Rede von
Prof. Dr.
Claus
Arndt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Es ist mir schlechterdings nicht vorstellbar, wie man dann, wenn wir die Richter nur in einem Spruchkörper zusammenfassen oder die Zahl der Richter gar vermindern, jedenfalls aber nicht erhöhen, zu einer größeren Zahl von Urteilen des Gerichtes kommen will.
— Herr Kollege Lenz, ich habe ja vorhin schon darauf hingewiesen, daß es einfach falsch ist, hier nur die Senatsentscheidungen zugrunde zu legen. Sie müssen die Entscheidungen insgesamt — es sind über 7000 in fünf Jahren — zugrunde legen. Des-
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wegen stimmt die Rechnung, die von fünf Urteilen im Jahr ausgeht, nicht. Die 7000 Entscheidungen müssen doch auch gefaßt und begründet werden. Es ist einfach nicht richtig, wenn man hier so tut, als ob nur die Senatsurteile solche wären, die Arbeit verursachten. Entscheidungen, die nicht Senatsentscheidungen sind, verursachen vielfach genau so viel Arbeit. Deswegen ist es einfach falsch und unfair, so zu tun, als spielten hier nur die Senatsentscheidungen eine Rolle. Das kann man einfach nicht so darstellen.
— Lieber Herr Kollege Lenz, wir dürfen uns doch gegenseitig noch sagen, daß wir etwas für unlogisch halten. Das ist doch kein ehrenrühriger Vorwurf. Auf die Professorenrichter komme ich später noch zu sprechen.
Schließlich habe ich für die Sozialdemokraten noch darauf hinzuweisen, daß wir uns insbesondere die Entscheidung nicht leichtgemacht haben, ob wir der Bundesregierung folgen sollten, als es darum ging, den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts neu zu bestimmen oder ihn so zu belassen, wie er heute ist. Bei uns gab es in dieser Hinsicht zwei große Akzentgruppen. Die einen stellten in den Vordergrund — ich bekenne, daß ich zu dieser Gruppe gehöre —, daß aus den Art. 1 Abs. 3 und 20 des Grundgesetzes folgt, daß alle Organe unserer Verfassung nur limitierte Kompetenzen haben, d. h., einmal ganz volkstümlich ausgedrückt, daß allen Verfassungsorganen — überhaupt aller staatlichen Gewalt — zu tun verboten ist, was ihnen nicht auf Grund einer Verfassungsnorm ausdrücklich erlaubt ist. Außerhalb des Rahmens dieser limitierten Kompetenzen haben Verfassungsorgane, Behörden überhaupt und staatliche Gewalt keinen Anspruch auf Wirksamkeit. Aus dieser Überlegung folgt, daß die gesetzgebenden Verfassungsorgane immer dann, wenn sie ultra vires, außerhalb des Rahmens ihrer Kompetenz, etwas beschlossen haben, was den Anspruch erhebt, Gesetz zu sein, d. h. was dem Bürger gegenüber den Anspruch erhebt, von ihm ein Tun oder Unterlassen zu verlangen und notfalls mit Gewalt zu erzwingen, nicht erwarten können, daß der Bürger, folgsam ist und sich im Sinne dieser Entscheidung verhält. Das bedeutet doch, daß die Nichtigkeitsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts feststellt: Von Anfang an hast du, Bundestag, du, Bundesregierung, du, gesetzgebendes Organ, hier außerhalb deines Kompetenzrahmens gehandelt, und deswegen braucht der Bürger es sich nicht gefallen zu lassen, hier außerhalb des von der Verfassung gesteckten Rahmens Folge leisten zu müssen. Niemand kann bestreiten, daß unsere Verfassung diesen Grundsatz enthält.
Aber auch die zweite Argumentationsgruppe in unseren Reihen hat ein sehr gewichtiges Argument vorgebracht, das niemand gering achten sollte. Sie hat nämlich darauf hingewiesen, daß, wenn etwa
nach 10 oder 20 Jahren Wirksamkeit ein Steuergesetz oder ein anderes wichtiges Gesetz für nichtig erklärt wird, nach dieser rein logischen Deduktion, die ich eben vorgetragen habe, alle jene Steuern, die in den letzten 20 Jahren auf Grund dieses Gesetzes erhoben worden sind, zu Unrecht erhoben worden sind und dem Bürger eigentlich zurückerstattet werden müßten. Dieses Beispiel zeigt bereits, daß die klare und eindeutige Durchsetzung dieses von mir vorhin erwähnten Verfassungsgrundsatzes sicherlich wieder jenes große Recht wäre, von dem schon das römische Recht gesagt hat, daß es summa iniuria sei. Deswegen muß auch ein immanenter Grundsatz der Verfassung zur Selbsterhaltung des Staates anerkannt werden. Das will ich nicht bestreiten.
Bei der Abwägung dieser beiden Grundsätze, die wir uns sicherlich nicht leicht gemacht haben — denn es geht hier um sehr schwierige, sehr schwerwiegende und sehr folgenreiche Fragen —, haben wir zunächst überlegt, ob wir den Kompromiß, den ich hier in der ersten Lesung angeboten habe, beschließen sollten, nämlich zwar den erstgenannten Grundsatz zu erhalten, indem wir sagen: Von Anfang an nichtig sind die Gesetze, die das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, aber die Geltendmachung der Nichtigkeit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hinauszuschieben.
Die Anhörung und unser Gespräch mit dem Bundesverfassungsgericht haben uns aber zu der Überzeugung gebracht, daß mindestens gegenwärtig die Zeit zur Lösung dieser Frage nicht reif ist und daß auch eine neue Lösung verstärkte, andere verfassungsrechtliche Bedenken mit sich bringen würde. Darüber hinaus hat uns das Bundesverfassungsgericht mit selten so überzeugenden Gründen deutlich gemacht, daß es noch immer, in allen Fällen, in denen diese Kontroverse zur Debatte stand, brauchbare und den Verfassungsgrundsätzen entsprechende Lösungen gefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht ist halt kein Amtsgericht, das schlicht einen Tatbestand unter eine Norm zu subsumieren hätte, sondern es ist ein oberstes Verfassungsorgan und hat einen besonderen Rang. Das ermöglicht es ihm, diese Lösungen zu finden, die es auch tatsächlich immer, sei es beim Umsatzsteuerstreit, sei es beim Höfe-Urteil, sei es bei anderen Entscheidungen, in gerechter Abwägung der einzelnen Verfassungsgrundsätze gefunden hat. Gerade weil wir erkennen mußten, daß das Verfassungsgericht hier eine vielfach weise Rechtsprechung entwickelt hat und durch die von der Bundesregierung vorgeschlagene Fassung andere, neue, ja, meist schwierigere Verfassungsprobleme entstehen würden, nicht zuletzt auch wegen der Wirkung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Berlin, haben wir uns nach diesem Ringen schließlich entschieden, keine Änderung im Sinne der Bundesregierung vorzunehmen und den gegenwärtigen § 79 insoweit unverändert zu lassen.
Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Kapitel ist die Frage des Status der Bundesverfassungsrichter und ihrer Wiederwahl. Die sozialdemokratische Fraktion sieht zwischen diesen beiden Din-
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gen einen sehr engen Zusammenhang. Sicherlich sind auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts nur Menschen. Doch wir teilen ,die Auffassung, daß sie sich bisher in der fast zwanzigjährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts als genügend unabhängig erwiesen haben, um den Verlokkungen des Menschseins bei ihrer Urteilsfindung zu widerstehen. Ich persönlich habe keinen Zweifel, daß sie das auch in Zukunft sein werden.
Aber wir kennen doch immerhin zwei konkrete Fälle, in denen auf der anderen Seite, nämlich bei den Wahlgremien für das Bundesverfassungsgericht, zur Wiederwahl bereite Richter sträflicherweise nicht wiedergewählt worden sind. Ich kann das ganz offen sagen, weil die sozialdemokratischen Wahlmänner hierfür in keinem der Fälle die Verantwortung getragen haben. Aber weil das so ist und weil mindestens von dieser Seite her die Gefahr besteht, daß die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigt wird, sehen wir sowohl einen Zusammenhang zwischen dem Sondervotum und ,der Wiederwahl als auch zwischen dem Status und der Wiederwahl. Wir haben uns deswegen hinsichtlich dieser Problematik dafür entschieden, daß eine Wiederwahl schlechterdings ausgeschlossen sein muß. Wir haben es sehr bedauert, daß uns unsere Freunde von der großen Oppositionsfraktion da nicht haben folgen können.
Schließlich Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika und Bundesverfassungsgericht. Ich meine, die beiden Rechtssysteme sind völlig unvergleichbar. Sie sind in der Tat inkommensurabel. Das gilt schon einmal für die Rechtsgrundlage. Der englisch-amerikanische Rechtskreis baut ja bekanntlich in ganz starkem Maße auf dem case law auf, d. h. auf der Rechtsprechung, die wiederum auf älterer Rechtsprechung, nicht aber auf kodifizierten Gesetzen basiert, wie das bei uns der Fall ist. Bereits die Rechtsgrundlage ist hier eine völlig andere.
Darüber hinaus ist der amerikanische Supreme Court mit unserem Bundesverfassunggericht auch aus gerichtsverfassungsmäßigen Gründen für mein Gefühl überhaupt nicht vergleichbar. Ich darf meine geringe Meinung dabei auch auf die Meinung von Juristen dieses Landes stützen, die sehr viel mehr Autorität genießen müssen, als ich sie je werde genießen können, etwa auch auf die Meinung prominenter Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Denn der Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein Revisionsgericht. Er ist also — wenn man überhaupt einen Vergleich ziehen will — seiner Art und seinem Wesen nach am ehesten unserem Bundesgerichtshof vergleichbar, nicht aber dem Bundesverfassungsgericht. Verfassungsfragen entscheidet der Supreme Court der Vereinigten Staaten nur inzidenter und nur mit Wirkung inter partes. Das ist überhaupt nicht mit unserer Verfassungsrechtsprechung vergleichbar, die Gesetzeskraft hat.
Im übrigen freue ich mich, daß Herr Kollege Dichgans hier nicht wiederholt hat, was er im Ausschuß getan hat, indem er nicht nur die Anzahl der Urteile, sondern auch die Zeilenzahl der Urteile des Supreme Courts und des Bundesverfassungsgerichts hat auszählen lassen, um hieraus Begründungen oder Wiederlegungen über die Bedeutung der einzelnen Entscheidungen der beiden Gerichte abzuleiten. Ich glaube, das ist keine geeignete Methode, um die Bedeutung zweier so hoher Gerichte ganz unterschiedlicher Rechtsordnungen gegeneinander abzuwägen.
Siebtens und letztens. Über die Frage der Besoldung und Einstufung der Bundesverfassungsrichter habe ich für den ganzen Ausschuß schon Wesentliches in meiner Berichterstattung gesagt. Aber ein Teil der Darstellung des Kollegen Dichgans, die er vorhin über die Vorgänge im Ausschuß gegeben hat, empfand ich als ausgesprochen unfair. Deswegen muß ich dazu noch einiges sagen. Es ist ja nicht so gewesen, daß uns plötzlich über Nacht eingefallen ist, unser Beschluß über die Beschäftigung von Bundesverfassungsrichtern als Professoren sei falsch, und daß wir deswegen unter Anwendung brutalen Fraktionszwanges — den ich als Obmann unserer Freunde ja herbeigeführt haben müßte; auch deswegen empfinde ich das nicht gerade als ein Kompliment, Herr Kollege Dichgans —, sondern es war ja ganz anders. Ich habe es vorhin schon angedeutet. Es hatte sich für uns eine neue Lage ergeben, es war ein selbstverständlicher Zusammenhang.
Der gegenwärtige Status der Bundesverfassungsrichter umfaßt wie bei allen anderen Richtern die Berechtigung, nebenher ein Lehramt an einer deutschen Hochschule auszuüben. Eine entscheidende Beschneidung dieses Status, d. h. daß wir den Bundesverfassungsrichtern als einzigen Richtern in Deutschland verbieten, zugleich auch ein Lehramt auszuüben, ist doch schlechterdings nicht denkbar, ohne daß wir daraus eine Folgerung hinsichtlich des Status ziehen. Die für uns, wie ich meine, sehr bescheidene, minimale Folgerung hinsichtlich des Status war die, daß wir sagten: Wenn wir ihnen schon das gleichzeitige Ausüben des Professorenamtes verbieten, müssen wir sie zumindest den höchsten Beamten gleichstellen.
Als wir mit dieser Auffassung, die in sich schlüssig war, nicht durchkamen, als wir den Gegenwind sowohl aus Ihrer Fraktion, Herr Kollege Dichgans — fragen Sie einmal Ihren Kollegen Berger, was er zu dieser Frage meint —, als auch aus den anderen Fraktionen spürten und sahen, daß wir in diesem Hause keine Mehrheit finden würden, konnten wir doch nicht gut sagen: Wir können die Verschlechterung des Status der Bundesverfassungsrichter in diesem Reformgesetz hinnehmen, ohne ihnen ein Äquivalent zu bieten. Das war der Grund dafür, daß wir uns beim zweitenmal anders entschieden haben, nicht weil hier irgendein imaginärer Fraktionszwang oder etwas Ähnliches geherrscht hätte, sondern einfach weil wir vor diese Entscheidungsalternative gestellt wurden und meinten, wir könnten die eine Hälfte des Beschlusses nicht mehr aufrechterhalten, wenn uns die andere Hälfte weggestoßen würde. Das war der Grund für unsere Entscheidung, und das sollte man hier nicht so verächtlich darstellen. Denn, meine Damen und Herren, wie oft haben wir uns und haben Sie sich in Diskussionen mit Besuchergruppen mit der doch völlig falschen Annahme auseinanderzusetzen, im deutschen Parlament herrsche
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so etwas Imaginäres wie Fraktionszwang. Wir sollten deswegen nichts tun, was diese Legende im Lande auch nur im geringsten stützt. Deswegen habe ich es außerordentlich bedauert, Herr Kollege Dichgans, daß Sie diesen Vorgang im Ausschuß in der Weise dargestellt haben.