunden hat. In dem Gespräch sei gesagt worden — der Überbringer ist ein zuverlässiger Mann —, Leber sei in Rom gewesen, habe dort mit dem Papst gesprochen, und das, was er dort getan habe, sei mit nichts anderem zu beschreiben als mit „Landesverrat". Darüber hatte ich
mich aufgeregt und gedacht: Ich werde den Leuten, die sich so äußern können, in der Wahlversammlung einmal sagen, daß auch ich weiß, wo Bartholomäus den Most holt.
Herr Kollege Dr. Schneider, Sie dürfen als Fragesteller noch zwei Zusatzfragen stellen.
Herr Bundesminister, Sie haben gesagt: Was ich in München gesagt habe, werde ich nicht durchführen. Damit haben Sie also den Dolus directus durchaus zugegeben.
Ich darf Sie bitten zu fragen.
Ist die Bundesregierung bereit einzuräumen, daß bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ausschließlich nach den dazu erlassenen öffentlich-rechtlichen Bestimmungen, nämlich der VOB und der VOL, zu verfahren ist und daß sich an diese Bestimmungen nicht nur ein nachgeordneter Beamter, sondern in erster Linie jeder Bundesminister selbst gebunden fühlen muß?
Ich habe mich bis jetzt immer daran gehalten und werde es auch künftig tun; da können Sie sicher sein. Dazu bedarf es gar nicht besonderer Anregungen.
Zur letzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Schneider.
Herr Bundesminister, wollen Sie mir dann auch zugeben, daß, nachdem in unserer Verfassung steht: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" und in unserem Parteiengesetz an zwei Stellen ausdrücklich von Spenden gesprochen wird, die Parteien nur mit Hilfe von Spenden in der Lage sind, ihren staatsbürgerlichen Auftrag in einem demokratischen Staat zu verwirklichen?
Wenn Sie dagewesen wären, hätten Sie gehört, daß ich gesagt habe: Von mir aus steht dem Fluß von Silberlingen, die im politischen Kraftfeld angelegt werden, nichts im Wege. Ich sage Ihnen als Staatsbürger dazu: ich würde es für die glücklichste Lösung für unsere Demokratie halten, wenn es, nachdem wir ein Parteiengesetz haben, durch das die Parteien auch finanziert werden, verboten wäre, durch unkontrollierte oder auch durch kontrollierte Quellen den Parteien außerdem überhaupt noch Geld durch Spenden zukommen zu lassen. Das gilt für alle.
Ich rufe die Frage 101 des Herrn Abgeordneten Lenzer auf:
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Präsident von Hassel
Wie ist die Meinung der Bundesregierung zu der verschiedentlich vertretenen Ansicht, es sei Aufgabe der öffentlichen Straßenbaulastträger, die steigende Zahl von durch Wild verursachten Verkehrsunfällen durch die Errichtung von Verkehrsschutzzäunen einzudämmen?
Das Wort hat Herr Bundesminister Leber.
Es gehört nicht zur Aufgabe des Straßenbaulastträgers, zur Vermeidung von Verkehrsunfällen mit Wild Zäune zu errichten. Der Verkehrssicherungspflicht, die nach dem Grundgesetz den Ländern obliegt, wird durch die Aufstellung des Warnzeichens „Wildwechsel" genügt. Ich bin sicher, daß das Schild auf das Wild nicht allzuviel Eindruck macht.
Es hat vor allen Dingen die Aufgabe, die Menschen vor dem Wild zu bewahren.
Unabhängig von dieser Rechtslage ist die Bundesregierung jedoch bereit, im Einvernehmen mit den zuständigen Jagdbehörden an den Stellen der Bundesfernstraßen, die durch wechselndes Wild besonders stark gefährdet sind, Wildschutzzäune zu errichten, wenn ihre Unterhaltung und Erneuerung vertraglich Dritten übertragen werden kann. Die Jagdbehörden und die Jagdausübenden können ihren Teil der Verpflichtung, den Verkehr vordem Wild zu schützen, nicht in vollem Maße auf -den Staat übertragen.
Eine Zusatzfrage, der Kollege Lenzer. -
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, falls Sie Angaben darüber haben, mir eine schriftliche Aufstellung über die Zäune, die bereits an Bundesfernstraßen und an Autobahnen bestehen, zugänglich zu machen?
Das will ich gerne tun. Aber das sind nicht viele. Wir haben nur Probezäune aufgestellt, erstens um zu sehen, was das kostet, außerdem auch um zu sehen, wie es wirkt. Es kommt drittens noch darauf an, eine Verständigung darüber herbeizuführen, wo sie errichtet werden. Ich weigere mich, Wildschutzzäune direkt am Rand der Autobahn zu errichten und die Autofahrer praktisch durch einen engen Schlauch von Drahtzäunen fahren zu lassen. Die Forstbehörden müssen mindestens bereit sein, zuzugestehen, daß die Zäune so weit entfernt von der Autobahn aufgestellt werden, daß der Autofahrer bei seinem Fahrerlebnis nicht ständig durch Zäune beeindruckt wird. Das ist das erste, was sie tun müssen. Das tun sie nicht überall.
Außerdem bin ich der Auffassung, es ist nicht eine Sache des Staates allein, das Wild vor den Menschen zu schützen oder umgekehrt, sondern das ist eine Aufgabe auch des Jagdpächters, der ein Interesse daran haben muß, daß sein Wild den Autoverkehr nicht belästigt.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 102 der Abgeordneten Frau Funcke auf:
Ist die Bundesregierung bereit, Sorge dafür zu tragen, daß die Postämter in der Bundesrepublik Deutschland auch für Körperbehinderte zugänglich werden, insbesondere in Orten, in denen sich Heime für Körperbehinderte befinden?
Frau Kollegin, ich kann Ihre Frage bejahen. Bisher konnten bei vielen Postneubauten über die personelle Fürsorge für körperbehinderte Betriebsangehörige hinaus auch die Belange der körperbehinderten Postkunden berücksichtigt werden. Zur Verstärkung dieser Initiativen wurden erst in jüngster Zeit die Oberpostdirektionen angewiesen, die Empfehlungen des Gemeinsamen Ausschusses des Europarates für die Eingliederung und Wiedereingliederung der Behinderten bei der Planung und Ausgestaltung von Postgebäuden zu beachten.
Eine Zusatzfrage, die Abgeordnete Frau Funcke.
Frau Funcke: : Herr Bundesminister, wären Sie bereit, diese Empfehlung auch einmal direkt an das Postamt Volmarstein in Wetter zu geben?
Sehr gern, gnädige Frau.
Frau Kollegin, das war eine rein örtliche Frage, die nicht zugelassen werden darf.
Ich rufe die Frage 103 des Abgeordneten Dichgans auf:
Womit begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, daß die Telefonbenutzer sozial weit eher belastbar seien mit Gebühren, die weit über die entstehenden Kosten hinausgehen, als die Versender von Drucksachen, die deshalb ständig subventioniert werden müßten?
Zur Beantwortung bitte, Herr Bundesminister Leber.
Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß Telefonbenutzer sozial weit eher belastbar seien als die Versender von Drucksachen. Mir ist eine solche Äußerung bisher auch von keiner Seite bekanntgeworden.
Im übrigen trifft es nicht zu, daß die Telefongebühren weit über die entstehenden Kosten hinausgehen. Angesichts der großen Investitionsaufgaben im Fernmeldewesen stellen die in diesem Dienstzweig erzielten rechnungsmäßigen Überschüsse nicht einmal einen angemessenen Beitrag zur Selbstfinanzierung der Investitionen dar. Die Errichtung eines Hauptanschlusses im Fernmeldebereich kostet heute mehr als 4000 DM, so daß sich die Gebührenhöhe kostenmäßig durchaus noch vertreten läßt.
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Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dichgans.
Herr Minister, wie erklären Sie es dann, daß z. B. in den Vereinigten Staaten die Telefongebühren so viel billiger sind als in der Bundesrepublik?
Da sind nicht nur die Telefongebühren billiger, sondern da ist vieles billiger .und vieles anders. Sie gehen hier von anderen Rechnungsgrößen aus. Ich kann im Augenblick nicht aus dem Handgelenk sagen, wie hoch die Investitionskosten sind, die dem Telefonbenutzer auferlegt werden. Ich will mich aber gern danach erkundigen. In Japan beispielsweise ist es so, daß ein Telefonanschluß erst dann installiert wird, wenn der Antragsteller etwa drei Fünftel der Investitionskosten angezahlt hat. Bei uns kostet die Errichtung eines Telefons etwa so viel wie ein Volkswagen-Exportmodell, und man zahlt gegenwärtig für die Installation des Telefons 90 DM. Natürlich muß die Post diese Investitionskosten finanzieren. Sie steht dabei immer vor der Frage: Soll sie das über Grundgebühren machen — die Einrichtungsgebühr von 90 DM reicht ohnedies nicht, damit werden nicht einmal die Zinsen für ein Jahr aufgebracht —, oder soll sie es über die Gebühren für das Telefonieren machen? Die Entscheidung darüber liegt immer im Bereich eines gewissen Ermessens. Ich kann hier nur berichten, wie es bei uns im Augenblick ist.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dichgans.
Herr Minister, decken die Gebühren, die wir für den Versand von Drucksachen erheben, die Kosten dieses Verkehrs?
Nein?
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Bundesminister, können Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß der Postverwaltungsrat am 14. Dezember das Gesamttableau betrachten wird und daß erst dann Schlußfolgerungen für die künftige Gebührenpolitik der Deutschen Bundespost gezogen werden können?
Der Postverwaltungsrat wird sich damit befassen; das steht bereits auf seiner Tagesordnung.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister, für die Beantwortung.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz, zunächst zu der Frage des Abgeordneten Bauer .
Herr Präsident, gestatten Sie mir bitte, die beiden Fragen wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam zu beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Bauer auf:
Ist die Bundesregierung mit mir der Auffassung, daß mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Beweislastverteilung bei Ersatzansprüchen für Schäden infolge fehlerhaft hergestellter Produkte durchaus noch nicht alle mit der Haftung für derartige Schäden zusammenhängenden Probleme befriedigend gelöst sind und daß daher eine gesetzliche Regelung dieses Komplexes nach wie vor ein wichtiges rechtspolitisches Anliegen darstellt?
Wird die Bundesregierung hinsichtlich dieses Zusammenhangs ihr Augenmerk insbesondere auch der Frage zuwenden, ob im Bereich der Arzneimittelherstellung die Einführung einer besonderen Gefährdungshaftung geboten ist?
Herr Kollege Bauer, ich stimme Ihnen zu. Die Bundesregierung sieht für den Bereich des Rechts der unerlaubten Handlungen eine Neuregelung der Haftung des Geschäftsherrn für den Verrichtungsgehilfen und eine Erweiterung der Gefährdungshaftung in bestimmten Bereichen als rechtspolitisch wichtiges Anliegen an. Sie hält es insbesondere auf längere Sicht für notwendig, die sogenannte Produktenhaftung, d. h. die Haftung der Produzenten für die ordnungsgemäße Beschaffenheit der von ihnen in den Verkehr gebrachten Erzeugnisse, zu regeln. Zunächst kann eine Ausdehnung der jetzigen Gefährdungshaftung auf andere Bereiche eine denkbare Teillösung sein. Zwar wird die von Ihnen erwähnte höchstrichterliche Rechtsprechung in vielen Fällen ausreichende Ergebnisse sicherstellen können. Auf die Dauer wird eine wirklich befriedigende Lösung, vor allem aus der Sicht des Verbraucherschutzes, jedoch nur durch eine umfassende gesetzliche Regelung zu erreichen sein. Nach Möglichkeit sollte dabei in Zusammenarbeit mit den benachbarten Industrieländern eine einheitliche Lösung gefunden werden. Erörterungen dieses Themas sollen im Frühjahr 1971 in einem Ausschuß des Europarats beginnen.
Eine Sonderregelung für die Arzneimittelindustrie erscheint daneben nicht geboten. Fehlerhafte Produkte mit mindestens vergleichbaren Gefahren werden auch von vielen anderen Industriezweigen in den Verkehr gebracht. Denken Sie z. B. an die Lebensmittel- und Automobilindustrie! Auch rechtfertigen die bisher bekanntgewordenen Produktionsschäden keine Sonderregelung für bestimmte Industriezweige.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Bauer.
Darf ich Ihre Ausführungen so auslegen, Herr Staatssekretär, daß im Bundesministerium der Justiz bis jetzt noch keine
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4527
Bauer
konkreten Vorarbeiten geleistet worden sind, um das Problem in den Griff zu bekommen?
Konkrete nein. Wir beschäftigen uns mit diesem Problem und streben insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Europarat eine Lösung an.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Bauer.
Haben Sie, Herr Staatssekretär, in etwa eine Vorstellung, bis wann unter Abstützung auf die Vorarbeiten im Europarat und hier in diesem Hause für die Bundesrepublik Deutschland eine Regelung dieses Komplexes, die dringend notwendig ist, in Aussicht gestellt werden kann?
Nein, hierzu kann ich Ihnen keinen genauen Termin nennen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 21 des Abgeordneten Dr. Rinderspacher auf:
Ist die Kommission der Europäischen Gemeinschaften bereits zu konkreten Ergebnissen hinsichtlich der Abschaffung der grünen Versicherungskarte gelangt, und hat die Bundesregierung die Absicht, entsprechend der Empfehlung 606 der Beratenden Versammlung des Europarates weitere Vereinbarungen über den Verzicht auf Kontrollen mit solchen Staaten zu treffen, mit denen Abkommen über die Haftpflichtversicherung von Kraftfahrzeugen bestehen?
Der Abgeordnete Dr. Rinderspacher ist anwesend. Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zur Beantwortung.
Herr Kollege Dr. Rinderspacher, ich werde Ihre Fragen in zwei Abschnitten, einmal für die EWG-Länder und dann für den übrigen Bereich der europäischen Länder, beantworten.
Zunächst zu den EWG-Ländern. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat bereits den Vorschlag einer Richtlinie für die Abschaffung der grünen Versicherungskarte dem Rat der Europäischen Gemeinschaften vorgelegt. Die erste Beratung des Vorschlags in der Gruppe „Wirtschaftsfragen" des Rates hat im November dieses Jahres begonnen.
Zu den übrigen Ländern: Das Ministerkomitee des Europarates hat zu der Empfehlung 606 im Jahre 1970 noch keinen Beschluß gefaßt.
Die Bundesregierung ist jedoch unabhängig hiervon bereit und bestrebt, die Bemühungen für eine Abschaffung der Kontrollen im grenzüberschreitenden Kraftfahrzeugverkehr zu fördern. Voraussetzung hierfür sind nicht notwendigerweise Vereinbarungen zwischen den beteiligten Regierungen. Es muß jedoch zwischen den nationalen Versicherungsverbänden eine Grundlage dafür geschaffen werden, daß der Verband des besuchten Landes für alle Fahrzeuge des anderen Landes eine Deckungsgarantie übernimmt. Liegt eine solche Garantie vor, so kann die Bundesregierung auf Grund der bereits vorhandenen gesetzlichen Vorschriften durch Rechtsverordnung die Grenzkontrollen beseitigen. Eine derartige Regelung wurde schon im Verhältnis zu fünf europäischen Staaten getroffen, nämlich zu Ungarn, der Schweiz, Österreich, der CSSR und Liechtenstein.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Rinderspacher.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie in Spezialisierung Ihrer Antwort fragen, ob Aussicht besteht, daß in absehbarer Zeit insbesondere mit Frankreich, mit den Beneluxstaaten und den nordischen Staaten solche Abkommen getroffen werden, die zum Verzicht auf gegenseitige Kontrolle der grünen Versicherungskarte führen werden?
Ich hoffe es. Ob das aber schon vor der Reisewelle 1971 der Fall sein wird, bezweifle ich.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Rinderspacher.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung der Stand der Gesetzgebung in Italien bekannt, die die Voraussetzung für die geplante Aufhebung der Kontrolle der grünen Versicherungskarte zwischen Italien und der Bundesrepublik bildet?
Italien wird zum 1. Juli 1971 die Versicherungspflicht einführen, und demzufolge sind dann die Voraussetzungen gegeben, die Grenzkontrolle wegfallen zu lassen.
Keine weitere Zusatzfrage. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf, zunächst die Frage 22 der Abgeordneten Frau Huber:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, analog zu der Regelung, die für die Kriegsversehrten besteht, auch denjenigen, die eine Rente auf Grund ihrer politischen Verfolgung beziehen, zum Zwecke der Verwirklichung von Bauabsichten usw. das Recht zur Kapitalisierung ihrer Rente einzuräumen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischl.
Durch das Bundesentschädigungsschlußgesetz von 1965 wurde die Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung abschließend geregelt. Der Gesetzgeber
4528 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischl
sah weder beim Erlaß der Vorläufer noch bei der Verabschiedung dieses Gesetzes eine Notwendigkeit dafür, den Verfolgten ein Recht zur Kapitalisierung ihrer Entschädigungsrenten einzuräumen. Soweit es sich um Renten für Schäden an Körper oder Gesundheit handelt, hätte die Einräumung einer Kapitalisierungsmöglichkeit dem Versorgungscharakter der Renten widersprochen. Diese sollen dazu dienen, die Existenz der Verfolgten in der Zukunft zu sichern.
Im übrigen erhält der Verfolgte im Gegensatz zum Kriegsbeschädigten, dem Leistungen auf Antragstellung zustehen, neben der laufenden Rente für die Zeit vom Beginn der Schädigung an bis zum Inkrafttreten des Bundesentschädigungsgesetzes, also dem 1. Oktober 1953, eine einmalige Kapitalentschädigung.
Als Entschädigung für Berufsschaden hat der Verfolgte primär Anspruch auf eine Kapitalentschädigung, die im Höchstfalle 40 000 DM beträgt. An Stelle dieser Entschädigung kann unter bestimmten Voraussetzungen eine lebenslängliche Rente gewählt werden. Die Bundesregierung sieht deshalb keine Möglichkeit, auch Verfolgten das Recht zur Kapitalisierung ihrer Entschädigungsrenten einzuräumen.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Huber.
Herr Staatssekretär, würden Sie die Möglichkeit der Kapitalisierung auch dann ausschließen, wenn inzwischen der Unterhalt des Antragstellers auf andere Weise sichergestellt werden konnte?
Das müßte immer ausgeschlossen bleiben, weil es von den allgemeinen Voraussetzungen ausgeht. Zwischen der Kapitalisierungsmöglichkeit bei den Kriegsopfern und der bei den Verfolgten besteht ein großer Unterschied, weil bei den Kriegsopfern nur der Teil kapitalisiert werden kann, der eben gerade nicht dem Unterhalt dient, sondern als Ausgleich für den Schaden gedacht ist. Dort gibt es aber schon große Kapitalisierungsmöglichkeiten.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Krall auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Bewilligung von Darlehen für Bedienstete der Bundeswehr seitens der Oberfinanzdirektionen zum Teil bis zu einem Jahr dauert, wodurch für den Antragsteller eine teure Zwischenfinanzierung notwendig wird und sein Finanzierungsplan infolge Kostensteigerungen auf dem Baumarkt unter Umständen gefährdet wird?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Ich wäre dankbar, wenn ich beide Fragen zusammen beantworten könnte.
Keine Bedenken. Dann rufe ich auch die Frage 24 auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um diese Fristen zu verkürzen?
Wie die Bundesregierung in der schriftlichen Beantwortung der Mündlichen Frage des Abgeordneten Dr. Hammans vom 30. April 1970 — Anlage 30 zum Protokoll über die 49. Sitzung des Bundestages — angekündigt hat, konnte inzwischen die Bearbeitungszeit für Anträge auf Gewährung von Familienheimdarlehen durch weitere Personalverstärkungen und Geschäftsvereinfachungen auf durchschnittlich vier bis fünf Monate verkürzt werden. Soweit sich in Einzelfällen längere Bearbeitungszeiten ergaben, waren diese fast ausschließlich darauf zurückzuführen, daß die Antragsteller ihre Unterlagen unvollständig oder nicht rechtzeitig eingereicht hatten.
Die Bundesregierung ist weiterhin bemüht, im Rahmen der personellen Möglichkeiten weiteres Personal zur Verfügung zu stellen, um die Bearbeitungszeit noch mehr zu verkürzen oder Engpässe bei einzelnen Oberfinanzdirektionen zu beseitigen.
Im übrigen beabsichtigt die Bundesregierung, eine neue Fassung der Familienheimrichtlinien in Kürze herauszugeben. Diese Neufassung wird das Verfahren in technischer und verwaltungsmäßiger Hinsicht vereinfachen. Dadurch wird eine weitere Voraussetzung für eine Verkürzung der Bearbeitungsdauer bei den Oberfinanzdirektionen geschaffen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schäfer.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, bei der Neufassung von ihrer seitherigen Forderung, nämlich 20 Jahre lang das Belegungsrecht zu haben, abzugehen und festzulegen, daß sie das Belegungsrecht nur bis zur Rückzahlung des Darlehens hat?
Die Frage kann ich im Augenblick nicht .beantworten, da ich den gegenwärtigen Stand der neuesten Fassung nicht kenne. Aber ich bin gern bereit, das schriftlich zu tun.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Cramer.
Herr Staatssekretär, können Sie nicht manchmal, wenn z. B. die Gelder knapp sind, Baulustigen durch verbindliche Zusagen helfen, damit sie sich anderweit billigeres Geld zur Zwischenfinanzierung besorgen können?
Diese Frage werde ich gerne prüfen lassen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4529
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Pohlmann auf. Ist der Abgeordnete im Saal? - Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 26 des Abgeordneten Krammig:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, etwa aus Billigkeitsgründen, die Frist für die Abgabe des WohnungsbauPrämienantrages mit der für die Abgabe der Steuererklärung geltenden zu verbinden, um damit den Steuerpflichtigen, die ihre Steuererklärung durch Angehörige der steuerberatenden Berufe abgeben lassen, das Wahlrecht — Prämie oder Sonderausgabenabzug — zu erhalten?
Der Abgeordnete ist anwesend. Bitte schön, zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischl.
Herr Kollege, die von Ihnen angesprochene Frage ist Gegenstand mehrfacher Erörterungen mit Vertretern der obersten Finanzbehörden der Länder gewesen. Hierbei haben die Ländervertreter zutreffend darauf hingewiesen, daß die durch das Steueränderungsgesetz 1969 eingeführte Frist für die Abgabe der Wohnungsbau-Prämienanträge eine Ausschlußfrist darstellt, die grundsätzlich nicht verlängert werden kann. Darüber hinaus bestehen die Länder auf einer Einhaltung dieser Frist, weil nach ihrer Auffassung nur so eine geordnete Bearbeitung der Prämienanträge in den Lohnsteuerstellen der Finanzämter möglich ist. In der Zeit nach dem Ablauf der Antragsfrist, dem 30. September des jeweiligen Kalenderjahres, steht das Personal der Lohnsteuerstellen der Finanzämter für eine Bearbeitung der Prämienanträge zur Verfügung.
Im Hinblick darauf, daß in einzelnen Ländern für die Abgabe der Anträge auf Gewährung einer Wohnungsbauprämie für 1969 die Antragsfrist über den
30. September 1970 hinaus verlängert worden ist, sollen für prämienbegünstigte Aufwendungen des Kalenderjahres 1969 keine Folgerungen aus dem Fristablauf gezogen werden, wenn die Anträge bis zum 31. Dezember dieses Jahres, also 1970, bei den Instituten eingehen. In Zukunft müssen die Anträge jedoch innerhalb der gesetzlichen Frist gestellt werden. Eine Ausnahme kann nur dann gemacht werden, wenn die Voraussetzungen der Nachsicht des § 86 der Abgabenordnung vorliegen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Krammig.
Habe ich Sie recht verstanden, Herr Staatssekretär: die Regelung gilt bei Anträgen für das Veranlagungsjahr 1969 bis zum
31. Dezember 1970?
Jawohl, bis zum 31. Dezember 1970.
Keine Zusatzfragen.
Die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Picard und die Frage 29 des Abgeordneten Wuwer werden auf Bitten der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Dr. Arndt auf:
Trifft es zu, daß die Bundesfinanzverwaltung Umsatzsteuer für die Beförderung von Personen durch ausländische Beförderer im grenzüberschreitenden Gelegenheitsverkehr mit Kraftomnibussen auch dann erhebt, wenn Gruppen ausländischer Jugendlicher im Rahmen internationaler Jugendbegegnungen in eigenen Omnibussen in das Bundesgebiet einreisen?
Der Fragesteller ist anwesend. Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf bitten, die beiden Fragen wegen des engen Sachzusammenhangs zusammen beantworten zu dürfen.
Keine Bedenken? — Dann rufe ich auch die Frage 31 des Abgeordneten Dr. Arndt auf:
Ist die Bundesregierung gegebenenfalls bereit, auf die Erhebung der Umsatzsteuer zu verzichten, wenn die internationale Jugendbegegnung im Interesse der Jugend der betroffenen Staaten förderungswürdig erscheint?
Bisher sind der Bundesregierung nur wenige Fälle bekanntgeworden, in denen ausländische Jugendgruppen mit eigenen Omnibussen in das Bundesgebiet eingereist sind. Soweit bekannt, handelte es sich dabei um Jugendgruppen aus England.
Die Rechtslage ist folgende: Die Beförderungen fallen nur dann unter das Umsatzsteuergesetz, wenn die Jugendgruppe bei der Beförderung gegenüber den Teilnehmern der Fahrt als Unternehmer tätig wird. Das setzt voraus, daß die Jugendgruppe von den Teilnehmern für die Fahrt ein besonderes Entgelt erhebt. Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit konnte nicht festgestellt werden, ob diese Fälle bereits praktisch geworden sind. Soweit kein besonderes Entgelt erhoben wird, unterliegt die Beförderung nicht der Umsatzsteuer.
Es ist beabsichtigt, die Angelegenheit mit den Finanzministerien der Länder, denen die Verwaltung der Umsatzsteuer obliegt, möglichst bald zu besprechen. Falls sich herausstellen sollte, daß die Beförderung der ausländischen Jugendlichen wegen des besonderen Entgelts grundsätzlich der Umsatzsteuer unterliegt, soll geprüft werden, ob die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 25 des Umsatzsteuergesetzes Anwendung finden kann. Nach dieser Vorschrift ist unter anderem die Durchführung von Fahrten durch Jugendgruppen unter bestimmten Voraussetzungen von der Umsatzsteuer befreit. Ich habe veranlaßt, daß Ihnen das Ergebnis der Besprechung mit den Finanzministerien der Länder sofort mitgeteilt wird.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Arndt.
4530 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung dafür Verständnis, daß Jugendgruppen, die durch mehrere Länder Europas reisen und nur in Deutschland mit dieser Abgabe belastet werden, dies als unfair und als nicht jugendfreundlich ansehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dafür habe ich durchaus Verständnis. Deswegen ist ja auch die Besprechung mit den zuständigen Ländern, die die Abgabe verwalten, eingeleitet worden.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Arndt.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesminister der Finanzen für den Fall, daß Sie bei der angekündigten Besprechung zu dem Ergebnis kommen, daß Umsatzsteuer jedenfalls nach geltendem Recht erhoben werden muß, bereit, mit dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit darüber zu verhandeln, ob hier unter dem Gesichtspunkt der Jugendförderung etwa aus dem Bundesjugendplan eine Abgeltung innerhalb der Bundesressorts stattfinden könnte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, dazu bin ich bereit.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Zeit für die Fragestunde ist genau abgelaufen. Ich schließe die heutige Fragestunde und rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung der Sammelübersicht 12 des Petitionsausschusses über Anträge von Ausschüssen des Deutschen Bundestages zu Petitionen
— Drucksache VI/1401 —Ich darf zunächst der Vorsitzenden für ihren Bericht danken. Ich frage, ob der Bericht von der Vorsitzenden mündlich ergänzt werden soll. — Das ist nicht der Fall. Herr Abgeordneter Fritsch hat um das Wort gebeten. Bitte schön, Herr Abgeordneter Fritsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In § 113 der Geschäftsordnung dieses Hauses ist festgelegt, daß Berichte des Petitionsausschusses mindestens einmal im Monat in einer Sammelübersicht dem Bundestag vorzulegen sind. In Vollzug dieser Bestimmung ist heute die Sammelübersicht 12 des Petitionsausschusses zu beraten.
Der bisherigen Übung entsprach es — von wenigen Ausnahmen in früheren Jahren abgesehen —, den in der Übersicht enthaltenen Anträgen des Ausschusses ohne Aussprache zuzustimmen.
Wenn ich heute dazu das Wort genommen habe, dann zunächst einmal in der Absicht, die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses auf Zahl und Art der eingebrachten Petitionen zu lenken. Der Ihnen vorliegenden Drucksache VI/1401 können Sie entnehmen, zu welchen Rechtsgebieten Eingaben eingebracht und mit welchen Ergebnissen sie durch den Petitionsausschuß bearbeitet wurden. Es gibt kaum einen Rechtsbereich, der nicht Gegenstand von Bitten oder Beschwerden der Bürger unseres Landes ist. Das vermag sicher den nicht zu beunruhigen, der bereit wäre, das Petitionsrecht und die auf ihm fußenden Petitionen als Ausdruck nicht vermeidbaren Nörglertums oder nicht abzuschaffender Unzufriedenheit einzelner zu bewerten. Wer sich jedoch mitverantlich fühlt für Gerechtigkeit in diesem Lande und wer hinter den oft ungelenken Zeilen einer Eingabe den Menschen sieht, der sich in Sorge und mit viel Hoffnung an die Volksvertretung, also an dieses Parlament, wendet, wird — wie alle hier — Hilfe zu gewähren bereit sein.
Zum anderen meine ich, Ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Petitionen lenken zu sollen, denen der Ausschuß durch Überweisung an die Bundesregierung zur Berücksichtigung oder als Material für die zukünftige Gesetzgebungsarbeit besonderes Gewicht beigemessen hat. Lassen Sie mich in aller Kürze die Besonderheiten einiger dieser Eingaben darstellen.
Kriegerwitwen erhalten neben der Grund- und Ausgleichsrente einen sogenannten Schadensausgleich nach dem Bundesversorgungsgesetz, dessen Höhe sich an dem mutmaßlichen Einkommen orientiert, das der Ehemann in seinem erlernten, ausgeübten oder angestrebten Beruf erreicht hätte. Hieraus ergibt sich in manchen Fällen ein gewisser Ermessensspielraum und — wie im vorliegenden Falle — eine offensichtliche Benachteiligung der Hinterbliebenen. Diese Benachteiligung ergibt sich im vorliegenden Fall daraus, daß ein erfolgreicher Abschluß des Besuchs einer Landwirtschaftsschule durch den Gefallenen einem Mittelschulabschluß nicht gleichgestellt wird. Hieraus resultiert eine erhebliche Schadensausgleichsminderung, die der Ausschuß nicht für gerechtfertigt hielt. Er hat daher die Eingabe der Bundesregierung zur Berücksichtigung, d. h. zur Einleitung von Abhilfemaßnahmen, überwiesen.
In diesem Zusammenhang der Versorgung der Kriegsopfer möchte ich auf ein weiteres nicht ausreichend geregeltes Problem hinweisen, nämlich die Versorgung all der Frauen in unserem Lande, die während des letzten Krieges eine Ehe nicht mehr schließen konnten, weil der Verlobte gefallen ist. Wer so wie meine Freunde und ich mit vielen dieser tapferen Frauen, die im Andenken an den Gefallenen ledig geblieben sind, gesprochen hat, der weiß, daß auch für sie ein fester gefügter Platz als bisher im Bundesversorgungsgesetz gefunden werden sollte.
Ein Anliegen aus der Fülle dessen, was die aufgeführten Petitionen an Sorgen ausdrücken, möchte ich noch erwähnen. Es ist das Gesuch der Elterngemeinschaft körpergeschädigter Kinder in Essen um Freifahrt Contergan-geschädigter Kinder im Nahverkehr. Da diese Kinder, insbesondere bei Schädigungen der Arme, sich in den Verkehrsmitteln nicht
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4531
Fritsch
festhalten können, bedürfen sie der Begleitung. Die parlamentarische Prüfung der Eingabe, mit der die Gewährung von Fahrvergünstigungen für Contergan-geschädigte Kinder, insbesondere für solche mit Armverkürzungen und -schäden begehrt wird, hat folgendes ergeben. Zu dem Kreis der Freifahrtberechtigten im Nahverkehr gehören nach den geltenden Bestimmungen unter anderem Körperbehinderte mit Vollendung des 6. Lebensjahres, deren Erwerbsfähigkeit um. wenigstens 50 v. H. gemindert ist und die erheblich gehbehindert sind. Die Kinder, von denen in der Eingabe die Rede ist, gehören zweifelsohne zu den Körperbehinderten. Sie werden aber nach ärztlichem Urteil offenbar nicht als gehbehindert angesehen und erhalten somit nicht die Vergünstigungen nach den derzeit geltenden Regelungen. Es sind Bemühungen im Gange, hier Abhilfe zu schaffen. Insbesondere mit den Ländern als den beteiligten Kostenträgern muß in naher Zukunft darüber gesprochen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß darauf hinweisen, daß derzeit in den zuständigen Ausschüssen Gesetzesanträge zur Verbesserung der Rechte des Petitionsausschusses beraten werden. Wenn noch schneller und wirksamer als bisher geholfen werden soll — hier geht es immer nur um den Menschen —, muß diesen Anträgen alsbald entsprochen werden. Sie dienen dem Bürger und vermehren die Rechte dieses Hauses, für das stellvertretend der Petitionsausschuß tätig ist.
Meine Damen und Herren, wird dazu noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Der Antrag des Petitionsausschusses in Drucksache VI/1401 lautet:
Der Bundestag wolle beschließen, die in der nachfolgenden Sammelübersicht enthaltenen Anträge von Ausschüssen des Deutschen Bundestages zu Petitionen anzunehmen.
Ich lasse über diesen Antrag abstimmen. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! Enthaltungen? — Es ist einstimmig zu beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 3 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des von der Bundesregierung beschlossenen Verkehrsberichts 1970
— Drucksache VI/1350 —
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen
— Drucksache VI/1140 —
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Ausbau der Bundesfernstraßen in den Jahren 1971 bis 1985
— Drucksache VI/1180 —
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Besteuerung des Straßengüterverkehrs
— Drucksache VI/1433 —
e) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU
betr. Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden
— Drucksache W1360 —
Wir verfahren folgendermaßen. Zunächst wird zur Einbringung des Verkehrsberichtes und gleichzeitig zur Begründung der vorliegenden Gesetzentwürfe der Herr Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen sprechen. Ich erteile Herrn Bundesminister Leber das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor Ihnen liegen vier verkehrspolitisch bedeutsame Drucksachen: der in der Regierungserklärung angekündigte Verkehrsbericht für das Jahr 1970, der Gesetzentwurf über den Ausbau der Bundesfernstraßen in den Jahren 1971 bis 1985, die Novelle zum Eisenbahnkreuzungsgesetz und der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Besteuerung des Straßengüterverkehrs. Ich werde meine Ausführungen auf alle vier Vorlagen erstrecken.
Der Verkehrsbericht 1970, den ich 'dem Hohen Hause heute vorzulegen die Ehre habe, versucht eine Antwort auf drei Fragen zu geben: Wo stehen wir im Verkehr am Anfang der 70er Jahre? Welches werden aus der Sicht der Bundesregierung die Hauptprobleme des Verkehrs in den kommenden Jahren sein? Welche Möglichkeiten zeichnen sich zu ihrer Lösung ab?
Vor fast genau drei Jahren, am 8. November 1967, wurde das Verkehrspolitische Programm für die Jahre 1968 bis 1972 beschlossen. Eine spätere Würdigung dieses Kapitels wird vielleicht einmal unter der Überschrift stehen können: „Leere Waggons, leere Kassen und viel Mutlosigkeit".
Das Verkehrspolitische Programm befindet sich nunmehr in seiner zweiten Halbzeit. Wir können mit Befriedigung feststellen, daß der Weg, den wir damals, 1967, begonnen haben, erfolgreich war.
Unsere Eisenbahn hat keine leeren Waggons mehr; ihr fehlen Waggons, so stark hat ihr Verkehr zugenommen. Ihre Einnahmen sind erheblich gestiegen, und sie hat ein neues Selbstbewußtsein gewonnen. Sie arbeitet rationeller, sie ist moderner geworden, sie hat ihre Organisation konzentriert. Sie ist in den Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern eingetreten. Sie hat in den Bereichen, in denen es sinnvoll erschien, z. B. im kombinierten Verkehr und im Kleingutverkehr, auch die Kooperation mit anderen Verkehrszweigen gesucht und sie gemeinsam mit ihnen verwirklicht.
Im Straßengüterverkehr wurde die Kapazitätsregelung flexibler gestaltet, die Verkehrsbedienung
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Bundesminister Leber
in der Fläche erleichtert und das Tarifbildungsverfahren im Nahverkehr neu geregelt.
Die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen dem Straßengüterverkehr und der Bundesbahn haben sich in erfreulichem Maße entwickelt und verstärkt.
In der Binnenschiffahrt sind durch die getroffenen Maßnahmen die Märkte bereits jetzt fühlbar stabilisiert und damit gleichzeitig auch bessere Voraussetzungen für eine Modernisierung der Binnenschiffsflotte geschaffen worden. Die Schifferbetriebsverbände wurden durch die Möglichkeit zur Akquisition in den Stand gesetzt, sich als selbständige Anbieter auf den Markt zu begeben. Binnenschifffahrt und verladende Wirtschaft haben wiederholt ihre Befriedigung über die getroffenen Maßnahmen zum Ausdruck gebracht.
Die deutsche Handelsflotte wurde modernisiert.
Einige sehr gravierende Wettbewerbsnachteile im Hinterlandverkehr der deutschen Seehäfen gegenüber dem Hinterlandverkehr der Seehäfen in unseren westlichen Nachbarländern konnten beseitigt werden.
Die Deutsche Lufthansa hat ihr Streckennetz um wirtschaftlich sehr bedeutsame Fluglinien erweitern können. Wichtige Infrastrukturmaßnahmen für den Luftverkehr wurden mit wesentlicher finanzieller Unterstützung des Bundes vorangetrieben oder fertiggestellt. Die Flugsicherungsdienste wurden in personeller und technischer Hinsicht verbessert.
Das Investitionsprogramm zur Förderung des kombinierten Verkehrs und des Gleisanschlußverkehrs hat bereits einen beachtlichen Beitrag zur Straßenentlastung geleistet.
Im Straßenbau wird von 1967 bis 1970 ein Programm mit einem Finanzvolumen von rund 18 Milliarden DM durchgeführt, ein Bauaufwand, der etwa dem der vorangegangenen 8 Jahre entspricht.
Mit dem Mehraufkommen aus der Mineralölsteuererhöhung vom 1. Januar 1967 wurden zahlreiche Vorhaben im kommunalen Straßenbau und im öffentlichen Personennahverkehr gefördert. Zahlreiche Einzelmaßnahmen zielten darauf ab, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen, den Verkehr flüssiger ablaufen zu lassen und die vom Kraftfahrzeug ausgehenden Umweltbelästigungen zu beschränken.
Von vielen Seiten ist damals die Ansicht geäußert worden, das Verkehrspolitische Programm der Bundesregierung werde die gemeinsame Verkehrspolitik der Europäischen Gemeinschaften bremsen. Dies ist nicht der Fall gewesen. Wir haben nicht gebremst, sondern wir haben angeregt und in Bewegung gebracht, und wir haben die Weiche in eine Richtung stellen helfen, die unseren Vorstellungen entspricht. Das hat seinen Eindruck im Ausland nicht verfehlt.
Einige gesonderte Worte möchte ich in diesem Zusammenhang zur Straßengüterverkehrsteuer sagen. Die Frage, ob sie am Jahresende auslaufen oder verlängert werden sollte, hat in jüngster Zeit zu Diskussionen geführt. Ich möchte hier feststellen:
Diese Steuer hatte insgesamt den gewünschten Erfolg, den wir mit ihr erreichen wollten. Der Werkfernverkehr hat sich im ganzen nicht wesentlich ausgeweitet, in einigen Bereichen ist er sogar leicht zurückgegangen. Ich räume hier gern ein, daß wir alle die Absicht hatten, die Steuer zum 1. Januar 1971 durch eine wegekostenorientierte Straßenbenutzungsabgabe abzulösen. Diese Abgabe soll sich in ein Konzept der Europäischen Gemeinschaften über eine harmonisierte Lkw-Besteuerung einfügen.
Die Europäischen Gemeinschaften müssen erst über diese Hürde kommen; sie sind noch nicht soweit. Entgegen unseren Erwartungen konnte die europäische Verkehrspolitik diese Schritte bisher nicht tun. Die erforderlichen Vorarbeiten sind ohne Verschulden der Bundesregierung nicht in dem notwendigen Maße vorangekommen. Solange noch die Chance zu einer gemeinschaftlichen Lösung besteht, kann ich in dieser Frage nicht zu einem verkehrspolitischen Alleingang raten. Dies würde die Verhandlungsposition der Bundesregierung in Brüssel beeinträchtigen.
Es gibt kein Gebiet der Verkehrspolitik, das so umstritten und so sehr dem Versuch der Quadratur des Kreises ähnlich ist, auf das so viel Tinte und Papier verwandt wurde und in dem so viele kritische Fragen an die Verkehrsminister in allen Ländern gestellt werden, wie gerade die Wegekostenfrage. Ich kenne in der ganzen Welt keine Lösung, weder hier noch irgendwo in einem ánderen Land, die man ohne ernsthafte Einwände mit dem Stempel „genügend geeignet" auszeichnen könnte. Das zuzugeben, ist auch in der Bundesrepublik Deutschland keine Schande. Andererseits kann ein ersatzloses Fortfallen der eingeführten Straßengüterverkehrsteuern verkehrspolitisch nicht hingenommen werden.
In Abwägung dieser Gründe hat die Bundesregierung beschlossen, dem Hohen Hause einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Geltungsdauer der Straßengüterverkehrsteuer um ein Jahr verlängert. Dies war auch möglich, weil sich der Spielraum, der von den Europäischen Gemeinschaften her gegeben war, über die Erwartungen, die wir 1968 haben konnten, um ein Jahr vergrößert hat.
Meine Damen und Herren, der Verkehrsbericht 1970 soll kein zweites Verkehrspolitisches Programm sein. Das Verkehrspolitische Programm läuft bis 1972. Der Verkehrsbericht 1970 hat eine andere Funktion. Die Bundesregierung hat versucht, in ihm eine Art Gewinn- und Verlustrechnung des Verkehrswesens aufzustellen und darzulegen, wo und mit welchen Mitteln der „Gewinn" vergrößert und der „Verlust" gemindert werden kann. Wir haben uns darauf konzentriert, zu zeigen, was ist und was in der Zukunft werden sollte. Schwerpunktmäßig wurde dargestellt, welche zusätzlichen und über das verkehrspolitische Sofortprogramm hinausgehenden Probleme auf uns zukommen und welche Aufgaben uns diese Probleme stellen.
Eine vergleichende Darstellung des Verkehrs im geteilten Deutschland bleibt einem Bericht zur Lage der Nation vorbehalten, in dem auch die Verkehrsverhältnisse angesprochen werden sollen. In ihm
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Bundesminister Leber
wird auch die besondere Aufgabe, die uns das Zonenrandgebiet stellt, im besonderen zu behandeln sein.
Ich komme nun zu den besonderen Aufgaben, die ich auch weiterhin im Gesamtrahmen der Aufgaben als Schwerpunkt der Verkehrspolitik der Bundesregierung ansehe. Ich möchte sie noch einmal nennen: der Straßenbau, die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Verdichtungsräumen, die Eisenbahnen und die Verkehrssicherheit.
Die Bundesregierung hat in ihrem verkehrspolitischen Programm einen Ausbauplan für die Bundesfernstraßen angekündigt. Er liegt dem Hohen Hause als Bedarfsplan für den Ausbau der Bundesfernstraßen in den Jahren 1971 bis 1985 vor. Wir haben uns erlaubt, den Damen und Herren des Hohen Hauses eine mit reichlichem Kartenmaterial versehene Broschüre zu übersenden, in der der Gang der Untersuchungen, die wir angestellt haben, im einzelnen dargestellt ist. Sie erkennen aus diesen Unterlagen, wie sich die Planung aus Strukturdaten Schritt für Schritt entwickelt hat. Mit dieser Art des Vorgehens ist der Übergang von der pragmatischen zur systematischen Planung vollzogen. Wir haben es aufgegeben, bei der Straßenbauplanung so zu verfahren, wie früher — auch noch zu meiner Zeit — verfahren wurde, daß man nämlich ein politisches Tauziehen um die Frage veranstaltete: Wo soll man Straßenzüge bauen oder nicht? Wo genießen sie Prioritäten oder nicht? Wir peilen nicht nach altgewohnter Methode über den Daumen: „Hier wäre eigentlich eine Straße nötig", sondern wir sind zu einer systematischen Planung gekommen. Wir haben in diesem Bedarfsplan darzustellen versucht, wie das Netz der Bundesfernstraßen aussehen muß, wenn es den in 15 oder 20 Jahren zu erwartenden Verkehrsverhältnissen in unserem Lande genügen soll. Wir haben dabei möglichst alle Gesichtspunkte, die auf den Verkehr Einfluß haben, berücksichtigt. Einwohner- und Beschäftigtenzahlen, Wirtschaftstätigkeit, Bruttoinlandsprodukt, Kraftfahrzeugbestand und Kraftfahrzeugdichte, um nur einige der wichtigsten Grunddaten zu nennen, wurden in ihrer regional unterschiedlichen Entwicklung vorausgeschätzt oder ermittelt. Aus diesen Daten haben wir mit Hilfe mathematischer Modelle das künftige Verkehrsaufkommen und die Straßenbelastung errechnet. Dabei wurde neben dem Werktagsverkehr auch der Wochenendverkehr in die Betrachtung einbezogen. Besonders dem wachsenden Freizeitverkehr muß man für die Zukunft einen höheren, einen ihm angemessen hohen Stellenwert beimessen.
In einem weiteren Schritt wurde dann für alle Strecken des Bundesfernstraßennetzes die künftig benötigte Zahl der Fahrspuren festgelegt. Die Festlegung der Reihenfolge, in der der Bedarf befriedigt werden soll, orientiert sich an der verkehrlichen Auslastung der Straßen, an dem Erschließungs- und Verbindungseffekt, den die Straße für eine Region hat, an ihrem Ausbauzustand und an der KostenNutzen-Vergleichsrechnung. Auf diese Weise wurde ermittelt, wo, wie und in welcher Reihenfolge das Bundesfernstraßennetz ausgebaut werden muß.
Nach der Verwirklichung des Bedarfsplans werden 85 % der Bevölkerung unseres Landes dort, wo sie dann wohnen werden, maximal 10 km bis zur nächsten Autobahn zurückzulegen haben.
Der Bedarfsplan selber trifft keine Aussagen über die Finanzierung. Wie er verwirklicht werden müßte, ergibt sich aus vielen feststehenden Sachverhalten, die er enthält. Wie schnell er tatsächlich verwirklicht wird, hängt von den Entscheidungen der dazu berufenen Organe ab. Wie die Finanzierung des Bedarfsplans sichergestellt wird, hängt vor allen Dingen von den Entscheidungen des Deutschen Bundestages ab. Der Bedarfsplan stellt die Grundlage für diese Entscheidungen dar. Insofern ist er ein Anhaltspunkt dafür, wie hoch die finanziellen Mittel bemessen sein müssen, um ihn zu verwirklichen.
Der gesamte Finanzbedarf für den Ausbau der Bundesfernstraßen beträgt auf der Grundlage des Baupreisstandes von 1968/69 rund 125 Milliarden DM. Für den gleichen Zeitraum erwarten wir aus der 50%igen Zweckbindung der Mineralölsteuer nach vorsichtiger Schätzung ein Aufkommen von mindestens 93 Milliarden DM. Hiervon stehen rund 72 Milliarden DM für Investitionen in neue Straßen zur Verfügung.
Stellt man im Ablauf der Jahre die genannten, auf das Jahr 1985 bezogenen Zahlen einander gegenüber, dann ergibt sich das Bild einer Schere, die sich in den nächsten 10 Jahren gewaltig weiter öffnen wird. Der Verkehr wächst bis zum Jahre 1980 mit großer Sicherheit auf einen Sättigungsgrad zu: Das sind 20 Millionen Personenkraftwagen. Die Bedrängnis auf unseren Straßen wird sich bei dieser Ausgangslage trotz Straßenbaues also noch erheblich verschärfen. Konkret gesprochen: Erst nach diesem Zeitraum, also ab 1995, wird sich diese Schere allmählich wieder schließen. Noch konkreter gesprochen: Erst auf das Jahr 1995 berechnet kann, wenn man von den jetzigen finanziellen Ansätzen ausgeht, der wachsende Straßenbedarf mit den derzeitig gesicherten Finanzmitteln als befriedigt angesehen werden.
Der schneller als der Straßenraum wachsende Verkehr läßt der jetzt lebenden und der nach uns kommenden Generation keine Hoffnung auf Besserung; denn vor uns liegen keine „sieben fetten Jahre". Vor uns liegen, wenn sich nichts ändert, mehr als 17, vielleicht 27 magere Jahre. Es gibt auch nirgendwo Kornkammern, die der Finanzminister im Verborgenen gefüllt hätte und aus denen wir für den Straßenbau zusätzliche Mittel nehmen könnten.
Ich weiß, meine Damen und Herren, wie schwierig dieses Thema ist. Ich will hier ohne jeden Anflug von Rhetorik und in aller Nüchternheit auf diese Zusammenhänge hinweisen, weil ich weiß, wie bedeutsam sie für unser Land und für unsere Zukunft sind. Ich weiß also, wie schwierig das Thema ist, aber ich halte es für falsch, vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren. Jeder Versuch einer Lösung setzt voraus, daß zuerst die ins Wanken geratene Stabilität wiedergewonnen wird.
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Bundesminister Leber
Das erste, was wir versuchen müssen, ist, einen Weg zu finden, die aus allen Fugen geratenen Baupreise wieder zu beruhigen und sie nach Möglichkeit zurückzuentwickeln.
Dazu gehören ausreichender Wettbewerb, Rationalisierung und das Sichhinwenden zu neuen Fertigungsmethoden auch im Verkehrsbau. Sie müssen uns davor bewahren, daß die vorhandenen öffentlichen Mittel von Preissteigerungen verzehrt werden oder daß zusätzliche Mittel nicht zur Finanzierung zusätzlicher Aufgaben, sondern nur zur Finanzierung gestiegener Preise bei einem geringeren Maß von Aufgaben verwendet werden müssen. Nur von einer solchen Basis der Stabilität aus lassen sich die weiteren Fragen klären.
Das, was dann zu beantworten ist, sind entscheidende Fragen, vor denen unser Volk steht. Unser Volk muß sich in aller Offenheit über den Weg klarwerden, den es in dieser Sache gehen will.
Ich sehe drei Möglichkeiten, für die man sich entscheiden kann.
Erstens. Wir können so weiterbauen wie bisher. Wenn wir das tun, müssen wie der Tatsache ins Auge sehen, daß wir die im Bedarfsplan ausgewiesenen Bauziele bis 1985 nur zum Teil erreichen. Der Verkehr wächst schneller, als wir bauen, und wir fahren uns auf unseren Fernstraßen dann genauso fest, wie wir heute in unseren Städten schon festgefahren sind. Ich kann hier nur ohne jede Übertreibung sagen: Wehe der Regierung, die dann regiert, wenn ein vollmotorisiertes Volk auf seinen Fernstraßen so festgefahren ist, wie wir heute in unseren Großstädten schon festgefahren sind!
Zweitens. Wir können versuchen, den Status quo zwischen Verkehr und Straßenraum, den wir heute haben, zu erhalten und schneller zu bauen als bisher, so schnell zu bauen, wie der Verkehr wächst. Wenn das geschieht, würde der Verkehr zwar nicht flüssiger, als er gegenwärtig ist, aber er würde auch nicht schlechter, als er gegenwärtig ist, und wir würden vor der Gefahr bewahrt, daß wir uns auf unseren Fernstraßen festfahren. Damit wäre viel gewonnen.
Um das zu erreichen, müßten mehr Mittel als bisher für den Straßenbau zur Verfügung gestellt werden. Das könnte dadurch erreicht werden, daß die 50%ige Zweckbindung der Mineralölsteuer für den Fernstraßenbau erhöht würde.
— Aber nicht getan!
— Sie haben „1961" gesagt! — Das würde bedeuten, daß auf anderen Gebieten Abstriche gemacht und daß neue Prioritäten im Bundeshaushalt gesetzt werden müßten. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich einen solchen Weg unter den überschaubaren Bedingungen nicht für gangbar halte. Hier geht es um sogenannte Prioritäten. Würde ich eine solche Priorität für den Straßenbau aus dem Bundeshaushalt heraus erwarten, käme ich mir vor wie der bekannte Joseph aus dem Alten Testament, den sein Vater besonders liebte, weshalb ihm dieser Vater ein besonders buntes Gewand kaufte. Seine Brüder haben ihn aber, weil sie vernachlässigt wurden, in eine Zisterne geworfen und später nach Ägypten verkauft. Den Weg möchte ich nicht antreten.
— Sie sind doch bibelkundig genug und wissen, wie das war!
Es gibt einen dritten Weg, meine Damen und Herren. Er besteht darin, daß wir den Mut aufbringen, offen miteinander zu reden, daß wir vor unser Volk treten, ihm die Lage und die Entwicklung darstellen und die Kraftfahrer fragen, ob sie bereit sind, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, wenn sie genügend Straßen und Autobahnen wollen. Ich habe hier heute keine Vorlage, die in eine solche Richtung zielt, einzubringen. Ich habe weder den Auftrag noch die Vollmacht, einen Vorschlag zu machen. Ich habe nur eine von drei möglichen Perspektiven aufzuzeigen. Ich habe aber das Recht — und davon mache ich als Mitglied dieses Hohen Hauses Gebrauch —, meine persönliche Meinung zu diesem Thema zu sagen.
— Ich sage es auch als Bundesminister, als Person, ohne Auftrag.
Wir brauchen Klarheit, und ich möchte die Diskussion über dieses Thema auslösen, damit wir Klarheit gewinnen. Deshalb sage ich, ich würde mich persönlich für den dritten Weg entscheiden, weil ich ihn für den solidesten und für den besten halte. Wir müssen alle miteinander darüber nachdenken, ob wir nicht ein wenig umdenken müssen.
Wir stehen in unserem Lande vor großen Entscheidungen, die für unsere Zukunft, für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und für den Lebensstandard der kommenden Generationen von hohem und höchstem Rang sind. Dazu zählt ganz bestimmt der Ausbau unserer Verkehrswege in einer in spätestens zehn Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit vollmotorisierten Gesellschaft in diesem Lande. Weil wir diese Entwicklung zuverlässig voraussehen können, müssen wir alle miteinander nachdenken, ob wir nicht umdenken müssen.
Wir müssen darüber nachdenken, ob wir unsere Ideale und unser Heil weiter in so hohem Maße im optimalen Konsum und im optimalen Wachstum des Verbrauchs von Konsumgegenständen sehen wol-
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Bundesminister Leber
len. Wir sind dabei, das Mehrkonsumieren als unser höchstes gesellschaftliches Seelenheil zu betrachten. Wir haben gar nicht gemerkt, daß wir in vielen Bereichen unter dem Einfluß von Milliarden, die jährlich für Werbung ausgegeben werden, längst die Bedarfsdeckungswirtschaft hinter uns gelassen haben und zur Bedarfsweckungswirtschaft übergegangen sind. Wir müssen darüber nachdenken, und zwar mit vollem Ernst, ob es nicht nötig und besser und richtiger wäre, vom jährlich wachsenden Sozialprodukt etwas mehr für öffentliche Investitionen, z. B. für ausreichende und gute Straßen, freizumachen, so viel frei zu machen, wie nötig ist, um einen freien, flüssigen und sicheren Verkehr zu erhalten.
Ich will es auf eine einfache Formel bringen, die vereinfacht und darum vielleicht nicht ganz so präzise ist, wie es wissenschaftlicher Gründlichkeit entsprechen würde. Nehmen wir an, die Entwicklung ginge so weiter und unser Sozialprodukt würde sich in jedem Jahr um 5 bis 6 % vermehren. Wenn das so wäre, könnten wir jedes Jahr um 5 bis 6 % mehr konsumieren, vom Nagellack an den Fingern der Damen im Lande über Fernsehapparate bis zu Ferienreisen. Wenn wir das wollen und wenn wir uns so verhalten, bleiben die großen Aufgaben ungelöst. Wir werden eines Tages der Reden über Reformen, die nicht erfolgen, alle miteinander überdrüssig werden. Wir müssen als Volk offen miteinander reden und uns fragen und fragen lassen, ob es nicht besser ist, jedes Jahr nur 3 bis 4 % für mehr Konsum — für mehr Nagellack und all die tausend Konsumgegenstände, die das Leben angenehmer machen — auszugeben und die 2 % des Sozialprodukts, die dann frei werden, dazu zu verwenden, die großen Aufgaben in Angriff zu nehmen und zu lösen, die uns den Weg in eine gute und gesicherte Zukunft frei machen.
Das wären beim gegenwärtigen Stand des Sozialprodukts etwa 13 Milliarden DM jährlich. Damit könnte man unser Land im Innern von der Bildung bis zum Verkehrsnetz zu einem der modernsten und der wettbewerbsfähigsten in der Welt machen.
Ich werfe diese Frage hier für den Teil der Aufgaben, die den Verkehr und seine Entwicklung angehen, auf. Ich habe das Vertrauen, daß die Mehrheit unserer Autofahrer sich so wie eine solide Familie verhalten wird, wenn wir sie fragen, ob sie bereit sind, darüber nachzudenken, ob es nicht nötig ist, daß wir miteinander für den Ausbau des Verkehrsnetzes das aufbringen, was notwendig ist, damit sie möglichst bald sicher und flüssig fahren können.
Ich werde in dieser Ansicht durch eine kürzlich in der Presse erwähnte Meinungsumfrage über die Bereitschaft der Autofahrer, mehr für den Treibstoff zu zahlen, bestärkt. Ich beziehe mich hier nur auf die Umfrage, die angestellt worden ist, und zitiere: Voraussetzung ist, daß das Mehraufkommen ausschließlich bis zur letzten Mark zur Verbesserung der Straßen- und Verkehrsverhältnisse verwendet
wird, daß es nicht zur Auffüllung der allgemeinen Finanzmasse gebraucht oder mißbraucht wird. Wie die Presse berichtet, ist das Ergebnis überraschend gewesen. 80 % eines repräsentativen Querschnitts der Autofahrer haben zu einem solchen Weg ja gesagt.
Ich weiß, daß es da eine Lesart gibt, die mit diesem Thema zusammenhängt, mit der ich mich auseinandersetzen muß, weil sie falsch ist. Es gibt Leute, die dem Kraftfahrer einreden, solange er über die Mineralölsteuer den allgemeinen Haushalt finanziere und seine Steuern zweckentfremdet verwandt würden, dürfe er sich nicht bitten lassen, mehr zu zahlen. Wer so argumentiert, kennt die Zahlen nicht oder verdreht die Tatsachen.
Richtig ist folgendes: Bund und Länder nahmen 1969 aus der Kraftfahrzeug- und der Mineralölsteuer, soweit sie vom Kraftverkehr getragen werden, 12,398 Milliarden DM ein. Die Gesamtausgaben für den Straßenbau, die Straßenunterhaltung und die Regelung des Verkehrs betrugen 1969 13,867 Milliarden DM. Die Ausgaben für den Fahrweg des Kraftfahrers lagen also 1969 um 1,5 Milliarden DM höher, als die Einnahmen bei allen öffentlichen Händen betrugen.
Es kommt ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Wer mit dem Auto nach Italien fährt, wird spätestens am Brenner beim Einkauf von Benzingutscheinen spüren, daß trotz Touristenermäßigung der Liter Benzin mit 66,9 Pf Mineralölsteuern belastet ist gegenüber 35 Pf bei uns. In Belgien ist die Belastung des Benzins 10 %, in Frankreich rund 20 % höher als bei uns. Luxemburg liegt leicht über, die Niederlande liegen leicht unter unserem Satz. Die niederländische Regierung hat allerdings zum 1. Januar 1971 eine Anhebung vorgeschlagen. Dies ist die Situation bei unseren Partnern in den Europäischen Gemeinschaften.
Auch dies rechtfertigt in meinen Augen die Frage an unser Volk und an unsere Autofahrer, ob es, wenn wir mehr Straßen brauchen und sie auf anderem Weg nicht gebaut bekommen, nicht richtig und besser ist, etwas mehr für die Straßeninfrastruktur und den Bau genügend guter Straßen zu zahlen.
Hinzu kommt etwas Weiteres: die Produktivität besserer Straßen. Wenn nicht genügend Straßen vorhanden sind — und es werden immer weniger vorhanden sein, wenn nichts geschieht —, wird viel Kraftstoff im Stehen oder im Schleichen in die Luft geblasen. Nicht fließend fahren können ist die teuerste Art zu fahren. Am fließenden Verkehr teilzunehmen ist die billigste Art zu fahren. Also ist der Aufwand für genügend Straßen mit fließendem Verkehr auch die Voraussetzung für die höchste Produktivität des Verkehrs.
Ich habe, meine Damen und Herren, hier die_ drei Möglichkeiten, die wir nutzen können, hypothetisch aufgezeigt, drei Wege, die wir für die künftige Lösung der Aufgaben zum Ausbau des Straßennetzes gehen können. Ich habe hinzugefügt: Ich bin für die Lösung Nr. 3.
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Bundesminister Leber
Damit keine Unklarheit entsteht: Ich halte es weder für richtig noch für möglich, eine solche Vermehrung der Mittel schon im Jahre 1971 vorzunehmen. Da wir in einem Trend von 15 Jahren denken, reicht auch ein etwas späterer Zeitpunkt noch aus.
Ich wäre dankbar, die Ansicht des Hohen Hauses zum Grundsatz erfahren zu können, d. h. zu diesen drei Wegen, die denkbar sind. Ich werde hier im Hause interessiert zuhören und auch interessiert beobachten, wie sich die deutsche öffentliche Meinung dazu verhält. Weil mich diese Aussprache über den Grundsatz interessiert, habe ich heute hier weder Größenordnungen noch Zahlen genannt. Je nachdem, wie das Ergebnis dieser Diskussion aussieht, werde ich der Bundesregierung meine Vorschläge für eine Vorlage an den Deutschen Bundestag unterbreiten. Ich weiß, meine Damen und Herren, dies ist eine ungewöhnliche, vielleicht auch eine unbequeme Art, zu prozedieren. Ich halte sie aber nicht für schlecht.
— Das enthebt mich keiner Entscheidung. Wenn Sie an der demokratischen Meinungsbildung beteiligt sein wollen — und das nehme ich doch an —, dann müssen Sie doch eigentlich dankbar sein, daß die Bundesregierung dieses Thema zur Debatte stellt und den Bundestag nicht mit einer Gesetzesvorlage, die in der Koalition abgestimmt ist, vor vollendete Tatsachen stellt.
Ich beziehe ja die Opposition in die Debatte ein. Jetzt können Sie Ihre Meinung sagen und kriegen Angst davor.
— Jetzt tue ich es aber, und jetzt kriegen Sie Angst vor Ihren eigenen Möglichkeiten.
Das Wort hat allein der Herr Bundesminister zu seiner Einbringungsrede. Sie können sich nachher äußern. Der Bundesminister hat allein das Wort.
Das denke ich auch. Ich werde ja zuhören. Das habe ich ausdrücklich gesagt. Aber es scheint nicht bequem zu sein, dem zuzuhören, was ich hier sage.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole: ich halte das für eine ungewöhnliche und auch für eine unbequeme Art, zu prozedieren. Aber hier muß die Gelegenheit geschaffen werden, daß man sich über dieses Thema ausspricht. Diese Gelegenheit will ich herbeiführen. Ich halte das auch nicht für einen schlechten demokratischen Stil. Ich habe dargestellt, wie die Entwicklung verlaufen wird, wenn wir uns
so, so oder so entscheiden. Wer sich für die Lösung 1 entscheidet — und ich bitte darum, daß der Deutsche Bundestag und der einzelne Abgeordnete jetzt nach meiner Rede in der Debatte sagt, ob er für die Lösung 1, 2 oder 3 ist; das möchte ich gerne hören —,
wer sich für die Lösung 1 entscheidet, darf sich nicht beklagen, wenn wir in wenigen Jahren im Chaos eines wachsenden Verkehrs zu erstarren beginnen. Bei der Entscheidung für die Lösung 2 brauchen wir mehr Mittel und erreichen trotzdem für diese Generation keine Ordnung, die befriedigend ist. Wer sich für die Lösung 2 entscheidet, muß aber auch sagen, was er im Rahmen des Bundeshaushalts vernachlässigen und zurückgestellt haben will.
Die Entscheidung für die Lösung 3 führt meiner Auffassung nach zu einer befriedigenden Lösung, auch wenn sie unbequem ist. Davon, wie wir uns miteinander entscheiden werden, hängen das Gesicht unseres Landes, die Gestalt und die Kraft unseres Landes für das Ende dieses Jahrhunderts in einem sehr hohen Maße ab.
In einem römischen Edikt aus dem Jahre 395 nach Christus heißt es über die Instandsetzung von Landstraßen und Brücken:
Deshalb muß jeder ordentliche Bürger Straßen und Brücken bauen und sie unterhalten.
Der römische Straßenbau, dessen großartige Leistungen wir noch heute bewundern, kann uns auch heute noch Vorbild sein.
Meine Damen und Herren, ich habe bisher nur vom reinen Straßenbau gesprochen. Wie das Salz zur Suppe so gehört zum Straßenbau eine Vielzahl von Einrichtungen, die mit dem Straßenbau zusammengenommen erst den Wert unserer Straßeninfrastruktur ausmachen. Die Skala dieser Maßnahmen reicht von einer Ausrüstung der Straße mit Leit- und Schutzeinrichtungen über die Beleuchtung einzelner Straßenabschnitte und besonders gefährlicher Knotenpunkte bis hin zu den Möglichkeiten einer zentralen Steuerung des Verkehrsablaufs und zu Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit der starken Straßenabnutzung durch Spikes-Reifen. Sie werden diese Fragen ausführlich im Verkehrsbericht behandelt finden.
Ich möchte hier lediglich noch auf einen Punkt näher eingehen, der mir wegen seiner Bedeutung für den Verkehrsnutzer besonders am Herzen liegt. Es ist die Verbesserung des Service an unseren Autobahnen. Darüber werden viele Klagen geführt. Ich wollte hier mitteilen, welche Lösung wir uns vorstellen. Wir haben uns etwas einfallen lassen, was wir „Bundesautobahn-Dreipunkt-Service-System" nennen. Das heißt, an den Autobahnen sollen errichtet werden erstens alle 10 bis 15 km ein Kiosk und eine hygienisch einwandfreie Toilettenanlage.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4537
Bundesminister Leber
Wir können nicht über bessere Umweltbedingungen reden, wenn wir allmählich die Rastplätze neben unseren Autobahnen in übelriechende Plätze verwandeln.
Das war aber auch vor meiner Zeit schon so.
Damit wird das „in den Wald gehen müssen" sein Ende finden. Die Umwelt der Autobahn wird nicht mehr verunreinigt werden.
Zweitens. Alle 25 bis 30 km wird eine Tankstelle errichtet werden, gegebenenfalls mit einem Erfrischungsdienst.
Drittens. Alle 50 bis 60 km soll an landschaftlich schönen und verkehrstechnisch geeigneten Punkten eine Raststätte gebaut werden. Bisher errichtete Automatenbetriebe, die ich für schlecht halte, werden durch moderne Cafeteria-Betriebe mit sauberem Service ersetzt werden.
Um aber auch dem Spitzenbedarf, etwa in den Ferienmonaten, gerecht zu werden, soll als ergänzende Maßnahme die Möglichkeit geschaffen werden, an besonderen Verkaufsstellen bei den Raststätten einfache Schnellgerichte zu mäßigen Preisen einnehmen zu können.
Ich komme nun von den Autobahnen, von den Fernstraßen zu den Verdichtungsräumen. Die Verkehrsverhältnisse in diesen Verdichtungsräumen haben sich durch die sprunghafte Zunahme des Individualverkehrs in beinahe revolutionärer Weise verändert.
Es gibt ein Buch, dessen Titel lautet: „Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung". Dieses Buch ist ein Bestseller geworden. Kein Verkehrspolitiker könnte ein solches Buch schreiben; er würde es vermutlich nicht einmal zu einem Schulaufsatz bringen. So wenig ist morgens um 7 oder abends um 5 in unseren Städten in Ordnung.
Die Erfahrungen in Deutschland, in anderen europäischen Staaten und besonders in den USA zeigen, daß eine „autogerechte Stadt" eine Utopie ist. Es gibt sie nicht, und es wird sie nicht geben.
Die Auswirkungen dieser Entwicklung, insbesondere die verschlechterten Umweltbedingungen, Verkehrsstauungen und Parkraumnot sind für viele Städter seit langem täglich spürbar. In Staaten mit hoher Besiedelungsdichte, wie z. B. in unserem Lande, sind nicht einmal räumliche Voraussetzungen für die Entwicklung von autogerechten Städten vorhanden, ganz abgesehen von den finanziellen Aufwendungen, die jedes Maß übersteigen würden, und auch abgesehen von der Gefahr einer Zerstörung historisch gewachsener Stadtbilder.
Wir müssen uns aber auch vor der gegenteiligen Philosophie hüten. Es gibt das Auto, und es wird noch mehr Autos geben, und wir dürfen deshalb auch keine autofeindliche Gesinnung bei unseren Versuchen aufkommen lassen. Zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Städten müssen wir daher zwangsläufig beidem entsprechen: neben städtebaulichen Maßnahmen für den Individualverkehr müssen die öffentlichen Verkehrsmittel in bezug auf Schnelligkeit, Preis und Komfort weiterentwickelt werden. Sie müssen so attraktiv werden, daß sie weite Bevölkerungskreise dazu bewegen, auf die tägliche Benutzung eines Personenkraftwagens, insbesondere im Berufsverkehr, zu verzichten und statt dessen öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Ich weiß, dazu gehört noch mehr. Dazu gehört beispielsweise die Frage, ob ein Kraftfahrzeug nur ein Verkehrsmittel ist oder ob nicht der Besitz eines Personenkraftwagens auch so etwas wie ein Statussymbol in der Gesellschaft ist. Vielleicht kann nach einer gewissen Zeit derjenige, von dem seine Nachbarn wissen, daß er ein Auto, unter Umständen sogar ein schönes Auto hat, ohne sein Sozialprestige zu riskieren, wieder einmal mit einem öffentlichen Verkehrsmittel fahren. Ich hoffe, daß uns da die Entwicklung zu Hilfe kommt.
Ich habe dem Hohen Hause bei der ersten Beratung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes am 23. September über den kommunalen Straßenbau und die Investitionsvorhaben des öffentlichen Personennahverkehrs berichtet. Ich habe berichtet, wie die zweckgebundenen Mineralölsteuermittel verwendet, für welche Aufgaben sie angelegt worden sind. Wir alle wissen, wie wohltuend diese Hilfe für die Gemeinden gewesen ist. Wir wissen aber auch ebenso deutlich, daß diese Finanzierungshilfen an die Adresse der Gemeinden nicht ausreichen. Die Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs fordern insbesondere eine Entlastung von der Mineralölsteuer. Diese Möglichkeit wird von der Bundesregierung erneut geprüft. Ich stelle mir vor, daß die Bereitschaft der Bundesregierung zu einer solchen Maßnahme desto größer sein könnte, je eher die Länder und Gemeinden zu erkennen geben, daß sie selber auch einen Beitrag zur Lösung des Problems zu leisten geneigt sind, z. B. durch eine Regelung der notwendigen Abgeltungsleistungen für diese Verkehre.
Außerdem bemühen sich die Unternehmen um einen Ausgleich für die Mehrbelastung, die ihnen aus der Einführung der Mehrwertsteuer erwachsen ist. Diese Frage stößt auf große steuersystematische Schwierigkeiten; auch sie wird jedoch in eine erneute Überprüfung des Gesamtkomplexes einbezogen werden.
In diesem Zusammenhang muß ich darauf zu sprechen kommen, daß von verschiedenen Seiten die Ein. führung des sogenannten „Null-Tarifs" immer wie. der diskutiert und als eine Art Generalkur zur Hei. lung der Probleme des Stadtverkehrs gefordert
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Bundesminister Leber
wird. Ich halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg.
— Sie dürfen nicht nur „Jusos" sagen; Sie haben die gleichen Probleme auch bei sich zu Haus. Aber Sie reden immer nur von den anderen.
Der Null-Tarif ist kein geeignetes Mittel — —
— Meine Damen und Herren, ich halte doch nun wirklich hier einen Vortrag, der keine Spitzen gegen Sie enthält. Ich würde es doch für dem Ernst der Sache angemessen halten, wenn man nicht dauernd in dieser Weise Zwischenrufe machte; die sind völlig unsachlich.
Der Null-Tarif ist kein geeignetes Mittel, die Verkehrsprobleme der Städte zu lösen, auch wenn darüber gehaltene Reden Beifall bringen. Mit NullTarifen löst man die Verkehrsprobleme so wenig, wie man mit kaltem Wasser Tuberkulose oder Krebs heilen kann.
Der Null-Tarif würde die öffentlichen Haushalte mit jährlich mindestens 3,5 Milliarden DM zusätzlich belasten, die von niemand aufgebracht werden können.
Verkehrsleistungen sind nicht zuerst karitative Leistungen. Die Bundesregierung ist vielmehr der Auffassung, daß von dem Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel ein angemessenes und tragbares Entgelt erhoben werden muß. Das kann bei steigendem Einkommen billigerweise auch erwartet werden. Außerdem ist es sehr zweifelhaft, ob ein Null-Tarif bei allmählich verrottenden öffentlichen Verkehrsmitteln tatsächlich in größerem Umfange Leute veranlassen würde, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, die fast nicht mehr so aussehen, daß man noch mit ihnen fahren kann.
Verbesserte Leistungsangebote im öffentlichen Personenverkehr, also größere Schnelligkeit, Pünktlichkeit, Komfort und Netzdichte, sind ein wirksamer Beitrag zur Lösung der Nahverkehrsprobleme. Wir wissen, meine Damen und Herren, das kostet Geld für neue Einrichtungen, die diesen Ansprüchen genügen sollen. Dieses Geld kann man nicht von den sowieso zu schmalen Mitteln nehmen, die dem Fernstraßenbau gegenwärtig zur Verfügung stehen.
Für den Fall, daß eine Lösung möglich ist, wie ich sie mit meiner Lösung Nr. 3 hypothetisch aufgezeigt habe, ergibt sich auch die Möglichkeit, von diesen zusätzlichen Mitteln so viel abzuzweigen, wie an Hilfe für die Gemeinden zum Zwecke ihres Verkehrsbaues mindestens geboten ist.
Im übrigen werde ich das Hohe Haus zu gegebener Zeit über den Inhalt eines Gesamtprogramms über gemeinsame Grundsätze des Bundes und der Länder zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der öffentlichen Personennahverkehrsbetriebe unterrichten, das auf Anregung der Länderverkehrsministerkonferenz in meinem Hause gegenwärtig erörtert wird.
So viel möchte ich hier aber anmerken, damit keine Mißverständnisse entstehen: Wenn der Bund den Gemeinden hilft, Investitionen zu finanzieren, und wenn es schon nicht möglich ist, diese Investitionen über Tarife und Fahrpreise zu amortisieren, dann muß für den laufenden Betrieb dieser Verkehrsmittel ein möglichst hoher Kostendeckungsgrad angestrebt werden. Es wird keiner Bundesregierung möglich sein, kommunale Verkehrsträger zu subventionieren.
Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen davon gesprochen, daß der Verkehrsbericht 1970 darzulegen versucht, wie die Gewinne unseres Verkehrssystems vergrößert und wie seine Verluste gemindert werden können. Ein für uns alle beklemmender Negativposten ist die Sicherheit im Straßenverkehr. Die Toten und die Verletzten des Verkehrs — vom reinen Sachschaden ganz abgesehen — klagen die heutige Gesellschaft an. Im vergangenen Jahr hatten wir fast 17 000 Tote und fast eine halbe Million Verletzte zu beklagen. Dieses Jahr werden die Verluste leider noch höher sein.
Ich hoffe dabei, daß diejenigen, die von 20 000 Toten in diesem Jahr sprechen, nicht recht behalten. Aber ich gebe zu: die Entwicklung ist besorgniserregend. Sie kann nur aufgehalten und zum Besseren gewendet werden, wenn wir den vielerlei Gründen hierfür weiterhin energisch nachspüren und gezielt gegen die Unfallursachen ankämpfen. Die Ursache für diese Misere sind wir in großem Umfange selbst, und zwar als Verkehrsteilnehmer, als Kraftfahrer, als Radfahrer, als Fußgänger, als Kind und als Greis. Die Gründe für dieses Fehlverhalten sind so zahlreich, wie die Menschen verschieden sind: Unkenntnis und Leichtsinn, Ungeduld und Egoismus, Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und vieles andere sind nur einige der Gründe, die man dafür aufzeigen müßte. Wenn wir uns als Kraftfahrer auf die Couch des Psychiaters legten, könnten wir sicher noch eine ganze Reihe weiterer Gründe erfahren, die wir so abstreiten.
Wenn man aber weiß, daß der Mensch — hier sehr zu seinem Schaden — zuerst das Maß aller Dinge ist, so muß man bei ihm ansetzen.
Wir leben in einer Welt, in der die Menschen sich mit dem Motor bewaffnet in der Gesellschaft begegnen. Das erfordert ein entsprechendes Verhalten in der motorisierten Gesellschaft. Für Individualismus ist in dieser motorisierten Gesellschaft kein Platz auf unseren Straßen. Der Straßenverkehr verlangt Einordnung in sein System und ein höheres Maß an Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung, als viele zu üben bereit sind.
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Bundesminister Leber
Wir würden jedoch unserer Verantwortung nicht gerecht werden, wollten wir uns darauf beschränken, nur auf die Bewußtseinsänderung der Verkehrsteilnehmer zu warten. Wir werden eingreifen müssen, wo wir Unsicherheit beseitigen und mehr Sicherheit schaffen oder sozialschädliches Verhalten verhindern können. Kurz: Wir müssen uns zu einer Abwehrgemeinschaft zusammenschließen mit einer Art Rundum-Verteidigung gegen jedwede Art von Unsicherheit auf unseren Straßen.
Mit der neuen Straßenverkehrs-Ordnung ist es gelungen, das jahrelange Ringen um ein modernes Verkehrsrecht abzuschließen. Die Bundesrepublik Deutschland ist das erste Land in Europa, das diese neuen, international abgestimmten Verkehrsregeln beschlossen hat und sie in Kraft setzen wird. Damit haben wir jetzt ein für jedermann verständliches und lesbares Verkehrsverhaltensrecht, dessen Ziel es auch ist, Unfälle zu verhindern.
Eine Aufklärungsaktion des von der Bundesregierung und von anderen Spendern, Automobilverbänden usw. finanzierten Deutschen Verkehrssicherheitsrats wird dafür sorgen, daß jeder Bundesbürger mit dem Inhalt der neuen Straßenverkehrs-Ordnung und den Änderungen gegenüber der seitherigen Regelung rechtzeitig und ausreichend vertraut gemacht wird.
Ich kann nicht ausschließen, daß wir noch weitere Schritte zu bedenken haben. Ich kann z. B. keinen Zweifel haben an dem, was mir seit langer Zeit verantwortungsbewußte Mediziner, vor allem auch Augenärzte sagen. Sie sagen mir, daß es nicht wenige unter uns gibt, die schon als Fußgänger unsicher sind, weil sie wegen der schlechter gewordenen Sehkraft ihrer Augen kaum den Boden unter ihren Füßen sehen können. Sie fahren aber trotzdem mit dem Auto. Sie gefährden sich und ihre Mitbürger, weil sie oft zu eitel sind, eine Brille aufzusetzen, die sie längst vom Arzt verordnet bekommen haben. Wer eine Brille nötig hat und keine Brille trägt, der riskiert nicht nur sein Augenlicht, sondern sein und seiner Mitmenschen Leben.
Ein anderes Kapitel. Im Jahre 1969 war bei jedem vierten Unfall mit Todesfolge Alkohol im Spiel. Das sind mehr als 4000 Tote durch Alkohol im Jahr. Diese Unfallursache hat in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr noch erheblich zugenommen. Im Februar 1970 gab es fast 50 % mehr tödliche Unfälle mit Alkohol als gerichtlich nachgewiesener Ursache als im Februar 1969.
Die überwiegende Zahl in- und ausländischer Wissenschaftler sagt uns, daß man mit 0,8 Promille Alkohol im Blut nur noch ein Viertel der Fahrtüchtigkeit besitzt, über die man als Nüchterner verfügt. Wer mit soviel Alkohol fährt, fühlt sich mutig und hat Courage. Ich kenne fast alle Gegenargumente und alle Gegenkräfte. Sie beginnen mit Zweifeln an der exakten Bestimmbarkeit der Alkoholmengen und führen über den Vorwurf des Eingriffs in die Freiheitssphäre bis zu Anwälten, die deswegen, weil es dieses Delikt gibt, gerne Prozesse führen, oder zu Syndizis, die Schnapsbrenner und andere Alkoholerzeuger und Händler vertreten.
Alles das gibt es aber nicht nur bei uns, das gibt es auch in anderen Ländern. Fast alle Länder um uns her in Europa haben heute einschneidende Gesetze gegen Alkohol am Steuer. Hier in unserem Lande ist es zweimal versucht worden. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine einsame motorisierte Alkoholoase mit aus diesem Grunde größer werdenden Friedhöfen geworden. Dieses Massensterben von täglich 15 Menschen und mehr durch Alkohol kann niemand mehr verantworten, und das kann jemand, der politisch verantwortlich ist, nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren.
Ich bin kein Freund davon, allzuviel und alles in Gesetzen zu regeln. Wir haben in mancher Beziehung zuviel Gesetze und müssen uns dagegen wehren, daß von der individuellen Freiheit immer noch mehr verstaatlicht wird. Ich habe es aber noch nicht aufgegeben, auf die Vernunft und die Einsicht der Menschen im Lande zu bauen, und wir wollen in den nächsten Monaten noch einen großen Versuch machen, in dieser Frage vielleicht ohne ein Gesetz auszukommen. Wir haben vor, in den nächsten Monaten eine große Kampagne gegen Alkohol am Steuer ins Leben zu rufen und alle verantwortlichen Kräfte im Lande, von den Automobilklubs bis zu den Priestern auf den Kanzeln zu bitten, in diesen Kampf einzugreifen, damit der Friede auf unseren Straßen besser wird. Ich hoffe, daß wir damit die Schwelle des Grauens senken werden. Wenn das nicht geschieht, wenn dieses von mir erhoffte Ergebnis nicht eintritt, bleibt kein anderer Weg, als im kommenden Jahr zu einem geeigneten Zeitpunkt dem Parlament einen Gesetzentwurf zur Beschlußfassung vorzulegen.
Dazu kommt eine Reihe weiterer Aufgaben.
Die ausländischen Erfahrungen mit Geschwindigkeitsbeschränkungen außerhalb geschlossener Ortschaften werden wir auf ihre unfallverhindernde Wirkung hin genau beobachten.
Die begonnenen Arbeiten zur Verbesserung vor allem der Sicherheit des Fahrzeuginnern werden fortgeführt. Sicherheit im Kraftfahrzeug verkauft sich heute besser als Chrom und Lack. Diese Tatsache wird die Industrie, so hoffe ich, dazu bringen, sich nicht durch Vorschriften drängen zu lassen, sondern in Sachen Sicherheit dem Gesetzgeber vorauszueilen. Die Bereitschaft der deutschen Automobilindustrie, die technischen Anforderungen an ein experimentelles Sicherheitsfahrzeug zu erarbeiten, begrüße ich deshalb außerordentlich. Ich begrüße auch die Bereitschaft der Automobilindustrie, solche experimentellen Sicherheitsautos zu bauen. Ich bin froh, daß es möglich war, mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ein Abkommen über gemeinsames Vorgehen und eine enge Kooperation abzuschließen, um gemeinsam zu forschen und gewonnene Erfahrungen auszutauschen.
Das Unfallrettungswesen muß verbessert werden. Mit den angestrebten Maßnahmen im Bereich der Unfallrettung erhöhen wir die Überlebenschance der Unfallopfer und mildern die Unfallfolgen. Als wichtigen Schritt haben wir auch die Verbesserung des Unfallmeldesystems durch Einführung einer gemeinsamen Notrufnummer 110 im ganzen Bundes-
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gebiet vorgesehen. Jeder Notruf soll zu einer ständig besetzten Notrufzentrale führen. Wir haben Versuche mit dem Einsatz von Hubschraubern begonnen, die besonders für die Rettung von Unfallverletzten entwickelt wurden.
Die erst in jüngster Zeit wieder erhobenen Forderungen nach mehr Verkehrserziehung in Kindergärten und Schulen kann ich nur unterstreichen und unterstützen. Die Ausbildung der intellektuellen und musischen Fähigkeiten des jungen Menschen genügt heute nicht mehr. Er muß auch lernen, wie er die Gefahren des Straßenverkehrs bestehen kann. Wir müssen erreichen, daß die Zahlenkolonnen der Statistik über Schulwegunfälle, die mit Recht als die traurigste Statistik Deutschlands bezeichnet wird, auf ein Minimum reduziert werden.
Meine Damen und Herren! Nach diesem Kapitel über den Straßenverkehr komme ich zu den Eisenbahnen. Erlauben Sie mir ein paar kurze Worte zur gegenwärtigen Situation!
Die Eisenbahnen haben erhebliche Verkehrszuwächse zu verzeichnen. Im ersten Halbjahr 1970 beförderte die Deutsche Bundesbahn 10 % mehr Güter als im ersten Halbjahr 1969; die geleisteten Tariftonnenkilometer erhöhten sich im gleichen Zeitraum um 13 %. Auch die Leistungen im Personenverkehr sind gestiegen. Bemerkenswert ist hierbei vor allem die Zunahme im Fernverkehr.
Von vielen Seiten war die Befürchtung geäußert worden, daß die Deutsche Bundesbahn bei dieser starken Zunahme ihres Güterverkehrs in diesem Jahr den Herbstverkehr nicht bewältigen könnte. Ich kann berichten, daß der Verkehr bisher gut gelaufen ist und daß der Wagenbedarf der Wirtschaft fast vollständig gedeckt worden ist. Durch die Bereitstellung neuer und die Anmietung fremder Güterwagen ist der Wagenpark rechtzeitig ausgeweitet worden. Für 1970 stehen über 7000 neue Waggons, die die Eisenbahn braucht, auf dem Anschaffungsprogramm. Sie sollen dazu beitragen, den zusätzlichen Verkehr zu bewältigen und damit auch Belastungen von der Straße fernzuhalten.
Sehr sorgfältig ist auch der Verkehr für die Weihnachtszeit 1970 vorbereitet worden, der wegen der hohen Zahl ausländischer Arbeitnehmer voraussichtlich eine neue Rekordhöhe erreichen und eine starke Überbeanspruchung mit sich bringen wird. Die Bundesbahn rechnet damit, daß die Zahl der mit der Eisenbahn reisenden ausländischen Arbeitnehmer in diesem Jahr vor Weihnachten auf 560 000 ansteigen wird. Das ist viel mehr als im vergangenen Jahr. Verspätungen, überfüllte Züge und die damit verbundenen unerfreulichen Auswirkungen werden sich jedoch nur dann vermeiden lassen, wenn auch die Wirtschaft mitzieht und ihren Beschäftigten aus dem Ausland zum Teil möglichst schon vor dem 17. Dezember die Möglichkeit zur Reise in die Heimatländer gibt.
Insgesamt ist es der Eisenbahn unbestreitbar gelungen, sowohl ihr Leistungsangebot als auch ihre
innere Struktur durch Rationalisierung, Modernisierung und Konzentration erheblich zu verbessern und den Forderungen ihrer Kunden näherzukommen.
Im Bewußtsein der Öffentlichkeit haben wir es heute mit einem Unternehmen zu tun, das sich mehr und mehr von obrigkeitlichem Denken befreit hat und das sich auf den Verkehrsmärkten als Wirtschaftsunternehmen einen festen Platz erobert. Die Bundesregierung wird diesen erfreulichen Trend, diese Bewegung, die in die Eisenbahn gekommen ist, nach Kräften weiter fördern. Das wiedergewonnene Vertrauen der Eisenbahner halte ich dabei für den größten Aktivposten auf dem Wege der Eisenbahnen in eine gute Zukunft. Wir sind allen Eisenbahnern - vom Vorstand der Deutschen Bundesbahn bis zum Arbeiter im Oberbau — für die Leistungen, die sie in den letzten Jahren vollbracht haben, zu Dank verpflichtet.
Die Maßnahmen des verkehrspolitischen Programms hatten zum Ziel, den negativen Trend der Deutschen Bundesbahn zu stoppen. Sie bilden gleichzeitig die Basis, von der aus die Unternehmenskonzeption für die Zukunft in Angriff genommen werden kann. Wir haben die Vorarbeiten für eine längerfristige Konzeption des Unternehmens eingeleitet. Sie werden verstehen, daß sich die Konzeption einer Eisenbahn der 80er Jahre schon im Interesse der davon betroffenen Bediensteten und der bestehenden internationalen Verflechtungen nicht von heute auf morgen verwirklichen läßt.
Nach dem bisherigen Ergebnis der Arbeiten zeichnen sich folgende drei Problemkreise ab, die sorgfältig untersucht werden müssen.
Erstens. Die Deutsche Bundesbahn unterhält im Gegensatz zu ihren Konkurrenten ihren Fahrweg selbst. Bei Überlegungen zur Wegekostenfrage, aber auch bei den Arbeiten an einem integrierten Bundesverkehrswegeprogramm wird zu prüfen sein, inwieweit der Fahrweg auch weiterhin ein integrierter Bestandteil des Unternehmens sein soll.
Zweitens. Der Güterverkehr der Deutschen Bundesbahn ist — wie bei den anderen Verkehrsträgern — nicht von den Problemen der übrigen Wirtschaft zu lösen. Es bietet sich daher an, diesen Zweig des Verkehrs entsprechend der marktwirtschaftlichen Ordnung unserer Wirtschaft nach kaufmännischen Grundsätzen zu gestalten.
Drittens. Insbesondere auch im Personennahverkehr erfüllt die Eisenbahn Aufgaben der Daseinsvorsorge. Dies bedingt, daß hier nicht allein kaufmännische Gesichtspunkte maßgebend sein können, sondern daß der Staat seine Unterstützung geben muß.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen werden konkrete Maßnahmen einzuleiten sein. Die dazu notwendigen Vorschläge werden vorgelegt, sobald sie abschließend erarbeitet worden sind.
Als einen Schritt auf dem Wege zur Gesundung der Deutschen Bundesbahn sieht die Regierungserklärung vor, daß das Unternehmen von einem
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Teil der Verschuldung, die ihm vor allen Dingen nach dem zweiten Weltkrieg aufgelastet worden ist, befreit werden soll. Es handelt sich hierbei um eine einmalige Operation, die zur Klärung des Eigentümerverhältnisses zwischen dem Bund und seinem Sondervermögen beitragen soll.
Nach eingehenden Untersuchungen ist es verkehrspolitisch und betriebswirtschaftlich vertretbar, den Kapitaldienst für Schulden der Bundesbahn in Höhe von 10,5 Milliarden DM auf den Bund als Eigentümer zu übernehmen. Als erste Maßnahme sollte der entsprechende Zinsendienst von jährlich etwa 700 Millionen DM vom Bund übernommen werden. Dies ist ein Buchungsvorgang, der nicht zu einer haushaltsmäßigen Mehrbelastung führt.
Das, was hinter uns liegt, sind einige Jahre erfolgreicher Eisenbahnpolitik. Der Erfolg besteht darrin, daß die Bahn seit 1968 wieder voll ausgelastet ist. Das war in den Jahren 1963 bis 1965 bei ebenfalls hoher Konjunktur nicht der Fall. Dies ist auch heute in anderen Ländern mit hoher Konjunktur nicht der Fall. Die Tatsache, daß die Bundesbahn in anderen Ländern, die auch eine hohe Konjunktur haben, Waggons leihen kann, weil sie dort nicht gebraucht werden, ist ein Beweis dafür, daß sie einen Weg gegangen ist, den bisher keine Eisenbahn in einem so industrialisierten Land, wie es die Bundesrepublik ist, gegangen ist. Das ist auch der wichtigste Beweis für den Erfolg unserer Eisenbahnpolitik.
Meine Damen und Herren, wir sind dabei, mit alten Mängeln fertig zu werden. Wir sehen aber in dem Maße, in dem wir mit alten Problemen fertig werden, neue vor uns stehen. Ich will hier auch ganz offen und redlich und unter Verzicht auf alle Rhetorik sagen, welche Probleme ich auf uns zukommen sehe. Wir werden die Eisenbahn nicht in die Nähe der Eigenwirtschaftlichkeit bringen — niemand wird sie dahin bringen —, wenn die künftigen Probleme, die sich hier neu stellen, nicht mit bedacht werden. Ein Unternehmen kann in bezug auf die Hergabe seiner vollen Leistungen noch so erfolgreich geführt werden, es wird nicht allein deshalb, weil es sich unternehmerisch erfolgreich verhält, seine Eigenwirtschaftlichkeit gewinnen können. Das wird aus zwei Gründen nicht möglich sein, und hier unterscheidet sich die Eisenbahn nicht mit einer Nuance von irgendeinem anderen Unternehmen der Wirtschaft:
Kein Unternehmen kann auf einen grünen Zweig kommen, das bei steigenden Kosten, denen es nicht ausweichen kann, davon abgehalten wird, seine Preise entsprechend den gestiegenen Kosten anzupassen. Bei schwacher Konjunktur wird das verweigert, weil man die Konjunktur beleben will, bei hoher Konjunktur wird es verweigert, weil man sie dämpfen will, und bei normaler Konjunktur wird es verweigert, weil es aus politischen Gründen nicht richtig ist.
— Die kennen Sie doch aus jahrlangem Miterleben,
Herr Kollege Müller-Hermann. Sie haben doch mitgeholfen, die Eisenbahn in diese Sackgasse zu bringen, aus der wir sie wieder herausführen mußten.
Ihr Hauptanteil dabei ist größer als der irgendeines anderen in diesem Hause, auch größer als der meines Vorgängers, Herrn Seebohm.
Wenn dieses Kapital einmal aufgemacht wird, kommen Sie gar nicht gut davon. Ich kann Sie nur warnen, mich mit Zwischenrufen zu animieren, Ihnen Ihr Schuldkonto aufzumachen.
Wer ein marktgerechtes Preisverhalten nicht will und ebenso aus politischen oder konjunkturpolitischen Gründen selbstkostengerechtes Verhalten der Eisenbahn will, der muß sich darauf einrichten, daß er mit kranken und finanziell ausgezehrten Großunternehmen leben und jährlich von Staats wegen wachsende Milliarden für den Ausgleich ihrer Rechnungen auf den Tisch legen muß.
Zu dem, was ich Unfreiheit zu einer halbwegs markt- und unternehmensgerechten Preispolitik nenne, die jeden Unternehmer in der Welt davon abhalten würde, ein solches Unternehmen auch nur eine Stunde zu betreiben, kommt aber in der Gegenwart noch etwas hinzu, das besonders jetzt wieder aktuelle Bedeutung hat, gerade heute. Das sind die ungewöhnlich steigenden Personalkosten, die kein Unternehmen dieser Art verkraften kann, die ihm jede gesunde eigenwirtschaftliche Basis unter den Füßen wegziehen müssen, besonders wenn es auf der Preisseite angebunden ist.
Ich rede hier offen darüber, nicht weil ich jemand schelten will, sondern weil ich nicht hinnnehmen kann, daß unsere im übrigen hocherfolgreiche Eisenbahnpolitik, die sich von jedem anderen Land abhebt, ins falsche Licht gebracht und als erfolglos verdächtigt wird, weil sie mit diesen ungewöhnlich wachsenden Personalkosten aus eigener Kraft nicht fertig wird und nie fertig werden kann. Das kann auch keine Verkehrspolitik erreichen.
Damit es keine Mißverständnisse gibt, möchte ich Ihnen das in Zahlen darstellen. Wenn man die Ausgleichszahlungen des Bundes, die das Bild nur verschleiern, wegläßt, dann hatte die Deutsche Bundesbahn in den konjunkturell guten Jahren 1963 bis 1965 eine Verminderung ihrer Erträge um 80 Millionen DM zu verzeichnen. Das Defizit stieg gewaltig. In den Jahren 1968 bis 1970, die auch Jahre guter Konjunktur sind, haben sich die Erträge der Eisenbahn um 1921 Millionen DM erhöht. Das ist unser Erfolg. Die Personalkosten zu Lasten der Deutschen Bundesbahn sind aber in diesen drei Jahren um 1808 Millionen DM gestiegen.
Niemand wird dem Personal der Eisenbahn verweigern wollen, angemessen an den allgemeinen Lohn- und Gehaltsverbesserungen beteiligt zu sein. Aber ich muß hier die Frage stellen, wieviel mehr wir im allgemeinen und in Auswirkung dessen, was allgemein geschieht, auch in solchen öffentlichen Unternehmen aus eigener Kraft dieser Unternehmen verkraften können.
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Dazu kommt, daß der Personalkostenanteil bei der Bundesbahn höher liegt als in manchem Unternehmen der Wirtschaft, das die Lohnerhöhungen sofort in die Preise weitergibt. Das haben wir in den letzten Monaten verschiedentlich gehört. Dieser Lohnkostenanteil beträgt bei der Eisenbahn 70 %. Bei linearen Lohn- und Gehaltssteigerungen bedeutet gegenwärtig jeweils 1 % einen jährlichen Mehraufwand von 96 Millionen DM. 1 % gleich 96 Millionen DM!
Ich habe in der Regierung der Großen Koalition im August 1969 davor gewarnt, als ein paar Tage vor den Wahlen 1969 eine Gehaltsaufbesserung von dreimal 100 DM für die letzten drei Monate des Jahres 1969 beschlossen wurde, weil damit die Margen für die Erhöhungen des Jahres 1970 festgelegt wurden, ohne daß gleichzeitig ein Tarifvertrag abgeschlossen wurde, der die Bedingungen für das ganze Jahr geregelt hätte. Das, was fast zwangsläufig kommen mußte, kam dann 1970 mit Gesetzen und Tarifverträgen in der Größenordnung von alles in allem rund 10 % über unsere öffentlichen Unternehmen. Der Opposition hat das damals noch nicht genügt. Sie hat mehr als die 10 % gefordert, die die Bundesregierung in Anbetracht der allgemeinen Entwicklung vorgeschlagen hatte. Die Opposition hat damals einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Forderung erhob, eine Erhöhung um 12 % statt um 10 % vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, ich denke nicht daran, hier Kritik zu üben. Ich erlaube mir aber die Frage, ob diejenigen, die jetzt die Regierung kritisieren und zitieren, damals nicht von vornherein gewußt haben, wieviel das kostet, was sie vorgeschlagen und für noch zu wenig gehalten haben.
Ich sage das auch noch aus einem anderen Grund. Die Debatten über die Besoldung im öffentlichen Dienst sind angelaufen. Ich habe auch die Äußerungen, die es dazu von Damen und Herren des Hohen Hauses schon gibt, gehört. Ich erlaube mir, Ihnen vorzurechnen, wie die Lage ist, damit Sie wissen, woran wir sind.
Erstens. Die Deutsche Bundesbahn geht mit einem haushaltsmäßig nicht gedeckten Verlust von 700 Millionen DM in das Jahr 1971. Dieser ungedeckte Verlust ergibt sich zu 85 %, das sind gut 600 Millionen DM, aus gesetzlich oder tariflich bereits im Jahre 1970 festgelegten Mehrleistungen, die erst am 1. Januar 1971 in Kraft treten.
Zweitens. Wegen der unterschiedlichen Struktur von öffentlicher Verwaltung und Bundesbahn kostet jede Erhöhung der Bezüge bei Bahn und Post etwa 20 % mehr als im öffentlichen Dienst des Bundes.
Drittens. Das bedeutet, daß eine Erhöhung von 8 % im öffentlichen Dienst mit rund 10 % bei der Eisenbahn durchschlägt. Es gibt aber Leute — ich habe entsprechende Stimmen auch aus diesem Hohen Hause gehört —, die der Auffassung sind, diese 8 % reichten nicht aus, man müsse mit 10 % im öffentlichen Dienst rechnen. Das wären bei der Eisenbahn 12 bis 12 1/2 %, d. h. wenn das hier beschlossen würde, hätte es die Eisenbahn 1971 mit
einem haushaltsmäßig nicht gedeckten Aufwand von rund 1,7 Milliarden DM zu tun. Bis jetzt hat die Bahn ihre Kosten ziemlich gedeckt, aber das, was neu auf sie zukommt, kann sie nicht mehr durch Mehrverkehr verkraften, weil es keine leeren Kapazitäten mehr gibt.
Unter solchen Prämissen lassen sich die Tarife und Frachtsätze eines derartigen Unternehmens nicht halten. Darüber wird diskutiert, und ich lese auch, was die Zeitungen darüber schreiben. Ich habe auch gesehen, daß beispielsweise die „BildZeitung" — wie in vielen Fällen — das alles schon mit kritisch erhobenem Finger vorausgesagt hat. Die „Bild-Zeitung" hat sogar schon vorausgesagt, welche Frachten und Tarife erhöht werden. Das weiß nicht einmal ich genau.
Das war zum Teil unscharf. Da ich weiß, daß die „Bild-Zeitung", zu deren regelmäßigen Lesern auch ich gehöre
— irgendwoher muß man seine Bildung ja nehmen —,
einen Sinn für plastische und bildhafte Darstellung hat, erlaube ich mir einen kleinen Vergleich. Die „Bild-Zeitung" nannte sich einmal „Zehn-PfennigBild", d. h. sie kostete damals in Wirklichkeit nicht mehr als 10 Pf. Das war noch im Jahre 1965 der Fall. Die „Bild-Zeitung" hat ihren Preis bis zum Sommer dieses Jahres auf 20 Pf, d. h. um 100 %, erhöht.
In der Zeit, in der die „Bild-Zeitung" um 100 % teurer wurde, sind die Tarife im Personenverkehr der Deutschen Bundesbahn um 6 1/4 %, im Gepäckverkehr um 10 % und beim Expreßgut um 22 % gestiegen.
Wenn sich die Deutsche Bundesbahn auch so marktkonform verhalten könnte wie ein Wirtschafts- oder Verlagsunternehmen, hätte sie sicher kein Defizit, sondern würde Gewinne abwerfen.
Wenn die „Bild-Zeitung" mit ihrer Preispolitik politisch so angebunden wäre, wie Bahn und Post angebunden sind, wäre sie trotz der unbestreitbar hohen Qualität ihrer Redakteure wahrscheinlich auch defizitär;
denn es stehen fast immer irgendwo Wahlen vor der Tür, und man könnte eine so weit verbreitete Zeitung deshalb doch nicht teurer machen, auch wenn ihre Kosten gestiegen wären.
— Meine Damen und Herren, dieses Geschäft haben
Sie doch 17 Jahre lang so betrieben! Deshalb ist es
nicht leicht, das alles in wenigen Jahren zu ändern.
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Bundesminister Leber
Wir sind jetzt dabei; Sie müssen nur etwas Geduld haben.
Herr Abgeordneter Lemmrich, ist es richtig, daß Sie gesagt haben, der Herr Bundesminister rede „deppert" daher?
— Ich würde sagen, das überschreitet etwas den hier üblichen parlamentarischen Rahmen.
Wenn es bei der Eisenbahn nicht möglich sein sollte, die von der Kostenseite aufgerissene Lücke über eine Angleichung der Tarife und Gebühren zu decken, dann bliebe nur die Möglichkeit einer Verminderung der Investitionen. Das hätte für die Wirtschaft wie auch für eine Anzahl von Aufgaben, die ihr gestellt sind, harte Folgen. Vom Finanzminister kann ich keine Mark mehr erwarten, als er mir ohnehin zugestanden hat, und ich weigere mich, erhöhte Kosten für Löhne und Gehälter über Kredite und Kapitalmarktmittel zu finanzieren.
Das mögen nicht leicht verdaubare finanzielle Varianten einer im übrigen erfolgreichen Verkehrspolitik sein. Ich habe sie dem Parlament unter Verzicht auf jede Beschönigung und Polemik so offen dargestellt, wie es der Ernst dieser Problematik gebietet. Wer darüber lacht, beweist mir, daß er den Ernst der Situation nicht sieht.
Das, was ich für die Eisenbahn gesagt habe, gilt dem Sinne nach auch für die Deutsche Bundespost.
Meine Damen und Herren, Ihnen liegt die Drucksache VI/1140 zur Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes vor. Im Verkehrsbericht werden Sie die Frage der Beseitigung schienengleicher Bahnübergänge behandelt finden. Vor allem im Hinblick auf die finanzielle Seite muß dieses Thema auch in engem Zusammenhang mit dem Ausbau des Bundesfernstraßennetzes und der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Verdichtungsräumen gesehen werden.
Das ist letztlich auch der Grund dafür, daß der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf davon absieht, eine völlig neue und möglicherweise finanziell überaus aufwendige Konzeption zu entwickeln, sondern sich im wesentlichen darauf beschränkt, der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
15. Juli 1969 durch Übernahme der Länderanteile auf den Bund Rechnung zu tragen, gleichzeitig aber an der finanziellen Mitverantwortung der beteiligten Baulastträger festzuhalten.
Wir dürfen aber nicht nur die Probleme der Gegenwart sehen, auch wenn sie noch so groß sein mögen; wir dürfen es nicht unterlassen, unseren Blick auch auf noch sehr ferne technische und wirtschaftliche Horizonte zu richten. Im Verkehrsbereich muß man weit in die Zukunft denken, sonst wird man von der Zukunft überrascht. Die Entwicklung der Verkehrstechnik zeigt, daß sich unser Wissen immer schneller umschlägt. Die großen Veränderungen in der Welt zeigen sich nicht nur symbolisch, sondern auch sehr tatsächlich im Verkehr und in der Entwicklung der Verkehrsmittel. Wir haben in 50 Jahren auf dieser Erde den großen Sprung von der Postkutsche bis in die Juli-Tage des vergangenen Jahres gemacht, als das erste Mal Menschen mit einem neuen Verkehrsmittel die Erde verließen und ein fremdes Gestirn betraten. Wir müssen daher daran denken, ob wir am Ende dieses Jahrhunderts noch mit den herkömmlichen Verkehrssystemen die Probleme des Verkehrs bewältigen können, die es dann geben wird, oder ob wir nicht völlig neuartige Verkehrsmittel entwickeln müssen. Das ist keine Gedankenspielerei, sondern eine ernsthafte, reale Notwendigkeit, die heute in der ganzen Welt bedacht wird. An diesem Problem arbeiten heute in allen industrialisierten Ländern die Wissenschaftler in den Laboratorien. Bei der Langfristigkeit von Verkehrsinvestitionen und dem Zeitaufwand, der mit der Entwicklung neuer Techniken verbunden ist, müssen wir rechtzeitig die Weichen stellen.
Ich möchte meine Ausführungen vor dem Hohen Hause daher mit dem Blick auf ein solches Projekt abschließen, welches das Bild unseres Landes und Europas entscheidend verändern kann. Ich spreche von einem Hochleistungsschnellverkehrssystem, das die Bevölkerungs- und Wirtschaftszentren der Bundesrepublik — und in einem späteren Stadium die von Europa — miteinander verbinden und deren Integration in größere geographische Zusammenhänge fördern könnte. Die äußeren Umstände dieses Projekts sind Ihnen im wesentlichen bekannt. Die Studiengesellschaft in Ottobrunn bei München ist mit der Durchführung der Studie beauftragt. Der Forschungsauftrag, den wir erteilt haben, lautet, ein Verkehrsmittel zu entwickeln, das zwischen dem Stachus in München und der Binnenalster in Hamburg — zwei innerstädtischen Punkten also — dem Flugzeug, das es dann gibt, nach Zeit, Komfort und Preis Wettbewerb liefern kann.
Es ist selbstverständlich, daß eine solche Studie unter Einschluß aller wirtschaftlichen und technischen Aspekte der Zukunft das Gesamtproblem umfassend behandeln muß. Diese Aspekte sind: Entlastung der Straßen durch Umlenkung des Güter- und Personenverkehrs; Prüfung, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sich dieses Ziel durch eine Verbesserung des konventionellen Schienensystems erreichen läßt und inwieweit das konventionelle Schienensystem in ein neues Hochleistungssystem
4544 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Bundesminister Leber
einbezogen werden kann; Einfluß auf die Kapazitätsauslastung der traditionellen Verkehrszweige; zusätzliche Belastung der Infrastruktur an den Verkehrsknotenpunkten besonders in den Ballungsgebieten durch den Zubringer- und Verteilerverkehr; Einbeziehung sämtlicher Varianten neuer Technologien. In der Studie wird außerdem der volkswirtschaftliche Gesamtnutzen der Hochleistungsschnellbahn untersucht werden.
Die Arbeiten sind soweit gediehen, daß Ergebnisse der Untersuchung im Jahre 1971 vorliegen werden. Dann wird auch sichtbar werden, ob es solche neuen Wege gibt, die gegangen werden können. Ob sie gegangen werden, muß dann unter politischen Gesichtspunkten bedacht und entschieden werden.
Europa ist klein geworden. Wir sehen, wie schwer es den europäischen Nationen fällt, im modernen Großflugzeugbau mitzuhalten. In der Entwicklung bodengebundener Verkehrsmittel müssen wir alles daransetzen, nicht nur mitzuhalten, sondern in der Welt mit vorn zu sein. Dadurch werden nicht nur neue Horizonte für den Verkehr eröffnet; auch unsere Ingenieure und unsere Industrie brauchen diesen Anstoß und diesen Auftrag, nachzudenken, damit sie sich im Konzert der Mächte nicht schlecht plazieren. Wir wollen ihnen mit der Nominierung solcher Ziele Marken offerieren und ihnen die heimische Basis und den Schwung geben, den sie nötig haben, um sich auf den Weltmärkten behaupten zu können. Wir brauchen auf diesem Gebiet Pionierarbeit, die den Weg über das Ende dieses Jahrhunderts hinweg in eine neue Periode erschließt. Es ist Zeit, daß wir diese Arbeit tun, denn für große Entwicklungen ist das Ende des Jahrhunderts schon sehr nahe.
In unserem Lande hat es immer Frauen und Männer gegeben, die Ideen hatten, die Entwicklungen vorangetrieben und diese oft mühsam, aber doch zielsicher und beharrlich zu verwirklichen versucht haben. Darauf können wir auch in der Zukunft vertrauen.
Dem Begründer einer einheitlichen deutschen Postverwaltung und bekannten Verkehrshistoriker, dem Generalpostmeister Heinrich von Stephan, schrieb sein Kaiser zum 60. Geburtstag am 7. Januar 1891 folgende Widmung unter sein Bild: „Die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs." Dieser Satz gilt mit Sicherheit auch für das Ende dieses Jahrhunderts, das zugleich das Ende eines Jahrtausends ist.
Ich bitte das Hohe Haus, dem Verkehr und seinen Aufgaben auf dem Wege dahin seine Hilfe nicht zu versagen und sein geneigtes Interesse zu zeigen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. MüllerHermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ankündigung eines Verkehrsberichts durch den Bundeskanzler bei dessen Regierungserklärung ließ seinerzeit große Erwartungen aufkommen, denn der Bundeskanzler stellte den Bericht in den Rahmen eines sehr anspruchsvollen Programms innerer Reformen. Statt der versprochenen Reformen bietet die Bundesregierung hier erneut einen Bericht an, der allenfalls die Probleme anschneidet, der sich aber mit erstaunlicher Akrobatik um echte Lösungen herumdrückt. Von Bericht zu Bericht scheint die Bundesregierung ihre Kunstfertigkeit zu vervollkommnen, auf möglichst viel Papier — in diesem Falle auf möglichst viel buntem Papier — möglichst wenig darüber auszusagen, was sie tatsächlich will und wie sie sich, wenn sie Programme vorlegt, deren Finanzierung vorstellt.
Der dem Parlament vorliegende Verkehrsbericht liegt voll und ganz auf dieser Linie und ist deshalb für uns enttäuschend; enttäuschend wegen der zahlreichen Widersprüchlichkeiten, aber auch weil er die wirklichen Probleme der Verkehrspolitik ausklammert und sich hier auf teils vage, teils großsprecherische Ankündigungen beschränkt. Es fehlen in ihm klare Aussagen, welche konkreten Maßnahmen zu erwarten sind. Das, was der Herr Bundesverkehrsminister heute hier in Ergänzung zum Verkehrsbericht vorgetragen hat, ist auch wiederum nicht konkret, und wo Minister Leber etwas konkreter wurde, da sprach er nicht als Bundesverkehrsminister, sondern als der Abgeordnete Leber.
Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung nimmt eben ihre Führungsaufgabe nicht wahr.
Es ist immerhin beruhigend, daß die Bundesregierung gewillt ist, ihre Führungsaufgabe wenigstens dann zu übernehmen, wenn es um die Toiletten an den Autobahnen geht.
Der Verkehrsbericht scheint angelegt als eine nachträgliche Rechtfertigung des sogenannten Leber-Planes zu dienen, der — wie wir alle wissen — in gewissen Teilen auch von der CDU/CSU-Fraktion mitgetragen wurde, der aber in einigen entscheidenden Punkten von der Anlage her falsch konzipiert war und daher auch unseren Widerspruch hervorrief. Die inzwischen eingetretene Entwicklung hat den entschiedenen Widerspruch der Unionsparteien nur gerechtfertigt. Auch heute scheint die Bundesregierung sich noch nicht im klaren darüber zu sein, ob sie die entscheidenden Probleme der Verkehrspolitik mit verkehrslenkenden Maßnahmen angehen oder den vom Bundeskanzler in der Regierungserklärung angekündigten Weg zu mehr Wettbewerb wirklich gehen will.
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Dr. Müller-Hermann
Zunächst möchte ich für die Opposition betonen, daß wir auch heute durchaus bereit sind, in sachlicher Auseinandersetzung zu möglichst viel Gemeinsamkeit in der Verkehrspolitik zu kommen, vor allem überall dort, wo es um Sicherheit im Verkehr und um das Wohl der Menschen geht. Wir machen aber auch daraus kein Hehl: bei den konkreten Entscheidungen der Verkehrspolitik scheint es heute wie zuvor nicht leicht zu sein, einen gemeinsamen Weg mit den Sozialdemokraten zu finden, nämlich bei der Frage, wie man am besten die Bedürfnisse einer sehr stark vom Produktivitätsfortschritt im Verkehr abhängigen Wirtschaft befriedigt und den Erfordernissen auch der regionalen Erschließung Rechnung trägt. Hier bedarf es nun einmal eines mutigen und zukunftweisenden Konzepts, das wir in diesem Verkehrsbericht vermissen.
Wettbewerb schließt ja Partnerschaft nicht aus, sondern setzt sie sogar in wesentlichen Teilen voraus. Die CDU/CSU hält die Intensivierung des Wettbewerbsprinzips im Verkehr nach wie vor für den besten Weg, um unseren Mitbürgern und unserer Wirtschaft ein vielseitiges, qualitativ hochwertiges und auch möglichst preisgünstiges Personen- und Güterverkehrssystem zur Verfügung zu stellen. Nach unseren Vorstellungen soll sich auf der Basis möglichst angenäherter Startbedingungen eine Aufgabenverteilung vollziehen, die die spezifischen Leistungsvorteile der verschiedenen Verkehrsarten zum Nutzen des Ganzen voll zur Entfaltung und zur Geltung bringt.
Ein nicht neues und sicherlich auch sehr schwieriges Problem ist in diesem Zusammenhang die Frage: Wie können die Startbedingungen im Verkehr angeglichen werden? Seit Beginn dieses Jahres erwarten wir vom Herrn Bundesverkehrsminister die seit langem angekündigte Stellungnahme zu dem sogenannten Wegekostenbericht. Noch im Mai dieses Jahres hat der Herr Bundesverkehrsminister auf eine Anfrage unserer Fraktion zugesagt, pünktlich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die im Juni 1968 als Kompromiß in der Großen Koalition zwischen den damaligen Regierungsparteien ausgehandelte Beförderungsteuer, ein für alle Beteiligten unerfreulicher Wechselbalg, zum Jahresabschluß von einer wegekostenorientierten Abgabe abgelöst werden könne.
Dies blieb eine der vielen voreiligen Ankündigungen dieser Bundesregierung.
Heute hat der Bundesverkehrsminister zu seiner Entschuldigung auf die nur sehr langsam vorangehende Entwicklung im Bereich der EWG hingewiesen. Nun, meine Damen und Herren, das war im Mai dieses Jahres genauso bekannt wie heute. Die Bundesregierung kann auch nicht in dem einen Bereich sagen, sie wolle in der EWG den Vorreiter spielen, und sich in anderen Fragen mit der langsamen Entwicklung in der EWG für den Mangel an eigenen Entscheidungen entschuldigen wollen.
Wir haben im übrigen mittlerweile einige Zweifel, ob der Bundesverkehrsminister überhaupt einen ernsten Versuch unternehmen will, eine möglichst gerechte Abgabenbelastung der Verkehrsarten als Voraussetzung für einen harmonisierten Wettbewerb zu schaffen, oder ob die von ihm angekündigten Lösungen unter dem Motto konzipiert werden sollen: Was Wegekosten sind, bestimmt der Bundesverkehrsminister.
Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt nach wie vor der Deutschen Bundesbahn. Sie hat in den vergangenen Jahren außerordentlich beachtenswerte Anstrengungen unternommen, um ihr Leistungsangebot zu reorganisieren sowie ihre Modernisierung und Rationalisierung voranzutreiben. Ihr kaufmännisches Management, ein altes Anliegen gerade auch meiner Freunde, hat eine erfreuliche Wirksamkeit entwickelt und mit gutem Erfolg gearbeitet. Für diese Leistungen verdient die Unternehmensleitung, verdienen alle Eisenbahner unsere größte Anerkennung.
Der Herr Bundesverkehrsminister sieht in der guten Beschäftigungslage der Bundesbahn einen großen Erfolg seiner Verkehrspolitik. Ich will einen Zeugen zitieren, der über die Dinge gut Bescheid weiß. Es ist unser Kollege Philipp Seibert. Er schreibt in dem Blatt seiner Gewerkschaft:
In erster Linie hat die von Wirtschaftsminister Karl Schiller durchgesetzte Wiederankurbelung der Wirtschaft zu einer insgesamt positiv zu wertenden Änderung in der Situation der Deutschen Bundesbahn geführt.
Das spricht für sich.
'Richtig ist, meine Damen und Herren, daß die mit dem sogenannten Leber-Plan verbundenen Erwartungen für eine Kapazitätsauslastung der Bundesbahn erheblich übertroffen worden sind. Mit der schon fast in Vergessenheit geratenen Verbotsliste, die damals ein Volumen von etwa 38 Millionen t Güter umfaßte, sollten mindestens 20 Millionen t Ladungsaufkommen von der Straße auf die Schiene verlagert werden.
— Die Verbotsliste ist längst tot. Von ihr spricht heute keiner mehr, auch der Bundesverkehrsminister nicht. Ich spreche darüber in einem ganz anderen Zusammenhang.
Bei einer durchschnittlichen Beförderungsweite von 150 bis 200 km sollte damals mit einer Art Kunstgriff eine einmalige Erhöhung der Verkehrsleistungen der Bahn von etwa 3 bis 4 Milliarden Tonnenkilometern erreicht werden. Nun, nicht etwa diese Verbotsliste, sondern die Konjunkturentwicklung hat zu einer weit darüber hinausgehenden Zunahme der Verkehrsleistungen der Bahn geführt. Von 1967 bis 1969 wurden zirka 13 Milliarden Ton-
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Dr. Müller-Hermann
nenkilometer zusätzlich von der Bundesbahn befördert. Für 1970 können wir getrost mit einer weiteren Zunahme von etwa 4 Milliarden Tonnenkilometern rechnen. Das heißt mit anderen Worten, der Boom unserer Konjunktur hat von 1968 bis 1970 den Güterverkehr der Bahn um mindestens das Vierfache dessen erhöht, was Minister Leber seinerzeit mit seiner vielgeplagten Verbotsliste erreichen wollte.
Noch eine letzte Bemerkung, Herr Fellermaier. Dann höre ich mit der Verbotsliste auf. Man stelle sich einmal vor, diese Verbotsliste wäre tatsächlich am 1. Juli dieses Jahres in Kraft getreten, meine Damen und Herren! Niemand wird bestreiten, daß wir einen totalen Zusammenbruch unseres gesamten Güterverkehrssystems erlebt hätten.
Zu erwähnen bleibt in diesem Zusammenhang nur noch, daß die Kontingente im Straßengüterfernverkehr am 3. Juli dieses Jahres noch um 1500 Einheiten erhöht wurden. Ursprünglich sollten die Kontingente im Güterfernverkehr ja im Zuge der Verbotsliste um 20 % reduziert werden. Auch dies ist ein Musterbeispiel dafür, meine Damen und Herren, wie sich eine Verkehrspolitik am grünen Tisch in der Wirklichkeit ausnimmt.
Die erfreuliche Kapazitätsauslastung — ich würde sagen, eine fast volle Auslastung — der Bundesbahn darf uns natürlich gerade in einer Phase der Hochkonjunktur nicht den Blick für möglicherweise noch vorhandene strukturelle Schwächen trüben. Sie werden erst wieder sichtbar bei einem Abschwung 1 der Konjunktur. Es gibt eine alte ökonomische Erfahrung, daß man Strukturprobleme möglichst im Stadium einer guten Beschäftigungslage zu lösen versuchen sollte.
Die Bundesbahn hat ihr Defizit in den letzten Jahren von 1,5 auf 1 Milliarde DM reduzieren können. Herr Minister Leber nannte eine noch geringere Zahl. Noch besser! Es ist aber kein Geheimnis, daß wir infolge des Kostendrucks, der übrigens alle Dienstleistungsunternehmen mit besonderer Härte trifft, bei der Bundesbahn für die vor uns liegende Periode mit einem Wiederanstieg des Defizits rechnen müssen, obwohl — darauf werden Kollegen nachher noch eingehen — die bilanzwirksamen Leistungen des Bundes an die Bahn schon in den letzten Jahren ganz erheblich gestiegen sind und auch weiter steigen werden.
Meine Damen und Herren, unsere eigenen Vorstellungen von einer leistungsfähigen Bundesbahn sind unverändert. Sehr verehrter Herr Verkehrsminister, ich will jetzt nicht auf die wirklich etwas unqualifizierten persönlichen Angriffe eingehen, die Sie sich im Laufe Ihrer Rede mir gegenüber geleistet haben. Sie sind ja sonst sehr empfindsam, wenn es um Ihre eigene Person geht. Umgekehrt sieht es dann anders aus.
Wir von der CDU/CSU können gegenüber den Eisenbahnern und gegenüber der Bundesbahn mit einem guten Gewissen antreten.
Die Vorstellungen, die sich heute auch bei Ihnen und in weiten Teilen dieses Hauses durchgesetzt haben, haben wir gegen sehr heftigen Widerstand seit mindestens zehn Jahren vertreten. Diese Vorstellungen sind die folgenden:
Erstens. Die Bundesbahn soll wie ein Wirtschaftsunternehmen arbeiten und ihre Kosten erwirtschaften.
Zweitens. Politische Lasten sind ihr in vollem Umfang abzunehmen.
Drittens. Wo der Bahn, wie insbesondere im Sozialverkehr oder bei gesellschaftspolitischen Aufgaben, aus Gründen des Allgemeininteresses Leistungen abverlangt werden, die im Widerspruch zur Eigenwirtschaftlichkeit stehen, sind die sich daraus ergebenden Mindererträge aus dem Bundeshaushalt abzudecken. Die Initiative zu einer entsprechenden Änderung des Bundesbahngesetzes stammt aus unserer Fraktion.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Apel?
Bitte, Herr Kollege!
Herr Kollege Dr. Müller-Hermann, wenn das Ihre Erkenntnisse seit, wie Sie sagen, etwa zehn Jahren sind, frage ich Sie, warum Sie dann diese volle Kontennormalisierung, die jetzt erreicht worden ist, nicht bereits zu Zeiten des Herrn Bundesverkehrsministers Seebohm in die Tat haben umsetzen können.
Herr Kollege Apel, wir haben diese verbesserte Situation erst im Laufe der Zeit herbeiführen können. Die Anfänge für die Abnahme der politischen Lasten haben nicht etwa bei Herrn Leber begonnen, sondern die gesetzgeberischen Voraussetzungen stammen aus einem Konzept, das wir bereits 1963 dem Bundestag vorgelegt haben.
Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fellermaier?
Ja, bitte!
Wie können Sie sich erklären, Herr Dr. Müller-Hermann, daß sich die Gesamtsituation der Bundesbahn seit dem Leber-Plan wesentlich verbessert hat im Verhältnis zu den ständig steigenden Defiziten in der Zeit, als Sie allein in
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4547
Fellermaier
dem Hause Verantwortung für die Verkehrspolitik trugen?
Herr Kollege Fellermaier, davon habe ich doch eben in der Breite gesprochen. Sie müssen die Defizitentwicklung der Bundesbahn ja auch im Zusammenhang mit den vermehrten Bundeszuwendungen sehen, eine Entwicklung, die wir in diesem Hause ja gemeinsam unterstützen. Ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen, welche Konsequenzen sich für uns aus dem drohenden neuen Zuwachs an Defizit ergeben müssen.
Ein weiterer Punkt, den ich nicht vergessen möchte, bei unserer Bundesbahnpolitik ist, daß der Bund dafür Sorge zu tragen hat, daß die Bundesbahn die Investitionen tätigen kann, die die Voraussetzung für ein technisch hochentwickeltes Leistungsunternehmen sind. Wir in der Fraktion der CDU/ CSU halten nichts von der Vorstellung, daß die Bundesbahn für alle Ewigkeit mit dem Defizit leben oder mit anderen Worten ein Kostgänger der Politik sein müsse. Herr Minister Leber hat das heute angedeutet, und ich hoffe, wir sind in dieser Linie einer Meinung.
Ich zitiere aber noch einmal unseren Kollegen Herrn Seibert, der in der gleichen Kolumne, die ich soeben zitiert habe, schreibt:
Nur politische Träumer, denen die Fakten nicht geläufig sind oder die daraus falsche Schlüsse ziehen, könnten, konnten und können darauf spekulieren, das Defizit der Bundesbahn könne beseitigt werden.
Nein, meine Damen und Herren, die Eisenbahner und die Leitung des Unternehmens dürfen das volle Vertrauen haben, daß sie in einem Unternehmen tätig sind, das nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbare Leistungen zur Verfügung stellt, sondern das auch finanzwirtschaftlich eine Bahn der Zukunft sein kann und werden muß.
— Hören wir doch mit dieser Sache auf! Wir sind da nicht einer Meinung; das habe ich ja wohl deutlich genug gemacht.
Wenn die großen und beachtenswerten eigenen Anstrengungen der Bundesbahn im Wirtschaftsergebnis nicht den gebührenden Niederschlag finden, so vor allem deshalb, weil die Bundesregierung eine unternehmerische Preispolitik der Bahn systematisch verhindert.
Man kann eben nicht die Bahn länger zu einem echten Leistungsunternehmen entwickeln, ihr aber das Instrument der Preispolitik aus der Hand nehmen. Die Verkehrspolitik kommt auf jeden Fall im Güterverkehr ohne eine elastische und ökonomische Preispolitik nicht zurecht.
In den von gezielten staatlichen Auflagen nicht berührten Leistungsbereichen müssen eben Kostensteigerungen der Bahn — und natürlich auch ihrer Konkurrenten —, die nicht durch Rationalisierung und Modernisierung aufgefangen werden können, zwangsläufig ihren Niederschlag in Tariferhöhungen finden, und hier erweist sich eben diese Bundesregierung als die Gefangene ihrer eigenen Propagandakosmetik. Wenn man an den sogenannten administrativen Preisen entgegen aller Vernunft und aus Gründen statistischer Schönfärberei festhält oder festhalten will, zahlt eben nur die Allgemeinheit aus dem Bundeshaushalt für Leistungen, die Teile unserer Volkswirtschaft zu nicht marktgerechten Preisen für sich in Anspruch nehmen. Das müssen wir ganz nüchtern sehen.
Ein weiterer Punkt unserer grundsätzlichen Kritik, Herr Minister, ist der von der Bundesregierung vorgelegte Ausbauplan der Bundesfernstraßen für den Zeitraum 1971 bis 1985. Hier wird in einem, wie Sie es jetzt darstellen, „Bedarfsplan" ein Kolossalgemälde präsentiert. Dieser Plan mag sehr publikumswirksam sein, aber er ist und bleibt unseriös, solange nur die Hälfte des Programms finanziell abgedeckt ist.
Nun haben Sie, Herr Minister Leber, heute hier einige Gedanken entwickelt, die meines Erachtens durchaus wert sind, durchdacht zu werden. Ich bedaure nur, daß Sie eben nicht für die Bundesregierung ganz klare Aussagen gemacht haben. Ich halte es z. B. für nur in völliger Übereinstimmung mit unseren eigenen Überlegungen und unserer eigenen Kritik, wenn Sie darauf hinweisen: Ehe wir an die großen inneren Reformen herangehen, müssen wir zunächst einmal für ein Höchstmaß an Stabilität, vor allem bei den Baupreisen, Sorge tragen. Sie wissen es ja selbst, wie das im Jahre 1971 aussehen wird, wo wir etwa 14 % mehr Ausgaben für die Bundesfernstraßen im Haushalt zur Verfügung stellen und am Ende des Jahres ein wesentlich geringeres Maß an Leistung erzielt werden wird als im Jahre 1970. Die Bundesregierung steht einfach vor dem Entweder-Oder, weniger zu versprechen oder aber konkrete Angaben über die Finanzierungsprobleme zu machen. Ich will Ihnen sagen: die Opposition verschließt sich weder der Bedeutung des Problems noch der Bereitschaft zur Mitwirkung bei seiner Lösung. Wir erwarten aber zunächst einmal von der Bundesregierung, daß sie Farbe bekennt, daß sie sagt, was sie will, und nicht weiter um den heißen Brei der Finanzierungsprobleme herumredet.
Ein weiterer Punkt unserer grundsätzlichen Kritik betrifft die Tatsache, daß diese Bundesregierung die innerstädtischen Verkehrsprobleme sträflichst vernachlässigt. Der Ausbau des Fernstraßennetzes ist wünschenswert und dringlich, die Bewältigung des innerstädtischen Verkehrs ist aber noch unerläßlicher und noch vordringlicher.
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Dr. Müller-Hermann
Die Bundesregierung muß sich hier — wie auch in anderen Bereichen - endlich zu einer an den tatsächlichen Engpässen orientierten Prioritätsskala durchringen.
Die Zahl der Verkehrsunfälle und die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle erreichen in diesem Jahr neue Rekordziffern. Wir wollen uns jetzt hier nicht mit dieser traurigen Skala gegenseitig Vorwürfe machen. Aber leider haben sich auch hier die allzu selbstgefälligen Prognosen des Herrn Ministers Leber aus dem vergangenen Jahr nicht erfüllt. Rund 80 % der Unfälle ereignen sich nun einmal in den geschlossenen Ortschaften, und wir alle kennen den Zeit-, Material- und Nervenverschleiß, der allen unseren Bürgern tagtäglich zugemutet wird. Um so mehr sollte und muß sich der Bundesverkehrsminister jetzt veranlaßt sehen, die knappen Mittel, die ja auch knapp bleiben werden, dort einzusetzen, wo sie den höchsten Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und zur Beseitigung der Engpässe im Verkehr und zur Erhöhung des Verkehrsflusses erbringen.
Selbstverständlich kann man auch dieses Problem des innerstädtischen Verkehrs nicht erfolgreich läsen, wenn man die Frage der Finanzierung ausklammert. Wir haben mit gutem Grund die Bundesregierung aufgefordert, den seit Jahren in den Schubladen des Ministeriums liegenden Sachverständigenbericht über die Sanierung des innerstädtischen Verkehrs auf den neuesten Zahlenstand zu bringen und dem Bundestag wieder vorzulegen. Wir werden alle miteinander sicher nicht an der Prüfung der Frage vorbeikommen, ob die Autofahrer geneigt sind — oder mit überzeugenden Argumenten geneigt gemacht werden können —, für mehr und bessere Straßen auch mehr zu zahlen.
Herr Minister Leber, in einem Punkte berühren sich unsere Überlegungen durchaus: im öffentlichen Bewußtsein muß sich, wie mir scheint, die Einsicht durchsetzen - und dazu muß gerade die Bundesregierung auch einen Beitrag leisten —, daß sich die Steigerung unseres Wohlstandes nicht mehr ausschließlich im Portemonnaie des einzelnen vollzieht und ausdrückt, sondern auch in der Bereitstellung von vermehrten und verbesserten öffentlichen Einrichtungen.
Nur müssen wir alle und vor allem wiederum die Bundesregierung dann der Öffentlichkeit auch klarmachen, daß man nicht alles zugleich kann. Hier müssen wir, wenn möglich, gemeinsam Prioritäten setzen, aber dann auch vor der Öffentlichkeit gemeinsam verantworten.
Sie haben mehrere Lösungsmöglichkeiten für die Beschaffung zusätzlicher Mittel hier erwähnt. Nun, Herr Minister, wir halten es für ausgeschlossen, unseren Mitbürgern ein weiteres, zusätzliches Opfer zuzumuten, wenn nicht auch der Bund seinerseits einen diesem Opfer entsprechenden größeren Teil des bisher nicht zweckgebundenen Mineralölsteueraufkommens für den Straßenbau zur Verfügung stellt. Ich würde sagen: das ist eine Lösungsmöglichkeit Nummer vier, die Sie sich bitte auch durch den Kopf gehen lassen wollen. Wir fordern im Grunde mit dieser Lösungsmöglichkeit 4 die Sozialdemokraten und insbesondere den Herrn Bundeskanzler und den Herrn Bundesfinanzminister ja nur auf, einen Bruchteil dessen zu realisieren, was sie hinsichtlich der Zweckbindung der Mineralölsteuer mehr als zehn Jahre lang als Opposition gefordert haben.
1961 hat der heutige Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt, damals Sprecher für Verkehr, erklärt: Wir möchten, daß das Aufkommen aus der Mineralölsteuer zu 100 % ausschließlich für den 'Straßenverkehr und für die Straßenunterhaltung verwandt wird. Schöne Worte!
Der Herr Bundeskanzler Brandt erklärte auf der dritten Verkehrskonferenz am 1. März 1963 — ich will nur einen Satz zitieren —:
Meine Freunde und ich waren dafür und sind auch jetzt dafür, daß die Zweckentfremdung der Mineralölsteuer endlich beseitigt wird.
So, Herr Kollege Apel, jetzt sind Sie einmal dran mit dem Widerspruch zwischen heute und früher.
— Nein, nein, wir haben uns in dieser Situation immer sehr realistisch verhalten und darauf hingewiesen, daß neben dem Straßenbau auch andere öffentliche Einrichtungen mit gleicher Vordringlichkeit bedacht werden müssen.
Wir haben daher zunächst einmal gegen sehr viel öffentlichen Widerstand und, ich kann auch sagen, gegen sehr viel Bedenken in unseren eigenen Reihen, diese 50%ige Zweckbindung für den Straßenbau sichergestellt. Und, meine Damen und Herren, das fällt unter das Kapitel der angeblichen Versäumnisse der vor Ihnen amtierenden Bundesregierungen: Seit über zehn Jahren, ich glaube, seit 15 Jahren, liegen wir in der Bundesrepublik im Straßenbau hinter den Vereinigten Staaten an zweiter Stelle in der Welt.
Seit 10 oder 15 Jahren geben wir für den Straßenbau in der Bundesrepublik mehr aus als die übrigen fünf EWG-Partnerstaaten zusammen. Wenn wir jetzt in eine nachlassende Phase eintreten, ist das eine Folge der Preis- und Konjunkturpolitik dieser Bundesregierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Reihe von Kollegen wird zu weiteren Fragen des Verkehrsberichtes nach mir Stellung nehmen. Eine der führenden Tageszeitungen hat den Verkehrsbericht der Bundesregierung mit dem Satz kommentiert: Die alte Bankiersregel, daß eine Bilanz einem Bikini gleiche, weil sie zwar manches zeige, aber
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Dr. Müller-Hermann
Wesentliches verberge, gilt auch für den Verkehrsbericht. Dieses Zitat ist zutreffend.
Ich wiederhole, wir haben an dem Verkehrsbericht vielerlei zu kritisieren, wir werden in wesentlichen Punkten auch mit der Bundesregierung zusammenarbeiten. In ganz entscheidenden und dringlichen Problemen kann sich aber die Bundesregierung nicht länger um klare Antworten auf alte Fragen herumdrücken. Minister Leber ist auch heute viele Antworten schuldig geblieben. Der Verkehrsbericht bedarf dringend der Ergänzung durch konkrete verkehrspolitische Entscheidungen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich auf Einzelpunkte des Beitrages von Herrn Dr. Müller-Hermann eingehe, möchte ich allerdings zwei Vorbemerkungen zu seinen Ausführungen machen. Erste Vorbemerkung: Herr Müller-Hermann eingehe, möchte ich allerdings zwei Vorbemerkungen zu seinen Ausführungen machen. Erste Vorbemerkung: Herr Müller-Hermann, wenn Sie jetzt so tun, als hätten Sie eigentlich gegen das Verkehrspolitische Programm der Bundesregierung — und das war ja die Bundesregierung der Großen Koalition — immer schon Bedenken gehabt, und Sie seien heute in Ihren Bedenken bestärkt, kann man daraus nur schließen, daß die CDU/CSU-Fraktion unter Ihrer Führung in der letzten Legislaturperiode eigentlich recht schmalbrüstig vertreten war. Sonst hätte es Ihnen möglich sein müssen, in den vielfältigen Koalitionsberatungen Ihren Willen stärker, als Sie es heute beklagen, durchsetzen zu können.
Ich meine, wir sollten so nicht argumentieren, sondern sollten zur Kenntnis nehmen, daß dieser LeberPlan — so wird er gemeinhin ja genannt — ein Plan war, den die Große Koalition beschlossen hat, und daß wir entgegen dem Kabinettsentwurf —
— Nun hören Sie mal, Herr Lemmrich, werden Sie doch nicht so nervös! Was soll denn diese Art von Zwischenrufen?
Wir haben zusammen den Entwurf der Bundesregierung — das muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden — verändert, und die ganze Debatte über die Verbotsliste ist in der Tat der Schnee vom vorletzten Winter.
Eine zweite Bemerkung. Wenn Sie in Frage stellen, Herr Müller-Hermann, ob diese Verkehrs-
politik, die die Sozialdemokraten jetzt machen, Wettbewerb wolle oder weiterhin Verkehrslenkung wolle, will ich Ihnen dazu einige sehr grundsätzliche Bemerkungen machen, damit in diesem Hause Klarheit darüber herrscht, wie Sozialdemokraten im Grundsatz Verkehrspolitik betrachten. Bereits im Jahre 1959 ist von Karl Schiller vor allem der inzwischen ja viel kolportierte Satz im Godesberger Grundsatzprogramm zu finden, der da heißt: Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig. Dieser Satz paßt ganz besonders für den Verkehr, für die Verkehrswirtschaft, weil er deutlich macht, daß es den unbegrenzten Wettbewerb im Verkehr in der Tat nicht geben wird und nicht geben kann.
Diesem unbegrenzten Wettbewerb stehen kurzfristig und langfristig Widerstände entgegen.
Kurzfristig denke ich insbesondere daran, daß wir — da bin ich mit Ihnen einer Meinung — noch eine ganze Strecke Weges zurücklegen müssen, ehe die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen erreicht sein wird, und zwar sowohl national als insbesondere auch in der EWG, wo die technische Harmonisierung — denken Sie an die Achslastdrücke — die fiskalische Harmonisierung — denken Sie an die Mineralöl- und die Kraftfahrzeugsteuer —, aber auch die soziale Harmonisierung noch in den Anfängen stecken. Für unsere Fraktion gilt national wie international: Harmonisierung vor Liberalisierung. Wir entlassen den Verkehrssektor nicht auf die Spielwiese des unbegrenzten Wettbewerbs, weil das der Volkswirtschaft, aber auch dem Verkehrssektor selbst schaden würde.
Aber selbst dann, meine Damen und Herren, wenn diese kurzfristigen Hemmnisse beseitigt werden, werden Sozialdemokraten eine Ordnung im Verkehrssektor haben wollen, weil es auch dann den unbegrenzten Wettbewerb nicht geben kann. Der Herr Bundesverkehrsminister hat auf die Daseinsvorsorgeaufgaben der Bundesbahn hingewiesen. Diese entziehen sich in der Tat dem Wettbewerbsgedanken. Wir meinen aber auch, daß bei der Binnenschiffahrt wie beim Lkw im Interesse der mittelständischen Struktur in diesen Gewerbezweigen marktordnende Maßnahmen, insbesondere auch in der Kontingentsregelung, notwendig bleiben.
Langfristig heißt also unser Programm: Kooperation an Stelle des harten Wettbewerbs.
Ich glaube, hier müssen wir auch dem Straßenverkehr einmal ein lobendes Wort aussprechen. Immerhin bringt der Straßenverkehr von den 3 Pf Mineralölsteuererhöhung, die dem gemeindlichen Bereich zufließen, 40 % auf für den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, in Zukunft vielleicht 45 % auf. Auch die sogenannten Leber-Pfennige fließen ja indirekt zu einem Teil in den kombinierten Verkehr, so daß schon finanziell deutlich wird, wie stark hier Kooperation betrieben wird. Ich halte das für eine sehr positive Sache. Sie ist einmalig in der Welt, hat aber natürlich auch ihre Grenzen. Das müssen wir wissen.
Daran anschließend einige grundsätzliche Bemerkungen zur Tarifpolitik. Sozialdemokraten lehnen
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Dr. Apel
jede freie Tarifpolitik ab. Auch hier muß es bei der Ordnung bleiben. Die Harmonisierungsfehltatbestände verlangen auch hier von uns eine gewisse Zurückhaltung. Wir sind aber mit dem Verkehrsminister der Meinung, die im Verkehrsbericht zum Ausdruck kommt, daß es EWG-konform ist, den Wettbewerb stärkt und die Unternehmerqualitäten unterstreicht, wenn wir weiterhin konsequent den Weg der Margentarifierung gehen.
Lassen Sie mich nach diesen einleitenden Berner-kungen einiges sagen zu den einzelnen Verkehrsbereichen und beginnen mit der Deutschen Bundesbahn! Ohne die Leistungen des Bundes haben sich die rein unternehmerischen Erträge der Bundesbahn von 1967 bis 1970, also in dem Zeitabschnitt, in dem Herr Leber Verkehrsminister ist, um fast 30 % erhöht, obwohl, meine Damen und Herren, in der gleichen Zeit nur eine unbedeutende Tariferhöhung ab Mai 1970 wirksam geworden ist. Die Bundesbahn war in der Lage, diese Mehreinnahmen von mehr als 2,3 Milliarden DM dazu zu benutzen, voll die stark angestiegenen Personal- und Sachkosten abzudecken.
Meine Damen und Herren! Wir sagen nicht, dies sei das Ergebnis unserer Verkehrspolitik. Wir sagen, dies ist das Ergebnis der hervorragenden Leistung unserer Eisenbahner, die allerdings nur möglich war auf Grund einer vernünftigen Verkehrspolitik.
In dieser Zeit, Herr Müller-Hermann, ist bei der Bundesbahn auch nach Abgeltung aller betriebsfremden Lasten ein Defizit geblieben. Das kann nicht geleugnet werden. Wir sind mit Ihnen der Meinung, daß die Bundesbahn aus den roten Zahlen herauskommen muß und daß die Verkehrspolitik dazu ihren Beitrag zu leisten hat. Wir sehen insbesondere drei Möglichkeiten, hier zu helfen. Erstens ist die bereits von Herrn Leber angesprochene Veränderung in der Tarifgestaltung und der Tarifautonomie der Bundesbahn zu nennen. Sie haben sich dieser Forderung angeschlossen, Herr Müller-Hermann. Bei der Novellierung des Bundesbahngesetzes werden wir vielleicht noch wasserdichtere Formulierungen finden müssen. Auch bin ich als Verkehrspolitiker der Meinung, daß die Tarifpolitik der Bundesbahn nicht Büttel für die Stabilisierungspolitik in unserem Lande sein darf.
Herr Müller-Hermann, wir müssen uns aber ein zweites Problem vor Augen führen. Wenn das echte Defizit der Bundesbahn in diesem Jahr wieder größer wird, hängt das auch damit zusammen, daß wir einen Superboom haben, daß die Bahn auf Grund der Beförderungspflicht auch mit unrentablem Material und mit Überstunden arbeiten muß, d. h. daß sie auf diese Art und Weise Verkehre übernimmt, die eigentlich betriebswirtschaftlich sinnlos sind, weil die Erträge niedriger als die zusätzlich entstehenden Kosten sind. Wir Ökonomen sprechen hier von dem Phänomen der Sprungkosten. Es muß überlegt werden: Kann das so bleiben? Ist das nicht in der Tat eine betriebsfremde Last, die wir der Bundesbahn auf Grund der Beförderungspflicht aufbürden?
Eine letzte Bemerkung. Wir sind für die Übernahme der Schuldenlast, die der Deutschen Bundesbahn durch den Wiederaufbau nach dem Kriege entstanden ist. Dies ist ein fehlender Baustein in der Kontennormalisierung.
Herr Abgeordneter Dr. Apel, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie kurz unterbreche.
Bitte schön, Herr Präsident!
Ich habe die große Ehre und Freude, eine Delegation des Senats und der Abgeordnetenkammer des Kongresses der Republik Chile unter Leitung des Vizepräsidenten des Senats, Herrn Senator Noemi, zu begrüßen. Es ist eine besondere Freude, Parlamentarier aus Chile, einem Land, mit dem wir seit vielen Jahrzehnten freundschaftlich verbunden sind, als Gäste in unserem Land und hier im Deutschen Bundestag herzlich willkommen zu heißen.
Bitte, Herr Abgeordneter!
Herr Müller-Hermann meinte bemerken zu müssen, die Bundesregierung und der Herr Bundesverkehrsminister vernachlässigten den innerstädtischen Verkehr sträflich. Wir alle wissen, daß der innerstädtische Verkehr eines unserer Hauptsorgenkinder ist. Herr Müller-Hermann, Sie 'werden doch aber — wie wir — nicht an der föderalen Struktur unseres Landes rütteln wollen! Es muß doch einfach zur Kenntnis genommen werden, daß die Kraftfahrzeugsteuer als eine der spezifischen Besteuerungsarten des Straßenverkehrs den Ländern zufließt. Man muß sehr genau überlegen, ob man es in der Tat verantworten kann, dem Bund für Versäumnisse, die andere auch mit zu verantworten haben, die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Herr Abgeordneter Dr. Apel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lemmrich?
Herr Kollege Dr. Apel, ist Ihnen bekannt, daß z. B. der Freistaat Bayern die Kraftfahrzeugsteuer den Gemeinden voll übergeben hat?
Das stärkt ja nur mein Argument.
Herr Abgeordneter Dr. Apel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fellermaier?
Herr Kollege Dr. Apel, ist Ihnen aber auch bekannt, daß die bayerische Staatsregierung die Mittelzuteilungen für die Gemeinden
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4551
Fellermaier
genau dann gekürzt hat, als wir hier im Bundestag den Leber-Pfennig für die Gemeinden einführten?
Herr Fellermaier und auch Herr Lemmrich, ich werde mich als Hamburger aus diesen bayerischen Querelen schön heraushalten.
Eines, Herr Lemmrich, kann aber nicht bestritten werden — das machte auch Ihre in eine Frage gekleidete Zwischenbemerkung soeben sehr deutlich —, nämlich daß wir alle zusammen sehr vorsichtigt sein müssen: wir sind nicht die Väter dieser unehelichen Kinder, die da herumlaufen und nach Alimentierung suchen werden. Wir haben auf Grund der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung nur bedingt eine Verpflichtung für sie. Im übrigen kann gar nicht bestritten werden, daß wir über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz hier bereits beträchtliche Mittel zur Verfügung stellen.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zum öffentlichen Personennahverkehr machen. Der Herr Bundesverkehrsminister hat dargestellt, daß die Bundesregierung zur Zeit prüft, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe die Mineralölsteuer für den öffentlichen Personenverkehr erlassen werden kann. Meine Fraktion steht derartigen Überlegungen mit großer Aufgeschlossenheit gegenüber. Wir unterstreichen aber eines: Wir werden bei der Beratung eines entsprechenden Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag bzw. im Ausschuß dafür sorgen, daß nur die Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs diesen Erlaß der Mineralölsteuer und eventuell auch eine Reduzierung der Mehrwertsteuer bekommen, die ihrerseits von ihren Betreibern bzw. Eigentümern die Abgeltung der betriebsfremden Lasten analog zu § 28 a des Bundesbahngesetzes erhalten. Denn wenn wir dies nicht tun, sind die 200 Millionen DM zum Fenster hinausgeworfen.
Wir müssen die Länder und die Gemeinden in ihre Verantwortung zwingen. Wir müssen sie dazu zwingen, notfalls, wenn sie Tariferhöhungsanträge ihrer kommunalen Verkehrsunternehmen ablehnen, den Bürgern auch klarzumachen, daß das dann aus der Ratskasse oder der Landeskasse bezahlt wird und daß das heißt: weniger Krankenhäuser, weniger Schulen und anderes. Diese Debatte muß versachlicht werden. Wir schließen uns im übrigen der Aussage des Herrn Bundesverkehrsministers an, daß Null-Tarife eine ideologische Sache sind und nicht in die rationale Verkehrspolitik hineingehören.
Einige Bemerkungen zum Straßenbau und zum Straßenausbau. An dieser Stelle, meine Damen und Herren von der CDU/CSU — das wird von Ihnen vielleicht noch verkannt —, wird der Charakter dieses Verkehrsberichts ganz besonders deutlich. Er ist erstens Bilanz, zweitens Perspektivdarstellung und drittens Darstellung von Prioritäten.
Was die Bilanz anbelangt, so haben Sie, Herr Müller-Hermann, einen Punkt herausgegriffen, nämlich die Zweckbindung der Mineralölsteuer, und uns hier Vorwürfe gemacht. Nun, es war klar, daß Sie diese Vorwürfe machen würden. Deswegen der berühmte Zettelkasten, und der besagt, daß der ehrenwerte Abgeordnete Dr. Müller-Hermann in der 72. Sitzung des Bundestages am 5. Juni 1959 zu dieser Zweckbindung gesagt hat:
Aber das Parlament muß meines Erachtens souverän sein in der Verfügung über die allgemeinen Steuermittel, zu denen auch die vom Kraftverkehr aufgebrachten Steuern gehören, die nicht unter spezielle Abgaben zu rechnen, sondern die eben allgemeine Steuermittel sind.
Herr Müller-Hermann, wir sind hier allesamt Sünder, und wer den ersten Stein wirft, der muß wissen, daß er im Glaskasten sitzt; siehe dieses Zitat von Ihnen aus dem Jahre 1959.
— Na, wenn Sie so nett mit mir sprechen,
dann kann ich einem Bremer dieses Zugeständnis kaum versagen.
Aber wir müssen auch eines sehr deutlich sagen
— Herr Kollege Müller-Hermann, dies ist jetzt keine Polemik, sondern Faktendarstellung —: Sie haben bis zur Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Sozialdemokraten, was die Zweckbindung der Mineralölsteuer anlangt, Fakten geschaffen, die dann in der Tat kaum noch redressierbar waren.
— Natürlich, wenn man jahrelang die halbe Zweckbindung akzeptiert und damit die anderen Ressorts daran gewöhnt, daß hier ein Goldesel ist, den man ausnutzen kann, dann kann anschließend eine andere Bundesregierung nur sehr bedingt sagen: Und nun ist Schluß mit der Geschichte. Dies muß man dann zur Kenntnis nehmen.
— Dabei bin ich gerade, Herr Kollege Müller-Hermann. Das ist das nächste, was jetzt drankommt, weil von Ihnen angesprochen.
Ich wollte sagen: zweitens nicht nur Bilanz, sondern Perspektivdarstellung im vorliegenden Bericht. Dieser Verkehrsbericht zeigt wirklich Perspektiven
4552 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Dr. Apel
auf. Ich will das im einzelnen nicht wiederholen. Hier wird in der Tat eine offene Debatte über die Probleme geführt und der parlamentarische Abschluß gewünscht. Wir sind alle in die Verantwortung gestellt. Das gilt natürlich insbesondere für die Frage der Priorität, nämlich die Priorität der Finanzierung des zweiten Ausbauplans. Ich meine, wir müssen als Parlamentarier - wir sind in diesem Parlament mehr als nur Verkehrspolitiker — sehr vorsichtig sein, in einem Bereich, auch wenn er uns noch so sehr am Herzen liegt, voll erfüllen zu wollen, weil das Grenzen für die Erfüllung der Anforderungen anderer Bereiche setzt. In dieser Hinsicht bin ich dem Herrn Minister sehr dankbar, daß er seine Meinung geäußert hat — dazu ist er auf Grund seiner Ressortbindung verpflichtet —, aber gleichzeitig gesagt hat: Hier soll kein Windhund-rennen stattfinden, etwa nach der Devise „Wer die Nase vorne hat, wer als erster ein ambitiöses Programm vorlegt, kriegt den ganzen Zuwachs!", sondern dieses soll diskutiert werden; meine Priorität ist dabei klar.
Wir können jede Mark nur einmal ausgeben. Wir werden in diesem Hause — das ist ein konkreter und konstruktiver Beitrag dieser Bundesregierung — sehr bald sehen, was möglich ist, und dann werden wir feststellen, was in den einzelnen Bereichen getan werden kann. Wir bieten Ihnen hier also keine offene Flanke, in die Sie hineinstoßen können, sondern eine faire Chance, an der Prioritätenaufstellung im Bereich der inneren Reformen mitzuwirken.
— Wir werden in jedem Falle diese Prioritäten setzen. Herr Müller-Hermann, Sie werden wohl nicht bestreiten können, daß dieser Bedarfsplan für den Ausbau der Bundesfernstraßen in den fünfziger Jahren wirklich unabhängig von der Finanzierungsseite dringend notwendig war.
Wenn Sie mit dem Auto nach Hamburg fahren, kommen Sie auch durch den Kreis Harburg. Herr Mursch, Sie sind jetzt Abgeordneter dieses Wahlkreises. Bei der Fahrt durch dieses Gebiet fragt man sich immer, weshalb plötzlich die Autobahnausfahrten so dicht aufeinanderfolgen. Die Antwort der Beteiligten lautet, das habe der Herr Seebohm veranlaßt, weil das sein Wahlkreis gewesen sei. Ich will diese Bemerkung gar nicht übernehmen, aber ich will unterstreichen, daß es der rationalen Verkehrsplanung widerspricht, Einzelwünschen dieser oder jener Abgeordneten oder Gruppen zu entsprechen. Wir sind froh darüber, daß der Herr Verkehrsminister jetzt einen Plan vorgelegt hat, der diese Art von Pressionen beendet.
Herr Abgeordneter Dr. Apel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mursch?
Aber natürlich!
Mursch (CDU/CSU) : Würden Sie mir nicht beipflichten, daß die Zahl der Auf-und Abfahrten bei Autobahnen sich bei allen Großstädten in Deutschland in derselben Weise verhält wie im Hamburger Gebiet? Das ist nun einmal das Einzugsgebiet der Großstädte. Es sollte doch wohl auf Ihrer Linie liegen, daß die dort bestehenden Verkehrsprobleme gelöst werden!
Herr Mursch, werden Sie mir zugeben, daß z. B. auf der Autobahn nach Bremen, weil sie vor Seebohms Zeiten gebaut worden ist, wesentlich weniger Abfahrten als im Hamburger Umkreis vorhanden sind? Es gibt in der Tat Seebohm-Gedächtnisabfahrten, das müssen wir zur Kenntnis nehmen!
Herr Abgeordneter Dr. Apel, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mursch?
Mursch (CDU/CSU): Sie als Hamburger müßten doch eigentlich wissen, daß Hamburg und Bremen rein größenordnungsmäßig nicht miteinander zu vergleichen sind. Stimmen Sie mir da zu?
Ich habe von den Abfahrten im Hamburger Umland gesprochen. Ich lasse mich nicht auf meine Bremer Freunde jagen, um so weniger, als hier ein altbewährter Bremer Kämpe, Herr Senator Borttscheller, sitzt. Ich muß da schon vorsichtig sein!
Herr Abgeordneter Dr. Apel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Raffert?
Herr Abgeordneter Apel, sind Sie bereit, den Kollegen dahin gehend zu informieren, daß es sich dabei nicht um Abfahrten in Richtung Hamburg handelt, sondern um Abfahrten innerhalb der Lüneburger Heide, die mit dem Hamburger Vorraum gar nichts zu tun haben?
Sie haben es genau erkannt, Herr Raffert!
Einige Bemerkungen zu dem von Herrn MüllerHermann angesprochenen Thema der Wegekostendebatte. Ich denke — meine Fraktion ist derselben Meinung —, daß die Debatte über die Wegekosten vorerst national beendet ist, daß wir sie auch nicht über eine Debatte hinsichtlich der Übernahme der Kosten des Fahrweges der Deutschen Bundesbahn auf den Bund erneut aufnehmen sollten, weil uns das in dieselben Schwierigkeiten brächte. Wir sollten unter uns wissen, daß EWG-Lösungen so schnell nicht zu haben sein werden. Daraus folgt eine drei-
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4553
Dr. Apel
fache Konsequenz. Erstens. Es steht der CDU/CSU nicht an,
zu sagen, der Herr Verkehrsminister habe seine Versprechen nicht erfüllt; denn Sie, Herr MüllerHermann, haben uns doch dieses Datum 31. 12. 1970 bezüglich der Ablösung der Leber-Pfennige durch eine Wegekostenabgabe in der Großen Koalition aufgezwungen, obwohl wir damals wußten, daß es eigentlich nicht geht.
Wir mußten diese Kröte schlucken, um Verkehrspolitik treiben zu können. Wenn Sie sich jetzt hinstellen und sagen: Ätsch, Sie haben es nicht geschafft!, kann ich nur sagen: Das ist zu einfach!
Eine zweite Bemerkung.
— Herr Lemmrich, ich weiß, was Sie für ein tüchtiger Mann sind. Hin und wieder hätte ich aber richtig Lust, Sie zu vertrimmen. Dann würde ich sogar Beifall von einigen Ihrer Freunde kriegen. Aber ich tue es nicht, denn wir wollen ja sachlich reden.
Meine Damen und Herren, eine zweite Bemerkung zu der Wegekostendebatte. Diese Debatte war notwendig und hat uns in der Tat wichtige Erkenntnisse verschafft, insbesondere die Erkenntnis, Herr Müller-Hermann, daß das eine politische Entscheidung ist.
Insofern ist es falsch, wenn Sie sagen: Wegekosten sind das, was der Herr Bundesverkehrsminister bestimmt. Wegekosten werden vielmehr das sein, was dieses Hohe Haus in seiner Mehrheit beschließt.
So ist es richtig, und so sind wir in der richtigen Relation.
Einige Bemerkungen zum Thema Verkehrssicherheit. Wir begrüßen es, daß die Automobilindustrie unseres Landes unter starker Förderung durch den Herrn Bundesverkehrsminister das Sicherheitsauto baut. Wir begrüßen es ferner, daß unsere Automobilfirmen die Abgasentgiftung vorantreiben, und zwar nicht nur deshalb, weil der Verkehr dadurch gefährdungsfreier gemacht wird, sondern weil wir auch — das haben wir bei unserer Studienreise in Amerika gesehen — keine Exportmärkte verlieren dürfen. Die Amerikaner tun hier nämlich etwas.
Eine Bemerkung zur Promillegrenze. Wir haben nichts dagegen, daß der Herr Bundesverkehrsminister noch einmal versucht, den Autofahrern gut zuzureden. Um uns herum, in den anderen europäischen Ländern — das müssen wir zur Kenntnis nehmen —, haben wir bereits fast durchgehend die 0,8Promille-Grenze. Wir kommen nicht um die Erkenntnis herum, daß 25 % der Verkehrstoten durch oder als Betrunkene auf unseren Straßen sterben. Das sind 4 000, vielleicht 5 000 Menschen. Für uns gibt es in dieser Frage keine Kompromisse. Unsere Fraktion ist fest entschlossen, in absehbarer Zeit einem Gesetzentwurf zuzustimmen, der aus dem Hause Leber kommt, oder gegebenenfalls einen eigenen Gesetzentwurf — vielleicht sogar interfraktionell — vorzulegen.
Ein Wort zur Geschwindigkeitsbegrenzung, von der wir die Bundesautobahnen ausnehmen. Wir wollen über dieses Thema ohne Emotion, ohne vorgefaßte Meinung und ohne starre Fixierung, aber auch ohne Angst vor denjenigen diskutieren, die gegen eine etwaige Geschwindigkeitsbegrenzung auf unseren Straßen Sturm laufen. In diesen Tagen haben wir in der Presse lesen können, daß die Franzosen, die im Mai auf ihren 13 000 km Nationalstraßen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 110 km eingeführt haben, erreicht haben, daß die Zahl der Verkehrstoten um 11 % abgesunken ist. Das wären, wenn wir das auf die Zahl unserer Verkehrstoten übertragen, 1500, 1600, 1700 Menschen. Wenn man sich das einmal plastisch vorstellt, muß man sagen, auch hier darf es keine Kompromisse geben; hier dürfen uns weder die Automobilindustrie noch andere in unserem Lande von einer sachgerechten Debatte abbringen. Das Auto ist keine Mordwaffe, sondern ein Beförderungsmittel. Ich weiß mich in dieser Frage auch mit den Herren von der CDU/CSU einig.
Eine kurze Bemerkung zu dem „nassen Metier", der Binnenschiffahrt und der Seeschiffahrt. Wir lesen in Ziffer 85 des Verkehrsberichts, daß die Bundesregierung daran denkt, das Reinvestitionsverbot im Rahmen der Abwrackaktion aufzuheben. Das haben wir in der letzten Legislaturperiode hineingebracht. Ich kann für meine Fraktion sagen, daß wir natürlich besserer Einsicht nicht im Wege stehen, daß wir ihr aufgeschlossen gegenüberstehen. Wir sind aber der Meinung, daß das Reinvestitionsverbot insgesamt gesehen vernünftig war. Wer mit einer Prämie abwracken will, soll mit dieser Prämie nicht gleichzeitig neue Kapazitäten schaffen dürfen. Im übrigen ist es jedem unbenommen, neue Schiffe zu bauen, dann aber nicht mit Abwrackprämien. Im übrigen muß das Problem der Binnenschiffahrt insgesamt international, d. h. in der EWG, gesehen werden.
Einige Bemerkungen zur Seeschiffahrt. Ich bin froh darüber, daß Sie, Herr Senator Borttscheller, bei uns sind. Sie haben sich insbesondere um die Stärkung der Wettbewerbsposition der deutschen Seehäfen immer wieder sehr verdient gemacht. Aber darüber rede ich heute nicht, denn Herr Börner sagt immer: „Wenn Sie den Mund aufmachen, riecht es schon nach Salzwasser."
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Dr. Apel
Ich will mich also hier zurückhalten, möchte aber drei Bemerkungen genereller Art machen, die nicht die Häfen, sondern die Hochseeschiffahrt betreffen.
Erstens. Wir machen uns große Sorgen um den Mißbrauch der Sonderabschreibungen im Bereich der Hochseeschiffahrt, ja der Schiffahrt ganz allgemein.
Die Zahlen, die insbesondere der Verband der Küstenmotorschiffahrt vorgelegt hat, machen deutlich, daß durch schiffsfremde, d. h. steuersparende Investitionen der jetzige Kapazitätsbestand in der Küstenmotorschiffahrt in drei Jahren um 50 % gestiegen sein wird. Dies wird ohne Zweifel zu Kapazitätsüberhang und zu Unterbeschäftigung führen müssen. Gleichzeitig fördert der Bund mit 2,5 Millionen DM in diesem wie im nächsten Jahr eine Abwrackaktion für die Küstenmotorschiffahrt. Ich will das Ganze nicht in einen direkten Zusammenhang bringen, aber wir müssen doch erkennen, daß wir einerseits durch bestimmte Steuervorschriften die Möglichkeit schaffen, Küstenmotorschiffe zu bauen und damit Steuern zu sparen, d. h. den Fiskus zu schädigen,
und andererseits gleichzeitig Steuermittel einsetzen, um die Überkapazität zu bereinigen. Dies geht nicht. Meine Fraktion wird in Zusammenarbeit mit der FDP dazu eine Kleine Anfrage vorlegen, die im übrigen auch für das Thema „Luftverkehr" gelten wird, denn dort zeichnen sich ja dieselben Probleme ab.
Eine zweite Bemerkung gilt der Flaggendiskriminierung. Der Herr Verkehrsminister hat sich hier sehr aktiv eingesetzt; einiges ist gebessert worden. Ich glaube, wir müssen aber an die Adresse der Reeder mit allem Nachdruck sagen, daß die Lösung dieses Problems nicht zuletzt an den widerstreitenden Interessen der Reeder selbst scheitert. Da haben wir auf der einen Seite diejenigen, die den sogenannten — in Neudeutsch gesagt — cross trade betreiben, also im wesentlichen Trampschiffahrt, aber auch Linienschiffahrt zwischen anderen Ländern, ohne die Bundesrepublik zu berühren, und wir haben auch die unterschiedliche Interessenlage der Linienreeder. Wir müssen die Reeder auffordern, eine einheitliche Position zu beziehen, die klar ist, eine einheitliche Position, die auch deutlich macht, daß eine nationale Lösung der Flaggendiskriminierungsfrage nicht denkbar ist. Wir können erstens nicht den Bilateralismus wollen. Wir können doch nicht wollen, daß die Bundesrepublik mit Brasilien ein Schiffahrtsabkommen schließt, das die Ladungen fifty-fifty verteilt, und daß danach die Schiffe quasi halbleer fahren, weil sie dann natürlich skandinavische und niederländische Fracht nicht mehr mitbekommen und im übrigen andere südamerikanische Häfen auch nicht anlaufen können. Und zweitens möchte ich sehen, wohin wir in der EWG kommen, wenn wir diese nationale Politik versuchen wollten. Wir wollen die Erweiterung der EWG um Skandinavien und England. Dieses
Thema muß europäisch gelöst werden, und wir nehmen zur Kenntnis, daß der zuständige Kommissar, Herr Coppé, dazu jetzt etwas tun will.
Allerdings sind wir der Meinung, daß — der Herr Bundesverkehrsminister hat dem ja bisher auch stets zugestimmt bei den Kapitalhilfeabkommen zwischen der Bundesrepublik und Entwicklungsländern viel energischer als bisher sichergestellt werden muß, daß unsere Flagge nicht diskriminiert wird. Wir können nicht Entwicklungshilfe zugunsten der Reedereien der Entwicklungsländer und damit zu Lasten der deutschen Reedereien betreiben. Dies ist falsch verstandene Entwicklungshilfe.
Nun die dritte und zur Seeschiffahrt letzte Bemerkung: Der Herr Bundesverkehrsminister hat völlig recht, wenn er in Ziffer 117 des Verkehrsberichts auf den Personalmangel aufmerksam macht und auch sagt, daß dabei die Reeder erneut im Wort sind. Die unzureichende Unterbringung auf den Seeschiffen — es wird allerdings langsam besser — muß überwunden werden; die Urlaubsregelungen müssen besser werden. Wir alle zusammen müssen vor allen Dingen darüber nachdenken, wie wir den Übergang vom Beruf des Seemanns — sei es des Kapitäns, sei es des technischen Personals, sei es des Matrosen — in einen späteren Landberuf erleichtern. Denn zur Zeit sieht es doch so aus, daß viele schon mit 35 oder 40 Jahren abspringen, weil sie fürchten, mit 50 oder 60 Jahren, wenn es dann in der Hochseeschiffahrt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr geht, nicht mehr den Anschluß zu finden. Hier liegt eine Aufgabe, die auch durch das Arbeitsförderungsgesetz eine Lösung finden könnte.
Insgesamt müssen wir der Hochseeschiffahrt aber sagen, es gibt eine neue Schiffsbesetzungsordnung. Diese Schiffsbesetzungsordnung wird zur Zeit noch lax gehandhabt. Ich höre überall davon, daß die Reeder der Hochseeschiffahrt mit Unterbesetzung fahren. Die Reeder müssen wissen, daß das irgendwann aufplatzt und daß die schiffahrtspolizeilichen Dienststellen dann zugreifen. Wenn dies geschieht, mögen die Reeder nicht den Bund bemühen, sondern sich selbst für ihre Personalpolitik verantwortlich fühlen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bleibt im übrigen bei ihrer Meinung, daß eine Schiffahrtsenquete durchgeführt werden sollte. Wir sind an der Arbeit; auch hier mahlen natürlich die parlamentarischen Mühlen langsam. Dieses Thema wird rational und sachbezogen auf Antrag unserer Fraktion unter Mithilfe aller Experten dieses Hauses erörtert werden.
Schlußbemerkung. Viele Probleme der Verkehrswirtschaft hängen in der Tat an ausstehenden europäischen Regelungen. Wir begrüßen es, daß der Verkehrsminister hier drängt. Wir müssen aber unter uns zugestehen, daß wir auf Europa nicht warten können, daß wir nationale Lösungen brauchen, allerdings in EWG-Tendenz. Die Verkehrswirtschaft und die Verkehrspolitik sind Rückgrat unseres Wirtschaftswachstums. Verkehrswirtschaft und Verkehrspolitik haben sich in der Bewältigung des Superbooms, der hinter uns liegt, bewährt. Hier hat sich
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4555
Dr. Apel
gezeigt, daß nicht nur die Verkehrswirtschaft auf der Höhe der Zeit ist, sondern auch unsere Verkehrspolitik; denn es hat nur unbedeutende Spannungen in der Bewältigung der enormen Transportleistungen gegeben. Die Verkehrswirtschaft ist allerdings auch ein Teil der inneren Reformen. Hierzu hat der Herr Bundesverkehrsminister Perspektiven aufgezeigt, nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig. Wir werden uns dazu äußern.
Die richtige demokratische Prozedur ist nicht die, Herr Müller-Hermann, daß im Schoße der Bürokratien und der Bundesregierung Lösungen ausgebraten werden, die uns dann nach der Devise „Friß, Vogel, oder stirb" vorgelegt werden,
sondern die richtige Prozedur ist die, daß Herr Leber Alternativen aufzeigt, seine Meinung sagt und unsere Meinung anfordert. Die bekommt er; denn dieser Verkehrsbericht geht ja an den Verkehrsausschuß und kommt dann in Form von Resolutionen an das Plenum zurück.
— Wir werden diskutieren. Es wäre gut, Herr Müller-Hermann, wenn Sie dann hin und wieder mehr als nur Gastrollen im Verkehrsausschuß gäben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollesch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Müller-Hermann von der CDU/CSU-Fraktion hat zu Beginn seiner Ausführungen seiner Enttäuschung über den Verkehrsbericht Ausdruck gegeben. Er hat ausgeführt, daß dieser Verkehrsbericht nicht konkret aussagt, wie die Probleme des Verkehrs in Zukunft gelöst werden sollen, und daß er nicht schon angedeutete gesetzliche Maßnahmen der Bundesregierung beinhaltet. Wir sind der Meinung, daß diese Kritik an dem vorliegenden Verkehrsbericht unbegründet ist, daß sie nicht zu halten ist; denn der Verkehrsbericht — mögen auch sehr viele Bürger unseres Landes etwas anderes erwartet haben — soll nach den Worten des Bundesverkehsministers kein neues verkehrspolitisches Programm sein, sondern ein Bericht über Maßnahmen, die im Rahmen des Verkehrspolitischen Programms der Bundesregierung für die Jahre 1968 bis 1972 eingeleitet wurden, eine Bestandsaufnahme darstellen und eine Vorausschau auf die zu erwartende, kommende Entwicklung geben.
Wir sind der Auffassung, daß dieser Verkehrsbericht 1970 eine Fülle von Informationsmaterial für die Abgeordneten des Hohen Hauses darstellt, daß er Prognosen aufstellt, die mir untermauert zu sein scheinen und die uns Gelegenheit geben werden, aus dem Hause heraus das Unsere zu tun, um die anstehenden Probleme zu lösen. Es ist sicherlich verständlich, daß der Bundesverkehrsminister versucht, zur Halbzeit seines damals im Auftrag der
Bundesregierung vorgelegten Verkehrspolitischen Programms die Erfolge darzustellen, die erreicht worden sind.
Nun, die Freien Demokraten haben diesem Verkehrspolitischem Proramm sehr zurückhaltend gegenübergestanden, und sie werten die eingetretenen Ergebnisse sicherlich nicht, jedenfalls nicht in vollem Umfang so, wie sie der Herr Bundesverkehrsminister wertet. Aber das liegt bei den verschiedenen Standpunkten sehr nahe. Nur, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben das Programm ja mit zu vertreten.
Herr Kollege Dr. Müller-Hermann, das mag in Ihren Augen ein Koalitionskompromiß gewesen sein, der Ihnen gar nicht behagt. Aber so sind nun einmal die Fakten. Sie haben es voll mit zu tragen.
Der Bundesverkehrsminister ist auf die Ergebnisse eingegangen, die eingetreten sind. Bei dieser Betrachtung nimmt natürlich der Komplex Bundesbahn einen erheblichen Raum ein. Er ist ja — das ist sehr leicht verständlich — unser wichtigster Verkehrsträger. Im Verkehrsbericht wird ausgeführt, daß es durch die Maßnahmen des Verkehrspolitischen Programms gelungen sei, im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung die Bundesbahn auf eine wirtschaftlichere Grundlage zu stellen und brachliegende Kapazitäten auszunutzen. Während früher von Waggonüberfluß, von leeren Waggons gesprochen worden sei, sei heute ein Waggonmangel festzustellen, der sogar so stark sei, daß Waggons aus dem Ausland angemietet werden müßten.
Es ist eigentlich schade, meine Damen und Herren, daß heute der Nachweis nicht mehr zu erbringen ist, daß die Umlenkungsmaßnahmen, die die damalige Regierung der Großen Koalition eingeleitet und gesetzlich untermauert hatte, wirklich in dem Umfang, der damals erwartet wurde, zu diesem Erfolg beigetragen haben. Wie so oft in der Politik ist die Beweisführung nachher nicht mehr anzutreten, weil inzwischen Fakten eingetreten sind, die eine klare Beurteilung nicht mehr möglich machen. Nehmen wir an, daß alle Maßnahmen und die Steigerung unserer Konjunktur zu diesem erfreulichen Ergebnis beigetragen haben!
Immerhin stimmt es betrüblich, daß trotz aller Anstrengung, die Bundesbahn nach kaufmännischen Gesichtspunkten zu führen, sie, wenn auch nicht zu d e m , so doch zu einem der Verkehrsträger in der Bundesrepublik zu machen, die Maßnahmen immer wieder durch Kostensteigerungen in Frage gestellt werden, die auch mit dem größten Willen zur Rationalisierung nicht aufgefangen werden können. Ich brauche das Zahlenspiel gar nicht zu wiederholen, mit dem gezeigt werden kann, warum die Leistungen des Bundes für die Bundesbahn trotz ihrer größeren Effektivität immer noch ansteigen.
Ich glaube, auf dem Wege der Kosteneinsparung durch Rationalisierung muß fortgefahren werden.
4556 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Ollesch
Die Rationalisierung sollte vielleicht etwas forcierter durchgeführt werden, als sie jetzt anscheinend vorgenommen wird. Dennoch ist hier weder der Bundesregierung noch der Deutschen Bundesbahn ein Vorwurf zu machen. Der Vorwurf muß vielmehr, jedenfalls zum Teil, an die Mitglieder des Hauses gerichtet werden oder an die Länder und die Gemeinden, die immer wieder Zeter und Mordio schreien, wenn. im Zuge einer notwendigen Rationalisierung eine Dienststelle aufgelöst werden muß, die noch einem Organisationsstatus entspricht, der vor 80 Jahren einmal Gültigkeit gehabt haben mag, aber heute in einer Zeit — —
— Nein, nein. Herr Hemmrich, die Bundesbahndirektion Münster unterliegt ja auch dieser Auflösung auf Grund der Rationalisierung. Ich habe kein Wort dazu verlauten lassen, obwohl die Bundesbahndirektion Münster zu meinem Einflußbereich als Abgeordneter aus Recklinghausen gehört.
Ich meine, man kann nicht auf der einen Seite verlangen, daß der Bund endlich von dem Lasten-komplex der Bundesbahn befreit wird, auf der anderen Seite aber dann, wenn notwendige Maßnahmen durchgeführt werden sollen, dies wieder zu verhindern suchen.
Meine Damen und Herren, wie alle Verkehrsträger und wie alle in der Wirtschaft Tätigen ist auch die Bundesbahn darauf angewiesen, kostendeckende Erlöse zu erhalten. Dies hat der Herr Kollege Dr. Apel erwähnt, und auch der Herr Bundesverkehrsminister hat darauf hingewiesen. Sicherlich sind Frachten Kosten, die durchschlagen, bis zum letzten Verbraucher weitergeleitet werden und von ihm schmerzlich empfunden werden, wenn sie dort ankommen. Aber wir würden uns selbst etwas in die Tasche lügen, wenn wir hier versuchen wollten, eine notwendige Tarifanhebung unter Bezugnahme auf überwirtschaftliche Gegebenheiten immer wieder zu verzögern. Die Bundesbahn muß echt in den Stand versetzt werden, kostendeckende Erlöse zu erzielen.
Aber da wir bereit sind, die Rationalisierung trotz großer politischer Widerstände voranzutreiben, sollte die Bundesbahn selbst sich nicht in Gebiete begeben — Anzeichen dafür wurden hörbar —, in denen sie bisher nicht oder nicht in großem Umfang tätig war. Ich erwähne hier auch das Problem der Beschaffung von Lastzügen durch die Deutsche Bundesbahn, ein Problem, das Aufsehen erregt hat. Sicherlich, die Bundesbahn hat nach dem Gesetz die Möglichkeit, 3,5 % der Kontingente auszunutzen. Sie hat das im Sinne einer Funktionsordnung in unserem gesamten Verkehr dankenswerterweise nicht getan.
— Nein, das ist kein Problem. Aber das sind unter
Umständen die ersten Schritte. Zweifellos ist eine
Beunruhigung hervorgerufen worden, weil die Bundesbahn bisher trotz gegebener Möglichkeiten auf diesem Gebiet Zurückhaltung geübt hatte.
Ich will mich aber nicht bei der gegenwärtigen Situation aufhalten. Die mir noch verbleibenden Minuten will ich dazu verwenden, auf die Schwerpunkte einzugehen, die sich uns in der nächsten Zukunft stellen. Es ist sicherlich klar, daß bei knappen finanziellen Mitteln versucht werden soll, Prioritäten zu setzen. Aber, Herr Kollege Dr. Müller-Hermann, das ist im Verkehr gar nicht so einfach. Es gibt eine Reihe von sehr dringlichen Maßnahmen, die beachtet und in Angriff genommen werden müssen, sonst kann unsere Gesamtwirtschaft großen Schaden leiden. Der Neubau von Bundesfernstraßen genießt nach meiner Auffassung eine ebenso hohe Priorität wie die Regelung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden. Ebenso hohe Priorität genießen der Plan, die Bundesbahn in den Stand zu versetzen, ein modernes Verkehrsmittel zu sein, das auch seine Kosten trägt, und sogar auch die Fragen der Verkehrssicherheit. Von daher sollten alle Probleme bei der Behandlung der Aufgaben für die nächste Zeit beachtet werden. Wir haben einen Ausbauplan für Bundesfernstraßen für den Zeitraum der nächsten 15 Jahre bis 1985, einen Plan, der den Bedarf aufzeigt. Dieser Bedarf ergibt sich nicht nur aus den vorhandenen und den zu erwartenden Verkehrsströmen, sondern sicherlich auch aus der Verpflichtung, strukturschwache Gebiete mit Straßen aufzugliedern und ihre Struktur zu verbessern. Ein Verkehrsplaner, der für den Straßenbau nur von dem aus dem jetzigen Verkehrsstrom herzuleitenden Bedarf ausginge, würde seine Aufgabe verfehlen.
Wir wissen um die Finanzierungslücke, Herr Bundesverkehrsminister. Die Opposition hat sie uns ja seit einigen Monaten immer wieder vorgehalten, ohne daß sie bisher in der Lage war, einen Vorschlag zu unterbreiten,
wie diese Finanzierungslücke gedeckt werden könnte.
— Ich weiß, daß es immer etwas unpopulär ist, Belastungen für bestimmte Preise oder bestimmte Gruppen vorzuschlagen. Sie, Herr Bundesminister, haben das Problem offen angesprochen und drei Möglichkeiten aufgezeigt. Dafür sei Ihnen Dank. Sicherlich wird niemand von den Fraktionssprechern heute eine klare Antwort geben können, welcher dieser drei Wege mit Sicherheit gegangen werden kann.
— Oder vier.
Nur scheint mir der Blick auf den Kraftfahrer —
selbst wenn Umfragen bestätigen sollten, daß 80 % der Kraftfahrer bereit seien, im Interesse der Flüssigmachung des Verkehrs etwas mehr an Lasten auf sich zu nehmen — etwas zu simpel zu sein. Denn bei einer Finanzierungslücke von rund 50 Milliarden DM würde das bedeuten, daß wir ihm zehn Pfennig mehr pro Liter Kraftstoff abverlangen müßten. Ich
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4557
Ollesch
bin nicht der Auffassung, daß der Kraftfahrer allein derjenige sein soll, der alle Lasten des Verkehrswegebaus zu tragen hat. Die Gemeinden denken bei dem Problem der Gemeindeverkehrswegefinanzierung ja auch schon wieder an den leichten Weg der Erhöhung der Mineralölsteuer und möchten gern statt drei nun fünf, sechs oder acht Pfennig erhoben haben. Zum anderen wird der Kraftfahrer in diesem und im kommenden Jahr durch eine saftige Erhöhung der Prämien für die Haftpflichtversicherung ohnehin zur Kasse gebeten. Das mag sehr begründet sein, aber er kann nicht unentwegt allein die Lasten tragen.
— Das wird immer wieder gefordert.
Das ist so leicht gesagt.
Wir wissen, daß es Prioritäten auch auf anderen Sektoren außerhalb des Verkehrs gibt. Bestenfalls könnte hier mit der Zeit Zug um Zug eine Erhöhung stattfinden. Aber auch damit werden wir die 50 Milliarden DM nicht decken können. Ich bin der Auffassung, da dieser Betrag auf einem Bedarfsplan basiert, sollten wir erst einmal mit den vorhandenen Mitteln unsere fertigen Planungen durchziehen. Wir werden gar nichts anderes machen können.
— Sagen Sie mir doch, was Sie machen wollen!
— Nein, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, wir werden die fertigen Planungen mit den vorhandenen Mitteln durchführen müssen, um dann in der Zeit, in der es notwendig sein wird, vielleicht mit besseren Erkenntnissen als bisher einen gangbaren Weg der Finanzierung zu finden. Dieser Weg kann im Mittel zwischen einem höheren Anteil und einer nochmaligen Belastung liegen. Aber man sollte sich hüten, schon Erklärungen in eine gewisse Richtung abzugeben und zu sagen: Das ist allein der Weg, auf dem die Finanzierung möglich sein kann.
Wir können uns darüber unterhalten. Der Herr Bundesminister hat ja erklärt, daß es keine Frage der Entscheidung des Jahres 1971 sein wird. Vielleicht sind wir in der Lage, gemeinsam möglicherweise ist auch Brüssel dann soweit — ein gerechtes System der Wegekostenanlastung zu finden, nach dem wir alle rufen, weil jeder für sich selbst eine Entlastung
vermutet, die unter dem Strich wahrscheinlich gar nicht herauskommen wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Ollesch, kann man von einem Plan für die nächsten 15 Jahre sprechen, wenn die Voraussetzungen nicht gegeben sind? Das haben Sie doch eben bestätigt?!
Doch, Herr Kollege, man kann es. Sie müssen mal richtig lesen. Da steht nur „Bedarfsplan", weiter gar nichts, und das ist der
— Ausbauplan, der sich nach dem geschätzten Bedarf richtet. Niemand ist gezwungen, auch wir nicht
— selbst wenn wir dieses Gesetz in der nächsten Zeit verabschieden —, den Bedarfsplan in dem Zeitraum zu erfüllen. Das ist ein Bedarfsplan und nichts anderes.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Kollege Ollesch, ist Ihnen bekannt, daß der Bedarfsplan eine Anlage des Gesetzes sein soll?
Ja, natürlich. Aber es ist eine Vorausschau. Gebunden sind Sie weder für die zweite noch für die dritte Stufe des Bedarfsplans. Da sind wir gar nicht gebunden, sondern völlig frei.
Lassen Sie mich die Aufmerksamkeit auf den zweiten Komplex richten, auf die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Verdichtungsräumen. Wir werden ja in den nächsten Wochen das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz in dritter Lesung verabschieden. Da hat es Auseinandersetzungen gegeben. Die Koalitionsfraktionen waren der Meinung, daß es bei den 3 Pf pro Liter Kraftstoff für die Gemeinden in der nächsten Zeit bleiben sollte. Das sind immerhin etwas über 1 Milliarde DM im Jahr. Weder der Bund noch die Länder noch die Gemeinden und auch nicht alle zusammen werden in der Lage sein, die autogerechte Stadt zu bauen, Verkehrswege innerhalb der Städte zu bauen — wenn wir das Gesicht der Städte noch erhalten wollen —, die in der Lage sind, den hineinfließenden Kraftverkehr und den ruhenden Verkehr aufzunehmen. Es wird also das Ziel jeder Verkehrsplanung in den Verdichtungsräumen, den Ballungsräumen und in den Städten sein müssen, den Individualverkehr aus der Stadt herauszuhalten. Das sagt sich so leicht; ich weiß, das Problem ist schwierig zu lösen.
Voraussetzung ist ein attraktives Angebot von Nahverkehrsmitteln. Dabei darf unter Attraktivität nicht nur die innere Einrichtung dieser Nahverkehrs-
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mittel, das Aussehen und das Innere der Wagen, verstanden werden, sondern auch die attraktive Anbindung an andere Verkehrsträger und der attraktive Übergang. Wir sind Gott sei Dank in der Bundesrepublik noch in der glücklichen Lage, über ein zum Teil ausgezeichnet funktionierendes Nahverkehrssystem in den Städten zu verfügen. Eine ganze Reihe von Städten tut ja das, was eigentlich schon 50 Jahre früher einmal gemacht werden mußte —nach dem Beispiel von Berlin und Hamburg —: sich dem U-Bahn-Bau und U-Strab-Bau zuzuwenden, allerdings erst nach einer Pause von über 50 Jahren; in der Zwischenzeit war dort ja völliger Stillstand. Nur geschieht das unter einem erheblichen Aufwand. Das unangenehme ist, daß das alles zur gleichen Zeit erfolgt. Es ist zwingend notwendig, aber eben mit all den Schwierigkeiten verbunden, die diese großen Vorhaben finanziell und auch in unserer Konjunktur mit sich bringen.
Wir haben im Bonner Raum ein sehr schönes Beispiel eines attraktiven Nahverkehrsmittels, das doch nicht attraktiv ist, weil die Anbindung nicht gegeben ist. Sie können in wenigen Minuten von Siegburg nach Bonn, von Hangelar in genau elf oder zwölf Minuten in die Stadtmitte von Bonn mit der elektrischen Bahn Siegburg—Bonn fahren, aber nur bis zum Bertha-von-Suttner-Platz, und dann haben Sie bis zum Bahnhof zu laufen, um die nächste Anbindung zu erreichen. Das ist also kein Beispiel eines attraktiven Nahverkehrsmittels, das an sich von seiner Ausstattung und von seiner technischen Einrichtung her attraktiv sein könnte.
Ich möchte mit diesen Worten nur erreichen, daß man sich bei den Planern — oder auch bei denen, die immer nach der Bundeshilfe rufen — darüber etwas mehr Gedanken macht, bei der Regelung der Probleme des gemeindlichen Verkehrs auch diese Dinge einmal selbst zu sehen und in eigener Kraft solche Verbesserungen, die nicht einen Millionenaufwand erfordern, vorzunehmen.
Hier allerdings sei die Anmerkung gestattet, daß es kein Nahverkehrsmittel geben wird — bisher gibt es kein Beispiel in der Welt —, das sich voll und ganz selbst trägt. Das soll kein Plädoyer für eine Hinwendung zum Null-Tarif sein. Hierüber ist genug gesagt worden. Die Attraktivität eines öffentlichen Nahverkehrsmittels wird auch nicht vom Fahrpreis bestimmt. Der Fahrpreis ist meiner Ansicht nach einer der unwesentlichsten Faktoren, weil er zur Zeit in den Städten von den Parkgebühren für das Parken außerhalb von Zonen mit Parkuhren übertroffen wird. Von daher kann dem Fahrpreis keine große Bedeutung beigemessen werden, soweit es die Attraktivität anbelangt.
Wir sollten aber etwas schneller als bisher das Problem der Befreiung von der Mineralölsteuer lösen. Das schleppt sich schon über einen unmäßig langen Zeitraum hin. Das gilt auch für Erleichterungen bei der Mehrwertsteuer. Dabei darf nicht vergessen werden, daß es neben den kommunalen Trägern von Nahverkehrsmitteln auch private Träger von Nahverkehrsmitteln gibt. Auch diese sollten bei den Überlegungen zur Einführung finanzieller Erleichterungen zur Aufrechterhaltung ihres Verkehrs nicht ausgeschlossen werden. Zum anderen werden nach dem Bundesbahngesetz der Bundesbahn Ausfälle durch Sozialtarife und Tarife, die sie im Hinblick auf unsere Gesellschaft besonders gestalten muß, erstattet. Auch hier geböte es die Gleichbehandlung, daß auch diesen Verkehrsträgern, die eine wichtige Aufgabe erfüllen, die gleiche Behandlung zuteil wird. Auch dieses Problem darf bei der Lösung des Problems der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden nicht unbeachtet bleiben.
Lassen Sie mich zum Schluß auf das Problem der Verkehrssicherheit zu sprechen kommen. Der Bundesverkehrsminister hat erwähnt, daß auch die Einführung der neuen Straßenverkehrsordnung, die einheitliches Straßenverkehrsrecht innerhalb der EWG schafft, dazu dienen könne, die Verkehrssicherheit zu vergrößern; zum anderen seien wir die ersten, die diese international gültigen Regeln einführten. Ich halte es nicht für so schrecklich wichtig, ob man das erste Land ist, das dieses tut. Ich habe erhebliche Zweifel, ob die Straßenverkehrsordnung, so wie sie demnächst gültig werden wird, einen größeren Beitrag zur Straßenverkehrssicherheit leisten kann als die alte. Hier ist aber nicht der Ort, sich über die Straßenverkehrsordnung auseinanderzusetzen.
Bei der Frage der Verkehrssicherheit spielt immer wieder eine mögliche Geschwindigkeitsbeschränkung eine Rolle. Der Kollege Dr. Apel hat dazu einige Hinweise gegeben. Ich darf für meine Fraktion erklären, daß wir diesem Problem sehr zurückhaltend gegenüberstehen, weil nicht eindeutig erwiesen ist — zumindest auf den Fernstraßen nicht —, daß durch Beschränkung der Geschwindigkeit die Unfälle in hohem Maße zurückgehen. Zum anderen darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß es gilt, eine Synthese zwischen der Aufnahmefähigkeit unserer Straßen und der Geschwindigkeit zu finden. Sie stehen in Abhängigkeit voneinander. Solange wir nicht generell dreibahnige Straßen haben und auf eine Zügigkeit des Verkehrs angewiesen sind, sollte das Problem der Geschwindigkeitsbeschränkung für Fernstraßen sehr zurückhaltend betrachtet werden. Sicherlich werden wir bei den Landstraßen, wenn eine annehmbare Grenze gefunden wird — 110 oder 120 km/Std. —, unsere Zustimmung geben können.
Zu dem Problem der Verkehrssicherheit gehört auch die Ausrüstung unserer Fahrzeuge mit Motoren, deren Stärke dem Gewicht der Fahrzeuge angemessen ist. Wir haben ja ab 1. Januar 1971 die Vorschrift, daß für neu in den Verkehr kommende Nutzfahrzeuge eine Motorleistung von 8 PS pro Tonne erforderlich ist. Das mag zur Flüssigmachung des Verkehrs beitragen und die Gefahren mindern. Es wird aber nur eine halbe Maßnahme sein, wenn nicht sichergestellt ist, daß in unseren Nachbarländern die gleiche Regelung durchgesetzt wird. Denn bei den durchgängig bestehenden Überholverboten an Steigungsstrecken nützen uns die 8 PS nichts, wenn vor einem solchen Lastwagen ein Fahrzeug aus einem Nachbarland fährt, das nur 4 oder 6 PS je Tonne bringt. Dann werden wir nichts erreichen.
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Ollesch
Ich glaube auch, wir sollten bei den Überlegungen, noch höher zu gehen, in der Zukunft immer auf die Harmonisierung innerhalb der EWG achten.
Meine Damen und Herren! Mit diesen Ausführungen bin ich im Grunde genommen schon am Ende. In dem Bericht ist noch einmal auf europäische Regelungen hingewiesen worden. Wir sind uns darüber im klaren, daß wir als eines der wichtigsten Transitländer innerhalb der EWG alles tun sollten, die Harmonisierung zwischen den EWG-Ländern zu beschleunigen. Aber wir haben doch sehr oft den Eindruck gehabt, daß wir in dieser Hinsicht gelegentlich etwas freudiger waren als unsere Nachbarn. Das Vorangehen auf diesem Gebiet bringt für unsere Teilnehmer am Verkehr Nachteile mit sich und ist geeignet, die schon bestehenden Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Verkehrsträgern innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu vergrößern. Wir Freien Demokraten sind der Auffassung, daß in Zukunft darauf geachtet werden sollte, daß die Harmonisierung wirklich gleichzeitig eintritt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß sagen: Dieser Verkehrsbericht 1970 löst keine Probleme. Das war auch nicht seine Aufgabe. Die Probleme, die uns gestellt sind, werden wir alle nur in gemeinsamer Arbeit lösen können. Im Grunde genommen kann ja die Bewältigung des Verkehrs nicht parteipolitisch gesehen werden, sondern ist eine Aufgabe aller unserer Menschen; denn im Zuge der weiteren Technisierung in unserer Welt, im Zuge einer immer größer werdenden Arbeitsteilung, die noch begünstigt wird durch die Mehrwertsteuer, wird das Volumen an Verkehrsgütern immer mehr zunehmen. Ich glaube nicht, daß in absehbarer Zeit, wie im Bericht angegeben, eine Abflachung stattfinden und die Steigerungsrate unterhalb des Produktivitätszuwachses liegen wird, sondern ich glaube, daß sich die Arbeitsteilung noch mehr vergrößern wird. Wir haben als Politiker dafür zu sorgen, daß alle Menschen ein ausreichendes Angebot an Verkehrsleistungen erhalten und daß es den Verkehrsträgern möglich ist, in einem echten Wettbewerb für uns alle die höchste Leistung zu erbringen. Das sollte das Ziel unserer gemeinsamen Politik sein.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 15 Uhr.
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jobst von der CDU/CSU-Fraktion. Für ihn sind 20 Minuten Redezeit beantragt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Verkehrsminister hat heute morgen so oft von einer notwendigen Denkpause gesprochen. Die brennenden Probleme des Verkehrs gestatten es aber nicht, daß mit dieser Denkpause fortgefahren wird. Es muß endlich gehandelt werden. Gerade die brennenden Probleme der Deutschen Bundesbahn erfordern es, daß die Verkehrsprobleme angegangen werden. Der Verkehrsbericht beginnt mit der euphorischen Feststellung:
Das „Verkehrspolitische Programm der Bundesregierung für die Jahre 1968 bis 1972" leitete eine Wende in der deutschen Verkehrspolitik ein.
Einer der Schwerpunkte dieses Programms sollten Maßnahmen zugunsten der Deutschen Bundesbahn sein. Ich zitiere:
Wenn angesichts der besorgniserregenden Entwicklung bei der DB nicht weitreichende Entscheidungen getroffen werden, ist damit zu rechnen, daß die im Jahre 1967 veranschlagten Leistungen des Bundes in Höhe von rund 2,5 Mrd. DM ... auf rund 5 Mrd. DM 1972 ansteigen.
Der Deutschen Bundesbahn wurde dabei auch zur Auflage gemacht, den Personalbestand um 82 000 Kräfte zu vermindern und Strecken stillzulegen.
Wie sieht es heute nun tatächlich aus, nachdem die Hälfte des Programmzeitraums abgelaufen ist? Es ist dem Herrn Minister einzuräumen, daß sich bei der Deutschen Bundesbahn einiges geändert hat. Die Waggons stehen heute nicht mehr leer herum; es werden sogar mehr Waggons benötigt. Der Personalbestand ist aber nicht weiter abgebaut worden. Im Gegenteil, er ist auf Grund der gestiegenen Verkehrsanforderungen um 14 300 Kräfte aufgestockt worden. Die Zuleistungen des Bundes — diese sind doch das echte Kriterium für den Erfolg der Verkehrspolitik — sind für 1970 auf 3,4 Milliarden DM veranschlagt, und sie werden gegenwärtig für 1971 auf 3,9 Milliarden DM geschätzt. Sie werden also 1972 der im Verkehrspolitischen Programm angegebenen Größe zustreben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesem Verkehrspolitischen Programm ist also keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Deutschen Bundesbahn, auch wenn man mit dem neuesten Maß der Bundesregierung, dem Ehmke-Millimeter, messen würde, erreicht worden, und es ist auch keine Wende in der Verkehrspolitik herbeigeführt worden.
Herr Minister, der Vorwurf, den Sie heute dem Kollegen Müller-Hermann gemacht haben, ist nicht nur unberechtigt, sondern er ist auch unfair gewesen. Der Kardinalfehler dieses Programms war, was die Bundesbahn anbelangt, der, daß es auf einer Ausnahmesituation des Jahres 1967 aufgebaut war. Die damals der Bundesbahn gemachten Auflagen sind heute jedenfalls überholt.
Die Situation der Deutschen Bundesbahn stellt sich wie folgt dar. Die Deutsche Bundesbahn hat 1969 und insbesondere 1970 ganz erhebliche Leistungen vollbracht. Sie konnte durch die Hochkonjunktur in der Wirtschaft nicht nur die Verkehrsleistungen enorm steigern, sie hat Anforderungen erfüllt, die ihre Kapazitäten erheblich überlasteten. Mit
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Dr. Jobst
nahezu demselben Produktiosapparat, aber mit geringerem Personalbestand schaffte es die Deutsche Bundesbahn, von 1967 bis 1969 ihre Leistungen im Güterverkehr um 21 % und im Personenverkehr um 10,2 % zu steigern und auch die Verkehrseinnahmen, die der Herr Kollege Apel heute angesprochen hat, entsprechend anzuheben. Die Deutsche Bundesbahn hat gerade in dieser Zeit der Überbeanspruchung bewiesen, daß sie nach wie vor das Rückgrat des Verkehrs ist und daß eine leistungsfähige Eisenbahn in einer hochentwickelten Wirtschaft dringend notwendig ist.
Diese hohen Anforderungen, vor allem auch die Schwierigkeiten der langen Wintermonate, haben Höchstleistungen von den Eisenbahnern verlangt. Allein die Tatsache, daß 1970 die Produktivität um 23 0/o gesteigert wurde, ist ein augenscheinlicher Beweis dieser Leistungen. Den Frauen und Männern der Deutschen Bundesbahn gebührt unser aller Dank, den Bediensteten draußen im Betriebsgeschehen wie der Führung der Deutschen Bundesbahn und den Führungskräften.
Daß von einem Schleppsäbeltragen, wie der Verkehrsminister einige Male behauptet hat, keine Rede sein kann, müßten diese Leistungen vollends bewiesen haben. Auch die Frage nach dem Beamtenstatus dürfte damit endlich vom Tisch sein.
Der Herr Verkehrsminister Leber hat es oftmals geschickt verstanden, in der Öffentlichkeit gut ankommende Maßnahmen der Deutschen Bundesbahn an seinen Hut zu stecken und kritische Dinge der Bundesbahn selbst zu überlassen, sie in den Vordergrund zu schieben.
Die Deutsche Bundesbahn ist in eine Periode der starken Überbeanspruchung hineingefahren. Tatsache ist aber auch, daß die Kosten daraus größer geworden sind als der Zuwachs infolge der Konjunktur. Das Wirtschaftsergebnis ist 1970, wie Herr Bundesminister Leber 1969 vorausgesagt hat, nicht günstiger geworden. Die Gesamtleistungen des Bundes werden 1971 auf über 4 Milliarden DM ansteigen. Diese Situation ist sowohl für die Bundesbahn als auch für die Eisenbahner, wie auch für uns alle, für die Allgemeinheit, unbefriedigend.
Die Deutsche Bundesbahn hat daran zu tragen, daß sie ein personalintensiver Betrieb ist, daß 70 % der Kosten Personalkosten sind. Aber gerade in diesem Bereich hat die Deutsche Bundesbahn eine stolze Rationalisierungsbilanz aufzuweisen. Wäre der Personalbestand von 1957 bis 1968 nicht trotz Arbeitszeitverkürzung und trotz Urlaubsvergünstigungen um 125 000 Personen vermindert worden, wäre die Lohn- und Gehaltskurve nahezu doppelt so hoch, wie sie 1957 war.
Früher ist immer behauptet worden, daß von der Seite des Personalaufwands allein keine entscheidende Verbesserung der Ertragslage erwartet werden könne; es müßten vielmehr durch stärkere Kapazitätsauslastung die Erträge gesteigert werden, damit sie sich in ähnlicher Richtung bewegten wie die Personalkosten. Die jüngste Entwicklung hat gezeigt, daß auch hierdurch keine Verbesserung des Wirtschaftsergebnisses erreicht wurde.
Nun, müssen die Eisenbahner, müssen wir alle mit dem „Defizit" der Deutschen Bundesbahn leben? Es erhebt sich weiter die Frage: Müssen wir die Zielsetzung, die Deutsche Bundesbahn wie ein Wirtschaftsunternehmen zu führen, aufgeben? Auf diese Zielsetzung, auf das Moment der Wirtschaftlichkeit kann nicht verzichtet werden. Das würde bedeuten, daß marktwirtschaftliche Ordnungsvorstellungen im Verkehr ganz aufgegeben werden müßten. In einer Marktwirtschaft kann auch der Verkehr bei Vorhandensein mehrerer Verkehrsträger nicht außerhalb dieser Ordnung verbleiben.
Eine Eigenwirtschaftlichkeit kann sicherlich nicht in allen Bereichen erreicht werden. Die Deutsche Bundesbahn hat eben neben dieser Zielsetzung der Wirtschaftlichkeit Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge zu erfüllen. Gerade diese gemeinwirtschaftlichen Lasten müßten der Deutschen Bundesbahn abgenommen werden.
Die sogenannte Kontenbereinigung ist wohl verbessert, aber noch nicht ausreichend durchgeführt worden. Auf Grund des § 28 a des Bundesbahngesetzes — diese Bestimmung ist heute morgen von Herrn Kollegen Apel angesprochen worden ist zwar eine Vergünstigung für die Bundesbahn erreicht worden — § 28 a ist ja damals auf Initiative der CDU/CSU in das Bundesbahngesetz eingefügt worden —. Aber es ist heute zu überlegen, ob § 28 a nicht modifiziert werden sollte, und zwar aus folgendem Grund: Wir brauchen die Bundesbahn aus strukturellen Gründen in manchen Gebieten. Dort wird gerade heute mit § 28 a manchmal unnötig Unruhe erzeugt, weil die Bundesbahn ein Stillegungsverfahren einleiten muß. Hier wäre es zweckmäßig, neben dem Stillegungsverfahren ein Ausgleichsverfahren einzuführen. Dadurch könnte die Unruhe vermieden werden.
Die Bundesbahn sollte vom Odium des Wortes Defizit befreit werden. Dieses Odium verdienen die Eisenbahner nicht; denn die Ursachen dieser Dinge liegen nicht im Bereich der Bundesbahn selbst, sondern sie liegen eben im Bereich der Verkehrspolitik. Hier sind nach wie vor entscheidende Probleme ungelöst. Die Wettbewerbsbedingungen sind immer noch stark verzerrt. Der Eisenbahn müssen endlich die gleichen Chancen eingeräumt werden. Vor allem müssen die Wettbewerbsverzerrungen zum Hauptkonkurrenten der Bahn, nämlich der Binnenschifffahrt, ausgeräumt werden. Zu diesem Problem herrscht im Verkehrsbericht großes Schweigen.
Auch die Wegekostenfrage, die der Herr Verkehrsminister heuer einer Lösung zuführen wollte — das ging aus einer Antwort im Mai dieses Jahres hervor —, ist immer noch ungelöst.
Das Jahr 1971 wird der Deutschen Bundesbahn eine neue Kostenexplosion bringen. Im Jahre 1969 sind die Lohn- und Gehaltskosten um rund 700 Millionen DM gestiegen. Die erneut gestiegenen Sachkosten wie die aufkommenden Besoldungs- und Lohnerhöhungen werden der Deutschen Bundesbahn 1971 eine Kostensteigerung von 1,5 Milliarden DM bringen. Die aus politischen Gründen verspätet genehmigte Tarifanhebung zum 1. Mai 1970 hat die
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Dr. Jobst
Ertragslage der Bundesbahn ebenfalls ungünstig beeinflußt. Die neue Situation dieser Kostenexplosion, die die Bundesbahn nicht vermeiden kann, bedeutet entweder ein erhebliches Loch im Haushalt des Bundes oder Tarifanhebungen, und zwar in einer nicht unbeträchtlichen Größenordnung. Auch hierzu fehlt im Verkehrsbericht eine Stellungnahme, auch hierzu hat sich der Herr Verkehrsminister heute morgen ausgeschwiegen.
Auf die Notwendigkeit der Übernahme der Fremdverschuldung der Bundesbahn durch den Bund ist zwar hingewiesen worden. Der Herr Verkehrsminister hält sie, wie er heute ausgeführt hat, neuerdings wieder für vertretbar. Aber auch hier fehlt der konkrete Vorschlag, vor allem fehlt die Aussage des Herrn Finanzminister, die dazu ja unbedingt notwendig ist.
— In der Regierungserklärung steht darüber leider Gottes genausowenig Konkretes — es handelt sich dabei auch nur um Andeutungen — wie im Verkehrsbericht und wie in der Rede des Herrn Verkehrsministers heute morgen.
Es besteht die zwingende Notwendigkeit, die finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Deutsche Bundesbahn mit der technischen Entwicklung Schritt halten kann. Die Bundesbahn kann, was das Technische und auch das Kaufmännische anbelangt, auf stolze Ergebnisse hinweisen. Aber von der Eisenbahn der Zukunft nur zu reden genügt eben nicht. Für die Eisenbahn der Zukunft sind wir alle. Gerade auf diesem Gebiet müßten Maßnahmen aufgezeigt und vor allem Prioritäten aufgestellt werden.
Vor einem Jahr noch hat sich der Herr Verkehrsminister gegen die Übernahme des Schienennetzes in die Obhut des Bundes ausgesprochen. Im Verkehrsbericht ist jetzt diese Möglichkeit erfreulicherweise angedeutet worden. Diese Frage sollte im Rahmen einer integrierten Verkehrswegeplanung endlich ernstlich angegangen werden.
Die Bewältigung des Verkehrs ohne eine Eisenbahn ist nicht denkbar. Sie ist nach wie vor das zuverlässigste Verkehrsmittel. Wir brauchen sie gerade heute verstärkt mit ihren Möglichkeiten in den Ballungsräumen. Wenn sie aber auch in Zukunft ihren Aufgaben gerecht werden soll, muß ihr Wegenetz fortentwickelt werden. Vor allem müssen erhebliche Mittel in die Fahrwege investiert werden.
Im Straßenbau sind in den letzten Jahren beträchtlich Mittel für den Neu- und Umbau zum Zwecke der Anpassung an die Zunahme des Verkehrs investiert worden. Für den Wasserstraßenbau gilt dasselbe. Bei der Deutschen Bundesbahn wurde zwar das Schienennetz modernisiert, allerdings im Korsett der im vorigen Jahrhundert gebauten Strecken. Hier ist eine Anpassung zwingend notwendig. Ein den technischen Erfordernissen angepaßtes Wegenetz ist die Grundvoraussetzung dafür, daß die Bundesbahn auch in der Zukunft wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden kann. Die Deutsche Bundesbahn hat hierzu ein Ausbauprogramm erarbeitet. Dieses Programm erfordert für den Bau von Ergänzungsstrekken im Fernverkehrsnetz sowie für den Ausbau der vorhandenen Strecken in dem Zeitraum von 1971 bis 1985 einen Aufwand von 31 Milliarden DM. Auch zu diesem Punkt fehlt im Verkehrsbericht eine konkrete Aussage.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege, würden Sie mir bitte sagen, seit wann diese Vorschläge des Bundesbahnvorstandes vorliegen?
Die Vorschläge des Bundesbahnvorstandes liegen vor; das ist bekannt.
Können Sie mir sagen, seit wann sie vorliegen?
Sie liegen seit einigen Wochen vor.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Verkehrspolitische Programm hat der Deutschen Bundesbahn nicht geholfen. Ich glaube, daß der Verkehrsminister hier den Mund etwas zu voll genommen hat. Die Erstellung des Verkehrsberichts, so hat es den Anschein, soll allein schon einen Erfolg darstellen. Maßgebend sind aber die Erfolge in der Sache, und diese sind leider ausgeblieben. Es bleibt — wie so oft bei dieser Bundesregierung — beim Aufzeigen von Wünschen, während Taten ausbleiben.
Die Verkehrspolitik muß der Bundesbahn die Möglichkeit verschaffen, ihre Aufgaben und auch ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Der volkswirtschaftliche Nutzen der Deutschen Bundesbahn hängt davon ab, daß ihre wirtschaftliche Situation entscheidend verbessert wird. Hier hat der Verkehrsminister noch ein großes Aufgabenfeld vor sich.
Meine Herren und Damen, Herr Kollege Dr. Jobst hat seine Jungfernrede gehalten. Wir gratulieren ihm dazu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seibert von der SPD. Kommen Sie mit 15 Minuten Redezeit aus, Herr Kollege? Oder wünschen Sie eine Verlängerung? — Nein.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sprecher der einzelnen Fraktionen wie auch der Herr Minister haben
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die Leistungen der Eisenbahner gewürdigt. Das wird den Eisenbahnern, die in ihrer schweren Arbeit stehen, ein Beweis dafür sein, daß man ihre Probleme kennt und ihre Leistungen sieht. Es wäre aber wünschenswert, wenn diese Anerkennung von Fall zu Fall auch zu anderer Zeit bei diesbezüglichen Entscheidungen in die Erinnerung gerufen werden könnte.
Unser Verkehr ist ohne Eisenbahn nicht denkbar. So sagt der Bericht der Bundesregierung. Und schon immer haben in der Vergangenheit die Regierungen von der Deutschen Bundesbahn als vom Rückgrat des Verkehrs gesprochen. Aber die Verkehrspolitik in der Vergangenheit war nicht gerade bundesbahnfreundlich. Man hat also dieses Rückgrat des Verkehrs nicht gestärkt, sondern sehr oft geschwächt, und das sollte man natürlich nicht übersehen, wenn man heute so spricht, als wenn nichts geschehen wäre, als wenn eine Wende nicht zu verzeichnen sei.
Wir haben in den vergangenen Jahren — von 1960 bis vor einiger Zeit — noch immer eine schwere Kritik von Politikern in der Öffentlichkeit hinnehmen müssen, die sich gegen die Eisenbahner vor allen Dingen mit dem bösen Wort richtete, daß es 100 000 Eisenbahner zuviel gebe, obwohl auch damals schon mit den Mitteln, die man der Bahn zur Verfügung gestellt hatte und die allerdings unzureichend waren, stets rationalisiert wurde.
Heute hat die Deutsche Bundesbahn eine Personalverknappung, obwohl sie inzwischen 20 000 ausländische Arbeitskräfte eingestellt hat. Es darf nicht übersehen werden, daß die im Bereich der Deutschen Bundesbahn tätigen Angestellten, Arbeiter und Beamten heute noch eine Arbeitszeit von 43 Stunden wöchentlich — gegenüber 40 Wochenstunden Arbeitszeit in weiten Zweigen unserer Wirtschaft — haben. Es darf auch nicht übersehen werden, daß gerade das Lokomotivpersonal und ebenso das Zugbegleitpersonal durch die sogenannte Dienstbereitschaft eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit bis auf über 50 Stunden in Kauf nehmen muß. Man sollte sich also darüber klar sein, daß diese Probleme im Bereich der Deutschen Bundesbahn alsbald aufgegriffen und so gelöst werden müssen, daß wir von einer Anpassung der Arbeitszeit bei der Bundesbahn an die Arbeitszeit in der übrigen Wirtschaft reden können.
Wir haben auch in den vergangenen Jahren stets die Forderung entgegennehmen müssen, die Bahn solle sich gesundschrumpfen und Strecken sollten stillgelegt werden. Diese Forderungen, die falsch waren, sind erfreulicherweise seit einiger Zeit aus der Diskussion der Öffentlichkeit verschwunden.
Die Diskriminierung der Bundesbahn selbst wurde aber in den vergangenen Jahren wenig beachtet. Und da haben wir ein Beispiel: die Frage der Wegekosten. Wir als Mitglieder des Verkehrsausschusses wissen alle, daß die Deutsche Bundesbahn im Gegensatz zu anderen Verkehrsträgern ihre Wegekosten selbst aufbringt. Die Bahn hat ihren Wiederaufbau vollzogen, sie hat modernisiert, sie hat rationalisiert, hat über Gebühr Personal eingespart und hat dabei ihre Investitionen nicht über den Preis finanziert, wie es die Wirtschaft in größtem Umfange tut, sondern sie wurde auf das Darlehen abgedrängt. Das führte dazu, daß die Deutsche Bundesbahn zur Beseitigung ihrer Kriegsschäden und Nachfolgelasten und zur Modernisierung sich erheblicher Mittel auf dem Kapitalmarkt bedienen mußte und heute noch dafür Jahr für Jahr 900 Millionen DM allein an Zinsen aufbringen muß.
Bislang hatten wir noch keine Umschuldung, und man soll nicht sagen, man hätte darüber nicht gesprochen. Ich selbst habe an den Finanzminister Schäffer, Finanzminister Starke, Herrn Dahlgrün und Herrn Strauß und auch an Herrn Möller Briefe geschrieben, um die Frage der Umschuldung politisch in die Wege zu leiten. Erst der Bundesfinanzminister Alex Möller hat sich dieser Frage angenommen. Diese Bundesregierung hat nicht nur in der Regierungserklärung die Frage der Umschuldung angesprochen, sondern man geht jetzt ernsthaft daran, die Frage der Umschuldung zu regeln. Ich will zugeben, Herr Müller-Hermann, daß Sie in der Frage der Umschuldung bislang eine modifizierte, positive Einstellung hatten. Aber das reicht leider nicht aus.
Meine Damen und Herren, die Bundesbahn hat nach dem Gesetz den Auftrag, kaufmännisch zu arbeiten. Das ist ein guter Gedanke, und das soll man von jedem Unternehmen auch verlangen. Aber man übersieht, daß die Deutsche Bundesbahn in ihren Preisen gebunden war und auch gebunden blieb. Nicht die übliche Preisbindung, wo man Gewinne mit einbindet; nein, die Deutsche Bundesbahn mußte in ihre gebundenen Preise die Verluste mit einbinden. Und die Deutsche Bundesbahn hat in den vergangenen Jahren stets als Preisregulator wirken müssen. Sie war nicht in der Lage, sich am Markt zu orientieren.
Erinnern wir uns an das Jahr 1966. Damals wurde eine Information der Bundesregierung herausgegeben, die lautete: Da es mit den üblichen wirtschafts-und kreditpolitischen Mitteln nicht gelang, den Anstieg des allgemeinen Preisniveaus aufzuhalten, wurden Tarife und Gebühren für öffentliche Dienste vielfach zum Ausgleich der steigenden Preistendenz herangezogen und ohne Rücksicht auf die Kostenentwicklung gebunden. — Das war also die Erschwernis in der Preisfrage, der die Deutsche Bundesbahn jahrelang ausgesetzt war und zur Zeit noch ausgesetzt ist. Man sollte das sehen, wenn man sachlich an die Frage herangeht.
Die Bahn hat auch noch in den vergangenen Jahren sehr starke Nachteile durch die Liberalisierung in den 60er Jahren hinnehmen müssen. Sie wissen, ich meine damit die Erhöhung der Maße und Gewichte der Lastwagen, die Aufstockung der Kontingente der Lastwagen und die Senkung der Beförderungsteuer im Werkfernverkehr. Damals, im Jahre 1964, hat der Minister Seebohm auf eine diesbezügliche Frage hier im Haus, wie hoch sich die Einnahmeverluste durch diese Liberalisierung für die Deutsche Bundesbahn zeigen würden, geantwortet — ich zitiere aus dem Bundestagsprotokoll —:
Nach Berechnungen in unserem Hause können
durch die Maßnahmen Einnahmeausfälle bis zu
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4563
Seibert
400 Millionen DM bei der Deutschen Bundesbahn eintreten.
Meine Damen und Herren, das war eine gewollte Liberalisierung, die sogar einkalkulierte, daß die Deutsche Bundesbahn damit erhebliche Einnahmeverluste zu verzeichnen hatte.
Das muß man alles sehen, daran muß man sich erinnern, wenn man heute die Diskussion darüber führt, wie es um die Bundesbahn steht und was mit ihr getan werden soll, und wenn man vor allen Dingen glaubt, ein Urteil über die derzeitige Verkehrspolitik abgeben zu können.
— Nun, wenn sie nicht weniger eingenommen hat, Herr Lemmrich, dann hätte sie wahrscheinlich um so mehr eingenommen, was man ihr weggenommen hat. Es geht doch letzten Endes um den Betrag, den man zum Schluß in der Kasse hat.
Diese Liberalisierung hat nicht nur einen Einnahmeverlust der Deutschen Bundesbahn gewollt hervorgerufen, sondern damit sind eigentlich auch ihre Bilanzverluste gewachsen. Im Jahre 1960 hatte die Deutsche Bundesbahn einen Bilanzverlust von 14 Millionen DM. Er ist entscheidend auch durch die Liberalisierung immer mehr gewachsen. Im Jahre 1965 betrug er nicht mehr 14 Millionen, sondern 1,278 Milliarden DM. Zu der damaligen Zeit war die heutige Regierung noch nicht in der Verantwortung. 1966 ist dann der Bilanzverlust wieder etwas zurückgegangen, 1967 erneut gestiegen. Erst in der Periode dieser Regierung können wir sehen, daß der Bilanzverlust langsam, aber stetig zurückging und zurückgeht. Im Jahre 1970 liegt er bei etwa 900 Millionen gegenüber 1,5 Milliarden DM im Jahre 1967. Damit will ich Ihnen in die Erinnerung rufen, daß gerade diese Entwicklung dazu beitrug, den Bilanzverlust so zu steigern.
Vorhin wurde gesagt, daß schon seit zehn Jahren Vorschläge für die Abgeltungslösung da seien. Das ist nicht bestritten. Aber ich frage dann nur, Herr Dr. Müller-Hermann, warum hat man vor zehn Jahren die notwendige Abgeltung nicht realisiert, obwohl sie immer wieder gefordert wurde? Hat man tatsächlich gewartet, um diese Abgeltungsbeträge, die damals — —
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lemmrich?
Herr Kollege Seibert, Ihnen ist doch sicher gegenwärtig, daß das, was Haushaltsprobleme betrifft und heute auch in dem Verkehrsbericht deutlich zum Ausdruck kommt, immer eine Rolle gespielt hat und daß die Normalisierung der Konten mit dem Jahr 1964 begann, worauf schon 1965 eine beträchtliche Aufstockung erfolgte, und daß Schritt für Schritt vorgegangen wurde. Das ist Ihnen doch sicherlich gegenwärtig?
Das habe ich auch nicht bestritten, Herr Lemmrich. Ich habe nur gesagt, daß die Abgeltungsbeträge in diesen Jahren, die auch Sie genannt haben, einfach nicht im Einklang standen mit dem, was notwendig gewesen wäre. Die Abgeltungsbeträge standen 1 : 10. Man hat also nur den zehnten Teil von dem bekommen, was man hätte bekommen müssen. Die geringen Abgeltungsbeträge haben auch das Bilanzbild der Bundesbahn verfälscht. Darum geht es ja letzten Endes.
Heute sprechen wir davon, daß wir die Harmonisierung der Konten durchführen wollen. Ich durfte feststellen, daß das ein gemeinsamer Wille von Regierung und Opposition ist. Ich möchte mir aber erlauben, auf eine Bemerkung, die heute gemacht wurde, etwas zu sagen. Ich selbst sehe die Harmonisierung noch nicht als abgeschlossen an. Ich halte sie zwar prinzipiell für abgeschlossen, aber noch nicht materiell. Man sollte wissen, daß in der materiellen Abgeltung noch einiges zu tun ist. Prinzipiell dürfte das Thema ausgestanden sein.
Die Verkehrspolitik — das bleibt festzustellen — hat sich in den letzten Jahren entscheidend gebessert. Damit will ich gar nicht sagen, daß sie vorher schlecht gewesen ist. Aber eine Besserung ist ja nur möglich, wenn etwas nicht so gut war. Mit dem Verkehrspolitischen Programm für die Jahre 1968 bis 1972 hat sich doch — das muß man einsehen, wenn man sachlich bleiben will, ganz gleich, wo man politisch steht — eine grundlegende Wende in der deutschen Verkehrspolitik nicht nur angekündigt.
Die positiven Ergebnisse dieser Arbeit sind dem vorliegenden Bericht zu entnehmen. Ich möchte es mir heute ersparen, die einzelnen Punkte herauszulesen und darüber etwas zu sagen. Wir werden noch Gelegenheit haben, die einzelnen Probleme im Verkehrsausschuß zu besprechen. Aus Zeitgründen verzichte ich jetzt darauf.
Bei der jetzigen und der künftigen Beurteilung der Lage der Deutschen Bundesbahn muß insbesondere geprüft werden — das glaube ich sagen zu müssen —, inwieweit unter Berücksichtigung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur eine Eisenbahn als Wirtschaftsunternehmen kostendekkend arbeiten kann und inwieweit sie Mittel der Daseinsvorsorge sein kann. Die Daseinsvorsorge, z. B. im Nahverkehr, im Sozialverkehr, im Berufsverkehr, mit ihren Leistungen für die Allgemeinheit wird, so meine ich, im Interesse der Allgemeinheit gar nicht kostendeckend angeboten werden können und dürfen. Hier müssen wir uns also dazu durchringen, daß die Tarife, die im Nahverkehr nicht kostendeckend sind, durch den Deutschen Bundestag im Bundeshaushalt ihre Würdigung finden. Anders ausgedrückt, die Mittel, die fehlen, um die Kosten zu decken, müssen auch in der Zukunft im Haushalt des Bundes plaziert werden. Das heißt für uns alle, wir müssen uns dazu durchringen, daß der Teil der Leistungen der Deutschen Bundesbahn, den wir alle für die Allgemeinheit wollen, voll und ganz vom Bund abgegolten wird.
Die Deutsche Bundesbahn ist nicht nur ein Schienenunternehmen. Sie ist ein Verkehrsunternehmen,
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Seibert
das sich aller technischen Verkehrsmittel, wie der Omnibusse und Lastkraftwagen im Nahverkehr, im Flächenbedienungsverkehr und auch im Fernverkehr in angemessenem Umfang bedient, um der Kundschaft und der Wirtschaft ein komplettes Leistungsangebot vorlegen zu können. Damit die Bundesbahn betrieblich beweglich ist, muß sie in gewissem Umfang alle von der Transporttechnik angebotenen Verkehrsmittel vorhalten.
Dieser Bericht der Bundesregierung enthält eine Fülle von Vorschlägen für eine sinnvolle Weiterentwicklung des Verkehrs. Die Verkehrspolitiker dieses Hauses, so meine ich abschließend, sind gut beraten, sich dieser Vorschläge anzunehmen, sie zu prüfen und Entscheidungen herbeizuführen.
Das Wort hat der Abgeordnete Graaff.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Im Rahmen dieser Verkehrsdebatte darf ich mich der Gepflogenheit meiner Vorredner anschließen und mich zunächst einmal mit den Problemen der Bundesbahn beschäftigen, wobei ich hoffe, daß die nachfolgenden Redner nicht übersehen, daß außer der Bundesbahn auch noch andere Verkehrsträger in unserer Volkswirtschaft eine große Rolle spielen. Ich möchte einige Bemerkungen, die heute morgen gefallen sind, nicht ganz ohne Gegenerklärung lassen.
Herr Kollege Müller-Hermann, ich glaube, es ist müßig, den Streit zu führen, wer in den letzten Jahren der Bundesbahn geholfen hat, ob das der Herr Bundesminister Schiller, der Herr Bundesminister Leber oder vielleicht sogar die Bundesbahn selbst gewesen ist. Wenn man es richtig versteht und richtig würdigen will, wird man zugeben müssen, daß alle drei Komponenten gleichen Anteil an der Verbesserung der Lage der Deutschen Bundesbahn haben.
Ich habe mich sehr gewundert, Herr Müller-Hermann, daß Sie davon sprechen, daß die CDU seit zehn Jahren eine unveränderte Politik zugunsten der Bundesbahn treibe. Sie haben dabei auch ausgeführt, daß die Bundesbahn nicht ewig mit einem Defizit leben könne; das könne man ihrem Management und ihren Mitarbeitern nicht zumuten. So weit, so gut. Ich bin damit einverstanden. Wenn man aber diese Forderung erhebt, muß man, wenn die gemeinwirtschaftlichen und betriebsfremden Lasten oder, wie Herr Kollege Seibert soeben sagte, die Lasten aus der Daseinsvorsorge aus den Kosten der Bundesbahn eliminiert sind, für dieses Verkehrsunternehmen kostendeckende Preise fordern. Ich habe allerdings bisher vermißt, daß in den letzten Jahren, in denen Sie insbesondere die Verkehrspolitik betrieben haben, dazu etwas Entscheidendes geschehen ist. Im Gegenteil, man hat bei steigenden Kosten die Tarife der Bundesbahn sogar gesenkt in der Hoffnung, neue Verkehre erschließen zu können, die, wie sich dann herausgestellt hat, gar nichts erbracht, sondern eher die Defizite erhöht haben.
In demselben Moment, Herr Kollege Müller-Hermann, wo Sie das sagen und wo der Herr Bundesverkehrsminister von kostendeckenden Preisen spricht, kommt aus den Reihen Ihrer eigenen Verkehrsexperten der Zwischenruf: Dann benutzt ja keiner mehr die DB! Dieser Zwischenruf ist falsch. Ich möchte wissen, wer dann die Verkehre der DB übernehmen sollte.
Auf der anderen Seite sagen Sie, Herr MüllerHermann: Der Bund muß die Investitionen sichern. Ich frage mich, was diese Formulierung bedeuten soll. Entweder fahren wir bei der Bundesbahn mit kostendeckenden Preisen, dann kann sie auch ihre Investitionen selber bezahlen. Oder wollen Sie bei kostendeckenden Preisen die notwendigen Investitionsraten draußen vorlassen? Dann wären das allerdings keine kostendeckenden Preise mehr.
Herr Bundesverkehrsminister, Sie haben heute morgen deutlich gemacht, wie schwer es ist, durch Tarifanpassungen und -erhöhungen zu kostendekkenden Preisen für die Bundesbahn zu kommen. Umgekehrt haben Sie, als Sie das Konzept für den Straßenbau der nächsten 15 Jahre vorlegten, erklärt, Sie hätten sich von jedem politischen Tauziehen ferngehalten, sich egoistischen Einzelwünschen widersetzt und legten nunmehr ein geschlossenes Konzept vor. Ich würde sagen, Herr Bundesverkehrsminister, haben Sie den Mut, außerhalb von Rezession und Hochkonjunktur einmal die politischen Gründe zur Vermeidung von Tariferhöhungen, die sonst eine Rolle spielen können, zu überspielen und der Bundesbahn zu ihrem gerechten Anteil zu verhelfen!
Es ist unbestreitbar, daß die Bundesbahn von sich aus und in sich selbst in den letzten Jahren vieles zu ihrer Rationalisierung und Modernisierung beigetragen hat. Mir scheint aber die Frage erlaubt zu sein, warum das erst so spät geschehen ist. Wir reden seit 13 Jahren und teilweise länger von einem kombinierten Verkehr. Mir ist bekannt, daß der Bundesbahn schon vor 13 Jahren technisch reife Lösungen vorgetragen wurden, um einen gemischten Verkehr zwischen Schiene und Straße, ähnlich dem, was wir heute im Container-Verkehr erleben, zu ermöglichen. Ich weiß nicht: war die Zeit noch nicht reif genug, oder wer hat die Bundesbahn daran gehindert, seinerzeit solche Pläne schon zu realisieren? Wenn diese Bundesbahn — und mit ihr die europäischen Eisenbahnen — sich früher diesen modernen Entwicklungen gestellt hätte, würde es ihr heute leichter fallen, sich im Rahmen des internationalen Konzerts, insbesondere im ContainerVerkehr, mehr den internationalen Normen anzupassen oder besser gesagt, die internationalen Normen den Wünschen der europäischen Eisenbahnverwaltungen anzupassen. Nachdem die Bundesbahn über viele Jahre den großen europäischen Pool des Paletten-Verkehrs aufgebaut hat, ist sie heute nicht in der Lage, die weltweit genormten Container für den Binnenverkehr anzuwenden, weil sie innen um lächerliche 3 cm zu schmal sind, um die Euro-Paletten in diese Container hineinzufahren. Hätte man diese Entwicklungen rechtzeitig auf sich zukommen sehen und wären sie auch von anderer Stelle stärker ge-
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Graaff
fördert worden, wäre der Einfluß der Bundesbahn und mit ihr der europäischen Bahnverwaltungen auf die internationalen Normen sicherlich größer gewesen, als es jetzt der Fall ist. Wir sehen doch, daß erst in den letzten Jahren unter einer veränderten verkehrspolitischen Konzeption die einzelnen Verkehrsträger mehr und mehr zusammengeführt werden. Jetzt erst ist es möglich, kombinierte Verkehre im großen Stil und damit auch für beiden Seiten der Teilnehmer des kombinierten Verkehrs rentabel zu gestalten, was über Jahre leider nicht gelungen ist.
Herr Kollege Dr. Jobst, Sie haben das Loblied auf die Bundesbahn gesungen und haben die Leistungen Ihres Managements und ihrer Bediensteten insbesondere für die Zeit, in der Herr Bundesverkehrsminister Leber im Amt ist, gewürdigt. Sollte das eigentlich bedeuten, daß die CDU/CSU einen Nachholbedarf hat, sich bei der Bundesbahn beliebt zu machen und sich ihr jetzt dankbar zuzuwenden?
Eine andere Formulierung allerdings, Herr Kollege Jobst, in Ihren Ausführungen habe ich nicht verstanden. Sie haben die Behauptung aufgestellt, daß die Tarifanhebungen in diesem Frühjahr die Finanzlage der Bundesbahn ungünstig beeinflußt hätten.
- Tarifanhebungen können ja nun Gott sei Dank
die Finanzlage nicht ungünstig beeinflussen. Sie hätten in der Vergangenheit, wenn sie früher gekommen wären, günstiger beeinflussen können; das wäre das einzige, was man dazu hätte sagen können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die Deutsche Bundesbahn viel früher als zum 1. Mai 1970 die Tarife anheben wollte, daß das aus politischen Gründen verweigert wurde und daß in dieser Verspätung auch eine ungünstige Beeinflussung des Wirtschaftsergebnisses der Bundesbahn zu suchen ist?
Herr Dr. Jobst, das mag möglich sein. Soll ich Ihnen vorrechnen, wieviel Tariferhöhungen der Bundesbahn Ihr Verkehrsminister früher jahrelang hat liegenlassen, weil er die Zustimmung seines Bundeswirtschaftsministers nicht bekam? Ich glaube, da haben Sie uns nichts vorzuwerfen.
— Aber Sie stellten den Verkehrsminister. Das ist ja wohl eindeutig, Herr Müller-Hermann.
— Meine Damen und Herren, Sie bringen mich damit nicht aus dem Konzept, wenn Sie mir jetzt glauben vorwerfen zu sollen, daß wir Sie hätten erpressen müssen, es anders zu machen, als Sie wollten.
Herr Dr. Jobst hat beklagt, daß die Pläne der Bundesbahn für einen Ausbau für die zukünftige Zeit
nicht beachtet wurden. Ich glaube, Herr Kollege Dr. Jobst, Sie haben nicht gehört, was der Herr Bundesverkehrsminister hier von den sehr groß angelegten Forschungsaufträgen gesagt hat, die die Eisenbahnperiode des einundzwanzigsten Jahrhunderts einläuten sollen. Man kann also schlechterdings nicht behaupten, daß diese Regierung und dieser Bundesverkehrsminister auf diesem Gebiet nichts getan hätten.
Ich kann nur, Herr Bundesverkehrsminister, für uns alle wünschen, daß die Entwicklung, die jetzt eingeleitet ist, sich fortsetzen wird und daß die Bundesbahn aus den Sorgen, die sie in der Vergangenheit gehabt hat, in zunehmendem Maße herauskommt.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmitt .
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! „Das war sein Tag — Leber-Day", so beginnt Werner Höfer seinen Artikel in der Zeitschrift „Die Zeit" vom 29. September 1967 unter der Überschrift „Mann vom Bau — Mann der Stunde".
Nun, das waren noch Zeiten, da war noch das Interesse des breiten Publikums für die Verkehrspolitik vorhanden.
Man muß sich heute fragen, weshalb sich das eigentlich geändert hat. Ich glaube: weil einige Parolen, einige Schlagzeilen von damals ad absurdum geführt worden sind und heute keiner mehr so recht dem traut, was von Regierungsseite her zur Verkehrspolitik gesagt wird. Das Aufatmen, das damals durch die deutsche Öffentlichkeit ging, faßt das „Hamburger Abendblatt" so zusammen:
Der Bundesverkehrsminister, der „starke Schorsch",
hat nicht gerade zimperlich in die Tasten gegriffen. Er hatte einschneidende Maßnahmen angekündigt, und er hat dieses Versprechen gehalten. Aber nicht nur dies: Lebers Menu enthält Zutaten, die es unweigerlich populär machen.
Ich habe den Auftrag, zu dem Thema Straßengüterverkehr zu sprechen. Wenn Sie einmal drei Jahre zurückdenken, werden Sie sich daran erinnern, daß das des Ministers liebstes Kind — sprich: Prügelknabe — war. Wir können hier natürlich heute keine Bilanz machen, ohne noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen, welches denn nun eigentlich die Ziele waren, welches die Mittel waren, was erreicht werden sollte, um dann schlicht und einfach zu fragen: Was ist erreicht worden? Denn daran muß der Erfolg oder der Mißerfolg der bisherigen Bemühungen doch wohl gemessen werden. Welchen anderen Sinn soll eine Bilanz sonst haben?
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Schmitt
Es hat damals aber auch kritische Stimmen gegeben. Sie wurden nicht nur innerhalb der CDU/CSU-Fraktion geäußert. Auch die FDP-Fraktion hat sich damals als Oppositionsfraktion sehr nachdrücklich zu Wort gemeldet. Für die kritischen Stimmen hier nur eine kurze Notiz aus der „Neuen Westfälischen" vom 5. Oktober 1967, wo es heißt:
Leber als geistiger Vater des Leber-Plans bekommt im übertragenen Sinne Wilhelm Buschs Vaterdevise zu spüren: Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.
In der Tat, meine Damen und Herren, an Sorgenkindern fehlt es dem Bundesverkehrsminister nicht. War es ihm 1967 möglich, die Bundespressekonferenz sozusagen weithin mit nichts in den Zustand der Euphorie zu versetzen, so verwendet er heute im Verkehrsbericht 1970 die Weitschweifigkeit als psychologisches Mittel, um den wahren Sachverhalt zu überspielen. Dagegen muß ich mich wehren.
Wenn Sie zurückdenken an den Leber-Plan, so heißt es da:
... im Güterverkehr eine in erster Linie
über die Kräfte des Marktes gesteuerte volkswirtschaftlich optimale Aufgabenteilung zu erreichen .. .
So weit, so gut. Dem haben wir damals zugestimmt, und dem stimmen wir auch heute zu. Dort heißt es weiter:
Die ... geschilderte Lage ... macht im Straßengüterfernverkehr die Anwendung nichtmarktkonformer Mittel ... erforderlich.
Hier vermisse ich im Verkehrsbericht 1970 vorne in der Bilanz, in der Gewinn- und Verlustrechnung, den Hinweis darauf, daß die Grundlagen bei der Erstellung des Leber-Plans ganz andere als heute waren. Wir hatten es damals mit nicht ausgelasteten Kapazitäten zu tun, während wir es heute mit Verkehrsträgern zu tun haben, die bis an den Rand der Leistungsfähigkeit beschäftigt sind. Daß natürlich eine völlig andere Lage zu neuen Ergebnissen führen muß, liegt auf der Hand. Es wäre einfach zweckmäßiger, und es wäre ehrlicher, das vorne in die Ziffern 1, 2 und 3 hineinzuschreiben, um dem geneigten Leser für die weitere Lektüre dieses Plans klarzumachen, wo es nun eigentlich hingehen muß.
Nun zur Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit, meine Damen und Herren. Es muß daran erinnert werden, daß die Aufrechterhaltung der Sicherheit auf unseren Straßen — das war eines der vordringlichen Ziele — durch nichtmarktkonforme Mittel eigentlich der Stein des Anstoßes, der Diskussionspunkt Nr. 1 hier im Hohen Hause war. Es heißt im Verkehrspolitischen Programm für die Jahre 1968 bis 1972, daß zur Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit auf den Straßen, der Wiederherstellung einer geordneten und gesunden Verkehrswirtschaft und damit auch der Verbesserung der wirtschaftlichen und finanziellen Situation der Deutschen Bundesbahn eine Transportverbotsliste und eine Straßengüterverkehrsteuer erforderlich
sind. Diese nichtmarktkonformen Mittel sollten für eine Übergangszeit eingesetzt werden, die erforderlich war, um der Deutschen Bundesbahn festen Boden unter die Füße zu geben, die Straßenverkehrssicherheit aufrechtzuerhalten, denn es ist an anderer Stelle die Rede davon, daß wir einem Chaos entgegensteuern. Wenn diese beiden Ziele erreicht sind, soll über die Kräfte des Marktes der optimale Zustand hergestellt werden.
Nun, meine Damen und Herren, das ist die Konzeption, danach haben wir uns zu richten, und daran haben wir die Ergebnisse von heute zu messen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Kollege Schmitt , angesichts des Versuches Ihrer Vergangenheitsbewältigung darf ich Sie fragen: War das eigentlich ein verkehrspolitisches Programm, das die CDU/CSU in der damaligen Regierung mitgetragen hat oder nicht?
Herr Kollege Fellermaier, auch dieser Punkt ist heute hier wiederholt angesprochen worden. Ich habe nicht umsonst eingangs einige Pressestimmen zitiert. In keiner einzigen Pressenotiz von den 72, die bei mir im Büro liegen, lesen Sie etwas vom Verkehrsprogramm der Großen Koalition, sondern dort lesen Sie nur vom Leber-Plan, von dem Plan des Ministers Leber. Unter dieser Marke läuft doch dieses Programm seit 1967. Und Sie wissen ganz genau, daß das, was hinterher geschehen ist, nicht ein Mittragen durch die Koalition war, sondern eine Modifizierung dieses Plans in verschiedenen Punkten, insbesondere in einem Punkt, wodurch im Jahre 1970 geradezu eine Katastrophe auf unserem Verkehrsmarkt verhindert wurde. Ich meine die Beseitigung der Verbotsliste.
Wenn Sie also von dem verkehrspolitischen Programm der Großen Koalition sprechen wollen, das Sie aber nicht fortsetzen, müssen Sie die nichtkonformen Maßnahmen herausnehmen; denn sie sind durch unsere Mitwirkung entfernt worden. Die Verbotsliste ist entfernt worden, und die Straßengüterverkehrsteuer ist auf zwei Jahre terminiert worden, nämlich auf den 31. Dezember 1970. Darüber werden wir noch in anderem Zusammenhang zu sprechen haben. Wenn wir also bei der Wahrheit bleiben wollen, Herr Kollege Fellermaier — ich sehe keine Veranlassung, weshalb wir zwei das nicht tun sollten — sollten wir die Verantwortung dort lassen, wo sie wahrheitsgemäß hingehört.
Meine Damen und Herren, wenn Sie nun die Bilanz des Bundesverkehrsministers betrachten, die er im Verkehrsbericht 1970 zieht, lesen Sie unter Ziffer 3:
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Schmitt
Die Zielrichtung des Programms und die Ausgewogenheit seiner Maßnahmen sind im Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Bundesrat nicht beeinträchtigt worden.
Das ist die Meinung, wie sie in dem Verkehrsbericht 1970 zum Ausdruck kommt. Sie lesen dann unter Ziffer 4:
Eine Zwischenbilanz bestätigt die Richtigkeit der Konzeption und die Zweckmäßigkeit des beschrittenen Weges.
Es heißt dann, die bisherigen Erfolge seien ermutigend. Und weiter:
Eine noch vor drei Jahren besorgniserregende Entwicklung in der Verkehrswirtschaft konnte aufgehalten ... und damit die Ausgangsbasis für eine längerfristige Neuordnung des Transportwesens geschaffen werden.
Die bisherigen Erfolge, soweit sie den Straßengüterverkehr betreffen, werden unter Ziffer 10 näher erläutert. Dort heißt es: Demnach hat sich auf Grund der Steuer der Werkfernverkehr nicht ausgeweitet; es wurde der Bundesbahn Hilfestellung gegeben; dem Güternahverkehr ist neues Frachtaufkommen zugewachsen; durch Novellierung des Güterkraftverkehrsgesetzes wurde die Kapazitätsregelung flexibler gestaltet.
Meine Damen und Herren, es würde zu weit führen, wenn ich eine exakte Quantifizierung der hier aufgeführten Erfolge vornehmen wollte. Aber glauben Sie mir: wenn Sie sich daranmachen, das zu quantifizieren, dann nähern Sie sich dem Werte Null. Ein bedeutender Fortschritt in diesen drei Punkten ist also nicht zu verzeichnen.
Was hätte aber in dieser Gewinn- und Verlustrechnung eigentlich an die erste Stelle gemußt? — Die Frage: Inwieweit haben wir die gesteckten Ziele erreicht, inwieweit ist es nämlich gelungen, die Straße vom Schwerlastverkehr zu entlasten, inwieweit ist es gelungen, die Deutsche Bundesbahn auf wirtschaftlich feste Füße zu stellen, und inwieweit ist es gelungen, resultierend aus der höheren Straßenverkehrssicherheit, die Zahl der Unfälle, insbesondere die Zahl der Verkehrstoten, zurückzudrängen? Das sind doch die Kriterien, an denen der Erfolg oder Mißerfolg dieser Maßnahmen zu messen ist.
Meine Damen und Herren, wie sieht nun diese Bilanz eines Mannes aus, der ein „ungebrochenens Verhältnis zur Wahrheit" hat?
Erstens. Eine Entlastung der Straßen vom Schwerlastverkehr hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil: die Konzessionen im gewerblichen Güterfernverkehr wurden um 1500 vermehrt.
Die Anzahl der Fahrzeuge im Werkfernverkehr hat sich vom 1. Juli 1968 bis zum 1. Juli 1970 um 3960 erhöht. Die Laderaumkapazität im Werkfernverkehr hat sich in der gleichen Zeit um 28 000 Tonnen erhöht. Wenn im Verkehrsbericht 1970 nun aber zu lesen ist, daß der Werkfernverkehr insgesamt zurückgegangen ist, wird mir der Herr Minister nachher noch sagen müssen, wie ich die Zahlen richtig lesen muß, damit ich mit ihm zu einer Übereinstimmung komme. Bisher kann ich sie nur so lesen, wie ich es getan habe.
Herr Kollege Schmitt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Bitte schön!
Herr Kollege Schmitt , habe ich Sie eben richtig verstanden, daß Sie, wenn auch umschrieben, gesagt haben, der Herr Bundesverkehrsminister habe ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit?
Nein, Herr Kollege Dr. Apel, das habe ich nicht gesagt. Ich habe ausdrücklich betont, daß ich mich darum bemühe, diesen Bericht zu analysieren, ihn so zu lesen, daß ich jederzeit vor mir selber sagen kann: ich habe persönlich ein ungebrochenes Verhältnis zur Wahrheit. Ich kann es einfach nicht hinnehmen, daß hier Interpretationen von Teilen dieses Berichts vorgenommen werden, die einer sachlichen Nachprüfung nicht standhalten.
Es ginge zu weit, jetzt hier einzelne Beispiele aufzuzählen, aber ich kann das gern nachliefern, wenn Sie es wünschen.
— Ich lasse mir meine Zeit hier nicht wegnehmen. Ich habe noch einiges zu sagen, was Ihnen wahrscheinlich unangenehm sein wird.
Meine Damen und Herren, das ist die Bilanz, soweit sie den Werkfernverkehr anbelangt. Falls Sie über die Straßenentlastung noch weiteres hören wollen: Durch Maßnahmen des verkehrspolitischen Programms wurde der Güterverkehr von der Schiene auf die Straße verlagert, nämlich bei der Neuregelung des Stückgutverkehrs bei der DB.
Ich möchte mich hier auch gar nicht auf Details darüber einlassen, wie es mit der Sanierung der Deutschen Bundesbahn aussieht. Für den Bürger, für den Steuerzahler ist es doch am interessantesten, zu wissen, wieviel öffentliche Mittel für dieses Unternehmen aufgewandt werden. Meine Damen und Herren, ich stehe auch nicht an zu sagen, daß ich das Wort „Defizit" im Zusammenhang mit der Deutschen Bundesbahn überhaupt nicht hören kann. Ich sehe bei diesem Unternehmen kein Defizit. Ein Unternehmen, das nicht imstande ist, seine Kosten in den Preisen weiterzugeben, kann beim besten Willen nicht als wirtschaftlich geführtes Unternehmen angesehen werden. Es ist einfach Unsinn, in diesem Zusammenhang von einem Defizit zu sprechen.
Wie hoch sind nun die Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln an die Deutsche Bundesbahn? Es ist
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Schmitt
eine Steigerung von 2,7 Milliarden DM im Jahre 1969 auf 3,3 Milliarden DM im Jahre 1970 zu verzeichnen. Für 1971 werden die Zuwendungen auf 3,9 Milliarden DM veranschlagt. Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß diese Zahl zu halten sein wird. Wir haben heute morgen den Ausführungen des Herrn Ministers entnehmen können, daß auf die Bundesbahn erhebliche neue Belastungen zukommen. Wir alle müssen uns Sorgen darum machen, wie es hier weitergehen soll. Wir werden nicht umhin kommen, uns alle mit diesem Problem zu beschäftigen, denn dieses Problem ist längst nicht mehr nur eine Angelegenheit der sogenannten Verkehrspolitiker. Es ist längst auch eine Angelegenheit der Haushaltsexperten des Finanzausschusses. Es ist ein Stück Gesellschaftspolitik und ein Stück Strukturpolitik. Diese Fragen können nicht mehr allein im Verkehrsausschuß behandelt werden. Wir werden bei der Beratung eine breitere Basis hier im Hause haben müssen.
Das unangenehmste Kapitel in dieser Bilanz sind die Verkehrsunfälle. Sie wissen, daß wir in diesem Jahre eine Höchstzahl zu verzeichnen haben werden. Die Zahl der Verkehrstoten wird wahrscheinlich 18 000 überschreiten. So sieht die Bilanz aus, meine Damen und Herren. Ich frage nicht danach, wer schuld hat. Das ist relativ uninteressant. Ich habe eingangs gesagt, daß sich die Voraussetzungen in ihr Gegenteil verkehrt haben. Diese Entwicklung war gar nicht abzusehen. Meine Damen und Herren, was ich aber an diesem Bericht zu kritisieren habe, ist erstens, daß die Ausgangslage nicht klar und deutlich dargestellt wird, so daß es unmöglich ist, zu vernünftigen Beschlüssen, die auf der wirklichen Lage basieren, zu kommen, und zum zweiten die Weitschweifigkeit. Der Bericht läßt die Dinge, beginnend bei Ziffer 1 über Ziffer 3 und Ziffer 21 bis hin zu Ziffer 38, erst allmählich erkennen, doch wohl in der Hoffnung, daß der geneigte Leser bei Ziffer 27 die Nase voll hat und das Lesen einstellt. Der Herausgeber dieses Schriftwerkes kann dann also damit rechnen, daß vieles überhaupt nicht mehr gelesen wird.
Aber ich sehe gerade, die rote Lampe brennt schon. Ich muß mich also viel kürzer fassen und alles andere weglassen.
— Herr Kollege Haehser, bitte schön, hier steht das Mikrophon; wenn Sie eine Zwischenfrage haben, benutzen Sie es. Die häßliche Bemerkung nehme ich nicht zur Kenntnis.
Nun müssen wir Abgeordneten uns doch die Frage vorlegen, was wir mit diesem Verkehrsbericht sollen.
Das war heute morgen nicht klar zu erkennen. Der Herr Minister hat hier einige für mich sehr unverständliche Ausführungen gemacht.
Er hat gesagt, wir müßten erst alle anfangen zu
denken, wir müßten darüber nachdenken, wie wir
umdenken können. Da habe ich mich gefragt: Ja,
wer hat denn bisher die Denkpause gemacht? Hat vielleicht der Herr Minister einen falschen Begriff von dem Wort Denkpause? Das heißt doch nicht, man soll das Denken einstellen, sondern es heißt, man soll gewisse andere Dinge einstellen, um intensiver nachzudenken. Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern, wir sind das ganze Jahr am Nachdenken. Ich weiß nicht, was die Aufforderung des Ministers soll.
Er sagte z. B. auch: Darüber hinaus müssen wir uns fragen und fragen lassen, ob es nicht besser ist, jedes Jahr nur 3 bis 4 % mehr für Nagellack und all die tausend Konsumgegenstände auszugeben und die 2 % anders auszugeben. Meine Damen und Herren, ist das vielleicht die neue Schlagzeile von morgen, etwa so: die dicken Brummer sind weg, jetzt kommt der Nagellack an die Reihe.
Meine Damen und Herren, wenn ich aber diese 2 % von dem Herrn Minister höre, habe ich noch im Ohr, was der Vorsitzende des Ausschusses, Herr Kollege Apel, auf der Tagung des Zentralverbands gesagt hat, nämlich: „Diese Bundesregierung hat sich darauf festgelegt, die Steuerlastquote bis 1973 nicht zu erhöhen. Das ist für uns ein politisches Datum, an dem es nichts zu rütteln gibt." Ja, meine Damen und Herren, worüber sollen wir nachdenken? Sollen wir etwa darüber nachdenken, ob der Herr Apel recht hat oder der Herr Minister Leber, ob es da doch noch etwas zu rütteln gibt?
Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, eine Diskussion herbeizuführen, so wie sie unter seriösen Leuten üblich ist. Ich kann Ihnen versichern, mit seriösen Leuten können wir auch über vieles sprechen. Aber ich kann Ihnen nur das eine sagen: wenn diese Bundesregierung mit ihrem Bundesverkehrsminister so fortfährt, wie sie es in diesem Bericht und wie sie es gemeinhin in der Vergangenheit getan hat, dann werden wir keinen Schritt weiterkommen. Denn diese Bundesregierung — das haben wir heute leider wieder erleben müssen — redet am liebsten über die Zukunft, versagt in der Gegenwart und rechtfertigt sich mit der Vergangenheit.
Das Wort hat der Abgeordnete Seefeld.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Schmitt aus Lockweiler hat soeben den Versuch unternommen, zu der Politik der Bundesregierung im Verkehrsbereich sehr kritische Anmerkungen zu machen. Er begann mit drei Punkten, auf die ich am Anfang gern zurückkommen möchte.
Zunächst haben Sie hier die Feststellung getroffen, die Bevölkerung habe kein Vertrauen zu dem, was von der Regierung im Verkehrsbereich komme. Dies weise ich ganz energisch zurück. Ich weiß nicht, ob Sie Ihre Meinung nur aus den drei Zeitungen beziehen, die Sie hier zitiert haben, Herr Kollege. Ich muß Ihnen sagen, fest steht ohne Zweifel, daß der Bundesverkehrsminister Leber zu den populären
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4569
Seefeld
Politikern in der Bundesregierung zählt, fest steht, daß der Bundesverkehrsminister mit seinem Verkehrspolitischen Programm sehr viel Zustimmung bei der Bevölkerung bekommen hat, und fest steht auch, daß von diesem Bundesverkehrsminister die Lösung der großen Verkehrsprobleme in Deutschland erwartet wird und, finde ich, nach dem, was wir bisher von ihm gesehen und gehört haben, auch erwartet werden kann. Das ist das erste.
Nun das zweite. Sie haben hier die Bemerkung gemacht, der Güterfernverkehr sei Herrn Lebers liebstes Kind, sprich: Prügelknabe gewesen. Nun, ich darf Ihnen sagen, Herr Leber hat kein liebstes Kind gehabt. Er hat, als er die Vaterschaft übernehmen mußte, nur liebe Kinder vorgefunden. Ich gebe zu, daß er das eine Kind sicher lieber gehabt hat als das andere. Das mag sein. Aber die Art und Weise, wie Herr Leber versucht hat, mit dem Güterfernverkehr zurechtzukommen, hat sich bewährt. Er war streng zu ihm, und Sie sehen, wie die strenge Erziehung genutzt hat. Heute besteht ein relativ gutes Verhältnis: Das Kind ist sehr brav und Herr Leber ist zufrieden.
Das dritte, was ich Ihnen sagen möchte: Herr Kollege Schmitt, Sie haben auf die Bundespressekonferenz 1967 abgehoben. Sie haben gesagt, daß Sie den Eindruck hatten, Herr Leber sei dort mit nichts hineingegangen. Ich sage Ihnen — auch wenn es zum wiederholten Male gesagt werden muß —: Dieser Plan wurde von den beiden großen Fraktionen dieses Hauses getragen. Zu diesem Plan — ich halte Sie alle für klug genug, das nicht zu bestreiten — haben Sie Ihre Zustimmung gegeben. Wie können Sie dann heute eigentlich sagen, daß Herr Leber damals mit nichts in eine Konferenz gegangen sei?! Was soll denn das? Sie werten sich doch selbst ab, wenn Sie heute sagen, damals sei nichts vorgetragen worden, und wenn Sie heute so tun, als hätten Sie daran keinen Anteil. Ganz im Gegenteil: Es gab nur wenige Anlässe — das werden Ihnen die Herren der Presse bestätigen —, bei denen auf Pressekonferenzen in Bonn die Journalisten in Beifall ausgebrochen sind, und das war auf dieser Pressekonferenz der Fall, Herr Schmitt. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß Sie offensichtlich einer Fehlinformation unterlegen sind.
Nun möchte ich zu den Fragen der Sicherheit im Straßenverkehr, zu Fragen der Verkehrserziehung und zu Fragen der Unfallrettung Stellung nehmen.
Ich las dieser Tage eine Betrachtung mit der Überschrift „Freizeitklau auf unseren Straßen". Darin wurde mit Recht, wie ich meine, darauf hingewiesen, daß es im Laufe der Zeit insbesondere durch die Bemühungen der deutschen Arbeiterbewegung gelungen sei, mehr und mehr Freizeit zu erreichen. Millionen von Arbeitnehmern haben mehr Freizeit als früher. Sie haben jetzt mehr Zeit für ihre Familien, sie haben mehr Zeit zur Erholung. Die schwer errungene Freizeit wird aber andererseits durch große Zeitverluste im Verkehrsgeschehen wieder eingeengt.
Diese Betrachtung ist sicherlich vor allem für diejenigen zutreffend, die zu den rund 14 Millionen
Besitzern eines Personenkraftwagens gehören und die mit ihren Familien vom Personenkraftwagen soviel wie möglich Gebrauch machen wollen. Die gewonnene Zeit geht aber auf dem Arbeitsweg, während des Wochenendausflugs und auch während der Urlaubszeit verloren. Es spielt heute zugegebenermaßen auch keine Rolle mehr, ob Sie auf einer Autobahn, einer Bundesfernstraße oder auf einer Landstraße unterwegs sind: die Verstopfungen sind allgegenwärtig.
Die im Verkehrsbericht der Bundesregierung genannten Zahlen weisen doch aus, daß inzwischen jeder vierte Einwohner der Bundesrepublik einen Pkw besitzt. Es wird erwartet, daß bis zum Jahre 1980 jeder Dritte seinen eigenen Wagen fahren wird. Zu den Personenkraftwagen, das wissen wir alle, kommen doch noch zahlreiche andere Kraftfahrzeuge hinzu. Kurzum: es steht fest — wie auch aus dem Verkehrsbericht hervorgeht —, daß im Jahre 1970 in der Bundesrepublik fast 17 Millionen Fahrzeuge registriert sind.
Mit der zunehmenden Zahl der Kraftfahrzeuge stieg leider auch die Zahl der Unfallopfer, und es stieg auch die Zahl der Verkehrstoten. Herr Kollege Schmitt, ich stimme mit Ihnen völlig überein, daß das für uns alle Veranlassung sein muß, uns ernsthafte Gedanken darüber zu machen, wie wir dieser Zahl zu Leibe rücken können.
Für uns alle, die wir doch die Verantwortung tragen, ergibt sich daraus die Frage: Haben wir denn tatsächlich alles getan, um zu verhindern, daß auch nur einer im Straßenverkehr umgekommen ist, den wir hätten retten können? Die Antwort — ich glaube, sie gilt für uns alle — kann doch eigentlich nur lauten: Wir haben nicht in genügendem Maße dafür gesorgt, daß den Unfallopfern auf unseren Straßen die Rettung zukommt, die wir eigentlich jedem zuteil werden lassen könnten. Das mag für uns alle eine harte Feststellung sein. Aber sie gilt für uns alle, und es kann sich niemand — weder das Parlament noch die Regierung noch die Bundesländer — dieser Kritik entziehen.
Ich weiß wie Sie alle, daß wir in der Bundesrepublik das Unfallrettungswesen bislang nicht einheitlich gestaltet haben und daß nicht der Bund, sondern die Länder für das Rettungswesen kompetent sind. Jedes einzelne Bundesland handelt seinen finanziellen Möglichkeiten und in manchen Fällen auch dem Druck, dem es ausgesetzt war, oder gar dem Interesse des jeweils zuständigen Beamten entsprechend.
Meine Damen und Herren, es ist wohl auch nicht notwendig, in dieser Debatte die Vorwürfe zu wiederholen, die in letzter Zeit aus weiten Kreisen der Bevölkerung, aus Verbänden, Organisationen und Institutionen gegen diese Uneinheitlichkeit im Unfallrettungswesen und wegen des Fehlens einer Koordination auf Bundesebene in so reichem Maße erhoben worden sind. Ich bin davon überzeugt, daß jede Kritik irgendwie berechtigt war und auch aus voller Verantwortung geübt wurde.
Ich möchte an dieser Stelle ganz besonders den Frauen und Männern danken, die in selbstlosem Einsatz Tag für Tag, Nach für Nacht und Wochen-
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Seefeld
ende für Wochenende auf unseren Straßen unterwegs sind, um dafür zu sorgen, daß die Zahl der Unfälle geringer und denjenigen, die in Unfälle verwickelt werden, auf allerschnellstem Wege geholfen wird. Ich meine damit sowohl die Polizeibeamten und die Feuerwehr als auch die Mitarbeiter in den verschiedenen Organisationen, wie z. B. in den einzelnen Automobilklubs. Vor allem meine ich natürlich die Arbeit der freiwilligen Hilfsorganisationen: das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter, die Malteser, die Arbeitersamariter und viele andere mehr. Ihnen allen möchte ich unseren ganz besonderen Dank für ihre aufopferungsvolle Tätigkeit aussprechen.
Meine Damen und Herren, der Verkehrsbericht der Bundesregierung sieht erfreulicherweise die Verbesserung der Unfallrettung vor, obgleich der Bundesminister für Verkehr hierfür eigentlich weniger zuständig ist als andere. Auch dafür ist ihm, glaube ich, zu danken; denn er übernimmt freiwillig eine Verantwortung und nimmt zusätzliche Vorwürfe der Öffentlichkeit in Kauf.
Wir begrüßen es sehr, daß nunmehr eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in Gang gekommen ist. Bei der Durchsicht der Absichten der einzelnen Bundesländer ist allerdings schon erkennbar, daß trotz dieser begonnenen engeren Zusammenarbeit unterschiedliche Praktiken bestehen. Ich bin der Meinung, daß einheitliche Regelungen gut und dringend nötig sind. Es wäre jedoch sicher noch besser, wenn sich die Bundesregierung dazu entschließen könnte, ein Rahmengesetz vorzulegen. Dieses müßte den Ländern klare Auflagen machen; denn der deutsche Autofahrer hat ein Recht auf Rettung in Notsituationen. Er hat kein Verständnis dafür, daß seine Überlebenschancen von der Finanzkraft und vom guten Willen einzelner Bundesländer abhängen.
In gleicher Weise begrüßen wir es, daß nunmehr, nachdem die Zuständigkeit für den Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen in einem Bundesministerium zusammengefaßt ist, die Rufnummer 110 als einheitliche Notrufnummer Wirklichkeit werden soll. Meine besondere Bitte an Sie, Herr Bundesminister, lautet: Sorgen Sie dafür, daß an den Bundesfernstraßen bald überall Notrufmöglichkeiten eingerichtet werden. Sie haben ja mit Ihren Modellversuchen, wie z. B. mit Funkrufsäulen und mit drahtgebundenen Unfallmeldern, schon Bahnbrechendes geleistet.
Bei dem Bemühen um die Sicherheit im Straßenverkehr und um einen reibungslosen Ablauf auf unseren Straßen muß unbedingt auch die Arbeit der deutschen Rundfunkanstalten genannt werden. Wir haben heute schon bei vielen Sendestationen einen guten Informationsdienst, der jedem Autofahrer Hinweise darüber gibt, wie die jeweilige Verkehrslage beschaffen ist. Wenn ich sage: jedem Autofahrer, muß ich natürlich einschränkend hinzufügen: jedem Autofahrer, der über ein Autoradio verfügt. Ich möchte zugleich die Forderung erheben,
daß in Deutschland eigentlich kein Auto mehr ohne Radio sein sollte.
Ich teile nämlich die Meinung derer, die sagen, daß die Unterrichtung der Autofahrer über Funk in den nächsten Jahren sicherlich ein wichtiges, ja, ein unentbehrliches Instrument der Verkehrslenkung sein wird.
Mein Appell von dieser Stelle aus geht deshalb dahin, daß erstens alle Autos in der Bundesrepublik mit Radios ausgestattet werden sollten und daß zweitens die Anschaffung von Autoradios steuerlich begünstigt werden müßte.
— Verehrter Herr Lemmrich, würden Sie bitte erst noch meinen nächsten Satz anhören. Ich wollte Sie nämlich darauf aufmerksam machen, daß der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Reischl, in der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 15. April 1970 angekündigt hat, daß entsprechende Überlegungen bei der kommenden Steuerreform angestellt würden. Ich hoffe, daß er das nicht nur gesagt hat, sondern auch tun wird.
Als drittes wollte ich noch hinzufügen, daß die Bundesregierung meiner Meinung nach im kommenden Jahr alle Möglichkeiten nutzen muß, um die Wellenlängen zu bekommen, die notwendig sind, um eine weitere Sendekette, die ausschließlich dem Autofahrer gewidmet sein soll und die von der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands getragen würde, installieren zu helfen.
Meine sehr verehrten Kollegen! Weitere Punkte zum Thema „Unfallrettung und Verkehrssicherheit", die ich natürlich für ebenso wichtig wie die eben genannten halte, sind ja im Verkehrsausschuß schon angesprochen worden und werden, wie aus dem Bericht hervorgeht, bereits teilweise realisiert. Darüber hinaus versprechen wir uns von dem für das nächste Jahr beabsichtigten Hearing zum Unfallrettungsdienst eine Fülle wertvoller Gedanken, die uns die Praktiker bestimmt auch geben werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin verletzt, mir fehlt ein Bein. Selbst gegen den möglichen Widerstand der für den Rettungsdienst Zuständigen muß der Sanitätsdienst der Bundeswehr, wie ich finde, voll in den Unfallrettungsdienst integriert werden. Wir können auf niemanden verzichten, der mit Hilfe leisten könnte. Vielleicht wird in diesem Zusammenhang auch bedacht, daß die Bundeswehr noch immer keinen Sanitätshub-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4571
Seefeld
schrauber besitzt. Auch das sollte man in einer solchen Debatte noch einmal mit anklingen lassen.
Eine Anmerkung möchte ich auch zum Kapitel Verkehrserziehung machen. Unbestritten ist, daß die Verkehrserziehung der Kinder im Elternhaus intensiviert werden muß. Hier ist sicher schon von dieser und von früheren Bundesregierungen gute Vorarbeit geleistet worden; davon zeugen auch die ständigen Verkehrsseminare für Schulerziehung. Ich wäre jedoch dankbar, wenn die Herren Kultusminister mancher Bundesländer die Durchführung der Verkehrserziehung in den Schulen nicht nur für notwendig erachteten, sondern sie auch mit Nachdruck realisierten. Ich weiß als Vater zweier schulpflichtiger Kinder aus eigener Erfahrung, daß das, was auf diesem Gebiet bislang in den Schulen geboten wird, meistens sehr dürftig ist und längst nicht ausreicht.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch eine Anregung an die Fernsehanstalten, die im übrigen gute Arbeit im Bereich der Information über richtiges Verkehrsverhalten leisten, noch mit aufgreifen. Sie sollten ihre Jugend- und Kindersendungen durch Verkehrserziehungsthemen erweitern. Dabei könnten beliebte Sendungen wie „Sandmännchen" und „Mainzelmännchen" eingeschaltet werden. Ich sage das, weil ich weiß, daß diese Sendungen für Kinder sehr lehrreich sein können und daß die Kinder von ihnen sicherlich manches annehmen.
Meine Damen und Herren! Ich habe mich mit einigen Problemen des Straßenverkehrs und besonders mit dem Rettungswesen befaßt. Mein letztes Wort soll aber an die Verkehrsteilnehmer selbst gerichtet sein. Der Gesetzgeber kann durch klare und unmißverständliche Gesetze Hilfestellungen für den reibungslosen Verkehrsablauf geben. Entscheidend für eine Verbesserung der Verkehrssituation auf unseren Straßen ist und bleibt jedoch die Einstellung eines jeden Verkehrsteilnehmers selbst. Hier wende ich mich vor allem an unsere jungen Menschen. Ich bitte sie: Lassen Sie sich nicht durch in der Öffentlichkeit immer wieder vorgeführte falsche Leitbilder beeinflussen! Seien Sie nicht der rasante, der sportliche, ja der hartgesottene Fahrer, sondern bemühen Sie sich, der ritterliche Teilnehmer am Straßenverkehr zu sein! Wenn dies in das Bewußtsein eines jeden einzelnen eingeht, wird es uns gelingen, die bedauerliche Zahl, die wir hier immer wieder hören müssen, kleiner zu machen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lemmrich. Für ihn sind 25 Minuten beantragt.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Bundesregierung ist mit dem Anspruch angetreten, die Regierung der Reformen zu sein,
und es wird daher jede Maßnahme unter dem Namen „Reform" verkauft. Die Einführung langfristiger
Straßenbaupläne im Jahre 1957 und die Sicherung der Finanzierung durch die Zweckbindung eines Teils der Mineralölsteuer stellt in der Tat eine echte Reform dar und ist ein wirklicher Fortschritt. Diese Reform wurde von einer Bundesregierung durchgeführt, die von der absoluten Mehrheit der CDU/CSU getragen wurde. Es ist sicher eine der bedeutendsten Leistungen des früheren Verkehrsministers Dr. Seebohm und seiner Mitarbeiter, langfristige Ausbaupläne in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt zu haben.
Die Amerikaner, die im Straßenbau in der Welt an der Spitze liegen, haben ein entsprechendes Gesetz, das „Federal Aid Highway Act", am 27. August 1958 in Kraft gesetzt.
Das Ausgeben der durch die Zweckbindung in ihrer Verwendung festgelegten Steuergelder — und damit befaßt sich der zweite Ausbauplan — kann nicht als eine Reform bezeichnet werden, sondern ist ein normaler, durch den vorher gesetzlich abgesteckten Rahmen ein ganz normaler Vorgang.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Haehser?
Herr Kollege Lemmrich, würden Sie mir die Frage beantworten, ob Ihnen bekannt ist, daß die 50 % Zweckbindung bis vor einem Jahr unter Ihren früheren Bundesregierungen noch nie erreicht worden sind?
Herr Kollege Haehser, wir hatten zuerst die Lösung, das gesamte Mineralölsteueraufkommen zweckzubinden, abzüglich eines Sockelbetrages von 600 Millionen DM. Aber auch Ihre Regierung hat noch heuer den Vorbehalt der mittelfristigen Finanzplanung, wo Beträge einbehalten worden sind, aufrechterhalten. Das muß der Wahrheit wegen einmal festgestellt werden, damit nicht durch Ihre Frage hier falsche Eindrücke entstehen.
Nur langfristige Ausbaupläne garantieren im Straßenbau optimale Leistungen, weil nur so der Einklang von Planung, Grunderwerb, Finanzierung und Bauausführung erreicht werden kann. Das hat sicherlich mit dazu beigetragen, daß die Bundesrepublik Deutschland schon vor vielen Jahren im Straßenbau nach den Vereinigten Staaten an die zweite Stelle in der Weltrangliste rückte.
Das Ziel des ersten Ausbauplan-Gesetzes vom 27. Juli 1957 waren 1990 km Autobahn. Bei steigenden Baukosten wurden 2240 km erreicht. Man muß gerechterweise feststellen, daß der Ausbau des Bundesstraßennetzes nur zu 70 % erfüllt werden konnte.
Wer den Zeitdruck im Straßenbau kennt, wer weiß, welche hohe Qualität gefordert wird, muß — und das möchte ich tun — an dieser Stelle den Männern in der Planung, in der Straßenbauverwaltung und insbesondere auf den Baustellen ein Wort der Anerkennung für die bemerkenswerten Leistungen sagen, die ihnen oft große persönliche Opfer ab-
4572 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Lemmrich
verlangten. Ich möchte das hier namens meiner Freunde — und ich bin sicher, wohl auch des ganzen Hauses — tun.
Die Bedeutung des Straßenbaus ist unbestritten, zumindest was die Reden betrifft, die in diesem Hohen Hause gehalten worden sind. Doch ist immer öfter zu hören, daß das Problem nicht in absehbarer Zeit gelöst werden könne und daß man daher die Priorität dieser Aufgabe zugunsten anderer abbauen könne. Ich muß fragen: Können wir das wirklich, wenn wir die ganzen Probleme soziologischer, wohnungs-, siedlungs-, wirtschafts- und strukturpolitischer Art sehen?
In den früheren Jahren hat bei Debatten über Straßenbau die Zahl der Verkehrstoten immer eine große Rolle gespielt. Die Kollegen der SPD haben keine Debatte vorbeigehen lassen, ohne dem damaligen Bundesminister für Verkehr die Schuld dafür anzulasten; sie erklärten, er sei dafür verantwortlich, weil die Straßen noch nicht ausreichend seien. Herr Kollege Matthes, ich habe das selbst oft genug hier gehört. Ich gehöre diesem Hohen Hause seit nunmehr neun Jahren an. — Herr Minister Leber hatte sich damals mit diesem Sachbereich nicht zu befassen. Aber Herr Kollege Börner gehört sicherlich zu jenen, die das hier geäußert haben.
Jetzt heißt es dagegen im Verkehrsbericht auf Seite 83 schlicht und lapidar:
Auf Grund eingehender Untersuchungen steht fest, daß weitaus die meisten Verkehrsunfälle auf menschlichem Versagen beruhen; . . .
Jetzt, wo die Herren der SPD in der Verantwortung sind, müssen sie sich korrigieren. Nun, wir erleben ja laufend, daß sich die SPD als führende Regierungspartei korrigieren muß und sich vieles von dem, was sie früher lauthals verkündet hat, heute als taube Nüsse erweist.
In der Tat muß festgestellt werden, daß durch den Ausbau der Straßen größere Verkehrssicherheit erreicht wird. Aber diese wird sofort wieder abgebaut, indem die Autofahrer die Fahrgeschwindigkeiten erhöhen. Der Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages hat dem Herrn Bundesminister für Verkehr zwar einstimmig empfohlen, auf Straßen mit Gegenverkehr eine Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen, und zwar in einer vernünftigen dem PKW-Fahrer zumutbaren Höhe. Aber der Herr Bundesverkehrsminister Leber hat diesen Vorschlag für die neue Straßenverkehrsordnung nicht akzeptiert, weil dann ein paar Wermutstropfen in die neue Straßenverkehrsordnung fallen würden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Lemmrich, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß dies nicht die genaue Wiedergabe des Ergebnisses unserer Aussprache ist, sondern die genaue Wiedergabe die ist, daß Herr Minister Leber dieses Problem weiterhin ernsthaft prüft, aber uns und auch sich selbst vor
voreiligen Schlußfolgerungen in dieser Frage bewahren will?
Herr Dr. Apel, ich habe gesagt, daß er unseren Vorschlag im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Straßenverkehrsordnung nicht akzeptiert hat; in diesem Zusammenhang ist der Vorschlag gemacht worden.
— Lassen Sie mich das bitte einmal zu Ende führen. Ich stehe sonst gern für Fragen zur Verfügung; das wissen Sie sehr genau.
Diese Überlegungen sind natürlich nicht sehr populär; das ist völlig klar. Doch steht diese Frage ja schon sehr lange im Raum. Wenn jetzt erst mit der Prüfung im Bundesverkehrsministerium angefangen wird, ist das ein bißchen spät, nachdem der Bundesminister für Verkehr dieses Amt nun schon vier Jahre inne hat.
Aber es steht eines fest: man gewinnt immer mehr den Eindruck, daß Herr Bundesminister Leber sich zwar sehr mutig gibt, es aber augenscheinlich nicht ist; er tut nur immer so.
Etwas ähnliches gilt für den Alkoholmißbrauch im Straßenverkehr. Als ich den Minister in der Verkehrsausschußsitzung am 4. Dezember 1969 in Berlin auf dieses Problem mit Ernst ansprach, erklärte er, er werde keine Vorlage einbringen; „laßt unsere Bundesbürger trinken". Er hat das etwas volkstümlicher gesagt, so volkstümlich, Herr Minister, wie vielleicht vorhin mein Attribut in dem Satz war, als ich über die Eisenbahn sprach und einfach sagen mußte: wenn Sie das genau kennen, können Sie nicht so daherreden. Es war ein etwas bayerischer Ausdruck, den ich dabei noch gebraucht habe. Es lag mir fern, Sie damit persönlich beleidigen zu wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Bitte sehr, Herr Dr. Apel!
Herr Kollege Lemmrich, sind Sie bereit, mir zuzustimmen, wenn ich sage, daß in dieser Sitzung des Verkehrsausschusses, die ich ja geleitet habe, Herr Minister Leber sich sehr positiv gezeigt hat, aber auch deutlich gemacht hat, daß er nicht noch einmal in die Messer dieses Hauses laufen möchte? Denn in diesem Hause, sowohl in Ihrer Fraktion — ich will hier niemanden scharf angucken; da sitzt ja einer — als auch in meiner Fraktion, sind doch diejenigen gewesen, die die 0,8-Promille-Grenze kaputtgemacht haben. Es ist doch wohl das Recht des Ministers, offene Messer zu vermeiden. Ich finde es gut, daß Sie jetzt eine klare Aussage dazu machen. Ich habe auch eine gemacht.
Herr Dr. Apel, das Problem als solches bedarf natürlich immer wieder er-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4573
Lemmrich
neuter Versuche, wenn man beim ersten Mal nicht durchkommt. Was im Detail dazu zu sagen ist, wird Herr Kollege Erhard vorbringen. Sie wissen, daß gewisse Rechtsprobleme damit verbunden sind. Aber die Bedeutung dieses Sachverhalts nimmt meine Fraktion sehr ernst. Da kann man mit solch einer Redewendung, wie sie Herr Minister Leber gebraucht hat, die Sache nicht vom Tisch bringen. Sie haben ja hier im Hause mit der FDP die Mehrheit, sie mag so schmal sein, wie sie will. Ihr Fraktionsvorsitzender Wehner erinnert uns ja laufend daran. Warum machen sie dann von Ihrer Mehrheit bei dieser Gelegenheit nicht Gebrauch?
Vor einem knappen Jahr hat Herr Minister Leber sich jedenfalls in Berlin noch so geäußert. .Jetzt schreibt er in den Verkehrsbericht hinein:
Im Jahre 1969 stand etwa jeder vierte Unfall mit Todesfolge im Zusammenhang mit einer Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit durch Alkohol.
Dann muß ich den Herrn Minister fragen, ob er das eigentlich noch nicht vor einem Jahr gewußt hat. Aber wir haben ja inzwischen festgestellt, daß Weitsicht nicht zu den Stärken dieser Bundesregierung gehört.
Meine verehrten Damen und Herren, der zweite Ausbauplan für die Bundesfernstraßen für die Jahre 1971 bis 1985 ist, so wird dargelegt, mit wissenschaftlichen Methoden ermittelt worden. Diese wissenschaftlichen Methoden haben jedoch ihre Grenzen. Viele Faktoren sind bestimmend, und die Veränderung eines Faktors bringt schon ein anderes Ergebnis. Im Zusammenhang mit der Frage der Entfernungsfunktion steht in der entsprechenden Darlegung z. B., daß alle Straßen in die erste Dringlichkeitsstufe kommen, bei denen die jetzige Straßenentfernung doppelt so groß ist wie die Luftlinienentfernung. Dabei muß man natürlich fragen, warum man nicht von 80 Prozent oder 70 Prozent ausgeht. Es ist sichtbar, daß man hier einfach Zahlen gegriffen hat, wohl auch greifen mußte. Ich möchte jedoch feststellen, daß diese Methode ein begrüßenswerter Schritt ist.
Grundlage des Ausbauplans soll der Bedarfsplan sein. In diesem Bedarfsplan ist der Straßenbedarf enthalten, der gedeckt werden muß, um den im Jahre 1990 erwarteten Verkehr voll aufnehmen zukönnen.
Ich sagte schon: die angewandten Methoden sind ein begrüßenswerter Versuch, und es scheint unerläßlich zu sein, daß die Soll-Ergebnisse mit den IstErgebnissen sorgfältig verglichen werden und daß darüber im Verkehrsausschuß auch berichtet wird. Es werden so viele Prognosen erstellt, und nie wird gefragt: Was ist daraus geworden? Es ist wichtig zu wissen, ob diese Prognosen eintreffen. Nur so kann man Erfahrungen sammeln.
Die Bedarfsermittlung für den Straßenraum wird wesentlich durch die Bestandsaufnahme des bestehenden Fernstraßennetzes bestimmt. Die 1968 erlassenen Richtlinien des Bundesministers für Verkehr für diese Ermittlungen geben einen außergewöhnlich großen Ermessensspielraum und zeigen damit die Grenzen der wissenschaftlichen Ermittlung auf. In diesen Richtlinien heißt es u. a. - Sie können es nachlesen; es steht auf Seite 5 —:
Den Möglichkeiten, Straßen zu bewerten, sind Grenzen gesetzt. Ursache und Wirkung in den Wechselbeziehungen zwischen Straße und Verkehr lassen sich nur unvollkommen erfassen. Außerdem muß der Arbeitsaufwand für eine Bewertung von Straßen in einem vertretbaren Rahmen bleiben. Diese Richtlinien enthalten also Bewertungsmethoden, deren Genauigkeit nicht zu hoch zu veranschlagen ist.
Das muß man wissen, wenn man über die Wissenschaftlichkeit der Ermittlungen spricht.
Der Bedarfsplan soll durch den Ausbauplan rechtlich verbindlich gemacht werden. Wir müssen aber festhalten, daß der Bedarfsplan dringend einer Überprüfung im Ausschuß bedarf, weil er nämlich einige Strecken enthält, wo die eingezeichneten Sachverhalte nicht zutreffen. Es handelt sich insbesondere um diejenigen, die als im Bau befindlich bezeichnet sind. Die B 14 Nürnberg—Lauf—Altensittenbach z. B. wird in absehbarer Zeit nicht in Bau kommen. So gibt es eine ganze Reihe von Strecken, die als im Bau befindlich aufgeführt sind, aber in absehbarer Zeit aus finanziellen Gründen nicht in Bau genommen werden können.
Ein Überblick über den ersten Fünfjahresplan —soweit wir ihn haben können — macht auch deutlich, daß die Beseitigung von Engpässen — insbesondere Ortsdurchfahrten und Eisenbahnkreuzungen — einen etwas schwachen Punkt darstellt. Der Ausbauplan soll in den Gesamtverkehrswegeplan harmonisch eingegliedert werden. Das Ganze ist aber nicht nur die Summe seiner Teile, sondern eben mehr. Deswegen ist es notwendig, daß das vom Herrn Minister Leber 1967 angekündigte Gesamtverkehrswegeprogramm endlich einmal auf den Tisch kommt, statt dessen lesen wir jetzt im Verkehrsbericht, daß man erst einmal — nach drei Jahren — die Daten ermitteln muß. Da ist Fehlanzeige. Wir haben schon oft daran erinnert: man soll eben nicht Hoffnungen erwecken, die am Ende nicht erfüllt werden.
Ein entscheidendes Problem des ganzen Straßenbaues stellen die Kosten dieses Bedarfsplanes dar, die in der Regierungsvorlage mit 125 Milliarden DM angegeben sind. Nach neuen Berechnungen, in denen die Preissteigerungen berücksichtigt sind, kostet dieser Bedarfsplan an Investitionsmitteln 147 Milliarden DM. Es ist also kein Programm für 15 Jahre, sondern für 25 Jahre, das wahrscheinlich bis zum Jahr 2000 heranreichen wird.
Es dürfte heute schon gewiß sein, daß nur die erste
Dringlichkeit und die im Bau befindlichen Strecken
in den nächsten 15 Jahren realisiert werden können.
Da sind wir natürlich bei den Problemen, die heute schon eine große Rolle gespielt haben: bei der Frage der Finanzierung. Nach neueren Schätzungen
4574 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Lemmrich
wird in den nächsten 15 Jahren voraussichtlich nicht mit 93 Milliarden, sondern mit 99 Milliarden DM zweckgebundenes Mineralölsteueraufkommen zu rechnen sein. Der Straßenunterhalt wird rund 29 Milliarden DM beanspruchen; seine Kosten werden ja immer höher. Folglich werden 70 Milliarden DM für Investitionen zur Verfügung stehen — gegenüber dem Bedarf von 147 Milliarden DM —, das ist eine Deckung von 48 °/o. Ich weiß sehr wohl, daß niemand diese Lücke von 77 Milliarden DM wird schließen können, trotz Mineralölsteuererhöhung oder Erweiterung der Zweckbindung. Das sollte man in aller Nüchternheit erkennen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Wir sorgen für freie Fahrt — mehr Straßen, mehr Sicherheit".
Über die Sicherheit ist hier schon gesprochen worden und, Herr Kollege Fellermaier, über die Ergebnisse in diesem Jahr. Schade um die Steuergelder unserer Mitbürger, die auf solche sinnlose Weise verpulvert werden.
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat uns vor der Bundestagswahl mit dieser reizenden Broschüre beglückt, die Sie alle noch kennen — hier! —, wo er den Eindruck erweckt
- ja, Sie hören es gleich, Herr Wendt, lesen Sie es erst noch einmal durch! —, wo er den Eindruck erweckt, bis zum Jahre 1985 sei der Zustand erreicht — da heißt es dann wörtlich —: „85 % der Bevölkerung wohnen bis zur Autobahn nur noch höchstens 10 km entfernt."
Dieser Eindruck ist hier erweckt worden. Das ist das Erwecken unbegründeter Hoffnungen. Das bringt die Dinge nicht weiter, weil natürlich der Bürger dann sagen muß: „Wenn das eh so ist, was sollen wir mehr zahlen, wozu denn eigentlich?"
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im ersten Fünfjahresplan, der ab 1971 in Kraft tritt, ist der 7 km lange Ausbau der Umgehung Neuburg/Zell mit einem Kostenaufwand von 8 Millionen DM eingeplant. Für die Ortsumgehung Weichering werden 6 Millionen bereitgestellt. Bei all diesen Projekten handelt es sich um Maßnahmen, deren Finanzierung bereits gesichert ist.
So weit vor der Bundestagswahl. Nach der Wahl
hatte ich die hohe Ehre, vom Herrn Bundesminister
einen Brief zu bekommen, in dem es dann — am 10. August 1970 — hieß — —
— Es ist nur eines der Beispiele, und deren gibt es viele. Es ist nur symptomatisch für die falschen Hoffnungen, die der jetzige Bundesminister für Verkehr erweckt hat. Um das geht es.
— Herr Fellermaier, daß Ihnen das auf die Nerven geht, weiß ich doch, aber hören Sie ruhig zu! In dem Brief heißt es:
Die Projektlisten zum ersten Fünfjahresplan zeigen indessen, daß nach inzwischen eingetretenen Teuerungen im Straßenbau das Finanzvolumen nach dem neuesten Stand der Überlegungen nicht ausreichen wird, den Neubau der Umgehung Zell/Neuburg und Weichering schon jetzt in den ersten Fünfjahresplan aufzunehmen.
Und so geht es weiter.
Selbst im Verkehrsbericht werden Strecken aufgeführt und der Eindruck erweckt, es würden fertiggestellt München—Penzberg—Kempten—Lindau, und drinstehen 23,4 % der Mittel. Das ist kein guter Weg. So werden wir die Bürger nicht überzeugen, daß es notwendig ist, erhöhte Beiträge zur Verfügung zu stellen.
In der Frage der zusätzlichen Finanzquellen muß ich feststellen, daß es in der Regierung Widersprüche gibt. Einmal wird gesagt, Haushaltsmittel kämen nicht in Frage. Seit Jahren hat die Fraktion der SPD die Ausweitung der Zweckbindung bzw. eine hundertprozentige Zweckbindung gefordert, von Herrn Bundeskanzler Brandt angefangen über den früheren Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt, um nur einige zu nennen. Ich frage Sie, meine verehrten Herren von der SPD: Wo bleiben denn jetzt Ihre Redensarten?
Jetzt haben Sie doch die Chance, das zu verwirklichen, was Sie jahrelang draußen gefordert haben. Sonst müssen Sie sich gefallen lassen, daß Sie als unglaubwürdige Leute hingestellt werden.
— Wir haben diese Forderung nie erhoben, Herr Schäfer, weil wir die Zusammenhänge kennen. Lesen Sie einmal die Protokolle über diese Dinge etwas näher nach, dann können Sie sich jetzt das Weitere hier ersparen.
Nun zur Erhöhung der Mineralölsteuer, die uns der Herr Bundesverkehrsminister so warm ans Herz gelegt hat. Wir wissen natürlich, was das an zusätzlichen Mitteln bringt. Das ist zum Überlegen, zum Nachdenken angebracht. Wir fragen aber: was will diese Regierung nun eigentlich? Will sie die Mineralölsteuer erhöhen, oder gilt die Regierungs-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4575
Lemmrich
erklärung vom 28. Oktober, in der der Herr Bundeskanzler Brandt erklärt hat:
Bei einer rationellen Bewirtschaftung und bei Verwendung moderner, kostensparender Methoden können die öffentlichen Haushalte die in den nächsten Jahren entstehenden Finanzierungsaufgaben erfüllen, ohne daß die Steuerlastquote des Jahres 1969 erhöht wird.
Was gilt nun? Waren Sie so kurzsichtig, haben Sie das damals noch nicht erkannt? Wie gesagt, Weitblick ist wirklich nicht die Stärke dieser Regierung.
Der Autofahrer soll über die Mineralölsteuer zur Kasse gebeten werden. Eine kräftige Erhöhung der Versicherungsprämien steht ihm auch bevor. Wenn wir über diese Dinge diskutieren, dann müssen tatsächlich alle möglichen Vorschläge einbezogen werden. Im Hinblick auf weiter steigende Mineralölsteuereinnahmen soll auch der Anteil der Zweckbindung in die Überprüfung dieses Fragenkomplexes einbezogen werden.
Herr Minister Leber hat heute morgen erklärt, er wolle alle befragen, er wolle mit uns die Diskussion. Wir hätten uns sehr gefreut, Herr Minister, wenn Sie dieses Angebot nicht erst heute machten, sondern unser Angebot im Jahre 1967, mit Ihnen die neue Verkehrspolitik zu diskutieren, akzeptiert hätten. Aber da haben Sie uns die Tür gewiesen und haben dann ohne Abklärung mit uns das Programm vorgelegt.
— Es ist genauso gewesen, Herr Fellermaier. Sie kennen sich leider nicht aus, sonst könnten Sie sich jetzt nicht darüber aufregen. Sie haben uns diese Möglichkeit nicht gegeben, Herr Minister. Sie und wir hätten uns in den Koalitionsgesprächen viel kostbare Zeit ersparen können, wenn Sie damals diese jetzt von Ihnen vorgeschlagene Methode praktiziert hätten. Deswegen sind wir heute natürlich ernsthaft dabei, zu fragen: Was soll das denn? Nun, meine verehrten Damen und Herren, bei der Ostpolitik sind Sie ja auch nicht gerade sehr kooperationsbereit gewesen. Der Herr Fraktionsführer der SPD, Herr Wehner, hat uns hier doch hohnlachend gesagt, Sie hätten die Mehrheit und Sie würden das alleine machen.
Ich würde sagen, dann wollen wir einmal hören, was Sie bei der Straßenbaufinanzierung konkret vorzuschlagen haben.
Herr Kollege Lemmrich, da wir bei der Straßenverkehrsdebatte sind, haben Sie sicher bemerkt, daß das Licht von grün auf rot gegangen ist.
Gnädige Frau, ich werde umgehend zum Ende kommen.
Meine verehrten Damen und Herren, ich hätte gerne noch einiges zu den Preissteigerungen gesagt
und festgestellt, daß die Hoffnungen auf Preissenkungen nicht sehr real sind, weil die Dinge einfach entscheidend kostenbedingt sind. Es wäre ein Fortschritt. wenn die Stabilisierung der Preise im Straßenbau gelänge.
Meine verehrten Damen und Herren, zu Einzelheiten des Ausbauplans werden wir im Ausschuß noch sprechen. Ich meine aber, daß es notwendig ist, den Einfluß des Parlaments auf die Straßenbaupolitik in einem höheren Maße sicherzustellen, als es bisher der Fall ist. Im Interesse der Öffentlichkeit und des Straßenbaus sollten ungeschminkte Jahresberichte vorgelegt werden, damit die Bedeutung und die Dringlichkeit dieses Problems allen Bürgern immer wieder sichtbar gemacht wird. Wir stehen der Beratung im Ausschuß positiv mit konkreten Vorschlägen gegenüber.
Meine verehrten Damen und Herren! Pläne sind sehr wichtig, langfristige auch. Pläne bleiben aber nur Papier, so lange nicht gesagt wird, wie sie verwirklicht werden sollen. Papier und Drucksachen haben wir von dieser Regierung schon eine Menge bekommen; damit sind wir langsam eingedeckt. Wir wollen nicht falsche Hoffnungen und Erwartungen hören, sondern die ungeschminkte Wirklichkeit, und wir wollen Taten sehen und nicht Papier.
Das Wort hat Herr Bundesminister Leber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wollte mich nicht in die Sachdebatte einschalten, weil ich gern zuhören möchte, aber soeben ist hier ein Vorwurf erhoben worden, der von mir nicht hingenommen werden kann, weil ich diese Sache hoch einschätze. Ich habe bisher immer und mit jedermann Zusammenarbeit gesucht, aber soeben ist hier gesagt worden, ich hätte im Jahre 1967 der CDU die Tür gewiesen.
Ich nehme diesen Vorwurf hier im Parlament sehr ernst. Ich höre ihn hier im Parlament zum erstenmal, Herr Kollege Lemmrich. Ich habe das anderswo schon öfters gehört und habe das hinuntergeschluckt. Jetzt haben Sie diesen Vorwurf vor diesem Hohen Hause erhoben. Ich sage Ihnen jetzt zu Protokoll des Hohen Hauses, wie das damals war.
Das Verkehrspolitische Programm ist in meinem Hause erarbeitet worden. Ich war stolz darauf, daß diese Arbeit, die über Monate ging und von der die Presse wußte: die sind dabei, das garzukochen, hinter verschlossenen Türen entwickelt werden konnte. Dies spricht dafür, daß dieses Haus auch etwas für sich behalten konnte.
Ich bin dann als verantwortlicher Minister den Weg gegangen, der sich gehört: Der erste, den ich
4576 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Bundesminister Leber
über das Ergebnis dieser Arbeit unterrichtet habe, war der damalige Bundeskanzler,
ihr Parteifreund Kurt Georg Kiesinger, dem ich im Bundeskanzleramt im Anschluß an ein Mittagessen das gesamte Programm entwickelt habe. Ich habe zwei Exemplare dieses Programms auf dem Tisch liegen gehabt und damals zu Herrn Bundeskanzler Kiesinger gesagt: Ich lasse Ihnen ein Exemplar hier und möchte von Ihnen wissen, wem in der CDU ich das andere geben soll.
Darauf hat mir Herr Kiesinger, der damals Bundeskanzler war, folgendes gesagt: Nehmen Sie sie bitte beide wieder mit nach Hause und schließen Sie sie ein; ich bewundere Ihr Haus, daß dort über Monate so etwas dichtgehalten werden kann; ich möchte hier kein Exemplar haben; wenn ich mein Programm in das Kanzleramt gebe — dort kann ich niemandem trauen —, dann ist es morgen unter den Leuten; ich müßte es höchstens privat einschließen. — Dies war mein Eindruck vom Vertrauensverhältnis des damaligen Kanzlers zu seinem Kanzleramt.
Ich sage das hier. Ich weiß, das wird alles mitstenographiert.
— Ja, was Herr Kiesinger dazu sagte, finde ich auch interessant. Wenn mich Herr Lemmrich jetzt hier nicht herausgefordert hätte, hätte ich das vielleicht noch zwanzig Jahre für mich behalten. Herr Lemmrich hat aber hier behauptet, ich hätte der CDU die Tür gewiesen. Darauf komme ich jetzt zu sprechen.
Ich habe dann Herrn Kiesinger gefragt: Wie sollen wir es mit der CDU halten? Darauf sagte Herr Kiesinger zu mir: Ich bitte Sie darum, geben Sie denen zunächst noch nichts; da ist keiner, der das Wasser halten kann; dann ist es morgen draußen.
Zu einer direkten Erwiderung Herr Abgeordneter Lemmrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem fertigen Programm mag es sein, wie es will. Das ist von zweitrangiger Bedeutung. Der Kollege Müller-Hermann hat im Einvernehmen mit den Verkehrspolitikern meiner Fraktion in einem klaren und eindeutigen Brief Herrn Minister Leber gebeten, uns mit ihm über die künftigen Entwicklungen und Pläne unterhalten zu können, uns informieren zu können, um zu einer gemeinsamen Plattform zu kommen. Das hat Minister Leber nicht akzeptiert.
— Hören Sie doch auf! Wenn Sie Minister Leber jetzt genau zugehört hätten, hätten Sie diesen Zwischenruf gar nicht gemacht. Herr Minister Leber hat dem früheren Bundeskanzler Kiesinger das fertige Programm auf den Tisch gelegt. Das hat er hier gesagt. Man muß genau hinhören und genau differenzieren. Darum geht es. Heute werden wir eingeladen; damals hat er das Gespräch mit uns bewußt abgelehnt.
Ich möchte es nochmals sagen: schade, Herr Minister, um Ihre und unsere Zeit, die wir in mehr als zwölf Koalitionsgesprächen verbrachten, um auf die Linie zu kommen, die dann hier im Bundestag die Mehrheit gefunden hat. Das hätten wir uns sparen können, wenn Sie diese Kooperationsbereitschaft, die Sie heute bekunden, da es um eine Sache geht, die sicherlich nicht sehr populär ist, damals auch bekundet hätten. So viel, Herr Minister, zum Sachverhalt und zur Richtigstellung.
Das Wort hat der Abgeordnete Wende.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann sehr gut verstehen, warum es dem Herrn Kollegen Lemmrich jetzt noch einmal vom Stuhl gerissen hat, warum er hier noch einmal auf das Podium gekommen ist. Mir ist bei Ihren Ausführungen auch aufgefallen, daß sich Ihnen alles das, was zurückliegt, im Blick nach hinten offenbar in der rosigsten Weise dartut
— deshalb waren Sie ja so erstaunt darüber, daß es auch andere Aspekte gibt —, während alles, was die Zukunft anbetrifft, was nach vorn gerichtet ist
— darüber debattieren wir ja heute; darum geht es ja in diesem Ausbauplan —,
in Ihren Augen äußerst düster erscheint und madig gemacht wird. Sie kommen dann mit vielen Zahlen, die Sie anzweifeln. Sie kommen dann mit dem Zweifel, daß die ganze Basis dieses Plans, weil sie ja wissenschaftlich erarbeitet sei, möglicherweise falsch sei. Ich glaube, wenn man das so sieht, muß man wirklich sehr enttäuscht
über das Ergebnis des wirklich ernst gemeinten Appells sein, den der Herr Bundesverkehrsminister heute ja doch nicht nur an die Fraktionen, die die Regierungskoalition bilden, sondern an das ganze Haus und darüber hinaus an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet hat. Der Herr Minister hat doch in außerordentlich maßvollen Worten und ganz ungeschminkt — Herr Kollege Lemmrich, Sie haben hier beklagt, daß dies nicht geschehen sei — die Tat-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4577
Wende
sachen herausgestellt und die Bevölkerung unseres Landes aufgefordert,
die Notwendigkeit zu erkennen, daß man, wenn man gute Straßen haben will — und wer will keine guten Straßen haben? , auch etwas tun muß und daß jeder einzelne dazu aufgerufen ist. Es ist bedauerlich, daß Sie sich dazu nicht aufgerufen gefühlt haben.
Herr Kollege Lemmrich, Sie haben ferner gleichsam als leuchtendes Beispiel für übersichtliches Planen in der Verkehrspolitik den ersten Ausbauplan für die Bundesfernstraßen hingestellt. Dieser Plan ist Ihnen offenbar noch außerordentlich gut in Erinnerung. Ich vermag allerdings nicht einzusehen, warum; denn das Ergebnis dieses ersten Ausbauplanes ist ja sehr dürftig. Wir haben jetzt doch zunächst eine Bestandsaufnahme über den Bedarf der nächsten 15 Jahre gemacht. Dabei war festzustellen, daß wir zu wenig Straßen haben, daß z. B. 80 % aller Straßen weniger als sechs Meter breit sind und daß nicht einmal 15 % der Straßen über eine Fahrbahndecke verfügen, die die Tragfähigkeitsanforderungen, die der moderne Verkehr stellt, voll erfüllt. Das alles war trotz Ihres Ausbauplanes aus dem Jahre 1957 festzustellen, der, wie Sie ja doch wissen sollten, es sich, was die Berechnungsgrundlage der Bedarfsermittlung angeht, viel zu einfach gemacht hat. Man hat es sich da etwas leicht gemacht. Man hat Verkehrszählungen gemacht, hat dann errechnet, wie die Kraftfahrzeugdichte möglicherweise ansteigt, und hat dann einen sich aus dieser Berechnung ergebenden Faktor genommen und einfach mit diesem multipliziert. Daher ist es gekommen, daß wir landauf, landab so eine unterschiedliche Befriedigung im Straßenverkehr haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lemmrich?
Herr Kollege Wende, ist Ihnen bei der Lektüre der entsprechenden Unterlagen über den Fernstraßenbau entgangen, daß darin steht, daß man sich auf wissenschaftliches Neuland begibt? Vielleicht ist Ihnen diese Verordnung, die ich zitiert habe, nicht ganz gegenwärtig; denn wenn Ihnen das gegenwärtig wäre, könnten Sie solche Ausführungen nicht machen.
Herr Kollege Lemmrich, ich vermag darin keinen Gegensatz zu dem zu sehen, was ich hier gesagt habe. Ich muß Sie daran erinnern, daß dieser erste Ausbauplan, um den es sich hier handelt und den Sie so gepriesen haben, ein sehr mangelhaftes Werk ist, mit dem Ergebnis, daß, wie Sie selber sagen müssen, 70 % der Bundesstraßen gar nicht gebaut werden konnten. Bei den Auto bahnen konnte der Plan erfüllt werden. Aber im ganzen ist er zu starr gewesen. Die Straßen hatten keinen ausreichenden Komfort. Die Bundesfernstraßen wurden zunächst zweispurig gebaut. Dann mußte dieser Plan laufend geändert und erneuert werden.
Zum Schluß — da sind wir bei der Finanzierung — hat man etwas festgestellt, was im Zusammenhang mit dem, was wir heute auch schon gesagt haben, ganz interessant ist, daß nämlich dieser Plan eine ganze Menge mehr Geld gekostet hat, als ursprünglich gedacht war. 16 Milliarden DM hatte man angenommen, und 30 Milliarden DM hat er gekostet.
— Ich sagte schon, daß Sie sich mit den Zahlen möglicherweise ganz gut auskennen und das überhaupt nur unter dem Begriff der Zahlenwerte sehen. Wie Sie wissen, kann man das von verschiedenen Standpunkten aus tun. Ich glaube nicht, daß wir auf diese Weise das Problem lösen können, um das es geht, nämlich unserer Bevölkerung ganz klar und offen zu sagen, wie das der Herr Bundesverkehrsminister heute getan hat — und dafür möchten wir ihm danken —, daß in Zukunft eben mehr getan werden muß und daß sich jeder zu fragen hat, auf welche Weise wir in der Zukunft mehr Straßen bauen wollen oder ob wir es dabei bewenden lassen wollen, wie die Straßen heute finanziert werden.
Herr Kollege Lemmrich, Sie haben weiter an dem Arbeitsstil Anstoß genommen und gesagt, daß der Herr Bundesverkehrsminister nicht die richtigen Formen der Zusammenarbeit mit Ihnen gefunden habe. Dazu muß ich allerdings sagen, daß hier die gleiche Zwiespältigkeit Ihrer Sicht spürbar wird. In der Sitzung des Bundestagsausschusses für Verkehr vom 23. April 1970 z. B. haben Sie wörtlich gesagt, Sie möchten sich anerkennend über die bisher geleistete Planungsarbeit äußern. Es heißt dann ferner in dem Protokoll, daß Sie gesagt haben, es sei zu begrüßen, daß jetzt offensichtlich objektive Maßstäbe für die künftige Straßenbauplanung gefunden worden seien, wobei auch die Erschließungsfunktion der Straße für eine Landschaft gesehen werde. Das zeigt, daß Sie so unzufrieden offenbar dann nicht sind, wenn es darum geht, in der Ausschußarbeit einmal nicht für das Publikum zu reden.
Sie haben ferner die Vergangenheit beschworen und darauf hingewiesen, daß die 50%ige Zweckbindung des Mineralölsteueraufkommens ein Verdienst der CDU/CSU sei. Aber ich darf Sie daran erinnern — das ist vorhin auch schon gesagt worden —, daß es immer zu Kürzungen kam und z. B. im Jahre 1960 der damalige Abgeordnete Möller beklagen mußte, daß eine Kürzung von 500 Millionen DM im Straßenbauhaushalt erfolgt sei und daß damit die gesetzliche Zweckbindung nur noch 43 statt 50 % ausgemacht habe. Ich glaube, das sollte man sich auch einmal ins Gedächtnis zurückrufen.
— Ich könnte Ihnen aber das Protokoll zeigen.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns aber nicht in eine Finanzierungsdebatte hineinziehen las-
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Wende
sen. Das, worum es hier geht, ist, glaube ich, ein außerordentlich erfreulicher Gegenstand, nämlich daß man wirklich zum erstenmal in unserem Lande einen echten Straßenbedarf ermittelt hat, daß man nun weiß, was auf uns zukommt, daß man genau, nicht nur im Bund, sondern auch bei den anderen Straßenbauträgern, weiß, wie das Gerüst eines optimalen Verkehrsnetzes aussehen soll, und daß sich neben dem Bund auch die Länder, die Kreise und die Gemeinden darauf einzustellen haben. Hier ist auch jeder von uns mit aufgerufen, damit wir das gesteckte Ziel tatsächlich erreichen.
Leider haben wir von der Opposition auch nicht gehört, wie sie sich zu der Frage der Finanzierung stellt. Ich habe z. B. auch von Herrn Lemmrich kein klares Bekenntnis zu der Frage der Festsetzung der Promillegrenze gehört. Hierzu hat sich heute mein Fraktionskollege Dr. Apel ganz klar geäußert. Auch zur Frage der Geschwindigkeitsbegrenzung sind keine klaren Aussagen gemacht worden, so daß man sagen muß, die Opposition konnte heute in dieser Debatte keinen wesentlichen Beitrag zur Diskussion der anstehenden Fragen leisten.
Der zweite Ausbauplan für die Bundesfernstraßen ist unbedingt erforderlich. Das haben heute schon verschiedene Redner durch die Nennung von Zahlen belegt, z. B. mit den Zahlen der Verkehrstoten, die wir zu beklagen haben. Aber er ist eben auch deswegen dringend nötig, weil zum erstenmal eine Rangfolge des Straßenbaubedarfs so festgelegt wurde, wie er dann bei der Verwirklichung erreicht werden kann.
Das Kernstück des Straßenbauplans ist die Dringlichkeitsreihung, die Tatsache, daß man ihn in drei Fünfjahresplänen verwirklichen will. Daß das ein guter Rhythmus ist, geht schon daraus hervor, daß auch die Verkehrspläne der Länder — soweit sie solche Verkehrspläne haben — einen Fünfjahresrhythmus aufweisen. Das entspricht auch der mittelfristigen Finanzplanung besser.
Diese Dringlichkeitsreihung wird es ermöglichen, daß wirklich dort, wo Raumordnung, volkswirtschaftliche Gesichtspunkte und Gesichtspunkte der Straßenverkehrstechnik, die ja in diese neue Untersuchung alle einbezogen worden sind, es erforderlich machen, die erste Dringlichkeit gegeben ist. An eine volle Finanzierung des ermittelten Gesamtbedarfs, den wir jetzt kennen, war ja von vornherein gar nicht gedacht. Gedacht war lediglich daran, daß man einmal weiß, was optimal zu erwarten ist. Es steht ja in diesem Gesetz, daß wir zu beraten haben, daß von Fünfjahresplan zu Fünfjahresplan Verbesserungen möglich sind, daß der Plan vom Bundesverkehrsminister jeweils überprüft wird und daß man auf Grund der Tatsachen dann zu den besonderen Bedingungen kommen kann, die Sie, Herr Kollege Lemmrich, vorhin vielleicht vermißt haben.
Dieser Bundesfernstraßenplan beeinflußt also auch die nachgeordneten Straßen und berücksichtigt die großen Wirtschaftsräume in unserem Lande. Er kann sich sehr strukturfördernd auswirken. Er hat einen großen Vorteil gegenüber dem ersten Ausbauplan: er hat Elastizität und Flexibilität. Die fünfzigprozentige Zweckbindung der Mineralölsteuer hat gerade einen solchen Ausbauplan herausgefordert, da eben die zugehörigen finanziellen Möglichkeiten bekanntgeworden sind.
Verkehrskranke Räume können nicht nur in Einzelregionen gesund gemacht werden, wie das früher eben der Fall gewesen ist — dazu haben wir heute ja auch schon Beispiele gehört , sondern dies kann auch durch eine Diagnose des gesamten Wirtschaftsraumes versucht werden. Durch diesen Plan sind die Strukturen erfaßt worden, die daraus resultierenden künftigen Verkehrsbelastungen sind bekannt, die dafür nötigen Straßenquerschnitte sind bemessen worden, und wir kennen nun den Straßenbedarf. Das Abdecken dieses Straßenbedarfs durch Baumaßnahmen ist in Dringlichkeiten eingeordnet. Das ist das, was wir überschauen können, und darin liegt ein großer Vorteil gegenüber dem, was bisher in dieser Frage getan wurde.
Entsprechend den finanziellen Gegebenheiten können die vordringlich zu beginnenden Maßnahmen zusammengestellt werden. Es wird also vermieden, daß durch regionale Betrachtung eine Fehlbeurteilung erfolgt, wie das in der Vergangenheit häufig der Fall gewesen ist. Dadurch wird sich dieses große Vorhaben, nämlich unserem Lande die Chance der optimalen Bewältigung der Verkehrsbelastungen zu geben, besser verwirklichen lassen, als das seither abzusehen war.
Deshalb möchten wir dem Herrn Bundesverkehrsminister, seinen Mitarbeitern im Hause, aber auch den wissenschaftlichen Mitarbeitern und den wissenschaftlichen Instituten dafür danken, daß wir jetzt wissen, wohin der Weg geht, und heute gleichzeitig gehört haben, in welcher Weise mögliche Belastungen auf den einzelnen zukommen werden, um wirklich so schnell. wie möglich das Ziel, ein gutes Straßennetz in der Bundesrepublik Deutschland, zu erreichen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollesch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die beiden letzten Beiträge der Opposition mit Verwunderung, muß ich sagen, zur Kenntnis genommen. Zum Teil habe ich sogar mein Vernügen daran gehabt. Man kann natürlich tagtäglich erklären, die Regierung sei völlig unfähig. Diese Erklärung hören wir, seitdem diese Regierung, die von den Fraktionen der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten getragen wird, im Amt ist, fast tagtäglich.
— Nun, Herr Kollege Lemmrich, beide Fraktionen waren zu verschiedenen Zeiten mit Ihnen in einer Regierung. Da war die Regierung natürlich eine sehr fähige Regierung, denn daran waren Sie ja beteiligt.
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Ollesch
Nun glauben Sie wohl selber nicht, daß es immer nur an Ihrer Mitbeteiligung gelegen hat, daß die Regierungen in der Vergangenheit immer fähige Regierungen waren und daß sich die jetzige Regierung, wo Sie erstmals in der Opposition sind, als eine völlig unfähige Regierung darstellt. So schrecklich unfähig kann sie gar nicht sein;
denn immerhin sind von diesem Hause im ersten Jahr des Bestehens dieser Regierung und der Regierungskoalition 64 Gesetze verabschiedet worden, davon 80 % einstimmig. Immerhin haben 80 % der Vorlagen Gnade vor Ihren Augen gefunden. Das zeigt doch, daß diejenigen, die die Regierung darstellen und sie tragen, so schrecklich unfähig nicht sein können.
Herr Kollege Lemmrich und Herr Kollege Schmitt , der derzeitige Bundesverkehrsminister ist schon etwas länger im Amt, als diese Regierung besteht.
Wir haben vorhin von Herrn Schmitt zu hören bekommen, daß das Verkehrspolitische Programm der Bundesregierung für die Jahre von 1968 bis 1972, das Sie mit verabschiedet haben, nicht den Erfolg gebracht habe, den sich der Bundesverkehrsminister erhofft habe. Diesen Erfolg haben Sie sich aber sicher auch erhofft; sonst hätten Sie dem nicht zugestimmt. Das läßt sich doch wohl nicht bestreiten.
Sie haben die Frage gestellt, was auf Grund der getroffenen Maßahmen aus der Sicherung der Verkehrswege geworden sei,
ob etwa weniger Lastzüge auf den Straßen seien, und haben dann eine Rechnung aufgemacht und gesagt, es seien mehr statt weniger geworden. Dann müssen Sie aber, Herr Kollege Schmitt, ehrlicherweise auch sagen: Ich, der Kollege Schmitt, habe mich ebenso geirrt wie der Bundesverkehrsminister; denn die Vorstellungen, die wir damals entwickelt haben, konnten nicht verwirklicht werden.
Herr Abgeordneter Ollesch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lemmrich?
Ja, bitte!
Herr Kollege Ollesch, sind die Güterfernverkehrskontingente von der jetzigen oder von der vorigen Regierung um 1 500 erhöht worden?
Ich frage Sie, Herr Kollege Lemmrich: Hätten Sie denn der Vermehrung der Kontingente nicht zugestimmt?
Hätten Sie sie abgelehnt? Das Transportangebot muß sich ja wohl nach dem Volumen richten. Nein, auch die Prognosen, die Sie damals zusammen mit dem Verkehrsminister gestellt haben, sind nicht eingetroffen. Sie hätten heute ehrlicherweise sagen müssen: Wir haben uns allesamt geirrt, und hätten nicht allein den Bundesverkehrsminister zum Prügelknaben der jetzigen Situation machen dürfen. Ich habe als Vertreter der Freien Demokraten im Grunde genommen gar keine Veranlassung, Maßnahmen aus der Vergangenheit, die wir abgelehnt haben, zu verteidigen. Nein, mir hängt es langsam zum Halse heraus, daß Sie eine unehrliche Oppositionspolitik betreiben!
Das hängt mir zum Halse heraus!
Herr Abgeordneter Ollesch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmitt ?
Bitte schön!
Herr Kollege Ollesch, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bei meinen Ausführungen nicht klargeworden ist, daß ich nicht den Sachverhalt kritisiert habe, sondern den Verkehrsbericht, der von einem Erfolg der Verkehrspolitik spricht, während eine Bilanz, die ich hier aufgemacht habe, ein anderes Ergebnis zeigt.
Herr Kollege Schmitt, Sie haben den gesamten Verkehrsbericht, nicht nur den Abschnitt, in dem über Erfolge gesprochen wird — dazu habe ich heute morgen meine kritischen Bemerkungen gemacht —, in Sack und Asche getan.
Sie haben ihn in einer Form behandelt, die dieser Arbeit nicht angemessen ist. Sie haben aber heute den ganzen Tag auch eines getan: allen möglichen Leuten gedankt. Sie haben den Bediensteten der Bundesbahn gedankt. Sie haben den Transportunternehmern gedankt. Sie haben den Straßenplanern gedankt. Sie haben den Ingenieuren gedankt. Sie haben den Beamten gedankt, die in der Regierung, in den Ministerien diese Arbeit getan haben. Sie haben allen gedankt, aber die Regierung haben Sie für völlig unfähig erklärt.
Sehen Sie, wenn die Ergebnisse, die die Bundesbahn, die das Personal der Bundesbahn erwirtschaftet hat, wenn die Ergebnisse in den Ministerien — siehe Verkehrsbericht, siehe Planung — so gut waren, dann können ja die Veranlasser dieser Er-
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Ollesch
gebnisse nicht ganz so schlecht sein! Sonst würden
kaum solche guten Ergebnisse dabei herausspringen.
Herr Kollege Lemmrich, Sie haben gesagt, langfristige Planung im Straßenbau sei unumstritten. Nun, das ist gar nichts Neues an dieser Regierung, denn eine solche Planung hat ja unser früherer Kollege, der verstorbene Bundesverkehrsminister Seebohm 1957 bei seinem Ausbauplan eingeleitet. Das wird doch von niemandem bestritten! Pläne sind notwendig, und sie sind ja nicht schlechter, wenn sie als Ausbaupläne von dieser Regierung vorgelegt werden und sich nach Kriterien und Vorstellungen richten, die die Gegenwart und der überschaubare Zeitraum bis 1985 erforderlich machen. Natürlich sagen wir, daß dies eine Bedarfsplanung ist, die in dem Umfang angestellt wird, in dem der Bedarf erwartet wird. Aber nach den derzeitigen Finanzierungsmethoden und den voraussichtlich vorhandenen Finanzierungsmitteln ist dieser Bedarfsplan nicht realisierbar; jedenfalls sieht es so aus. Das ist gar keine Erklärung einer Pleite, sondern eine ganz nüchterne Feststellung. Es muß nämlich nicht so sein, Herr Lemmrich, daß sich auf allen Gebieten unseres Lebens die Planungen oder die tatsächlich erreichten Ergebnisse mit den Bedarfsplanungen decken. Das wird sicherlich niemals der Fall sein, und sei die klügste Regierung am Ruder, die es überhaupt geben kann. Wir werden vielmehr im Laufe der Jahre feststellen müssen: wo gibt es größere Prioritäten, wo werden wir im Interesse der Erzielung eines bestimmten Ergebnisses etwas vernachlässigen müssen? So haben wir doch im letzten Jahr trotz der klaren Erkenntnis, daß es, wenn wir die Verkehrsentwicklung betrachten, eine Sünde wider den Geist ist, Ausbaumittel für den Straßenbau sperren müssen. Das war auf Grund von Gesichtspunkten, die der Notwendigkeit des Straßenbaues eben übergeordnet waren, einfach zwingend notwendig. Das kann bis 1985 ebenso eintreten, und das wird sicherlich eintreten. Vielleicht wird aber auch, Herr Kollege Lemmrich, eine Entwicklung eintreten, die es gar nicht erforderlich macht, diese exorbitant hohen Beträge bis 1985 einzusetzen. Oder es wird eine Entwicklung eintreten, die es uns gestattet, diese Beträge oder mehr für die betreffenden Vorhaben zu verwenden.
Dann haben Sie gesagt, der Bundesverkehrsminister habe keine Konzeption, er habe nicht den Mut, heiße Eisen anzufassen.
— Ja, ja, ich komme darauf. Ich habe ein verhältnismäßig gutes Gedächtnis. Ich habe kein fertiges Konzept, ich muß immer mal nachschauen. Gott sei Dank habe ich kein fertiges Konzept. Das könnte ich mir auch besorgen. Ich versuche ja, die Debatte lebendig zu gestalten.
— Herr Kollege Lemmrich, wenn ich so einige Sätze aus verschiedenen Konzepten höre — die höre ich schon seit drei Monaten, die kommen anscheinend immer ,aus der gleichen Quelle.
Sie sagten, der Bundesverkehrsminister verspreche größere Straßenverkehrssicherheit durch Ausbau von neuen Autobahnen und Fernstraßen.
Dann werde der Sicherheitseffekt wiederaufgehoben, weil wir uns nicht dazu durchringen könnten, Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuführen. Herr Kollege Lemmrich, ich bin ein Gegner von Geschwindigkeitsbegrenzungen dort, wo sie nicht zwingend erforderlich sind.
Ich wäre auch für eine Anhebung der Geschwindigkeit in den Ortsdurchfahrten auf 60 km/h, weil die 60-Kilometer-Grenze dem Haupttyp der in Deutschland verwendeten Wagen etwas mehr entspricht als die 50-Kilometer-Grenze. Ich will keine Firmenreklame machen.
— Herr Kollege Lemmrich, ich bin nicht dreimal vorhanden, sondern nur einmal. Das wissen Sie. Es geht nicht immer so, wie ich es gerne möchte. — Ich bin auch dagegen, daß wir auf der Autobahn mit Geschwindigkeitsbegrenzungen spielen. Wir haben das zur Zeit des von Ihnen so hoch geschätzten Bundesverkehrsministers Seebohm — den ich als Mensch auch schätzte — über die Feiertage einmal gehabt. Da wurde auf der Autobahn die 100-km-Geschwindigkeitsgrenze eingeführt mit dem Ergebnis, daß die Autobahnen über die Feiertage, an den Samstagen und beim Rückreiseverkehr, völlig verstopft waren.
Herr Kollege Ollesch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lemmrich?
Ist Ihnen vielleicht entgangen, daß ich bei meinen Ausführungen hier von Geschwindigkeitsbeschränkungen bei Gegenverkehr gesprochen habe? Vielleicht unterrichten Sie sich über dieses Problem doch noch einmal. Wir haben es im Ausschuß sehr eingehend beraten. Wir haben ja hier nichts Leichtfertiges getan. Glauben Sie nicht, daß es vielleicht zweckmäßig wäre, wenn man die Debatte, wie wir sie im Ausschuß geführt haben, dann auch dort fortsetzt und sie nicht wegen Ihrer Nichtanwesenheit ins Plenum verlegt?
Herr Kollege Lemmrich, — —
Entschuldigen Sie, Herr Kollege Ollesch. — Herr Kollege Lemmrich, das Instrument der Zwischenfrage ist natürlich nicht dazu da, Debattenbeiträge zu ersetzen.
Herr Kollege Lemmrich, Sie sind ja ein Witzbold. S i e sprechen hier das Thema der Geschwindigkeitsbegrenzung an und werfen dem
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Ollesch
Bundesverkehrsminister und uns vor, wir hätten nicht den Mut, Geschwindigkeitsbegrenzungen auszusprechen. Und dann verwahren Sie sich dagegen, daß ich das Thema anspreche. Das ist ja lustig.
— Herr Kollege Lemmrich, Sie haben schlicht und einfach von Geschwindigkeitsbegrenzungen gesprochen. Ich habe von Geschwindigkeitsbegrenzungen bei Ortsdurchfahrten gesprochen.
Herr Kollege Ollesch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mursch?
Mursch (CDU/CSU): Herr Kollege Ollesch, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie vorhin gesagt haben, Bundesverkehrsminister Seebohm habe auf den Autobahnen eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km eingeführt, oder sollten Sie das nicht vielleicht mit der hessischen Landesregierung verwechseln?
Aber nein, ich verwechsle nie etwas.
Kommen Sie mir nicht mit dem „Trick" der hessischen Landesregierung! Da meinen Sie die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Frankfurter Autobahn; die meine ich gar nicht. Nein, ich meine die Geschwindigkeitsbegrenzung zu den Feiertagen auf den deutschen Autobahnen unter der Ägide des damaligen Bundesverkehrsministers Seebohm. Daran gibt es keinen Zweifel. Lassen Sie sich von Ihren Kollegen, die ein besseres Gedächtnis haben, darüber unterrichten.
Ich bin der Auffassung, daß die Geschwindigkeitsbegrenzung von vornherein kein Allheilmittel ist und allein nicht in der Lage ist, die Zahl der Unfälle herabzudrücken. Ich meine die verordnete Geschwindigkeitsbegrenzung, damit wir uns richtig verstehen. Ich habe allerdings kein Verständnis dafür, daß die Kraftfahrer in diesen ersten Nebeltagen auf der Autobahn mit 90, km/h blind durch den Nebel rasen. Diese Unvernunft, die zu schrecklich großen und schweren Unfällen führt, können Sie mit der verordneten Geschwindigkeitsbegrenzung nicht fassen. Der können Sie damit überhaupt nicht begegnen. Geschwindigkeitsbegrenzung setze ich ja nur im äußersten Fall, weil sie leicht dazu führt, daß sich der Kraftfahrer nicht daran hält, wenn er nicht einzusehen vermag, daß die Begrenzung auch wirklich vonnöten ist. Wir können nicht die Polizei nur dafür verwenden, daß sie ständig mit Radarwagen versucht, Sünder auf diesem Gebiet zu fassen.
Ich meine, daß in der modernen Zeit der Zug gar nicht so sehr zur Geschwindigkeitsbegrenzung geht, sondern sogar zur Anhebung von heute begrenzten Geschwindigkeiten, weil die technische Ausstattung der Fahrzeuge höhere Geschwindigkeiten zuläßt. Ich erinnere nur an die gewünschten 100 km/h für die Omnibusse oder die gewünschten 90 km/h für die LKWs. Die Forderungen sind gar nicht so unberechtigt, wie sie zu sein scheinen.
Meine Damen und Herren, noch wenige Worte zum Ausbauplan für Bundesfernstraßen. Ich bin nicht in der Lage, Ihnen darzustellen, nach welchen Gesichtspunkten der Bedarf ermittelt werden muß. Das können die Verkehrsexperten und die dafür hauptberuflich angestellten Leute viel besser als ich. Ich habe auch nur die allgemeine politische Richtung zu vertreten und hier den politischen Willen zu offenbaren, wie und wo ich mir die Lösung der Verkehrsfragen und wie ich mir den Ausbau der Fernstraßen denke.
Die Bedarfsplanung ist mit den Ländern auf Grund ihrer Generalverkehrspläne und ihrer Bedarfserhebungen abgestimmt. Ich habe heute morgen schon einmal erwähnt, daß ich es für sehr sinnvoll halte, wenn man sich nicht nur nach den gegenwärtigen Verkehrsströmen und nach den gegenwärtigen Verkehrsengpässen richtet, sondern daß man den Straßenbau mehr als bisher als ein Mittel der Umstrukturierung strukturschwacher Gebiete benutzt. Es kann natürlich vorkommen, Herr Kollege Lemmrich, daß in die erste Dringlichkeitsstufe eingewiesene Vorhaben nicht durchgeführt werden können, weil das Geld dazu nicht reicht. Die Ausbaupläne bedürfen einer längeren Zeit der Vorbesprechung. Ein heute auf den Tisch gelegter Ausbauplan hat eine Vorgeschichte, die sich über mehrere Jahre erstreckt. Daran gibt es gar keinen Zweifel.
Ich bin jedenfalls der Auffassung, daß sich diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen des Deutschen Bundestages bemühen werden, der Lösung der Probleme des Verkehrs so nahe zu kommen, wie es überhaupt dort, wo Menschen am Werk sind, möglich ist.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Vehar.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach diesem Ausflug quer durch den Garten der Verkehrspolitik durch den Kollegen Ollesch möchte ich versuchen, hier einen Diskussionsbeitrag zu geben, der sich auf ein bestimmtes Problem konzentriert. Ich möchte über ein Gebiet sprechen, das nach meiner Auffassung zu den dringlichsten Gebieten im Rahmen der Verkehrspolitik insgesamt zählt, nämlich über das Problem der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden.
Herr Kollege Dr. Müller-Hermann hat schon heute morgen grundsätzlich die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion zu diesem Thema dargelegt, so daß ich mich darauf beschränken kann, hier einige zusätzliche Argumente vorzutragen, die die Dringlichkeit
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Vehar
des Problems nach meiner Auffassung unterstreichen.
Heute ist von Kollegen aller Fraktionen viel über die Bedeutung des Problems der Verkehrssicherheit gesprochen worden. Dabei sollte man auch daran denken, daß die Verkehrssicherheit besonders dort gefährdet ist, wo sich die massierte Ansammlung von Autos zeigt. Das ist vor allem in unseren Städten, im Einzugsgebiet unserer Gemeinden der Fall. Wir wissen, daß die Verkehrsunfälle dort etwa 80 % aller Unfälle auf den Straßen ausmachen. Meine Damen und Herren, wir müssen damit rechnen, daß in diesem Jahre erstmals die Zahl von 18 000 Toten überschritten wird. Angesichts der ständig wachsenden Motorisierung ist zu befürchten, daß diese Zahl in den nächsten Jahren sogar noch steigen wird. Wir wollen es nicht hoffen, aber die Befürchtung hier auszusprechen halte ich in diesem Zusammenhang für meine Pflicht.
Ein ganz kurzes Wort zum Thema Verkehrssicherheit. Ich habe immer wieder, auch in den Ausschußberatungen, darauf hingewiesen, daß der Straßenbau, die Schaffung von Verkehrsanlagen, zwar ein Mittel ist, zur Hebung der Verkehrssicherheit beizutragen. Aber ebenso wichtig ist selbstverständlich Sicherheit im und am Auto. Das Wichtigste ist nach meiner Auffassung aber das menschliche Verhalten. Auch das ist heute schon dargelegt worden. Aber es bleibt dabei: eine Maßnahme zur Hebung der Verkehrssicherheit ist zweifellos der Ausbau der Straßen, insbesondere in den Städten und Gemeinden.
Ich darf ein zweites Argument vortragen, das auf die Dringlichkeit der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden hinweist. Es ist anerkannter Grundsatz, daß der Verkehr nicht nur eine wirtschaftliche Funktion hat, sondern daß er auch eine gesellschaftspolitische Funktion und eine Funktion auf dem Gebiete der Strukturpolitik hat. Ich möchte das so ausdrücken: wir können so viele Arbeitsplätze schaffen, wie wir wollen; wenn wir nicht gleichzeitig auch die Möglichkeit schaffen, diese Arbeitsplätze über gute Wege, sei es über Straßen, sei es in Großstädten über Schienenverkehre, zu erreichen, dann ist diese unsere Arbeit umsonst. Wir müssen also durch die Schaffung guter Verkehrswege die Mobilität der Arbeitnehmer fördern. Das gilt insbesondere auch für das flache Land. Ich habe heute morgen bei dem Vortrag des Herrn Bundesverkehrsministers und auch bei Ihren Ausführungen, Herr Kollege Dr. Apel, den Eindruck gehabt, daß Sie sich bei der Behandlung dieses Themas nur mit den sogenannten Verdichtungsräumen befassen. Im Verkehrsbericht ist in diesem Zusammenhang auch nur von Verdichtungsräumen die Rede. Wir sind uns aber wohl darin einig, daß diese Probleme auch auf dem flachen Land außerordentlich wichtig sind.
Ich darf das noch hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Funktion des Personenverkehrs ergänzen. Meine Damen und Herren, wir brauchen weitere Schulen, wir brauchen Universitäten, wir brauchen Sport- und Erholungsstätten. Sie nutzen uns
aber nichts, ihre Nutzung ist zumindest stark gefährdet, wenn wir nicht dafür sorgen, daß sie über gute Straßen oder, vor allem in Großstädten, über Schienenverkehr erreichbar sind.
Schon aus diesen Gründen ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die Rangfolge der verkehrspolitischen Aufgaben zu überdenken und zu ändern. Der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden muß für die nächste Zukunft — denn vieles ist in den letzten Jahren versäumt worden — die gleiche Priorität zukommen wie der Deutschen Bundesbahn und dem Fernstraßenbau.
Meine Damen und Herren, diesem Ziel dient auch ein Antrag unserer Fraktion, der Ihnen heute vorliegt und den ich im Rahmen dieses Diskussionsbeitrags auch ganz kurz begründen möchte. Die CDU/ CSU-Fraktion hat schon frühzeitig die Dringlichkeit der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden erkannt. Nach Einführung des Gemeindepfennigs im Jahre 1960 im Rahmen der Änderung des Straßenbaufinanzierungsgesetzes haben wir 1961 das Gesetz über eine Untersuchung von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden eingebracht, das am 1. August 1961 vom Bundestag einstimmig verabschiedet wurde. Am 29. August 1964 wurde dieses Gutachten dem Bundestag vorgelegt, nachdem 23 namhafte Experten drei Jahre lang an ihm gearbeitet hatten. Auf 229 Seiten bringt das Gutachten eine exakte Analyse der Situation der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden und klare Aussagen zu allen Detailfragen sowie Verbesserungsvorschläge. Ziel unseres Antrags ist es, dieses Gutachten neu zu überarbeiten, es vor allem hinsichtlich des Zahlenmaterials auf den neuesten Stand zu bringen, und es dann dem Deutschen Bundestag wiederum vorzulegen. Ich darf vielleicht im Interesse der Zeitersparnis darauf verzichten, hier die Formulierungen aus dem Antrag wiederzugeben. Sie alle haben den Antrag ja vorliegen. Ich glaube aber, daß ein derart überarbeitetes Gutachten auch eine gute Grundlage abgeben könnte für eine langfristige Bedarfsplanung auf diesem Gebiet und für die politischen Entscheidungen, die notwendig sind, um diesen Bedarfsplan durch einen langfristigen Finanzierungsplan zu ergänzen. Ich möchte Sie schon an dieser Stelle bitten, dem Antrag der CDU/CSU zuzustimmen.
Lassen Sie mich nun zu einigen konkreten Punkten des Verkehrsberichts Stellung nehmen, die dort im Zusammenhang mit der Verbesserung der Verhältnisse in den Gemeinden aufgeführt sind.
Der Bericht betont mit Recht — in Übereinstimmung mit der Gutachterkommission — die Bedeutung des öffentlichen Personennahverkehrs. Dieses Thema ist sehr komplex und unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob es sich um eine Großstadt, eine mittlere Stadt oder um das flache Land handelt. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang lediglich mit zwei in dem Verkehrsbericht angesprochenen Fragen befassen.
Da ist einmal das jahrelange Bemühen der Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs, von der Mineralölsteuer entlastet zu werden. Die Regie-
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rung sagt in ihrem Bericht lediglich eine erneute Prüfung zu. Der Sachverständigenbericht aus dem Jahre 1964, von dem ich soeben gesprochen habe, enthielt schon eine derartige Empfehlung. Die Gemeinden, die Länder und der Bund wurden aufgefordert, durch solche Maßnahmen den Nahverkehrsbetrieben in den Gemeinden zu helfen. Ich darf an den Herrn Bundesverkehrsminister die Frage richten: Wie lange wird die Bundesregierung noch prüfen, und wann wird sie sagen, wie sie zu dieser Forderung steht. In diesem Zusammenhang darf darauf hingewiesen werden, daß — ebenfalls auf Grund der Empfehlung des Gutachtens — a) die Länder bereits die Nahverkehrsunternehmen von der Kfz-Steuer befreit und b) die Städte weitgehend auf die Wegebenutzungsabgaben verzichtet haben. Eine Befreiung von der Mineralölsteuer würde auch einem Beschluß des gemeinsamen Ausschusses von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden entsprechen, den diese am 12. November 1968 gefaßt haben.
Der zweite Punkt ist der sogenannte Null-Tarif, der in letzter Zeit von verschiedenen Seiten gefordert worden ist. Ich teile die Auffassung der Bundesregierung, daß der Null-Tarif kein geeignetes Mittel ist, die Verkehrsprobleme der Gemeinden zu lösen. Ich darf wohl die Aussage von Herrn Dr. Apel so auffassen, daß das auch die Meinung der SPD-Fraktion ist. Ich hoffe aber, daß ich darüber hinaus die Aussage des Herrn Bundesministers und die Aussage von Herrn Dr. Apel als einen Appell an alle Verantwortlichen in diesem Lande ansehen darf, nun mit solchen Parolen Schluß zu machen, die, würden sie tatsächlich realisiert, nach den Aussagen der Bundesregierung die öffentliche Hand etwa 3,5 Milliarden DM kosten würde. Nach den Angaben, die mir zugegangen sind, würde sich, wenn man auch noch den Bahn- und Postverkehr einbezöge, dieser Ausfall auf fast 5 Milliarden DM erhöhen, und das ohne jegliche Garantie dafür, daß dann der Pkw-Fahrer auf die öffentlichen Verkehrsmittel umstiege. Wir kennen ja alle die Fälle, daß Angestellte der öffentlichen Verkehrsunternehmen ihre Freikarten nicht benutzen, sondern mit dem eigenen Pkw fahren. In diesem Zusammenhang ist die Haltung des Verbandes der öffentlichen Verkehrsunternehmen zu loben, der sich eindeutig von solchen Forderungen distanziert und sie mit Nachdruck abgelehnt hat. Wir müssen solche Vorstellungen auch deshalb ablehnen, weil sie immer wieder ein willkommenes Argument für Übereifrige sind, die gegen jegliche auch noch so maßvolle Anhebung von Tarifen mit mehr oder weniger demokratischen Mitteln demonstrieren und damit wesentlich dazu beitragen, die Verkehrssituation in den Gemeinden nicht zu verbessern, sondern zu verschlechtern.
Bedenklich wird natürlich die Situation, wenn sich auch Politiker in hohen Ämtern dazu hergeben, in solchen Aktionen mitzuwirken. Ich habe hier Zeitungsberichte vorliegen, nach denen der Ministerpräsident dieses Landes, Herr Kühn, und der Regierungspräsident von Düsseldorf sich mit sogenannten „Rote-Punkte-Aktionen" solidarisch erklärt haben. Besonders pikant ist ja der Fall des Regierungspräsidenten in Düsseldorf, der gegen eine von seinen Kollegen in Köln bereits genehmigte Tariferhöhung auf diese Weise protestiert hat.
Der Bericht nimmt auch zu dem umstrittenen Problem der Parkgebühren in den Stadtzentren Stellung und berührt damit eines der wichtigsten innerstädtischen Probleme, nämlich das des ruhenden Verkehrs. Ich habe leider heute morgen vermißt, Herr Minister, daß Sie dazu ein Wort gesagt haben. Leider wird auch in Ihrem Bericht lediglich eine Prüfung in Aussicht gestellt. Die Freigabe der Parkgebühren aber, d. h. eine liberalere Handhabe nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten wäre nach Überzeugung der Städte ein sofort wirksames und kostenloses Mittel zur besseren Steuerung des innerstädtischen Verkehrs, besonders in den Brennpunkten der Städte.
Ich habe es nicht verstanden, Herr Bundesminister, daß Sie vor einigen Wochen in geradezu schroffer Form das Ansuchen der Länder und der Städte abgelehnt haben, diese Parkgebühren zu erhöhen. Ich gehöre bestimmt nicht zu denen, die den Pfennig nicht ehren, aber in einer Zeit, wo kaum noch jemand in der Kirche einen Groschen auf den Kollektenteller legt, ist ein Groschen für das Parken in einer Großstadt — im wertvollsten Gebiet, im Kerngebiet der Großstadt — ganz einfach ein Trinkgeld und kein Ausgleich für das, was man in Anspruch nimmt.
Die Verkehrsdezernenten in den Städten, in Zusammenarbeit mit der Polizei, dem ADAC und der Verkehrswacht können nach meiner Überzeugung die jeweilige Situation in ihrer Stadt ganz sicher besser beurteilen, als das Ihre Mitarbeiter, Herr Bundesminister, hier in Bonn vom Grünen Tisch aus tun können. Wer das täglich erlebt, wie sich Hunderte, ja Tausende von Pkw-Fahrern wie in Prozessionen an den Parkuhren mitten in den Städten vorbeischleichen und versuchen, eine freie Parkuhr zu finden, der muß eine solche Lösung, wie sie heute ist, auch deshalb schon ablehnen, weil damit eine ganz erhebliche gesundheitliche Schädigung durch die Abgase in den Stadtzentren für alle verbunden ist, die sich dort befinden.
Ich komme zum Schluß. Ich bitte Sie, meinen Diskussionsbeitrag als einen von vielen hier und draußen so anzusehen, daß ich damit Sie alle sehr dringlich und herzlich bitten möchte, diesem Problem der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in unseren Gemeinden mehr Beachtung zu schenken, als das bis heute der Fall ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Matthes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Apel hat heute morgen gesagt, daß der Bund nicht der Vater des öffentlichen Nahverkehrs sein könne. Ich stimme ihm darin vollkommen zu. Aber vielleicht stimmen Sie mir darin zu, Herr Dr. Apel, wenn ich meine, daß er wohl der Onkel sein kann; denn ein gewisses Verwandt-
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Matthes
schaftsverhältnis ist ohne weiteres gegeben. Das ergibt sich einmal daraus, daß der Verkehrsbericht sich dem öffentlichen Nahverkehr und damit auch den Verkehrsverhältnissen in den Gemeinden zuwendet. Zum anderen gilt dieses Verwandtschaftsverhältnis zumindest, seitdem es die Richtlinien zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden überhaupt gibt. Das ist seit 1967 so, seitdem der jetzige Bundesverkehrsminister amtiert. Seitdem haben wir diesen Drei-Pfennig-Topf, seitdem werden die Gemeinden daraus bezuschußt. Mit dieser wichtigen Maßnahme ist den Gemeinden in vielen schwierigen Fällen der Mut gemacht worden, notwendige Verkehrsbauten, die für sie alleine zu aufwendig gewesen wären, überhaupt erst einmal in Angriff zu nehmen. Diese Richtlinien, die am 1. Januar 1971 Gesetz werden sollen, sind also eine äußerst wichtige Ergänzung für den Gesamtverkehr.
Das Gesetz, von dem ich gerade sprach, das also am 1. Januar 1971 die Richtlinien ablösen soll, wird in einem wesentlichen Punkte ergänzt, Vielleicht fällt das nicht so ins Gewicht, ich halte es aber gerade bei dem Thema, über das wir uns heute unterhalten, doch für äußerst wirkungsvoll, daß nämlich auch Parkeinrichtungen an Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs mit bezuschußt werden sollen. Damit ist ein nahtloser Übergang vom Auto auf Straßenbahn, Bus oder ähnliche Verkehrsmittel gegeben.
Der Verkehrsminister, Herr Leber, hat gesagt, es gebe keine autogerechte Stadt. Wer wollte ihm da widersprechen! Nähme man soviel Straßenraum in Anspruch, wie notwendig wäre, um auch in der Zukunft in den Spitzenzeiten dem Verkehr gerecht zu werden, hätte man wahrscheinlich keine Stadt mehr. Damit wäre das Problem dann allerdings auch gelöst. So werden wir aber sicherlich nicht an diese Dinge herangehen wollen.
Ich meine darum, daß dem öffentlichen Nahverkehr für die Städte dieselbe Aufgabe zukommt wie der Bundesbahn für das gesamte Land. Die Bundesbahn ist notwendig, morgen und übermorgen, und das gilt ebenso für den öffentlichen Nahverkehr in den Städten. Darum müssen wir, ob „Vater" oder „Onkel", beides pflegen. Das heißt aber auch, daß man endlich darangehen muß, ihnen die gemeinwirtschaftlichen Lasten, die sie selbst nicht zu verantworten haben, abzugelten — in diesem Falle stimme ich Herrn Apel durchaus zu —, und zwar durch Länder und Gemeinden, also durch die „Väter". Ich meine aber auch, daß man sich in unserem Kreise darüber unterhalten sollte, nach dem Vorbild der Länder, die bereits auf die Kfz-Steuer verzichtet haben, nun vielleicht auch weitere Schützenhilfe durch Verzicht auf Mineralölsteuer und Umsatzsteuer zu geben.
Selbstverständlich müssen auch die öffentlichen Verkehrsbetriebe ihrerseits aktiv werden, wenn sie in den Wettbewerb zum Auto eintreten wollen. Wenn sie in diesem Wettbewerb zum Auto bestehen wollen, gehört noch einiges mehr dazu, als hier bisher besprochen worden ist, dann gehört dazu Attraktivität seitens dieser Verkehre. Sie müssen schnell sein, sie müssen pünktlich sein, sie müssen möglichst nach einem Taktplan fahren, sie müssen, soweit sie schienengebunden sind, eigene Bahnkörper haben, und sie sollten, soweit es sich um Busse handelt, über eigene Busspuren verfügen.
Die neue Straßenverkehrsordnung trägt dem Rechnung, indem sie eigene Zeichen für Busspuren schafft und indem sie auch das ist vielleicht nicht so nebensächlich — dem Bus die Möglichkeit gibt, besser als bisher von der Haltestelle wegzukommen und sich wieder in den fließenden Verkehr einzufädeln.
Ich sagte, die öffentlichen Nahverkehrsbetriebe müssen den Wettbewerb mit dem Auto bestehen. Das können die einzelnen Betriebe nicht für sich allein, wahrscheinlich können sie das aber auf die Dauer in Gemeinsamkeit, in der Zusammenarbeit untereinander. Da schließe ich ausdrücklich die Deutsche Bundesbahn mit ihrem Nahverkehrsanteil ein. Ich spreche also in diesem Fall von dem Verkehrsverbund, der mit der Änderung des Personenbeförderungsgesetzes im Jahre 1969 ausdrücklich angestrebt wurde.
Wir haben damals von der regionalen Konzession abgesehen in der Erwartung, daß die Verkehrsbetriebe zu Kooperationen mit der Bundesbahn bereit sind und zu einem Verkehrsverbund kommen. Das ist nicht einfach. Das kann nicht von heute auf morgen geschehen, aber das muß in Angriff genommen werden. Es gibt Beispiele dafür. Auch der Verkehrsbericht weist Beispiele aus, in denen dieser Verkehrsverbund schon in Angriff genommen worden ist, in denen man aufeinander abgestimmte Fahrpläne hat, so daß man mit einem Fahrschein von dem einen Fahrzeug zu einem Fahrzeug eines anderen Verkehrsunternehmens überwechseln kann. Darauf kommt es an. Das will der Fahrgast. Nur so wird es möglich sein, sich auf die Dauer im Wettbewerb mit dem Auto durchzusetzen.
Ich meine also, die öffentlichen Nahverkehrsbetriebe haben die Zeichen der Zeit sehr wohl verstanden und sich bereits auf die Zukunft eingerichtet. Sie haben nicht erst seit heute und gestern, sondern schon seit Jahren begonnen mit einer Rationalisierung, die in diesem Bereich nicht mehr weiter durchgeführt werden kann.
Auch die Bemühungen um Zusammenarbeit tragen erste Früchte. Nur bin ich weit davon entfernt, zu sagen, daß damit die Aufgaben, die dem Nahverkehr gestellt sind, gelöst sind. Diese Aufgaben sind groß. Sie sind nicht einfach zu lösen, wenn auch festzustellen ist, daß sich im Jahre 1969 gegenüber den Vorjahren schon eine bedeutende Verbesserung ergeben hat und Pluszahlen in der Beförderung von Personen zu erkennen sind. Trotzdem ist es noch ein weiter Weg, bis der Zustand erreicht ist, daß die Nahverkehrsmittel wieder die Stellung einnehmen, die sie einmal hatten, bevor das Auto zum großen Massenverkehrsmittel wurde.
Die gestellten Aufgaben zu lösen, meine ich, kann nur gelingen, wenn die schon vielfach zitierten „Väter" und „Onkel" dabei helfen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4585
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrem Verkehrsbericht auf Seite 79 einige grundsätzliche Ausführungen über die Kilometerpauschale gemacht. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, einige Sätze dazu zu sagen, obwohl ich weiß, daß die Zeit schon sehr weit vorgeschritten ist.
Wir können in der „Mainzer Allgemeinen Zeitung" vom 6. Januar 1969 lesen, daß der damalige Verkehrsexperte der Sozialdemokratischen Partei, Herr Seifriz, davon gesprochen habe, es bestehe eine Chance für die Erhöhung der Kilometerpauschale. In diesem Artikel heißt es weiter — das ist nur ein Teil der Presse der damaligen Zeit —, es sei in Bonn bekannt, daß auch der Bundeswirtschaftsminister nie ein Hehl daraus gemacht habe, daß er kein Freund der geltenden geringen Pauschale sei. Nun, meine Damen und Herren, die Zeiten haben sich etwas geändert. Herr Seifriz wurde nach und in Bremen befördert, und um Herrn Wirtschaftsminister Schiller ist es etwas stiller geworden. Vielleicht ist aus diesem Grunde die Betrachtungsweise in dem vorliegenden Verkehrsbericht der Bundesregierung etwas anders. Jedenfalls heißt es dort, man wolle keinen Anreiz für den Einsatz privater Kraftfahrzeuge dadurch geben, daß man die Kilometerpauschale erhöhe; auf der anderen Seite heißt es, es sei denkbar, allen Berufstätigen durch eine erhöhte Kilometerpauschale unter die Arme zu greifen.
Meine Damen und Herren, was soll das heißen? Es ist hier im Grunde genommen nichts Klares ausgesagt. Im Verkehrsministerium wurde wahrscheinlich das bestätigt, was der Herr Verkehrsminister heute morgen gesagt hat: man wolle nachdenken, ob man vielleicht umdenken müsse.
Ich glaube, daß wir in diesem Zusammenhang einige Grundsätze beachten müssen. Wir können heute bereits feststellen, daß eine Ungleichheit zwischen dem Arbeitnehmer, der ein privates Kraftfahrzeug benutzt, und demjenigen, der ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt, besteht. Es ist festzustellen und festzuhalten, daß der Pkw-Benutzer steuerlich nicht seine Gesamtkosten berücksichtigen kann, während auf der anderen Seite derjenige, der ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt, seine Kosten bei Übersteigen der Pauschale in voller Höhe in Anrechnung bringen kann. Diese steuerliche Ungleichheit und Benachteiligung des Kraftfahres wird noch dadurch erhöht, daß die Tarife im öffentlichen Nahverkehr aus sozialen Gründen auf vielfältige Weise günstiger gestaltet sind, so daß dem Arbeitnehmer, der diese öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, von vornherein weniger Kosten entstehen. Wenn nun das Gedankenspiel der Bundesregierung verwirklicht würde, daß alle Arbeitnehmer eine Pauschale in Anrechnung bringen könnten, würde sich diese Ungleichheit noch weiter verschärfen. Es käme dann so weit, daß auch der Radfahrer eine Kilometerpauschale geltend machen könnte und praktisch einen Strampelbonus erhielte. Ich glaube, daß
wir in diesem Zusammenhang auch noch auf andere Probleme eingehen müssen. Es dreht sich hier nicht nur um Verkehrspolitik.
In der letzten Zeit mußten wir erleben, daß die Bundesregierung zwar ständig von Raumordnung sprach, daß sie aber in ihrem konkreten Handeln andere Maßstäbe setzte. Der Verkehrsausschuß mußte erst in den letzten Wochen zur Kenntnis nehmen, daß die Ballungsräume im Rahmen der Gemeindeverkehrsfinanzierung höhere Anteile zugesprochen erhielten als das flache Land. Ich brauche das hier nicht im einzelnen weiter auszuführen.
— Wir können ja darüber sprechen.
— Herr Fellermaier, ich bin sehr dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben, über unsere Vorstellungen von Raumordnung und Strukturpolitik zu sprechen. Ich gehe davon aus, daß wir, wenn wir unsere Städte in der Zukunft regierbar, verwaltbar, befahrbar und bewohnbar halten wollen, eine vernünftige Raumordnung betreiben müssen.
Das bedeutet auf alle Fälle, daß wir das Land stärker berücksichtigen müssen, bevor es vollends ausgebrannt ist.
Wir können dieses Thema aber gern noch ausweiten.
Meine Damen und Herren, wenn wir eine gleichmäßige Siedlungsstruktur wollen, müssen wir in allererster Linie im Verkehrsbereich, der ja die Infrastrukturmaßnahmen bietet, unsere Worte in Taten umsetzen. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch noch weitere Punkte bedenken.
Ich weiß nicht, ob der Herr Verkehrsminister über das Problem der steuerlichen Berücksichtigung aller Arbeitnehmer mit seinem Finanzminister gesprochen hat. Man kann sehr leicht ausrechnen, wie hoch der Steuerausfall in diesem Bereich wäre. Wir müssen aber, glaube ich, ganz allgemein einmal die Frage nach dem Nutzen einer solchen Möglichkeit stellen. Hierzu hat der Kollege Ollesch heute morgen bereits ausgeführt, daß er den Fahrpreis als das ungeeignetste Mittel ansehe, um ein Umsteigen von einem Verkehrsmittel auf das andere zu erreichen. Wenn das stimmt, sind steuerliche Möglichkeiten erst recht ungeeignet, um den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen. Ich glaube, wir können die Diskussion heute nicht abschließen: Es handelt sich hier um einen einigermaßen neuen Vorschlag, und ich kann auch für meine Fraktion hierzu noch nicht Stellung nehmen. Wir müssen sicherlich wei-
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Schulte
ter diskutieren. Eins können wir aber bereits heute sagen. Ich fürchte, daß in diesem Verkehrsbericht der Bundesregierung bei diesem Thema wiederum Hoffnungen erweckt wurden, bei denen wir uns fragen müssen, ob sie überhaupt erfüllbar sind.
Wir müssen uns hier in diesem Parlament fragen, wie lange die leidvolle Erfahrung mit dieser Bundesregierung noch fortgesetzt werden soll, daß sie Hoffnungen erweckt, die sie nachher nicht erfüllen kann.
Gestatten Sie mir, daß ich in aller Kürze noch einige Sätze zu zwei anderen Themen sage.
Meine Damen und Herren, es wurde heute sehr viel vom Ausbauplan und vom Bedarfsplan für den Bundesfernstraßenbau gesprochen. Wir alle begrüßen es, wenn der Bedarf auf wissenschaftlicher Grundlage ermittelt wird. Eine andere Frage aber ist, wie dann die einzelnen Fünfjahrespläne durchgeführt werden. Wenn wir feststellen, daß zwar bei der wissenschaftlichen Ermittlung des Bedarfs für ein Bundesland 15 % zusammenkommen, dieses Bundesland aber im ersten Fünfjahresplan für den Autobahnbau nur zirka 10 % erhält, müssen wir uns fragen, ob diese wissenschaftliche Methode etwas anderes als ein Mittel zur Augenwischerei ist.
Wer mich hier nicht verstanden hat, dem kann ich auch ganz konkret sagen, was ich meine. Das Land, aus dem ich komme, Baden-Württemberg, ist in dieser mißlichen Lage. Herr Verkehrsminister, wir werden uns über dieses Problem sicherlich noch unterhalten müssen.
Ich will mit einem letzten Punkt schließen, der die Rede des Herrn Verkehrsministers von heute morgen betrifft. Ich habe es als eine etwas erstaunliche Sache empfunden, daß der Herr Verkehrsminister plötzlich auf die Erhöhung der Mineralölsteuer einging und dabei nicht mehr „als Verkehrsminister", sondern „als Abgeordneter" sprach. Sicherlich kennen wir dieses Spiel mit verteilten Rollen oder auch dieses Verkleidungsspiel von der Kunst. Aber ich bin der Ansicht, daß wenn ein Politiker vor diesem Haus spricht, er schon vorher den Kampf der verschiedenen Seelen in seiner Brust mit sich selber ausgemacht haben sollte.
Im gleichen Zusammenhang, ebenfalls bei der unpopulären Frage einer Steuererhöhung, hat der Herr Bundesverkehrsminister gesagt, die Opposition solle doch mithelfen, diese Frage zu lösen. Meine Damen und Herren, wir können gern über dieses Thema sprechen. Ich würde dann aber vorschlagen, daß der Herr Minister die Opposition auch dann berücksichtigt, wenn er mit der Schere durchs Land fährt.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Mursch.
— So? Das war mir leider nicht bekannt geworden. Herr Kollege, ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche parlamentarische Arbeit und beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause.
Mursch (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verkehrsbericht der Bundesregierung ist ohne Zweifel — ich glaube, darüber sind wir uns alle einig — eine lesenswerte und interessante Lektüre. Er bemüht sich, in einer umfassenden Weise die zur Zeit bestehenden Verkehrsprobleme darzustellen. Wenn aber nun gesagt wird, er sei zukunftsbezogen oder gar in die Zukunft weisend, dann, meine Damen und Herren, meine ich, daß das nur recht bedingt richtig ist. Das gilt insbesondere für den Verkehrsträger Luftfahrt — wir müssen auch einmal über etwas anderes sprechen , mit dem ich mich heute befassen will.
Die Bundesrepublik ist ein Land, das im Weltluftverkehr dank seiner geographischen Lage und auch dank seiner wirtschaftlichen Kapazität in der Spitzengruppe steht. Ein Vergleich mit dem amerikanischen Giganten auf diesem Gebiet ist natürlich nicht möglich. Aber im westeuropäischen Bereich ist das schon etwas anderes. Hier läßt der Verkehrsbericht irgendwelche fortschrittlichen Initiativen in Richtung auf eine Neuordnung im europäischen Luftverkehr vermissen.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß sich die EWG-Verkehrspolitik lediglich auf die binnenländischen Verkehrsträger erstreckt, also auf die Eisenbahnen, den Straßenverkehr und die Binnenschiffahrt. Mir scheint es nicht nur erwägenswert, sondern auch wünschenswert zu sein, auch im Hinblick auf die sich anbahnende Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft, die Luftfahrt und, Kollege Apel, auch die Seeschiffahrt in die gemeinsame Verkehrspolitik mit einzubeziehen. Es ist nämlich keineswegs sicher, ob nicht die künftige Entwicklung der Luftfahrt — insbesondere auch von der Kostenseite her — dazu führen muß, enger als bisher innerhalb der Mitgliedsländer der EWG zusammenzuarbeiten und auch den Gedanken einer europäischen Air-Union neu zu beleben.
Im Verkehrsbericht wird darauf hingewiesen, daß die Deutsche Lufthansa ihre Verkehrsleistungen im vergangenen Jahr überdurchschnittlich ausweiten konnte — im Personenverkehr um 20 %, im Güterverkehr sogar noch mehr — und daß sie deshalb im Jahre 1969 zum erstenmal in der Lage gewesen ist, eine Dividende auszuschütten. Herr Bundesverkehrsminister, es fehlt aber in dem Bericht eine Prognose über die zu erwartende künftige Entwicklung. Glücklicherweise ist uns eine solche Prognose von anderer Stelle geliefert worden. Der Generalsekretär der IATA, der internationalen Organisation der Zivilluftfahrtgesellschaften, Herr Hammar-
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skjöld, hat gesagt, daß auf Grund von sehr sorgfältigen Ermittlungen der IATA bis zum Jahre 1980 der jährliche Zuwachs im planmäßigen Luftverkehr nur noch etwa bei 12 % liegen werde. Er sagte aber noch mehr, nämlich daß die Rentabilität im Weltluftverkehr in einer besorgniserregenden Weise zu sinken beginne. Das ist — so Hammarskjöld — darauf zurückzuführen, daß die Betriebskostensenkungen, die durch die Verwendung wirtschaftlicheren und moderneren Fluggeräts erzielt worden sind, nicht mehr ausreichen, um die Erhöhungen, die sich zwangsläufig ergeben haben, aufzufangen. Bei diesen Erhöhungen handelt es sich in erster Linie um die sogenannten Bodenkosten auf den Flugplätzen.
Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Durch die Anschaffung neuer Großflugzeuge und der dazugehörigen Geräte hatten die Luftverkehrsgesellschaften ganz erhebliche Finanzlasten auf sich zu nehmen. Die Folge war, daß Herr Hammarskjöld mit Recht an die Luftverkehrsgesellschaften appellierte, bei ihrer Kapazitätsplanung eng zusammenzuarbeiten und nicht etwa einen zu hohen Marktanteil durch ein Überangebot zu erzwingen.
Alle diese Gesichtspunkte mahnen uns, nach neuen Wegen der Zusammenarbeit zu suchen. Ich meine, hier sollte sich die EWG anbieten. Die kürzliche Erklärung des Präsidenten von Trans World Airlines, daß die zwölf größten amerikanischen Luftverkehrsgesellschaften im laufenden Jahr ein Defizit von rund 200 Millionen Dollar zu erwarten haben, sollte uns übrigens zu denken geben und uns daran erinnern, daß wir zur Lösung dieser Probleme wirklich nicht mehr viel Zeit haben.
Auf die Ertragslage der Luftfahrt wirkt aber noch ein anderer Komplex ein. Ich meine jetzt nicht die noch ausstehende Regelung des innerdeutschen Luftverkehrs, sondern ich meine die Frage der Wegekosten. Im Verkehrsbericht der Bundesregierung wird darauf hingewiesen, daß internationale Verhandlungen eingeleitet worden seien, um zu Vereinbarungen über die Erhebung von Flugsicherungsgebühren zu kommen, die im übrigen auch die Kosten für den Flugwetterdienst mit abdecken sollen. Ich glaube, hier ist größte Behutsamkeit geboten, weil hierdurch die internationale Wettbewerbslage nicht verändert werden darf und weil wir natürlich auch an die Wirtschaftlichkeit der nationalen Luftfahrt denken müssen.
Die Bundesregierung kündigt in ihrem Bericht an, daß sie alle Maßnahmen ausschöpfen will, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luftfahrtunternehmen zu stärken. Wir begrüßen das. Unter anderem will die Regierung das dadurch erreichen, daß sie Maßnahmen treffen will, um Währungsverluste zu verhindern, die für die Erträge deutscher Luftfahrtgesellschaften in solchen Ländern entstehen könnten, die eine sogenannte weiche Währung haben. In diesem Zusammenhang würde es uns interessieren, Herr Bundesverkehrsminister, von Ihnen im Verkehrsausschuß zu hören, mit welchen Maßnahmen Sie dieses Ziel eigentlich erreichen wollen. Wir würden es auch begrüßen, wenn Sie uns bei dieser Gelegenheit auch sagen würden — neulich ist das im Verkehrsausschuß für das Jahr 1969 geschehen —, wie hoch sich die Verluste der Lufthansa und der anderen deutschen Luftverkehrsgesellschaften durch die Aufwertung der D-Mark im Jahre 1970 belaufen.
Wir begrüßen es, daß die Deutsche Lufthansa ihr internationales Flugliniennetz in den kommenden Jahren verdichten will. Wir tun das deshalb, weil es sich hier um Linien handelt, die ein wirtschaftliches Ergebnis erwarten lassen.
Ich möchte mich auf diese Feststellungen beschränken, weil ich weiß, daß Verhandlungen über Luftverkehrsrechte zuweilen eine schwierige Problematik beinhalten. Ich bin sicher, daß Sie mich hier verstanden haben. Zeitdruck und zu lautes Gehabe tragen im allgemeinen nicht zur Lösung einer schwierigen Problematik bei. Wir werden diese Fragen, Herr Bundesverkehrsminister, auch wiederum im Verkehrsausschuß behandeln.
Noch ein Wort zu den Ausführungen über die Erhöhung der Sicherheit im Flugverkehr. Die Bundesregierung rechnet — das ist bemerkenswert — auch in Zukunft mit einer andauernden Bedrohung des Luftverkehrs. Das ist eine ernst zu nehmende Angelegenheit. Die Regierung hat in Zusammenarbeit mit den beteiligten Stellen eine ganze Reihe von Maßnahmen getroffen. Ich frage mich nur, Herr Bundesverkehrsminister, ob sie ausreichend sind und ob es nicht doch zweckmäßig wäre, noch zusätzlich an Bord der Flugzeuge Sicherungsmaßnahmen zu treffen, um eine Luftpiraterie, wenn die Luftpiraten an Bord der Flugzeuge gekommen sind, zu verhindern. Hierzu gehört auch die Prüfung der Frage, ob man nicht doch Sicherheitsbeamte an Bord der Flugzeuge nehmen sollte, wie es die Amerikaner seit einiger Zeit tun. Die Amerikaner verfügen, wie Sie wissen, auf diesem Gebiet über große Erfahrungen. Sie betreiben im übrigen die Hälfte des gesamten Weltluftverkehrs. Zumindest sollte sich das Ministerium über die Erfahrungen informieren, die in den Vereinigten Staaten auf diesem Gebiet gewonnen worden sind. Dann kann man nämlich immer noch sehen, wie man weiterkommt.
Zum Schluß, meine Damen und Herren, möchte ich noch ein Problem ansprechen, dem eine besondere und weltweite Bedeutung zukommt: die Systemplanung. Sie ist im modernen Luftverkehr sowohl im engeren nationalen als auch im internationalen Bereich unerläßlich. Nur ein Beispiel im kleinen.
Wenn man z. B., wie wir gestern nachmittag, auf dem Flughafen Köln-Bonn ankommt oder von KölnBonn abfliegen will, stellt man fest, daß dieser sogenannte Regierungsflughafen zwar äußerlich durchaus attraktiv wirkt, daß er aber funktionell eben doch eine Reihe von Mängeln hat.
— Das hat mit der Bundesregierung nichts zu tun; es geht mir hier um die Problematik, Herr Kollege Seefeld.
So haben z. B. — das weiß man seit einer Reihe von Jahren — alle gängigen Verkehrsflugzeuge,
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auch alle diejenigen, die Köln-Bonn anfliegen, also die Boeing 707, die 727, die 737, die Caravelle, die 1-11, die DC-8, zwei Ein- und Ausgänge. Wenn man aber in Köln- Bonn ein- oder aussteigen will, kann man nur einen davon benutzen. Ich meine, daß es bei einer vernünftigen, sinnvollen technischen Planung eigentlich möglich sein müßte, die Flugsteigköpfe so zu konstruieren, daß man beide Ein- und Ausgänge benutzen kann. Das ist natürlich im Augenblick noch kein sehr dringendes Problem. Aber wenn der Flughafen Köln-Bonn einmal das Verkehrsvolumen erreicht haben wird, für das das Flughafengebäude gebaut worden ist, sieht die Sache natürlich schon anders aus.
Noch ein anderer Punkt. Wenn man mit dem Pkw auf der Zufahrtstraße zur Abflugebene fährt und wenig Zeit hat, setzt bestimmt der eine oder andere rechts von der Fahrbahn parkende Wagen zurück und blockiert damit den gesamten ankommenden Verkehr, und zwar einfach deswegen, weil die Fahrbahn zu schmal ist. Es ist zwar nicht immer richtig, — wie man sagt —, daß Zeit Geld ist; wer viel Zeit hat, für den ist Zeit durchaus nicht Geld. Aber, meine Damen und Herren, wer fliegen will, hat meistens wenig Zeit, und das sollte man bei der Konstruktion der Flughäfen berücksichtigen.
Ich will in diesem Zusammenhang gar nicht von den himmelblauen Sommermarkisen sprechen, die sich an den Autobushaltestellen befinden. Sie sind in tropischen Gebieten sicherlich außerordentlich zweckmäßig. Aber bei uns, wo es häufig regnet, wo es naßkalte Monate gibt, sind sie wirklich sehr unzweckmäßig. Das ist die Systemplanung im kleinen mit einigen Mängeln, die ich hier angedeutet habe.
Die internationale Systemplanung aber hat natürlich ein weit größeres Gewicht. In der Vergangenheit ist es stets so gewesen, daß der technische Fortschritt zur Entwicklung immer schnellerer und immer größerer Flugzeuge geführt hat. Das geschah in einem solchen Tempo, daß die in Betrieb befindlichen Flugzeuge durch modernere Flugzeuge ersetzt worden sind, obwohl sie noch durchaus verwendungsfähig waren. Es ist eben auch hier so, daß das Bessere das Gute verdrängt.
Dagegen wäre an sich nichts zu sagen, wenn das nicht gewisse Konsequenzen hätte. Die Anforderungen an die Infrastruktur, also an die Flughäfen, die Flugsicherung und den Flugwetterdienst, wurden durch die technische Entwicklung der Flugzeugindustrie mit ihren ganz erheblichen finanziellen Auswirkungen auf die Infrastruktur bestimmt. Ich meine, daß es in der Tat geboten ist, durch eine sinnvolle internationale Systemplanung zwischen Luftfahrtindustrie, Flughafengesellschaften, Luftverkehrsgesellschaften und Luftfahrtverwaltungen zu einer vernünftigen Lösung zu kommen, bevor es zu spät ist. Zu spät ist es schon für die erste Generation der Überschallflugzeuge, der sogenannten supersonics, aber für die nachfolgende zweite Generation sollte die Zeit genutzt werden, um eine vernünftige Koordinierung zu erreichen.
Im Verkehrsbericht der Bundesregierung ist —
das muß ich anerkennen, Herr Bundesverkehrsminister — zum Ausdruck gebracht worden, daß die Bundesregierung die Bestrebungen der ICAO, der International Civil Aviation Organization, in dieser Hinsicht unterstützt. Wir hoffen, daß Sie, Herr Bundesverkehrsminister, im Herbst nächsten Jahres nach der Vollversammlung der ICAO in der Lage sein werden, dem Verkehrsausschuß über echte Fortschritte zu berichten. Es ist ein außerordentlich wichtiges Problem.
Meine Damen und Herren, obwohl dem Verkehrsbericht manches fehlt, was in die Zukunft weist — hierfür ist die politische Führung des Ministeriums verantwortlich —, läßt er doch erkennen, daß der jetzige Bundesverkehrsminister Leber das Glück gehabt hat, vor genau vier Jahren von seinem bedeutenden Vorgänger Dr. Hans-Christoph Seebohm ein Ministerium mit einer großen Zahl ausgezeichneter Fachleute auf allen Gebieten, insbesondere auch auf dem Gebiet der Luftfahrt, zu übernehmen.
Deshalb, Herr Bundesverkehrsminister, habe ich es eigentlich immer bedauert, daß Sie im vergangenen Jahr, als das Reichs- bzw. Bundesverkehrsministerium sein 50jähriges Bestehen feierte, dieses Gedenktages in einem langen und ausführlichen Artikel unter Ihrem Namen im regierungsamtlichen Bulletin gedacht haben und dabei der Entwicklung und Geschichte des Reichs- bzw. Bundesverkehrsministeriums ebenso wie seiner Aufgabenstellung eingehende Ausführungen widmeten. Sie haben bei dieser Gelegenheit eine ganze Anzahl früherer Reichsverkehrsminister namentlich erwähnt, auch denjenigen, der dieses Amt im Dritten Reich innehatte. Nur denjenigen, der in diesen 50 Jahren dieses Ministerium mehr als ein Drittel der Zeit, nämlich über 17 Jahre — länger, als die Weimarer Republik bestanden hat —, geführt hat, haben Sie nicht einmal mit seinem Namen erwähnt, geschweige denn, daß Sie sein Werk gewürdigt hätten. Das ist nicht zu verstehen!
Ich glaube, die Zeit ist reif, Herr Bundesverkehrsminister, daß Sie hierzu ein klärendes Wort sagen,
Das war die erste Rede des Kollegen Mursch in diesem Hause. Ich beglückwünsche ihn dazu herzlich
und gebe nunmehr dem Herrn Abgeordneten Wendt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur einige Sätze zu den Ausführungen von Herr Schulte bezüglich der Kilometerpauschale sagen. Vielleicht, Herr Schulte, hat man Sie hierher geschickt, weil Sie in dieser Wahlperiode erstmals in diesem Hohen Hause sind und daher nicht den wahren Anlaß dafür kennen, daß die Kilometerpauschale seinerzeit gesenkt worden ist.
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Wendt
Das ist doch damals wegen der von Ihrer Partei gewollten Rezession geschehen.
Und Sie wollten ja noch weiter gehen. Sie wollten bis auf 10 Pf heruntergehen und nicht, wie es dann gemeinsam beschlossen wurde, auf 36 Pf.
— Natürlich stimmt das! Sie können alles nachlesen, was darüber geschrieben worden ist.
— Gut, Sie können es feststellen; Sie können überall nachlesen, wie es damals war.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Fellermaier? —
Herr Kollege Wendt, gehe ich fehl in der Annahme, daß der damalige Bundesfinanzminister im Kabinett eine Senkung der Kilometerpauschale auf 10 Pf vorgeschlagen hat?
Sie bestätigen das, was ich eben gesagt habe.
Es kommt noch ein anderer Aspekt hinzu. Damals ging es um die Steuermehreinnahmen des Bundes oder — umgekehrt — um weniger Abschreibungsmöglichkeiten. Hinzu kam das verkehrspolitische Ziel, die Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden nicht noch weiter zu verschlechtern. Heute haben Sie so viel über die Verkehrsverhältnisse auch in den Gemeinden gesprochen, und dadurch sollte gerade verhindert werden, daß diese Angelegenheit geprüft wird. Diese Prüfung wird nun im Verkehrsbericht auf Seite 79 angekündigt. Sie soll erfolgen, um nach Möglichkeit eine Verlagerung des individuellen Verkehrs auf die öffentlichen Verkehrsmittel, auf keinen Fall aber den umgekehrten Effekt zu erreichen, daß der Individualverkehr durch die höheren Abschreibungsmöglichkeiten noch weiter gefördert wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage ,des Herrn Abgeordneten Schulte?
Herr Kollege, sind Sie der Ansicht, daß die Veränderung der Kilometerpauschale beim letzten Mal eine Verlagerung des Verkehrsstroms mit sich gebracht hat?
Sie hat aber die Ausweitung verhindert, die wahrscheinlich eingetreten wäre, wenn es bei der damaligen Höhe geblieben wäre. Herr Schulte, Sie haben gesagt, daß unsere Städte bewohnbarer, befahrbarer werden sollten. Dann müssen wir dafür sorgen, daß der Individualverkehr zurückgeht, damit die Städte für ihre Bewohner, die darin leben, darin arbeiten und die darin fahren müssen, wieder freier werden. Das muß unser gemeinsames Ziel sein. Deswegen sind wir ja, Herr Kollege Lemmrich, vor kurzem in Amerika gewesen und haben uns das und auch die Auswirkungen dort angesehen.
Dazu komme ich noch. Die Situation auf dem Lande haben wir doch jetzt im Steueränderungsgesetz berücksichtigt: die 40 km-Grenze wird beseitigt.
Hier hat es Härten gegeben,
und die sollen noch in dieser Woche beseitigt werden. Das begrüßen wir ebenso wie die Ankündigung des Verkehrsministers, diese gesamte Angelegenheit unter den Aspekten der Verkehrspolitik und der Steuerpolitik zu prüfen. Dann werden wir wahrscheinlich gemeinsam zu einem guten Ende kommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herr Abgeordneten Mursch über die Luftfahrt veranlassen mich, einige Bemerkungen zu machen. Sicher könnte man hier in vieler Beziehung darüber fachsimpeln, warum das eine oder das andere so und nicht anders ist. Ich will aber einige wesentliche Bemerkungen machen.
Einmal zum Leber-Plan als Ganzem. Meine Damen und Herren, der Leber-Plan ist doch eine Gesamtkonzeption. In dieser Gesamtkonzeption haben alle Verkehrsträger ihren Platz, die Bundesbahn — das haben wir heute morgen gehört —, der Straßenverkehr, die Seeschiffahrt und die Luftfahrt. Nun ist unsere Aufgabe, zu überlegen, wie sich die einzelnen Verkehrsträger in dieser Gesamtkonzeption verhalten. Es ist das große Verdienst von Georg Leber — im Gegensatz zu dem hockgeschätzten Vorgänger, den ich noch in seiner Amtstätigkeit als Mann aus dem Luftverkehr kennenlernen durfte —, daß er die Gesamtkonzeption gefunden hat, die diese Verkehrsträger miteinander verbinden.
— Wir reden doch über die Luftfahrt und die Stellung der Luftfahrt in diesem Programm. Das ist eine Entgegnung auf meinen Kollegen. — Ich werde Ihnen gleich beweisen, warum das so ist.
Meine Damen und Herren, heute sind doch — ich habe mich darüber gewundert — die Fragen gar nicht angesprochen worden, die lange Zeit im Ver-
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Schmidt
kehrsgewerbe zur Diskussion gestanden haben. Trotz massiver Gegenpropaganda — von Leuten, die diese Dinger an die Lastwagen geklebt haben — ist doch im Gegensatz zu allen Vorhersagen ein Aufschwung in diesem Verkehrsgewerbe zu verzeichnen. Wenn Sie das nicht glauben, können Sie das in den Unterlagen der Berufsgenossenschaften, deren Vorsitzer zu sein ich die Ehre habe, über die Lohnsummensteigerungen in diesem Verkehrsgewerbe nachsehen.
Nun zum Weltluftverkehr und den Problemen, wie sie sich in diesem Konzept darstellen.
Herr Kollege Mursch, Sie haben die Frage aufgeworfen: Wie ist das eigentlich mit der Deutschen Lufthansa, und wie stellen sich die Dinge im Weltluftverkehr in der Zukunft dar? Sie haben gesagt, die Lufthansa habe nur einen geringen Teil. Aber in der Fracht ist sie im übrigen an vierter Stelle unter den Gesamt-Carriern im Luftverkehr. Dann haben Sie die Frage aufgeworfen: Wie geht das mit der Air-Union?
Ich habe 1964 ein sehr eingehendes Gespräch mit Herrn Seebohm zu dieser Frage gehabt. Herr Seebohm hat mir damals gesagt, wie er es sehe, gehe es nicht. In der Tat, Herr Mursch, es ging auch nicht, weil sich in der Air-Union die Partner von ihren nationalen und übernationalen Interessen, nämlich von den Flugverkehrsrechten, die sie nun einmal besessen haben, überhaupt nicht trennen konnten. Das trifft für alle vier zu. Geben Sie mir recht!
Wir haben dann einen Ausweg gesucht, Leute, die im Luftverkehr etwas zu sagen haben, und haben uns überlegt: Wie können wir die von Ihnen angesprochene Kostenprogression in einem vernünftigen Rahmen halten?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mursch?
Mursch (CDU/CSU) : Herr Kollege, darf ich Sie daran erinnern, daß ich gesagt habe, man müsse überlegen, den Gedanken der Air-Union neu zu beleben, und daß ich das vorher mit eindrucksvollen Argumenten begründet habe? Die Schwierigkeiten der Vergangenheit, die Sie darstellen, kenne ich natürlich genausogut.
Herr Kollege Mursch, wenn Sie mich drei Sätze hätten weiterreden lassen, wäre diese Frage überflüssig gewesen. Aber ich will Ihnen sagen, was wir uns jetzt überlegt haben, wie man das machen kann. Das geht nur so: Man muß die Dinge gemeinsam machen, die für alle gleichzeitig anfallen, wenn man dahin kommt, für alle Partner gleichzeitig dasselbe Fluggerät anzuschaffen.
Nun haben wir die Situation, daß sich alle Gesellschaften der Jumbo-Jets bedienen. Dann gibt es ein sogenanntes Projekt Atlas. Der Name „Atlas" ist zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der Fluggesellschaften Air France, UTA, Lufthansa, Alitalia und Sabena. Das Atlas-Projekt beinhaltet eine
progressive Wartung, die umschichtig bei allen Fluggesellschaften gemacht wird. Air-France macht die Zelle, die Lufthansa macht die Triebwerke, Sabena macht die Geräte, und die Alitalia macht die Elektronik, künstliche Horizonte und ähnliche Dinge.
— Genau!
Ich wollte Ihnen nur sagen: Nur auf diesem Gebiet kann man so etwas machen, weil es sich auf dem nationalen Gebiet offensichtlich nicht sehen läßt. Das hat der Verkehrsminister in seinem Bericht auch berücksichtigt.
Ich bin an und für sich sehr dankbar, daß er die Frage der Verkehrsrechte, der Schwerpunkte, um die es in Zukunft geht, angesprochen hat. Wir sind in dieser Frage ja gar nicht in einem großen Gegensatz. Wir müssen hier auch zur Kenntnis nehmen, daß diese Angelegenheit sehr, sehr schwierig ist. Ich muß Ihnen aber sagen, daß ich seit der Zeit, seit der Bundesverkehrsminister Leber die Geschäfte führt, sich die Verkehrsrechte in etwa doch sehr gut entwickelt haben.
Gescheitert sind vorgestern — ich weiß nicht, ob Sie das wissen — die Verhandlungen mit den USA. Es ging darum, mehrere Plätze anfliegen zu können. Es sieht auch so aus, als wenn sich auch die Sache mit Toronto nicht so realisieren läßt. Über Moskau möchte ich hier gar nicht reden. Das ist natürlich eine politische Frage. Sie wissen wie ich, daß sich im Handgepäck eines jeden Außenministers auch die Frage der Verkehrsrechte befindet, nicht nur des Außenministers der Bundesrepublik, sondern aller Außenminister, die über diese Dinge reden.
Nun muß ich einiges zu dem sagen, was Sie über die defizitäre Situation ausgeführt haben. Sie stellten es anders dar als der Verkehrsbericht des Verkehrsministers, der sich darüber etwas positiver äußert als Sie. Sie sprachen von 12 % Zuwachs und davon, daß die Rentabilität zurückgehe. Ich habe hier zufällig die Zahlen von der Lufthansa für Januar bis September. Fluggäste September 1969: 4 463 000; jetzt, 1970: 5 303 000. Das sind 18,8 % Zuwachs. In der Fracht sind es 16,6 %, Post 11,1 %, bezahlte Tonnenkilometer 15,9 %.
Ich will Ihnen damit nur sagen, es sieht gar nicht so schlecht aus. Wenn es uns gelingt, die Kosten einigermaßen in den Griff zu kriegen, dann sehe ich gar nicht so pessimistisch in die Zukunft wie Sie, trotz dieser IATA-Vorhersage und trotz der Misere, in der sich die amerikanischen Fluggesellschaften befinden. Herr Kollege Mursch, Sie dürfen das nicht immer auf unsere Verhältnisse projizieren. Dort geht es um ganz andere Dinge, und die Entlassungen von 2000 Leuten bei TWA und von 1800 bei Pan American haben ganz andere Ursachen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Mursch?
Mursch (CDU/CSU) : Darf ich Sie daran erinnern, Herr Kollege, daß die Zahlen der
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Mursch
Prognose, die ich genannt habe, nicht von mir, sondern vom Generalsekretär der IATA, Herrn Hammarskjöld, stammen.
Ich habe es zur Kenntnis genommen, daß sie von Herrn Hammarskjöld stammen.
— Ja, das sollte man annehmen.
Das Defizit, von dem ich gesprochen habe, hat andere Ursachen. Sie haben nun gefordert, die Wegekosten einzubeziehen und darüber nachzudenken, ob man die Flugsicherung anders gestalten kann. Davor möchte ich nun doch warnen. Denn die Frage von Eurocontroll und all die Dinge, die damit zusammenhängen, sind nur im Zusammenhang zu lösen. Es gibt einen Luftraum, der uns allen zugänglich ist, und Sie können die Dinge nicht, wie es gerade paßt, herausnehmen.
Der Bundesverkehrsminister hat in seinem Bericht mit Recht geschrieben, daß die Frage des Binnenluftverkehrs und all die damit zusammenhängenden Probleme eingehend geprüft werden müssen. Es ist einfach nicht zu verantworten, daß wir den Kommunen Kosten auferlegen, deren Tragweite sie bisher überhaupt nicht übersehen können. Stellen Sie sich einen Flughafen in einer kleineren Stadt vor, der ja nicht nur ein Landeplatz sein soll, sondern der auch eine Befeuerung haben muß, der ein ILS-System haben muß, der einen Tower haben muß, der eine Flugsicherung haben muß. All diese Dinge müssen bezahlt werden und können doch nicht zu Lasten des Bundes gehen, weil sonst der innerdeutsche Verkehr noch mehr defizitär wird.
— Ja, größte Behutsamkeit!
— Ich habe Ihnen hier einige Probleme aufgezeigt, von denen ich meine, daß man sie nicht so lösen kann, daß man sie in das Gesamtpaket mit hineinschnürt, sondern daß man sie auf lange Sicht sehen muß, je nachdem wie sich die Verhältnisse im europäischen Luftraum entwickeln.
Es ist eine Frage, über wieviel Luftraum wir in Zukunft verfügen können. Das ist für uns ein großes Problem. In Amerika hat es diese Probleme gegeben, in absehbarer Zeit wird es sie in Deutschland geben.
Sie haben von der Sicherheit im Luftverkehr gesprochen. Ich bin der Meinung, daß hier alles getan
worden ist, was überhaupt zu tun ist. Ich spreche jetzt für alle, die da beteiligt sind. Das fängt beim Bundesgrenzschutz an und hört bei den Zollbehörden und all den Leuten auf, die sich dankenswerterweise für diese Aufgaben zur Verfügung gestellt haben. Aber Sie können einerseits einen Großflughafen von der Größenordnung wie beispielsweise Frankfurt nicht hermetisch abriegeln. Sie können nicht alle Zufahrtswege so blockieren, daß eine Hundertprozentige Sicherheit gewährleistet ist. Zum anderen können Sie auf keinen Fall einen sogenannten Gunman, einen bewaffneten Sicherheitsbeamten, gegen den ausgesprochenen Willen des Flugkapitäns mit ins Flugzeug nehmen; denn für die Sicherheit an Bord ist nun einmal nach dem Gesetz — das wissen Sie so gut wie ich — der Flugkapitän verantwortlich. Er muß dafür Sorge tragen, daß die Sicherheit gewährleistet ist. Im übrigen sehen Sie doch am Beispiel der Entführungen nach Kuba, daß sich dieses System in den Vereinigten Staaten zweifellos überhaupt nicht bewährt.
Sie haben dann noch zur Systemplanung und zur Flugzeugabfertigung einige Worte gesagt. Dazu möchte ich noch einiges sagen. Ich stimme Ihnen zu, wir müßten in absehbarer Zeit zu einer Koordinierung kommen. Ich habe gesehen, wie schwierig das auf den Großflughäfen, insbesondere in Frankfurt, ist, nicht auf Grund des bösen Willens der Beteiligten, sondern einfach deshalb, weil der technische Fortschritt die Planer, die ja gar nicht so schnell bauen können, immer wieder einholt. Die Finger hier in Köln sind zweifellos für größere Flugzeuge gedacht. Stellen Sie sich nun bitte vor, wie das in Frankfurt aussieht. Dort müssen Sie mit zwei oder drei Fingern den Jumbo entladen. An einer solchen kleinen Stelle können Sie eine 737 mit ihren 100 Passagieren nicht entladen. Diese Projektplanung, auch die Projektplanung für ausländische Flughäfen, und die Zusammenarbeit mit ausländischen Fluggesellschaften hängen natürlich in hohem Maße davon ab, wie diese Länder ihre eigenen Abfertigungsgeräte wieder konstruiert haben. Sie wissen, daß der Flughafen Orly eine ganz andere Rechtskonstruktion hat als beispielsweise die Flughafen AG in Frankfurt, an der Bund und Länder als Aktionäre beteiligt sind.
Lassen Sie mich nun noch ein Wort zur Frage der Überkapazität sagen. Wenn man die Überkapazität will, muß man sich auch einmal Gedanken darüber machen, wie das in Zukunft bei den sogenannten supplemental carriers und bei den Chartergesellschaften aussehen wird. Wir können nicht auf der einen Seite uns mit dem Gedanken tragen, den Flugzeugverkehr in irgendeiner Art und Weise, etwa durch steuerliche Maßnahmen auszuweiten — denken Sie an den § 82, an die berühmte Sache, bei der man mehr oder weniger in das Chartergeschäft einsteigen kann —, und auf der anderen Seite Zuschüsse geben, damit sich die einzelnen Verkehrsträger untereinander koordinieren. Dieses Problem muß nach meinem Dafürhalten geprüft werden. Darrüber muß man reden. Man muß eingehend unter-
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Schmidt
suchen, ob man diese Überkapazitäten in Zukunft überhaupt noch verkraften kann und ob man so etwas will.
— Das geht ja nicht. Sie haben ja einen freien Markt, und wenn die Chartergesellschaften das verkaufen, können Sie in diesen Markt nicht eingreifen.
— Die Empfehlung des Herrn Hammarskjöld basiert auf der Warnung davor, daß die Fluggesellschaften diese Entwicklung mitmachen. Aber ich sage Ihnen: sie müssen sie mitmachen, weil sonst die anderen das machen und weil man im Luftfahrtgeschäft das Gesetz des Handelns von der Technik und von anderen Faktoren oktroyiert bekommt, selbst wenn man, wie Sie sehr richtig bemerken — da muß ich Ihnen recht geben , das eine oder andere Flugzeug, technisch gesehen, auch noch etwas länger fliegen könnte.
Ich stimme mit der Konzeption, wie sie in dem Verkehrsbericht niedergelegt ist, was die Luftfahrt anlangt, voll überein, und ich bin froh, daß diese Dinge einmal in dieser Form ausgesprochen worden sind und daß der Minister in dieser Frage des Luftverkehrs und seiner Einordnung in die gesamte Verkehrskonzeption ein klares und eindeutiges Wort gesagt hat.
Meine Damen und Herren, ich darf den Herrn Kollegen Schmidt zu seiner ersten Rede in diesem Hause beglückwünschen und ihm alles Gute für die weitere Arbeit wünschen.
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Engelsberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ein Problem ansprechen, das heute beim Herrn Bundesverkehrsminister unerwähnt geblieben ist, nämlich das Problem des Fremdenverkehrs, das aber auch in sein Ressort fällt.
Herr Kollege Engelsberger, ich darf Sie nach § 40 der Geschäftsordnung zur Sache rufen. Nach der Tagesordnung sehe ich keine Möglichkeit, hier den Fremdenverkehr zu behandeln. Es gibt nur ein derartiges Problem, das im Verkehrsbericht angesprochen ist, und das ist die Ferienordnung.
— Entschuldigen Sie, hier sind vier Vorlagen zur Beratung aufgerufen, nämlich der Verkehrsbericht 1970, das Eisenbahnkreuzungsgesetz, der Ausbau der Bundesfernstraßen — —
- Ja, in dem Verkehrsbericht ist der Fremdenverkehr bis auf die Frage Schulferien nicht einbezogen.
— Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, ich halte mich hier an die Vorlagen. Es müssen sonst entsprechende Anträge eingebracht werden.
Ich bitte Sie also, zur Sache zu sprechen.
— Der Herr Kollege hat einen engen Spielraum; er muß im Rahmen der Geschäftsordnung zur Sache sprechen.
— Herr Kollege, wir haben vier Tagesordnungspunkte, die ganz klar den Rahmen der Debatte abstecken,
und daran muß ich mich halten. Dann hätte Ihre Fraktion einen Antrag einbringen müssen, über diesen Punkt hier zusätzlich zu debattieren.
Ein eigener Debattebeitrag über Fremdenverkehr geht jedenfalls über den Bereich der genannten Tagesordnungspunkte hinaus.
Herr Präsident, ich werde versuchen, im Rahmen des Verkehrsberichts bzw. des Haushalts des Bundesverkehrsministeriums
mich an dieses Problem „Fremdenverkehr", soweit es das Verkehrsministerium berührt, zu halten.
Herr Kollege, ich muß noch einmal wiederholen, damit wir hier klarsehen: nach der Geschäftsordnung sind vier Tagesordnungspunkte — 3 a) bis d) — aufgerufen. Es gibt einen Punkt, in dem der Fremdenverkehr am Rande mit dem Verkehrsbericht in Verbindug steht: bei den Schulferien. Ich habe mich hinsichtlich der Materie noch einmal vergewissert. Sie haben die Möglichkeit, soweit etwas damit in Verbindung steht, hier zur Sache zu sprechen. Ich bitte nur um Verständnis: der Haushalt des Bundesverkehrsministers in Sachen Fremdenverkehr ist heute nicht zur Aussprache gestellt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, der Bericht über den Einzelplan 12 für das Haushaltsjahr 1971 sieht zur Förderung des Ausländer-Reiseverkehrs — —
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Herr Kollege, ich muß Sie noch einmal bitten: entweder Sie kommen zur Sache oder —
Ich verzichte dann, es hat keinen Sinn. Ich habe mich auf Fremdenverkehrsprobleme eingestellt.
Ich bedauere aber, daß es im Rahmen einer Verkehrsdebatte nicht möglich ist, auch den Fremdenverkehr anzusprechen.
Herr Kollege, es ist hier keine allgemeine Verkehrsdebatte, sondern es stehen vier Tagesordnungspunkte mit einem klar abgegrenzten Rahmen auf der Tagesordnung. Es liegt an Ihrer Fraktion, diesen Rahmen durch Anträge zu erweitern.
Das Wort hat der Abgeordnete Fellermaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher, Herr Kollege Engelsberger, wird es Gelegenheit geben, bei einer anderen Debatte diese Dinge aufzunehmen, die wir 1968 hier einmal sehr grundsätzlich diskutiert haben.
Lassen Sie mich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Debatte neigt sich zum Ende
ein paar Bemerkungen machen. Diese sind notwendig, auch wenn es heute der CDU/CSU vielfach darum gegangen ist, ihre unbewältigte Vergangenheit doch noch zu bewältigen.
Das hohe Klagelied des Herrn Lemmrich
— Aber, lieber Herr Kollege Erhard, ich sage etwas — Sie müssen warten, bis der zweite Satz kommt —, was im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Verkehrsbericht und der heutigen Debatte steht, nämlich zunächst etwas zu den Ausführungen des Herrn Kollegen Lemmrich. Nun, man hat menschliches Verständnis. Seitdem er in einer Barzel-Liste einer Illustrierten als verhinderter Verkehrsminister genannt worden ist, hat man natürlich etwas Verständnis.
— Genauso billig, Herr Kollege Lemmrich, wie Sie heute morgen versucht haben, den Sachvortrag des Bundesverkehrsministers durch Zwischenrufe fortlaufend zu unterbrechen, die man zwar in Niederbayern machen kann, die aber selbst dort teilweise nicht mehr ankommen. So, wie man in den Wald hineinschreit, so hallt es auch wider, verehrter Herr Kollege Lemmrich.
Herr Abgeordneter Fellermaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lemmrich?
Herr Kollege Fellermaier, nachdem Sie hier mit zu den kräftigsten Zwischenrufern in allen Debatten zählen: glauben Sie, daß diese etwas moralisierende Art sich besonders für Sie eignet?
Ach, wissen Sie, Herr Lemmrich, da kann ich Ihnen nur sagen: wenn Sie in den Schuhen Ihres Fraktionsvorsitzenden — als Lehrmeister — schreiten wollen, die Schuhe sind in dem Fall für Sie nicht ganz passend.
Aber lassen Sie mich noch etwas zu der Historie der Beschwerde der CDU/CSU sagen, daß sie damals bei der Vorlage des Verkehrspolitischen Programms vor den verschlossenen Türen des Verkehrsministers gestanden hat. Einmal hat dieser Bundesverkehrsminister deutlich gemacht, wie der damalige Bundeskanzler seine eigene Fraktion dazu eingeschätzt hat. Aber zum anderen, Herr Kollege Lemmrich: Sie wollen doch nicht bestreiten, daß in der damaligen Großen Koalition dann, als die Vorlage des Verkehrsministers auf dem Tisch des Hauses war, der Minister in manchen Koalitionsgesprächen gesagt hat, er sei offen für alle Vorschläge und auch für Verbesserungen. In dieser Offenheit fanden dann auch die Koalitionsgespräche statt, an denen Sie mit beteiligt waren, zwischen dem Bundesverkehrsminister, der SPD und der CDU/CSU.
Aber vielleicht sollte ich Ihnen, weil Sie sich immer aus der Vaterschaft an diesem verkehrspolitischen Programm herausmogeln wollen, in die Erinnerung zurückrufen, was Ihr damaliger Bundeskanzler Kiesinger, als er Gast in der SPD-Fraktion war, zu den Feststellungen und der Kritik seines Fraktionskollegen Müller-Hermann am Verkehrspolitischen Programm, das ja doch ein gemeinsames Programm war, dazu gesagt hat. Da gab es nur eine Antwort von Herrn Kiesinger mit einer abwertenden Handbewegung: Menschlich, menschlich.
Das war die Bewertung Ihres CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlers zu der Kritik Ihres Fraktionskollegen Müller-Hermann am Verkehrspolitischen Programm der damaligen Großen Koalition.
Herr Kollege Fellermaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmitt ?
Herr Kollege Fellermaier, sehen Sie keinen Unterschied zwischen einem verkehrspolitischen Programm, das mit Dirigismen belastet ist, und einem solchen ohne Dirigismen?
Aber Herr Kollege Schmitt , Sie haben anscheinend nicht zugehört.
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Fellermaier
Ich habe Herrn Leber aus der damaligen Zeit zitiert, daß er von allem Anfang an erklärt hat, er sei für alle Vorschläge aus dem Kreis des Deutschen Bundestages und insbesondere aus der Großen Koalition offen. Die sachlichen Beratungen haben bewiesen, daß er sein Wort dazu im Laufe der Verhandlungen eingelöst hat.
Lassen Sie mich nun, meine sehr verehrten Damen und Herren — —
Herr Abgeordneter Fellermaier, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmitt ?
Herr Präsident, wir können dieses Spiel fortsetzen, nur glaube ich, von der Zeit her sollte man vielleicht den Kollegen des Rechtsausschusses nicht zumuten, noch ewig zu warten, bis sie mit der Vorlage zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz an der Reihe sind. Herr Kollege Schmitt , wären wir nicht im gleichen Ausschuß, wäre es anders, aber so haben wir Gelegenheit, dort die Aussprache fortzusetzen.
— Herr Kollege Lemmrich, überlassen Sie das uns, wie wir die Präsenz im Verkehrsausschuß für unsere Fraktion regeln!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nun noch ein paar abschließende Bemerkungen machen. Dieser Verkehrsbericht, den heute der Bundesverkehrsminister vorgelegt hat, ist eine erste Bilanz zum Ablauf des Verkehrspolitischen Programms für die Jahre 1968 bis 1972. Was er vorgelegt hat, war eine gute Bilanz aktiver deutscher Verkehrspolitik, seit Leber die Leitung des Hauses übernommen hat.
Wo hat es in diesem Lande vor diesem Zeitpunkt ein geschlossenes Konzept für alle Verkehrsträger gegeben? Wo war es? Leber war es, der es erstmals auf den Tisch des Hauses gelegt hat, auch wenn Ihnen das in Ihren Ohren manchmal wehtut.
Lassen Sie mich ein zweites sagen. Dieser Verkehrsbericht war ein Ausblick in die Zukunft, der deutlich macht, welche Priorität diese Bundesregierung in die Verkehrspolitik und in ihre Fortentwicklung setzt.
Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen. Wir haben heute in dieser Debatte geglaubt, daß die Opposition nicht in Klein-klein macht, sondern
daß sie eine geschlossene Alternative, ein anderes, ein besseres Konzept vorlegt, als es diese sozialdemokratisch-freidemokratische Bundesregierung hat. Aber hier kann man nur sagen: Fehlanzeige in der ganzen Debatte. Wo ist Ihr geschlossenes Konzept, das besser als das unsere wäre?
Lassen Sie mich zum Verkehrsbericht der Bundesregierung, weil der Kollege Vehar etwas zu den Fragen der Entwicklung im Nahverkehr gesagt hat, nochmals eine Feststellung treffen: Die sozialdemokratische Fraktion begrüßt die Erklärung des Bundesverkehrsministers, daß er in Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern eine Planung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des öffentlichen Personennahverkehrs im Jahre 1971 vorlegen wird. Wir wissen ganz genau, daß wir dazu die aktive Mithilfe aller Bundesländer und auch die Bereitschaft der Gemeinden brauchen. Man kann nicht so tun, als trage hier der Bundesverkehrsminister die alleinige Verantwortung dafür, sondern man muß auch die Rechtslage sehen.
Nun ist im Zusammenhang mit dem Luftverkehr von dem Kollegen Mursch einiges gesagt worden. Lassen Sie mich nur eines hier feststellen: Dieser Bundesverkehrsminister hat in seinem Hause eine Arbeitsgruppe zur Neuordnung des Luftverkehrs eingesetzt, und es gibt auch intensive Verhandlungen mit den Bundesländern, um zu einer besseren Koordinierung hinsichtlich des regionalen Luftverkehrs, hinsichtlich der regionalen Landeplätze, zu kommen. Es gibt im Rahmen der EWG — um auch das hier gleich noch zu sagen, Herr Kollege Mursch — durchaus Vorstellungen, obwohl die Römischen Verträge das nicht vorsehen, zu einer Gemeinsamkeit in der Frage des Luft- und Seeverkehrs zu kommen. Nur, wer weiß, wie langsam Brüsseler Mühlen mahlen, weiß auch, daß man hier Geduld üben muß.
Eines aber ist eine Tatsache: daß dieser Bundesverkehrsminister bei manchen Verhandlungen, die in Brüssel über die Harmonisierung im Verkehr stattgefunden haben, die Initialzündung dafür gegeben hat, daß diese Entwicklung heute schneller vorangeht, als das in früheren Jahren in der EWG der Fall war.
— Ach, wissen Sie, Herr Bodson war ein Verkehrskommissar; jetzt ist es Herr Coppé. Aber die Kommissare sind ja in einem gesamtkollegialen Gremium, Herr Lemmrich. Wenn man das beurteilen will, wie Sie es hier in Zwischenrufen getan haben, muß man sich in Brüssel etwas umschauen. Da sollten Sie einmal Ihre Kollegen vom dortigen Verkehrsausschuß befragen.
Lassen Sie mich hier zwei Feststellungen an die Adresse der CDU/CSU richten, um nochmals das zu verdeutlichen, was heute vormittag der Kollege Hans Apel für die sozialdemokratische Fraktion gesagt hat:
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Fellermaier
Wir treten — um das ganz deutlich zu sagen — dafür ein, daß im Jahre 1971 die Frage der möglichen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Bundes- und Landstraßen einer Regelung zugeführt wird.
Was die Frage der Gefahren des Alkohols im Straßenverkehr betrifft, so begrüßen wir den letztmaligen Appell des Bundesverkehrsministers und seine Ankündigung einer großen Aufklärungsaktion im Frühjahr nächsten Jahres in der deutschen Öffentlichkeit, sozusagen als letzte Möglichkeit. Wenn diese Aktion allerdings die gleichen schlechten Ergebnisse bringt, dann werden wir alle gemeinsam in diesem Hause interfraktionell den Mut haben müssen, uns auf eine Herabsetzung der Grenze auf 0,8 Promille zu einigen — im Interesse der Hebung der Verkehrssicherheit.
Lassen Sie mich ein Wort Ihres Fraktionskollegen Müller-Hermann aufgreifen, das ich dankbar unterstreichen will. Er hat gesagt, daß Sie bereit sind, im Verkehrsausschuß an Lösungen mitzuarbeiten, um künftig Prioritäten zu setzen, damit es nicht einen heillosen Wettbewerb um die höhere Bewertung von Nahverkehr oder Fernverkehr oder Ausbau in Gemeinden oder Ausbau in Ballungszentren oder Ausbau von Fernstraßen und Bundesautobahnen gibt. Als Parlament müssen wir in Zusammenarbeit mit dem Bundesverkehrsminister Prioritäten setzen im Interesse einer Lösung der Gesamtverkehrsprobleme.
Fahren Sie fort auf diesem Weg. Er war erfolgreich, und wir sind sicher, er wird erfolgreich bleiben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erhard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das brennendste Problem in unserem Verkehr ist und bleibt das der Toten und Schwerverletzten; von den Sachschäden will ich gar nicht erst reden. Das ist ein so wichtiges menschliches und volkswirtschaftliches Problem, daß demgegenüber Investitionen von einigen hundert Millionen DM mehr oder weniger nach meiner Überzeugung in den Hintergrund treten. Je entschlossener wir diese Frage zu lösen versuchen, desto besser erfüllen wir die Aufgabe, die uns eigentlich gestellt ist.
Wenn wir im Verkehrsbericht lesen, daß die Bundesregierung erwägt, gewisse Maßnahmen zu treffen und Vorschriften einzuführen, darunter die 0,8-
Promille-Grenze, sich im übrigen aber weitgehend mit der Neufassung der Straßenverkehrsordnung zufrieden gibt, so kann ich nur sagen: Das ist schlicht zu wenig, Herr Minister. Ein sorgfältiger Blick in die Statistik der Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang und mit schwerer Körperverletzung lehrt uns, daß das unfallträchtigste Verhalten in erster Linie das zu schnelle Fahren und in zweiter Linie
das falsche Überholen ist, und zwar losgelöst vom Alkoholeinfluß. Der Alkohol war bei diesen Unfällen nicht im Spiel. Die Statistik baut darauf auf, daß dann, wenn, unter welchen Umständen auch immer, ein Unfall passiert, bei dem Alkoholeinfluß eine Rolle spielt, Alkohol als Unfallursache angenommen wird. Wenn also jemand unter Alkoholeinfluß zu schnell gefahren ist, erscheint dieses Delikt nur unter den Alkoholdelikten, nicht unter einem anderen Delikt. Wenn sich also mit Abstand die meisten schweren Unfälle auf Grund falschen Überholens und zu schnellen Fahrens ereignen, müßte bei diesem Verhalten angesetzt werden.
Herr Minister, ich halte es für ausgezeichnet, daß Sie eine Werbeaktion gegen das Fahren nach Alkoholgenuß starten, in der Sie dafür plädieren, nur Auto zu fahren, wenn man vorher überhaupt keinen Alkohol getrunken hat. Verstärken Sie diese Bemühungen! Der Bundestag sollte dafür das von Ihnen erbetene Geld immer zur Verfügung stellen. Ich bin auch überzeugt, daß niemand Ihnen die dafür notwendigen Mittel streicht, zumindest nicht in diesem Hause; vielleicht tut es der Finanzminister. Diese Ihre Bemühungen unterstütze ich voll und ganz.
Wenn man aber an einzelne Bereiche des Strafrechtes herangeht, muß man das Gesamte betrachten. Man kann die Abschreckung nicht nur auf den Alkoholtäter richten, sondern muß sie auch auf die anderen, zahlenmäßig häufigeren Täter richten. Das Strafrecht kommt ja immer erst nach einem Unfall, nach einem Verkehrsdelikt zum Zuge. Wenn es für die Verhinderung von solchen Unfällen und von solchem Verhalten von Bedeutung sein soll, kann es sich nur des Mittels der Abschreckung bedienen.
Wie ist es aber mit der Abschreckung? Herr Minister, ich habe Ihnen eben schon gesagt, daß im Hinblick auf die eigentlichen Fehlverhaltensweisen keine hinreichende und vor allen Dingen keine wirksame Abschreckung besteht. Ich bin außerdem der Meinung, daß die zahlreichen Unfälle sich auch bei viel höheren Strafdrohungen, als Sie sie für das Fahren mit 0,8 Promille Alkohol im Blut vorsehen, ereignen, d. h. daß höhere Strafen gar keine hinreichend abschreckende Wirkung haben. Bei uns werden im Jahr mehr als 60 000 Menschen wegen Fahrens mit mehr als 1,3 Promille Alkohol im Blut verurteilt, die keine Verkehrsgefährdung herbeigeführt haben und keinen Unfall verursacht haben, sondern lediglich in diesem Zustand am Steuer angetroffen worden sind, also bei korrektem Fahren. Das ist ein Zeichen dafür, daß die Abschreckung nicht wirkt. Sie kann meines Erachtens nicht wirken, denn die Folgen werden im Strafrecht immer weniger wichtig genommen.
Ein Einblick in das Verhalten unserer Bürger lehrt uns im übrigen — die Ärzte sagen es uns —, daß eine Enthemmung im Verhalten im Straßenverkehr schon bei 0,5 Promille Alkohol im Blut eintritt. Wenn man überhaupt wirksam vorgehen will, muß man also schon den enthemmten Fahrer als eine Gefahr für den sonstigen Verkehr bekämpfen. Es wäre konsequent, zu sagen: Das Fahren unter Alkoholeinfluß wird generell unter Strafe gestellt, d. h. jeder, der Alkohol im Blute hat, wird unter Strafe
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Erhard
gestellt. Das wäre vielleicht wirksam. Alles andere halte ich für unwirksam.
Man kann aber nicht Abschreckung im strafrechtlichen Bereich fordern und verlangen und zur gleichen Zeit die abschreckende Wirkung des Strafrechts fast auf ein Nullum reduzieren. Genau das haben wir im vorigen Jahr gemacht. Am 1. Oktober ist ein Strafrecht in Kraft getreten, nach dem der Straßenverkehrssünder fast nicht mehr mit einer Einsperrung bestraft wird und nach dem der Straßenverkehrssünder generell mit der Gunst der Aussetzung der Strafe zur Bewährung zu rechnen hat, was vorher nicht der Fall war.
Diese Minderung der Abschreckungswirkung des Strafrechts ist aus anderen als verkehrlichen Gründen geschehen. Wir haben bei den Beratungen im vorigen Jahr sehr wohl darauf hingewiesen, daß man im Straßenverkehr ohne kurze Freiheitsstrafen, die zu verbüßen, nicht nur zu verhängen sind, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auskommen würde, und wir haben auf das Beispiel Schwedens verwiesen. Aber wenn die Schweden etwas machen, was nicht in unsere Systeme, sagen wir lieber: in gewisse allzu wohlwollend geprägte Systeme der Vorstellung von dem, was der Mensch ist und wie er sich verhält, hineinpaßt, dann wird nicht nach Schweden geschaut, wo man sich pragmatisch verhalten hat. Wenn man also abschrecken will, dann muß man im Straßenverkehr ganz sicher die kurze Freiheitsstrafe haben, und nicht nur für den Alkoholtäter.
Ich glaube also, hier ist ein Feld der Rechtspolitik und keine spezielle verkehrspolitische Frage. Wir sollten gemeinsam die verkehrspolitischen Erfordernisse zusammen mit den allgemein rechtlichen sehen, damit wir nicht am selben Tage Gesetze in Kraft setzen, die, wie geschehen, die Abschreckungswirkung mindern, und gleichzeitig fordern, sie wieder zu erhöhen, und zwar so zu erhöhen, daß eine gerechte Lösung damit mit Sicherheit nicht erreicht wird, sondern nur eine noch ungerechtere.
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Dann können wir abstimmen.
Ich schlage Ihnen vor, daß wir zunächst einmal über die Punkte a), b) und c) en bloc abstimmen. Der Ältestenrat schlägt vor, diese Vorlagen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen als federführenden Ausschuß und an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Zu Punkt d) schlägt der Ältestenrat Überweisung an den Finanzausschuß als federführenden Ausschuß und an den Ausschuß für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen als mitberatenden Ausschuß vor. Ist das Haus einverstanden? — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Zu Punkt e) ist Überweisung nur an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
vorgeschlagen. - Das Haus ist einverstanden; es ist so beschlossen.
Ich rufe auf Punkt 4 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht
— Drucksache VI/388 —
Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache VI/1471 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Arndt
Abgeordneter Dichgans
Herr Dr. Arndt, Sie haben das Wort als Berichterstatter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes legt Ihnen der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages eine wichtige Rechtsentscheidung vor, die bereits im 4. Deutschen Bundestag eingehend beraten worden ist und in diesem Bundestag wiederum Gegenstand intensiver Beratungen gewesen ist.
Erstens. Das Ihnen heute vorgelegte Gesetz hat zwei große Schwerpunkte. Es bringt Ihnen zunächst das sogenannte Sondervotum. Das heißt: die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden in Zukunft, wenn dieses Gesetz verabschiedet ist, das Recht haben, entweder ihre abweichende Meinung zur Begründung einer Entscheidung des Gerichts oder ihre abweichende Meinung zum Tenor, zur Entscheidung selbst an das Urteil anzufügen. Ich will mich bei der Berichterstattung darauf beschränken, auf diese wichtige Neuerung in unserer Rechtsordnung hinzuweisen, die der Fortentwicklung, Anpassung und Offenheit des deutschen Verfassungsrechts durch unser höchstes Verfassungsgericht dient. In der ersten Lesung des Gesetzes im 5. Deutschen Bundestag und in der ersten Lesung des Gesetzes im 6. Deutschen Bundestag ist ausführlich zur Frage der Bedeutung des Sondervotums Stellung genommen worden, so daß ich mich kurz fassen kann.
Die zweite wichtige Neuerung, die ich Ihnen im Namen des Rechtsausschusses vorzutragen habe, ist die Schaffung eines einheitlichen Richterstatus. Bisher kannte das Bundesverfassungsgerichtsgesetz Richter sehr unterschiedlichen Status: Richter, die auf Lebenszeit berufen waren, und Richter, die auf Zeit berufen waren. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, wird es in Zukunft nur noch einen einheitlichen Richterstatus geben: wir haben uns dafür entschieden, daß alle Richter des Bundesverfassungsgerichts in Zukunft auf zwölf Jahre gewählt werden und daß eine Wiederwahl nicht mehr möglich sein soll. Außerdem hat der Ausschuß gleich-
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Dr. Arndt
zeitig eine Altersgrenze festgesetzt, und zwar die gleiche Altersgrenze, die auch für alle anderen Richter gilt, nämlich die Altersgrenze von 68 Jahren.
Zweitens. Daneben enthält der Entwurf, den der Rechtsausschuß Ihnen vorlegt, eine Reihe weiterer — wenn auch nicht so wichtiger — Punkte, die wir neu gefaßt haben. Als erstes ist zu nennen, daß in Zukunft im Bereich des Strafrechts nicht nur eine Strafnorm, die vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wird, im Rahmen des Strafverfahrens einen Wiederaufnahmegrund darstellt, sondern in Zukunft wird auch eine verfassungswidrige Auslegung einer im übrigen unbeschränkt weitergeltenden Norm als Wiederaufnahmegrund gelten. Ursache hierfür waren die Verurteilungen von Kriegsdienstverweigerern, die zum zweiten- und drittenmal — in einem Fall zum viertenmal — wegen Dienstflucht bestraft wurden und für die das nach Meinung mindestens mehrerer Landgerichte und des Oberlandesgerichts Celle keinen Wiederaufnahmegrund darstellte. Das Bundesverfassungsgericht stellte dann jedoch in einer Entscheidung fest, daß eine mehr als einmalige Verurteilung wegen Dienstflucht verfassungswidrig ist. Diejenigen, die bereits verurteilt waren — einige dreimal, einer sogar viermal —, blieben das auch. Ein solches Ergebnis ist natürlich in höchstem Maße unbefriedigend. Der Rechtsausschuß hat hieraus die Konsequenz gezogen und hat deswegen auch die verfassungswidrige Auslegung einer Strafnorm als absoluten Wiederaufnahmegrund im Strafverfahren aufgenommen.
Außerdem möchte ich noch einen weiteren Punkt nennen. Sie wissen, daß wir im vorigen Bundestag durch das 19. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz eingebaut haben. Das heutige Verfassungsgerichtsgesetz zieht daraus die Konsequenzen. Die Verfassungsbeschwerde wird nun mit ihrem neuen verfassungsrechtlich gesicherten Status auch in das einfache Gesetz eingebaut. Gleichzeitig wird in bestimmten Fällen das Annahmeverfahren verbessert.
Drittens. Ich möchte Sie für den Ausschuß darauf hinweisen, daß wir auch eine Reihe von Dingen nicht beschlossen haben. Wir haben nicht beschlossen, was die Bundesregierung in ihrem Entwurf vorgeschlagen hatte, nämlich den Zeitpunkt für das Wirksamwerden der Entscheidungen unter Umständen näher an die Entscheidung heranzulegen, als das nach geltendem Recht der Fall ist. Sie wissen, daß nach unserer geltenden Rechtsordnung die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, ein Gesetz sei nichtig, bewirkt, daß dieses juristisch als nie in der Welt vorhanden angesehen wird. Das bringt natürlich, insbesondere wenn Gesetze als nichtig festgestellt werden, die lange Zeit scheinbar galten und angewandt wurden, in der Praxis manche Schwierigkeit mit sich. Das hat der Ausschuß nicht verkannt.
Dennoch haben wir uns nach intensiven Beratungen, nach Anhörung des Gerichts und nach Anhörung von Sachverständigen dahin gehend entschieden, dem Hohen Hause zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Änderung in diesem Punkte vorzuschlagen. Wir haben nämlich einsehen
müssen, daß durch eine Änderung dieser Vorschriften noch schwierigere Probleme auftauchen würden, Probleme, die zumindest gegenwärtig noch nicht gemeistert werden können. Aus diesem und einigen anderen Motiven es gab auch Kollegen unter uns, die eine Änderung der gegenwärtigen Rechtslage schlechthin für verfassungswidrig hielten — haben wir uns nicht entschließen können, der Bundesregierung insoweit zu folgen.
Die Mehrheit von uns hat ferner dem Herrn Kollegen Dichgans und seinen Freunden nicht darin folgen können, aus dem Bundesverfassungsgericht ein Einheitsgericht zu machen, d. h. ein Gericht, das sich nicht in verschiedene Spruchkörper oder Senate untergliedert. Wir sind zwar im Rechtsausschuß alle der Meinung, daß das Bundesverfassungsgericht als einheitlicher Spruchkörper ein anzustrebendes Ideal wäre. Wir haben uns aber belehren lassen, daß es angesichts der Belastung und ohne eine Einschränkung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts gegenwärtig nicht möglich ist, das Bundesverfassungsgericht als Einheitsgericht zu konstituieren. Ich bin sicher, daß der Kollege Dichgans in der dritter Lesung auf dieses Problem noch eingehend zu sprechen kommen wird.
Schließlich hat sich die Mehrheit des Ausschusses auch nicht dazu entschließen können, für die Erklärung eines Gesetzes als verfassungswidrig eine andere als die einfache Mehrheit des Gerichts vorzuschreiben. Auch darüber gingen allerdings die Meinungen auseinander. Die Debatte zur dritten Lesung wird das sicherlich noch zeigen, so daß ich mich jetzt in der Berichterstattung auf die Feststellung dieser Dinge beschränken kann.
Schließlich muß ich noch im Rahmen meiner Berichterstattung auf ein, wie die Vertreter aller Parteien im Rechtsausschuß meinen, nicht sehr erfreuliches Kapitel hinweisen. Dem späteren Kaiser Wilhelm I. wird das Wort zugeschrieben, als er noch preußischer König war und die Schlacht von Königgrätz gewonnen hatte und Bismarck ihm anschließend ansann, den bekannten Frieden von Nikolsburg zu schließen, der für Preußen keinerlei territorialen oder sonstigen Gewinn brachte, daß er diesen Frieden nur unterschreiben könne, „weil mich mein Ministerpräsident vor dem Feinde im Stich gelassen hat". Sie wissen, daß hinterher die andere Seite immer „Rache für Sadowa!" gerufen hat.
Wir Mitglieder des Rechtsausschusses wollen nicht rufen: „Rache für Sadowa!" Wir meinen aber, daß es ein unerträglicher Zustand ist, wenn in diesem Land die höchsten Richter besoldungs- und rangmäßig nicht mindestens den höchsten. Beamten gleichgestellt sind. Auch hier war sich der Ausschuß nicht einig, wie dieses Problem zu lösen sei. Unsere Freunde von der Christlich-Demokratischen Union schlugen vor, die Verfassungsrichter zu emeritieren, d. h. ihnen auf Lebenszeit die vollen Bezüge zu lassen, wie das gegenwärtig noch bei den Professoren der Fall ist. Wir Sozialdemokratten waren dagegen der Meinung, man solle dieses Problem durch eine schlichte Gleichstellung regeln, d. h. die höchsten Richter sollten zumindest nicht schlechtergestellt werden als die höchsten Beamten in diesem Land.
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Dr. Arndt
Wir mußten aber zunächst vor der geschlossenen Phalanx derjenigen kapitulieren, die meinten bestimmte Besoldungsgrundsätze verteidigen zu müssen und die glaubten, daß das Besoldungsgefüge insgesamt oder zumindest bei den Richtern vielleicht ins Rutschen käme, wenn diese Gleichstellung der höchsten Richter mit den höchsten Beamten vorgenommen würde.
Wir hätten für unsere Meinung sicherlich keine Mehrheit in diesem Hause gefunden. Wir bedauern das alle außerordentlich, und wir freuen uns darüber, daß aus dem Kreis der Mitglieder dieses Hauses, die dem Rechtsausschuß nicht angehören, Stimmen laut geworden sind, die sich dafür aussprechen, daß ein Gesetz über das Amtsgehalt und den Status von Mitgliedern der obersten Verfassungsorgane geschaffen werden möge. Man sagt, daß man auch die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts in eine solche Regelung einbeziehen könnte, ohne daß davon eine präjudizielle Wirkung etwa auf Beamte oder andere Gruppen des öffentlichen Dienstes ausgingen. Aber dies ist nur ein kleiner Silberstreif am Horizont.
Der ganze Rechtsausschuß bestreitet mit Nachdruck, daß die Einstufung der Bundesverfassungsrichter analog der der höchsten Beamten in diesem Lande ein Präjudiz für die Beamtenbesoldung wäre, denn wir sind ohnedies der Meinung, daß ein grundsätzlicher, ein qualitativer Unterschied zwischen der Besoldung von Richtern und der von Beamten besteht. Das ergibt sich aus dem Grundgesetz und ist durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 92 belegt. Darüber hinaus sind wir der Meinung, nicht einmal für die Richter in diesem Lande würden wir mit einer Gleichstellung ein Präjudiz schaffen, denn es handelt sich beim Bundesverfassungsgericht eben nicht nur um ein Gericht, sondern um ein oberstes Verfassungsorgan, das gleichberechtigt neben Bundespräsident, Bundesversammlung, Bundesregierung und Bundestag steht.
Aus allen diesen Gründen haben wir sehr bedauert, daß unsere Vorstellungen jedenfalls heute offensichtlich noch keine Verwirklichungschance haben. Aber wir wollen, wie gesagt, nicht „Rache für Sadowa!" schreien. Wir hoffen nur auf die bessere Einsicht, die sich im Laufe der nächsten Monate und Jahre vielleicht im ganzen Hause zeigen wird.
Damit darf ich Ihnen für das Gehör danken, das Sie der Berichterstattung geschenkt haben, und Sie bitten, nunmehr in die eigentliche Beratung des Gesetzes einzutreten.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. — Wenn das Haus es wünscht, kann in zweiter Beratung in die allgemeine Aussprache eingetreten werden. — Ich höre keinen Widerspruch. Wir treten in zweiter Lesung in die allgemeine Beratung ein. Herr Abgeordneter Dichgans!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte
nicht in eine allgemeine Beratung eintreten, sondern namens der CDU/CSU-Fraktion nur eine kurze Erklärung abgeben.
Die Bedenken, die aus dem Kreise der CDU/CSU gegen die Novelle erhoben werden, betreffen weniger das, was in diesem Gesetz steht — das ist in vielen Fällen durchaus nützlich —, als vielmehr das, was in ihm nicht steht. Wir verzichten aber darauf, hier im Plenum erneut die Anträge einzubringen, die im Ausschuß mit 13 : 12 Stimmen niedergestimmt worden sind. Wir möchten damit nicht allein einen Beitrag zur Ökonomie des heutigen Ablaufs leisten, sondern wir sind auch der Meinung, daß es der Würde des Bundesverfassungsgerichts nicht entspräche, Reformen dieses Verfassungsorgans hier in strittigen Abstimmungen mit geringen Mehrheiten zu beschließen. Der Prozeß der Meinungsbildung ist offenbar noch nicht genug fortgeschritten. — Was zu den Grundsatzfragen zu sagen ist, möchte ich in der dritten Lesung ausführen.
Wird das Wort in zweiter Beratung weiter gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Einzelabstimmung. Änderungsanträge sind nicht gestellt; ich rufe also en bloc Artikel 1 bis 6, Einleitung und Überschrift auf. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entwurf ist bei zahlreichen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe auf zur
dritten Beratung.
Wir treten zunächst in die allgemeine Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dichgans; er hat um 30 Minuten Redezeit gebeten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Vergleicht man die Novelle zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz mit den Absichten der Regierung, so ist das Ergebnis mager. Die zeitliche Begrenzung der Nichtigkeit verfiel der einhelligen Ablehnung; nicht einmal die Bundesverfassungsrichter waren dafür. Die Operation, die die Unterschiede im Status der verschiedenen Richtergruppen beseitigen wollte, ist völlig mißlungen. Die Unterschiede sind nach der Operation größer als vorher. Vom Einheitsgericht, das allgemein gefordert wird — auch der Kollege Arndt hat eben wieder ein Lippenbekenntnis dazu abgelegt —, sind wir weiter entfernt denn je.
Zunächst zum unterschiedlichen Status! Wir haben beschlossen, daß jetzt jeder Richter nur eine Periode lang tätig sein soll, zwölf Jahre, ohne die Möglichkeit der Wiederwahl. Das bringt in der Tat eine Vereinheitlichung. Aber ob sie gut ist, bleibt sehr zweifelhaft. Wer etwa mit 50 Jahren in das Bundesverfassungsgericht gewählt wird, sieht sich dann mit 62 Jahren ausgebootet und steht vor schwierigen Entscheidungen, die schon vorher sein Verhalten beeinflussen können. Immerhin gibt es in diesem Punkt eine Vereinheitlichung.
Ein weit bedeutsamerer Unterschied im Status besteht jedoch fort: das ist die Zulage für die Pro-
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fessorenrichter. Nach Auskunft eines Sprechers des Bundesjustizministeriums beträgt diese Zulage etwa 2000 DM im Monat — rund ein Drittel des normalen Gehalts —. Man muß sich die Frage stellen: Leistet ein Professorenrichter, der nebenbei noch eine Lehrtätigkeit ausübt, deshalb mehr für das Gericht? Es handelt sich wohlgemerkt nur um die Lehrtätigkeit; denn eine wissenschaftliche Tätigkeit kann jeder Richter ausüben, auch der 'Richter, der nicht Professor ist. Die Frage lautet: Bringt die Lehrtätigkeit einen zusätzlichen Gewinn? Die Antwort kann nur lauten: Nein; denn natürlich nimmt sie Zeit in Anspruch, und die Zeit ist bei dem ohnehin überlasteten Bundesverfassungsgericht — ich komme darauf noch zurück — sehr kostbar.
Nun ist das Argument aufgetaucht, das Gericht sei daran interessiert, Professoren als Richter zu gewinnen — das ist auch meine Meinung —, und dafür reiche eben die normale Besoldung in B 10 nicht aus, sondern man müsse etwas Zusätzliches bieten. Aber wenn das Gericht an Richtern, die nicht aus der Justiz kommen, interessiert ist, so gilt das doch nicht nur für die Professoren, sondern ebenso für Anwälte, vielleicht in dem einen oder anderen Fall auch für einen Industriejuristen. Wenn es überhaupt Anreizprämien geben muß, müßte man diese vernünftigerweise für alle Außenseiter einführen, also ein Gesetz schaffen, das es dem Präsidenten ermöglicht, Zulagen für Außenseiter festzusetzen.
Meine Damen und Herren, glauben Sie, daß es vertretbar wäre, die Leistungen der aus der Justiz stammenden Richter auf diese Weise, durch eine mindere Bezahlung, ständig zu diskriminieren? Ich darf in diesem Zusammenhang, damit Mißverständnisse ausgeschlossen werden, besonders darauf hinweisen, daß es sich natürlich immer nur um zukünftige, neue Verträge handelt. Niemand denkt daran, in die bestehenden Verträge einzugreifen.
Wenn man fragt, ob es sinnvoll ist, diese Anreizprämien, und zwar nur für Professorenrichter, beizubehalten, so kann die vernünftige Antwort nur lauten: Nein. Dazu hatte sich auch der Ausschuß in einem Beschluß durchgerungen, aber die Fraktionsdisziplin der Koalition brachte ihn später wieder zu Fall. Ich verstehe sehr gut, daß die Fraktionen in großen politischen Fragen auf Geschlossenheit drängen. Wer das Wort „Fraktionsdisziplin" mit lauter Großbuchstaben schreibt — ich als unerschütterlicher Liberaler tue das allerdings nicht —, kann dem Kollegen Wehner für seine Leistungen auf diesem Gebiet seine Bewunderung nicht versagen. Aber ich frage mich, ob es wirklich sinnvoll ist, diese Fraktionsdisziplin auch bis in die Sachfragen der Ausschußberatungen durchzuziehen: Fraktionsdisziplin an Stelle von Argumenten.
Wir haben die Frage der Professorenrichter im Ausschuß sehr eingehend diskutiert und, wie gesagt, zunächst den Beschluß gefaßt, bei allen künftigen Richtern das Verbot jeder Nebentätigkeit, auch der Professorentätigkeit, zu fixieren. Die SPD hatte aus diesem Anlaß den Wunsch, die Richter von B 10 nach B 11 höherzustufen — ein Vorschlag, der auch von der CDU positiv aufgenommen wurde.
Er stieß dann auf Bedenken bei der Bundesregierung, wegen der Berufungsfälle, und daraufhin forderte die Koalition eine erneute Abstimmung über den bereits gefaßten Beschluß bezüglich des allgemeinen Verbots der Nebentätigkeit.
Die Diskussion über diesen erneuten Antrag ergab überraschenderweise, daß die Umstufung von B 10 auf B 11 unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Sonderregelungen eine Erhöhung der Bezüge um monatlich 200 DM gebracht hätte. Das wäre, bezogen auf die bisherigen Bezüge, eine Erhöhung um 3,3 N. Das war in diesem Augenblick aus den Gründen, die wir besprochen haben, nicht erreichbar. Daraufhin erklärten die Sprecher der Koalition, wenn die Erhöhung um 200 DM im Monat nicht erreichbar sei, müsse es bei dem bisherigen Mehrverdienst aus Nebentätigkeit von 2000 DM im Monat bleiben.
Die Diskussion über diesen Punkt brachte offenbar auch die Einheitsfront der Koalition zum Wanken. Die Ausschußsitzung mußte deswegen unterbrochen werden. Es dauerte erhebliche Zeit, bis die Kollegen in den Ausschuß zurückkamen. Eine neue Erklärung wurde nicht abgegeben. Es wurde nur Abstimmung verlangt. Diese brachte dann eine Mehrheit von 13 : 12, die den alten Beschluß umwarf. Dieses Ergebnis erscheint mir schlicht unerträglich. In der Sache: es erscheint mir unzumutbar, daß wir auf die Dauer unseren Berufsrichtern zumuten, für die gleiche Tätigkeit ein so viel geringeres Einkommen zu beziehen als die Professorenrichter.
Zum Verfahren des Fraktionszwangs in den Ausschüssen: Was soll man dagegen tun? Ich möchte zweierlei vorschlagen. Ich werde morgen in der Sitzung des Rechtsausschusses den Antrag stellen, daß wir in Zukunft alle Sitzungen dieses Ausschusses öffentlich halten. Das ist vielleicht ein gewisses Gegenmittel gegen allzu krasse Eingriffe des Fraktionszwangs. Außerdem werde ich ganz freundschaftlich den Sprecher der Regierungskoalition bitten, uns immer vorher zu sagen, in welchen Punkten die Koalition durch Beschlüsse ihrer Arbeitskreise so fixiert ist, daß sich eine Aussprache nicht mehr lohnt. Ich werde dann den Ausschußvorsitzenden bitten, die übrigen Punkte vorzuziehen. Dann brauche ich mich an der restlichen Diskussion nicht mehr zu beteiligen, was gewiß zu einer bedeutenden Arbeitsentlastung führen wird.
Noch einmal zur Institution des Professorenrichters. Sie entfernt uns noch mehr von dem Einheitsgericht, das wir, wie ich immer wieder zu meiner Freude höre, ja alle wollen. Wenn ein Gericht so überlastet ist, wie uns immer wieder mitgeteilt wird, ist schwer zu verstehen, warum man seinen Mitgliedern Nebentätigkeit gestatten soll. Die schwerwiegenden Sachbedenken, die gegen die Spaltung in zwei Senate bestehen, will ich hier nicht wiederholen; wir haben sie in der ersten Lesung hier besprochen.
Die Beratung im Rechtsausschuß hat weitere bedenkliche Informationen geliefert. Zwar ist der Zugang an neuen Sachen in beiden Senaten im Augenblick etwa der gleiche. Aber der eine Senat
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hat eine große Altlast, mit der er offensichtlich nicht fertig wird. Im übrigen kann es bei einer Änderung der rechtlichen Verhältnisse oder auch beim Auftauchen neuer Probleme durchaus eintreten, daß der eine Senat plötzlich sehr viel mehr Zugänge hat als der andere. Dann stehen wir vor der Frage, was zu tun ist. Wollen wir dann die Artikel des Grundgesetzes auf die Senate neu verteilen? Wäre das nicht möglicherweise eine Manipulation?
Nun wird uns gesagt — der Kollege Arndt hat es soeben auch anklingen lassen —, das Einheitsgericht sei nur erreichbar, wenn wir die Verfassungsbeschwerden beschnitten. Dazu möchte ich folgende Erklärung abgeben: Wenn das zutrifft, ziehe ich jeden Antrag in dieser Richtung sofort zurück. Ich möchte die Verfassungsbeschwerden nicht beschneiden.
Aber trifft es zu? Unser Bundesverfassungsgericht fällt im Augenblick mit geringen Schwankungen etwa 80 Urteile im Jahr. Diese 80 Urteile sind im Ergebnis in der Erledigung von etwa 1200 Eingängen enthalten. Die restlichen 1120 werden in Vorverfahren erledigt. 80 Urteile bei 1200 Eingängen werden offenbar als angemessene Leistung des Gerichts angesehen. Ich habe bisher nicht gehört, daß irgend jemand verlangt hat, einen dritten Senat zu gründen, um zu 120 Urteilen zu kommen, oder 30 Senate, die 1200 Urteile produzieren. Man hat sich auf zwei Senate geeinigt, offenbar pragmatisch. 80 Urteile, das scheint nach der Meinung aller Kollegen dieses Hauses eine ausreichende Leistung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sein. Die Frage lautet: Könnte nicht auch ein Einheitsgericht 80 Urteile im Jahr produzieren? Meine Antwort darauf ist eine doppelte. Erstens: Ich weiß es nicht. Zweitens: Niemand hat sich ernsthaft mit dieser Frage befaßt. Es gibt aber gewichtige Argumente, die für eine positive Antwort sprechen. 80 Urteile im Jahr sind bei 16 Richtern — Sie werden es im Kopfrechnen nachvollziehen können — fünf Urteile pro Richter und Jahr. Diese Divisonskalkulation hat Kritik ausgelöst. Es ist gesagt worden, man dürfe Leistungen dieser Art nicht statistisch bewerten. Aber von meinem Schulunterricht erinnere ich mich, daß bei etwa 100 das Gesetz der großen Zahl zu wirken beginnt und eine statistische Betrachtung durchaus legitim wird.
Wenn Sie nun diese Leistung des Bundesverfassungsgerichts mit der Leistung des Supreme Court vergleichen, stellen Sie fest, daß im Supreme Court auf den einzelnen Richter eine Leistung von 35 Urteilen im Jahr entfällt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat mich darüber belehrt, daß davon nur 15 Urteile wegen ihres kontroversen Charakters mit unseren Urteilen vergleichbar sind. Ich beschränke mich also auf 15. Immerhin, 15 Urteile beim Supreme Court, fünf Urteile bei uns. Das bedeutet, wenn es gelänge, die deutsche Leistung von fünf auf nur zehn zu bringen, wäre das Problem gelöst.
Die Bundesverfassungsrichter bestreiten, daß ein Vergleich mit dem Supreme Court zulässig sei. Sie sagten, das amerikanische Recht sei eben anders. Das ist aber eine reine Leerformel. Die Aufgabe
aller obersten Gerichte der Welt, der deutschen wie
der amerikanischen, besteht darin, Tatbestände zu
erforschen und unter Rechtsnormen zu subsumieren.
Es ist weiter eingewandt worden, daß das amerikanische Gericht auch Zivilfälle und Straffälle erledige. Gewiß aber bei dem außerordentlich ausgebildeten amerikanischen Filterverfahren darf man sicher sein, daß auch nur sehr komplizierte Zivil- und Strafprozesse vor das oberste Gericht kommen. Wir alle wissen, daß es auch im Zivilrecht Komplikationen gibt, die keineswegs einfacher sind als die staatsrechtlichen.
Es ist ferner gesagt worden, die Urteile des amerikanischen Gerichtshofes hätten keine Gesetzeskraft. Das ist formal richtig, aber eben nur formal. De facto haben sie Gesetzeskraft wie bei uns. Dort wird das Urteil Johnson gegen Miller ebenso zitiert wie bei uns etwa der § 278 des BGB.
Endlich ist gesagt worden, 95 % unserer Eingänge erreichten den Senat nicht, und die Vorarbeit müsse natürlich auch bewertet werden. Selbstverständlich. Aber das ist in Amerika nicht anders. Auch in Amerika erreicht nur ein ganz geringer Teil der Eingänge das Plenum. Das Verfahren ist dort anders und, ich glaube, rationeller. Aber dürfen wir sagen, daß die amerikanischen Richter sich die Aufgabe, unter den Eingängen eine gerechte Auswahl zu treffen, leichter machen als die unsrigen?
Noch einmal: Sollte es nicht möglich sein, die Urteilsleistung von fünf auf zehn im Jahr zu steigern, eines im Arbeitsmonat?
Müssen unsere Bundesverfassungsgerichtsurteile wirklich diese ellenlangen Tatbestände enthalten, und müssen die Bundesverfassungsrichter sie selbst verfassen? Wäre es nicht möglich, hier andere Lösungen zu suchen, etwa nach dem Vorbild des französischen Rechts, wo derartige Rechtsdarstellungen vom Generalanwalt geliefert werden, der also das Vorbringen der Parteien zusammenfaßt? Darüber hinaus: Wäre es nicht vielleicht einfacher, an Stelle eines Tatbestandes kurzerhand die Schriftsätze mit abzudrucken? Das gäbe dann mehr Druckseiten, würde aber die sehr mühselige Arbeit des Referats ersparen. Und weiter: Ist es wirklich notwendig, daß unser Bundesverfassungsgericht den Längenrekord der Urteilsbegründungen in der Welt hält mit einer Begründung, die 306 Druckseiten füllt? Könnte man nicht die Zahl der Assistenten erhöhen? In Amerika haben die Richter zwei Assistenten. Das alles ist bisher nicht ernsthaft untersucht worden. Mein Vorschlag, unsere Fachleute sollten sich das doch in Washington einmal ansehen, verfiel der Ablehnung.
Das zweite Ergebnis der Reform ist also: vom Einheitsgericht sind wir weiter entfernt denn je. Wir machen nicht nur keine Fortschritte in Richtung auf das Einheitsgericht, sondern wir entfernen uns aus anderen Gründen noch weiter davon. Dies ergibt sich aus der neuen Regelung des dissenting vote. Was ist ein dissenting vote? Es bedeutet keinesfalls, daß die Richter abweichende Erwägungen schriftlich niederlegen dürfen. Das dürfen sie auch heute schon, und das geschieht auch bereits. Vielmehr bedeutet
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es, daß in Zukunft die abweichende Begründung publiziert wird; darum geht es.
Ich will ausdrücklich anerkennen, daß diese dissenting votes in der amerikanischen Rechtsprechung eine nützliche Wirkung gehabt haben. Minderheitsmeinungen sind auf diese Weise auf die Dauer zu Mehrheitsmeinungen geworden. Ich bin also im Grundsatz gar nicht dagegen, aber nicht bei der heutigen Struktur des Gerichts, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens machen die abweichenden Voten natürlich zusätzliche Arbeit, und ein Gericht, das sowieso über Arbeitsüberlastung klagt, sollte sich das nicht aufladen.
Ein Zweites. Der amerikanische Richter arbeitet auf Lebenszeit. Er braucht also nicht an seinen späteren Status zu denken. Der deutsche Richter wird nach der neuen Regelung möglicherweise relativ frühzeitig aus seiner Position entfernt. Er kann außerdem nebenbei noch als Professor tätig sein. Und diese dissenting votes könnten bei der menschlichen Natur, wie sie nun einmal ist, eine Versuchung sein, hier Material zur Begründung eines künftigen Status zusammenzutragen, eine Versuchung, daß nicht Judikatur poduziert wird, sondern Literatur. Ich glaube, bei manchen Begründungen sind die Bundesverfassungsrichter bisher schon dieser Versuchung erlegen.
Die Zeit ist fortgeschritten. Ich will deshalb die allgemeine Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit nur ganz kurz anschneiden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen. Diese Prüfung ist aber nicht die erste ihrer Art, sondern die fünfte. Die Verfassungsmäßigkeit wird zunächst von der Bundesregierung geprüft, dann vom Bundestag, repräsentiert durch seinen Rechtsausschuß, ferner vom Bundesrat und zum Schluß noch einmal vom Bundespräsidenten, der, wie Sie wissen, in einigen Fällen die Publikation eines Gesetzes verweigert hat, weil er der Meinung war, es sei nicht verfassungskonform.
— Herr Arndt, immerhin widersprechen Sie mir nicht darin — mich freut das —, daß es vier Instanzen gibt, die das vorher prüfen.
Jetzt ergibt sich die Frage: Welche Bedeutung, welchen Rang haben eigentlich diese vorhergehenden Prüfungen? Ich möchte einmal speziell fragen, welche Bedeutung hat die Prüfung im Rechtsausschuß? Da erhebt sich am Anfang die Frage nach der Rechtskunde. Im Rechtsausschuß haben wir zwei ehemalige Justizminister. Wir haben auch, Herr Vorsitzender des Rechtsausschusses, brillante Nachwuchskräfte. Der ehemalige Kollege Seuffert hat es sogar zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts gebracht. Wir haben also keinerlei Veranlassung, hier unsere Rechtskunde unter den Scheffel zu stellen. Nun ist es natürlich denkbar, daß die versammelten Politiker wider besseres Wissen die
Verfassungsmäßigkeit eines Entwurfs bejahen, der verfassungswidrig ist.
Das hat bisher außer dem Kollegen Arndt noch niemand gesagt, und ich wundere mich über seine Meinung.
Ich möchte Ihnen einmal folgendes vorschlagen, Herr Arndt: können wir uns darauf einigen, daß wir von der Arbeitshypothese ausgehen, daß wir hier im Bundestag ebenso rechtskundig und ebenso anständig sind wie die Bundesverfassungsrichter? Ich würde sagen, das zu bejahen, sollte für uns eine Frage der Selbstachtung sein. Bei dieser Lage bedeutet die abweichende Meinung des Bundesverfassungsgerichts nicht etwa eine Opposition „Recht gegen Unrecht", sondern eine Opposition der Juristenmeinung des Gremiums V gegen die Juristenmeinungen der Gremien I bis IV. Meinung gegen Meinung!
Selbstverständlich — das sieht jeder ein — muß irgend jemand das letzte Wort haben. Auch ich bin vernünftig genug, das nicht zu bestreiten. Das Problem ist jedoch, was eigentlich geschieht, wenn auch das Bundesverfassungsgericht zerstritten ist, wenn nach den vorhergehenden vier Prüfungen die Rechtsunsicherheit auch in der Endphase so deutlich wird, daß das Bundesverfassungsgericht sein Votum mit einer Mehrheit von 4 zu 3 beschließt? In einem solchen Fall reicht eine Stimme — die Stimme eines einzigen Bundesverfassungsrichters — aus, ein einstimmig beschlossenes Gesetz zu Fall zu bringen. Wir haben das beim Ingenieurgesetz gehabt.
Ein von mir im übrigen hochgeschätztes Mitglied des Bundesverfassungsgerichts macht es sich, glaube ich, etwas zu leicht, wenn es auf Überlegungen dieser Art antwortet, das sei schlicht mangelndes Demokratieverständnis. Daß man für gewisse Entscheidungen eine höhere Rechtsgewißheit fordern muß, als sie sich in dem Mehrheitsverhältnis 4 zu 3 ausdrücken kann, ist eine Auffassung, die in nicht weniger als in vier Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes bereits heute ihren Niederschlag gefunden hat, die Pensionierung eines Richters eingeschlossen. Dieses Problem der notwendigen Rechtsgewißheit ist noch nicht gelöst, es bleibt offen. Es mündet am Ende in die Frage der Bibel: „Wer schützt uns vor unseren Wächtern?", oder wenn Sie die Bibel nicht zitiert haben mögen, in die Frage, die Lenin formuliert hat: „Wer kontrolliert die Kontrolleure?" Das Verhältnis zwischen Legislative und Justiz ist, glaube ich, in der Bundesrepublik noch nicht genügend durchdacht.
Damit bin ich am Ende. Ich glaube nicht, daß das, was wir hier verabschieden, ein gutes Gesetz ist. Einiges ist durchaus nützlich. Ich begrüße es sehr, daß der soziale Status der Bundesverfassungsrichter gefestigt worden ist. Herr Kollege Arndt, auch Ihre speziellen Besoldungsvorschläge werden bei mir Wohlwollen finden. Auch die neue Formulierung, daß eine Zurückweisung schon erfolgen kann, wenn keine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht, ist
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eine Verbesserung. Aber die Verschlechterungen, die Versäumnisse überwiegen.
Die Fraktion der CDU/CSU, die einzige liberale Fraktion dieses Hauses,
gibt ihren Mitgliedern die Entscheidung frei. Ich persönlich werde mich enthalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Arndt , 30 Minuten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Bundesregierung ist als die Regierung der inneren Reformen angetreten. Ein wichtiges Teil dieser inneren Reformen ist die Justizreform. Wir haben heute eines der beiden Stücke der Justizreform vor uns, die der Rechtsausschuß in der vergangenen Woche verabschiedet hat. Der Rechtsausschuß hat nämlich nicht nur das heute zur Beratung stehende Bundesverfassungsgerichtsgesetz novelliert und damit sozusagen die Spitze der deutschen Jusiz einer wichtigen und wesentlichen Reform unterzogen, sondern er hat zugleich auch das Gesetz über die Entschädigung unrechtmäßiger Strafverfolgungsmaßnahmen verabschiedet, das das Plenum dieses Hauses in der nächsten Woche beraten wird. Sie sehen also, meine Damen und Herren, auf diesem Sektor gehen ebenfalls die Reformen, die unser Land auf vielen Gebieten so dringend notwendig hat, zügig voran.
Das Bundesverfassungsgericht wird durch dieses Gesetz effektiver, der Rechtsschutz wird verbessert. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird demokratisiert und wird transparenter gemacht. Wir Sozialdemokraten begrüßen insbesondere, daß nunmehr durch dieses Gesetz endlich der von uns schon so lange geforderte einheitliche Status für alle Verfassungsrichter Wirklichkeit wird. Wir begrüßen weiter, daß das Sondervotum eingeführt wird. Über jene Vorteile des Sondervotums hinaus, die bereits früher angeführt worden sind, etwa auf dem 47. Deutschen Juristentag in Nürnberg, etwa durch die Bundesregierung bei der Einbringung dieses Gesetzes sowohl im 5. als auch im 6. Bundestag, ferner auch die, die ich selbst bei den beiden ersten Lesungen dieses Gesetzes im vorigen und in diesem Bundestag angeführt habe, will ich im Hinblick auf die fortgeschrittene Stunde nicht alle jene Argumente wiederholen, die damals sowohl vom Juristentag als auch von der Bundesregierung als auch von mir hier aufgeführt worden sind.
Ich möchte aber nicht versäumen, in diesem Zusammenhang zusätzlich noch auf die große gesellschaftspolitische Bedeutung hinzuweisen, die die Einführung des Sondervotums in unserer Rechtsprechung bedeutet. Sie ist nämlich die Demonstration dafür, daß der Richter kein Subsumtionsautomat ist. Sie weist uns darauf hin, daß das Erkennen des Rechts ein menschlicher Vorgang mit allen Subjektivitäten ist, die nun einmal einen menschlichen
Vorgang, die dem Menschsein überhaupt anhaften, ein Ringen um die Rechtswahrheit, ein Ringen um Rechtsmeinungen. Das Urteil des Richters kommt nicht, wie manchmal in Deutschland noch so mancher vermutet, etwa wie Zeus aus der Wolke gefahren. Es gewinnt seine Autorität nicht aus einer abstrakten Mystik der Einheit des Gerichts, jener Einheit, die unfehlbar das Recht findet, sondern es gewinnt seine Überzeugungskraft erst aus seinen Argumenten, aus den Rechtsgründen seiner Begründung.
Nichts ist so deutlich wie das Sondervotum geeignet, dieses aufzuzeigen, zu zeigen, daß hier Menschen, Richter als Menschen um das richtige Recht gerungen haben, daß sie dabei auch irren können, daß sie dabei auch verschiedener Meinung sein können, auch unter dem Gesichtspunkt, daß eine Meinung zum Schluß die maßgebende sein muß. Denn nach der von mir für richtig gehaltenen Auffassung charakterisiert sich ja Rechtsprechung gerade dadurch, daß sie der einzige Vorgang im staatlichen Entscheidungsprozeß ist, der zur Rechtskraft führt, d. h. zu einer Wirkung, die von anderen staatlichen Organen niemals wieder korrigiert werden kann. Die Entscheidungen aller anderen staatlichen Organe können durch andere Verfassungsorgane noch korrigiert werden. Was einmal rechtskräftig ist, kann nicht mehr korrigiert werden. Das bedeutet Richten, und dieses Richten ist trotz dieses Ziels des Entscheidungsprozesses eben ein menschlicher Vorgang.
Hierin sehen wir Sozialdemokraten die große gesellschaftspolitische Bedeutung des Sondervotums. Es macht eben deutlich, daß hier eine Auseinandersetzung kontroverser Meinungen, ein Rechtsgespräch auch innerhalb des Gerichts stattgefunden hat und daß auf diese Weise die maßgebliche Meinung ermittelt worden ist. Es wird sich zeigen, daß alle jene Sorgen um die Autorität des Gerichts, die angeblich durch das Sondervotum untergraben wird, unbegründet sind. Die praktische Überzeugungskraft der Urteile und Sondervoten der Zukunft wird, dessen bin ich völlig sicher, diese Argumente widerlegen.
Drittens sind wir Sozialdemokraten, wie ich schon für den ganzen Ausschuß sagen konnte, der Meinung, daß sicherlich theoretisch-abstrakt das Einheitsgericht die ideale Form des Verfassungsgerichts wäre. Aber, meine Damen und Herren, es tut mir außerordentlich leid, daß ich jene Zahlen, die Herr Kollege Dichgans hier für die Belastung des Bundesverfassungsgerichts genannt hat, nicht unwidersprochen im Raum stehenlassen kann. Nach meinen Ermittlungen, die von den beiden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts bestätigt wurden, hat das Bundesverfassungsgericht in den letzten fünf Jahren insgesamt 7 135 Entscheidungen gefällt, davon 6 748 über Verfassungsbeschwerden, die nicht immer von den Senaten, sondern zum Teil auch von den Ausschüssen der Senate gefällt wurden, die ja ebenfalls aus Richtern des Bundesverfassungsgerichts bestehen und bestehen müssen. Man kann also in der Frage der Belastung der Bundesverfassungsrichter nicht auf die Urteile abstellen, die die Senate verkünden, sondern muß alle Ent-
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scheidungen, die die Richter zu fällen und an denen sie mitzuwirken haben, zugrunde legen, und das sind in fünf Jahren nun einmal 7 135. In der Tat sind in diesen fünf Jahren im Jahresdurchschnitt noch 80 Urteile zusätzlich durch die Senate gefällt worden, zusammen also nicht ganz 400. — Herr Kollege Dichgans scheint eine Zwischenfrage stellen zu wollen.
Bitte, stellen Sie Ihre Frage.
Herr Kollege Arndt, können Sie dem Hohen Hause sagen, wie groß die Zahl der Eingänge beim Supreme Court in fünf Jahren ist?
Die habe ich nicht hier, Herr Kollege. Ich werde aber später noch auf den Vergleich, den Sie hier nicht zum erstenmal in Ihren Ausführungen gebracht haben, zwischen dem Supreme Court in Amerika und dem Bundesverfassungsgericht eingehen, so daß Sie dann inzidenter dort meine Antwort auf diese Frage bekommen werden.
Meine Damen und Herren, zurück zur Belastung des Bundesverfassungsgerichts! Am 1. Januar dieses Jahres waren 739 Vorlagen beim Bundesverfassungsgericht unerledigt. Es waren dies anhängige Verfahren, zum größten Teil sogar solche, die die Senate entscheiden mußten. Das bedeutet doch ganz grob gesehen, daß das Bundesverfassungsgericht gegenwärtig einen Rückstand an Arbeit von fast zwei Jahren hat. Wer in diesem Lande wollte es unter diesen Umständen verantworten, daß der Hüter der Verfassung, unser Bundesverfassungsgericht, jetzt experimentellerweise in ein Einheitsgericht umgewandelt würde, das irgendeinem abstrakten Ideal entspricht, dann aber wegen seiner Belastung seiner Aufgabe einfach nicht mehr gewachsen wäre?!
Wenn Sie darüber hinaus bei den Eingängen noch unterscheiden zwischen Verfassungsbeschwerden und anderen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, werden Sie erkennen müssen, daß mehr als 90 % der Eingänge des Gerichts Verfassungsbeschwerden sind. Was heißt das? Das klingt so abstrakt. Es sind dies die Rechtsbehelfe, die die einzelnen Bürger dieses Landes an das Gericht herantragen. Wir Sozialdemokraten sind unter keinen Umständen bereit, gerade diesen Rechtsbehelf — den einzigen, den unsere Bürger bei diesem höchsten Gericht unmittelbar haben, abzubauen oder einzuschränken.
Wer hier sagt — einen kleinen Augenblick, Herr Lenz —, daß er zwar den Grundrechtsschutz nicht abbauen, aber die Belastung des Bundesverfassungsgerichts herabdrücken wolle, der muß sich entgegenhalten lassen, daß dies auf Grund jener Tatsachen. die ich soeben hier vorgetragen habe, ein unauflösbarer Gegensatz ist. — Bitte, Herr Lenz!
Herr Kollege Dr. Arndt, ist Ihnen aus den Beratungen im Ausschuß irgend jemand bekannt, der zu irgendeinem Zeitpunkt den Versuch gemacht hat, in irgendeiner Art und Weise den Rechtsschutz der Bürger, der durch die Verfassungsbeschwerde gegeben ist, zu beeinträchtigen oder abzuschaffen?
Nein, mir ist niemand bekannt. Ich kann Ihnen gerne bestätigen — das habe ich allerdings bereits vorhin im Rahmen der Berichterstattung getan , daß alle Mitglieder des Ausschusses erklärt haben, sie wollten den Grundrechtsschutz durch die Verfassungsbeschwerde nicht einschränken. Was ich eben sagen wollte, war aber etwas anderes. Ich habe darauf hinweisen wollen, daß die Behauptung, den Grundrechtsschutz nicht einschränken zu wollen, und die Behauptung, die Belastung des Gerichtes reduzieren zu wollen, zwei Behauptungen sind, die sich denkgesetzlich ausschließen. Man kann also nicht gleichzeitig beides sagen, einfach deswegen, weil über 90 % der Belastung des Gerichts sich aus Verfassungsbeschwerden ergeben.
— Ja, jeweils von drei Richtern; allerdings nicht immer, bisweilen auch vom Senat, aber darüber habe ich ja früher schon gesprochen. Ich wollte hier deswegen zum Ausdruck bringen, daß man denkgesetzlich nicht beides zugleich ins Feld führen kann.
Noch eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Dr. Arndt, ist Ihnen entgangen, daß der Kollege Dichgans vorhin zwei konkrete Punkte genannt hat, und zwar mit Blickrichtung auf die Steigerung der Arbeitsleistung des Gerichtes? Er hat erstens eine größere Zahl von Urteilen und zweitens den Verzicht auf eine bestimmte Art von Nebentätigkeiten angeführt. Können Sie es sich „denkgesetzlich" vorstellen, daß man mit Hilfe dieser beiden Verbesserungen zu einer größeren Zahl von Urteilen und zu einem einheitlichen Spruchkörper ohne die von Ihnen befürchteten Nachteile kommt?
Es ist mir schlechterdings nicht vorstellbar, wie man dann, wenn wir die Richter nur in einem Spruchkörper zusammenfassen oder die Zahl der Richter gar vermindern, jedenfalls aber nicht erhöhen, zu einer größeren Zahl von Urteilen des Gerichtes kommen will.
— Herr Kollege Lenz, ich habe ja vorhin schon darauf hingewiesen, daß es einfach falsch ist, hier nur die Senatsentscheidungen zugrunde zu legen. Sie müssen die Entscheidungen insgesamt — es sind über 7000 in fünf Jahren — zugrunde legen. Des-
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wegen stimmt die Rechnung, die von fünf Urteilen im Jahr ausgeht, nicht. Die 7000 Entscheidungen müssen doch auch gefaßt und begründet werden. Es ist einfach nicht richtig, wenn man hier so tut, als ob nur die Senatsurteile solche wären, die Arbeit verursachten. Entscheidungen, die nicht Senatsentscheidungen sind, verursachen vielfach genau so viel Arbeit. Deswegen ist es einfach falsch und unfair, so zu tun, als spielten hier nur die Senatsentscheidungen eine Rolle. Das kann man einfach nicht so darstellen.
— Lieber Herr Kollege Lenz, wir dürfen uns doch gegenseitig noch sagen, daß wir etwas für unlogisch halten. Das ist doch kein ehrenrühriger Vorwurf. Auf die Professorenrichter komme ich später noch zu sprechen.
Schließlich habe ich für die Sozialdemokraten noch darauf hinzuweisen, daß wir uns insbesondere die Entscheidung nicht leichtgemacht haben, ob wir der Bundesregierung folgen sollten, als es darum ging, den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts neu zu bestimmen oder ihn so zu belassen, wie er heute ist. Bei uns gab es in dieser Hinsicht zwei große Akzentgruppen. Die einen stellten in den Vordergrund — ich bekenne, daß ich zu dieser Gruppe gehöre —, daß aus den Art. 1 Abs. 3 und 20 des Grundgesetzes folgt, daß alle Organe unserer Verfassung nur limitierte Kompetenzen haben, d. h., einmal ganz volkstümlich ausgedrückt, daß allen Verfassungsorganen — überhaupt aller staatlichen Gewalt — zu tun verboten ist, was ihnen nicht auf Grund einer Verfassungsnorm ausdrücklich erlaubt ist. Außerhalb des Rahmens dieser limitierten Kompetenzen haben Verfassungsorgane, Behörden überhaupt und staatliche Gewalt keinen Anspruch auf Wirksamkeit. Aus dieser Überlegung folgt, daß die gesetzgebenden Verfassungsorgane immer dann, wenn sie ultra vires, außerhalb des Rahmens ihrer Kompetenz, etwas beschlossen haben, was den Anspruch erhebt, Gesetz zu sein, d. h. was dem Bürger gegenüber den Anspruch erhebt, von ihm ein Tun oder Unterlassen zu verlangen und notfalls mit Gewalt zu erzwingen, nicht erwarten können, daß der Bürger, folgsam ist und sich im Sinne dieser Entscheidung verhält. Das bedeutet doch, daß die Nichtigkeitsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts feststellt: Von Anfang an hast du, Bundestag, du, Bundesregierung, du, gesetzgebendes Organ, hier außerhalb deines Kompetenzrahmens gehandelt, und deswegen braucht der Bürger es sich nicht gefallen zu lassen, hier außerhalb des von der Verfassung gesteckten Rahmens Folge leisten zu müssen. Niemand kann bestreiten, daß unsere Verfassung diesen Grundsatz enthält.
Aber auch die zweite Argumentationsgruppe in unseren Reihen hat ein sehr gewichtiges Argument vorgebracht, das niemand gering achten sollte. Sie hat nämlich darauf hingewiesen, daß, wenn etwa
nach 10 oder 20 Jahren Wirksamkeit ein Steuergesetz oder ein anderes wichtiges Gesetz für nichtig erklärt wird, nach dieser rein logischen Deduktion, die ich eben vorgetragen habe, alle jene Steuern, die in den letzten 20 Jahren auf Grund dieses Gesetzes erhoben worden sind, zu Unrecht erhoben worden sind und dem Bürger eigentlich zurückerstattet werden müßten. Dieses Beispiel zeigt bereits, daß die klare und eindeutige Durchsetzung dieses von mir vorhin erwähnten Verfassungsgrundsatzes sicherlich wieder jenes große Recht wäre, von dem schon das römische Recht gesagt hat, daß es summa iniuria sei. Deswegen muß auch ein immanenter Grundsatz der Verfassung zur Selbsterhaltung des Staates anerkannt werden. Das will ich nicht bestreiten.
Bei der Abwägung dieser beiden Grundsätze, die wir uns sicherlich nicht leicht gemacht haben — denn es geht hier um sehr schwierige, sehr schwerwiegende und sehr folgenreiche Fragen —, haben wir zunächst überlegt, ob wir den Kompromiß, den ich hier in der ersten Lesung angeboten habe, beschließen sollten, nämlich zwar den erstgenannten Grundsatz zu erhalten, indem wir sagen: Von Anfang an nichtig sind die Gesetze, die das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, aber die Geltendmachung der Nichtigkeit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hinauszuschieben.
Die Anhörung und unser Gespräch mit dem Bundesverfassungsgericht haben uns aber zu der Überzeugung gebracht, daß mindestens gegenwärtig die Zeit zur Lösung dieser Frage nicht reif ist und daß auch eine neue Lösung verstärkte, andere verfassungsrechtliche Bedenken mit sich bringen würde. Darüber hinaus hat uns das Bundesverfassungsgericht mit selten so überzeugenden Gründen deutlich gemacht, daß es noch immer, in allen Fällen, in denen diese Kontroverse zur Debatte stand, brauchbare und den Verfassungsgrundsätzen entsprechende Lösungen gefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht ist halt kein Amtsgericht, das schlicht einen Tatbestand unter eine Norm zu subsumieren hätte, sondern es ist ein oberstes Verfassungsorgan und hat einen besonderen Rang. Das ermöglicht es ihm, diese Lösungen zu finden, die es auch tatsächlich immer, sei es beim Umsatzsteuerstreit, sei es beim Höfe-Urteil, sei es bei anderen Entscheidungen, in gerechter Abwägung der einzelnen Verfassungsgrundsätze gefunden hat. Gerade weil wir erkennen mußten, daß das Verfassungsgericht hier eine vielfach weise Rechtsprechung entwickelt hat und durch die von der Bundesregierung vorgeschlagene Fassung andere, neue, ja, meist schwierigere Verfassungsprobleme entstehen würden, nicht zuletzt auch wegen der Wirkung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Berlin, haben wir uns nach diesem Ringen schließlich entschieden, keine Änderung im Sinne der Bundesregierung vorzunehmen und den gegenwärtigen § 79 insoweit unverändert zu lassen.
Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Kapitel ist die Frage des Status der Bundesverfassungsrichter und ihrer Wiederwahl. Die sozialdemokratische Fraktion sieht zwischen diesen beiden Din-
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Dr. Arndt
gen einen sehr engen Zusammenhang. Sicherlich sind auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts nur Menschen. Doch wir teilen ,die Auffassung, daß sie sich bisher in der fast zwanzigjährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts als genügend unabhängig erwiesen haben, um den Verlokkungen des Menschseins bei ihrer Urteilsfindung zu widerstehen. Ich persönlich habe keinen Zweifel, daß sie das auch in Zukunft sein werden.
Aber wir kennen doch immerhin zwei konkrete Fälle, in denen auf der anderen Seite, nämlich bei den Wahlgremien für das Bundesverfassungsgericht, zur Wiederwahl bereite Richter sträflicherweise nicht wiedergewählt worden sind. Ich kann das ganz offen sagen, weil die sozialdemokratischen Wahlmänner hierfür in keinem der Fälle die Verantwortung getragen haben. Aber weil das so ist und weil mindestens von dieser Seite her die Gefahr besteht, daß die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigt wird, sehen wir sowohl einen Zusammenhang zwischen dem Sondervotum und ,der Wiederwahl als auch zwischen dem Status und der Wiederwahl. Wir haben uns deswegen hinsichtlich dieser Problematik dafür entschieden, daß eine Wiederwahl schlechterdings ausgeschlossen sein muß. Wir haben es sehr bedauert, daß uns unsere Freunde von der großen Oppositionsfraktion da nicht haben folgen können.
Schließlich Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika und Bundesverfassungsgericht. Ich meine, die beiden Rechtssysteme sind völlig unvergleichbar. Sie sind in der Tat inkommensurabel. Das gilt schon einmal für die Rechtsgrundlage. Der englisch-amerikanische Rechtskreis baut ja bekanntlich in ganz starkem Maße auf dem case law auf, d. h. auf der Rechtsprechung, die wiederum auf älterer Rechtsprechung, nicht aber auf kodifizierten Gesetzen basiert, wie das bei uns der Fall ist. Bereits die Rechtsgrundlage ist hier eine völlig andere.
Darüber hinaus ist der amerikanische Supreme Court mit unserem Bundesverfassunggericht auch aus gerichtsverfassungsmäßigen Gründen für mein Gefühl überhaupt nicht vergleichbar. Ich darf meine geringe Meinung dabei auch auf die Meinung von Juristen dieses Landes stützen, die sehr viel mehr Autorität genießen müssen, als ich sie je werde genießen können, etwa auch auf die Meinung prominenter Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Denn der Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein Revisionsgericht. Er ist also — wenn man überhaupt einen Vergleich ziehen will — seiner Art und seinem Wesen nach am ehesten unserem Bundesgerichtshof vergleichbar, nicht aber dem Bundesverfassungsgericht. Verfassungsfragen entscheidet der Supreme Court der Vereinigten Staaten nur inzidenter und nur mit Wirkung inter partes. Das ist überhaupt nicht mit unserer Verfassungsrechtsprechung vergleichbar, die Gesetzeskraft hat.
Im übrigen freue ich mich, daß Herr Kollege Dichgans hier nicht wiederholt hat, was er im Ausschuß getan hat, indem er nicht nur die Anzahl der Urteile, sondern auch die Zeilenzahl der Urteile des Supreme Courts und des Bundesverfassungsgerichts hat auszählen lassen, um hieraus Begründungen oder Wiederlegungen über die Bedeutung der einzelnen Entscheidungen der beiden Gerichte abzuleiten. Ich glaube, das ist keine geeignete Methode, um die Bedeutung zweier so hoher Gerichte ganz unterschiedlicher Rechtsordnungen gegeneinander abzuwägen.
Siebtens und letztens. Über die Frage der Besoldung und Einstufung der Bundesverfassungsrichter habe ich für den ganzen Ausschuß schon Wesentliches in meiner Berichterstattung gesagt. Aber ein Teil der Darstellung des Kollegen Dichgans, die er vorhin über die Vorgänge im Ausschuß gegeben hat, empfand ich als ausgesprochen unfair. Deswegen muß ich dazu noch einiges sagen. Es ist ja nicht so gewesen, daß uns plötzlich über Nacht eingefallen ist, unser Beschluß über die Beschäftigung von Bundesverfassungsrichtern als Professoren sei falsch, und daß wir deswegen unter Anwendung brutalen Fraktionszwanges — den ich als Obmann unserer Freunde ja herbeigeführt haben müßte; auch deswegen empfinde ich das nicht gerade als ein Kompliment, Herr Kollege Dichgans —, sondern es war ja ganz anders. Ich habe es vorhin schon angedeutet. Es hatte sich für uns eine neue Lage ergeben, es war ein selbstverständlicher Zusammenhang.
Der gegenwärtige Status der Bundesverfassungsrichter umfaßt wie bei allen anderen Richtern die Berechtigung, nebenher ein Lehramt an einer deutschen Hochschule auszuüben. Eine entscheidende Beschneidung dieses Status, d. h. daß wir den Bundesverfassungsrichtern als einzigen Richtern in Deutschland verbieten, zugleich auch ein Lehramt auszuüben, ist doch schlechterdings nicht denkbar, ohne daß wir daraus eine Folgerung hinsichtlich des Status ziehen. Die für uns, wie ich meine, sehr bescheidene, minimale Folgerung hinsichtlich des Status war die, daß wir sagten: Wenn wir ihnen schon das gleichzeitige Ausüben des Professorenamtes verbieten, müssen wir sie zumindest den höchsten Beamten gleichstellen.
Als wir mit dieser Auffassung, die in sich schlüssig war, nicht durchkamen, als wir den Gegenwind sowohl aus Ihrer Fraktion, Herr Kollege Dichgans — fragen Sie einmal Ihren Kollegen Berger, was er zu dieser Frage meint —, als auch aus den anderen Fraktionen spürten und sahen, daß wir in diesem Hause keine Mehrheit finden würden, konnten wir doch nicht gut sagen: Wir können die Verschlechterung des Status der Bundesverfassungsrichter in diesem Reformgesetz hinnehmen, ohne ihnen ein Äquivalent zu bieten. Das war der Grund dafür, daß wir uns beim zweitenmal anders entschieden haben, nicht weil hier irgendein imaginärer Fraktionszwang oder etwas Ähnliches geherrscht hätte, sondern einfach weil wir vor diese Entscheidungsalternative gestellt wurden und meinten, wir könnten die eine Hälfte des Beschlusses nicht mehr aufrechterhalten, wenn uns die andere Hälfte weggestoßen würde. Das war der Grund für unsere Entscheidung, und das sollte man hier nicht so verächtlich darstellen. Denn, meine Damen und Herren, wie oft haben wir uns und haben Sie sich in Diskussionen mit Besuchergruppen mit der doch völlig falschen Annahme auseinanderzusetzen, im deutschen Parlament herrsche
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Dr. Arndt
so etwas Imaginäres wie Fraktionszwang. Wir sollten deswegen nichts tun, was diese Legende im Lande auch nur im geringsten stützt. Deswegen habe ich es außerordentlich bedauert, Herr Kollege Dichgans, daß Sie diesen Vorgang im Ausschuß in der Weise dargestellt haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Arndt, ist es richtig, daß die Differenz im Status, die Sie dazu bewogen hat, Ihren Beschluß abzuändern, tatsächlich einem Wert von 200 DM im Monat entspricht, so wie ich es behauptet habe, und fürchten Sie nicht, daß man sagt, Sie seien es gewesen, der auf diese Weise den Angriffen zum Thema Fraktionszwang neue Nahrung gegeben habe?
Letzteres glaube ich nicht; das habe ich soeben begründet. Im übrigen war es nicht so sehr eine Frage der Geldsumme in der Besoldungsordnung, sondern es war eine Frage des Rangs und des Status. Es ist eben ein Unterschied, ob zwei Positionen in diesem Land gleich oder unterschiedlich bewertet werden. Darum ging es. Es ging nicht darum, welche Geldsumme hier möglicherweise eine Rolle spielen könnte.
Wir Sozialdemokraten begrüßen es aber, daß auf Grund dieses Gesetzes nunmehr jeder Richter am Bundesverfassungsgericht, der gegen seinen Willen aus dem Amt scheidet, wenigstens ein Ruhegehalt aus diesem Amt erhält und daß wenigstens insoweit die Gleichstellung mit den anderen Spitzenbeamten endlich hergestellt wird.
Alles in allem, meine Damen und Herren, haben wir hier ein rundes Stück Justizreform vor uns. Ein weiteres Stück des „modernen Deutschland" wird sichtbar,
das wir schaffen wollten. Für uns ist es eine besondere Freude, Herr Kollege Martin, daß sich wesentliche Teile der Opposition hier der Mithilfe nicht verschlossen haben und nicht verschließen wollen. Denn, meine Damen und Herren, wir wollen dieses „moderne Deutschland" ja nicht nur deswegen schaffen, damit Sozialdemokraten besser leben, sondern damit alle Menschen, denen zu dienen wir uns vorgenommen haben, und zwar jeder auf seine Weise, in einem moderneren Land leben können. Deswegen ist es mir eine ganz besondere Freude, daß sich auch wesentliche Teile der großen Oppositionsfraktion anschließen, wenn wir uns anschicken, auch auf diesem Gebiet eine wesentliche Reform voranzutreiben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Tatsächlich — das hat auch Herr
Kollege Dichgans eingeräumt — sind hier einige
Verbesserungen an einem Gesetz vorgenommen worden, das im übrigen, wie insbesondere ein Punkt zeigt, besser ist, als wir alle vielleicht zu Anfang der Beratungen noch vermutet haben.
Das zeigt sich, um diesen Punkt vorwegzunehmen, daran, daß wir uns entschlossen haben, eine von der Regierung zunächst für erforderlich gehaltene Änderung eben doch nicht vorzunehmen, weil wir bei gründlicher Betrachtung des Themas zu der Erkenntnis gekommen sind, daß das 'Gericht in der Vergangenheit letzten Endes ohne die Hilfe des Gesetzgebers in diesem Punkte zu im ganzen gesehen besseren Entscheidungen gekommen ist, als wir sie bekommen würden, wenn wir die von der Regierung erstrebte Änderung hinsichtlich des Zeitpunkts der Wirksamkeit der Entscheidungen getroffen hätten.
Ich glaube deshalb, es gilt hier nicht spektakulär zu sagen, was wir so gut gemacht haben oder was nun dabei so schlecht geblieben wäre. Wir werden nicht in der Lage sein, optimale Gesetze zu machen, so wenig, wie ich annehmen kann, daß das Bundesverfassungsgericht je in der Lage sein wird, die besten Urteile zu sprechen. Ich bin aber sicher, daß sich das Bundesverfassungsgericht darum bemüht, und wir werden uns gewiß auch weiterhin bemühen, in der Gesetzgebung das Optimale zu treffen. Das haben wir, glaube ich, in diesem Fall nach Lage der Dinge getan.
Die Einführung des dissenting vote ist bereits ausführlich erläutert worden. Ich möchte dazu sagen, daß es mir schon gut erscheint, eine solche Neuerung in unserem Rechtswesen gesetzlich eröffnet zu haben und es nicht zunächst einmal der Entscheidung des Gerichts, von dem hier die Rede ist, in Zukunft vielleicht aber auch der Autonomie eines anderen Gerichts zu überlassen, ob es so verfahren will oder nicht, sondern klarzustellen, daß eine derart wichtige Neuerung auch ihre gesetzliche Grundlage haben sollte, die nunmehr geschaffen worden ist.
Die Diskussion hat auch gezeigt, daß es außer den vielen guten Gründen für die Einführung dieses Sondervotums eine ganze Reihe beachtlicher Gründe dagegen gibt, die uns von den Fachleuten eindrucksvoll vorgetragen worden sind. Deshalb glaube ich, daß unsere schließliche einmütige Entscheidung, das dissenting vote einzuräumen, nicht ohne weiteres zu Rückschlüssen auf andere Zweige der Gerichtsbarkeit führen darf. Denn der letzte Ausschlag hat hierbei meiner Ansicht nach in der ganz besonderen Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Entscheidungen gelegen, weil dort die auch für die interessierte Öffentlichkeit sichtbare Weiterentwicklung des Rechts einen ganz besonderen Rang hat und weil dort auch die Transparenz hinsichtlich des Zustandekommens der entsprechenden Entscheidungen gegeben ist. Ich glaube, in anderen Fällen würden wir sehr viel zurückhaltender und sorgfältiger zu prüfen haben, ob diese Neuerung
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Kleinert
eingeführt werden sollte, weil da eben diese besonderen Gründe nicht gegeben wären.
Daß in Ihrem ganz speziellen Fall, Herr Dichgans, die FDP-Fraktion dieses Hauses ausnahmsweise ohne Zögern bereit sein würde, Sie als einen guten Liberalen in ihre Reihen aufzunehmen, glaube ich hier, ohne darüber eine Absprache getroffen zu haben, erklären zu können; es ist dies jedenfalls meine eigene feste Überzeugung. Ob damit zugleich wie mit dem Pfropfreis so ohne weiteres der ganze Baum veredelt werden könnte, wage ich auf Grund einiger Erlebnisse der Vergangenheit doch in etwa zu bezweifeln.
Damit möchte ich es in diesem Falle bewenden lassen. Öffentlich darf man dergleichen Dinge ja — zumal in derartigem Kontext — erklären.
Zur Sache selbst. Ich glaube nicht, daß unsere Freunde von der SDP-Fraktion es nötig haben, bei derartigen Dingen, bei denen man eben so oder so entscheiden kann, Fraktionszwang auszuüben, so wenig, wie ich das bei Ihrem einstimmigen Votum für die andere Meinung vermute. Ich bitte mir zu glauben: noch weniger bin ich in diesen Fraktionszwang der SPD-Fraktion einbezogen, sondern ich habe ganz ursprünglich und, wie ich meine, sehr liberal reagiert. In dem Augenblick, da man uns dazu bringen wollte, einen ganz besonderen Status für die Richter des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich ihrer Nebentätigkeit als Hochschullehrer zu finden, mußte eine besondere Begründung gegeben werden. Diese Begründung hatte ich von Anfang an darin gesehen, daß man sich auch über die besondere Richterqualität und keineswegs über irgendwelche finanzielle Fragen gerade dieser Richter — wie auch aller anderen Richter — besondere Gedanken macht und diesbezüglich zu einer überzeugenden Lösung kommt.
In dem Augenblick, da sich, wie ich meine, sehr zum Nachteil, herausgestellt hat, daß diese Voraussetzung aus Gründen, mit denen wir uns in der weiteren Diskussion sicher noch zu beschäftigen haben werden, und zwar nicht nur in bezug auf die Richter dieses Gerichts, entfallen mußte, war allerdings auch für mich keine Möglichkeit mehr gegeben, einsam die andere Hälfte dieses sich ergänzenden Sachverhalts aufrechtzuerhalten. Nur darum, auf Grund der veränderten Umstände, ist dann die Entscheidung anders gefallen.
Ich glaube, das ist eine durchaus verständliche Reaktion, genauso wie die Überlegungen verständlich gewesen sind, die zu Ihrer gegenteiligen Ansicht geführt haben. Wir müssen uns eben gemeinsam bemühen — denn im Grunde waren wir uns einig —, bei anderer Gelegenheit beides zusammen so zu regeln, daß etwas noch Überzeugenderes zustande kommt als das, was jetzt in der verbesserten Form bezüglich des — ich wiederhole es — ohnehin schon über Erwarten guten Bundesverfassungsgerichts nach Abschluß der gemeinsamen Bemühungen vor uns liegt und verabschiedet werden kann.
Das Wort hat der Bundesjustizminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Bereits in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 war die Weiterentwicklung des Rechts des Bundesverfassungsgerichts angekündigt worden. Am 13. März dieses Jahres hatte ich die Ehre, den Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht anläßlich seiner ersten Beratung in diesem Hohen Hause näher zu erläutern. Wenn ich heute vor der Schlußberatung dieses Gesetzentwurfs noch einmal das Wort nehme, so vor allem deshalb, um dem Rechtsausschuß und insbesondere den Herren Berichterstattern meinen Restpekt und Dank für die außergewöhnliche Leistung auszusprechen, die sie mit der Durcharbeitung und Bewältigung dieser verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch gleichermaßen bedeutsamen wie schwierigen Materie in verhältnismäßig kurzer Zeit vollbracht haben. Nur wer die Niederschriften über die vom federführenden Rechtsausschuß durchgeführten Anhörungen des Bundesverfassungsgerichts sowie mehrerer bedeutender Staatsrechtslehrer mit Aufmerksamkeit durchgelesen hat, vermag zu ermessen, welche Fülle von Gedanken, Fragen und Problemen der Ausschuß zu verarbeiten hatte.
Das Ergebnis ist ein ausgewogener und ausgereifter Entwurf, der, wenn dieses Haus ihm heute zustimmt, zu einer weiteren Verbesserung der verfassungsgerichtlichen Funktion im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik beitragen wird.
Mit besonderer Genugtuung kann ich feststellen, daß der Rechtsausschuß die maßgeblichen Leitgedanken des Regierungsentwurfs aufgegriffen und gebilligt hat. Diese Leitgedanken gingen vor allem dahin, die Stellung des Bundesverfassungsgerichts als eines obersten Verfassungsorgans zu festigen, seine Funktionsfähigkeit im Interesse eines bestmöglichen Ineinandergreifens der den verschiedenen demokratischen Verfassungsorganen zugewiesenen Funktionen zu verbessern und die persönliche Unabhängigkeit der Bundesverfassungsrichter weiterhin zu stärken.
Diese Zielsetzungen haben ihren Niederschlag insbesondere in zwei Vorschlägen des Regierungsentwurfs gefunden. Der erste ist die Angleichung des Status aller Bundesverfassungsrichter. Die bisherige Unterscheidung zwischen Richtern, die lediglich auf die Dauer von acht Jahren gewählt wurden, und solchen, die für die Dauer ihres Amtes an einem obersten Gerichtshof des Bundes, also praktisch auf Lebenszeit, bestellt wurden, trägt nicht hinreichend der Tatsache Rechnung, daß die Zugehörigkeit zu dem höchsten Gericht, das gleichzeitig Verfassungsorgan ist, für alle Verfassungsrichter ein gleich hohes Maß an Verantwortung einschließt.
Die jetzt in Aussicht genommene Regelung beseitigt diese Unterschiede, trägt durch eine längere Amtsperiode bei gleichzeitigem Ausschluß der Wiederwahl zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit bei und verwirklicht dadurch was das
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Bundesminister Jahn
Lebenszeitprinzip vermeidet — den für demokratische Verfassungsorgane kennzeichnenden Grundsatz der zeitlich befristeten Legitimation.
Zum Bereich der nunmehr vereinheitlichten subjektiven Rechtsverhältnisse aller Bundesverfassungsrichter gehören auch die wesentlichen Verbesserungen in der Versorgung der Richter, bei denen mein Haus dem Ausschuß gern Formulierungshilfe geleistet hat; denn die bisherige versorgungsrechtliche Benachteiligung der sogenannten Zeitrichter muß nicht nur im Hinblick auf die gleichwertige Verantwortung aller Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, sondern insbesondere auch im Interesse ihrer Unabhängigkeit durch eine bessere Regelung ersetzt werden, die, wie ich meine, nunmehr gefunden ist.
Als zweiter Schwerpunkt sollte hervorgehoben werden die Zustimmung zu dem schon in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 angekündigten Vorschlag, dem in der Beratung hinsichtlich des Ergebnisses oder der Begründung der Entscheidung überstimmten Richter das Recht einzuräumen, seine abweichende Auffassung in einem Sondervotum niederzulegen. Hierin muß eine verfassungspolitische Entscheidung ersten Ranges gesehen werden. Die Einführung des Sondervotums ist für die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit ein entscheidender Schritt nach vorn. Hier tritt so deutlich wie an keiner anderen Stelle des von diesem Hohen Haus nun zu ändernden Gesetzes die Qualität des Bundesverfassungsgerichts als Staatsorgan in Erscheinung. Das persönliche Bekenntnis und die öffentliche Kontrolle der für eine Entscheidungsbildung maßgeblichen kontroversen Standpunkte sind für kollegiale Verfassungsorgane eines demokratischen Staates ein wesentlicher Grundsatz.
Indessen geben mir nicht nur diejenigen Vorschläge, zu denen der Rechtsausschuß positive Beschlüsse gefaßt hat, Anlaß, meine Genugtuung und meinen Respekt gegenüber den vollbrachten Leistungen zu bekunden, sondern auch diejenigen Erörterungen, die an Vorschläge des Regierungsentwurfs oder aus der Mitte des Ausschusses angeknüpft haben, ohne sich in konkreten Beschlüssen niederzuschlagen. Ich denke hier an die Gedanken und Anregungen etwa zur Frage des Einheitsgerichts oder zum Modus der Wahrheits- und Rechtsfindung durch das Bundesverfassungsgericht.
Die Diskussion um die Vorschläge hat erneut deutlich gemacht, daß das Einheitsgericht an sich eine verfassungspolitisch ideale Konstruktion wäre, wenn sie auch gegenwärtig wegen der damit notwendigerweise verbundenen Einschränkung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht in Betracht gezogen werden kann.
Bemerkenswert waren auch die Grundsatzdiskussionen über das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den politischen Entscheidungsorganen. Sie haben zur institutionellen Standortbestimmung des Bundesverfassungsgerichts im Kräftefeld der Staatsorgane beigetragen, indem sie zwar den politischen Entscheidungsbereich als Schranke der Verfassungsrechtsprechung bewußt gemacht haben, zugleich aber auch die Grenzbereiche zwischen Politik
und Verfassungsrecht, die sich bisweilen nicht mit letzter Trennschärfe bestimmen lassen, aufgedeckt haben.
Entsprechendes gilt für die umfassenden Erörterungen, die der vom Rechtsausschuß nicht gebilligte Vorschlag des Regierungsentwurfs ausgelöst hat, aus besonderen Gründen des Gemeinwohls die umfassende Rückwirkung verfassungsgerichtlicher Nichtigerklärungen von Gesetzen im Einzelfall zu beschränken.
Wenn dieses Hohe Haus heute dem Gesetzentwurf in der vom Rechtsausschuß beschlossenen Fassung seine Zustimmung gibt, so wird die neugeschaffene Rechtslage sich bereits im kommenden Jahr bei den alsdann zahlreich anstehenden Neuwahlen von Bundesverfassungsrichtern auswirken. Ich bin sicher, daß dieses Änderungsgesetz dem Bundesverfassungsgericht und unserer rechtsstaatlichen Ordnung Gewinn bringen wird.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung. Änderungsanträge sind nicht gestellt. Wir kommen also sofort zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zustimmen will, der möge sich erheben. — Gegenprobe! -- Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Danke. Ohne Gegenstimmen bei einigen Enthaltungen angenommen.
Wir stimmen noch über die Ziffer 2 des Ausschußantrags ab, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Wenn das Haus einverstanden ist, kann ich die Punkte 5 bis 11 der Tagesordnung zusammen aufrufen. Es handelt sich dabei um Zustimmungsgesetze zu Staatsverträgen. — Kein Widerspruch; dann ist so beschlossen. Ich rufe also die Punkte 5 bis 11 der Tagesordnung auf:
5. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. August 1963 zur Änderung des Abkommens vom 7. August 1958 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen sowie zu dem Ergänzungsabkommen vom 24. Januar 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen
— Drucksache VI/1238 —Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kreile
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4609
Vizepräsident Dr. Schmid
6. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Revisionsprotokoll vom 23. März 1970 zu dem am 26. November 1964 in Bonn unterzeichneten Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung
— Drucksache VI/1239 —
Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/ 1452 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kreile
7. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 1969 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat über die gegenseitige Unterstützung ihrer Zollverwaltungen
— Drucksache VI/1240 —Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/1435 —
Berichterstatter: Abgeordneter Porzner
8. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Dezember 1969 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Großherzogtums Luxemburg über den Verzicht auf die in Artikel 14 Abs. 2 EWG-Verordnung Nr. 36/63 vorgesehene Erstattung von Aufwendungen für Sachleistungen, welche bei Krankheit an Rentenberechtigte, die ehemalige Grenzgänger oder Hinterbliebene eines Grenzgängers sind, sowie deren Familienangehörige gewährt wurden
— Drucksache VI/1001 —
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache VI/1443 —
Berichterstatter: Abgeordneter Biermann
9. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. September 1969 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs der Niederlande über den Verzicht auf die in Artikel 14 Abs. 2 EWG-Verordnung Nr. 36/63 vorgesehene Erstattung von Aufwendungen für Sachleistungen, welche bei Krankheit an Rentenberechtigte, die ehemalige Grenzgänger oder Hinterbliebene eines Grenzgängers sind, sowie
deren Familienangehörige gewährt wurden
— Drucksache VI/1242 —
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache VI/1442 —
Berichterstatter: Abgeordneter Berding
10. Zweite Beratung und Schulabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Oktober 1969 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Spanischen Staates über die Erstattung der Aufwendungen für Sachleistung der spanischen Träger, welche an die Familienangehörigen der Versicherten deutscher Krankenkassen und die Bezieher deutscher Renten, die im Hoheitsgebiet des Spanischen Staates wohnen, gewährt werden
— Drucksache VI/1168 —
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache VI/1451 —
Berichterstatter: Abgeordneter Böhm
11. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 122 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 9. Juli 1964 über die Beschäftigungspolitik
— Drucksache VI/1243 —
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache VI/1450 —
Berichterstatter: Abgeordneter Müller
Eine Debatte wird nicht gewünscht.
Wenn Sie einverstanden sind, können wir über diese Punkte gemeinsam abstimmen. — Kein Widerspruch.; dann ist so beschlossen. Wer den aufgerufenen von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfen von Gesetzen zu Verträgen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und anderen Staaten in der Schlußabstimmung zustimmen will, der möge sich erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme fest.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung
4610 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970
Vizepräsident Dr. Schmid
nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung
— Drucksache VI/715 —
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache VI/1449 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Franz
Der Gesetzentwurf soll gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates zur sechsten Änderung der Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für konservierende Stoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen
— Drucksachen VI/1083, VI/1464 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Hammans
Keine Wortmeldungen. Dann kommen wir gleich zur Abstimmung über diesen Schriftlichen Bericht. Wer zustimmen will, der gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Haushaltsausschusses über die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Frage der Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments, insbesondere auf haushaltsrechtlichem Gebiet
— Drucksachen VI/33, VI/1415 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Althammer
Wortmeldungen? — Keine Wortmeldungen. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? -- Ich stelle einstimmige Annahme fest.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martin, Picard, Dr. Götz und der Fraktion der CDU/CSU betr. Erziehungsberatungsstellen
— Drucksache VI/1341 —
Zur Begründung hat Herr Dr. Martin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich sehr kurz fassen. Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage die Bedeutung der Erziehungsberatungsstellen unterstrichen und die Notwendigkeit ihres Ausbaus
hervorgehoben. Der Antrag zielt darauf ab, in einer Aktion von Bund, Ländern und Gemeinden ein Netz von Erziehungsberatungsstellen in der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen und gleichzeitig ihre Struktur festzulegen.
Gegenwärtig bestehen in der Bundesrepublik etwa 400 Erziehungsberatungsstellen, von denen 200 in vollem Ernst diesen Namen verdienen. Nach dem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, in Gesprächen mit den Ländern entweder im Wege von Erlassen und Verordnungen oder durch Erlaß von Richtlinien oder, wenn das alles nicht funktioniert, durch eine Novellierung des Jugendwohlfahrtgesetzes den Ausbau von Erziehungsberatungsstellen in der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen.
Wenn ich die Zahl von 400 unterstelle, so bedeutet das, daß auf 250 000 Menschen eine Erziehungsberatungsstelle kommt. Der internationale Standard, der angestrebt wird und nirgends verwirklicht ist, heißt 1 zu 50 000. Ich glaube, es wäre ein großer Fortschritt, wenn wir uns auf das Verhältnis 1 zu 100 000 hin bewegen könnten. Das ist der Sinn dieses Antrags.
Ich habe schon einmal von dieser Stelle aus die Bedeutung der Erziehungsberatungsstellen unterstrichen und möchte die Argumente nur noch kurz zusammenfassen. Die Bewegung von der Großfamilie zur Kleinfamilie hat eine große Erziehungsunsicherheit bei den Eltern, aber auch bei den Lehrern und in der Öffentlichkeit erzeugt. Es bedarf heute einer einläßlichen Beratung in diesem Bereich, um mit den vielfältigen Störungen, mit denen Kinder und Jugendliche heute zu kämpfen haben, zurechtzukommen. Deshalb wird im zweiten Teil des Antrages gefordert, daß die Stellen nicht nur errichtet werden, sondern daß sie richtig errichtet werden, d. h. daß man zu einer mehrdimensionalen Diagnostik und Therapie befähigt wird. Man braucht eine Mannschaft aus Ärzten, Psychologen, Sozialpädagogen und zusätzlichen Kräften, um mit den Schwierigkeiten fertig zu werden.
In unserer Gesellschaft gibt es einen immer größeren Teil von Kindern und Jugendlichen, die aus psychosomatischen Gründen mit dem Leben nicht fertig werden. Diesen Schwierigkeiten soll begegnet werden. Es geht hier darum, eine vorbeugende Maßnahme zu treffen. Die Kinder, die heute eine Sondererziehung brauchen und sich in Heimen befinden, sind nur zu 30 % ärztlich-psychologisch untersucht. Das ist ein Mißstand, der den Erfolg von vornherein ausschließt. Lassen Sie mich noch mit einem letzten Wort die Bedeutung des Anliegens unterstreichen: von 30 Kindern bedarf heute mindestens eines der ärztlichen, psychologischen, pädagogischen Sonderhilfe und Sonderbetreuung.
Ich beantrage, diesen Antrag dein Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen, und bitte um Ihre Unterstützung.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Schlei.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 2. Dezember 1970 4611
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Bedeutung der Erziehungsberatungsstellen besteht Übereinstimmung. Weitgehende Übereinstimmung besteht sicher auch darin, daß institutionalisierte Erziehungsberatung, als ein Teil des Aufgabenfeldes der Sozialpädagogik verstanden, eine Notwendigkeit in unserer pluralistischen Gesellschaft darstellt. Dabei ist weniger der erzieherische Notstand der modernen Sozialwelt Ausgangspunkt als vielmehr ein durch zahlreiche Faktoren bedingter Wandel in unserem Wert- und Verhaltenssystem. Er dokumentiert sich in kritischem Überdenken der geltenden Erziehungsnormen. Erziehungsziele sind nicht mehr eindeutig gegeben, so daß viele Eltern durch den Widerstreit verschiedener Auffassungen unsicher geworden sind. Das ist einer der Gründe dafür, daß die Hilfe von Erziehungsberatungsstellen in zunehmendem Maße gesucht wird.
In den Ausführungsbestimmungen zum Jugendwohlfahrtsgesetz vom 5. Juni 1963 steht, daß es zu den allgemeinen Aufgaben einer behördlichen Erziehungsberatungsstelle gehört, die Erziehung von Minderjährigen innerhalb und außerhalb der Familie zu unterstützen und zu ergänzen. Diese Formulierung macht deutlich, daß in erster Linie weder von gefährdeten noch von gestörten Kindern gesprochen wird, sondern daß diese Formulierung in dem Sinne wertfrei ist, als sie eine die Erziehung ergänzende oder unterstützende Institution meint, an die sich alle Ratsuchenden wenden können.
Mit der Problematik der Erziehungsberatungsstellen wurde das Hohe Haus schon wiederholt befaßt. Es ist ganz amüsant, Herr Kollege Dr. Martin, die Historie des vorliegenden Antrages ein wenig zu verfolgen. In der 5. Wahlperiode fragten Sie in einer Kleinen Anfrage u. a.:
Ist die Bundesregierung der Meinung, daß durch eine Novellierung des Jugendwohlfahrtsgesetzes die Errichtung von Erziehungsberatungsstellen mit der notwendigen personellen Ausstattung von einer Kann- in eine Pflichtleistung umgewandelt werden sollte?
Eine Novellierung des Jugendwohlfahrtsgesetzes zu dem Zwecke, eine Verpflichtung zur Errichtung von Erziehungsberatungsstellen mit der erforderlichen personellen Ausstattung zu erreichen, ist nicht erforderlich, weil bereits nach den vorhandenen gesetzlichen Regelungen eine derartige Verpflichtung besteht.
Der Minister hielt in seinen weiteren Bemerkungen - die in Drucksache V/2786 nachzulesen sind — die Aussage des § 5 des Jugendwohlfahrtsgesetzes für konkret genug, Herr Dr. Martin.
Offensichtlich unzufrieden mit dieser Antwort und mit dem bis dahin Geleisteten und sicherlich voller Erwartung, was die Dynamik und Leistungsfähigkeit der jetzt zuständigen Ministerin betrifft, fragte die Fraktion der CDU/CSU am 16. Juni dieses Jahres:
Hält die Bundesregierung den § 5 JWG immer noch für ausreichend, um eine ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Erziehungsberatungsstellen sicherzustellen?
Diesmal lautete die Antwort, wie sie Ihnen sicherlich gefällt Frau Minister Strobel erteilte sie unter dem 13. Juli 1970 —:
Die Bundesregierung ist grundsätzlich der Auffassung, daß der jetzige § 5 JWG die Verpflichtung der Jugendhilfeträger, Hilfen zur Erfüllung des Erziehungsanspruchs junger Menschen zu gewähren und die erforderlichen Einrichtungen bereitzustellen, nicht genügend konkretisiert.
Sie erklärte weiterhin, daß das Jugendwohlfahrtsgesetz durch ein umfassendes — umfassendes! — Jugendhilfegesetz ersetzt werden müsse.
Dieses Gesetz müsse konkrete Verpflichtungen der öffentlichen Träger der Jugendhilfe zur Schaffung und Unterhaltung der erforderlichen Einrichtungen der Jugendhilfe und zur Förderung freier Träger, die solche Einrichtungen unterhielten, enthalten.
Diese Auffassung entspricht der Meinung weiter Fachkreise. Sie ist im übrigen schon im Sozialbericht der Bundesregierung dargestellt, der im April 1970 vorgelegt wurde. Dort wurde ebenfalls der Plan erwähnt, eine Sachverständigenkommission einzuberufen, die mit den Vorbereitungen, mit den Vorarbeiten zu einer grundlegenden Reform der bestehenden Gesetze im Bereich der Jugendhilfe beginnen soll. Diese Jugendhilferechtskommission wurde vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit berufen und trat bereits am 10. Juli 1970 zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Die Kommission bekam den Auftrag, eine grundlegende Neugestaltung des Jugendwohlfahrtsrechts mit konkretem Leistungsrecht in allen Teilbereichen der Jugendhilfe zu erarbeiten. In diesem Auftrag heißt es u. a. wörtlich:
Die individuellen Erziehungshilfen, die das Jugendamt außer seinen generellen Aufgaben leistet, müssen ebenfalls konkretisiert und klar erkennbar als Einheit geregelt werden. Dazu gehören die individuelle Beratung durch sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamtes, die Beratung durch Jugend- und Erziehungsberatungsstellen, Hilfe zur erzieherischen Diagnose, zur heilpädagogischen und spezialtherapeutischen Behandlung.
Wie wir alle wissen, gab es im Ministerium bis 1969 keinerlei Vorarbeiten für eine solche Reform. Die SPD-Fraktion begrüßt es daher, daß jetzt eine so grundlegende und wissenschaftlich abgesicherte Planung geleistet wird. Sie akzeptiert deshalb auch, daß eine derart sorgfältige Vorbereitung einige Zeit in Anspruch nehmen muß. Bei dem hier diskutierten Problem ist z. B. zu bedenken, inwieweit die Aufgaben der Erziehungsberatungsstellen nach Organisationsform und Methode verändert bzw. erweitert werden sollten, um zu einer umfassenden Familienberatung zu kommen, wie sie z. B. in Berlin seit 1969 versucht wird.
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Frau Schlei
Aus den genannten Fakten und Daten ersehen sie, daß Wesentliches aus Ihrem Antrag, soweit es bei der Kompetenzbegrenzung überhaupt ermöglicht werden kann, längst angelaufen ist. Um im Bilde der heutigen Sprache zu bleiben, sind Sie auf einen Zug aufgesprungen, der inzwischen schon ein wenig abgefahren ist.
Das haben Sie aber gut gemacht, denn Sie wissen ganz genau, daß die Zugführung, gewährleistet durch Frau Minister Strobel, an Präzision und Tempo gewöhnt, sicherlich ans richtige Ziel führt.
— Ich habe lediglich fortgesetzt, was Sie doch wohl gedacht haben müssen. Sonst hätten Sie doch nicht so beherzt gefragt, was Sie vorher nie richtig beantwortet bekommen haben.
Nun noch zu Ihrem Punkt 3. Er steht im Widerspruch zu den vorhergehenden Forderungen. Erziehungsberatungsstellen sind eine Aufgabe der Jugendhilfe und können daher nicht gleichzeitig in den Schulgesetzen der Länder verankert werden. Sollten Sie aber die Einrichtung von schulpsychologischen Diensten meinen, so muß auch hier auf die Gesetzgebungskompetenz der Länder hingewiesen werden. Über die Akzentuierung der Aufgabenbereiche läßt sich sicherlich in der Ausschußarbeit noch manches sagen. Sicherlich ist dort auch über manchen Begriff eine aufklärende Diskussion zu führen. Die Schulpflichtgesetze z. B. befassen sich lediglich mit der Dauer der Schulpflicht, mit Schulpflichtbefreiung, Schulpflichtbeurlaubung. Sie meinen sicherlich die allgemeinen Schulgesetze. Das sei auch nur am Rande bemerkt.
Die Fraktion der SPD folgt jedenfalls dem Beschluß des Ältestenrates und stimmt der Ausschußüberweisung zu.
Meine Damen und Herren, wir haben Ursache, die Kollegin zu Ihrer Jungfernrede in diesem Hause zu beglückwünschen.
Herr Abgeordneter Martin!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte der Kollegin ebenfalls zu ihrer Jungfernrede herzlichen Glückwunsch sagen, aber — —
— Wissen Sie, einen Satz, der mit „aber" weitergeht, sollte man sich erst anhören. Warten Sie doch.
Ich habe natürlich, Frau Kollegin, den Hinweis auf die Novellierung erwartet. Es geht mir hier nicht darum, welcher Minister recht oder unrecht hat. Ich habe hier deutlich gesagt, daß die Antwort der Frau Ministerin in der Sache richtig ist und daß dieser Antrag eine Fortführung eben dieser Antwort ist. Deshalb hätte mein Antrag ruhig eine freundliche Behandlung finden können.
Ich bin folgender Meinung, Frau Kollegin. Wenn wir darauf warten, schieben wir eine große Last vor uns her.
— Ja, Herr Wehner, hört, hört. Es ist so, daß in allen Städten Wartezeiten über Monate bestehen. Jeder, der die Sache kennt, weiß, daß dieses Warten für drei oder vier Monate eine Fehlleitung für ein halbes oder ganzes Leben bedeuten kann. Ich möchte eigentlich folgendes sagen. Es gibt Wege genug — sie sind im Antrag aufgezeigt —, wie man rascher zur Lösung dieses Problems kommen kann. Ich habe sie genannt. Das mag von den Ländern aus im Wege der Ausführungsbestimmungen erfolgen. Darüber müßte man sich verständigen; dann braucht man keine gesetzliche Regelung abzuwarten. Das ist an sich das, was ich speziell möchte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Natürlich, aber ich darf gerade den Satz zu Ende bringen. — Ich möchte an die Novellierung des JWG nur herantreten, wenn das kooperative Verfahren nicht gelingt. Das wäre die schlechtere Lösung, aber die müßte dann angestrebt werden.
Herr Kollege, ich glaube, in der Sache sind wir nicht sehr weit auseinander. Nur eine Frage: Wird das Interesse, das Sie dieser Aufgabenstellung entgegenbringen, auch von den Mitgliedern des Jugend- und Familienausschusses aus Ihrer Fraktion, von denen niemand hier im Saal anwesend ist, geteilt?
Ich bin sicher, daß es von der ganzen Fraktion geteilt wird. Dieser Antrag ist durch die Fraktion gegangen und wird von uns allen getragen. Sie wissen, daß ich in der Sache persönlich engagiert bin wie sehr viele in meiner eigenen Fraktion. Ich will deswegen den Weg dazu ebnen, meine Damen und Herren, daß wir uns hier nicht zerstreiten über Ministerantworten, sondern in der Sache vorgehen.
Ich wiederhole meinen Antrag, die Bundesregierung möge einen der drei Wege benutzen, um möglichst rasch ein ausreichendes Netz von Erziehungsberatungsstellen von gesunder Struktur zu bekommen. Das ist der Sinn des Antrags. Ich bedaure es an sich, daß wir uns hier in der Vergangenheit bewegen, statt einen kräftigen Schritt in die Zukunft zu tun.
Das Wort hat Frau Minister Strobel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß, daß ich Sie nicht mehr aufhalten darf. Aber, Herr Dr. Martin, lassen Sie mich darauf hinweisen, daß es im Grunde selbstver-
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Bundesminister Frau Strobel
ständlich ist, daß ein Bundesminister, der in enger Zusammenarbeit mit den Jugendministern ,der Länder alle diese Problem angeht, auch die Länder immer wieder darauf aufmerksam macht, wie wichtig diese Aufgabe ist. Aber Sie wissen auch, daß die Länder viele Aufgaben zu erledigen haben und daß die Gemeinden in der gleichen Situation sind. Es ist dies auch ein Finanzierungsproblem bei den Ländern und Gemeinden. Der Bund kann nicht immer nur von ihnen fordern, sondern man muß sich dann auch darauf einigen, wie ,das finanziert werden soll.
Hier rennen Sie im Grunde offene Türen ein.
Aber es ist vielleicht notwendig, sich immer wieder daran zu erinnern.
Ich habe eigentlich nur um das Wort gebeten, weil ich zu dem Punkt 4 noch etwas sagen will. In Punkt 4 fordern Sie uns auf, etwas in Richtung der Weiterbildung bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung zu tun. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß das läuft. Aus den Mitteln des Bundesjugendplanes wird die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung gefördert, und es ist vorgesehen, bei der Steigerung der Mittel im Bundesjugendplan für
1971 auch die Mittel für die Erziehungskonferenz zu erhöhen.
Mir lag nur daran, auch auf diesen Punkt noch hinzuweisen. Sonst ist hier ja schon alles ausgesprochen worden.
Keine weitere Wortmeldung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend —, den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie den Haushaltsausschuß — mitberatend — vor. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.
Die Punkte 16, 17 und 18 der Tagesordnung sind für Freitag vorgesehen.
Damit sind wir für heute am Ende. Ich berufe die nächste Sitzung auf Donnerstag, den 3. Dezember 1970, 14 Uhr ein. Einziger Punkt: Fragestunde.
Ich schließe die heutige Sitzung.