Rede von
Georg
Leber
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor Ihnen liegen vier verkehrspolitisch bedeutsame Drucksachen: der in der Regierungserklärung angekündigte Verkehrsbericht für das Jahr 1970, der Gesetzentwurf über den Ausbau der Bundesfernstraßen in den Jahren 1971 bis 1985, die Novelle zum Eisenbahnkreuzungsgesetz und der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Besteuerung des Straßengüterverkehrs. Ich werde meine Ausführungen auf alle vier Vorlagen erstrecken.
Der Verkehrsbericht 1970, den ich 'dem Hohen Hause heute vorzulegen die Ehre habe, versucht eine Antwort auf drei Fragen zu geben: Wo stehen wir im Verkehr am Anfang der 70er Jahre? Welches werden aus der Sicht der Bundesregierung die Hauptprobleme des Verkehrs in den kommenden Jahren sein? Welche Möglichkeiten zeichnen sich zu ihrer Lösung ab?
Vor fast genau drei Jahren, am 8. November 1967, wurde das Verkehrspolitische Programm für die Jahre 1968 bis 1972 beschlossen. Eine spätere Würdigung dieses Kapitels wird vielleicht einmal unter der Überschrift stehen können: „Leere Waggons, leere Kassen und viel Mutlosigkeit".
Das Verkehrspolitische Programm befindet sich nunmehr in seiner zweiten Halbzeit. Wir können mit Befriedigung feststellen, daß der Weg, den wir damals, 1967, begonnen haben, erfolgreich war.
Unsere Eisenbahn hat keine leeren Waggons mehr; ihr fehlen Waggons, so stark hat ihr Verkehr zugenommen. Ihre Einnahmen sind erheblich gestiegen, und sie hat ein neues Selbstbewußtsein gewonnen. Sie arbeitet rationeller, sie ist moderner geworden, sie hat ihre Organisation konzentriert. Sie ist in den Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern eingetreten. Sie hat in den Bereichen, in denen es sinnvoll erschien, z. B. im kombinierten Verkehr und im Kleingutverkehr, auch die Kooperation mit anderen Verkehrszweigen gesucht und sie gemeinsam mit ihnen verwirklicht.
Im Straßengüterverkehr wurde die Kapazitätsregelung flexibler gestaltet, die Verkehrsbedienung
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in der Fläche erleichtert und das Tarifbildungsverfahren im Nahverkehr neu geregelt.
Die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen dem Straßengüterverkehr und der Bundesbahn haben sich in erfreulichem Maße entwickelt und verstärkt.
In der Binnenschiffahrt sind durch die getroffenen Maßnahmen die Märkte bereits jetzt fühlbar stabilisiert und damit gleichzeitig auch bessere Voraussetzungen für eine Modernisierung der Binnenschiffsflotte geschaffen worden. Die Schifferbetriebsverbände wurden durch die Möglichkeit zur Akquisition in den Stand gesetzt, sich als selbständige Anbieter auf den Markt zu begeben. Binnenschifffahrt und verladende Wirtschaft haben wiederholt ihre Befriedigung über die getroffenen Maßnahmen zum Ausdruck gebracht.
Die deutsche Handelsflotte wurde modernisiert.
Einige sehr gravierende Wettbewerbsnachteile im Hinterlandverkehr der deutschen Seehäfen gegenüber dem Hinterlandverkehr der Seehäfen in unseren westlichen Nachbarländern konnten beseitigt werden.
Die Deutsche Lufthansa hat ihr Streckennetz um wirtschaftlich sehr bedeutsame Fluglinien erweitern können. Wichtige Infrastrukturmaßnahmen für den Luftverkehr wurden mit wesentlicher finanzieller Unterstützung des Bundes vorangetrieben oder fertiggestellt. Die Flugsicherungsdienste wurden in personeller und technischer Hinsicht verbessert.
Das Investitionsprogramm zur Förderung des kombinierten Verkehrs und des Gleisanschlußverkehrs hat bereits einen beachtlichen Beitrag zur Straßenentlastung geleistet.
Im Straßenbau wird von 1967 bis 1970 ein Programm mit einem Finanzvolumen von rund 18 Milliarden DM durchgeführt, ein Bauaufwand, der etwa dem der vorangegangenen 8 Jahre entspricht.
Mit dem Mehraufkommen aus der Mineralölsteuererhöhung vom 1. Januar 1967 wurden zahlreiche Vorhaben im kommunalen Straßenbau und im öffentlichen Personennahverkehr gefördert. Zahlreiche Einzelmaßnahmen zielten darauf ab, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen, den Verkehr flüssiger ablaufen zu lassen und die vom Kraftfahrzeug ausgehenden Umweltbelästigungen zu beschränken.
Von vielen Seiten ist damals die Ansicht geäußert worden, das Verkehrspolitische Programm der Bundesregierung werde die gemeinsame Verkehrspolitik der Europäischen Gemeinschaften bremsen. Dies ist nicht der Fall gewesen. Wir haben nicht gebremst, sondern wir haben angeregt und in Bewegung gebracht, und wir haben die Weiche in eine Richtung stellen helfen, die unseren Vorstellungen entspricht. Das hat seinen Eindruck im Ausland nicht verfehlt.
Einige gesonderte Worte möchte ich in diesem Zusammenhang zur Straßengüterverkehrsteuer sagen. Die Frage, ob sie am Jahresende auslaufen oder verlängert werden sollte, hat in jüngster Zeit zu Diskussionen geführt. Ich möchte hier feststellen:
Diese Steuer hatte insgesamt den gewünschten Erfolg, den wir mit ihr erreichen wollten. Der Werkfernverkehr hat sich im ganzen nicht wesentlich ausgeweitet, in einigen Bereichen ist er sogar leicht zurückgegangen. Ich räume hier gern ein, daß wir alle die Absicht hatten, die Steuer zum 1. Januar 1971 durch eine wegekostenorientierte Straßenbenutzungsabgabe abzulösen. Diese Abgabe soll sich in ein Konzept der Europäischen Gemeinschaften über eine harmonisierte Lkw-Besteuerung einfügen.
Die Europäischen Gemeinschaften müssen erst über diese Hürde kommen; sie sind noch nicht soweit. Entgegen unseren Erwartungen konnte die europäische Verkehrspolitik diese Schritte bisher nicht tun. Die erforderlichen Vorarbeiten sind ohne Verschulden der Bundesregierung nicht in dem notwendigen Maße vorangekommen. Solange noch die Chance zu einer gemeinschaftlichen Lösung besteht, kann ich in dieser Frage nicht zu einem verkehrspolitischen Alleingang raten. Dies würde die Verhandlungsposition der Bundesregierung in Brüssel beeinträchtigen.
Es gibt kein Gebiet der Verkehrspolitik, das so umstritten und so sehr dem Versuch der Quadratur des Kreises ähnlich ist, auf das so viel Tinte und Papier verwandt wurde und in dem so viele kritische Fragen an die Verkehrsminister in allen Ländern gestellt werden, wie gerade die Wegekostenfrage. Ich kenne in der ganzen Welt keine Lösung, weder hier noch irgendwo in einem ánderen Land, die man ohne ernsthafte Einwände mit dem Stempel „genügend geeignet" auszeichnen könnte. Das zuzugeben, ist auch in der Bundesrepublik Deutschland keine Schande. Andererseits kann ein ersatzloses Fortfallen der eingeführten Straßengüterverkehrsteuern verkehrspolitisch nicht hingenommen werden.
In Abwägung dieser Gründe hat die Bundesregierung beschlossen, dem Hohen Hause einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Geltungsdauer der Straßengüterverkehrsteuer um ein Jahr verlängert. Dies war auch möglich, weil sich der Spielraum, der von den Europäischen Gemeinschaften her gegeben war, über die Erwartungen, die wir 1968 haben konnten, um ein Jahr vergrößert hat.
Meine Damen und Herren, der Verkehrsbericht 1970 soll kein zweites Verkehrspolitisches Programm sein. Das Verkehrspolitische Programm läuft bis 1972. Der Verkehrsbericht 1970 hat eine andere Funktion. Die Bundesregierung hat versucht, in ihm eine Art Gewinn- und Verlustrechnung des Verkehrswesens aufzustellen und darzulegen, wo und mit welchen Mitteln der „Gewinn" vergrößert und der „Verlust" gemindert werden kann. Wir haben uns darauf konzentriert, zu zeigen, was ist und was in der Zukunft werden sollte. Schwerpunktmäßig wurde dargestellt, welche zusätzlichen und über das verkehrspolitische Sofortprogramm hinausgehenden Probleme auf uns zukommen und welche Aufgaben uns diese Probleme stellen.
Eine vergleichende Darstellung des Verkehrs im geteilten Deutschland bleibt einem Bericht zur Lage der Nation vorbehalten, in dem auch die Verkehrsverhältnisse angesprochen werden sollen. In ihm
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wird auch die besondere Aufgabe, die uns das Zonenrandgebiet stellt, im besonderen zu behandeln sein.
Ich komme nun zu den besonderen Aufgaben, die ich auch weiterhin im Gesamtrahmen der Aufgaben als Schwerpunkt der Verkehrspolitik der Bundesregierung ansehe. Ich möchte sie noch einmal nennen: der Straßenbau, die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Verdichtungsräumen, die Eisenbahnen und die Verkehrssicherheit.
Die Bundesregierung hat in ihrem verkehrspolitischen Programm einen Ausbauplan für die Bundesfernstraßen angekündigt. Er liegt dem Hohen Hause als Bedarfsplan für den Ausbau der Bundesfernstraßen in den Jahren 1971 bis 1985 vor. Wir haben uns erlaubt, den Damen und Herren des Hohen Hauses eine mit reichlichem Kartenmaterial versehene Broschüre zu übersenden, in der der Gang der Untersuchungen, die wir angestellt haben, im einzelnen dargestellt ist. Sie erkennen aus diesen Unterlagen, wie sich die Planung aus Strukturdaten Schritt für Schritt entwickelt hat. Mit dieser Art des Vorgehens ist der Übergang von der pragmatischen zur systematischen Planung vollzogen. Wir haben es aufgegeben, bei der Straßenbauplanung so zu verfahren, wie früher — auch noch zu meiner Zeit — verfahren wurde, daß man nämlich ein politisches Tauziehen um die Frage veranstaltete: Wo soll man Straßenzüge bauen oder nicht? Wo genießen sie Prioritäten oder nicht? Wir peilen nicht nach altgewohnter Methode über den Daumen: „Hier wäre eigentlich eine Straße nötig", sondern wir sind zu einer systematischen Planung gekommen. Wir haben in diesem Bedarfsplan darzustellen versucht, wie das Netz der Bundesfernstraßen aussehen muß, wenn es den in 15 oder 20 Jahren zu erwartenden Verkehrsverhältnissen in unserem Lande genügen soll. Wir haben dabei möglichst alle Gesichtspunkte, die auf den Verkehr Einfluß haben, berücksichtigt. Einwohner- und Beschäftigtenzahlen, Wirtschaftstätigkeit, Bruttoinlandsprodukt, Kraftfahrzeugbestand und Kraftfahrzeugdichte, um nur einige der wichtigsten Grunddaten zu nennen, wurden in ihrer regional unterschiedlichen Entwicklung vorausgeschätzt oder ermittelt. Aus diesen Daten haben wir mit Hilfe mathematischer Modelle das künftige Verkehrsaufkommen und die Straßenbelastung errechnet. Dabei wurde neben dem Werktagsverkehr auch der Wochenendverkehr in die Betrachtung einbezogen. Besonders dem wachsenden Freizeitverkehr muß man für die Zukunft einen höheren, einen ihm angemessen hohen Stellenwert beimessen.
In einem weiteren Schritt wurde dann für alle Strecken des Bundesfernstraßennetzes die künftig benötigte Zahl der Fahrspuren festgelegt. Die Festlegung der Reihenfolge, in der der Bedarf befriedigt werden soll, orientiert sich an der verkehrlichen Auslastung der Straßen, an dem Erschließungs- und Verbindungseffekt, den die Straße für eine Region hat, an ihrem Ausbauzustand und an der KostenNutzen-Vergleichsrechnung. Auf diese Weise wurde ermittelt, wo, wie und in welcher Reihenfolge das Bundesfernstraßennetz ausgebaut werden muß.
Nach der Verwirklichung des Bedarfsplans werden 85 % der Bevölkerung unseres Landes dort, wo sie dann wohnen werden, maximal 10 km bis zur nächsten Autobahn zurückzulegen haben.
Der Bedarfsplan selber trifft keine Aussagen über die Finanzierung. Wie er verwirklicht werden müßte, ergibt sich aus vielen feststehenden Sachverhalten, die er enthält. Wie schnell er tatsächlich verwirklicht wird, hängt von den Entscheidungen der dazu berufenen Organe ab. Wie die Finanzierung des Bedarfsplans sichergestellt wird, hängt vor allen Dingen von den Entscheidungen des Deutschen Bundestages ab. Der Bedarfsplan stellt die Grundlage für diese Entscheidungen dar. Insofern ist er ein Anhaltspunkt dafür, wie hoch die finanziellen Mittel bemessen sein müssen, um ihn zu verwirklichen.
Der gesamte Finanzbedarf für den Ausbau der Bundesfernstraßen beträgt auf der Grundlage des Baupreisstandes von 1968/69 rund 125 Milliarden DM. Für den gleichen Zeitraum erwarten wir aus der 50%igen Zweckbindung der Mineralölsteuer nach vorsichtiger Schätzung ein Aufkommen von mindestens 93 Milliarden DM. Hiervon stehen rund 72 Milliarden DM für Investitionen in neue Straßen zur Verfügung.
Stellt man im Ablauf der Jahre die genannten, auf das Jahr 1985 bezogenen Zahlen einander gegenüber, dann ergibt sich das Bild einer Schere, die sich in den nächsten 10 Jahren gewaltig weiter öffnen wird. Der Verkehr wächst bis zum Jahre 1980 mit großer Sicherheit auf einen Sättigungsgrad zu: Das sind 20 Millionen Personenkraftwagen. Die Bedrängnis auf unseren Straßen wird sich bei dieser Ausgangslage trotz Straßenbaues also noch erheblich verschärfen. Konkret gesprochen: Erst nach diesem Zeitraum, also ab 1995, wird sich diese Schere allmählich wieder schließen. Noch konkreter gesprochen: Erst auf das Jahr 1995 berechnet kann, wenn man von den jetzigen finanziellen Ansätzen ausgeht, der wachsende Straßenbedarf mit den derzeitig gesicherten Finanzmitteln als befriedigt angesehen werden.
Der schneller als der Straßenraum wachsende Verkehr läßt der jetzt lebenden und der nach uns kommenden Generation keine Hoffnung auf Besserung; denn vor uns liegen keine „sieben fetten Jahre". Vor uns liegen, wenn sich nichts ändert, mehr als 17, vielleicht 27 magere Jahre. Es gibt auch nirgendwo Kornkammern, die der Finanzminister im Verborgenen gefüllt hätte und aus denen wir für den Straßenbau zusätzliche Mittel nehmen könnten.
Ich weiß, meine Damen und Herren, wie schwierig dieses Thema ist. Ich will hier ohne jeden Anflug von Rhetorik und in aller Nüchternheit auf diese Zusammenhänge hinweisen, weil ich weiß, wie bedeutsam sie für unser Land und für unsere Zukunft sind. Ich weiß also, wie schwierig das Thema ist, aber ich halte es für falsch, vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren. Jeder Versuch einer Lösung setzt voraus, daß zuerst die ins Wanken geratene Stabilität wiedergewonnen wird.
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Das erste, was wir versuchen müssen, ist, einen Weg zu finden, die aus allen Fugen geratenen Baupreise wieder zu beruhigen und sie nach Möglichkeit zurückzuentwickeln.
Dazu gehören ausreichender Wettbewerb, Rationalisierung und das Sichhinwenden zu neuen Fertigungsmethoden auch im Verkehrsbau. Sie müssen uns davor bewahren, daß die vorhandenen öffentlichen Mittel von Preissteigerungen verzehrt werden oder daß zusätzliche Mittel nicht zur Finanzierung zusätzlicher Aufgaben, sondern nur zur Finanzierung gestiegener Preise bei einem geringeren Maß von Aufgaben verwendet werden müssen. Nur von einer solchen Basis der Stabilität aus lassen sich die weiteren Fragen klären.
Das, was dann zu beantworten ist, sind entscheidende Fragen, vor denen unser Volk steht. Unser Volk muß sich in aller Offenheit über den Weg klarwerden, den es in dieser Sache gehen will.
Ich sehe drei Möglichkeiten, für die man sich entscheiden kann.
Erstens. Wir können so weiterbauen wie bisher. Wenn wir das tun, müssen wie der Tatsache ins Auge sehen, daß wir die im Bedarfsplan ausgewiesenen Bauziele bis 1985 nur zum Teil erreichen. Der Verkehr wächst schneller, als wir bauen, und wir fahren uns auf unseren Fernstraßen dann genauso fest, wie wir heute in unseren Städten schon festgefahren sind. Ich kann hier nur ohne jede Übertreibung sagen: Wehe der Regierung, die dann regiert, wenn ein vollmotorisiertes Volk auf seinen Fernstraßen so festgefahren ist, wie wir heute in unseren Großstädten schon festgefahren sind!
Zweitens. Wir können versuchen, den Status quo zwischen Verkehr und Straßenraum, den wir heute haben, zu erhalten und schneller zu bauen als bisher, so schnell zu bauen, wie der Verkehr wächst. Wenn das geschieht, würde der Verkehr zwar nicht flüssiger, als er gegenwärtig ist, aber er würde auch nicht schlechter, als er gegenwärtig ist, und wir würden vor der Gefahr bewahrt, daß wir uns auf unseren Fernstraßen festfahren. Damit wäre viel gewonnen.
Um das zu erreichen, müßten mehr Mittel als bisher für den Straßenbau zur Verfügung gestellt werden. Das könnte dadurch erreicht werden, daß die 50%ige Zweckbindung der Mineralölsteuer für den Fernstraßenbau erhöht würde.
— Aber nicht getan!
— Sie haben „1961" gesagt! — Das würde bedeuten, daß auf anderen Gebieten Abstriche gemacht und daß neue Prioritäten im Bundeshaushalt gesetzt werden müßten. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich einen solchen Weg unter den überschaubaren Bedingungen nicht für gangbar halte. Hier geht es um sogenannte Prioritäten. Würde ich eine solche Priorität für den Straßenbau aus dem Bundeshaushalt heraus erwarten, käme ich mir vor wie der bekannte Joseph aus dem Alten Testament, den sein Vater besonders liebte, weshalb ihm dieser Vater ein besonders buntes Gewand kaufte. Seine Brüder haben ihn aber, weil sie vernachlässigt wurden, in eine Zisterne geworfen und später nach Ägypten verkauft. Den Weg möchte ich nicht antreten.
— Sie sind doch bibelkundig genug und wissen, wie das war!
Es gibt einen dritten Weg, meine Damen und Herren. Er besteht darin, daß wir den Mut aufbringen, offen miteinander zu reden, daß wir vor unser Volk treten, ihm die Lage und die Entwicklung darstellen und die Kraftfahrer fragen, ob sie bereit sind, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, wenn sie genügend Straßen und Autobahnen wollen. Ich habe hier heute keine Vorlage, die in eine solche Richtung zielt, einzubringen. Ich habe weder den Auftrag noch die Vollmacht, einen Vorschlag zu machen. Ich habe nur eine von drei möglichen Perspektiven aufzuzeigen. Ich habe aber das Recht — und davon mache ich als Mitglied dieses Hohen Hauses Gebrauch —, meine persönliche Meinung zu diesem Thema zu sagen.
— Ich sage es auch als Bundesminister, als Person, ohne Auftrag.
Wir brauchen Klarheit, und ich möchte die Diskussion über dieses Thema auslösen, damit wir Klarheit gewinnen. Deshalb sage ich, ich würde mich persönlich für den dritten Weg entscheiden, weil ich ihn für den solidesten und für den besten halte. Wir müssen alle miteinander darüber nachdenken, ob wir nicht ein wenig umdenken müssen.
Wir stehen in unserem Lande vor großen Entscheidungen, die für unsere Zukunft, für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und für den Lebensstandard der kommenden Generationen von hohem und höchstem Rang sind. Dazu zählt ganz bestimmt der Ausbau unserer Verkehrswege in einer in spätestens zehn Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit vollmotorisierten Gesellschaft in diesem Lande. Weil wir diese Entwicklung zuverlässig voraussehen können, müssen wir alle miteinander nachdenken, ob wir nicht umdenken müssen.
Wir müssen darüber nachdenken, ob wir unsere Ideale und unser Heil weiter in so hohem Maße im optimalen Konsum und im optimalen Wachstum des Verbrauchs von Konsumgegenständen sehen wol-
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len. Wir sind dabei, das Mehrkonsumieren als unser höchstes gesellschaftliches Seelenheil zu betrachten. Wir haben gar nicht gemerkt, daß wir in vielen Bereichen unter dem Einfluß von Milliarden, die jährlich für Werbung ausgegeben werden, längst die Bedarfsdeckungswirtschaft hinter uns gelassen haben und zur Bedarfsweckungswirtschaft übergegangen sind. Wir müssen darüber nachdenken, und zwar mit vollem Ernst, ob es nicht nötig und besser und richtiger wäre, vom jährlich wachsenden Sozialprodukt etwas mehr für öffentliche Investitionen, z. B. für ausreichende und gute Straßen, freizumachen, so viel frei zu machen, wie nötig ist, um einen freien, flüssigen und sicheren Verkehr zu erhalten.
Ich will es auf eine einfache Formel bringen, die vereinfacht und darum vielleicht nicht ganz so präzise ist, wie es wissenschaftlicher Gründlichkeit entsprechen würde. Nehmen wir an, die Entwicklung ginge so weiter und unser Sozialprodukt würde sich in jedem Jahr um 5 bis 6 % vermehren. Wenn das so wäre, könnten wir jedes Jahr um 5 bis 6 % mehr konsumieren, vom Nagellack an den Fingern der Damen im Lande über Fernsehapparate bis zu Ferienreisen. Wenn wir das wollen und wenn wir uns so verhalten, bleiben die großen Aufgaben ungelöst. Wir werden eines Tages der Reden über Reformen, die nicht erfolgen, alle miteinander überdrüssig werden. Wir müssen als Volk offen miteinander reden und uns fragen und fragen lassen, ob es nicht besser ist, jedes Jahr nur 3 bis 4 % für mehr Konsum — für mehr Nagellack und all die tausend Konsumgegenstände, die das Leben angenehmer machen — auszugeben und die 2 % des Sozialprodukts, die dann frei werden, dazu zu verwenden, die großen Aufgaben in Angriff zu nehmen und zu lösen, die uns den Weg in eine gute und gesicherte Zukunft frei machen.
Das wären beim gegenwärtigen Stand des Sozialprodukts etwa 13 Milliarden DM jährlich. Damit könnte man unser Land im Innern von der Bildung bis zum Verkehrsnetz zu einem der modernsten und der wettbewerbsfähigsten in der Welt machen.
Ich werfe diese Frage hier für den Teil der Aufgaben, die den Verkehr und seine Entwicklung angehen, auf. Ich habe das Vertrauen, daß die Mehrheit unserer Autofahrer sich so wie eine solide Familie verhalten wird, wenn wir sie fragen, ob sie bereit sind, darüber nachzudenken, ob es nicht nötig ist, daß wir miteinander für den Ausbau des Verkehrsnetzes das aufbringen, was notwendig ist, damit sie möglichst bald sicher und flüssig fahren können.
Ich werde in dieser Ansicht durch eine kürzlich in der Presse erwähnte Meinungsumfrage über die Bereitschaft der Autofahrer, mehr für den Treibstoff zu zahlen, bestärkt. Ich beziehe mich hier nur auf die Umfrage, die angestellt worden ist, und zitiere: Voraussetzung ist, daß das Mehraufkommen ausschließlich bis zur letzten Mark zur Verbesserung der Straßen- und Verkehrsverhältnisse verwendet
wird, daß es nicht zur Auffüllung der allgemeinen Finanzmasse gebraucht oder mißbraucht wird. Wie die Presse berichtet, ist das Ergebnis überraschend gewesen. 80 % eines repräsentativen Querschnitts der Autofahrer haben zu einem solchen Weg ja gesagt.
Ich weiß, daß es da eine Lesart gibt, die mit diesem Thema zusammenhängt, mit der ich mich auseinandersetzen muß, weil sie falsch ist. Es gibt Leute, die dem Kraftfahrer einreden, solange er über die Mineralölsteuer den allgemeinen Haushalt finanziere und seine Steuern zweckentfremdet verwandt würden, dürfe er sich nicht bitten lassen, mehr zu zahlen. Wer so argumentiert, kennt die Zahlen nicht oder verdreht die Tatsachen.
Richtig ist folgendes: Bund und Länder nahmen 1969 aus der Kraftfahrzeug- und der Mineralölsteuer, soweit sie vom Kraftverkehr getragen werden, 12,398 Milliarden DM ein. Die Gesamtausgaben für den Straßenbau, die Straßenunterhaltung und die Regelung des Verkehrs betrugen 1969 13,867 Milliarden DM. Die Ausgaben für den Fahrweg des Kraftfahrers lagen also 1969 um 1,5 Milliarden DM höher, als die Einnahmen bei allen öffentlichen Händen betrugen.
Es kommt ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Wer mit dem Auto nach Italien fährt, wird spätestens am Brenner beim Einkauf von Benzingutscheinen spüren, daß trotz Touristenermäßigung der Liter Benzin mit 66,9 Pf Mineralölsteuern belastet ist gegenüber 35 Pf bei uns. In Belgien ist die Belastung des Benzins 10 %, in Frankreich rund 20 % höher als bei uns. Luxemburg liegt leicht über, die Niederlande liegen leicht unter unserem Satz. Die niederländische Regierung hat allerdings zum 1. Januar 1971 eine Anhebung vorgeschlagen. Dies ist die Situation bei unseren Partnern in den Europäischen Gemeinschaften.
Auch dies rechtfertigt in meinen Augen die Frage an unser Volk und an unsere Autofahrer, ob es, wenn wir mehr Straßen brauchen und sie auf anderem Weg nicht gebaut bekommen, nicht richtig und besser ist, etwas mehr für die Straßeninfrastruktur und den Bau genügend guter Straßen zu zahlen.
Hinzu kommt etwas Weiteres: die Produktivität besserer Straßen. Wenn nicht genügend Straßen vorhanden sind — und es werden immer weniger vorhanden sein, wenn nichts geschieht —, wird viel Kraftstoff im Stehen oder im Schleichen in die Luft geblasen. Nicht fließend fahren können ist die teuerste Art zu fahren. Am fließenden Verkehr teilzunehmen ist die billigste Art zu fahren. Also ist der Aufwand für genügend Straßen mit fließendem Verkehr auch die Voraussetzung für die höchste Produktivität des Verkehrs.
Ich habe, meine Damen und Herren, hier die_ drei Möglichkeiten, die wir nutzen können, hypothetisch aufgezeigt, drei Wege, die wir für die künftige Lösung der Aufgaben zum Ausbau des Straßennetzes gehen können. Ich habe hinzugefügt: Ich bin für die Lösung Nr. 3.
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Damit keine Unklarheit entsteht: Ich halte es weder für richtig noch für möglich, eine solche Vermehrung der Mittel schon im Jahre 1971 vorzunehmen. Da wir in einem Trend von 15 Jahren denken, reicht auch ein etwas späterer Zeitpunkt noch aus.
Ich wäre dankbar, die Ansicht des Hohen Hauses zum Grundsatz erfahren zu können, d. h. zu diesen drei Wegen, die denkbar sind. Ich werde hier im Hause interessiert zuhören und auch interessiert beobachten, wie sich die deutsche öffentliche Meinung dazu verhält. Weil mich diese Aussprache über den Grundsatz interessiert, habe ich heute hier weder Größenordnungen noch Zahlen genannt. Je nachdem, wie das Ergebnis dieser Diskussion aussieht, werde ich der Bundesregierung meine Vorschläge für eine Vorlage an den Deutschen Bundestag unterbreiten. Ich weiß, meine Damen und Herren, dies ist eine ungewöhnliche, vielleicht auch eine unbequeme Art, zu prozedieren. Ich halte sie aber nicht für schlecht.
— Das enthebt mich keiner Entscheidung. Wenn Sie an der demokratischen Meinungsbildung beteiligt sein wollen — und das nehme ich doch an —, dann müssen Sie doch eigentlich dankbar sein, daß die Bundesregierung dieses Thema zur Debatte stellt und den Bundestag nicht mit einer Gesetzesvorlage, die in der Koalition abgestimmt ist, vor vollendete Tatsachen stellt.
Ich beziehe ja die Opposition in die Debatte ein. Jetzt können Sie Ihre Meinung sagen und kriegen Angst davor.
— Jetzt tue ich es aber, und jetzt kriegen Sie Angst vor Ihren eigenen Möglichkeiten.