Rede von
Dr.
Hans
Dichgans
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Vergleicht man die Novelle zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz mit den Absichten der Regierung, so ist das Ergebnis mager. Die zeitliche Begrenzung der Nichtigkeit verfiel der einhelligen Ablehnung; nicht einmal die Bundesverfassungsrichter waren dafür. Die Operation, die die Unterschiede im Status der verschiedenen Richtergruppen beseitigen wollte, ist völlig mißlungen. Die Unterschiede sind nach der Operation größer als vorher. Vom Einheitsgericht, das allgemein gefordert wird — auch der Kollege Arndt hat eben wieder ein Lippenbekenntnis dazu abgelegt —, sind wir weiter entfernt denn je.
Zunächst zum unterschiedlichen Status! Wir haben beschlossen, daß jetzt jeder Richter nur eine Periode lang tätig sein soll, zwölf Jahre, ohne die Möglichkeit der Wiederwahl. Das bringt in der Tat eine Vereinheitlichung. Aber ob sie gut ist, bleibt sehr zweifelhaft. Wer etwa mit 50 Jahren in das Bundesverfassungsgericht gewählt wird, sieht sich dann mit 62 Jahren ausgebootet und steht vor schwierigen Entscheidungen, die schon vorher sein Verhalten beeinflussen können. Immerhin gibt es in diesem Punkt eine Vereinheitlichung.
Ein weit bedeutsamerer Unterschied im Status besteht jedoch fort: das ist die Zulage für die Pro-
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fessorenrichter. Nach Auskunft eines Sprechers des Bundesjustizministeriums beträgt diese Zulage etwa 2000 DM im Monat — rund ein Drittel des normalen Gehalts —. Man muß sich die Frage stellen: Leistet ein Professorenrichter, der nebenbei noch eine Lehrtätigkeit ausübt, deshalb mehr für das Gericht? Es handelt sich wohlgemerkt nur um die Lehrtätigkeit; denn eine wissenschaftliche Tätigkeit kann jeder Richter ausüben, auch der 'Richter, der nicht Professor ist. Die Frage lautet: Bringt die Lehrtätigkeit einen zusätzlichen Gewinn? Die Antwort kann nur lauten: Nein; denn natürlich nimmt sie Zeit in Anspruch, und die Zeit ist bei dem ohnehin überlasteten Bundesverfassungsgericht — ich komme darauf noch zurück — sehr kostbar.
Nun ist das Argument aufgetaucht, das Gericht sei daran interessiert, Professoren als Richter zu gewinnen — das ist auch meine Meinung —, und dafür reiche eben die normale Besoldung in B 10 nicht aus, sondern man müsse etwas Zusätzliches bieten. Aber wenn das Gericht an Richtern, die nicht aus der Justiz kommen, interessiert ist, so gilt das doch nicht nur für die Professoren, sondern ebenso für Anwälte, vielleicht in dem einen oder anderen Fall auch für einen Industriejuristen. Wenn es überhaupt Anreizprämien geben muß, müßte man diese vernünftigerweise für alle Außenseiter einführen, also ein Gesetz schaffen, das es dem Präsidenten ermöglicht, Zulagen für Außenseiter festzusetzen.
Meine Damen und Herren, glauben Sie, daß es vertretbar wäre, die Leistungen der aus der Justiz stammenden Richter auf diese Weise, durch eine mindere Bezahlung, ständig zu diskriminieren? Ich darf in diesem Zusammenhang, damit Mißverständnisse ausgeschlossen werden, besonders darauf hinweisen, daß es sich natürlich immer nur um zukünftige, neue Verträge handelt. Niemand denkt daran, in die bestehenden Verträge einzugreifen.
Wenn man fragt, ob es sinnvoll ist, diese Anreizprämien, und zwar nur für Professorenrichter, beizubehalten, so kann die vernünftige Antwort nur lauten: Nein. Dazu hatte sich auch der Ausschuß in einem Beschluß durchgerungen, aber die Fraktionsdisziplin der Koalition brachte ihn später wieder zu Fall. Ich verstehe sehr gut, daß die Fraktionen in großen politischen Fragen auf Geschlossenheit drängen. Wer das Wort „Fraktionsdisziplin" mit lauter Großbuchstaben schreibt — ich als unerschütterlicher Liberaler tue das allerdings nicht —, kann dem Kollegen Wehner für seine Leistungen auf diesem Gebiet seine Bewunderung nicht versagen. Aber ich frage mich, ob es wirklich sinnvoll ist, diese Fraktionsdisziplin auch bis in die Sachfragen der Ausschußberatungen durchzuziehen: Fraktionsdisziplin an Stelle von Argumenten.
Wir haben die Frage der Professorenrichter im Ausschuß sehr eingehend diskutiert und, wie gesagt, zunächst den Beschluß gefaßt, bei allen künftigen Richtern das Verbot jeder Nebentätigkeit, auch der Professorentätigkeit, zu fixieren. Die SPD hatte aus diesem Anlaß den Wunsch, die Richter von B 10 nach B 11 höherzustufen — ein Vorschlag, der auch von der CDU positiv aufgenommen wurde.
Er stieß dann auf Bedenken bei der Bundesregierung, wegen der Berufungsfälle, und daraufhin forderte die Koalition eine erneute Abstimmung über den bereits gefaßten Beschluß bezüglich des allgemeinen Verbots der Nebentätigkeit.
Die Diskussion über diesen erneuten Antrag ergab überraschenderweise, daß die Umstufung von B 10 auf B 11 unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Sonderregelungen eine Erhöhung der Bezüge um monatlich 200 DM gebracht hätte. Das wäre, bezogen auf die bisherigen Bezüge, eine Erhöhung um 3,3 N. Das war in diesem Augenblick aus den Gründen, die wir besprochen haben, nicht erreichbar. Daraufhin erklärten die Sprecher der Koalition, wenn die Erhöhung um 200 DM im Monat nicht erreichbar sei, müsse es bei dem bisherigen Mehrverdienst aus Nebentätigkeit von 2000 DM im Monat bleiben.
Die Diskussion über diesen Punkt brachte offenbar auch die Einheitsfront der Koalition zum Wanken. Die Ausschußsitzung mußte deswegen unterbrochen werden. Es dauerte erhebliche Zeit, bis die Kollegen in den Ausschuß zurückkamen. Eine neue Erklärung wurde nicht abgegeben. Es wurde nur Abstimmung verlangt. Diese brachte dann eine Mehrheit von 13 : 12, die den alten Beschluß umwarf. Dieses Ergebnis erscheint mir schlicht unerträglich. In der Sache: es erscheint mir unzumutbar, daß wir auf die Dauer unseren Berufsrichtern zumuten, für die gleiche Tätigkeit ein so viel geringeres Einkommen zu beziehen als die Professorenrichter.
Zum Verfahren des Fraktionszwangs in den Ausschüssen: Was soll man dagegen tun? Ich möchte zweierlei vorschlagen. Ich werde morgen in der Sitzung des Rechtsausschusses den Antrag stellen, daß wir in Zukunft alle Sitzungen dieses Ausschusses öffentlich halten. Das ist vielleicht ein gewisses Gegenmittel gegen allzu krasse Eingriffe des Fraktionszwangs. Außerdem werde ich ganz freundschaftlich den Sprecher der Regierungskoalition bitten, uns immer vorher zu sagen, in welchen Punkten die Koalition durch Beschlüsse ihrer Arbeitskreise so fixiert ist, daß sich eine Aussprache nicht mehr lohnt. Ich werde dann den Ausschußvorsitzenden bitten, die übrigen Punkte vorzuziehen. Dann brauche ich mich an der restlichen Diskussion nicht mehr zu beteiligen, was gewiß zu einer bedeutenden Arbeitsentlastung führen wird.
Noch einmal zur Institution des Professorenrichters. Sie entfernt uns noch mehr von dem Einheitsgericht, das wir, wie ich immer wieder zu meiner Freude höre, ja alle wollen. Wenn ein Gericht so überlastet ist, wie uns immer wieder mitgeteilt wird, ist schwer zu verstehen, warum man seinen Mitgliedern Nebentätigkeit gestatten soll. Die schwerwiegenden Sachbedenken, die gegen die Spaltung in zwei Senate bestehen, will ich hier nicht wiederholen; wir haben sie in der ersten Lesung hier besprochen.
Die Beratung im Rechtsausschuß hat weitere bedenkliche Informationen geliefert. Zwar ist der Zugang an neuen Sachen in beiden Senaten im Augenblick etwa der gleiche. Aber der eine Senat
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hat eine große Altlast, mit der er offensichtlich nicht fertig wird. Im übrigen kann es bei einer Änderung der rechtlichen Verhältnisse oder auch beim Auftauchen neuer Probleme durchaus eintreten, daß der eine Senat plötzlich sehr viel mehr Zugänge hat als der andere. Dann stehen wir vor der Frage, was zu tun ist. Wollen wir dann die Artikel des Grundgesetzes auf die Senate neu verteilen? Wäre das nicht möglicherweise eine Manipulation?
Nun wird uns gesagt — der Kollege Arndt hat es soeben auch anklingen lassen —, das Einheitsgericht sei nur erreichbar, wenn wir die Verfassungsbeschwerden beschnitten. Dazu möchte ich folgende Erklärung abgeben: Wenn das zutrifft, ziehe ich jeden Antrag in dieser Richtung sofort zurück. Ich möchte die Verfassungsbeschwerden nicht beschneiden.
Aber trifft es zu? Unser Bundesverfassungsgericht fällt im Augenblick mit geringen Schwankungen etwa 80 Urteile im Jahr. Diese 80 Urteile sind im Ergebnis in der Erledigung von etwa 1200 Eingängen enthalten. Die restlichen 1120 werden in Vorverfahren erledigt. 80 Urteile bei 1200 Eingängen werden offenbar als angemessene Leistung des Gerichts angesehen. Ich habe bisher nicht gehört, daß irgend jemand verlangt hat, einen dritten Senat zu gründen, um zu 120 Urteilen zu kommen, oder 30 Senate, die 1200 Urteile produzieren. Man hat sich auf zwei Senate geeinigt, offenbar pragmatisch. 80 Urteile, das scheint nach der Meinung aller Kollegen dieses Hauses eine ausreichende Leistung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sein. Die Frage lautet: Könnte nicht auch ein Einheitsgericht 80 Urteile im Jahr produzieren? Meine Antwort darauf ist eine doppelte. Erstens: Ich weiß es nicht. Zweitens: Niemand hat sich ernsthaft mit dieser Frage befaßt. Es gibt aber gewichtige Argumente, die für eine positive Antwort sprechen. 80 Urteile im Jahr sind bei 16 Richtern — Sie werden es im Kopfrechnen nachvollziehen können — fünf Urteile pro Richter und Jahr. Diese Divisonskalkulation hat Kritik ausgelöst. Es ist gesagt worden, man dürfe Leistungen dieser Art nicht statistisch bewerten. Aber von meinem Schulunterricht erinnere ich mich, daß bei etwa 100 das Gesetz der großen Zahl zu wirken beginnt und eine statistische Betrachtung durchaus legitim wird.
Wenn Sie nun diese Leistung des Bundesverfassungsgerichts mit der Leistung des Supreme Court vergleichen, stellen Sie fest, daß im Supreme Court auf den einzelnen Richter eine Leistung von 35 Urteilen im Jahr entfällt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat mich darüber belehrt, daß davon nur 15 Urteile wegen ihres kontroversen Charakters mit unseren Urteilen vergleichbar sind. Ich beschränke mich also auf 15. Immerhin, 15 Urteile beim Supreme Court, fünf Urteile bei uns. Das bedeutet, wenn es gelänge, die deutsche Leistung von fünf auf nur zehn zu bringen, wäre das Problem gelöst.
Die Bundesverfassungsrichter bestreiten, daß ein Vergleich mit dem Supreme Court zulässig sei. Sie sagten, das amerikanische Recht sei eben anders. Das ist aber eine reine Leerformel. Die Aufgabe
aller obersten Gerichte der Welt, der deutschen wie
der amerikanischen, besteht darin, Tatbestände zu
erforschen und unter Rechtsnormen zu subsumieren.
Es ist weiter eingewandt worden, daß das amerikanische Gericht auch Zivilfälle und Straffälle erledige. Gewiß aber bei dem außerordentlich ausgebildeten amerikanischen Filterverfahren darf man sicher sein, daß auch nur sehr komplizierte Zivil- und Strafprozesse vor das oberste Gericht kommen. Wir alle wissen, daß es auch im Zivilrecht Komplikationen gibt, die keineswegs einfacher sind als die staatsrechtlichen.
Es ist ferner gesagt worden, die Urteile des amerikanischen Gerichtshofes hätten keine Gesetzeskraft. Das ist formal richtig, aber eben nur formal. De facto haben sie Gesetzeskraft wie bei uns. Dort wird das Urteil Johnson gegen Miller ebenso zitiert wie bei uns etwa der § 278 des BGB.
Endlich ist gesagt worden, 95 % unserer Eingänge erreichten den Senat nicht, und die Vorarbeit müsse natürlich auch bewertet werden. Selbstverständlich. Aber das ist in Amerika nicht anders. Auch in Amerika erreicht nur ein ganz geringer Teil der Eingänge das Plenum. Das Verfahren ist dort anders und, ich glaube, rationeller. Aber dürfen wir sagen, daß die amerikanischen Richter sich die Aufgabe, unter den Eingängen eine gerechte Auswahl zu treffen, leichter machen als die unsrigen?
Noch einmal: Sollte es nicht möglich sein, die Urteilsleistung von fünf auf zehn im Jahr zu steigern, eines im Arbeitsmonat?
Müssen unsere Bundesverfassungsgerichtsurteile wirklich diese ellenlangen Tatbestände enthalten, und müssen die Bundesverfassungsrichter sie selbst verfassen? Wäre es nicht möglich, hier andere Lösungen zu suchen, etwa nach dem Vorbild des französischen Rechts, wo derartige Rechtsdarstellungen vom Generalanwalt geliefert werden, der also das Vorbringen der Parteien zusammenfaßt? Darüber hinaus: Wäre es nicht vielleicht einfacher, an Stelle eines Tatbestandes kurzerhand die Schriftsätze mit abzudrucken? Das gäbe dann mehr Druckseiten, würde aber die sehr mühselige Arbeit des Referats ersparen. Und weiter: Ist es wirklich notwendig, daß unser Bundesverfassungsgericht den Längenrekord der Urteilsbegründungen in der Welt hält mit einer Begründung, die 306 Druckseiten füllt? Könnte man nicht die Zahl der Assistenten erhöhen? In Amerika haben die Richter zwei Assistenten. Das alles ist bisher nicht ernsthaft untersucht worden. Mein Vorschlag, unsere Fachleute sollten sich das doch in Washington einmal ansehen, verfiel der Ablehnung.
Das zweite Ergebnis der Reform ist also: vom Einheitsgericht sind wir weiter entfernt denn je. Wir machen nicht nur keine Fortschritte in Richtung auf das Einheitsgericht, sondern wir entfernen uns aus anderen Gründen noch weiter davon. Dies ergibt sich aus der neuen Regelung des dissenting vote. Was ist ein dissenting vote? Es bedeutet keinesfalls, daß die Richter abweichende Erwägungen schriftlich niederlegen dürfen. Das dürfen sie auch heute schon, und das geschieht auch bereits. Vielmehr bedeutet
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es, daß in Zukunft die abweichende Begründung publiziert wird; darum geht es.
Ich will ausdrücklich anerkennen, daß diese dissenting votes in der amerikanischen Rechtsprechung eine nützliche Wirkung gehabt haben. Minderheitsmeinungen sind auf diese Weise auf die Dauer zu Mehrheitsmeinungen geworden. Ich bin also im Grundsatz gar nicht dagegen, aber nicht bei der heutigen Struktur des Gerichts, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens machen die abweichenden Voten natürlich zusätzliche Arbeit, und ein Gericht, das sowieso über Arbeitsüberlastung klagt, sollte sich das nicht aufladen.
Ein Zweites. Der amerikanische Richter arbeitet auf Lebenszeit. Er braucht also nicht an seinen späteren Status zu denken. Der deutsche Richter wird nach der neuen Regelung möglicherweise relativ frühzeitig aus seiner Position entfernt. Er kann außerdem nebenbei noch als Professor tätig sein. Und diese dissenting votes könnten bei der menschlichen Natur, wie sie nun einmal ist, eine Versuchung sein, hier Material zur Begründung eines künftigen Status zusammenzutragen, eine Versuchung, daß nicht Judikatur poduziert wird, sondern Literatur. Ich glaube, bei manchen Begründungen sind die Bundesverfassungsrichter bisher schon dieser Versuchung erlegen.
Die Zeit ist fortgeschritten. Ich will deshalb die allgemeine Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit nur ganz kurz anschneiden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen. Diese Prüfung ist aber nicht die erste ihrer Art, sondern die fünfte. Die Verfassungsmäßigkeit wird zunächst von der Bundesregierung geprüft, dann vom Bundestag, repräsentiert durch seinen Rechtsausschuß, ferner vom Bundesrat und zum Schluß noch einmal vom Bundespräsidenten, der, wie Sie wissen, in einigen Fällen die Publikation eines Gesetzes verweigert hat, weil er der Meinung war, es sei nicht verfassungskonform.
— Herr Arndt, immerhin widersprechen Sie mir nicht darin — mich freut das —, daß es vier Instanzen gibt, die das vorher prüfen.
Jetzt ergibt sich die Frage: Welche Bedeutung, welchen Rang haben eigentlich diese vorhergehenden Prüfungen? Ich möchte einmal speziell fragen, welche Bedeutung hat die Prüfung im Rechtsausschuß? Da erhebt sich am Anfang die Frage nach der Rechtskunde. Im Rechtsausschuß haben wir zwei ehemalige Justizminister. Wir haben auch, Herr Vorsitzender des Rechtsausschusses, brillante Nachwuchskräfte. Der ehemalige Kollege Seuffert hat es sogar zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts gebracht. Wir haben also keinerlei Veranlassung, hier unsere Rechtskunde unter den Scheffel zu stellen. Nun ist es natürlich denkbar, daß die versammelten Politiker wider besseres Wissen die
Verfassungsmäßigkeit eines Entwurfs bejahen, der verfassungswidrig ist.
Das hat bisher außer dem Kollegen Arndt noch niemand gesagt, und ich wundere mich über seine Meinung.
Ich möchte Ihnen einmal folgendes vorschlagen, Herr Arndt: können wir uns darauf einigen, daß wir von der Arbeitshypothese ausgehen, daß wir hier im Bundestag ebenso rechtskundig und ebenso anständig sind wie die Bundesverfassungsrichter? Ich würde sagen, das zu bejahen, sollte für uns eine Frage der Selbstachtung sein. Bei dieser Lage bedeutet die abweichende Meinung des Bundesverfassungsgerichts nicht etwa eine Opposition „Recht gegen Unrecht", sondern eine Opposition der Juristenmeinung des Gremiums V gegen die Juristenmeinungen der Gremien I bis IV. Meinung gegen Meinung!
Selbstverständlich — das sieht jeder ein — muß irgend jemand das letzte Wort haben. Auch ich bin vernünftig genug, das nicht zu bestreiten. Das Problem ist jedoch, was eigentlich geschieht, wenn auch das Bundesverfassungsgericht zerstritten ist, wenn nach den vorhergehenden vier Prüfungen die Rechtsunsicherheit auch in der Endphase so deutlich wird, daß das Bundesverfassungsgericht sein Votum mit einer Mehrheit von 4 zu 3 beschließt? In einem solchen Fall reicht eine Stimme — die Stimme eines einzigen Bundesverfassungsrichters — aus, ein einstimmig beschlossenes Gesetz zu Fall zu bringen. Wir haben das beim Ingenieurgesetz gehabt.
Ein von mir im übrigen hochgeschätztes Mitglied des Bundesverfassungsgerichts macht es sich, glaube ich, etwas zu leicht, wenn es auf Überlegungen dieser Art antwortet, das sei schlicht mangelndes Demokratieverständnis. Daß man für gewisse Entscheidungen eine höhere Rechtsgewißheit fordern muß, als sie sich in dem Mehrheitsverhältnis 4 zu 3 ausdrücken kann, ist eine Auffassung, die in nicht weniger als in vier Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes bereits heute ihren Niederschlag gefunden hat, die Pensionierung eines Richters eingeschlossen. Dieses Problem der notwendigen Rechtsgewißheit ist noch nicht gelöst, es bleibt offen. Es mündet am Ende in die Frage der Bibel: „Wer schützt uns vor unseren Wächtern?", oder wenn Sie die Bibel nicht zitiert haben mögen, in die Frage, die Lenin formuliert hat: „Wer kontrolliert die Kontrolleure?" Das Verhältnis zwischen Legislative und Justiz ist, glaube ich, in der Bundesrepublik noch nicht genügend durchdacht.
Damit bin ich am Ende. Ich glaube nicht, daß das, was wir hier verabschieden, ein gutes Gesetz ist. Einiges ist durchaus nützlich. Ich begrüße es sehr, daß der soziale Status der Bundesverfassungsrichter gefestigt worden ist. Herr Kollege Arndt, auch Ihre speziellen Besoldungsvorschläge werden bei mir Wohlwollen finden. Auch die neue Formulierung, daß eine Zurückweisung schon erfolgen kann, wenn keine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht, ist
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eine Verbesserung. Aber die Verschlechterungen, die Versäumnisse überwiegen.
Die Fraktion der CDU/CSU, die einzige liberale Fraktion dieses Hauses,
gibt ihren Mitgliedern die Entscheidung frei. Ich persönlich werde mich enthalten.