Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Zum erstenmal tritt der Deutsche Bundestag am 17. Juni zu einer Arbeitssitzung zusammen. Er nimmt in dieser Arbeitssitzung den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation entgegen. Über die Notwendigkeit eines solchen Berichts besteht im Hohen Hause Einigkeit, und Einigkeit besteht auch darüber, daß kaum ein Tag dafür geeigneter ist als der 17. Juni, der Jahrestag des Aufstandes der deutschen Bevölkerung in Mitteldeutschland.Das liegt abseits von der Frage, ob dieser Tag den Charakter eines Feiertages behalten soll; denn für den Bundestag hat die Entgegennahme des Berichtes der Bundesregierung und die ihm heute nachmittag folgende Debatte durchaus den Charakter einer Arbeitssitzung, bei der wir freilich gute Gründe haben, die Ereignisse des 17. Juni 1953 im Gedächtnis zu behalten. In der politischen Entwicklung der letzten 16 Jahre erscheint der 17. Juni 1953 als Anfang einer Kette von Ereignissen, die sich bis zur jüngsten Vergangenheit erstreckten, bis zum Prager Frühling, dieser uns alle zutiefst erregenden gewaltlosen Erhebung einer ganzen Nation für die Sache der Freiheit.Welche Mahnung ergibt sich aus diesen Ereignissen für uns Deutsche, die in Freiheit und Wohlstand leben, nicht nur für unsere Landsleute, sondern auch für unsere Nachbarn in Osteuropa? Wir haben kein Recht, mutloser zu sein als sie. Wer an den 17. Juni 1953 denkt, muß es in einem großen Zusammenhange tun. In allen Fällen hat die Freiheit eine Niederlage erlitten, aber keine dieser Niederlagen bedeutet einen Sieg der kommunistischen Ideologie; sie zeigen nur die erdrückende militärische Überlegenheit der Sowjetunion und ihren Willen, ihre Macht entsprechend einzusetzen. Das ist gewiß eine Realität, die jeder in seine Rechnung einbeziehen muß.Aber sie ist nur eine Seite der Wirklichkeit, denn auch die mangelnde Kraft des kommunistischen Systems, Menschen zu formen, ist eine Realität. Sie war es keineswegs nur am 17. Juni 1953; sie ist es auch noch heute, 16 Jahre danach. Das bedeutet füruns etwas sehr Wesentliches: die Zeit arbeitet nicht gegen uns. Die Entwicklung in Ost- und Zentraleuropa und die deutsche Frage sind nach wie vor eng miteinander verbunden; denn ebenso unbezweifelbar wie die Realität der Sowjetmacht ist die Tatsache, daß die Nationen Ost- und Zentraleuropas sich ihrer inneren Zugehörigkeit zu Europa bewußt sind und auch wohl — so scheint mir — zu einem Europa, wie wir es lieben, was auch immer die Ideologen predigen mögen.Meine Damen und Herren, in diesem Jahre jährt sich aber auch zum 20. Male die Verabschiedung des Grundgesetzes, jährt sich zum 20. Male die Neubegründung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Die deutsche Öffentlichkeit hat diesen Tag mit gelassener Selbstverständlichkeit begangen, ohne Pathos, aber auch ohne ängstliche Beschwörungen. Aus Anlaß dieser 20. Wiederkehr des Tages der Verabschiedung unseres Grundgesetzes habe ich die noch lebenden ehemaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rates zu dieser Sitzung eingeladen.
Einige haben aus gesundheitlichen Gründen absagen müssen. Wir senden ihnen herzliche Grüße. Mit einem Gruß an Sie, die anwesenden ehemaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rates, verbinde ich aber auch den Dank für das Grundgesetz, das Sie schufen und das in seinen Grundprinzipien unverändert Leitlinie für unser Verhalten, für unser Handeln ist.
Es ist fast 20 Jahre her, daß auf der Grundlage des Grundgesetzes der erste frei gewählte Bundestag seine Arbeit begann. Ich meine, vor diesem Hohen Haus und vor der deutschen Öffentlichkeit die Pflicht zu haben, auf die politischen Leistungen der fünf Bundestage hinzuweisen und ebenso auf die dahinterstehende Arbeit der politischen Parteien, ihrer parlamentarischen Fraktionen, ihrer Mitgliederorganisationen.Uns ist es im Namen der Freiheit gelungen, das politische System unseres sozialen Rechtsstaates zu stabilisieren. Dafür sollten wir an diesem Tage dankbar sein. Ich glaube, daß ich die Gesinnung dieses Hohen Hauses richtig interpretiere, wenn ich in dieser Stunde Anlaß nehme, zu erklären, daß die in diesem Hause vertretenen Parteien entschlossen sind, diese Arbeit mit aller Energie fortzusetzen.
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13246 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Präsident von HasselWir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe auf den Punkt 1 der Tagesordnung:Bericht der Bundesregierung über die Lageder Nation im gespaltenen DeutschlandIch erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind übereingekommen, in diesem Jahr den Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland am 17. Juni zu erstatten. Wir haben außerdem beschlossen, an diesem Tag des 20jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland hier im Bundestag zu gedenken. Und ich meine, wir hätten für dieses Vorhaben keine bedeutendere Stätte und keinen besseren Zeitpunkt wählen können als dieses Haus und diesen Tag; denn bei aller Genugtuung über die Entwicklung des freien Teiles unseres Vaterlandes können wird die Trauer über die fortdauernde, uns aufgenötigte Spaltung unseres Landes nicht überwinden.Meine Damen und Herren, die Grundordnungen in beiden Teilen Deutschlands unterscheiden sich heute in ihren Strukturen und in ihren Zielsetzungen mehr denn je. Unser vor 20 Jahren entstandenes Grundgesetz hat einen freiheitlichen, demokratischen undsozialen Rechtsstaat errichtet. Es hat die Menschenwürde und die menschliche Freiheit zum höchsten Prinzip für jede staatliche Tätigkeit erhoben und in den Grundrechten verankert, deren Wesensgehalt auch vom Gesetzgeber nicht angetastet werden darf. In den Jahren der Geltung des Grundgesetzes ist bei uns eine lebendige gesellschaftliche und staatliche Ordnung herangewachsen, die jedem ein Leben in Freiheit und unserem Volk Wohlstand und soziale Gerechtigkeit gesichert hat. Dieses Grundgesetz und diese Ordnung werden wir verteidigen. Wer eine Totalrevision des Grundgesetzes fordert — wie dies gelegentlich Mode ist —, der müßte schon etwas Besseres anzubieten haben. Dieses Grundgesetz ist das beste und freiheitlichste Grundgesetz, die beste und freiheitlichste Verfassung, die dieses Volk jemals besaß.
Im Gegensatz zu diesem unserem Grundgesetz läßt die bisherige Entwicklung im anderen Teil Deutschlands, vor allem die neue Verfassung der „DDR" vom April 1968, für die Existenz eines freiheitlichen und sozialen Gemeinwesens keinen Raum. Die rechtliche und die gesellschaftliche Ordnung werden allein von den politischen Normen der kommunistischen Einheitspartei bestimmt. Die in den Händen der Partei konzentrierte Macht ist uneingeschränkt. Statt der Gewaltenteilung herrscht Gewaltenkonzentration. Die Grundrechte sind ausgehöhlt — sie tragen nur diesen Namen —, ihr Wesensgehalt bleibt ungeschützt, eine Reihe von Grundrechten fehlt völlig. Eine unabhängige Institution, die über die Einhaltung der Verfassung wacht, gibt es nicht.Die erzwungene Spaltung unseres Landes und unseres Volkes ist wahrhaftig bitter genug. Aber das Bitterste ist die Tatsache, daß unsere Landsleute drüben genötigt sind, in einer gesellschaftlichen undpolitischen Zwangsordnung leben zu müssen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich frei zu entscheiden.
Die von der Sowjetunion im Zusammenhang mit ihrer die ganze Welt erregenden gewaltsamen Intervention in der Tschechoslowakei verkündete Theorie besagt, daß ein Land, das dem kommunistischen Lager angehöre, niemals mehr das Recht habe, aus ihm auszuscheiden. Das bedeutet klipp und klar, daß nach dem Willen der Sowjetunion und der Machthaber im anderen Teil Deutschlands unsere von uns getrennten Landsleute wider ihren Willen für immer im kommunistischen Lager verbleiben müßten. Eine Wiedervereinigung Deutschlands ließe sich nach dieser Doktrin nur so verwirklichen, daß auch die Bundesrepublik in das sozialistische Lager einbezogen würde. Das ist in der Tat als Ziel in der neuen Verfassung ausdrücklich angekündigt. Ich meine, dies sollte auch jenen Beschwichtigern und Beschönigern bei uns zu denken geben, die einer Anerkennung der „DDR" das Wort reden.
Natürlich sind wir mit der Tatsache konfrontiert, daß drüben 17 Millionen Menschen von Machthabern regiert werden, die sie nicht frei gewählt haben, und Gesetzen gehorchen müssen, denen sie nicht frei zugestimmt haben. Aber diese 17 Millionen empfinden sich nicht als Staatsvolk, so wie es die Völker im europäischen Osten offensichtlich tun. Und eben darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen ihnen und den Völkern des sogenannten sozialistischen Lagers. Es fehlt also ihre Zustimmung nicht nur zum Regime und zu der ihnen aufgenötigten „Verfassung", sondern auch zur bloßen Existenz eines sogenannten zweiten deutschen Staates.
Eine Anerkennung durch uns oder durch andere könnte diese fehlende Bestätigung nicht ersetzen. Eine Anerkennung würde Unrecht als Recht bestätigen und gegen den allgemein anerkannten Grundsatz der Selbstbestimmung verstoßen. Dazu sind die 60 Millionen Deutsche im freien Teil unseres Vaterlandes, ihre gesetzgebenden Körperschaften und ihre Regierung nicht befugt. Eine Anerkennung würde im übrigen die Freiheit Berlins auf die Dauer auf das äußerste gefährden und zerstören. Denn das freie Berlin lebt von der Aussicht auf eine Wiedervereinigung unseres Volkes in Frieden und in Freiheit.
Wie wir zu einer Anerkennung der „DDR" durch andere Staaten stehen, hat die Bundesregierung durch ihre Erklärung vom 30. Mai 1969, die allen anderen Regierungen übermittelt worden ist, deutlich gemacht. Sie stellt darin fest:Die Bemühungen der Bundesregierung und ihrer Verbündeten für den Frieden in Europa und zur Überwindung der Spaltung Deutschlands werden erschwert durch unfreundliche Akte, die die Spaltung Deutschlands vertiefen. Eine von gegenseitigem Vertrauen getragene Freundschaft
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13247
Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesinger.und Zusammenarbeit ist daher nur mit denjenigen Ländern möglich, die sich in der Grundfrage der nationalen Einheit auf die Seite des deutschen Volkes stellen.Die nationale Einheit wird von der Ostberliner Regierung mißachtet; infolgedessen kann eine Unterstützung dieser Regierung nur als eine Handlung gewertet werden, die dem Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung zuwiderläuft. Die Bundesregierung muß daher die Anerkennung der DDR als unfreundlichen Akt betrachten.
Wir haben uns mit dieser Grundsatzerklärung in unserer Deutschlandpolitik nicht zu Gefangenen eines starren Automatismus gemacht. Wir handeln von Fall zu Fall, wie es die gegebenen Umstände und die Interessen des ganzen deutschen Volkes verlangen.Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes wurde bis heute von der großen Mehrheit der Staaten respektiert. Lassen Sie es mich einmal sagen: ich sehe darin einen großen Erfolg der deutschen Außenpolitik.
Außer den kommunistischen Staaten, die schon bisher dieses Recht durch Anerkennung verletzt haben, haben in den vergangenen Wochen — leider — die drei arabischen Staaten Irak, Sudan und Syrien und Kambodscha die „DDR" völkerrechtlich anerkannt.Im Falle der arabischen Staaten hat, wie Sie wissen, der Konflikt mit Israel und die diesem Lande feindselige Haltung der Machthaber der „DDR" die entscheidende Rolle gespielt. Wir unsererseits wünschen die Erhaltung der Freiheit des israelischen Staates.
Das wird uns nicht hindern, mit den arabischen Ländern normale, ja freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln, wenn sie selbst dazu bereit sind. Auch aus diesem Grunde wünschen und erhoffen wir eine rasche, friedliche und gerechte Lösung des gefährlichen Konflikts im Nahen Osten.Im Falle Kambodschas haben wir im Sinne unserer Grundsatzerklärung gehandelt, ohne die diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Dies hat nun die kambodschanische Regierung vollzogen, wahrscheinlich auf Grund von Überlegungen, die sich als sehr trügerisch erweisen können.Meine Damen und Herren, unsere eigenen Bemühungen, Kontakte zum anderen Teil Deutschlands zu pflegen, mögen manchen Ausländer zu der Frage veranlassen, warum wir anderen Staaten verwehren, was wir selbst anstreben. Aber unsere Kontakte zielen weder auf eine rechtliche noch auf eine faktische Anerkennung. Der Sinn dieser Kontakte ist, die Härte der Teilung für unser Volk zu mildern und die Einheit des deutschen Volkes über die Spaltung hinaus zu bewahren. Der Sinn der Anerkennung aber ist das genaue Gegenteil. Darüber lassen die Machthaber im anderen Teil Deutschlands keinen Zweifel. Die Anerkennung soll die Spaltung vertiefen.Die Bundesregierung hat auch in den zurückliegenden 15 ,Monaten — von Fall zu Fall im Zusammenwirken mit Bundestag und Bundesrat — das in der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 konzipierte und im Jahre 1967 erweiterte Programm zur Verbesserung und Neuordnung der innerdeutschen Beziehungen fortgesetzt. Sie hat am 21. April 1969 die Bestellung von Beauftragten sowie die Einrichtung paritätisch besetzter gesamtdeutscher Kommissionen zur Vorbereitung von Vereinbarungen als denkbar bezeichnet. Die Bundesregierung hat ferner erklärt, daß auch der Abschluß eines Vertrages zur Regelung der innerdeutschen Beziehungen für eine Übergangszeit nicht ausgeschlossen sei. Schon am 11. März 1968 habe ich die Bereitschaft der Bundesregierung, den Gewaltverzicht auch gegenüber dem anderen Teil Deutschlands vertraglich zu regeln, ausdrücklich zugesichert. Auf dem Gebiet des Interzonenhandels und des Postverkehrs sind einige begrenzte Fortschritte gemacht worden.Aber im ganzen genommen hat sich die Lage eher verschärft. Die innerdeutschen Beziehungen sind durch die Machthaber in Ostberlin mit einer Reihe von Schikanen im Berlin- und im Interzonenverkehr belastet worden, wie Sie wissen. Am 12. Juni 1968 wurde die Paß- und Visapflicht im Reise- und Transitverkehr eingeführt. Seit dem 1. Juli 1968 wird bei „Beförderungsleistungen westdeutscher und Westberliner Unternehmer auf Straßen und Wasserstraßen der DDR" eine Steuerausgleichsabgabe erhoben.Das ostdeutsche Regime bekämpft alles noch Gemeinsame in Deutschland, vor allem auch noch bestehende gesamtdeutsche Gesellschaften und Organisationen, insbesondere künstlerischer und wissenschaftlicher Art, die Mitglieder in beiden Teilen Deutschlands haben.Besonders schmerzlich ist, daß sich die ständige Behinderung nun auch auf die Organisation der evangelischen Kirche in Deutschland ausgewirkt hat. Die regionalen Synoden der evangelischen Kirchen im anderen Teil Deutschlands sind dabei, die Satzung eines „Bundes evangelischer Kirchen in der DDR" zu erarbeiten. Aber, meine Damen und Herren, wir teilen die Gewißheit der evangelischen Christen in unserem Lande, daß eine auferlegte organisatorische Trennung das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und den Geist der Einheit nicht zu zerstören vermag.
Meine Damen und Herren, überall, wo Menschen nicht in Freiheit leben können, bleibt ihnen keine andere Wahl, als bei aller Distanz zum herrschenden Regime Kompromisse zu schließen, um ein Mindestmaß an persönlicher und beruflicher Sicherheit zu finden. Das gilt auch für die junge Generation drüben, die nie eine andere politische Wirklichkeit gekannt hat. Über sie klagen die Machthaber drüben, sie komme den Forderungen der sozialistischen Gesellschaft nur da nach, wo ihr berufliches Weiterkommen auf dem Spiel stehe. Ein ver-
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13248 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerschärftes politisches Strafrecht, welches am 1. August 1968 in Kraft gesetzt wurde, zu einer Zeit also, in der wir unser politisches Strafrecht auf ein Mindestmaß reduzierten, soll jeden Widerstand abschrecken. Die warnenden Beispiele des 17. Juni 1953, des ungarischen Aufstandes 1956 und des 21. August 1968 in der Tschechoslowakei, das jahrzehntelange vergebliche Warten auf einen Wandel der Verhältnisse erzeugten eine weitverbreitete Gleichgültigkeit gegenüber der Politik, die man den kommunistischen Funktionären überläßt. Familie und Beruf sind diejenigen Bereiche des Lebens, in die sich die Menschen drüben zurückgezogen haben, weil sie dort am ehesten die Geborgenheit und die Kameradschaft finden, die das Leben erträglich machen. Das heißt aber, wie wir wissen, keineswegs, daß die Menschen durch die jahrelange geistige und politische Unfreiheit abgestumpft wären. Wir wissen, daß trotz ihrer realistischen Einschätzung der Gegebenheiten ihr Wille zur Freiheit und ihr Wunsch nach einer friedlichen Wiedervereinigung mit uns fortbesteht.
Das Ostberliner Regime bleibt ständig bemüht, den Status quo in Berlin zu seinen Gunsten zu verändern. Dieses Ringen um Berlin erreichte einen Höhepunkt, als der Versuch unternommen wurde, uns durch Drohungen und Erpressungen davon abzubringen, die Bundesversammlung in Berlin abzuhalten. Gemeinsam mit den drei westlichen Schutzmächten wehrten wir diesen Versuch ab. Am 5. März 1969 wurde Dr. Gustav Heinemann in Berlin zum neuen Bundespräsidenten gewählt. Er wird am 1. Juli Bundespräsident Dr. Heinrich Lübke ablösen, welcher nach Jahren hingebender Ausübung seines hohen Amtes für diesen Zeitpunkt seinen Rücktritt erklärt hat. Wir werden Gelegenheit haben, ihm unseren Dank bei seinem Ausscheiden zu sagen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Grundsatzerklärung vom 30. Mai sich noch einmal in feierlicher Weise zu der verpflichtenden Präambel des Grundgesetzes bekannt, die das ganze deutsche Volk auffordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Sie macht sich keine Illusionen darüber, wie schwierig es sein wird, dieses Ziel mit friedlichen Mitteln — und sie allein wollen wir einsetzen — zu erreichen, und welch lange Geduld und durchhaltende Energie dazu notwendig sein wird. Letzten Endes — das wissen wir alle — hängt das Gelingen dieser Einigung wesentlich von einer großen europäischen Verständigung, von der schrittweisen Anbahnung jener europäischen Friedensordnung ab, innerhalb derer auch die Spaltung Deutschlands überwunden werden kann.
Meine Damen und Herren! Die Notwendigkeit der ausharrenden Geduld stellt unser Volk vor eine harte Probe. Es ist leichter, in vorübergehenden kritischen Situationen zusammenzustehen, als langdauerndenZermürbungsprozessen Widerstand zu leisten und in der Unabsehbarkeit, ja der vermeintlichen Vergeblichkeit des Bemühens nicht abzustumpfen oder die Nerven zu verlieren. Wer die Lage richtig sieht, wird weder Illusionen nachjagen noch resignieren.
Er wird unbeirrt um Vertrauen und Unterstützung und Verständigung werben. Er wird sich, meine Damen und Herren, so meine ich, auch hüten, dieses unser großes nationales Problem und damit das Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes heillos zu zerreden und durch die Verwirrung, die er dadurch in unserem eigenen Volk und in der Welt schafft, vielleicht zu zerstören.
Die breiten Schichten unseres Volkes verstehen diese Situation und verhalten sich entsprechend. Auch die Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge haben diese ausharrende Geduld und den Wil-hen zu einer friedlichen Lösung in den vergangenen zwei Jahrzehnten bewiesen. Sie verdienen es wahrhaftig, von uns gegen leichtfertige und ungerechtfertigte Schmähungen nachdrücklich in Schutz genommen zu werden.
Meine Damen und Herren! Nichts, was sich seit dem letzten Bericht zur Lage der Nation ereignet hat, ändert etwas an der von der Bundesregierung eingeleiteten Außen- und Deutschlandpolitik. Darum bleibt es bei den Prinzipien dieser Politik: Offenheit, Verständigungsbereitschaft und Gewaltverzicht, ohne Preisgabe unseres guten Rechtes. Darum bleibt es bei unseren Angeboten an die Machthaber im anderen Teil Deutschlands, daß wir uns über Maßnahmen verständigen, die verhindern, daß die Spaltung vertieft wird, und die helfen, die Härte der Trennung für unser Volk zu mildern.Freilich hat der 21. August 1968 den Bemühungen um Verständigung und um Festigung des Friedens einen schweren Schlag versetzt. Daß die Machthaber im anderen Teil Deutschlands an dieser Intervention gegen die Tschechoslowakei teilgenommen haben, kennzeichnet ihre Gesinnung und ihre Politik.
In Art. 7 der neuen Verfassung von 1968 wird — wörtlich — die „enge Waffenbrüderschaft der nationalen Volksarmee mit den Armeen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten" verfassungsrechtlich verankert. Das ist der deutliche Beweis für die volle Abhängigkeit des Regimes von der Sowjetunion.Östliche Propaganda, meine Damen und Herren, hat uns vorgeworfen, wir hätten uns in die Entwicklung in der Tschechoslowakei eingemischt. Wir ha-bei diese Lüge sofort mit allem Nachdruck zurückgewiesen. Wir werden uns auch in Zukunft in die inneren Verhältnisse anderer Völker nicht einmischen. Die 17 Millionen drüben sind freilich kein anderes Volk. Aber wir bleiben bereit, unsere Beziehungen mit allen Völkern Osteuropas, die dies auch wünschen, ständig zu verbessern. Dies ent-
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Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerspricht, wie wir immer wieder feststellen, dem Willen der großen Mehrheit unseres Volkes.Es ist nach dem 21. August 1968 einleuchtender als je, daß unser Volk nicht bereit ist, das atlantische Bündnis, das in diesem Jahr 20 Jahre lang — auch 20 Jahre lang — besteht, in Frage zu stellen. Die Existenz dieses Bündnisses ist auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung, die wir wollen, kein Hindernis, sondern vielmehr eine unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen des ganzen schwierigen Unternehmens. Die NATO hat uns — die Nationen des freien Europa — davor bewahrt, uns einer sowjetrussischen Vorherrschaft beugen zu müssen oder zu einem bloßen Schutzgebiet der Vereinigten Staaten zu werden. Das Bündnis und unser Beitrag durch unsere Bundeswehr sichern uns unsere Freiheit und unsere kulturelle und wirtschaftliche Entfaltung.
Am 5. November 1968 wurde Richard Nixon zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Der neue Präsident hat kurz nach seinem Amtsantritt Europa besucht und seine Bündnispolitik erläutert. Er hat deutlich gemacht, daß auch nach seinem Willen die Vereinigten Staaten im Bündnis zwar führen, aber nicht herrschen sollen, daß also am Entscheidungsprozeß in der Allianz alle Partner teilnehmen sollen.Von Anfang an richtete das deutsche Volk, richteten die Väter des Grundgesetzes in der Bundesrepublik ihre Hoffnung nicht nur auf den Wiederaufbau der eigenen staatlichen Existenz und auf die Wiedergewinnung der deutschen Einheit. Das deutsche Volk wollte, wie es im Grundgesetz ausgedrückt ist, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden in der Welt dienen. Heute nach 20 Jahren einer in manchem erfolgreichen, in vielem enttäuschenden Entwicklung, ist, wie jede öffentliche Umfrage zeigt, dieser Wille unseres Volkes nicht schwächer geworden. Als lebenskräftiges Volk, als festgefügter Staat, begreifen wir uns als Teil einer werdenden europäischen Gemeinschaft, die aus der zusammengefaßten Kraft ihrer Mitglieder die eigene Stärke gewinnt. Unser Volk begreift: Nur ein vereinigtes Europa kann verhindern, daß andere über das Geschick seiner Völker bestimmen; nur ein vereinigtes Europa wird imstande sein, die Zukunft unserer Welt mitzugestalten.
Diese Erkenntnis drückte der deutschen Außenpolitik während der langen Kanzlerschaft Konrad Adenauers ihren Stempel auf. Die Bundesrepublik wurde Mitglied des Europarates, der Montanunion, der Westeuropäischen Union, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Atomgemeinschaft. Die Bundesregierung hat diese Politik fortgesetzt. Leider erwies sich der Streit um den Beitritt Großbritanniens als ein schweres Hindernis auf dem weiteren Weg zur Einigung. Die Bundesregierung ist unentwegt für eine Beteiligung Großbritanniens in Wort und Tat eingetreten. Wir haben es aber dabei nicht zugelassen, daß der Konflikt in der Fragedes Beitritts anderer die bestehende Gemeinschaft gefährdete oder -gar zerstörte. Wir haben trotz des Gegensatzes unserer Meinungen hinsichtlich der Erweiterung der Gemeinschaft Frankreich und Deutschland nicht auseinandertreiben lassen, im Interesse unserer beiden Länder und im Interesse der Zukunft Europas.
Am 27. April dieses Jahres ist General de Gaulle zurückgetreten. Dieser große französische Staatsmann hat sich seit vielen Jahren um eine enge Zusammenarbeit unserer beiden Völker bemüht. Dafür verdient er den Dank unseres Volkes.
Am vergangenen Sonntag ist Georges Pompidou zum neuen Präsidenten der Französischen Republik gewählt worden. Er hat während seiner Amtszeit als Ministerpräsident an der Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen führenden Anteil gehabt. Wir sind bereit, zusammen mit seiner Regierung diese für ganz Europa so wichtigen Beziehungen unserer beiden Völker auch in Zukunft im Geiste des deutsch-französischen Vertrages weiterzuentwickeln.
Meine Damen und Herren! Die Politik der europäischen Einigung tritt nun in ihr drittes Jahrzehnt. Es kann sein, daß noch in diesem Jahr die europäische Entwicklung wieder in Bewegung kommt. Die Bundesregierung wird auch im Wahljahr keine Gelegenheit versäumen, die ihr zukommende Verantwortung wahrzunehmen.Die westeuropäische Einigung wird sich nicht, wie manche meinen, als Behinderung einer größeren europäischen Verständigung erweisen, im Gegenteil, sie soll und wird sie erleichtern. Um dieses Ziel zu erreichen, sind wir bereit, an den Bemühungen um Entspannung, d. h. um die Beseitigung der bestehenden Konflikte, und um Abrüstung und Rüstungsbeschränkung teilzunehmen. Beides, Abrüstung und Rüstungsbeschränkung einerseits und Beseitigung der bestehenden Konflikte andererseits, steht in einem nicht zu übersehenden Zusammenhang. Nach der Meinung der Bundesregierung sollte am Anfang dieser Bemühungen die vertragliche Sicherung des Verzichts auf Gewalt stehen.
Ich erinnere an die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 26. September 1968, in der es heißt:Der Deutsche Bundestag tritt für internationale Vereinbarungen über gleichwertige Maßnahmen zur Rüstungskontrolle, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung ein. Die Bundesrepublik Deutschland hat gegenüber ihren Bündnispartnern auf die Herstellung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen verzichtet und sich entsprechenden internationalen Kontrollen unterworfen. Sie strebt keine nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen und keinen nationalen Besitz an solchen Waffen an.
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13250 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Bundeskanzler Dr. h. c. KiesingerWas den Atomsperrvertrag betrifft, so hat die Bundesregierung seit geraumer Zeit Maßstäbe für ihre Haltung aufgestellt. Im Laufe der Zeit konnten Verbesserungen erreicht werden, einige wesentliche Fragen sind aber noch zu klären.Meine Damen und Herren! Die Qualität unseres Grundgesetzes, das geistige, wirtschaftliche und politische Leben, das sich in seinem Rahmen frei entfaltet hat und weiter entfalten wird, wird auch für die Sache der deutschen Einheit von größter Bedeutung sein.Die Väter des Grundgesetzes haben sich für den Bundesstaat als diejenige Staatsform entschieden, die den Traditionen des deutschen Volkes am besten entspricht. Diese Entscheidung war richtig. Aber es ist nicht verwunderlich, daß die Erfahrungen von zwei Jahrzehnten auch eine zeit- und aufgabengerechte Weiterentwicklung des föderalistischen Systems verlangen. Die Verfassung darf eben an keinem Punkte erstarren, so daß aus Vernunft Unsinn und aus Wohltat Plage würde.Wir sind in dieser notwendigen Entwicklung in der Zeit dieser Regierung weit vorangekommen, weiter als bei allen bundesstaatlichen Reformversuchen der vergangenen Jahre insgesamt.Das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft und die Haushaltsrechtsreform haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und eine mittelfristige Finanzplanung bundesstaatlichmiteinander abzustimmen. Zwei wichtige neue Institutionen, der gesetzlich verankerte Konjunkturrat der öffentlichen Hand und der mit den Ländern vereinbarte Finanzplanungsrat, bereichern unser bundesstaatliches Instrumentarium entscheidend. Damit soll es uns gelingen, den auf die Dauer unerträglichen Zustand eines unabgestimmten Nebeneinander-, ja Gegeneinanderwirkens künftig zu vermeiden. Dazu — ich wiederhole es immer wieder — wird allerdings eine Übereinstimmung über die Rangfolge aller öffentlichen Aufgaben unerläßlich sein.
Das Finanzverfassungsgesetz — seit Jahren lebhaft diskutiert und umkämpft — wurde durch die verfassungsändernden Gesetze im Frühjahr dieses Jahres verabschiedet. Im engeren Sinne regelt diese Reform eine ausgewogenere Neuverteilung des Steueraufkommens in einem großen Steuerverbund, die Neugestaltung des Länderfinanzausgleichs, der Steuergesetzgebungskompetenz und der Steuerverwaltung. Sie schuf außerdem die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gemeindefinanzreform. Dieses Gesetz zur Reform, d. h. vor allem zur Verbesserung der Gemeindefinanzen wird, so hoffen wir, noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden.Meine Damen und Herren, der Arbeitstitel „Reform der Finanzverfassung" hat indessen für viele unserer Mitbürger das Verständnis dafür erschwert, daß es sich bei diesem Reformwerk in Wahrheit —und der Bundestag hat das Seine dazu getan; ichvermerke es mit großem Dank — um eine viel weitergreifende bundesstaatliche Entwicklung handelt.
In der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 hatte ich die Finanzverfassungsreform als eine der großen innenpolitischen Aufgaben bezeichnet. Ich hatte dabei aber auch auf die Notwendigkeit einer neuen, entwicklungsgerechten Verteilung der Aufgaben zwischen Bund und Ländern hingewiesen. Durch die verfassungsändernden Gesetze vom April und Mai dieses Jahres wurde ein bedeutendes Stück dieser bundesstaatlichen Reform verwirklicht. In den drei wichtigen Bereichen des Ausbaus und des Neubaus von wissenschaftlichen Hochschulen, der Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes und der regionalen Wirtschaftsstruktur werden Bund und Länder künftig zuammenwirken. Der Bund erhält die Kompetenz der Rahmengesetzgebung für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens. Für die nationale Bildungsplanung und die Förderung der wissenschaftlichen Forschung wurde das Institut der Verwaltungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern im Grundgesetz verankert. Das bedeutet, daß der Bund auf diesen Gebieten künftig nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Initiative hat, wenn er seiner Verantwortung gerecht werden will.
Meine Damen und Herren! Die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes bekennt sich zu diesem Grundgesetz und zu dem auf seinem Boden gewachsenen freien Gemeinwesen. Dies gilt in ganz besonderer Weise für die Älteren, die noch den ersten Weltkrieg oder doch die Weimarer Republik und die unseligen Jahre zwischen 1933 und 1945 erlebt haben. Sie sollten ihre Erfahrungen eindringlich der jüngeren Generation vermitteln, die jene Zeiten nicht mehr kennt. Bewahre uns das Geschick vor einer Entwicklung, die uns dann im Rückblick das, was wir jetzt haben, als ein verlorenes Paradies erscheinen lassen würde.
Meine Damen und Herren! Die Massenarbeitslosigkeit war der Fluch der Weimarer Republik und vielleicht die eigentliche Ursache ihres Untergangs. Verzweifelnde Menschen werden überall in der Welt zum politischen Radikalismus getrieben. Daher bedeutet eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung nicht nur die Garantie eines wünschenswerten Wohlstandes und der sozialen Sicherung aller Schichten. Sie ist zugleich eine unerläßliche Voraussetzung der gesellschaftlichen und politischen Stabilität. Darum war es so wichtig, daß wir all die Jahre hindurch den wirtschaftlichen Aufstieg erlebt und gefördert haben und daß wir auch den 1966/67 drohenden wirtschaftlichen Rückschlag, allen Schwarzsehern zum Trotz, überwunden haben, so gründlich überwunden haben, daß wir heute vor den ganz entgegengesetzten Problemen einer neuen Hochkonjunktur stehen.Am 1. Januar 1968 hatten wir noch 526 000 Arbeitslose und 259 000 offene Stellen. Im Mai 1969 gab es bei rund 1 300 000 Gastarbeitern 807 000
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13251
Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingeroffene Stellen, während die Zahl der Arbeitslosen auf 123 000 abgesunken war. Unser Bruttosozialprodukt stieg von 485,1 Milliarden DM im Jahre 1967 auf 528,8 Milliarden DM im Jahre 1968, also um 9%.Meine Damen und Herren, wir haben die durch die Spekulationen auf eine Änderung der internationalen Währungsparitäten hervorgerufenen Währungskrisen überwunden. Wir leben in einer Umwelt, in der man bisher dem Stabilitätsziel nicht den gleichen Rang einräumte wie hier bei uns. Bei der Abwägung der Argumente und der Risiken haben wir uns für eine Beibehaltung unseres Wechselkurses entschieden. Mit dieser Entscheidung wurde eine Basis für die weiteren Dispositionen der Wirtschaft geschaffen. Bei stabilen Wechselkursen kann freilich das internationale Gleichgewicht — das wissen wir — auf die Dauer nur durch eine bessere Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik gesichert werden.
Die Bundesregierung unterstützt deshalb, insbesondere im europäischen Bereich, alle Bemühungen, die auf eine internationale Abstimmung der kurz- und mittelfristigen Wirtschaftspolitik abzielen.
Meine Damen und Herren! Die gesellschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik hatte sich an dem Gebot des Grundgesetzes zu orientieren, welches die Bundesrepublik als einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat kennzeichnet. Dieser Begriff des Sozialen beschränkt sich nicht auf die Sorge für die in abhängiger Arbeit Tätigen, so wichtig dies im industriellen Zeitalter ist. Vielmehr verpflichtet das soziale Gebot den Gesetzgeber dazu, allen Gruppen und Schichten unseres Volkes den notwendigen sozialen Schutz zu gewähren. Es wäre allerdings ein schweres Mißverständnis des sozialen Rechtsstaates, wenn man in einem umfassenden System der Sicherung des Daseins dem einzelnen die Verantwortung für die Möglichkeit der freien Gestaltung seines eigenen Lebens abnehmen wollte. Dem Wertsystem des Grundgesetzes würde eine solche bevormundete egalitäre Massengesellschaft widersprechen.
Wo aber die Hilfe der Gesellschaft und des Staates notwendig ist, sei es, daß dem einzelnen die freie Gestaltung seines Lebens durch diese Hilfe erst ermöglicht wird, sei es, daß er sich wegen Krankheit und Alter oder aus anderen Gründen nicht aus eigener Kraft helfen kann, muß diese Hilfe wirkungsvoll eingesetzt werden.Der Wunsch nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit ist stark in unserem Lande. Wir haben vorbildliche Gesetze und Einrichtungen geschaffen. Sie legen uns Lasten auf; die Grenzen dieser Lasten liegen da, wo sie beginnen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu mindern.Das am 21. Januar 1969 vorgelegte Sozialbudget macht unsere vielfältigen Sozialleistungen über-schaubar und bietet damit eine wertvolle Hilfe für politische Entscheidungen in diesem Bereich.Meine Damen und Herren, wir leben in einer evolutionären Gesellschaft. Jede Berufsschicht hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert und wird sich weiter ändern. Alte Berufe verschwinden, neue entstehen. Der Arbeiter von heute ist nicht mehr, weder in seinen materiellen Lebensumständen noch in seinem Selbstverständnis, der Arbeiter des 19. Jahrhunderts.
Die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten haben sich verwischt. Dieser Erkenntnis tragen z. B. das Gesetz über die Gleichstellung der Arbeiter und Angestellten im Krankheitsfall und die bevorstehende Neuregelung des Kündigungsschutzes Rechnung.Bauern und Handwerker finden sich ebenfalls in einer gewandelten Welt technischer Entwicklungen, die nicht nur auf ihre materielle Lage, sondern auch auf ihr Berufsbild entscheidend verändernd gewirkt haben. Während im früheren berufsständischen Denken sich der einzelne oft gegen seinen Willen in seinen Berufsstand gebannt fand, mit nur geringen Möglichkeiten, in andere Berufe überzugehen, ist unsere Zeit durch eine berufliche Mobilität gekennzeichnet, der wir vor allem durch das Arbeitsförderungsgesetz und das Berufsbildungsgesetz Rechnung getragen haben.Es ist von symbolischer Bedeutung, daß die Nürnberger Anstalt in Zukunft nicht mehr den Namen „Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" tragen, sondern „Bundesanstalt für Arbeit" heißen wird.
Vielleicht darf man die Prognose wagen, daß in den kommenden Jahrzehnten zwar die Gefahr der Arbeitslosigkeit nicht völlig gebannt sein wird, daß wir aber wahrscheinlich zunehmend mit dem Problem des Arbeitskräftemangels zu tun haben werden.Diese staatliche Unterstützung der Mobilität hat einen doppelten Aspekt. Wirtschaftspolitisch soll dafür gesorgt werden, daß für die zukunftsträchtigen Wirtschaftszweige genügend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Sozialpolitisch soll dem einzelnen, der sich in seinem Beruf weiterentwickeln oder einen neuen Beruf ergreifen will, die notwendige Ausbildungshilfe gegeben werden.Meine Damen und Herren! Der wirtschaftliche Aufschwung hat auch die Voraussetzungen für die notwendige Verbesserung unserer Wirtschaftsstruktur geschaffen. Die Umstellungsschwierigkeiten an der Ruhr, die uns noch 1966/67 so große Sorgen bereitet haben, sind heute schon weitgehend gemeistert, und die Bevölkerung dieses industriellen Kernlandes im Herzen Europas kann .wieder mit Optimismus in die Zukunft schauen.
Das gleiche wird — so hoffen wir alle — bald auchfür die übrigen strukturell benachteiligten oder ge-
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13252 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerfährdeten Gebiete vom Zonenrandgebiet und Berlin bis zum Saarland gelten.Unser Agrarprogramm will dem Wandel im bäuerlichen Lebensbereich gerecht werden. Es erstrebt eine Entwicklung, in deren Rahmen durch regionalpolitische, bildungspolitische und sozialpolitische Maßnahmen ein Prozeß der Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse sichergestellt ist.Strukturpolitische Maßnahmen zur industriellen Entwicklung ländlicher Räume sind nach unserer Meinung ein geeignetes Mittel, um weichenden Bauern neue Berufsmöglichkeiten zu erschließen und den Verbleibenden, welche kein zureichendes Ein-. kommen aus ihren landwirtschaftlichen Betrieben gewinnen können, ein zusätzliches Einkommen zu verschaffen. Diese Entwicklung muß aber harmonisch verlaufen. Vorschläge, die auf eine drastische Reduzierung der Zahl unserer bäuerlichen Existenzen abzielen, lehnen wir ab.
Meine Damen und Herren! Ich habe in meinem letzten Bericht zur Lage der Nation ausführlich von der Notwendigkeit einer durchgreifenden Reform des Erziehungs- und Bildungswesens gesprochen. Ich will mich nicht wiederholen. Immerhin fordert die oft maßlos übertriebene Kritik an den bestehenden Zuständen die Feststellung, daß wir in diesem Lande wahrhaftig nicht in einer Bildungswüste leben.
In den vergangenen Jahren ist von den Ländern, vom Bund, vom Wissenschaftsrat, vom Bildungsrat, von der Westdeutschen Rektorenkonferenz, von der Max-Planck-Gesellschaft, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von anderen Institutionen auf dem Gebiet des Erziehungs-, Bildungs- und Forschungswesens eine bedeutende und erfolgreiche Arbeit geleistet worden. Bedenken wir doch, meine Damen und Herren, den nie dagewesenen Zustrom in die allgemeinbildenden Schulen, der eingesetzt hat. Die Zahl der Abiturienten verdoppelte sich zwischen den Jahren 1955 und 1967; und bis zum Jahre 1976 wird eine weitere Verdoppelung erwartet. Diese Bildungsexplosion beruht wesentlich auf der Erhöhung der Bildungschancen. Besonders eindrucksvoll hat sich der Anteil der Abiturienten innerhalb ihres Jahrgangs entwickelt: von 3,8% im Jahre 1955 auf 9,3% im Jahre 1967.Eine höhere Bildung ist heute nicht mehr das Privileg einer Minderheit. Der Anteil der Arbeiterkinder in den höheren Schulen hat erfreulich zugenommen. In Baden-Württemberg — ich habe keine Gesamtstatistik — waren zum Beispiel unter den Realschulanfängern zu Beginn des laufenden Schuljahrs 40 % Arbeiterkinder; in die Gymnasien kamen 18% aus Arbeiterfamilien.
Meine Damen und Herren, erfreulich ist, daß der Schulstreit früherer Jahre, der insbesondere dasVerhältnis von Staat und Kirche im Hinblick auf die Schule betraf, in einer Reihe von Ländern durch gegenseitige Verständigung beendet worden ist. Dieser alte Streit scheint glücklicherweise überall seinem Ende entgegenzugehen.
Einen wichtigen Teil der Reform unseres Bildungswesens im Sinne einer sozialen Bildungspolitik stellen auch das Arbeitsförderungsgesetz und das Berufsbildungsgesetz dar, die ich deswegen gerade in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich hervorheben möchte. Entsprechend meiner Ankündigung im letzten Bericht zur Lage der Nation habe ich einen Arbeitskreis zur Beratung des nationalen Bildungswesens berufen. In diesem Beraterkreis arbeiten Repräsentanten des Bundes, der Länder und der wissenschaftlichen Organisationen seit einem Jahr erfolgreich zusammen mit dem Ziel, daß die in dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich einzuleitenden Reformen beschleunigt und unter Berücksichtigung der bestehenden Zusammenhänge mit anderen Bereichen durchgeführt werden.Ich habe in meinem letzten Bericht gesagt, daß, wenn wir, der Bund oder die Länder, auf irgendeinem Gebiet versagen, die Geschichte niemandem von uns die Entschuldigung abnehmen wird, uns habe die Kompetenz gefehlt.Nun, inzwischen sind der Ausbau und der Neubau wissenschaftlicher Hochschulen als Gemeinschaftsaufgabe im Grundgesetz verankert worden, wobei die langfristigen Ziele von Bund und Ländern in partnerschaftlicher Verantwortung festgelegt und in Rahmenpläne gefaßt werden. Die Bundesregierung hat bereits in der mehrjährigen Finanzplanung Vorsorge zur Finanzierung dieser Gemeinschaftsaufgabe getroffen. Sie will ferner auf Grund des Art. 91 b des Grundgesetzes Vereinbarungen mit den Ländern über die nationale Bildungsplanung abschließen. Auf derselben Grundlage wird die Bundesregierung bei der Förderung überregionaler Forschungsvorhaben mitwirken. Und schließlich hat die Bundesregierung schon die Arbeiten für ein Rahmengesetz über die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens auf Grund der neuen Bundesrahmenkompetenz aufgenommen; denn die Verhältnisse an unseren Hochschulen erfordern dringend, daß bald einheitliche Grundsätze für den Zugang zu allen Hochschulen einschließlich der Fachhochschulen —, für die Studiengänge und für das Prüfungswesen abgestellt werden.
In fast allen Bundesländern, meine Damen und Herren, sind neue Hochschulgesetze und Hochschulsatzungen entworfen worden. Die Bundesregierung, die diese Initiativen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, ist zwar nicht der Auffassung, daß alle Strukturprobleme der Hochschulen einheitlich gelöst werden müssen; aber andererseits darf nicht durch ein unkoordiniertes Vorgehen jenes Mindestmaß an Einheitlichkeit verlorengehen, das für ein funktions-
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Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerfähiges Hochschulsystem in einem modernen Bundesstaat unerläßlich ist.
Meine Damen und Herren, die Reform des Hochschulwesens hat im vergangenen Jahr durch die Studentenunruhen erhöhte politische Bedeutung erhalten. Die revolutionären Minderheiten an unseren Universitäten haben, wie sie offen zugestehen, die von der Mehrzahl der Studenten gewünschten Reformen als Vorwand benutzt, um sich an die Spitze dieser Unruhen zu stellen. In Wahrheit und zugestandenermaßen wollen sie keine Hochschulreform, sondern die Zerstörung der Hochschule wie der Gesellschaft.
Mit ihnen ist nicht zu reden, sie sind nicht zu überzeugen. Man soll die Gefahr, die von ihnen ausgeht, nicht unterschätzen. Bei ihren Führern handelt es sich nicht um halbreife Jugendliche,
sondern um Leute, die in einem Alter stehen, in dem sie sehr wohl wissen, was sie tun, und in dem sie für das, was sie tun, voll verantwortlich sind.
Unsere Bevölkerung erwartet von uns, den Verantwortlichen in Bund und Ländern, daß diesen extremen Gruppen überall da entschieden entgegengetreten wird, wo sie durch ihre Ausschreitungen die Freiheit des Lehrens, Lernens und Forschens an zahlreichen Hochschulen der Bundesrepublik gewalttätig und rechtswidrig behindern.
Dagegen muß das Anliegen des zwar unruhigen und fordernden, aber nicht gewalttätigen Teiles der Studenten ernst genommen werden.
Diesen Studenten geht es um eine moderne Hochschulverfassung, um Bildungsgänge, die den Forderungen der modernen Welt angepaßt sind, und, über den Bereich der Hochschulen hinaus, um Möglichkeiten ihnen angemessen erscheinender staatsbürgerlicher Mitwirkung beider politischen Willensbildung. Nichts könnte uns lieber sein als ein derartiges Engagement, dessen eigentliches Ziel die Mitgestaltung einer freien Zukunft ist.
Erfreulicherweise verstärken sich in der Studentenschaft jene Kräfte, die sich gegen Gewalttätigkeit und Umsturz wenden, weil sie eingesehen haben, daß ihre Ziele denen der anarchischen Gruppen völlig entgegengesetzt sind.Ich habe an den Untergang der Weimarer Republik erinnert; nicht, weil ich der Überzeugung wäre, daß uns ähnliche Gefahren drohen. Dieser Staat ist festgefügt und genießt die Zustimmung der Bevölkerung. Wo aber immer Tendenzen erscheinen, die sich grundsätzlich gegen unsere freiheitliche gesellschaftliche und staatliche Ordnung richten, müssen wir schon den Anfängen wehren.
Die Weimarer Republik ist nicht nur an der Not der Massenarbeitslosigkeit, sondern auch an der geistigen und politischen Zerrissenheit des deutschen Volkes zugrunde gegangen.
Diese Zerrissenheit hat es verhindert, daß man damals einen gemeinsamen Weg aus der zerbrochenen Vergangenheit fand. Unduldsamkeit und Haß führten zu Bürgerkriegen, zu politischen Morden und zu einer zunehmenden Radikalisierung des politischen Leben.Wir hatten auch in der Bundesrepublik in den beiden vergangenen Jahrzehnten stürmische Auseinandersetzungen um äußerer oder innerer Entscheidungen willen. Aber diese Auseinandersetzungen haben uns den inneren Frieden nicht zerstört, weil wir uns den Blick für das allgemeine Wohl nicht trüben und den Respekt vor der Meinung des politischen Gegners nicht nehmen ließen.
Es hat auch in den beiden vergangenen Jahrzehnten Demonstrationen und öffentlichen Protest gegeben. Aber erst vor allem seit den Ostertagen des vergangenen Jahres trat die Gewalttätigkeit wieder offen und herausfordernd hervor. Es kann uns nicht trösten, daß in anderen Ländern Ähnliches oder Schlimmeres geschieht: wir müssen für Ordnung in unserem eigenen Haus sorgen.
Gelänge uns dies nicht, so besteht die Gefahr, daß die Gewalttaten der linksextremen Gruppen überhandnehmen und zugleich einen von diesen Gewalttätigkeiten aufgeschreckten Teil unserer Bevölkerung in den Rechtsextremismus treiben.
Jede Gesellschaft kennt extreme Ideen und Gruppen an der Peripherie, rechts wie links. In der Bundesrepublik sind solche extreme politische Gruppen kleiner als in den meisten anderen freien Staaten.
In unserem Rechtsstaat sollen sich auch diese radikalen Minderheiten ausdrücken können, wenn sie sich auf den Boden der Verfassung stellen und die bestehenden Gesetze achten. Diesen extremen Gruppen wird — so hoffen wir — unsere Bevölkerung in der täglichen Auseinandersetzung, aber zuletzt mit dem Stimmzettel, eine Absage erteilen.
Wo aber extreme Gruppen diese Grenze überschreiten, müssen sie wissen, daß mit den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Mitteln eingegriffen werden wird.
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13254 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Bundeskanzler Dr. h. c. KiesingerMeine Damen und Herren! Ein Bericht zur Lage der Nation soll nicht die Tätigkeit der Bundesregierung in der Berichtszeit darstellen. Dennoch läge es nahe, angesichts des bevorstehenden Abschlusses dieser Legislaturperiode einen umfassenden Rechenschaftsbericht über die Arbeit der Großen Koalition zu geben. Ich habe deswegen vieles nicht erwähnen können. Lassen Sie mich wenigstens sagen, daß ich auf das, was wir gemeinsam verwirklicht haben, mit Genugtuung blicke.
Wir haben nicht vier, sondern nur zweieinhalb Jahre gemeinsamer Arbeit hinter uns. Wir und andere sollten das nicht vergessen. In dieser Zeitspanne haben wir nicht nur das Regierungsprogramm — mit Ausnahme der Wahlrechtsreform — voll erfüllt, sondern darüber hinaus in der Außenwie in der Innenpolitik eine Fülle wichtiger Aufgaben begonnen und bewältigt.
Ich glaube noch drei Themen ansprechen zu sollen, die in einer Darstellung der Lage der Nation nicht fehlen dürfen.Ich würde es als ein Versäumnis betrachten, wenn ich nicht auf die große Bedeutung der vom Bundestag verabschiedeten Strafrechtsreform, im besonderen der Verabschiedung eines neuen Allgemeinen Teiles unseres Strafrechts hinwiese. Ich weiß nicht, wie viele Bürger unseres Volkes die Bedeutung eines solchen Werkes ermessen können. Der Bundestag hat damit ein ganz wesentliches Stück jener seit vielen Jahrzehnten in immer wieder neuen Anläufen unternommenen großen Reform des Strafrechts verwirklicht. Ich erinnere mich noch an die Klage, die ich bei der ersten Vorlesung an der Berliner Universität im Jahre 1926 aus dem Munde des verehrungswürdigen Geheimrats Kahl hörte, der daran verzweifelte, daß es je zu einer wirklichen Reform des Strafrechts kommen könnte.Es war eine weitere bedeutende und beeindrukkende Leistung der Großen Koalition — der Lärm vorher und die Stille nachher beweisen es —, daß das seit einem Jahrzehnt umstrittene Notstandsrecht eine gemeinsame Lösung fand, die auch in außerordentlichen Situationen den Schutz der Grundfreiheiten gewährleistet.
Schließlich haben wir uns in dem lange umstrittenen Problem der Verjährung von Mord und Völkermord auf eine Entscheidung geeinigt, die, wie ich meine, den Forderungen der Gerechtigkeit und des Gewissens entspricht.Meine Damen und Herren, zweieinhalb Jahre gemeinsamer Arbeit, ich wiederhole es, sind eine kurze Zeit. Aber auch die zwanzig Jahre dieser unserer Bundesrepublik Deutschland sind nur eine kurze Spanne in der langen Geschichte des deutschen Volkes. Dessen sollten wir in diesem und im anderen Teil Deutschlands auch in dem schweren Schicksal der Trennung eingedenk sein. Wir wollen auch nicht vergessen, daß wir bei allem berechtigten Stolz auf das Erreichte immer aufgefordert bleiben, zu bessernund zu vervollkommnen. Genugtuung über das, was gelang, darf uns nicht zur Selbstzufriedenheit werden.
Nicht blinde Mächte — lassen Sie uns davon überzeugt bleiben — bestimmen unser Geschick, sondern Vernunft und Ethos. Eine Zukunft für unser ganzes Volk menschenwürdig zu gestalten und brüderlich d em Frieden und dem Gedeihen der Welt zu dienen, bleibt, wie es die Väter des Grundgesetzes wollten, auch unser Wille.
Meine Damen und Herren! Ich danke dem Herrn Bundeskanzler für die Abgabe des Berichts der Bundesregierung zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland.
Wir haben im Ältestenrat vereinbart, daß die Aussprache über diesen Bericht heute nachmittag um 15 Uhr stattfindet. Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.Meine Damen und Herren! Ich habe zunächst einige amtliche Mitteilungen zu machen:Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sollen die folgenden Vorschläge zur Änderung und Ergänzung der Geschäftsordnung aus dem Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung — Drucksache V/4373 — dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Nr. 16 — das ist § 77 Abs. 1 der Geschäftsordnung —, Nr. 21 — § 88 a der Geschäftsordnung —, Nr. 22 — § 94 der Geschäftsordnung — und Nr. 23 — § 96 der Geschäftsordnung —. — Das Haus ist damit einverstanden. Die Überweisung ist beschlossen.In der 238. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Juni 1969 ist der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank — Drucksache V/4332 — dem Finanzausschuß — federführend — und dem Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen zur Mitberatung überwiesen worden. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die Überweisung dahingehend geändert werden, daß lediglich der Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen den Gesetzentwurf berät. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist so, Damit ist der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank dem Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen überwiesen.Schließlich habe ich mitzuteilen, daß im Ältestenrat folgende Vereinbarung erzielt wurde: Bis zum Beginn der Sommerpause wird die Fragestunde auf jeweils 14 bis 15 Uhr verlegt; sie findet also nicht
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13255
Vizepräsident Schoettlemehr zu Beginn jeder Sitzung statt, sondern in der Mittagszeit. Die Plenarsitzungen beginnen somit jeweils sofort mit den Sachberatungen.Wir kommen zu Punkt 2 a:Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen DeutschlandIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Scheel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Der Bericht über die Lage der Nation im geteilten Deutschland sollte uns, den Fraktionen des Deutschen Bundestages, die Pflicht auferlegen, zunächst einmal einige Gemeinsamkeiten zu erörtern und, wenn Sie mir das erlauben, einige Bekenntnisse abzulegen. Am Anfang das Bekenntnis zur Einheit, zur Einheit unserer Nation; ein Bekenntnis, dem sich in diesem Bundestage niemand widersetzen wird und das die Grundlage unseres Handelns seit 20 Jahren gewesen ist. Wenn auch die Aussichten der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands heute vielleicht ungünstiger sind als in den Jahren vorher, so wird dieses Bewußtsein, daß die beiden Teile Deutschlands eine Nation bilden, bei uns nicht verkümmern und nicht verkümmern dürfen.Die staatliche Teilung dieser Nation ist praktisch eine vollzogene Sache. Und wenn jetzt in diesen Tagen auch noch die Evangelische Kirche Deutschlands die formalen Arbeiten in der DDR vollzieht zur Trennung einer Kirche, die eine der letzten Institutionen gewesen ist, die in beiden Teilen Deutschlands eine Organisationsform hatte, dann muß man mit Bedauern die Verschlechterung der Situation feststellen. Es gibt nur noch wenige Erinnerungsposten, darunter den Interzonenhandel, den wir so wie den Handel in der Bundesrepublik abwickeln, so, als ob wir noch ein einheitliches Staatsgebilde wären. Aber das ist nahezu das einzige. Die Politik der DDR, meine Damen und Herren, hat diesen Weg gewollt und bewußt betrieben. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland hat dieses Ergebnis nicht verhindern können.Wenn wir den Bericht zur Lage der Nation jetzt, am 17. Juni, von der Bundesregierung bekommen haben und erörtern, ist das Anlaß zu einem zweiten Bekenntnis, nämlich zu dem Bekenntnis zur Freiheit, in dem sich die Fraktionen dieses Bundestages einig sind, zur Freiheit für die Deutschen hier und im anderen Teil Deutschlands, auch ein Bekenntnis zu einer Politik, die der Erhaltung und der Vermehrung der Freiheit der anderen in der Welt dient. 20 Jahre Grundgesetz sollen daran erinnern, daß wir in einem Rechtsstaat leben, in einem Rechtsstaat liberaler Prägung. Wir Freien Demokraten sind stolz darauf, daß dieses Grundgesetz, unsere Verfassung, liberalen Geist atmet und daß Mitglieder unserer Partei an seinem Zustandekommen in hervorragender Weise mitgewirkt haben. Wenn man heute über die Notwendigkeit der Änderung des Grundgesetzes spricht und wenn auch wir, die Freien Demokraten, Grundgesetzänderungen vorschlagen, dann tun wirdas nicht, um den liberalen Gehalt dieses Grundgesetzes anzustasten oder einzuschränken, sondern wir tun es, um im Sinne einer liberalen Ausgestaltung unserer Verfassung zu wirken, deren so langes Bestehen die Väter dieser Verfassung noch nicht einmal vermutet haben; denn sie hatten damals die Hoffnung, daß Deutschland viel schneller wieder beieinander sein würde, als wir jetzt bedauerlicherweise feststellen müssen.Und ein Drittes, meine Damen und Herren, sollte am Anfang unserer Erörterungen stehen: das Bekenntnis zum Frieden. Es ist die Grundlage der Politik der Bundesrepublik, es ist die Grundlage der Politik dieser Bundesregierung. Wie immer wir in der Opposition stehen mögen und welche Auseinandersetzungen wir mit der Bundesregierung haben mögen — nachher werden Sie sehen, welche wir haben —, die Bereitschaft und den Willen zum Frieden als Grundlage der Außenpolitik dieser Regierung erkennen wir an, und wir unterstützen die Bundesregierung darin.
In diesen Tagen ist in manchen Berichten aus dem Ausland und in Gesprächen mit führenden Politikern unserer westlichen Verbündeten davon gesprochen worden, daß die Bundesrepublik und die europäischen Länder insgesamt einen größeren Teil an Verantwortung für die Politik, auch für die weltpolitischen Fragen übernehmen müssen. Ich selber hatte darüber sowohl mit dem von dem Herrn Bundeskanzler hier einmal erwähnten amerikanischen Senator Javitts bei seinem Besuch hier und in Washington als auch mit dem amerikanischen Präsidenten Nixon ein Gespräch. Es hat mich außergewöhnlich zufriedengestellt, daß hinter dieser Erwartung, die Bundesrepublik solle mehr Verantwortung für weltpolitischen Fragen übernehmen, nicht etwa die so häufig vermutete Vorstellung steht, wir müßten mehr für das zahlen, was die Weltpolitik kostet. Das ist nicht der Fall, sondern dahinter steht in der Tat das Bewußtsein, daß ein Land wie die Bundesrepublik nach 25 Jahren Abstinenz von der Politik wieder in der Weltpolitik Verantwortung übernehmen muß, vor allem aber in der Europapolitik, die uns hier ganz besonders interessiert.Wenn ich „Europapolitik" sage, dann meine ich nicht „Westeuropapolitik", nicht die wünschenswerte Integration der westeuropäischen Länder, nicht die Erweiterung der EWG um Großbritannien — auch ein wünschenswertes Ziel der Politik —, sondern ich verstehe unter Europapolitik auch den Versuch der Schaffung der Kooperationsmöglichkeiten zwischen den beiden Teilen Europas. Denn wenn wir von der Lage unserer Nation sprechen, dann können wir das nicht tun, ohne daran zu erinnern, daß die beiden Teile Deutschlands nur über eine europäische Zusammenarbeit zueinander kommen können, die beide Teile Europas umfaßt, und nicht nur durch westeuropäische Politik.
Meine Damen und Herren, der Bericht des Bundeskanzlers klang für die, die ihn gehört haben,
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Scheelaußerordentlich beruhigend. Er war wohlgefällig: Es gebe kaum Probleme; in diesem Teil unserer Nation könnten wir zufrieden sein. Der Bundeskanzler hat nur sehr zurückhaltend durchblicken lassen, daß wir nicht nur mit uns zufrieden sein könnten, sondern daß_ wir sicherlich auch mit der Großen Koalition zufrieden sein könnten und selbstverständlich auch mit der CDU und nicht zuletzt mit dem Bundeskanzler.
Aber dies war wohl so dicht vor der Wahl eine entschuldbare — wie ich sagen möchte — redaktionelle Überarbeitung des Berichts.
Aber wenn man diesen Bericht einmal an dem mißt, was man von einem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland erwarten muß, dann gibt es einige Fragen, und es gibt einige Beanstandungen zu diesem Bericht. Ich will sie gar nicht auf der Basis von Erwartungen anbringen, die wir — meine Parteifreunde von der FDP — haben, die manche von Ihnen vielleicht zu hoch gespannt nennen könnten, sondern ich bringe sie auf der Basis eine Berichterstatters aus Ihren Reihen an, der während des Zusammenseins der Großen Koalition — übrigens in einer hervorragenden Rede — diesem Parlament gesagt hat, was ein solcher Bericht enthalten müßte, wenn er Sinn und Zweck haben soll, was er enthalten müßte, wenn er die Überschrift „Bericht über die Lage der Nation im geteilten Deutschland" verdienen soll.Hier fehlen ganz wesentliche Punkte. Dieser Bericht hat nicht das getan, was Herr Dr. Seume damals forderte. Er hat nicht die Kenntnisse bei uns über das Leben der Menschen im geteilten Deutschland zusammengefaßt — in beiden Teilen Deutschlands nämlich. Er enthält keine Ausführungen darüber, wie den Menschen im anderen Teil Deutschlands konkret wirtschaftlich, politisch und kulturell geholfen werden könnte. Er sagt nichts über die Vergleiche der Lebensumstände in den beiden Teilen Deutschlands — etwas, was wir wissen müssen! —, nichts über die Art der Altersversorgung drüben. Die hier kennen wir als Parlamentarier, aber man sollte sie immer wieder nennen; wie ich überhaupt der Meinung bin, daß wir in der übrigen Welt das Bild dieser Bundesrepublik nicht nur nach der Wirtschaftskraft ausrichten sollten, die wir haben, nach der Tüchtigkeit unserer Wirtschaftler, unserer Unternehmer und nach dem Einfallsreichtum unserer Wissenschaftler, sondern auch nach dem Wert unserer freiheitlichen, liberalen politischen Ordnung und dem Wert unserer Sozialstruktur. Unsere Sozialstruktur mit der anderen zu vergleichen, das wäre z. B. eine Aufgabe dieses Berichts gewesen. Fragen der Schule und der Ausbildung in ihrer fachlichen und auch in ihrer politischen Qualität sind in diesem Bericht nicht erwähnt worden. Dabei wäre ein Vergleich zwischen den beiden Teilen Deutschlands auf diesem Gebiet ganz besonders interessant gewesen. Denn in der Ausbildung gibt es sogar nach der Meinung anerkannter Fachleute bei uns diese und jene Einrichtung in der DDR, die wir sehr sorgfältig prüfen sollten, und zwar auch darauf hin, obwir nicht, was besser ist als bei uns, sogar übernehmen könnten.Wir vermissen auch Ausführungen über das Problem der politischen und wirtschaftlichen Integration der DDR in den Ostblock. Das ist ja eine Grundlage der Politik, wenn man den Versuch unternehmen will, die beiden Teile unserer Nation zusammenzuführen.Der Bundeskanzler sagt auch nichts über die die beiden Teile Deutschlands immer noch verbindenden Tatsachen, wenn auch diese Verbindungen vielleicht rein verwaltungstechnischer Art sind; aber es gibt auch wirtschaftliche, wissenschaftliche, karitative und immer noch kirchliche Einrichtungen, deren verbindende Bedeutung man hätte erwähnen müssen. Ich meine, der lapidare Satz : „Das ostdeutsche Regime bekämpft alles Gemeinsame in Deutschland" ist zu wenig Information über die DDR in diesem Bericht gewesen.Dafür aber hat der Bundeskanzler einen großen Raum der meiner Überzeugung, nach fruchtlosen Erörterung der Frage der Anerkennung und Nichtanerkennung der DDR gewidmet. Ich habe das Gefühl, als ob hier der Bundeskanzler den Versuch unternimmt, einen Popanz aufzubauen.
— Ich komme darauf zurück. — Je näher man dem Wahltermin kommt, um so undifferenzierter wird die Diktion über diesen sehr komplizierten Fragenbereich. Ich meine, daß früher selbst die Bundesregierung sich etwas differenzierter ausgedrückt hat, als Mitglieder der Bundesregierung selbst noch nicht etwa bestritten, daß die DDR Staatscharakter habe. Heute versucht der Bundeskanzler, durch eine neue Erläuterung diesen Staatscharakter in Zweifel zu ziehen, indem er feststellt, daß sich die Bevölkerung in der DDR nicht als Staatsvolk fühle. Ich stimme dieser Feststellung in vollem Umfang zu. Natürlich werden sich die Menschen in der DDR nicht als Staatsvolk fühlen. Aber das ist für das Verhältnis der DDR zum übrigen Ausland nicht besonders wichtig, sondern das ist von Wichtigkeit im Verhältnis der beiden Teile Deutschlands zueinander. Hier glaube ich, sind wir uns alle einig, und wir sollten das auch gar nicht wegzudiskutieren versuchen, daß für niemanden, soweit er an diesem Pult gesprochen hat, die DDR Ausland ist und wir für sie Ausland sein könnten, sondern zwischen den beiden Teilen Deutschlands, die Teile einer Nation sind, gibt es besondere Beziehungen, Beziehungen besonderer Art. Aber das kann nicht daran hindern, daß die DDR im Verhältnis zur übrigen Welt ihre Interessen völkerrechtlich mehr und mehr selbst vertritt und daß mehr und mehr eine solche Interessenvertretung akzeptiert wird, ob wir das wünschen oder nicht.Hier hilft eben der Begriff „Staatsvolk", ja oder nein, nicht. Denn der Herr Bundeskanzler weiß so gut wie ich, daß bei der Definition des Begriffs „Staat" im diplomatischen Verkehr untereinander in der Welt der Begriff „Staatsvolk" nicht weiter-
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Scheelhilft. Sonst würden wir nämlich mit den meisten Staaten Afrikas z. B. keine diplomatischen Beziehungen unterhalten können, weil es dort nahezu keinen unter den neuen Staaten gibt, dessen Bevölkerung sich als Staatsvolk versteht. Davon kann keine Rede sein. Dennoch werden sie international anerkannt. Das ist eben die nüchterne Wirklichkeit, mit der wir es hier zu tun haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten schon aus diesem Grunde die fruchtlose Diskussion über Anerkennung oder Nichtanerkennung wenigstens in dieser Form nicht weiterführen.
— In der Form, in der sie der Herr Bundeskanzler hier eben eröffnet hat und in der Sie, meine Damen und Herren — —
— Herr Dr. Gradl, ich kann nur annehmen, daß Sie heute vormittag nicht hier gewesen sind.
— So! Ich habe auf das zu antworten, Herr Dr. Gradl, was heute vormittag gesagt worden ist,
und Sie werden mir sicherlich erlauben, daß ich das, was der Bundeskanzler sagt, sehr kritisch untersuche. Denn auch wenn ich es nicht wollte: es wäre meine demokratische Pflicht als Oppositionsangehöriger, das zu tun, und ich erfülle diese demokratische Pflicht.
Ich will also noch einmal wiederholen, meine Damen und Herren: Wir sollten diese Frage nicht in dieser Form weiter diskutieren, sondern eher in einer nützlicheren, auf die Praxis bezogenen Form, damit wir Lösungsmöglichkeiten in der einen oder anderen außenpolitischen Kamalität finden.Die Bevölkerung in der DDR — das ist ganz sicher — hat keine Zeit und keine Energie, sich mit solch unsinnigen Dingen wie bloßen Gesprächen über die Frage: Anerkennung, ja oder nein, zu befassen. Sie spürt die Existenz der kommunistischen Staatsgewalt zu deutlich selbst, als daß sie darüber, wie soll ich sagen, so reflektieren könnte, wie es der Kanzler heute morgen getan hat. Die Bevölkerung in der DDR — darüber müssen wir uns hier doch klar sein, und wir sind uns darüber klar — braucht ihre Kraft, und zwar ihre ganze Kraft, um sich einen Rest von privatem Glück zu erhalten in einem totalitären Staat, in dem es schwer ist, sich privates Glück zu erhalten.
Meine Damen und Herren, ich will nichts anderes damit, als Ihnen noch einmal — ich tue das jetzt zum zweiten Male — vorschlagen, daß wir uns doch darüber einigen sollten, diese so schwierige Problematik etwas differenzierter zu diskutieren, auch wenn einen Wahlzeiten nicht gerade dazu verleiten mögen.
— Herr Dr. Gradl, wir diskutieren das ja so differenziert. Deswegen bitte ich darum, daß Sie es vielleicht mit uns tun,
damit wir nicht falsche Eindrücke von Ihren wirklichen Absichten bekommen und Sie nicht falsche Eindrücke von unseren wirklichen Absichten verbreiten.
Ich will jetzt nicht weiter in diese Diskussion eintreten, sondern nur noch einmal erwähnen, daß wir die Vorschläge, die die Freie Demokratische Partei über das Verhältnis der beiden Teile Deutschlands zueinander gemacht hat
— gemacht hat! —, nämlich den Versuch zu unternehmen, daß Verhältnis der beiden Teile Deutschlands zueinander für eine Übergangszeit vertraglich zu regeln, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, zu dem internationale Verhandlungen es ermöglichen, wieder beieiannder zu sein — unter welcher staatsrechtlichen Dachkonstruktion auch immer alsVorschläge für eine Übergangszeit verstehen, die dem Frieden in Europa dienen und eine Voraussetzung schaffen sollen, in Europa politische Entscheidungen herbeizuführen, die dem Näherrücken der beiden Teile Deutschlands dienlich sein können.Meine Damen und Herren, halten Sie mich doch nicht für einen Illusionisten, der etwa der Meinung wäre — —
.
— Ich muß wirklich einmal in den Raum sehen, um festzustellen, ob das jemand ernst gemeint hat; aber ich sehe, daß das nicht der Fall ist.Halten Sie mich nicht für einen Illusionisten, der der Meinung wäre, daß, wenn ein solcher Vorschlag gemacht wird, die Regierung der DDR, Herr Ulbricht etwa, nunmehr mit Begeisterung die Kooperation mit der Bundesrepublik aufnimmt und gleich um einen Termin ersucht, um solche Kooperationsgespräche zu beginnen. Davon kann doch keine Rede sein! Niemand von uns hat das je behauptet. Dies ist ein sehr schweres Geschäft. Aber ich meine, wenn wir in diesem Geschäft von Geduld und Beharrlichkeit sprechen — und ich nehme das Wort von der Geduld und Beharrlichkeit, das der Herr Bundeskanzler in regelmäßigen Abständen zur Grundlage seines Verhaltens macht oder zu machen verspricht, auf, weil ich es für richtig halte —, sollten wir uns nicht nur auf die Geduld und Beharrlichkeit im Abwarten beschränken, sondern auch im Handeln geduldig und beharrlich sein,
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Scheelauch geduldig und beharrlich in Initiativen, mag das auch noch so lästig sein, mag das auch noch so beschwerlich sein. Darum geht es uns, um nichts anderes.Meine Damen und Herren, wohin unsere Politik in diesem Bereich führt, ist in dem Bericht von heute morgen allerdings nur sehr unterkühlt sichtbar geworden, nämlich an der Stelle, als der Bundeskanzler von Kambodscha, von Syrien, vom Irak und von unserem Verhältnis zu den arabischen Staaten und den Bemühungen, die wir hier gemacht haben, gesprochen hat. Allerspätestens bei der Betrachtung darüber, wie sich unser Verhältnis zu Kambodscha entwickelt hat, müssen wir doch auf den Gedanken kommen, daß wir unsere Verhaltensweise ändern müssen, wenn wir vermeiden wollen, daß wir sie am Ende unter ungünstigeren Bedingungen, als wir sie jetzt noch vorfinden, ändern müssen.
Was ist in Kambodscha geschehen? Meine Damen und Herren, weil wir auch in diesem Fall die unsere außenpolitische Handlungsfreiheit bindende und einschränkende Formel, die man fälschlicherweise Hallstein-Doktrin nennt — sie stammt ja nicht von Herrn Hallstein, sondern von einem seiner Mitarbeiter —, angewandt haben, wenn auch verbal modifiziert, hat sich als eindeutiges Ergebnis gezeigt: Unsere diplomatischen Beziehungen mit diesem Lande, das vielleicht für unsere Politik gar nicht das wichtigste ist, sind unterbrochen. Ich frage mich, unter welchen Umständen sie wiederaufgenommen werden sollen.Aber es ist ja nicht dieses Land allein, sondern es ist der Irak, es ist Syrien, es ist der Sudan. Man mag sich dabei beruhigen, daß dies Länder sind, mit denen wir zufällig im Augenblick keine diplomatischen Beziehungen haben. Aber diese Ruhe ist doch wohl fehl am Platze; denn Sie wissen genauso gut wie ich, daß wir uns seit Monaten und Jahren die größte Mühe gegeben haben, diese von d e r Seite her unterbrochenen diplomatischen Beziehungen wiederaufzunehmen. Wir haben uns Mühe gegeben, die uns politische Energie gekostet hat und die uns materiell etwas gekostet hat; das wissen Sie genauso gut wie ich. Das heißt also: Wenn nunmehr diese Länder diplomatische Beziehungen zur DDR aufgenommen haben und wir die gleichen Regeln anwenden, dann zählen Sie sie ruhig mit zu den Ländern, zu denen wir keine diplomatischen Beziehungen mehr haben und bei denen man einen Weg suchen muß, wie man sie am Ende wiederaufnimmt.Es ist für uns nicht gerade eine Beruhigung, daß Kambodscha wenige Tage, nachdem es unsere Verhaltensweise in diesem Fall mit dem endgültigen Abbruch der Beziehungen beantwortet hat, seinerseits die diplomatischen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten wiederaufzunehmen angekündigt hat. Ich weiß nicht, wie die Vereinigten Staaten darauf reagieren werden. Ich könnte mir vorstellen, daß die Vereinigten Staaten wegen der Bedeutung, die Kambodscha für die Vereinigten Staaten hat, dieses Angebot akzeptieren. Die Vereinigten Staaten betreiben eine Politik in der Welt, die es nicht aus-schließt, daß man mit dieser oder jener Macht vorübergehend keine Beziehungen hat. Ich glaube, das sollten wir auch bei uns nicht ausschließen; das kann einmal vorkommen und muß den individuellen Umständen überlassen bleiben. Das kann im Einzelfall einmal vorkommen. Aber Formeln zu verteidigen, die den Abbruch diplomatischer Beziehungen in größerem Umfang geradezu als sicher erscheinen lassen — meine Damen und Herren, das ist doch töricht! Daran geht doch kein Weg vorbei.
Ich nehme nicht an, daß die Hallstein-Doktrin noch ergänzt werden soll durch eine neue außenpolitische Formel des Bundespressechefs, der nach Presseberichten, die ich nicht widersprochen gesehen habe, erklärt hat, daß man von dem „Wahn der Allgegenwärtigkeit der Bundesrepublik" nun endlich einmal ablassen müsse. Das wäre nunmehr die außenpolitische Formel des Rückzuges aus der Weltpolitik, zumindest des diplomatischen Rückzugs, vielleicht nicht des politischen.
Gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Majonica?
Bitte sehr.
Herr Kollege Scheel, sind Sie sich darüber im klaren, daß die Ausführungen, die Sie jetzt machen, geradezu eine Einladung an die Staaten der dritten Welt darstellen, das Ulbricht-Regime anzuerkennen?
Herr Majonica, ich schätze den Wert der Opposition in einem Parlament schon ganz hoch ein, aber ich überschätze ihn nicht,
auch nicht in dieser Frage.
Meine Damen und Herren, es mag Ihnen aber auch noch gesagt sein, daß Sie ja hier die Beweislast verkehren. Die Ursache für das, was ich hier beklage, nämlich die Minderung unserer außenpolitischen Möglichkeiten, liegt ja nicht in der Kritik an der falschen Politik der Regierung, sondern an der falschen Politik selbst.
Es wäre in der Tat die Perversion jeder Politik, wenn man es am Ende dazu kommen lassen würde, daß an manchen Plätzen, vielleicht sogar an vielen Plätzen unserer Welt, die Bundesrepublik nicht mehr vertreten wäre, dafür aber Herr Ulbricht allein an diesen Plätzen vertreten wäre.
Dann würde das bedeuten, daß wir den Alleinvertretungsanspruch verfechten und die Alleinvertre-
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Scheeltung an manchen Plätzen durch Ulbricht vorgenommen wird.
Die Freie Demokratische Partei gibt der Bundesregierung, von der sie weiß, daß in diesem Punkte in ihren Reihen eine differenzierte Auffassung vorhanden ist, also keine einheitliche, den Rat, den wir schon einmal gegeben haben: Man soll auch die verbal modifizierte Doktrin, die den Namen Hall-steins führt, nicht mehr anwenden und die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik in der Welt nach dem Interesse der deutschen Nation ausrichten. Das ist ein legitimes Interesse, daß man seine nationalen Fragen in der Außenpolitik vertritt. Mit unserer augenblicklichen Formel werden die Interessen der Nation nicht so vertreten, wie wir sie vertreten sehen möchten.Die Gefahr, daß aus der Isolierung der DDR in der Welt, die wir jahrzehntelang unterstützt haben — so will ich einmal sagen —, am Ende eine Teilisolierung der Bundesrepublik werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Bedenken Sie doch: Schon jetzt — lassen Sie es mich ruhig einmal hart sagen — ist kein mehr oder weniger von Moskau abhängiger Staat in der Lage, an der DDR vorbei mit der Bundesrepublik Politik zu treiben. Das geht nicht. Und die dritte Welt wird ihre Position immer überprüfen, selbstverständlich schon aus Eigeninteresse, denn die Aussicht auf materielle Hilfe von zwei wichtigen Industrienationen ist für diese Leute natürlich interessanter als die Gewißheit, nur mit einer Verbindung haben zu können. Das müssen wir als reale Tatsache in der Welt betrachten und unsere Politik darauf einrichten.Unsere westlichen Verbündeten stehen zu unserer Politik, weil wir mit ihnen in einem funktionsfähigen Bündnis sind und auf Grund mehrerer Verträge gemeinsam mit ihnen Politik entwickeln. Sie stehen zu unserer Politik. Man darf aber nicht vergessen, daß auch sie in Europa Interessen weltpolitischer Art haben, man darf nicht vergessen, daß auch die Vereinigten Staaten, wenn sie die Bürde des Vietnam-Krieges einmal abstreifen können, ihre Interessen verstärkt auf den Dialog mit der Sowjetunion richten werden. Sie haben die Absicht, Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffensysteme zu führen, eine Absicht, die man nur unterstützen kann. Das bedingt, daß in solchen Gesprächen auch andere weltpolitische Fragen und ungeklärte Fragen eine Rolle spielen, zumindest eine Rolle spielen können.Ich meine, die Bundesregierung sollte bedenken, daß jetzt die Zeit wäre, unsere europäischen Probleme mit unseren Verbündeten gemeinsam weiterzutreiben. Ich meine nicht nur die westeuropäischen, sondern auch die Probleme, die wir wegen des zweiten Teiles unserer Nation zu verfolgen haben. Darüber, meine Damen und Herren, sagt der Bericht nichts. Er sagt nichts über die Möglichkeiten einer Sicherheitskonferenz über Europa, er sagt nichts über Angebote Polens, über Fragen zu sprechen, die Polen und das ganze Deutschland angehen, nicht Polen und die Bundesrepublik. Darüber sagt derBericht nichts. Darüber hätten wir aber gerne etwas gehört, denn das ist für die Zukunft der Nation auf jeden Fall von entscheidender Bedeutung.
Wir, die Freien Demokraten, schlagen weiß Gott nicht vor, irgendwelchen Vorschlägen aus Osteuropa oder der Sowjetunion bedingungslos zu folgen, weil wir wissen, daß diese Vorschläge, die uns gemacht werden, natürlich aus eigenem Interesse entstanden sind und nicht dem Interesse der deutschen Nation zu dienen brauchen oder dienen. Aber wir sollten sie als Ansatzpunkte benutzen, unsere Interessen zu definieren und zu formulieren. Genau das ist auch das, was die Welt von uns heute mehr und mehr erwartet. Sie wird uns in der Deutschlandfrage nicht mehr mit Vorschlägen dienen, sondern das erwartet sie von den Deutschen selber; und ich meine, zu Recht.
Die Bundesregierung — das geht aus dem Bericht hervor — verfolgt nicht die Illusion, daß die Wiedervereinigung Deutschlands in dieser Zeit in einem Nationalstaat möglich wäre, sondern sie verfolgt und unterstützt eine europäische Lösung. Wir sind ganz dieser Meinung. Aber ich möchte doch einmal erwähnen, daß europäische Lösung nicht heißen kann: westeuropäische Lösung — damit lösen wir nicht die Probleme dieser Nation —, sondern europäische, Lösung heißt, den jeweiligen Integrationsprozeß in den beiden Teilen Europas als Grundlage nehmend, auch dafür zu sorgen, daß die Voraussetzungen für mehr Kooperationsmöglichkeiten zwischen den beiden Teilen Deutschlands gefördert werden. Das Interesse der Nation fordert von uns, jede Möglichkeit wahrzunehmen, die auf dem Wege der Überwindung der Teilung unseres Volkes aussichtsreich oder gar nur erwähnenswert erscheint.Der Bundeskanzler hat in seinem Bericht gesagt, daß die Politik der Bundesregierung den inneren und äußeren Frieden gewährleiste. Und ich habe eben schon erwähnt, daß er sich eigentlich in dem Bericht über die Zustände in der Bundesrepublik recht zufrieden äußerte. Nun, die Definition des Friedens kann man verschieden vornehmen. Wir Liberalen definieren den inneren Frieden nicht etwa als Friedhofsruhe, wo kein Mensch etwas sagen darf, sondern als das Ergebnis von Sachauseinandersetzungen.Deswegen erlauben Sie mir, daß ich mich mit einigen innenpolitischen Problemen auseinandersetze. Ich tue das, weil wir nach dem Grundgesetz, dessen 20jähriges Bestehen wir heute feiern, in einer streitbaren Demokratie leben. Diese Definition stammt sogar von dem dafür zuständigen Bundesminister, der der CDU angehört, von Herrn Benda. Wir leben in einer streitbaren Demokratie, und deswegen müssen wir uns über die Fragen, die wir unterschiedlich beurteilen, auseinandersetzen. Die Auseinandersetzung dient nämlich dem inneren Frieden. Viel weniger dient dem inneren Frieden das Ausklammern von Problemen und das Hinausschieben von Entscheidungen. Damit wird ein innenpolitisches Klima gefördert, das am Ende den inneren
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ScheelFrieden stören könnte. Die tägliche und schnelle, klare und saubere Auseinandersetzung fördert den inneren Frieden und sollte unterstützt werden. Und ich glaube, hier könnte man der Bundesregierung manche Anregung geben.Meine Damen und Herren, wie sieht nun die Wahrheit in der Bundesrepublik aus, wenn sie noch nicht durch die redaktionelle Überarbeitung des Bundeskanzlers, ich möchte sagen, verschönt worden ist? Erstens einmal zum Problem der Wirtschafts-und Konjunkturpolitik! Der Bundeskanzler hat die vielen Gesetze und Gremien aufgezählt, die unsere Wirtschafts- und Konjunkturpolitik nun wirkungsvoll in die Hand genommen haben: der Konjunkturrat, der Finanzplanungsrat, das Stabilitätsgesetz, Finanzreform und was sonst dergleichen die Basis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes ausmachen könnte, der ja eigentlich, wenn man den Propagandaäußerungen mancher Parteien glauben würde, im Jahre 1966 überhaupt erst bei Punkt Null begonnen hat.
Haben nun alle diese Einrichtungen einen Erfolg gehabt? Ist es ein Erfolg, daß die Erzeugerpreise in ihrem Anstieg gegenüber dem Vorjahr genau die gleiche Steigerungsrate aufweisen wie im Jahre 1965, dem Jahr, das die höchste Steigerungsrate seit 1951 aufwies? Ist das ein Erfolg? Meine Damen und Herren, die Tatsache, daß die Verbraucherpreise noch nicht in vollem Umfang folgen, daß also der so berühmte Wähler diesen Vorgang in der eigenen Tasche noch nicht spürt, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, wie groß heute die Sorgen in der Wirtschaftspolitik sind, wie viele Sorgen und wie starke Sorgen wir uns machen müssen. Die Preisstabilität, die 1966 erreicht war, ist von dieser Bundesregierung wieder verloren worden;
denn sie hat — das ist ganz außer Zweifel — statt eines Wachstums aus der Stabilität, statt — wie es so hieß — eines Aufschwunges nach Maß unbezweifelbar die Überhitzung bekommen,
ein Beweis dafür, daß man Konjunktur zwar beeinflussen kann, daß man sie aber nicht vorausberechnen kann. Man kann sie nicht im Zaume halten. Mari kann sie nur nach oben oder nach unten anstoßen und in Gang setzen oder bremsen. Es ist eben nicht so, daß die verantwortlichen Minister — aus der Waschmittelwerbung entlehnt — Hartmacher für die D-Mark gewesen sind. Das konnten sie gerade noch in der letzten Urlaubssaison den aus den Nachbarländern zurückkommenden Urlaubern weismachen. Aber heute können sie den Urlaubern schon lange nicht mehr weismachen, daß unsere verantwortlichen Minister die Mark hart gemacht hätten. Denn man merkt leider im Ausland, daß sie nicht mehr so hart ist, wie sie vorher war; denn leider bekommen sie für die Mark nicht mehr so viel, wie sie vorher dafür bekamen.
— Jetzt kommt der bewährte Einwurf, den ich doch kenne: das liegt doch daran, daß die Welt so schlecht ist. Ich weiß, daß Sie der Überzeugung sind, daß die ganze Welt den falschen Schritt hat, daß nur wir den richtigen Schritt haben.
— Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das zu Ende führen. Ich bin doch objektiv gar nicht weit von Ihrer Meinung entfernt,
was den Gradunterschied der Entwicklung der Kaufkraft der Währungen in der Welt angeht. Natürlich brauchen wir eine internationale Angleichung aller Währungen. Ich habe ja auch nicht behauptet, daß etwa die Währungspolitik der anderen Länder vorbildlich sei. Keineswegs. Aber ich habe behauptet, daß die Sonderbewegung der Mark ein Sonderfall an sich ist und daß die Preisbewegung hier in der Bundesrepublik ganz allein von der Bundesregierung verantwortet werden muß, von keinem anderen in der Welt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Von Herrn Schmidt immer mit besonderer Freude.
Bitte, Herr Abgeordneter!
Lieber Herr Scheel, Ihren Wortlaut zu dem Zwecke aufgreifend, daß wir herausfinden, ob wir wirklich objektiv weit auseinander oder dicht beisammen sind, würde ich Sie gerne bitten, uns zu sagen, in welchem Urlaubsland Sie in diesem Frühjahr für die Deutsche Mark weniger bekommen haben als im vorigen Jahr. Würden Sie einmal wenigstens ein Beispiel dafür geben? Eines würde mir genügen.
Herr Schmidt, in allen!
— Ich kann leider keines ausnehmen,
und den Prozentsatz, Herr Kollege Schmidt, können Sie sich von der Deutschen Bundesbank präzise sagen lassen, sogar für jedes Land; da etwas differenziert. Aber in allen Ländern ist das so.
Wollen Sie noch eine Frage zulassen?
Ja, bitte sehr.
Lieber Herr Scheel, ich habe mich zwar freundlich ausgedrückt, aber
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Schmidt
meine Frage war ernst gemeint. Ich wäre für eine ernsthafte Antwort dankbar.
Vielleicht darf ich jetzt ein bißchen präzisieren. Man kann solche Antworten einerseits nach persönlichen Eindrücken geben, die man auf der Fifth Avenue oder in der Rue Rivoli oder sonstwo sammelt. Man kann sie auch geben, indem man Lebensstandardziffern aus fremden Ländern und ihre Zuwachsquoten mit den unseren vergleicht. Würden Sie das bitte einmal tun?
Herr Schmidt, Sie gehen leider am Kern des Problems vorbei.
Ich will Ihnen sagen, warum Sie am Kern vorbeigehen. Sie werden wohl nicht bestreiten, Herr Schmidt, daß der Wechselkurs unserer Währung gegenüber allen als Urlaubsländer in Frage kommenden Ländern um uns herum
— Italien ist nebst Japan, das aber kein besonderes Urlaubsland ist, noch günstig dran — verzerrt ist. Die Gründe kennen Sie. Mit anderen Worten: wir zahlen zuviel für zuwenig Ware im Ausland.
,) Unsere Urlauber zahlen in ihren Urlaubsländern zuviel Mark für zuwenig Ware, weil der Wechselkurs nicht stimmt.
— Aber er hat sich weiter verzerrt, Herr Kollege Kiep. Im vorigen Jahr war die Wechselkursdifferenz noch geringer als in diesem Jahr, und um diese Steigerung der Differenz hat sich eben die Lage unserer deutschen Bürger verschlechtert.
Aber wir kommen ja bei der Diskussion über den Wirtschaftsbericht noch darauf; deswegen will ich jetzt nicht weiter insistieren.Ich will nur folgendes sagen. Der Bundeskanzler hat die Finanzreform als einen Erfolg geschildert, und Sie werden mir nicht böse sein, wenn ich gerade die Finanzreform als einen Torso, als eine Absicht bezeichne; denn was am Ende herausgekommen ist, hat auch das Bund-Länder-Verhältnis nicht positiv beeinflußt, sondern eher noch kompliziert. Am allerwenigsten hat es die Voraussetzungen geschaffen, die nötig sind, um das Verhältnis zwischen Bund und Ländern gerade im Finanzsektor auf eine gesunde Basis zu stellen. Das wäre nämlich die Neugliederung der Länder, die Neugliederung unseres föderalistischen Bundestaates, bei der nur noch die leistungsfähigen Länder bestehenbleiben und die nicht leistungsfähigen mit anderen zusammengefügt werden sollten, damit der Unsinn aufhört, den wir heute immer noch betreiben. Auch die Frage dereinheitlichen Finanzverwaltung, die ein Teil einer • wirkungsvollen Finanzreform wäre, ist nicht einmal angepackt worden.Ich muß auch der Deutung widersprechen, die der Bundeskanzler der Verjährungsfrage gegeben hat. Er hat gesagt, dies sei eine Mischung aus Rechts- und politischen Überlegungen. Ich darf das wiederholen, was der Sprecher der Freien Demokratischen Partei in der Debatte zu diesem Problem gesagt hat: „Mit der Entscheidung der Bundesregierung und der Mehrheit dieses Parlaments ist weder der Gerechtigkeit gedient noch ist dem Rechtsfrieden damit geholfen." Wer einmal beginnt, Gesetze mit rückwirkender Kraft zu erlassen, der verunsichert eher die Menschen in ihrem Rechtsgefühl, als daß er neue Sicherheiten schafft, und wir haben aus dieser Überlegung heraus dem Beschluß der Bundesregierung widersprochen. Die rechtspolitische Überlegung ist hier detailliert vorgetragen worden. Es erscheint eben unmöglich, rechtsstaatliche Verfahren nach so langer Zeit mit Nutzen zum Abschluß zu bringen.Meine Damen und Herren, bei einem Satz des Bundeskanzlers habe ich laut applaudiert.
— Ich habe bei mehreren Sätzen applaudiert — bei anderen nicht so augenfällig —, weil in dieser Erklärung mehrere Sätze waren, die auch den Beifall der Opposition gefunden haben. Bei einem Satz aber habe ich besonders laut applaudiert, nämlich als der Bundeskanzler von der jungen Generation sprach und sagte: „Dagegen muß man das Anliegen dieses zwar unruhigen und fordernden, aber nicht gewalttätigen Teils der studentischen Jugend ernst nehmen." Das ist richtig, meine Damen und Herren. Aber der Bundeskzanler hat auch hier wieder diesem politischen Gedanken die zweite Stelle eingeräumt und an erster Stelle davon gesprochen, daß im übrigen aber Ordnung bestehen müsse und daß die anderen in Zucht genommen werden müßten.
Meine Damen und Herren, wir sind die härtestenGegner aller, die das Grundgesetz in Frage stellen
und die sich gegen Reformen wenden, weil sie Reformen für unnütz und für eine Politik halten, die ihren revolutionären Vorstellungen entgegenwirkt. Wir sind deren härteste Gegner. Aber wir betonen um eine Nuance mehr und wir betonten um einige Zeit früher die Notwendigkeit der Unterhaltung gerade mit den Angehörigen der jungen Generation, die Reformen wollen, die für Reformen Vorschläge gemacht haben und die sich um Reformen bemühen. Sie haben zu lange auf die ernsthafte Diskussion warten müssen. Sie haben zu lange auf Antworten warten müssen. Wir haben mit Schuld daran, daß sich diese vernünftigen jungen Menschen, auch Studenten, mit ihren radikaleren studentischen Kommilitonen solidarisiert haben. Denn wenn junge Menschen nach Reformen drängen, die richtig sind— und viele davon sind geradezu lebensnotwendig —, und sie keine Antwort bekommen, dann neigen sie zur Solidarisierung mit den Radikalen. Ge-
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Scheelnau das ist es, was ich der Bundesregierung noch einmal sagen möchte, weil das ein ganz wesentliches Element der Fragen unserer Nation ist.Die Vielzahl der Gesellschaften in der Bildungspolitik, Bund, Länder, Wissenschaftsrat, Bildungsrat, Rektorenkonferenz, Forschungsgemeinschaft, MaxPlanck-Gesellschaft usw., schafft noch keinen Erfolg in der Bildungspolitik, und sie hat hat bei uns noch keinen Erfolg geschaffen; denn die Fülle der Anregungen ist nicht genutzt worden. Wir haben soviel Anregungen wie nie zuvor. Aber wir haben zu wenig reformerische Praxis in unserer Bildungspolitik.
Das Grundübel dafür liegt in der Verfassungs-. situation, in der wir uns befinden, liegt darin, daß wir auf diesem Gebiet nach wie vor Postkutschenföderalismus bei uns haben,. liegt darin, daß auch die Finanzreform diesen Föderalismus nicht beseitigt hat, liegt darin, daß diese Regierung und die sie tragenden Parteien ihre so gewaltige Mehrheit auf diesem Gebiet nicht benutzt haben. Das allerdings hätten wir von dieser Regierung erwartet.
Meine Damen und Herren, die Tatsache, daß die Abiturientenzahl heraufgegangen ist, macht doch die Situation nicht etwa leichter, sondern — ganz im Gegenteil — verschärft noch in wenigen Jahren die Situation, in der wir uns in der Bildungspolitik bewegen, womit ich nicht sagen will, daß die Abiturientenzahl gesenkt werden muß, sondern daß die Aufnahmebereitschaft der weiteren Bildungsinstitute gefördert und erhöht werden muß. Das ist doch selbstverständlich.
— Meine Damen und Herren, die Gemeinschaftsaufgaben schaffen es eben nicht. Sie werden sehen, daß Sie mit der Gemeinschaftsaufgabenlösung nicht zum Ziel kommen. Das ist gerade der Anstand, den die Freie Demokratische Partei hier macht.Meine Damen und Herren, im letzten Teil hat dann der Bundeskanzler, eher schon auf die Wahl Ausschau haltend, mit Genugtuung auf die Leistungen zurückgeblickt, die diese Regierung vollbracht habe. Er hat eigentlich nur bedauert, daß eine einzige Leistung nicht vollbracht worden ist, nämlich das Wahlrecht zu ändern. Meine Damen und Herren, das Wahlrecht zu ändern, das war möglicherweise — —
— Es gibt ja gute. Wir sind nur gegen die alten, verbrauchten, die nicht mehr wirkungsfähigen. Das Wahlrecht, das diese Bundesrepublik hat, ist das beste, das eine Parteiendemokratie haben kann. Ich glaube, in der Zwischenzeit haben auch die verantwortungsbewußten Politiker der beiden Koalitionsparteien sich dieser Meinung angeschlossen, und die Bemerkung des Bundeskanzlers war wohl nur noch ein Erinnerungsposten, auf den man im Wahlkampf selbst noch einmal zurückzukommen gedenkt. Aberwir auf jeden Fall würden uns auch in diesem Jahr durch eine Wahlrechtsdiskussion überhaupt nicht schrecken lassen. Wir leben ja 20 Jahre mit solcher Diskussion; wir sind daran gewöhnt.Vor 20 Jahren, meine Damen und Herren, als das Grundgesetz geschaffen wurde, war es für die Väter des Grundgesetzes ein Vorbild auch für die Verfassung eines Gemeinwesens für alle Deutschen, so wie wir uns eine Verfassung vorstellten, mit der alle Deutschen leben können. Die Väter des Grundgesetzes haben sich nicht vorgestellt, daß es so lange in Kraft bleiben müßte. Deswegen sind Revisionen nach so langer Zeit nötig geworden. Aber diese Revisionen sollten in einer ganz klaren Richtung betrachtet werden. Die Liberalität unseres Grundgesetzes darf auf keinen Fall vermindert, eingeschränkt werden, wie es z. B. bei der Verabschiedung der Notstandsgesetze in einem speziellen Fall geschehen ist, wie es z. B. durch die Einführung von Gemeinschaftsaufgaben geschieht, weil durch Gemeinschaftsaufgaben die parlamentarische Kontrolle eingeschränkt wird, weil die Bürgerrechte dadurch vermindert werden. Es gilt vielmehr, die wirklichen Mängel des Grundgesetzes zu beseitigen, vor allen Dingen den Föderalismus im Bildungsbereich. Die Revision — wenn in einzelnen Punkten das Grundgesetz revisionsbedürftig erscheinen sollte — muß die Bürgerrechte stärken, nicht schwächen. Sie muß das Wahlalter herabsetzen; sie muß teilplebiszitäre Elemente ins Auge fassen.
Wir müssen durch die Parlamentsreform den Entscheidungsprozeß in der Politik klarer, durchschaubarer machen, damit das Interesse der Bürger an der Politik und ihre Übersicht steigen. In diese Richtung sollten unsere Bemühungen in der Innenpolitik verlaufen: Stärkung der Bürgerrechte als eine Verbesserung der Verfassung in der Bundesrepublik, einer Verfassung, die eine Verfassung sein soll, nach der die ganze Nation in Frieden und in Freiheit leben kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im geteilten Deutschland ist dieses Jahr auf den 17. Juni gelegt worden, obgleich es eigentlich und ursprünglich — ich glaube, Herr Scheel hat auch daran erinnert — der Wille des Hauses war, den Bericht nicht an diesem Tage, sondern ihn jeweils am Beginn des Jahres zu hören. Es hat Gründe gegeben, ihn in diesem Jahr etwas zu verschieben. Ich will das nicht kritisieren, aber mir erscheint es wünschenswert, daß dann an diesem Tag auch vom 17. Juni 1953 die Rede ist, der uns in Erinnerung zurückruft den Aufstand der Arbeiter im anderen Teil, die ihren Protest dagegen, daß sie von der Mitbestimmung, z. B. über die
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Schmidt
Lohnfindung, ausgeschlossen waren, auf diese Weise zum Ausdruck gebracht haben.
Eine lange aufgestaute Erbitterung brach sich damals einen Weg durch. Jeder von uns kennt das Ergebnis dieses Ringens: die nackte militärische Gewalt hat sich gegen die Frauen und gegen die Männer in Ostberlin und anderen Industriegebieten der DDR durchgesetzt, die durch Demonstration und Arbeitsniederlegung ihre Empörung zum Ausdruck brachten.Der 17. Juni 1953 ist eine Niederlage, eine Niederlage des Freiheitswillens deutscher Arbeiter. Ich habe mich immer gefragt, ob es eigentlich wünschenswert ist, daß wir Niederlagen der Freiheit feierlich begehen. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob es nützlich ist, wenn ob dieser Niederlage der Freiheit einerseits Feiertage begangen werden und andererseits Propaganda politischer Art damit getrieben wird.Ich war, was den heutigen Tag angeht, nachdem der Bericht zur Lage der geteilten Nation heute gegeben werden sollte, der Meinung, daß dies keine Feiertagssitzung, sondern eine Arbeitssitzung des Deutschen Bundestages zu werden hatte.
Das ist ja auch allgemein akzeptiert worden. Als Beispiel darf ich hier folgendes einmal öffentlich erwähnen. Ich war gestern bei einem Lehrbataillon der Bundeswehr in meinem heimatlichen Wahlkreis und habe mit innerer Genugtuung gesehen, wie diese Soldaten heute freiwillig arbeiten, um den Erlös dieser ihrer Arbeit am 17. Juni einem guten sozialen Zweck zuzuführen.
Eine der Konsequenzen, die mich nun selber trifft, aus der Tatsache, daß die Regierung heute morgen ihre Erklärung abgab und wir heute nachmittag dazu Stellung nehmen müssen, ist die, daß das innerhalb so weniger Stunden einer Mittagspause schwierig ist. Ich habe den Text der Erklärung von Herrn Dr. Kiesinger heute nacht um drei Uhr — da kam ich von einer Veranstaltung in Frankfurt nach Bonn zurück — auf meinem Schreibtisch vorgefunden. Da hatte ich allerdings keine Lust mehr, mich noch daranzusetzen. Das gebe ich zu.
— Das ist nicht sehr freundlich; denn, liebe Freunde von der FDP, wenn Ihr Vorsitzender Scheel mit einem gewissen Anflug von Recht kritisiert, daß dieser Bericht nicht allzuviel über die Lage im anderen Teil Deutschlands enthalten habe, dann muß ich allerdings sagen, auf diese Art von Kritik hätte sich Ihr eigener Sprecher wochenlang vorbereiten und dann wenigstens seinerseits etwas über die Lage im anderen Teil Deutschlands beitragen können.
Ich wollte Herrn Scheel nicht angreifen, aber aufZwischenrufe gehören Antworten, und wenn man imGlashaus sitzt, soll man nicht mit Steinen um sich werfen.Lassen Sie mich im Verlauf der Ausführungen, die ich zu machen habe, ab und zu bitte versuchen, den Blick auf die Lage drüben zu werfen. Ich möchte damit beginnen — insoweit anknüpfend an die dankenswerten Feststellungen, die Herr Scheel, wie er glaubte, für alle, und wie auch ich annehme, für alle an den Beginn seiner Ausführungen meinte setzen zu dürfen —, daß ich meine, wir alle können übereinstimmend mit Genugtuung und Freude feststellen, daß die Energie und Intelligenz unserer Landsleute drüben unter schwierigen Bedingungen auch im Laufe der letzten zwölf Monate, seit wir uns das letzte Mal über die Lage drüben hier unterhalten haben, neue große wirtschaftliche Leistungen vollbracht haben, wirkliche bedeutende Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschaft, aber auch auf den Gebieten der Kultur oder des Sports. Die Stellung der DDR nicht nur innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, sondern auch im Welthandel hat sich etwas verstärkt. Wir empfinden darüber Genugtuung — mit den Bürgern im anderen Teil des Landes. Wir sind wie sie drüben daran interessiert, daß sie, wenn sie auch ihren freien politischen Willen nicht zum Ausdruck bringen können und dürfen, wenn sie sich auch mit einer sehr ungeliebten Regierung abfinden müssen, doch wenigstens mit ihrer eigenen Leistung ihre wirtschaftliche und soziale Lage verbessern konnten und den Anschluß an die industrielle, zum Teil auch an die modernste technologische Entwicklung der Welt finden konnten. Die Parteien des Bundestages — das hat Herr Scheel noch einmal unterstrichen, und es bedarf eigentlich nicht der Unterstreichung durch jeden von uns —, sind sich darin einig, daß wir alles tun wollen, um die Situation für das gespaltene Volk zu erleichtern. Wir wollen geduldig und zäh, wie hier schon von zwei Rednern gesagt worden ist, auf eine vernünftige Regelung der innerdeutschen Verhältnisse hinwirken. Für uns bleibt insoweit die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 Leitfaden der Politik. Die aus dieser Regierungserklärung erwachsenen Vorschläge der anschließenden Monate und Jahre liegen immer noch auf dem Verhandlungstisch. Wir haben nicht die Absicht, sie zurückzunehmen. Jeder hüben und drüben kennt sie, jeder kann sie kennen.Walter Ulbricht hat sich am 8. August des letzten Jahres von der Volkskammer — ein bißchen theaterhaft, aber immerhin — nach langer Pause zwischen unserem Angebot und dieser Reaktion auch seinerseits eine Vollmacht für die Benennung eines Beauftragten für Verhandlungen mit der Bundesregierung erteilen lassen. Aber neben allerhand gehässiger Polemik — vor allen Dingen gegen die Sozialdemokraten und gegen das, was sie drüben den „Sozialdemokratismus" zu nennen belieben — haben wir in der Zwischenzeit nichts Positives vermerken können. Der Vorsitzende des Staatsrats in Ostberlin sollte sich — er redet so gern von Realitäten — auch die Realität vor Augen halten, daß alle unsere Nachbarn, alle Nachbarn des deutschen Volkes in Europa erwarten, daß nicht nur einer der beiden deutschen Teile, sondern daß beide deutschen
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Teile zur Entspannung in Europa beitragen. Das ist eine Wirklichkeit.
Herr Ulbricht weiß das ganz genau. Er braucht keine Ausreiseerlaubnis nach dem Westen; es genügt, daß er hin und wieder zu Konzilien und Beratungen mit Gesinnungsgenossen in Osteuropa zusammentrifft, um dies wissen zu können.Wir alle miteinander wissen ganz nüchtern, daß die deutsche Frage auf absehbare Zeit nicht gelöst werden kann. Wir wissen, daß selbst der Weg zu Regelungen über ein Miteinander-Auskommen oder, wie es auch heißt, zu einem Modus vivendi — der vor Rückschlägen weiß Gott nicht gefeit bleibt — zu gelangen, sehr schwierig ist. Aber wir sind uns offenbar alle auch darin einig, daß unser Wille zum Frieden, den Herr Scheel soeben noch einmal für die Opposition unter dein Beifall des ganzen Hauses unterstrichen und bekräftigt hat — insoweit hat er die Übereinstimmung des Hauses festgestellt —, die Verständigung zwischen beiden Teilen Deutschlands verlangt.Ulbricht und seine Leute behaupten, mit einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR werde dem Frieden gedient. Ich weiß nicht, ob diese vielfältigen Anerkennungs- und Nichtanerkennungsdebatten im Westen unseres Vaterlandes wirklich der deutschlandpolitischen Entwicklung nützlich sind.
Was ich hier sage, gilt für alle. Wir können jedenfalls beobachten, daß Walter Ulbricht selbst unter den Kommunisten nur sehr wenige von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugt hat, nur sehr wenige. Solange nämlich an den Grenzen seines Machtbereichs Minen verlegt werden und geschossen wird, solange er sich an gewaltsamen Einmärschen in fremde Länder beteiligt, solange er nicht auf Gewaltanwendung verzichtet, ist der ganze Streit darüber, ob eine Anerkennung dieser oder jener Art die Situation in Deutschland friedlicher oder weniger friedlich macht, eine verdammt akademische Auseinandersetzung!
Diese ganze Diskussion ändert nichts an den Gefahren, die von der Art, in der die deutsche Spaltung heute in Deutschland ausgeübt, exekutiert und fortgesetzt wird, für den Frieden in Europa ausgehen.Ich habe einen Aufsatz vor mir, den mein Freund, der Bundesminister Herbert Wehner, vor kurzem zu all diesen Fragen geschrieben hat. Ich möchte einige Bemerkungen zitieren, die wohl — mehr zum Schluß — als eine Art Resümee aus relativ komplizierten Darlegungen geboten werden. Wehner schreibt, es sei kein Unglück, daß es weder eine ein für allemal feststehende Nichtanerkenungspartei, noch eine ein für allemal festehende oder unaufhaltsam zunehmende Anerkennungspartei gebe. Im Anschluß sagte er, in der schlimmsten Situation befänden sich eigentlich diejenigen, die vermeintlich ganz klare, nämlich ideologisch geflochtene Vorstellungen vom Ablauf der Weltgeschichte zu haben glaubten. Siekönnten fast alles in Ihrem Weltbild unterbringen und seien dann vollauf damit beschäftigt, die Allgemeingültigkeit dieses Weltbildes zu beweisen, und deswegen kämen sie auch gar nicht dazu, die tatsächlichen Verhältnisse zu ändern. Zweitens sagte er, auch ziemlich schlimm, aber nicht ganz so schlimm seien diejenigen dran, die sämtliche Rechtsbegriffe und Denkmodelle parat hätten und immer wieder erklären müßten, wie die Wirklichkeit in die Modelle hineinpasse. Und hin- und hergerissen würden dann schließlich diejenigen, die ihr eigenes Verhalten vorwiegend von den Äußerungen der Gegenseite abhängig machten. Ich darf Wehner dann zustimmen, der im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes schreibt, wir böten der DDR Verhandlungen ohne jegliche Diskriminierung an, die zu den Formen der Zusammenarbeit führten, die im beiderseitigen Interesse lägen. Dies war ein Angebot, das die Regierung der Großen Koalition vor Jahr und Tag hier gemacht hat — mit Zustimmung der FDP-Opposition —, und wir sollten diese unsere gemeinsame Vorstellung nicht durch allerhand Streit am Rande verdunkeln.
In einem Gespräch vor etwa 14 Tagen hat Dr. Barzel darauf hingewiesen, daß der heutige Tag in gewisser Weise ein Geburtstag in dreierlei Hinsicht ist: 20 Jahre Grundgesetz — Herr Scheel hat darüber gesprochen, der Herr Bundeskanzler hat darüber gesprochen —, 20 Jahre nordatlantisches Bündnis, 20 Jahre Europarat. Lassen Sie mich zunächst zum Grundgesetz etwas sagen.Da gibt es ja immer noch den Art. 146 im deutschen Grundgesetz. Es ist reizvoll, das Grundgesetz mit der neuen Verfassung der DDR zu vergleichen. Aber da ich das heute vor einem Jahr, in der vorigen Debatte zur Lage der Nation, schon sehr ausführlich getan habe, möchte ich mich nicht wiederholen. Aber der Art. 146 unseres Grundgesetzes sagt immer noch:Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.So gilt es seit 20 Jahren.Übrigens: der 23. Mai dieses Jahres war nicht nur der 20. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes; der historische Zufall hat es gewollt, daß er zugleich der 107. Geburtstag der Sozialdemokratischen Partei gewesen ist.
— Werden Sie erst mal 107 Jahre alt, Herr Barzel!
— Ich würde mit Zwischenrufen der Art, wie ich soeben einen halblaut vermerkt habe, einstweilen etwas zurückhalten; Sie wissen, der Redner kann so etwas auch.
Ich möchte für meine Fraktion begrüßen, was der Bundeskanzler im Namen beider Koalitionspartner zum Grundgesetz ausgeführt hat — ich weiß nicht,
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ob dies der Wortlaut war, aber der Sinn muß es gewesen sein —: Auch wir möchten uns ganz eindeutig und nachdrücklich aussprechen gegen diese törichte Mode, die sich überall verbreitet und die jetzt auch das Gebiet des Grundgesetzes anzugreifen scheint, wo einige anfangen, von einer Totalrevision unseres Grundgesetzes zu reden. Das kommt überhaupt nicht in Betracht!
Dies ist die bisher beste Verfassung, die auf deutschem Boden und im deutschen Volk je gegolten hat. Herr Scheel, Sie haben soeben von teil-plebiszitären Instituten geredet, die Sie da hineinbringen wollen; ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir das einmal des Näheren hören könnten.
— Es ist ja gut, wenn aus Bayern Anregungen für das Grundgesetz kommen. Es erinnert mich daran, daß in eisgrauer Zeit, nämlich vor 20 Jahren, die Mehrheit der Bayern diesem Grundgesetz nicht zugestimmt hat.
Aber ich weiß nicht, ob Herr Scheel — im Gegensatz zu seinem Nachbarn, der links von ihm sitzt — eine Legitimation in Händen hat, für die Bayern zu sprechen. Diese Frage möchte ich offenlassen.
Lassen Sie mich unterstreichen, daß der Bundeskanzler mit Recht den großen Unterschied betont hat hinsichtlich des Wesenskerns des Wesensgehalts der Grundrechte und ihres zentralen Platzes in unserer Verfassung im Vergleich zur neuen Verfassung der DDR. Ich möchte zweitens den großen Unterschied zwischen den Tatsachen unterstreichen, daß in diesem Staat nach unserem Grundgesetz die Regierung dem Parlament gegenüber verantwortlich ist und von diesem Parlament abhängt, während drüben der Staatsrat die Exekutive, die oberste Instanz im Staate ist, und zwar keineswegs etwa nur im Notstand. Was wir drüben haben, ist nicht eine einmalige „Stunde der Exekutive", sondern es ist auf Dauer, stets und ständig, ein Staat der Exekutive, ein Staat des Politbüros der SED.Eine Bemerkung zum föderativen Aufbau oder zur föderativen Funktionsweise oder, wenn Sie so wollen, zu dem Gleichgewichtssystem der Macht des Bundes und der Macht der Länder oder, wenn Sie so wollen, zu dem Gleichgewicht zwischen der Macht der Gemeinden und der Macht der Länder, zum Gleichgewicht der Befugnisse. Dieses bleibt noch weiter zu entwickeln; die Entwicklung ist in den letzten Jahren nicht in jeder Beziehung befriedigend gewesen. Es ist wohl auch heute noch nicht befriedigend. Die Regierungserklärung von heute morgen findet auch in diesem Punkt unsere Zustimmung.Ich will mich hier nicht allzu weit auf bildungspolitische Aspekte einlassen, die Sie, Herr Bundeskanzler, hier angedeutet haben. Da war manches, wie ich denke, zu pauschal; es konnte aber in einer solchen Regierungserklärung wohl auch nicht insDetail und in die Qualität gehen. Immerhin, wenn Sie erwähnten, daß in zwölf Jahren der Abiturientenanteil an den entsprechenden Jahrgängen unserer jungen Leute von 3,5 oder 3,8 auf 9,3% gestiegen sei, dann gehört doch dazu — da muß ich Herrn Scheel ein bißchen recht geben — die Erwähnung der Tatsache, daß auf den übrigen Feldern die bildungsökonomischen Konsequenzen dieser an sich begrüßenswerten Entwicklung nicht gezogen worden sind,
was kein Vorwurf an die Bundesregierung,
und, lieber Herr Scheel, auch kein Vorwurf an alle drei Parteien des Deutschen Bundestages ist. Das hängt vielmehr mit der von uns so häufig gelobten föderalen Struktur und der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im deutschen Grundgesetz zusammen.
Ich weiß jetzt nicht mehr aus dem Kopf, in wie vielen Landesregierungen sich eure FDP-Landesminister für eine Finanzverfassungsreform eingesetzt haben, die viel weiter ging als das, was wir schließlich zustande gebracht haben. Aber ich habe ein paar Beispiele im Kopf, ich könnte ein paar ironische Beispiele nennen. Im übrigen möchte ich— ich weiß jetzt nicht, ob ich Herrn Kiesinger oder Herrn Barzel zitieren muß; nach meiner Erinnerung war es Herr Barzel — dem Sprecher recht geben, der damals in einer jener Debatten, die ihr provoziert habt, gesagt hat: Irgendwann später einmal werden wir nicht gefragt werden, ob wir die Kompetenz gehabt haben.
— Schönen Dank! Ich habe schon an der freundlichen Geste gesehen, wie Herr Barzel den Ruhm abtrat.
Das ist sehr richtig. Infolgedessen kann es nicht schlecht sein, Herr Scheel, wenn die Freie Demokratische Partei für die Verschiebung der Kompetenz, die Sie offensichtlich im Auge haben, im Lande draußen eintritt.Ich will das hier weniger parteilich verschieden sehen, als mehr an die Adresse der Länder sagen
— ein Land ist noch da; aber in Wirklichkeit ist es der Vorbote des neuen Bundespräsidenten, der dort sitzt —
Das Minimum an bildungsökonomischer Kompetenz, das der Bund braucht, ist in der Finanzverfassungsreform kaum erreicht worden. Hier ist ein großer Unterschied zur DDR, wenn Sie sich ansehen, wie groß die zentrale Kompetenz auf diesem Felde ist.
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Schmidt
Man hat damit allerdings drüben auf dem Gebiet des Schulwesens in manchen Punkten Leistungen erreicht, die wir bei uns auch gern schon ereicht hätten, wenngleich ich damit weiß Gott nicht den Eindruck machen will, als ob ich das Schulwesen oder den geistigen Gehalt des Schulwesens in der DDR — das wollte auch Herr Scheel vorhin nicht andeuten — akzeptieren wollte.Noch .ein Blick auf die Verfassung. Die DDR hat in ihrer neuen Verfassung, von der SED oktroyiert, etwas Einmaliges in der ganzen Welt getan: Sie hat sich im Wortlaut der Verfassung an eine Weltmacht gebunden und gegen eine andere Weltmacht verfassungsrechtlich Front gemacht. Das hat es auf der Welt überhaupt noch nicht gegeben. Das muß man wohl einmal sagen. Wir in der Bundesrepublik hingegen sind immer wieder mit dem inneren Ausbau unserer Verfassung beschäftigt. Wir hängen uns mit dem, was Inhalt unserer Verfassung ist, was unsere Verfassungswirklichkeit werden soll, nicht an Weltmächte und auch nicht an andere Mächte.Ich möchte in diesem Zusammenhang den Blick des Hauses auf zwei Erklärungen der Bundesregierung aus dem letzten und vorletzten Jahr richten, die lesenswert sind und die, wie mir scheint, vielleicht Stoff für verfassungspolitische Debatten des nächsten Bundestages abgeben werden. Ich beziehe mich insbesondere auf die Drucksache V/4002, in der die Bundesregierung unter dem Datum des 20. März dieses Jahres bemerkenswerte Ausführungen über die Weiterentwicklung des föderativen Systems ge-macht hat. Diese Antwort bezieht sich auch auf frühere Erklärungen der Bundesregierung, die ein Jahr vorher abgegeben worden sind. Hier heißt es unter anderem, die Bundesregierung habe am 27. Oktober 1967 vor dem Bundesrat ausgeführt, daß sie eine neue Gesamtkonzeption für das Grundgesetz nicht für nötig halte und daß es daher einer grundsätzlichen Änderung der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern nicht bedürfe.Jetzt, ein Jahr später, ist man etwas vorsichtiger geworden und sagt im Kontrast dazu:Diese Feststellung jedoch sollte und kann nicht das Ergebnis der uns aufgegebenen Prüfung vorwegnehmen, welchen Funktionswert das föderative System in einer hochkomplizierten industrialisierten Massengesellschaft hat und haben wird. Daher sind Verfassungsänderungen in Zukunft auch im föderativen Bereich unvermeidlich.Ich glaube, daß das richtig ist. Ich glaube, wir können froh sein, daß mit dem Grundgesetz am Anfang, heute vor 20 Jahren, überhaupt eine Plattform für Entwicklungen in dieser Richtung, von der die Bundesregierung jetzt mit Recht spricht, geschaffen wurde.Ich möchte, nachdem andere große Männer, die diese Epoche gestaltet haben, hier genannt worden sind, darauf hinweisen, daß das Grundgesetz heute möglicherweise nicht die Ausgangsplattform für eine solche Entwicklung sein könnte, wenn es damals nicht die Insistenz Kurt Schumachers gegeben hätte,der die Funktionstüchtigkeit des Bundes in diesem Grundgesetz eigentlich erst hergestellt hat.
Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang auch an Carlo Schmid und andere erinnern, die seinerzeit die Auseinandersetzung mit den Besatzungsmächten geführt haben. Ich erinnere mich noch daran, wie im April 1949 der für seine, soll ich sagen: föderalistische oder partikularistische Einstellung bekannte französische General Koenig, der damals hier Militärgouverneur war, den Sozialdemokraten schließlich zu ihrem Erfolg gratuliert hat.Manches von dem, was damals verfassungspolitisch zwischen den Parteien strittig gewesen ist — einige wenige Kollegen haben damals schon den Streit mit geführt und sind immer noch unter uns aktiv —, ist inzwischen erledigt. Dieser elende konfessionelle Schulstreit, das Verhältnis von Kirche und Staat, die Notstandsvorbehalte und die parlamentarische Kontrolle in Notstandsfällen, später dann die parlamentarische Kontrolle, was die Streitkräfte angeht, die Wehrverfassung, das Recht der unehelichen Kinder, die Verfassungsbeschwerde — das sind alles Dinge, die damals im Streit waren; das alles ist im Laufe der Evolution in den letzten 20 Jahren in Ordnung gebracht worden.Der Bundeskanzler hat vorhin die Wahl Heinemanns zum neuen Bundespräsidenten erwähnt. Das veranlaßt mich, an ein Wort zu erinnern, das Heinemann neulich einmal auf einem öffentlichen Kongreß ausgesprochen hat, als er die Verfassungen miteinander verglich, die er im Laufe seines Lebens in Deutschland selber erlebt hat. Er sprach erstens vom Wilhelminischen Deutschland, zweitens von Weimar, drittens vom Nazideutschland, wobei er bescheiden dazufügte: „in dem ich abseits stand" — diese Formel hat sich mir sehr eingeprägt —, er sprach viertens vom Besatzungsregime und fünftens von dieser unserer Bundesrepublik, um darzutun, wie sehr viel besser die Verfassung dieses Staates ist — im Vergleich zu dem, was vorhergegangen war. Man tut nichts Böses, sondern sagt etwas objektiv Zutreffendes, wenn man sechstens hinzufügt: Sie ist auch unendlich viel besser als die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit drüben in der DDR. Wenn man aber sagt, dies sei die beste Verfassung, in der unser Volk bisher auf unserem deutschen Boden gelebt habe, dann kann das ja nicht heißen und soll es auch nicht heißen, daß alles gut ist, was wir hier haben. Es kann auch nicht heißen, daß das, was heute gut ist, mit den Maßstäben von heute gemessen für gut befunden wird, morgen mit den Maßstäben für morgen gemessen noch gut wird genannt werden können.Unser Bekenntnis zur Stabilität -unserer Verfassung ist zugleich ein Bekenntnis zur Kontinuität des Ausbaus unserer Gesellschaft, zur Kontinuität des Fortschritts. Dafür gibt es, wenn ich es richtig sehe — ohne ein Verfassungs- oder Gesellschaftsphilosoph zu sein —, im Grundgesetz drei Maximen: erstens die Gleichheit aller vor dem Gesetz, zweitens die Gleichheit der Lebensverhältnisse — diese möchte ich hier noch einmal nennen, nachdem sie
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in der Debatte über die Finanzverfassung von vielen positiv, vor allem aber negativ in der Argumentation mißbraucht worden ist —, drittens die Gleichheit der Chancen für jedermann.Die Maxime des sozialen Rechtsstaats bedeutet für mich ganz wesentlich: Etablierung der Startgleichheit für jedermann und Eliminierung jeder Diskriminierung in unserer Gesellschaft.
Mit Zustimmung meiner Fraktion hat der Bundeskanzler heute morgen mit einer gewissen Genugtuung auf die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten im Krankheitsfall hingewiesen. Das ist ein Stück Eliminierung von Diskriminierung. Der Bundeskanzler hat ferner auf das Berufsbildungsgesetz und auf das Ausbildungsförderungsgesetz hingewiesen.Bezogen auf die Zukunft möchte ich folgendes hinzufügen: Bildungspolitik ist ein weites Feld. Es ist noch nicht genug, wenn man mit Befriedigung feststellt, daß die Zahl der Arbeiterkinder auf unseren höheren Schulen steigt. Man muß sich auch einmal anschauen, wie sich die unterschiedlichen Startchancen für beide hinterher in den Abiturzeugnissen, in den Erfolgsquoten, niederschlagen.Ich will hier in Klammern etwas sagen, ohne daß sich jemand deswegen verkleinert fühlen soll. Einstweilen besteht die Masse der Deutschen immer noch nicht aus Abiturienten, sondern aus Volksschülern, die anschließend eine Fortbildungsschule besucht haben. Auf dieses Problem möchte ich endlich einmal den Nachdruck der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland gelegt haben!
Wenn ich das viele Geräusch, von Professoren und Studenten gemacht, höre, kommt es mir manchmal ein bißchen so vor, als ob die Studenten und die Universitäten der Nabel der deutschen Gesellschaft wären. Das sind sie nicht!
Was die Diskriminierung, die beseitigt werden muß, angeht, so gehört dazu z. B. das weite Feld der Vermögens- und Steuerpolitik. Das Dickicht der Steuerungerechtigkeiten ist eines der Felder, an das wir, wie ich meine, in den nächsten vier Jahren alle zusammen wirklich herangehen müssen.
Es hängt unmittelbar mit der Vermögenspolitik zusammen.Nun zu einem dritten Punkt, bei dem ich mich besonders einig weiß mit den Kollegen aus der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union. Wir müssen weg von der finanziellen Diskriminierung von Familien mit Kindern! Das ist eine ganz schlimme Sache.
Der Familienlastenausgleich — dieses Schlagwort hat sich eingebürgert; ich will es auch nicht durch ein plastischeres Wort ersetzen — ist ein diskriminatorisches System.
Das muß weg!
In diesem Zusammenhang etwas ausführlicher, auch mit dem Seitenblick auf die DDR, eine Bemerkung über die Diskriminierung der Frauen, insbesondere der arbeitenden Frauen, in unserer Gesellschaft.
In der Bundesrepublik ist jeder dritte Arbeitnehmer und jeder fünfte Selbständige eine Frau. Aber die erdrückende Mehrzahl der weiblichen Arbeitnehmer befindet sich im beruflichen Leben in sehr untergeordneten Positionen. Ihre Gehälter und Löhne liegen selbst bei gleichwertiger und selbst bei gleichartiger Tätigkeit erheblich unter dem Lohn- und Gehaltsniveau der entsprechenden männlichen Arbeitnehmer. Das ist eine schlimme Sache, die nicht der Gesetzgeber beseitigen muß, sondern die die beiden Tarifpartner endlich in Ordnung zu bringen haben!
Soweit es den Gesetzgeber angeht, nämlich bei den staatlichen Gehältern und Löhnen, ist das sehr viel weiter in Ordnung gebracht als in der sogenannten freien Wirtschaft.Die berufstätigen Frauen sind vielfach nicht doppelt belastet, sondern dreifach belastet: sie sind außerdem noch Hausfrauen und in vielen Fällen auch noch Mütter, die Kinder erziehen sollen. Sie sind durch diese Häufung von verschiedenen Rollen in ihrer Entfaltung sehr gehindert, sind übrigens auch gehindert in dem Selbstständigkeitsbewußtsein, in dem Sicherheitsbewußtsein, das sie eigentlich beanspruchen dürfen. Ich würde unseren Sozialpolitikern hier in diesem Hause, die sich ja auf so vieles spezialisiert haben, empfehlen, daß sie sich einmal die Frage einer familienunabhängigen Alterssicherung der Frauen wirklich überlegen und zu dem Zweck in die DDR schauen. Man hat das nämlich dort im Prinzip angefangen, wenn auch der Quantität nach unzureichend.In diesem Zusammenhang: schauen Sie sich einmal an, wie das in der DDR mit den Kindertagesstätten und mit Kindergärten für Kinder von arbeitenden Frauen im Vergleich zu uns ist. Da sind die uns leider voraus. Schauen Sie sich einmal an, wie das mit der Teilzeitarbeit und wie das mit der Ganztagsschule ist. Wir werden viel zu tun haben, wenn wir die Diskriminierung der berufstätigen Frauen bei uns beseitigen wollen.Herr Scheel, Herr Barzel und ich haben neulich einmal gemeinsam zu diesem Thema vor einem Gremium von lauter liebenswürdigen Damen referieren müssen. Barzel war in der glücklichen Lage, als erster sprechen zu dürfen. Der Erste hat es im-
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mer am leichtesten — so wie der Bundeskanzler heute morgen, der hat es auch immer am leichtesten.
Dann kam Schmidt, das war schon schwerer, unddann der arme Scheel: den letzten bissen die Hunde.
Wir waren uns aber alle einig — da darf ich Sie hier zum Zeugen anrufen und das in Erinnerung rufen —, ohne daß man vorher miteinander geredet hatte, daß wir an die Frauen in unserem Volk, in unserer Gesellschaft appellierten, sich nicht immer nur darüber zu beklagen, wie sehr sie benachteiligt usw. seien, sondern in ihren Familien dafür zu sorgen, daß ihre Töchter dieselbe sorgfältige Bildung und berufliche Ausbildung wie ihre Söhne bekommen.
Das ist nämlich der einzige Weg, um das in Ordnung zu bringen.Die DDR hat einen noch höheren Prozentsatz berufstätiger Frauen. Von allen Arbeitnehmern in der DDR sind 47% Frauen. Man hat dort aus dieser Situation inzwischen eine ganze Ideologie entwickelt. Einer der Standardsätze etwa aus einem staatlichen Handbuch lautet dann folgendermaßen: „Die Förderung der Mädchen und Frauen für qualifizierte technische Berufe ist ein unabdingbares Element der technischen Revolution und der sozialistischen Rationalisierung."
— Furchtbar, ganz furchtbar! Aber, liebe Freunde, wenn die das auch mit solchen furchtbaren Phrasen zudecken, — wir sollten uns nicht vormachen, daß hier nicht für uns ein Problem läge, das wir noch zu lösen haben.
Übrigens ist es ganz interessant, daß das Politbüro der SED neulich in einem offiziellen Bericht beklagt hat, daß nur ein völlig ungenügender Prozentsatz der Frauen in mittleren oder in leitenden Positionen tätig sei. Da kann man nur sagen: genau wie bei uns! Das ist offenbar gesamtdeutsches Schicksal der Frauen, aber kein Grund, sich darüber zu beruhigen.Es gibt ein anderes Feld der gesellschaftlichen Ordnung, auf dem das drüben völlig anders ist als bei uns, ich meine das Feld der Teilhabe der einzelnen Arbeitnehmer an den Prozessen der Entscheidung über das, was sie selber angeht. Der 17. Juni war ein Aufstand gegen das Ausgeschlossensein von der Mitbestimmung bei Löhnen, bei Arbeitsbedingungen, bei Arbeitsnormen, d. h. das Ausgeschlossensein von Entscheidungen, an denen beteiligt zu sein eigentlich ein Kernelement, ein wesentliches Element einer freiheitlichen Gesellschaft und Verfassung ausmacht. Wenn Arbeiter nicht selbst bei der Festsetzung ihrer Löhne oder ihrer Arbeitsnormen oder ihrer Arbeitsbedingungen mitreden können, dann — möchte ich sagen — ist das geradezu das Kriterium für die Unfreiheit einer Gesellschaft.
Da fällt mir ein — ich weiß nicht, ob der Finanzminister noch da ist.
Aber Herr Stücklen ist ja da — —
— Der Beifall war voreilig. Ich will dem HerrnStücklen gar nichts. Ich will dem Herrn Strauß etwas.
Da fällt mir ein — das muß ich zitieren dürfen —, es ist ein paar Tage her, da hat der Herr Vorsitzende der CSU, nicht der Finanzminister,
in München gesagt:Manche, die so sehr um Recht und Freiheit besorgt sind und sich als Musterdemokraten empfehlen, lassen eine erstaunliche Lücke in ihrem Vokabular erkennen, wenn es um die Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands geht. Es fehlt nämlich seit geraumer Zeit im Vokabular prominenter Sprecher der SPD die Forderung nach Freiheit für das ganze Deutschland.Ich will dazu nichts weiter sagen als die Hoffnung aussprechen, daß jeder empfinden möge, daß dies ein Argument unterhalb der Gürtellinie ist.
Im übrigen gab es auf dem Parteitag der CSU auch durchaus Äußerungen und Einlassungen, die wir mit Zustimmung, zum Teil mit Vergnügen zur Kenntnis genommen haben, zum Teil mit Zustimmung und Vergnügen, z. B. die Tatsache, daß man sich in einer Arbeitsgemeinschaft dort zwei Stunden über Aufwertung oder Nichtaufwertung öffentlich unterhalten hat — und wirklich mit Zustimmung und Genugtuung, Herr Stücklen, die Tatsache der sehr eindeutigen Ablehnung sonstwo vorher geäußerter Vermutungen in bezug auf Möglichkeiten zukünftigen Zusammengehens mit der Nationaldemokratischen Partei.
— Ich habe gesagt, ich habe das mit Zustimmung und Genugtuung gehört.
Das war nicht unter der Gürtellinie. Wenn ich einer Sache, die ein CSU-Politiker vorträgt, hier zustimme und sage, ich empfinde Genugtuung, ist das unter der ,Gürtellinie?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gern!
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Bitte, Herr Stücklen!
. Herr Kollege Schmidt, ich möchte auf diese Äußerung des Herrn Kollegen Strauß deshalb nicht näher eingehen, weil ich jetzt nicht als Redner dran bin.
Sie sollen fragen!
Ja, als Vorspann zur Frage, Herr Präsident.
So habe ich es auch verstanden.
Ich möchte Sie fragen, Herr Kollege Schmidt, ob Sie nicht diese Verdächtigung, die CSU und die NPD würden die Gefahr der neuen Harzburger Front bilden, als ebenso oder in verstärktem Maße weit unter der Gürtellinie empfinden?
Ich habe mir das Wort von der Harzburger Front bisher nicht zu eigen gemacht. Ich bin dagegen, daß wir uns gegenseitig in psychologische Eskalationen hineintreiben.
Lassen Sie mich bitte zurückkommen zur freien Rolle der Gewerkschaften in unserer Gesellschaft und zur unfreien Rolle der Arbeitnehmer-Organisationen in der Gesellschaft in der DDR. Die Verfassung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes — das heißt: die Satzung des FDGB drüben -enthält folgende Formel:Die im FDGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften— wörtlich —anerkennen die führende Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. . . . Sie entwickeln bei den Mitgliedern tiefe Liebe zur Arbeit . . . hohe sozialistische Moral und Arbeitsdisziplin . . . beteiligen sich aktiv an der weiteren Entwicklung und Durchsetzung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der DDR — —Wenn das die Aufgabe einer Gewerkschaft ist, dann ist dies zugleich die vollständige Denaturierung einer Gewerkschaft.
Die Gewerkschaften sind zu einem Instrument dessen geworden, was man drüben demokratischen Zentralismus nennt, und sie vertreten den Machtanspruch der SED-Führung gegenüber den Arbeitnehmern,
und nicht etwa den Anspruch der Arbeitnehmergegenüber dem Staat oder gegenüber dem Arbeitgeber. Dies ist ein ganz wesentlicher Unterschiedzwischen beiden Gesellschaftsordnungen hüben und drüben.Vielleicht ist es ganz gut — in der DDR hören ja heute eine ganze Menge Menschen zu bei dem, was wir hier reden —, wenn man mal offen sagt, was sich eigentlich ein Sozialdemokrat, ein Sozialist unter einer Gewerkschaft in einem sozialistischen Staat vorstellt — das ist ja angeblich da drüben ein sozialistischer Staat. Was ich mir vorstelle, ist mindestens, daß in einem sozialistischen Staat Arbeitnehmer Betriebsräte wählen dürfen — das dürfen sie nämlich auch hier in einem kapitalistischen Staat —, mindestens dieses!
Und was ich mir zweitens vorstelle, ist, daß sie bei allen innerbetrieblichen Fragen mindestens die Rechte haben, die wir hier gemeinsam im Betriebsverfassungsgesetz den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik gegeben haben. Drittens erwarte ich mindestens, daß die Organisationen der Arbeitnehmer in einem sozialistischen Staat — nämlich die Gewerkschaften -- bei der Bestimmung der Löhne wenigstens so weit mitwirken, wie sie das hier in . dem angeblich imperialistischen, kapitalistischen Westdeutschland tun — mindestens so viel.Ich sage das so laut auch für manche Wirrköpfe hier in der Bundesrepublik Deutschland, die meinen, daß sie den Kommunisten bei all diesen Dingen auf den Leim kriechen könnten. Sie glauben, darauf komme es nicht so sehr an, es komme mehr auf die richtige Gesinnung an und auf das richtige Lenin-Zitat oder das richtige Luxemburg-Zitat. Es ist ja ganz lustig, wenn man sieht, wie sie sich auf beide gleichzeitig berufen, ohne den tiefgreifenden Wesensunterschied zwischen Rosa Luxemburg und Lenin überhaupt zu verstehen.
Unsere Gewerkschaften hier sind frei gegenüber den politischen Parteien. Ja, sie machen den politischen Parteien sogar allerhand Schwierigkeiten. Da können jedenfalls einige Parteien für gewisse Zeitläufte vergangener Jahre ein kleines Lied davon singen.
Sie sind auch frei gegenüber dem Staat und den Regierungen, gegenüber dem Parlament; sie erheben Forderungen.Lange bevor höhere Schüler und Studenten in Deutschland die drei Buchstaben APO für sich erfunden hatten, lange davor waren die Gewerkschaften von Zeit zu Zeit immer wieder legitime außerparlamentarische Opposition. Das wird auch in Zukunft so sein. Das gehört zur Rolle der Gewerkschaften in einer freien Gesellschaft. Zu ihrer Rolle gehört aber ebenso, daß sie autonom mit dem Tarifpartner ihre Verträge schließen können.Vielleicht darf ich das einmal an die Adresse des ganzen Hauses sagen: mir macht es Sorge, wenn ich sehe, wie sich die staatliche Gesellschaftspolitik, die staatliche, gesetzgeberische Sozialpolitik immer
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mehr ausweitet und wie auf der anderen Seite nicht nur Gesetzgebung, sondern insbesondere auch höchstrichterliche Judikatur den freien Raum, in dem die Sozialpartner miteinander etwas Neues vereinbaren können und auch wollen, immer mehr einengen. Wir müssen dafür sorgen, daß der staatsfreie Raum vergrößert wird, und aufpassen, daß er auf keinen Fall — wie in den letzten Jahren — noch kleiner gemacht wird.
Ich sehe da hinten einen Kollegen -- den ich mit Namen nicht kenne — ein ironisches Gesicht machen. Es gibt hier eine ganze Menge Leute in meiner Fraktion — fragen Sie einmal den Georg Leber —, die das seit vielen Jahren predigen, leider sowohl nach der einen wie nach der anderen Seite hin nichtüberall offene Ohren findend.Wenn ich vom staatsfreien Raum rede, mache ich damit gleichzeitig klar, daß dabei beide Partner gebraucht werden, daß Initiative von beiden Seiten gebraucht wird, von der Arbeitnehmerseite, aber genauso doch von der unternehmerischen Seite — oder der arbeitgeberischen, wie Sie es immer nennen wollen.Ich war gestern abend mit einer Reihe wirklich bedeutender Leute aus Unternehmensleitungen, aus großen Industrien, in Frankfurt zusammen. Wir haben da darüber gesprochen, wie die Gesellschaft gegenwärtig ist. Ich habe gefragt: Was wollt ihr denn, was soll denn die Bundesregierung morgen zur Lage der Nation erklären? Was sollen wir denn Eurer Meinung nach morgen im Parlament dazu sagen? — Im Laufe des Gesprächs sagte dann einer — er sprach als Mann eines großen Unternehmens —: „Ja, jedenfalls müssen Sie auch einmal sagen, daß es eigentlich nicht unser Lebenszweck sein kann, von Jahr zu Jahr den Umsatz um 10% zu vermehren." Das ist eine gute Bemerkung; das allein genügt wohl nicht als Lebensinhalt.Ich habe neulich hier in diesem Hause einen anderen Anlaß gehabt, zu sagen, wie wichtig mir in unserer Gesellschaft der dynamische Unternehmer, die dynamische Unternehmensleistung mit ihrer Phantasie, ihrer Initiative, ihrer Risikobereitschaft und ihrer Verantwortung erscheint.Ich benutze das heute — ich nehme es wieder auf —, um zu zeigen, weswegen — obwohl die Ingenieure in der DDR nicht dümmer sind als hier, obwohl die Arbeiter und Angestellten nicht schlechter sind als hier — die Wirtschaft in der DDR immer noch so weit hinter der unsrigen hinterherhinkt. Das ist einfach deshalb so, weil es in dem Wirtschaftssystem drüben keine Möglichkeit zur Initiative und zur Verantwortung unten gibt und alles von ganz hoher Hand von oben her — und infolgedessen mit einer hohen Fehlerquote — geregelt werden muß. Ulbricht hat sich sehr spöttisch über die Initiative in den Betrieben ausgelassen. Ich kann nur sagen: wenn die Volkswirtschaft der DDR, verglichen mit anderen Ostblockstaaten, eine relativ gute Leistung erbringt, so ganz gewiß sehr viel mehr wegen derMenschen, die dort drüben arbeiten, als wegen des ökonomischen Systems.
Die Zuwachsrate des Sozialprodukts betrug 1968 in der DDR 5,2 %, bei uns 7%. Die Automatisierung ist in der DDR nicht in dem Maße vorangekommen, wie es für die Industrie der DDR und für ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Märkten in der westlichen Welt notwendig wäre. Der private Verbrauch ist drüben im letzten Jahr etwas weniger stark gestiegen als das Nationaleinkommen. Es gibt sogar Bereiche, in denen die Produktion von langlebigen Verbrauchsgütern abgenommen hat: Kühlschränke um 61/2 %, elektrische Waschmaschinen um 111/2%. Dasselbe gilt für gewisse Textilerzeugnisse. Ich bin erstaunt, wenn ich das lese. Aber ich will nicht zu denen gehören, die etwas drüben schlechter machen, als es ist; im Gegenteil, ich habe ja anerkannt, was drüben geleistet wird. Sicherlich ist auch das Gütersortiment in Qualität und Quantität besser geworden. Im Grunde jedoch handelt es sich eben um eine Wirtschaft, in der die wirtschaftlichen Bedürfnisse Dritter, die Bedürfnisse der Sowjetunion, des Ostblocks, eine höhere Priorität genießen als die Bedürfnisse der Bürger in der DDR. Sehr beklagenswert!
Die Handelsverflechtung der DDR mit der Sowjetunion und den übrigen Ländern des Comecon beträgt auch in diesem Jahr wieder 73%. Unter diesen Umständen bleibt von der zentralen Planung in Ostberlin her wenig Raum für die Ausweitung des Handels der DDR mit dem Westen oder mit uns. Mir scheint deshalb — das haben Sie, Herr Kiesinger, in Ihren Ausführungen, die Sie heute morgen gemacht haben, vielleicht ein bißchen unterschätzt —, daß die in der letzten Zeit von uns getroffenen Vereinbarungen im innerdeutschen Handel doch von erheblicher Bedeutung — auch quantitativ — für die DDR und die Versorgung der Menschen drüben sind.Als letztes sollte zu diesem wirtschaftlichen Felde vielleicht noch gesagt werden: Wie würde die Wirtschaft in der DDR aufblühen, wenn der Walter Ulbricht und seine Leute endlich Initiative und Entscheidungsvollmacht nach unten delegierten, wohin sie gehören! Da müßten wir vielleicht auf manchem Felde, beispielsweise auf dem der Chemie, in Kauf nehmen, daß uns die DDR überrundet, wenn sie nur endlich einsehen würde, daß ideologische Rezepte keine Produktionszuwächse und auch keinen technologischen Fortschritt erbringen.
Unsere bundesrepublikanische Wirtschaft, der der Herr Scheel ein paar sehr sachverständige Bemerkungen gewidmet hat — also wenigstens der Herr Burgbacher hat es gemerkt;
schönen Dank, Herr Burgbacher! —, ist in einem ganz guten Zustand.Herr Scheel, Sie haben sich da nachher herausgewunden. Sie hatten gemeint, sich auf indirekte Weise der Verjährungsdebatte, nein — ich ver-
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wechsle diese Seeschlangen schon miteinander — der Aufwertungsdebatte nähern zu sollen, und haben dazu hier eine Behauptung aufgestellt, die Sie weder vorhin belegen konnten noch heute nachmittag oder morgen belegen werden. Die ist nämlich nicht belegbar. Sie haben behauptet, daß das, was man für eine Deutsche Mark im Ausland kaufen könne, in diesem Jahr weniger sei als im vorigen. Das Gegenteil ist der Fall.
— Ehe ich die Zwischenfrage zulasse — ich werde das tun —, möchte ich den Gedanken noch etwas weiter ausführen.Lieber Herr Scheel, vergleichen Sie einmal die Zuwächse des Sozialprodukts der wichtigsten Industrieländer miteinander! Ich habe das getan. Fangen Sie bei Japan an, und nehmen Sie die Vereinigten Staaten, nehmen Sie Frankreich, Italien, England und die Bundesrepublik!
Und dann vergleichen Sie die Entwicklung des Preisniveaus in diesen Ländern! Sie werden feststellen,
daß Sie von daher einstweilen noch keinen Einstieg in die Aufwertungsdebatte finden können, die ansonsten nicht ohne Grund geführt wird. — Bitte Zwischenfrage!
Zuerst Herr Ertl.
Herr Kollege Schmidt, wie erklären
Sie sich Ihre eigene Annonce: „Hinter der Aktion ,Stabile Preise' steht die SPD", heißt es in der „Bild". — „Warum wollen Sie 60 DM von Ihrem Urlaubsgeld verschenken? Die Reisekasse stimmt nicht mehr!" — SPD-Anzeige vom 31. Mai.
Ober ist das in Ihren Unterlagen nicht rechtzeitig aufgetaucht?
Nein, das ist schon drin, und ich habe doch das ganze nur ausgeführt, damit Sie in diese Falle hineingehen und mir diese Frage stellen. Jetzt kommt nämlich die Antwort.
Wenn der Herr Scheel gesagt hätte, eine deutsche Aufwertung würde uns in Zukunft, wenn wir ins Ausland reisen, noch viel mehr an Gegenwert bescheren, dann hätte er recht gehabt. Das haben Sie liebenswürdigerweise zu Recht aus mir herausgefragt.
— Natürlich. Ich bitte Sie! Selbst ein Oberlandwirtschaftsrat wird doch verstehen, daß eine deutsche Aufwertung dazu führt, daß wir im Ausland für unser Geld mehr kriegen. Dazu muß man nicht unbedingt studiert haben.
— Ja, sicher. Ich meine, teure Zwischenrufe kriegen vielleicht teurere Antworten; billige — —
Sie werden bemerkt haben — das sage ich nun wieder für Herrn Scheel und nicht für den Zwischenfrager —, daß ich mich zu der Aufwertungsdebatte nicht geäußert habe, Herr Scheel, sondern mich nur auf Ihren eigenartigen Einstieg, um dahin zu kommen, eingelassen habe.
— Wie bitte? — Ja, wenn der Herr Präsident zulassen würde — —
Wollen Sie fragen, Herr Scheel?
Präsidenten sind ja manchmal ein bißchen sehr knapp mit dem Zulassen von Begründungen für Fragen. Aber ich wäre doch dafür, daß Herr Scheel das dürfte.
Dafür gibt es aber gute Gründe, Herr Kollege Schmidt. — Bitte, Herr Scheel!
Noch einmal erwähnend, daß Herr Schmidt mit Recht darauf hingewiesen hat, daß das Preisniveau in den meisten unserer Urlaubsländer besonders rasch gestiegen ist, frage ich ihn, ob nicht gerade dadurch bei festen Wechselkursen unsere Urlauber zu wenig Ware für ihre Mark bekommen.
Dieses war meine Bemerkung von vorhin.
Herr Scheel, es war nicht ihre Bemerkung. Vorhin hatten Sie gesagt, Sie kriegten in diesem Jahr weniger als voriges Jahr. Das war Ihr Wortlaut.
Was den jetzigen Wortlaut angeht, da beziehe ich mich auf Herrn Schiller.
— Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie eben gehört, daß ich gesagt habe: Ich beziehe mich auf Herrn Schiller, auch auf das, was in der Zeitung steht.
— Ja, aber das habe ich nicht angefangen, lieber Freund. So wie Herr Scheel sagt, daß er seine Rolle als Opposition ernst nimmt, so muß ich auch Fragen, die die Opposition stellt, beantworten, ernsthafterweise, je nach Verdienst.Lassen Sie mich anknüpfen, Herr Scheel, an Ihre Bemerkung über die Wirtschaftspolitik und sagen:
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ich fand, im Grunde hatte der Bundeskanzler heute morgen recht, als er in anderem Zusammenhang von der großen, die politische Stabilität gefährdenden oder gar zerstörenden Wirkung von Massenarbeitslosigkeit sprach. Man sollte an dem allem, was da 1966 gewesen ist und 1967 gedroht hat, nicht mehr deuteln, denke ich. Dieses Haus hat durchaus Grund, über seine ökonomische Gesetzgebung für die letzten zwei Jahre und über die gesamtökonomische Politik, die es getrieben hat, einschließlich der mittelfristigen Finanzplanung und all dem, was dazugehört — wenn ich sage: Gesamtökonomie, meine ich nicht nur die Wirtschaftspolitik im engeren Sinne —, alles in allem Genugtuung zu empfinden. Sie haben kritisiert, daß der Bundeskanzler das gesagt hat.Aber mir gibt das Gelegenheit, eine Bemerkung zu machen. Es hat sich in letzter Zeit in diesem Hause eingeschlichen, daß bei gewisser Gelegenheit Minister von diesem Platz aus den Dank an Abgeordnete oder an einzelne Ausschüsse aussprechen. Das möchte ich in Zukunft nicht mehr haben in diesem Hause. Denn es ist nicht so, daß der Kanzler oder die Minister die Arbeitsgeber für die Abgeordneten wären. Es ist genau umgekehrt. So steht es jedenfalls im Grundgesetz.
Genau umgekehrt! Wir sind hier als Abgeordnete die Arbeitgeber und die Kontrolleure, wie immer Sie es nennen wollen. Das ist auch einer der wesentlichen Unterschiede zur DDR; da ist der Staatsrat der Arbeitgeber, und die anderen haben zu parieren.Aber damit Sie mich richtig verstehen: Ich habe den Wunsch, dieser Regierung für die gesamtökonomische Leistung, die sie vollbracht hat, zu danken, Herr Scheel, im Gegensatz zu Ihnen.
Ich habe den Wunsch, als Abgeordneter dafür Dank zu sagen. Das steht mir zu. Ihnen stünde es an.
Aber in dem Zusammenhang — damit es ein bißchen deutlicher wird, was ich meine — sage ich Ihnen ganz ehrlich, Herr Scheel, ich habe zu denen gehört, die sich im Winter 1966 auf 1967 mit Besorgnis gefragt haben, ob wir die Finanzierung der Renten, deren Formel, deren Gleichung, nach der sie ausgerechnet werden, wir ja nicht verändern wollten — es war für uns ein unakzeptabler Punkt, die dynamische Rentenformel zu ändern —, verkraften würden. Ich habe zu denen gehört, die insgeheim sich mit Besorgnis fragten, ob die wirtschaftliche Gesundung so schnell vorankommen würde, daß wir das auch im Laufe des Jahres 1967/68 würden finanzieren können. Tatsächlich — und da möchte ich wissen, wer das vorausgesehen hat — sind im Laufe dieser zweieinhalb Jahre — das schließt drei Jahresenden ein, und für das kommende Jahresende sind die Beschlüsse auch schon gefaßt — alle Sozialrenten in Deutschland dank der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungskraft von Gesellschaft und Staat um insgesamt 30% erhöhtworden. Um 30 $%! Und das vergleichen wir einmal mit der Lage in der DDR!
Gestatten Sie eine Frage, Herr Abgeordneter?
Bitte!
Herr Schmidt, sind Sie nach Darlegung Ihrer Deutung der wirtschaftlichen Situation im Herbst 1966 nicht der Auffassung, daß die Interpretation durch den damaligen verantwortlichen Wirtschaftsminister, das jetzige Kabinettsmittglied Bundesminister Schmücker, dann falsch sein müßte?
Die damalige Darlegung?
Nein, die jetzige.
Es tut mir leid. Ich bin im Grunde Ihrer Meinung in dieser Frage, Herr Scheel.
Aber ich weiß, daß die Kontroverse, auf die Sie anspielen, für viele Mitglieder dieses Hausses nicht ganz durchsichtig ist. Herr Schmücker hat uns allen einen Brief geschrieben, und ich habe keinen Anlaß, zu bezweifeln, daß das, was Herr Schmücker in seinem Brief schreibt, wahr ist. Es ist auch nicht nur Herr Schmücker, der Äußerungen dieser Art gemacht hat; sie finden sich auch in anderen Lagern, und nicht nur in der Fraktion des Herrn Schmücker.
— Ja eben.
Ich wollte, was die Renten angeht, einen Seitenblick auf die DDR werfen dürfen. Im Jahre 1967 — und das muß man objetkiv sehen — hat die DDR 22 % der Gesamtbevölkerung gehabt, die über 60 Jahre alt waren, wir hingegen 181/2% Das heißt, der Altersaufbau ist drüben noch ungünstiger als bei uns. Er wird drüben bis 1980 noch ungünstiger werden, als er bisher ist. Bei uns ist der sogenannte Rentenberg, der ja ein Tafelberg ist, praktisch 1975 schon erreicht. Für diesen Altersaufbau kann die SED nichts — daran ist sie schuldlos — oder fast nichts.
— Wenn Sie die Fluchtbewegung einbeziehen, doch; da gebe ich Ihnen recht, Herr Gradl, da gebe ich Ihnen recht. Wohl aber ist die SED, wie ich denke, dafür verantwortlich, daß sie aus ihrem Sozialprodukt so verhältnismäßig niedrige Renten an die alten Menschen in der DDR zahlt.
Nach dem statistischen Handbuch der DDR hat die Durchschnittsrente im Jahre 1967 174 Mark und 82 Pfennig betragen. Die Mindestrente war, wenn ich mich richtig erinnere, damals 120 Mark; sie ist in, zwischen auf 150 Mark erhöht worden. Die Durchschnittsrente dürfte also 1969 etwas höher sein als
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174 Mark und 82 Pfennig. Im gleichen Jahr 1967 haben die Durchschnittsrenten in der Bundesrepublik, wenn ich alle Leistungen der Sozialrententräger in Deutschland zusammenzähle und sie durch die Zahl der Rentenempfänger dividiere, 294 Mark betragen; für männliche Arbeitnehmer allein, die 40 Jahre geklebt haben, 392 Mark und 90 Pfennig. Im Augenblick sind wir in der Bundesrepublik bei den männlichen Arbeitnehmern, die 40 Jahre geklebt haben, schon bei 537 Mark. Das alles, bitte, vergleichen Sie mit der Lage der Rentner drüben! Die Beitragsbemessungsgrenze für die Altersrenten sind bei uns 1700 Mark Monatseinkommen, in der DDR 600 Mark Monatseinkommen. Ich denke, daß es keine Übertreibung ist, wenn ich sage, daß diese Art der Behandlung alter Menschen in der DDR, weil sie nicht mehr produktiv sind, nichts mit sozialistischer Solidarität zu tun hat,
sondern eigentlich eine apparative Kaltschnäuzigkeit gegenüber den sozial Schwächsten genannt werden muß.
Ich sehe, Herr Präsident — das ist bei einer freien Rede, die man sich im Laufe einer Mittagspause an Hand dessen, was man gehört hat, zurecht macht, anders nicht gut möglich , daß meine Zeit ein bißchen überschritten ist. Ich möchte auf manches, was mir zu sagen am Herzen gelegen wäre, verzichten. Das tut mir besonders leid, weil ich an manchen Punkten noch gerne vergleichende Blicke auf I die Lage drüben und auf die Lage bei uns geworfen hätte.Aber ich möchte ein paar Worte zu dem auch vom Bundeskanzler angeschnittenen Thema der nachwachsenden Generation sagen dürfen. Wir waren im ganzen einverstanden mit dem, was der Bundeskanzler hier gesagt hat, insbesondere auch mit der klaren Ablehnung von Gewalt und von Unduldsamkeit und von Haß, die die Regierung zugleich in unserem Namen hier ausgesprochen hat. Mir hat vor ein paar Tagen ein sehr urteilsfähiger Student einen Brief zur Situation geschrieben. Darin finde ich z. B. die folgenden Ausführungen:An den Hochschulen wechseln sich bei den Professoren Reaktionäre, die sich durch besonderen Starrsinn auszeichnen, mit solchen ab, die militant vertretenen Forderungen mit ängstlichem Opportunismus begegnen.
Eine Konzeption für die Reform
— gemeint ist die Reform der Universität —von innen ist von dieser Seite kaum zu erwarten. Der Schwarze Peter ist wieder einmal in die Hände der Politiker gewandert.Das ist wahrscheinlich alles richtig — wenn es zulässig ist, das in dieser knappen Verkürzung zu beurteilen.Es fragt sich nur, wie lange die Gesellschaft dieses teils revolutionäre, teils reaktionäre Wechselfieber noch hinzunehmen bereit ist.Das heißt auf deutsch: wenn die Politiker nicht handeln, denke ich. Derselbe Mann schreibt dann:Der Zynismus der militanten revolutionären Extremgruppen und der ihnen verbundenen ordinierten Reaktion ist solange nicht zu brechen, als nicht durch eine energisch agierende und nicht mehr bloß reagierende Reformkoalition diesen Gruppen das Wasser abgegraben wird.Viele junge Leute meinen, Demokratie und Führung seien unvereinbar, und wer ihnen von notwendiger Führung spricht, wird sofort als ein Faschist verdächtigt. Diesen pauschalen Verdacht äußern aber oft gerade diejenigen Leute, die entweder ihre Kommilitonen autoritär manipulieren und damit Führung im schlechtesten Sinne ausüben, oder aber solche Leute, die permanent Verantwortung auf andere abwälzen.Das scheint mir alles richtig. Insofern hat auch Herr Scheel recht gehabt, als er diesen Punkt, die Bildungsinstitutionen betreffend, so vertiefte.Vielleicht sollte man diese Gelegenheit, wenn von der Lage der Nation die Rede ist, auch benutzen, um zu sagen: Demokratie darf nicht verwechselt werden mit institutionalisiertem Zaudern und mit Aufschieben. Demokratie sollte auch nicht erlauben, daß Führung großzügig mit Autoritarismus oder mit Diktatur gleichgesetzt wird. Gerade in einer Demokratie muß es einen klar artikulierten politischen Willen geben und die Möglichkeit, auch unpopuläre Entscheidungen zu vertreten und durchzusetzen, wenn man sie für richtig hält.
Das gilt auch für diesen ganzen Universitätsbereich und für den studentischen Bereich.Der Brief des Mannes, von dem ich sprach, enthält dann an späterer Stelle einen Passus, wo er sagt:Wer als Politiker Mut zur klaren Entscheidung nicht hat und sich ängstlich auf die Möglichkeiten negativer Demoskopie verläßt, indem er, ehe er etwas sagt, erst einmal eine Meinungsumfrage macht, wie seine Ansichten wohl ankämen, der ist zur politischen Impotenz verurteilt und sollte seinen Beruf wechseln.
Die Jugend hat einen feinen Spürsinn für falsche Autoritätsansprüche.Ich denke, das ist richtig mit dem Spürsinn. Das darf auch gar nicht anders sein, das soll ja so sein. Autorität kraft Amtes oder kraft Befehlsgewalt hat heute nur noch eine sehr verminderte Wirkung. Das ist gut, das soll ja so sein. Was wir brauchen, ist die Autorität der besseren Argumente, die Autorität des Willens, solchen Argumenten auch Geltung zu verschaffen. Solche Art von Autorität wird akzeptiert. Der wird auch gefolgt. Ich bin ganz sicher, daß die Jugend heute im Grunde mehr Orientierung sucht, als wir vor 20 Jahren gesucht haben. Vielleicht hatten wir es auch leichter.
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13274 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Schmidt
Ich möchte noch etwas hinzufügen, und zwar eine Ansicht, die ich einem Mann verdanke, den ich persönlich sehr schätze. Thomas Jefferson hat einmal meditierend über die amerikanische Demokratie gesagt — es ist jetzt fünf oder sechs Generationen her —: Jede Generation hat das Recht, für sich selbst die Institutionen und die Gesetze zu wählen, die ihr gemäß erscheinen. Ich denke, das ist für einen Demokraten unbestreitbar. Jede Generation hat das Recht, das zu wählen und das zu schaffen, was ihr gemäß erscheint. Allerdings möchte ich hinzufügen: Das heißt nicht etwa, daß die Vertreter der jüngsten Generation das Recht hätten, die große Mehrheit der Älteren zu vergewaltigen und ihr etwas aufzuzwingen. Das Majoritätsprinzip in der Demokratie müssen sich auch die jungen Leute gefallen lassen. Es ist in seinen Auswirkungen nicht immer schön; denn sehr häufig hat die Mehrheit unrecht, bekommt aber trotzdem recht. Dieses Gefühl hatten wir manchmal hier im Laufe früherer Jahre. Im Augenblick hat die FPD dieses Gefühl. Ich hoffe, daß auch noch andere in diesen Genuß kommen.
Das war ganz unparteiisch gesagt,
ganz altruistisch gemeint, Herr Gradl.Diejenigen, von denen Herr Kiesinger gesagt hat, daß sie nicht Gewalt üben, sondern daß sie sich, obwohl sie sich an die Spielregeln halten, im Grundefragen, ob die Spielregeln richtig sind, und die im Grunde beunruhigt sind, müssen wir genauso ernst nehmen, wie ihr Protest rational und begründet vorgetragen wird, ganz einfach deswegen, weil wir alle miteinander wissen, daß auch wir nicht im Besitz letzter Wahrheiten sind. Im Besitz letzter Wahrheiten ist nach seinem Selbstverständnis nur der SDS in Deutschland. Wir anderen wissen alle, daß wir nicht im Besitz letzter Wahrheiten sind, daß wir deshalb bereit sind, zu prüfen, ob jemand anders in dem einen oder anderen Punkt vielleicht eine bessere, eine gültigere oder eine heute gültige Wahrheit an Stelle derjenigen anzubieten hat, die für uns gestern gültig war.Ich möchte eine Schlußbemerkung machen. Zur Lage der Nation in diesem gespaltenen Land, dessen Teile einstweilen nicht zusammenkommen können, gehört auch — das ist eine unserer Aufgaben —, unseren Teil in seinem Freiheitswillen und in Beinern Gerechtigkeitswillen so attraktiv und überzeugend zu machen, nicht daß es ein „Musterländle" werde, aber wohl daß es andere anzieht. Dazu brauchen wir beides, den Frieden im Innern und unsere Freunde und Partner in der NATO, in der EWG und überall draußen. All das, was wir uns hier im Innern an Entfaltung und Entwicklung vorstellen, wäre nicht möglich, wenn die Sicherheit Berlins oder die Sicherheit der Bundesrepublik nicht durch das Zusammenstehen der Völker garantiert würde, die sich gemeinsam zur Verteidigung ihrer Freiheit verbündet haben.
Meine Damen und Herren, zunächst eine Mitteilung. Die für heute um 17.30 Uhr angesetzte Sitzung des Ausschusses für Familien- und Jugendfragen wurde abgesetzt. Auch die Sitzung des Ausschusses für Wissenschaft und Kulturpolitik ist abgesetzt. Das gleiche gilt wohl auch für den Auswärtigen Ausschuß.
Alle Sitzungen, die angesetzt waren, müssen abgesetzt werden. — Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses teilt mir mit, daß die Sitzung des Ausschusses nach Schluß der Plenarsitzung stattfinden soll.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz hat der deutschen Politik drei Ziele gegeben:erstens, einen „demokratischen und sozialen Bundesstaat", „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben",zweitens, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden",drittens, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen".Dies ist eine Disposition der Fragen, die wir an uns selber zu stellen haben.Da muß am Beginn die Feststellung stehen, daß wir zwei der in der Verfassung genannten Ziele, nämlich die Wiedervereinigung und die Vereinigung Europas, noch nicht erreicht haben. Das sind die Fakten, und eine nüchterne Aussprache sollte von den Fakten ausgehen. Zu diesen Tatsachen gehört natürlich auch — und das sollte niemand gering schätzen —, daß die deutsche Politik sich zwanzig Jahre mit Leidenschaft bemüht hat, auch diese beiden Ziele zu erreichen. Zu den Fakten gehört — und das muß ganz am Anfang gesagt werden —, daß zwei dieser Ziele, nämlich die Wiedervereinigung und die Vereinigung Europas, aus deutscher Kraft allein nicht erreicht werden können und mit nationalistischer Kraftmeierei bestimmt nie werden erreicht werden.Zu diesem Blick gehört dann auch, daß lange Zeit zwischen den Parteien hier sehr streitig war, ob — so wir von Anfang an — die deutsche Politik die Einheit Deutschlands u n d die Vereinigung Europas zugleich erstreben solle oder ob das europäische Ziel erst angesteuert werden solle, nachdem die Wiedervereinigung erreicht sei; so andere. Darüber war lange heftiger Streit in diesem Hause.Heute ist unstreitig, daß beide Verfassungsziele Bestandteile einer Politik sind und sein müssen. Inzwischen begreifen alle, daß die Lösung der deutschen Frage auch als europäisches Problem angesehen werden muß. Allein die europäische Einordnung Deutschlands ermöglicht eben die Überwindung der deutschen Spaltung und uns hier, wie eines Tages dem ganzen Deutschland, soziale Sicherheit und wirtschaftliche Blüte.Dies gehört an den Beginn.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13275
Dr. BarzelUnser Grundgesetz, von dem heute so viel die Rede war, hat sich, wie wir meinen, bewährt, auch in der Fortentwicklung eines konstruktiven Föderalismus. Den Vätern des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat gebührt Dank für ihre Weitsicht. Wir meinen, daß am Grundgesetz vielleicht in technischen Fragen Reparaturarbeiten möglich werden mögen, nicht aber in den fundamentalen Teilen. Denn dieses Grundgesetz — und das scheint uns wichtig heute zu betonen, in völliger Übereinstimmung mit dem Herrn Bundeskanzler zu betonen — bestimmt nicht nur die Ziele der deutschen Politik, es enthält nicht nur die Organisations- und Kompetenznormen, sondern es setzt den schlechthin zentralen Maßstab für das positive oder negative Urteil über politische Lagen und Entwicklungen. Dieser zentrale Maßstab, der über Art. 146 hinaus gilt, ist die unantastbare Würde der menschlichen Person und die Anerkennung vorgegebener Menschenrechte. Nur dies, glaube ich, wird auch dem heutigen Tag, dem 17. Juni, und seinen Opfern ganz gerecht.
Damit — und es ist der Sinn dieser etwas theoretischen Einleitung, auf diesen Punkt zu kommen — entnehmen wir unserer Verfassung selbst den Maßstab dafür, was Fortschritt ist und was nicht Fortschritt ist. Nach unserer Verfassung ist also Fortschritt immer nur da — auch in gesamtdeutschen, auch in gesamteuropäischen, auch in gesellschaftspolitischen Dingen im Innern, auch in westeuropäischen Dingen —, immer nur da, wo Menschenrechte mehr zur Alltagswirklichkeit werden.
Mit anderen Worten: rückschrittlich, reaktionär und verfassungsfeindlich ist alles, was der Wirksamkeit der Menschrechte entgegensteht.Deshalb sage ich noch einmal: die Realität der „DDR" ist reaktionär, und es gibt deshalb keinen Weg und keine Möglichkeit für irgendeinen Demokraten, diesen reaktionären Antimenschenrechtsweg als einen möglichen Weg deutscher Politik anzuerkennen. Darum geht es doch in Wahrheit, meine Damen und Herren.
Die deutsche Frage ist eben nicht durch Kniffe und auch nicht durch verbale Konstruktionen zu lösen, nicht einmal durch solche rechtlicher Art.Die deutsche Frage ist nichts anderes als ein fundamentales Freiheitsproblem. Wer soll das ganze Deutschland regieren? Eine linke Diktatur oder der freiheitliche Rechtsstaat? Das ist die Frage, und aus der kann man sich nicht herausstehlen, auch nicht aus der Geschichte und nicht aus der Spannung, die in Deutschland herrscht.Deshalb, Herr Kollege Schmidt, bin ich noch nicht ganz fertig mit meinem Urteil über Ihre Formulierung „Feiertag der Niederlage". Ich muß darüber weiter nachdenken. Aber prima facie möchte ich sagen: War dies wirklich nur eine Niederlage?
Sie haben sich nicht durchgesetzt, natürlich. Aber ist es nicht vielmehr ein bleibender Auftrag und eine Verantwortung gerade aus dem Sinn dieser Opfer, auch der blutigen, zu begreifen, auch indem wir eine Form suchen, wie wir mit diesem Tag fertig werden? Vielleicht beginnen wir heute damit, ein Präjudiz zu setzen, — möglichst nicht gerade in der Form, daß die Diskussion über die Lage westdeutscher Urlauber im befreundeten Ausland zu sehr ausufert.
Nun bin ich allerdings gespannt, was die Presse wieder sagen wird. Wenn wir eine große kontroverse Debatte geführt hätten, hätte es geheißen: Das wurde dem Tag nicht gerecht. Hätten wir alle. Kontroversen verschwiegen, wäre es auch wieder falsch gewesen. Also falsch ist es sowieso. Deshalb ist es, glaube ich, gut, daß das Ferment der Einigkeit hier und heute stärker ist als das der Zerrissenheit. Jeder sollte beherzigen, was der Kanzler über das Scheitern des letzten Versuchs, eine Demokratie in Deutschland zu schaffen, gesagt hat. Das geschah nicht nur wegen ökonomischer Dinge, sondern wegen der Zerrissenheit. Deshalb sollte man, wenn es Einmütigkeit in vielen Punkten gibt, das nicht kritisieren, sondern sich freuen, daß das heute möglich ist.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben ein Zitat meines Kollegen Franz-Josef Strauß in die Debatte eingeführt. Dieses Zitat kenne ich nicht; deshalb kann ich mich dazu nicht äußern. Aber nehmen Sie von dem ersten Sprecher der CDU/CSU schlicht folgendes hin: Ich glaube nicht, daß Kollege Strauß irgend etwas gemeint hat, das Ihnen unter die Gürtellinie gehen könnte. Er hat es sicher auch nicht gesagt.
— Hören Sie doch zu! Wollen Sie nicht hören, was ich jetzt sagen will? Dann sage ich es nicht.
Wir sind der Meinung, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, die wir kennen, und die Sozialdemokratische Partei, die wir nur zum Teil kennen, natürlich nur eine Wiedervereinigung in Freiheit herzustellen wünschen. Das ist eine ganz eindeutige Erklärung, und mir wäre es noch viel leichter, Herr Kollege Schmidt, das jetzt zu sagen, wenn Sie auf die Zwischenfrage meines Freundes Richard Stücklen — das ist auch eine Frage an einige auf der Regierungsbank gewesen — das Wort von der „Harzburger Front" endlich wegnähmen.
Das wird den 20 Jahren Bundesrepublik und der demokratischen Partei, die hier die Hauptverantwortung getragen hat, nicht gerecht.
Damit genug davon!
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einen anderen Faden aufnehmen, der, glaube ich, hier wichtig ist. Seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei sind jetzt zehn Monate vergangen, und wir
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13276 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Dr. Barzel) haben einen etwas größeren Abstand zu den Ereignissen von damals. Ich glaube, jeder wird — gerade aus diesem Abstand — sagen: Es war gut, daß wir damals am 26. September diese Entschließung gefaßt haben, um unsere Position zu beziehen und die Leitlinien festzuhalten.Aber aus diesem Abstand bleibt heute eines nachzutragen, was in jener Debatte vom 26. September noch nicht gesagt werden konnte, weil wir noch zu sehr im Banne der Ereignisse von damals standen. Bis zum 21. August 1968 galt als politische Friedensphilosophie des Westens — wenn ich so sagen darf —, man müsse den potentiellen Gegner durch Bündnisse und Vorkehrungen abschrecken und zugleich die Entspannung mit ihm suchen. Wir haben diese Auffassung hier oft prinzipiell unterstützt.Aber es ist nie verborgen geblieben, daß wir dazu, was uns betrifft, auch immer gleich zwei skeptische Fragen mit auf den Tisch gelegt haben, nämlich erstens die Frage, ob Entspannung, so sehr wir sie wünschen, mit diesem Adressaten möglich ist, und zweitens die Frage, ob die Labilität, die Ungewißheit und die Gefährlichkeit des Status quo, wie er in Europa nun einmal entstanden ist, eine mögliche Basis für Entspannung sein könnten. Am 21. August merkten nun plötzlich alle, daß die westliche Entspannungsbemühung ohne Adressaten dastand und daß für die Moskauer Führer offensichtlich nichts härter war als die westliche Bemühung um Koexistenz.Zu diesen Fragen liegt nun eine gewichtige Arbeit eines Wissenschaftlers aus Großbritannien vor. Sie enthält einen hochinteressanten Satz, der, wie ich glaube, in unsere heutige Debatte gehört. Der Autor — er resümiert das aus dem Abstand — sagt:So stellt sich in der Rückschau heraus, daß der scheinbar immobile Status quo, auf den sich die Entspannung gründete, von sich aus nicht stabil genug war, um den Widersprüchen in der Politik der beteiligten Mächte ihre Schärfe zu nehmen. ... Heute ist der Status quo gleichbedeutend mit vergrößerter Feindseligkeit.Also, so schlußfolgert der Autor weiter, müsse sich einiges am Status quo ändern, wenn eine Entspannung wirklich erreicht werden solle.Eine bemerkenswerte Stimme! Mit unseren Worten heißt das: Der Status quo ist zu dynamisch, er kennt zu viel Rivalität und Gegeneinander, er ist zu labil und zu gefährlich, als daß man darauf Entspannung gründen könnte. Oder: Es gibt eben keine Entspannung, die greift, ohne zugleich den Spannungsursachen wirksam zu Leibe zu rücken. Auf Rivalität läßt sich auch in Deutschland keine Entspannung und keine Ordnung gründen.Meine Damen und Herren, das scheint mir eine wichtige Feststellung zu sein. Dazu muß man nun noch sagen — das gehört, glaube ich, in diese Debatte —, daß wir dieselbe prinzipielle Aussage für Europa nach West wie nach Ost machen. Was stand am Beginn der Europapolitik Abteilung West? Die Erklärung von Schuman vom Mai 1950 mit der Aufforderung an alle Europäer, an die Stelle der Rivalität die Zusammenarbeit zu setzen. Diese selbe Philosophie wird und muß auch nach Osten gelten, wenn ein tragfähiges Fundament erreicht werden soll und wir uns hier nicht in einer Schaumschlägerei von Tagesschlagzeilen erschöpfen wollen.
Die sowjetischen Führer mögen meinen, mit ihrem imperialen Akt — man kann es wohl nicht anders nennen — gegen die Tschechoslowakei und mit ihrer kolonialen Doktrin, die der Kanzler heute morgen beschrieben hat, das Problem gelöst zu haben. Sie haben sich — bestenfalls, und dann zu teuer — Zeit gekauft; und dies gegen den Zeitgeist und gegen den Willen der Völker. Wer nämlich die Deutschlandfrage, um die es doch in Wahrheit geht, ausklammern zu können glaubt, der irrt. Wer glaubt, er würde sie durch Druck auf uns lösen können, indem wir nach hinlänglicher Bearbeitung die Spaltung endgültig sanktionieren würden, der irrt auch, denn er unterschätzt unser Durchstehvermögen.
Deshalb muß dies gesagt werden: Nicht nur eine europäische Friedensordnung, sondern auch ein solider Status quo — er ist auch denkbar — ist nicht ohne die Lösung der deutschen Frage möglich.In diesem Hause ist schon einmal davon gesprochen worden, daß die sowjetrussische Deutschlandpolitik auf Irttümern beruhe. Ludwig Erhard hat das hier gesagt. Ich finde immer, daß es nicht nur faszinierend ist, sich die sture Konsequenz der sowjetrussischen Deutschlandpolitik anzuschauen, mit der seit zwanzig Jahren mit anderen Worten dasselbe gesagt wird, sondern ebenso faszinierend ist ihre völlige Erfolglosigkeit. Sie spricht doch dafür, daß man in der Sowjetunion vielleicht noch einmal darüber nachdenken sollte, was die Sowjetunion eigentlich von und an der „DDR" hat. Sicherheit bekommt sie von ihr nur so viel, wie sie selbst durch die Rote Armee hineinsteckt. Vielleicht sollte man noch einmal versuchen, diese Irrtümer miteinander zu erörtern.Ganz sicher gibt es kein europäisches Sicherheitssystem und keine europäische Friedensordnung, es sei denn um den Kern einer Lösung der deutschen Probleme, und wenn es schrittweise ist, herum. Das muß man heute sehen, und dies muß man, glaube ich, unserem deutschen Volk sagen, um deutlich zu machen, was eigentlich dahintersteht, wenn wir hier zu dieser oder jener Sache nein sagen. Wir sagen dazu doch auch deshalb nein, weil wir die Entwicklung in Europa und in ganz Deutschland offenhalten wollen und weil wir uns nicht schuldig machen wollen, daß wegen unserer Haltung durch einseitige Verzichte und Vorleistungen eine Friedensordnung in Europa nicht zustande kommen kann. Das, glaube ich, ist das erste, was hier gesagt sein muß.Nun zum zweiten Punkt. Es ist davon gesprochen worden — das ist sicher richtig —, daß wir dieses Ziel nur erreichen, wenn unser Haus hier in Ordnung ist. Ich erinnere mich lebhaft an Gespräche aus den Jahren 1948 und 1949 mit Freunden im eigenen Land, mit europäischen Besuchern, mit alliierten Be-
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13277
Dr. Barzelamten und Soldaten und an viele Aufsätze. Damals wurde die bange Frage gestellt, ob wohl diesmal der demokratische Versuch wenigstens in diesem Teil Deutschlands gelingen werde. Ich glaube, wir können heute sagen: Er ist gelungen.Wer einen Beweis braucht, der sehe sich die demokratisch-kritische Jugend an, soweit sie nicht gewalttätig ist, und dies ist die ganz überwiegende Mehrheit. Der wirtschaftliche und der soziale Fortschritt ist unverkennbar. Ich verzichte hier auf alle Zahlen. Diese zwanzig Jahre beweisen — das müssen wir einmal sagen — den Erfolg der Demokratie in unserem Lande. Diese Sache werden wir uns weder abhandeln noch von irgendwelchen Radikalinskis wegfunktionieren lassen. Es ist nämlich da, und unser Volk weiß, woher es kommt.
Ich glaube, daß der Bundeskanzler recht hatte — Herr Scheel, er sagte es doch sehr zurückhaltend —, wenn er ,auf den Erfolg der gemeinsamen Arbeit hier hinwies. Am Schluß dieser Legislaturperiode wird eine große Regierungsleistung und eine wieder einmal reformerische Gesetzgebung dieses Bundestages stehen. Das muß man doch wohl noch sagen dürfen; es gehört auch zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland.Herr Scheel, ich will nicht noch einmal auf den Urlauber und viele andere Geschichten zu sprechen kommen. Erlauben Sie mir, nur auf einen Punkt hinzuweisen, weil mir das, ehrlich gesagt, das einzige war, worauf zu antworten mit wirklich sinnvoll und nötig schien. Sie haben sich ziemlich lange mit dem befaßt, was Sie mit Recht als Antwort der Bundesregierung auf die unfreundlichen Akte dritter Länder bezeichnen. Das ist Ihr gutes Recht, aber Sie sollten dem Bundeskanzler nicht vorwerfen, daß er ein paar Punkte nicht behandelt habe, die Sie im Bericht des Forschungsbeirats beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen oder im Protokoll über unsere kürzliche Debatte im April nachlesen können.Herr Scheel, Sie haben uns vorher gebeten, hier nichts zu behaupten, damit wir draußen nicht etwas Falsches über Sie verbreiten könnten. Darf ich Ihnen das zurückgeben und deshalb zunächst in diese Debatte einführen, was wirklich die Politik der Bundesregierung ist. Die Bundesregierung hat fünf Punkte zu diesem Problemkreis beschlossen. Die ersten drei Punkte kann ich jetzt auslassen. Die Punkte 4 und 5 möchte ich, Herr Präsident, hier sehr gern verlesen. Der vierte Punkt lautet:4. Die Bemühungen der Bundesregierung und ihrer Verbündeten für den Frieden in Europa und zur Überwindung der Spaltung Deutschlands werden erschwert durch unfreundliche Akte, die die Spaltung Deutschlands vertiefen. Eine von gegenseitigem Vertrauen getragene Freundschaft und Zusammenarbeit ist daher nur mit denjenigen Ländern möglich, die sich in der Grundfrage der nationalen Einheit auf die Seite des deutschen Volkes stellen.Da können Sie eigentlich zustimmen.5. Die nationale Einheit wird von der OstberlinerRegierung mißachtet, infolgedessen kann eine Unterstützung dieser Regierung nur als eine Handlung gewertet werden, die dem Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung zuwiderläuft. Die Bundesregierung muß daher die Anerkennung der DDR als unfreundlichen Akt betrachten. Sie wird in einem solchen Fall ihre Haltung und ihre Maßnahmen gemäß den Interessen des ganzen deutschen Volkes von den gegebenen Umständen abhängig machen.Das ist das, was Sie hier gefordert haben, nämlich eine Entscheidung von Fall zu Fall nach den Interessen des ganzen deutschen Volkes. Nur, Herr Scheel, wenn man fallweise entscheiden will und das volle Instrumentarium haben möchte, kann man sich auch nicht wieder selbst ein Tabu aufbauen und sagen, die Rückberufung eines Botschafters gehört dann nie dazu. Manchmal muß man vielleicht an einer Stelle einen Botschafter wegnehmen, damit die anderen nicht überall hinkommen.
Erlauben Sie mir, noch auf einen anderen Teil zu sprechen zu kommen. Der Herr Bundeskanzler hat in seinem Bericht mit Recht darauf hingewiesen — wir haben schon ausgeführt, daß wir ihm zustimmen und daß wir ihn zu dieser großen Sicht beglückwünschen wie auch, was Herrn Scheel besonders schwergefallen ist, zu der guten parlamentarischen Form, in der hier an diesem Tag ein großer Bericht gegeben worden ist —, daß die sichtbaren Kennzeichen der Lage unserer Nation widerspruchsvoll sind, nicht nur in der Lage zwischen Ost und West. Ich will jetzt nicht auf das eingehen, was zum Tatsächlichen in der Zone hier zu sagen wäre. Vielleicht wäre es gut — wenn ich die Anregung an den zuständigen Minister geben darf —, wenn das Haus bei künftigen Debatten dieser Art eine schriftliche Unterlage über diese Zahlen haben könnte, so daß wir dann über die Politik sprechen können und hier nicht lange Berichte über Ziffern und Zahlen hören müssen. Das würde die Sache erleichtern.
— Möglicherweise haben wir das schon einmal vorgeschlagen, Herr Kollege Franke, aber ich sage es jetzt von mir aus zum zweiten Male. —Die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland ist widerspruchsvoll, und wir müssen auch auf die Widersprüche hinweisen, die hier in der Bundesrepublik Deutschland bestehen. Wenn wir hier wieder nüchtern und redlich bleiben, müssen wir sehen, daß die sichtbaren Kennzeichen zugleich den Grad der Freiheit unserer Gesellschaft beweisen wie auch die Besorgnis, die man über die künftige Realität der Freiheit in manchen Bereichen haben muß. Die Fakten beweisen, daß einmal die Demokratie fest verwurzelt ist, daß aber zum anderen — wie übrigens in anderen Ländern auch — an den Rändern unserer Gesellschaft das Unkraut von Gewalt und Intoleranz und von Rücksichtslosigkeit wächst. Ich
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13278 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Dr. Barzelfinde es unerträglich, wenn unser Staatsoberhaupt oder ein ausländischer Botschafter in unserem Lande rechtswidrig gehindert werden, ihre Arbeit zu tun.
Es ist von Signifikanz, wenn in diesen Tagen ein sozialdemokratischer Kommentator das Wort vom linken Herrenmenschen in die Debatte eingeführt hat. Das ist ein Vorgang, der uns alle nachdenklich machen sollte.Dabei beweisen die Fakten, daß unser Volk die längste Friedensperiode seiner jüngeren Geschichte erlebt, daß — leider nur im freien Teil Deutschlands — das bisher größte Ausmaß an sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Wohlfahrt herrscht, daß aber zugleich immer wieder Miesmacher am Werke sind, die diesen gesellschaftlichen Erfolg herabsetzen. Die Fakten zeigen, daß die ganz überwiegende Mehrheit unseres Volkes nach zwei Kriegen und zwei Inflationen endlich in Ruhe und Ordnung ihrer Arbeit nachgehen will, daß aber zugleich andere da sind — lautstarke Wenige, aber wir müssen sie auch beachten —, die Unruhe, Umsturz und Krawall betreiben. Die Fakten beweisen, daß die gewalttätigen Krawallmacher unter den Jüngeren — und das sind nicht d i e Studenten, aber es sind auch Studenten darunter — notwendige Reformen verhindern. Sie rufen Reform, und zugleich verhindern sie diese durch ihre arrogante und intolerante Gewalttätigkeit.
Ohne terrorfreien Raum sind Reformen schlecht vollziehbar. Und die anderen, welche auf der anderen Außenseite der deutschen Politik Nation rufen, gefährden durch ihren vorgestrigen Rechtsradikalismus, daß irgendwer in der Welt uns noch bei der Hauptsorge dieser Nation unterstützt.
Die hindern eine gute Entwicklung.
Deshalb, meine ich, sollten wir uns der Gesinnung unserer Verfassungsväter erinnern. Die haben ja das Modell einer kämpferischen Demokratie in der Verfassung festgelegt, und die erfordert kämpferische Demokraten, die auch die Courage haben, die im Rechtsstaat gesicherte Freiheit zu verteidigen.
Damit uns hier keiner falsch versteht: Wir haben früher einmal von dieser Stelle aus gesagt, daß man mit administrativen Mitteln nicht etwa geistige Unruhe beseitigen kann. Das ist eine Frage der Politik. Aber mit administrativen Mitteln kann und muß Gesetz und Recht in diesem Land gewährleistet werden, meine Damen und Herren.
Die freie Gesellschaft, die Freiheit der Meinung und die Freiheit des Protests haben doch eine einzige Basis, eine bleibende Bedingung der Freiheit sozusagen. Sie steht in Artikel 2 unseres Grundgesetzes; und dieses Zitat gehört in diese Debatte:Jeder hat— so heißt es dort —das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.Meine Damen und Herren, Präsident Nixon hat sich — offensichtlich hat er mit noch stärkeren Problemen auf diesem Gebiet zu tun — in einer lesenswerten Rede vom 3. Juni mit diesem Problem beschäftigt. Ich möchte ganz wenige Sätze daraus doch vorlesen; sie passen nicht genau auf unsere Situation. Er sagt:Das Prinzip der gegenseitigen Achtung ist der Grundpfeiler, der unsere rechtsstaatliche Ordnung trägt, die die Freiheit erst möglich macht. Der Student,— so sagt er weiter —der in das Rektoratsgebäude eindringt, den Dekan bedroht, Akten entwendet und bedingungslos anzunehmende Forderungen stellt, mag erreichen, daß eine allzu nachgiebige Universitätsverwaltung einige seiner Forderungen erfüllt. Aber je größer sein Sieg, um so stärker hat er die Sicherheit seiner eigenen Rechte unterminiert.
In einer freien Gesellschaft ist keines ihrer Mitglieder sicher, sofern nicht die Rechte aller respektiert werden.
Meine Damen und Herren, und in' diesen Bericht und in diese Diskussion gehört dann eben auch, daß die Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands ganz offen und ohne jeden Skrupel die Antiisraelpolitik unterstützen. Sie stellen damit erneut ihre Gesinnung unter Beweis, die die Welt seit der Rolle Ulbrichts für den Einmarsch in die Tschechoslowakei kennt. Hier liegt zugleich — das sollte man draußen hören — eine der Erklärungen für die Antiisraelposition hiesiger Linksradikaler.Wir werden diese Position der kämpferischen Demokratie um so glaubhafter durchhalten, als wir uns nicht scheuen, ganz redlich zu argumentieren und auch einmal zu sagen, daß es auch Fehler gibt und noch nicht Erreichtes. Neulich stand jemand in einer Debatte mit jungen Menschen — es war ziemlich turbulent — auf und sagte nur einen Satz: „Ich kann das nicht hören, wenn der Bundestag debattiert; da irrt sich nie jemand, das kann doch nicht wahr sein!" — Ein ernster Einwand. Wir müssen deutlich machen, daß natürlich auch wir Fehler machen. Wir wollen uns deshalb das, was wir geschaffen haben, nicht herunterreden lassen.Aber betrachten wir den gelungenen Wiederaufbau nicht als die beste aller möglichen Welten, sondern als ein Fundament für weiteren Fortschritt,
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 13. Juni 1969 13279
Dr. Barzelals Platz für neue Ideen. Und wenn junge Menschen wegen des Verhungerns in dieser Welt protestieren, sollten wir uns nur fragen, ob wir alles tun, was in unserer Kraft steht, um das nicht stattfinden zu lassen. Oder wenn andere — es ist häufig davon gesprochen worden — kritisch zum Bildungsproblem Stellung nehmen, dann wollen wir das ernst nehmen. Und alle, die es angeht, sollten sich bemühen, den Ruf nach Ordnung durch gleichzeitige Mitteilung vollzogener Reformen wirklich zu unterstützen.
Und wenn wieder andere beklagen, Idee und Wirklichkeit der Demokratie klafften zu sehr auseinander, dann wollen wir das als ihre Frage gegen uns geiten lassen, wie überhaupt jedes sachliche und gewissenhafte Infragestellen zur Demokratie gehört. Es gibt sonst keinen Fortschritt, auch nicht in der Wissenschaft. Und demokratische Autorität erwächst nur aus dieser Reflexion. Lassen wir uns also in Frage stellen!Nur wir müssen dabei wissen, meine Damen und Herren, die Welt lebt nicht vom Fragen allein, sie braucht auch Antworten,
sie braucht Menschen, die Antworten wissen, die Antworten wagen und die dann die Antworten auch verantworten. Sonst geht es nämlich überhaupt nicht weiter. Deshalb sollten wir — wie auch die anderen Kollegen das getan haben — den Blick auf einiges werfen, was vielleicht noch unvollkommen ist, wasin der Zukunft der Verbesserung bedarf.Ich meine, daß die innenpolitische Arbeit neben den großen Zielen, von denen wir sprachen — Wiedervereinigung, vereinigtes Europa, äußere und innere Sicherheit — vor allem folgendem dienen muß: Erstens dem Aufstieg durch Bildung. Wir haben hier in einer etwas spannenderen Debatte, als man uns noch bestritt, überhaupt solche Fragen erörtern zu dürfen, mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß es eine unerträgliche Einengung des Bildungsproblems in Deutschland sei, wenn man nur auf die Universitäten sehe. Wir haben auf die 90 % Volksschüler, auf die Fortbildungsprobleme und die Ingenieurschüler schon damals hingewiesen.
Das wollen wir auch weiter tun.
Die Bundesregierung — Herr Kollege Stoltenberg hat das berichten können — hat — das darf man sagen — einen stolzen Erfolg errungen, indem sie in den Fragen der Technologie und der Forschung in der Welt weitestgehend den Anschluß gefunden hat. Dieser Bundestag hat hier auf Anregung der Bundesregierung durch das Arbeitsförderungs- und durch das Berufsausbildungsgesetz die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß wir zu besserer Bildung für alle, nicht nur für die Studierenden kommen, und dadurch die Aufstiegschancen für alle verbessert und Privilegien abgebaut. Ich meine, wir sollten — manche Befürchtungen dieses Tages, daß heute zwar über die gespaltene Nation diskutiert werde, daß aber vielleicht eine neue verschärfte Spaltung dazu kommen könnte, scheinen sich Gott sei Danknicht zu bestätigen — miteinander noch die Anstrengung unternehmen — und Sie, Herr Kollege Scheel, sind herzlich dazu eingeladen —, auch das Ausbildungsförderungsgesetz noch in den nächsten Wochen in einem finanziell möglichen Rahmen zu verabschieden. Es gehört in diesen Dreisatz der Bildung, die wir hier brauchen.
Wir haben, meine Damen und Herren, davon gesprochen — auch der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen —, daß auf dem Bildungsgebiet die Regierung und auch der Bundestag neue Kompetenzen bekommen. Ich darf Ihnen sagen, daß wir interne Vorarbeiten — Herr Kollege Martin — so weit vorangetrieben haben, daß der nächste Bundestag nicht auf den Regierungsentwurf eines Bundesgesetzes über die Grundsätze des Hochschulwesens wird warten müssen. Wir stehen vielmehr, wenn nötig und erforderlich, mit unserem Entwurf bereit.Wenn man das Ganze nüchtern betrachtet und als erstes festhält, daß die Haushaltspolitik in Bund, Ländern und Gemeinden ihre Prioritäten durchhält, wenn zweitens die Länder ihre moderne Schulpolitik fortsetzen oder, wo es noch notwendig ist, sie finden, und wenn es drittens gelingt, an Universitäten Ordnung und Reformwille Hand in Hand gehen zu lassen, dann haben wir eine Situation erreicht, in der wir die Probleme mindestens im Griff haben und sie lösen können, soweit der Staat diese Dinge lösen kann.Ein zweites aber, was not tut und. bei dem wir auch noch nicht am Ende sind, ist der Fortgang der Sozialreform. Ich habe mich, Herr Kollege Schmidt, sehr gefreut über Ihre Rede über die Familie, über die Frauen, über die Kindergärten usw. Das war eine gute Rede. Die hätte so jeder von uns halten können, und ich will deshalb hier nicht zuviel wiederholen. Daß die Diskriminierung der arbeitenden Frau, soweit es sie bei den Tarifpartnern noch gibt, vom Tisch muß, ist klar. Wir wollen darüber nicht die Hausfrau vergessen; sie ist nämlich auch eine arbeitende Frau.
Wir wollen den Familienlastenausgleich verbessern. Das ist alles notwendig. Wir haben ja dazu eine gemeinsame Erklärung abgegeben.. Ich mache es ganz kurz, meine Damen und Herren, denn dieser 17. Juni liegt natürlich im Jahre 1969. Ich möchte nur noch eines sagen: Auf dem Gebiet der Sozialreform verzeichnen wir außer der Eigentumspolitik die Rentenpolitik und die Lohnfortzahlung. Das zeigt, mit welchem Geist wir an die Dinge herangehen. Nun wird es notwendig, die Krankenversicherungsreform durchzuführen und die Lage der Krankenhäuser zu verbessern. Ich meine, die jüngsten Beratungen dieses Bundestages haben gezeigt, daß es nur möglich ist, diese gesellschafts-und sozialpolitischen Fragen zu lösen, wenn a) der Ausgleich der berechtigten Interessen aller erfolgt — unsere Gesellschaft hat eben Arbeiter und Angestellte, sie hat freie Berufe, Unternehmer, sie hat Bauern, sie hat Mittelständler und nicht nur eine
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13280 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Dr. BarzelSchicht — und wenn wir b) die ökonomischen Belastungen und die finanziellen Auswirkungen für alle zumutbar, für alle tragbar und gerecht verteilen. Man kann zwar eine ganze Weile sagen: hier sprechen wir jetzt vom Steuerzahler, dort vom Subventionsempfänger, hier vom Rentner und dort von jenem; aber am Schluß muß die Zeche für alle stimmen. Denn die eine Volkswirtschaft muß das alles erbringen, und deshalb muß es eben auch finanziell richtig sein.Notwendig ist drittens die Stärkung unserer Wirtschaftskraft. Wer die Zahlen über den Fortschritt Japans liest — die Japaner haben andere Bedingungen; aber dies ist dennoch ein wichtiger Punkt für unsere Lage auf dem Weltmarkt —, wer die Zahlen über internationale Wirtschaftskraftvergleiche und -prognosen für die 70er Jahre liest, wer sieht, wieviel Geld wir immer noch trotz besten Bemühens für Subventionen allein im Bundeshaushalt ausgeben, ausgerichtet an Subventionen von gestern, wer das alles kennt, der weiß: wir werden eine große Anstrengung machen müssen, um unsere Wirtschaftskraft zu stärken. Dazu gehört auch die Rationalisierung unserer Volkswirtschaft durch Lösung der bekannten regionalen und sektoralen Strukturprobleme. — Das habe ich nun wirklich kurz gemacht, Herr Kollege Schmidt, und ich will diesen Teil schon bescheiden beenden.Es kommt aber noch ein Viertes hinzu. Viele Mitbürger sagen uns: Der Wiederaufbau ist zu Ende; das ist gut gegangen; die Bundesrepublik Deutschland steht solide da; aber von Europa sehen wir wenig, und die Wiedervereinigung steht nicht vor der Tür. Sie fragen uns: Und nun? Wenn wir diese Frage nicht aufnehmen, werden andere sie beantworten.Nehmen wir die Frage nach dem Rang der Nation auf, so müssen wir noch einmal sagen, daß Nationalismus hoffnungslos rückschrittlich ist, daß wir gegen alle anderen nichts erreichen, sondern nur mit ihnen. Zum anderen müssen wir ganz deutlich sagen — und das ist eine große Chance für die Deutschen —, daß die Zeit, in der militärische Stärke plus wirtschaftliche Kapazität und Produktivkraft vorwiegend oder allein den Rang der Nation bestimmen, vorbei ist. Immer mehr bestimmen den Rang der Nation die Arbeitskraft, die soziale Gerechtigkeit, die breite Bildung, die Wissenschaft, die wirtschaftliche Dynamik und die schöpferische Kraft. Das sind die entscheidenden Daten für den Rang einer Nation, und hier können wir, die Deutschen, noch eine Menge auch für uns tun.Für den letzten Redner in einer solchen Debatte ist es nicht ganz leicht, nicht nur nachzureden, und ich möchte einen Versuch machen, der, wenn ich richtig zugehört habe, von den beiden Vorrednern noch nicht unternommen worden ist. Das soll kein Vorwurf sein.Ich möchte versuchen, ein paar Sätze über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland zu sagen, wenn man sich das einmal von draußen ansieht. Wenn man dabei genauso nüchtern bleibt wie am Anfang, muß man sagen, daß wir mehr Achtung als Sympathie gefunden haben, weniger Freundschaft als Interessenidentität, aber eine ganz solide Verläßlichkeit der NATO- und EWG-Partner wahrnehmen. Wir erkennen, daß nicht überall in der Welt unser Wunsch nach freier Selbstbestimmung aller Deutschen als besonders dringlich angesehen wird. Auch hören wir Fragen über unseren künftigen Kurs, und wir nehmen unverminderte Feindschaft aus Ostberlin und aus Moskau wahr. Mancher im Westen fragt uns, ob wir nur noch Ostpolitik zu treiben gedächten. Die innerdeutsche Lage ist eher verhärtet. Unsere zur Verständigung ausgestreckte Hand wird von den Kommunisten bewußt als die raffinierte Tarnung einer Faust mißdeutet. Es ist gut, sich nichts vorzumachen — auch insoweit nicht. Unsere Antwort darauf sollte sein: Beständigkeit und Selbstvertrauen.Nach diesen Jahren einer demokratischen, rechtlichen und sozialen Wirklichkeit scheuen wir keinen Vergleich mit anderen Ländern. Zensuren oder oberlehrerhafte Töne weisen wir zurück. Mit unseren Randfiguren der NPD, der DKP und des SDS werden wir so fertig wie andere Länder mit den ihren. Wer uns dabei helfen will, der soll anerkennen, wie die demokratische Wirklichkeit in diesem Lande ist.
Wenn irgendwer draußen unsere Wirtschaftskraft rügt, ist er eingeladen, dieselbe Anstrengung zu machen. Es liegt doch nicht an uns, daß sie entgegen unserem Willen nicht noch stärker für Europa, für den Frieden, für die Entspannung eingesetzt werden kann. Wir bremsen doch diese Entwicklungen nicht, meine Damen und Herren!
Die, die überhaupt nicht aufhören wollen, uns Hitler vorzuwerfen, sollten uns bestimmt jetzt nicht drängen, uns mit der roten Diktatur zu arrangieren.
Wir sagen deshalb noch einmal — und da nehme ich etwas auf, was Herr Scheel vorhin in die Debatte eingeführt hat —: Es muß ganz klar sein: Wir sind keine Großmacht. Unser Beitrag zur Machtpolitik erschöpft sich im militärischen Beitrag zum Bündnis. Wir haben keine Atomwaffen und wir wollen keine; der Kanzler hat noch einmal die insoweit einstimmige Entschließung des Hauses verlesen. Wir sind nur geeignet und bereit zu einem weltpolitischen Engagement, soweit es menschliche, soziale, wirtschaftliche und wissenschaftliche Hilfe betrifft. Dies ist freilich auch unsere Aufgabe.Meine Damen und Herren, all denen, die nun draußen noch fragen: Was werdet ihr eigentlich machen?, die sagen: Nun ist der General de Gaulle — der Bundeskanzler hat ihm mit Recht gedankt — zurückgetreten, was werdet ihr nun real machen in eurer Politik gegenüber Großbritannien? Allen, die diese Fragen stellen, möchte ich sagen: wir tun uns den größten Gefallen, wenn wir gerade in diesem Bereich nach Westen wie nach Osten beständige Politik üben.
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Dr. BarzelDies sollte die einzige Sensation sein, die die Deutschen für manch bösen Kritiker draußen bereithalten, meine Damen und Herren. Wir sind — und das muß deshalb hier gesagt werden — weder bereit, die in den Römischen Verträgen festgelegte Konzeption für die Einigung des freien Europa zu verlassen, noch sind wir bereit, uns mit der Spaltung Europas abzufinden oder durch Vorleistungen und Verzicht Konzept und Möglichkeit einer europäischen Friedensordnung zu verraten.Unsere Politik ist beständig, sie ist argumentiert, sie ist jedermann erkennbar, und sie ist wegen ihrer gleichbleibenden Prinzipien durchaus berechenbar für jedermann draußen. Deshalb nicht jeden Tag auf diesem Gebiet etwas Neues sagen, sondern konsequent das einmal Begonnene weiter tun.
Das, was wir hier wollen, ist nicht eine Erfindung neuen Datums, sondern Inhalt des Grundgesetzes. Das Grundgesetz sagt, wir wollten eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa, um dem Frieden der Welt zu dienen. Das fassen wir jetzt zusammen mit „europäische Friedensordnung". Die Spaltung Deutschlands und Europas steht dem entgegen.Man muß auch einmal sagen, daß Breschnjew-Doktrin und europäische Friedensordnung wie Feuer und Wasser sind.
Nach dieser Doktrin begibt sich jeder in die dauernde Abhängigkeit von Moskau, bei dem einmal die Kommunisten die Macht übernommen haben. Wir wissen — und das gehört in diesen Bericht zur Lage der Nation —, was alles diesen Zielen, dem gesamtdeutschen und dem gesamteuropäischen, entgegensteht: Gegen die Einheit stehen der Wille und die Politik Moskaus, steht die Breschnjew-Doktrin, steht die Verfassung der „DDR" und steht auch der Vertrag zwischen Moskau und Ostberlin vom 12. Juni 1964.Wir scheuen uns auch nicht zu sagen, daß gegen den Fortschritt der Vereinigung im freien Europa manches steht, Bastionen des Gewohnten, hier oder da gar Nationalismus oder ganz einfach mangelnder Wille. Prinzipien und Reden, Verträge und Konzeptionen gibt es da wirklich genug.Auf die Dauer — entschuldigen Sie diesen nüchternen Beitrag in einer Zeit, wo manche meinen, es stehe ein europäischer Frühling vor der Tür; vielleicht sind wir gerade beim beginnenden Tauwetter, und ich glaube, das ist nicht die Landschaft, die ganz große, kühne, neue Konzepte trägt; außerdem lenken die manchmal vielleicht nur vom konsequenten Gehen des beschrittenen Weges ab — wir d der gemeinsame Agrarmarkt als Motor für die EWG nicht genügen. Da muß auch politisch mehr hinzukommen. Deshalb unterstützen wir die Position, die der Kanzler in dieser wie in den anderen Fragen hier ganz klar zu den aktuellen Problemen eingenommen hat.Wir hatten schon einmal eine solche Situation, Herr Bundesaußenminister. Das war voriges Jahr, drei Tage, bevor das Parlament in die Ferien ging.Diesmal geht es zu einem löblicheren Tun, wie wir alle wissen. Es ist vielleicht ganz gut, die Auffassung der Fraktion der CDU/CSU und die ganz nahtlose Identität mit der des Kanzlers festzuhalten, weil dieses Haus nicht da sein wird, wenn die Regierung in den nächsten Monaten gemeinsam wird Politik machen können und müssen.Wir unterstreichen deshalb ganz präzise:Erstens: Nötig sind ein Treffen der europäischen Regierungschefs, die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Beitrittswilligen und der EWG, die Öffnung des Gemeinsamen Marktes für die Neutralen, sofern sie das wollen, der zügige Ausbau der Gemeinschaft und der sichtbare Beginn der politischen Zusammenarbeit.Zweitens: Wir sagen ja zu den Bemühungen um die Sowjetunion, ja zu dem Gespräch mit den Verantwortlichen in Ostberlin, ja zum Gespräch mit Polen wie mit allen europäischen Ländern, ja zur gesamteuropäischen Kooperation, ja zur Erklärung der Bundesregierung vom 30. Mai 1969 und ebenso entschieden nein zur Anerkennung der „DDR" und nein zum Verzicht auf deutsches Gebiet ohne Friedensvertrag.
Meine Damen und Herren! Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen ist für eine 'europäische Friedensordnung so fundamental, wie es die zwischen Deutschland und Frankreich war. Diese Frage steht in einem fundamentalen Zusammenhang mit der Lösung der deutschen Frage; denn nicht nur alle Polen, auch alle Deutschen wollen in gesicherten Grenzen zusammenleben. Dies wird man nicht erreichen, wenn Unlegitimierte irgendwelche, und seien es auch nur politische, Absichtserklärungen des Verzichtes abgeben. Was heißt denn „Friedensordnung"? Das heißt Zusammenleben ohne Gewalt unter der Herrschaft des Rechtes. Und Recht, also die Basis der Ordnung, insonderheit neues Recht, wird doch für Demokraten nur verbindlich durch die Zustimmung aller Beteiligten. Dies heißt Friedensordnung und sonst gar nichts.In diesen Zusammenhang gehören noch wenige Dinge. Zur Lage gehört auch, daß eine Million Deutsche heute weder hier noch drüben, sondern in den östlichen unter fremder Verwaltung stehenden Teilen lebt. Ihre wirtschaftliche und ihre kulturelle Situation entzieht sich zwar unserer direkten Einwirkung, aber nichts enthebt uns der Pflicht, die Lage dieser Deutschen, wo immer möglich und wie immer möglich, zu verbessern. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung im zuständigen Ausschuß hierüber Mitteilungen machen könnte. Die europäische Menschenrechtskonvention ist hier der Maßstab. Und wenn es zwischen Polen und Deutschland etwas zu besprechen gibt, dann sicher zunächst auch dies: die Lage der deutschen Menschen in den unter fremder Verwaltung stehenden Teilen.
Meine Damen und Herren, das andere, was in den Zusammenhang gehört — und noch einmal sehe
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Dr. Barzelich jetzt den Kollegen Scheel an —: Wenn hier Fragen diskutiert werden, die Kambodscha oder arabische Länder durch unfreundliche Handlungen gegenüber Deutschland aufgeworfen haben, dann gehört in dieses Bild auch die weltpolitische Lage, und dazu gehört immer wieder zuerst die Ohnmacht der Europäer, die daran selbst schuld sind, weil sie sich nicht einigen. Dazu gehören aber auch das veränderte Engagement der USA in Asien und die verhärtete Spannung im Nahen Osten. Die deutschen Probleme stehen dabei für andere in der Regel nicht im Mittelpunkt.Wir dürfen nicht übersehen, daß Ostberlin in zunehmendem Maße seinen aggressiven Geist in außenpolitische Aktivität umsetzt. Die Schlagzeile des Zentralorgans der SED „Neues Deutschland" vom 25. August 1968 hieß: „In Prag regiert der Zionismus". Sie stimmte auf gespenstische Weise mit der des „Völkischen Beobachters" zum Einmarsch von 1938 überein. Dort hieß es: „In Prag regiert das Judentum". Meine Damen und Herren, nicht nur als ideologischer Besserwisser — das haben wir ja oft genug dargetan —, sondern auch als außenpolitischer Vormund spielt sich Ostberlin gegenüber den kleineren osteuropäischen Partnern auf.Da gibt es etwas, was man eine Ulbricht-Doktrin der wirtschaftlichen Bevormundung osteuropäischer Staaten nennen könnte. Sie besagt, daß das kommunistische Außenhandelsmonopol der COMECON-Länder diese Regierungen eigentlich verpflichte, ihre Außenhandelsunternehmen vom Westhandelabzuhalten. Sie sagt, Handelsfragen seien unter dem Aspekt der Ost-West-Auseinandersetzung zu sehen, und man solle seinen Bedarf im COMECON-Bereich decken, mit anderen Worten: bei Ulbricht. Auch hier wird der aggressive Geist Ostberlins in der wirtschaftlichen Bevormundung osteuropäischer Länder deutlich. Die Spatzen pfeifen es ja von den Dächern, was immer in Kommuniqués steht, daß die Gesinnung Ostberlins in osteuropäischen Hauptstädten zunehmend Antipathien wachruft. Wir werden auch deshalb dafür zu sorgen haben, daß durch unsere Bereitschaft zum Ausgleich und zur Verständigung und durch unsere Präsenz in diesen Ländern der deutsche Name in diesem Bereich nicht abermals total unter die Räder gerät.Das Dritte, was ich hierzu sagen möchte, damit man weiß, wie unsere Meinung ist, auch wenn die Politik dann ohne dieses Parlament weitergeht: Wir beurteilen den Budapester Aufruf der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes und ihre Einladung zu einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz skeptisch, weil diesen Worten ganz andere Taten entgegenstehen. Die Taten sind die Ablehnung der konkreten Gesprächsangebote des Bundeskanzlers, der Einmarsch in die Tschechoslowakei, die Breschnew-Doktrin, die Militärdoktrin der „DDR" und die Verhinderung diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland, die Mauer in Berlin und der Todesstreifen durch unser Land. Das sind die Realitäten. Man muß beides sehen, die Worte und die Realitäten, und man muß die Mahnung von Henry Kissinger beherzigen, nicht den Wechsel derTonart schon für etwas Neueues oder gar für Entspannung zu halten.
Zu den Fakten gehört schließlich, daß die NATO-Initiative von Reykjavik vom vorigen Jahr zu Entspannung und zu Abrüstungsmaßnahmen bisher von drüben ignoriert worden ist. Nur wenn dies alles im Blickfeld ist, nur dann und nur soweit scheint es uns sinnvoll, auf diplomatischem Wege auszuloten, ob und wo und wie hier Ansätze sein könnten, um unser Ziel schrittweise zu erreichen: Kooperation statt Konfrontation, Gleichberechtigung statt Hegemonie und Partnerschaft statt Rivalität.Eine europäische Friedensordnung ist mehr als das Festschreiben des Status quo. Soll deshalb ein europäisches Sicherheitssystem ein Schritt auf dem Wege zur Friedensordnung hin sein, dann müssen schon die Spannungsursachen Hand in Hand mit den Sicherheitsproblemen behandelt und gelöst werden. Wir begrüßen deshalb die Feststellung des holländischen Außenministers, der als Vorsitzender der letzten Konferenz des WEU-Ministerrats für alle seine Kollegen dort erklärt hat, daß nur bei Fortschritten in den deutschen Problemen eine solche Konferenz sinnvoll sei. Käme es unter dieser Voraussetzung zu einer solchen Konferenz, so stellte sich das Problem der Beteiligung der Deutschen. Wir meinen, es wäre lösbar ohne die völkerrechtliche Anerkennung der „DDR", z. B. nach dem Modell von 1963. Wir haben das kürzlich in der Öffentlichkeit dargetan. Ich nehme darauf Bezug.Vor allem aber nehme ich Bezug auf eine Äußerung des Herrn Bundesaußenministers, die ich heute in der Presse gelesen habe und für die ich mich sehr bedanke. Danach hat er gesagt, eine solche Konferenz habe doch gar keinen Sinn, wenn es nicht mindestens innerdeutsche Gespräche gebe. Das ist ein gutes Wort. So haben auch wir uns hier schon in der letzten Debatte zu dieser Frage eingelassen. Deshalb noch einmal: Walter Ulbricht hat es in der Hand zu zeigen, wie ernst die Worte des Aufrufs gemeint sind. Solange seine Taten nur die sind, das Gesprächsangebot des Kanzlers abzulehnen, halten wir von allen anderen Worten in diesem Dokument nicht sehr viel.Wie die Dinge liegen und wie der Einmarsch in die Tschechoslowakei beweist, hängen unsere Freiheit wie der Nichtkrieg in Europa — und mehr haben wir ja leider nicht — von der wirksamen Abschreckung durch die NATO ab. Von dieser Stelle aus hat Präsident Nixon das mit eindrucksvollen Worten dargetan. „Sicherheit durch Entspannung" ist ein schönes Ziel, wert es zu wünschen und dafür zu arbeiten. Aber real ist allein Sicherheit durch Bündnis mit eigenem Beitrag. Nur wer diese Realität sieht, wird davor gefeit sein, daß er eines Tages — nach Spaziergängen durch Wolkenkuckucksheime — in der Realität äußerer Gewalt und innerer Unfreiheit aufwacht.
Ich finde es gut, daß die Bundesregierung die Ideedes Präsidenten der USA aufgenommen hat, die dritteDimension in der NATO: die gesellschaftpolitische
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13283
Dr. BarzelZusammenarbeit, und ich werde mir wohl erlauben dürfen, auf die Reden des Kollegen Fritz Erler und auch auf die des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Beginn dieser Legislaturperiode hinzuweisen, in denen beide von der Notwendigkeit der gesellschaftspolitischen Zusammenarbeit auch in diesem Bündnis gesprochen haben.Meine Damen und Herren, wer zur Sicherheit ja sagt, muß zur NATO ja sagen. Wer zur NATO ja sagt, muß zum deutschen Beitrag ja sagen, und das geht nicht, ohne daß man zur Bundeswehr, zu den deutschen Soldaten und den Wehrpflichtigen, ja sagt. Auch dies gehört in den Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland.
Da gibt es ein paar Probleme, die wir kennen. Wir haben begonnen, einige zu lösen; andere Sorgen untersuchen wir. Ich glaube, dieses Haus ist es der Bundeswehr schuldig, sie spüren zu lassen, daß sie in jeder Weise von der ganz großen Majorität dieses Hauses und auch von der Dankbarkeit des eigenen Volkes getragen wird.
Herr Präsident, ich hoffe, meine Zeit nicht überschritten zu haben. Ich fasse zusammen. Eine gute Zukunft haben wir nur zusammen mit anderen Völkern. Das ist die Basis unserer Politik nach außen. Die Basis unserer Politik nach innen muß heißen: Toleranz, Beachten der Freiheit des anderen. Was wir nach außen und nach innen erstreben, heißt: Herrschaft des Rechts, und das heißt zuerst: Menschenrechte. Die Menschenrechte sind der Schlüssel zum dauerhaften Frieden. Diesen gibt es nur, nach innen wie nach außen, in einer politischen Versammlung wie im ganzen Volk, durch Verzicht auf Gewalt und durch Rücksicht auf das Recht des anderen.
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesvorsitzende der Freien Demokraten hat heute am frühen Nachmittag — und ich denke, das war sehr zu begrüßen — zunächst und vor allem von dem gesprochen, was uns an diesem Tag und über diesen Tag -hinaus im Ringen um Deutschland und um den deutschen Beitrag in Europa und für den Frieden in der Welt miteinander verbindet. Herr Kollege Scheel hat dann — und das wird auch jeder verstehen — das kritisch unter die Lupe genommen, was hier über die Arbeit der gegenwärtigen Bundesregierung gesagt worden ist. Das ist nicht nur sein Recht, sondern es ist seine Pflicht. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß die Zusammenarbeit von zwei annähernd gleich großen Parteien in einer Regierung der Großen Koalition gar nicht immer so einfach ist. Aber heute hat sich herausgestellt, daß es auch gar nicht so einfach ist,die Arbeitsergebnisse ernsthaft zu kritisieren, denndiese Arbeitsergebnisse können sich sehen lassen.
Wir haben auf mehr als einem Gebiet mehr erreicht, als wir uns vorgenommen hatten. Damit meine ich nicht nur die Gleichstellung der Arbeiter mit den Angestellten auf dem Gebiet der Lohnfortzahlung. Der Bundeskanzler, der einen gedrängten Bericht geben wollte, hat manches, was auch sonst noch geleistet wurde, gar nicht mehr mit einbeziehen können. Ich denke z. B. an die wichtigen Tätigkeiten, die der Bundesverkehrsminister für die Fortentwicklung der Verkehrspolitik eingeleitet hat.
Wahr ist, daß auf dem Gebiete des Wahlrechts keine Fortentwicklung stattgefunden hat. Aber gerade dies wird ja wohl die FDP der Regierung der Großen Koalition nicht übelnehmen,
wie man die Materie sonst auch beurteilen mag.Meine Damen und Herren, mir ist in Verbindung mit dem heutigen Tag, mit dem 17. Juni, mehrmals ein Absatz aus einem sehr nachdenkenswerten Aufsatz von Professor Scheuner durch den Kopf gegangen; ich möchte ihn im Zusammenhang mit meinem Beitrag dem Hohen Hause vortragen. Ulrich Scheuner sagt:Die Überwindung der deutschen Trennung besitzt nach 25 Jahren nicht mehr die gleiche natürliche Evidenz wie am Anfang der Teilung eines Volkes. Sie kann jedenfalls nicht allein mehr aus dem Rückblick auf die erfolgte Zerspaltung dieser Einheit und aus dem historischen Anspruch ihre Forderung begründen, sie muß vielmehr nun sich einfügen in ein Bild der Zukunft, das über nationale Ziele hinaus die Ordnung der europäischen Völker als ein Ganzes in den Gesichtskreis einbezieht.Und wenn das so ist, dann wäre es verlockend, heute nicht nur die Frage mit stellen zu dürfen, sondern sie auch als Bundesminister des Auswärtigen beantworten zu können, welche realen Chancen es wohl jetzt gibt, ob es stärkere reale Chancen als bisher gibt, auf dem Wege zur Einigung Europas — lies jetzt konkret: Westeuropas — wirklich voranzukommen.Ich denke, es hieße die Geduld des Hohen Hauses überfordern, eine solche Antwort heute im einzelnen versuchen zu wollen. Immerhin, meine Damen und Herren, eines ist in diesen Tagen deutlich geworden, nämlich daß sich das französische Volk doch wohl im wesentlichen für die Kontinuität der V. Republik ausgesprochen hat. Was immer man davon sonst halten mag — Kontinuität ist das Gegenteil von Unruhe.Mit dem neuen französischen Staatspräsidenten, dem wir, wie der Herr Bundeskanzler es gesagt hat, für seine große Aufgabe Erfolg wünschen, und der Regierung, die er berufen wird, wird die Bundesregierung wie mit ihren anderen Freunden und Part-
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13284 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Bundesminister Brandtnern innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft eine neue Prüfung unternehmen müssen, wie Europa vorangebracht werden kann. Dabei wird das langsamste Schiff die Geschwindigkeit des ganzen Geleitzuges bestimmen. Wir hoffen, daß in Kürze mehr Regierungen als bisher ihren Ehrgeiz darein setzen werden, die Geschwindigkeit des Geleitzuges zu steigern. Jedenfalls sind wir uns alle darüber einig, denke ich, daß das Kommando „Volldampf voraus!", allein für die Bundesrepublik gegeben, noch nicht ausreicht, um der europäischen Flotte eine gute Fahrt zu sichern.Meine Damen und Herren, ich denke also, es hat sich gezeigt, daß es keinen Automatismus, kein einfaches Überschlagen vom Ökonomischen ins Politische gibt, wo es um die Einigung Europas geht. Ich fürchte, wir haben erfahren und werden es noch erfahren, daß wir nicht kurz vor der Bildung eines europäischen oder westeuropäischen Bundesstaates stehen, sondern daß wir froh sein können, wenn wir auf politischem Gebiet zu wirklicher Konsultation und qualifizierter Zusammenarbeit zwischen den dazu bereiten Staaten kommen können, wobei die Bereiche der ökonomischen und der politischen Zusammenarbeit nicht voll deckungsgleich sein müssen. Ich fürchte, wir können froh sein, wenn wir in der nächsten Runde mehr Mitwirkungsrechte für die bestehenden parlamentarischen Körperschaften in Europa erreichen, statt hier den darauffolgenden Schritt, nämlich den der direkten Wahl, vorweg vollziehen zu wollen. Jedenfalls wird es aber — hier stimme ich den Punkten zu, die Herr Kollege Dr. Barzel soeben vorgetragen hat — sehr darauf ankommen, die wichtigen Fragen des inneren Ausbaus der Gemeinschaft, vor allen Dingen auf dem Gebiet der Agrarpolitik und Agrarfinanzierung, und die monetären Probleme mit Sicht auf eine gemeinsame europäische Währung im inhaltlichen Zusammenhang zu sehen mit den Beitrittsverhandlungen und dem Verhältnis einer sich erweiternden EWG zu den übrigen europäischen Staaten, nicht zuletzt zu den nichtgebundenen und neutralen, wie unseren südlichen Nachbarn, der Schweiz und Osterreich.Die Lage der Nation ist an diesem Nachmittag vielfach beschrieben worden. Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die meisten von uns der Meinung, daß sie Anlaß zu Besorgnis gibt. 20 Jahre Bundesrepublik entsprechen 20 Jahre DDR. Aus dem Wiederaufbau hier wie drüben, in dem Erfolg für die Menschen unvergleichbar, ist eine Verfestigung und eine Konsolidierung der Spaltung geworden, abermals unvergleichbar, was den Raum der Freiheit und die Möglichkeiten zur Entfaltung des einzelnen angeht. Die Qualität unserer staatlichen Existenz als Bundesrepublik Deutschland, unsere Ablehnung eines anderen Gesellschaftssystems, einer kommunistischen Einparteienherrschaft, besagt noch nichts über die Dauer der Spaltung und über die Dauer der staatlichen oder der quasi staatlichen Organisation des von uns getrennten Teils der Nation. Die Grundordnungen in beiden Teilen Deutschlands unterscheiden sich heute mehr denn je in ihren Strukturen und in ihren Zielsetzungen. Dies, denke ich, ist in der Erklärung des HerrnBundeskanzlers ganz klargeworden. Die beiden Grundordnungen existieren, und es ist an uns, aus diesen Tatsachen Konsequenzen zu ziehen.Diese Bundesregierung hat, als sie sich am 13. Dezember 1966 die Richtlinien ihres Verhaltens gab, die von diesem Bundestag bestätigt wurden, begonnen, diese Konsequenzen für sich zu ziehen. Sie wollte dem Werk des Friedens nach West, Nord und Süd, wo immer es geht, die Versöhnung und den Frieden nach Osten hinzufügen. Dies ist in der Tat ein Vorhaben, das von niemandem in zweieinhalb Jahren gelöst werden kann. Es braucht dazu viel mehr Zeit. Es gibt keine Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die für die Bundesrepublik im Interesse der Nation eine andere elementare Aufgabe als diese vorfinden oder sich wählen könnte.Herr Präsident, ich bitte noch einmal zitieren zu dürfen. Professor Karl Kaiser schreibt dieser Tage:Die Frage, ob die Ostpolitik der Bundesrepublik gescheitert sei, kann nur dann bejaht werden, wenn man ihre Reichweite als kurz- oder mittelfristig betrachtet. Als der entscheidende Sprung bei der Gestaltung dieser Politik unter der Großen Koalition geschah, ließen ihre Autoren keinen Zweifel daran, daß die Ziele langfristig und sofortige Ergebnisse daher unwahrscheinlich waren, da ihr letztes Ziel in der Schaffung einer neuen Friedensordnung in Europa bestand, welche die Ost-West-Teilung des Kontinents überwinden sollte.Professor Kaiser sagt weiter:Da die Ostpolitik der Bundesregierung als eine langfristige Politik konzipiert war, die auf eine Verwandlung der Struktur des internationalen Systems zielte, kann ihr Erfolg oder Mißerfolg nur über einen entsprechenden Zeitraum hin beurteilt werden. Zweieinhalb Jahre können hiervon nur einen Bruchteil darstellen. Wenn schon Urteile gefällt werden, so sollte auch nicht verschwiegen werden, daß im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1968 das Ansehen der Bundesrepublik als einer Kraft des Ausgleichs und der Mäßigung in Zentral- und Südosteuropa gestiegen ist, was auch immer viele der gegenwärtigen Führungskräfte in diesen Ländern darüber sagen mögen. Weder sind die prinzipiellen Motive, die die Große Koalition einen neuen Weg nach Osteuropa wählen ließen, nach den Ereignissen des Jahres 1968 ungültig geworden, noch gibt es eine rationale Alternative zu der Politik der Entspannung.So weit Professor Kaiser.Meine Damen und Herren, ich greife diesen Satz von der nicht vorhandenen realen Alternative und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, allen Schwierigkeiten zum Trotz und auch weiterhin unvermeidbaren Rückschlägen zum Trotz immer wieder zu versuchen, das Verhältnis zur Sowjetunion und den anderen Staaten Osteuropas zu normalisieren, auf. Dies ist ein mühsames Werk, das versteckte und offene Gegner in Ost und West findet. Es gibt nicht
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Bundesminister Brandtnur in einer Himmelsrichtung Nutznießer der deutschen Spaltung und Interessenten an der Teilung des deutschen Volkes, dessen wirtschaftliche Kraft manchen noch dann zu groß ist, wenn es in der Bundesrepublik 60 Millionen Menschen umfaßt. Wir sind aber, denke ich, nicht geneigt, uns für den Fleiß unserer Menschen und die Ergebnisse harter Aufbauarbeit bei anderen zu entschuldigen,
dies um so weniger, als die Bundesrepublik Deutschland, seit sie existiert, weiß Gott genügend Beweise ihrer Bereitschaft gegeben hat, für Europa auch Opfer zu bringen. Man sollte, so denke ich, niemals übersehen, daß in der ganzen Diskussion über Änderungen des Grundgesetzes niemals jene Formel in Frage gestellt worden ist, mit der sich unsere Bundesrepublik bis heute als einziger Staat bereit erklärt hat, zugunsten eines supranationalen Europa auf weitere Teile ihrer Souveränität zu verzichten.
Wenn es an uns und an uns allein gelegen hätte, brauchten wir heute nicht mehr über die Teilung zu sprechen. Wenn es an unseren Landsleuten drüben gelegen hätte, dann würde der Bundeskanzler heute in Berlin zur Lage der Nation gesprochen haben.
Dies ist einer der historischen Aspekte des 17. Juni 1953.Deutschland, unverrückbar im Zentrum Europas, hat allein nicht die Kraft und die Möglichkeit, die Spaltung unseres Kontinents und unseres Landes — ein Ergebnis des zweiten Weltkrieges — zu überwinden. Wir brauchen dazu die Hilfe unserer Freunde, wir brauchen dazu dann aber auch, gestützt auf das Eingebettetsein in die atlantische, die westliche und die westeuropäische Gemeinschaft, irgendwo die Mitwirkung der Sowjetunion, der Völker und Regierungen Ost- und Südosteuropas, wenn wir vorankommen wollen.Es bedarf auch eines Minimums an Kooperationsbereitschaft seitens der Regierung ,in Ostberlin. Den Willen der Menschen dort können wir ohnehin unterstellen. Diese Mitwirkung der Regierung in Ostberlin ist bisher ausgeblieben, und keiner der vielen oft gut gemeinten Vorschläge oder Ratschläge, die man uns hier oder von seiten unserer Freunde gibt, kann über die fundamentale Tatsache hinwegtäuschen, daß die Spitze der DDR die Entkrampfung des innerdeutschen Verhältnisses nicht will. Sie hat bisher alle unsere Vorschläge abgelehnt und neue Bedingungen gestellt, darunter solche, von denen sie wußte und weiß, daß sie unannehmbar sind. Sie hat sich damit nicht nur gegen die Interessen unseres eigenen Volkes, sondern auch gegen die Wünsche und Absichten der anderen Völker gestellt, die an Fortschritten in der Entspannung und Entkrampfung des Ost-West-Verhältnisses interessiert sind.Dies ist der Grund dafür, daß man in Ostberlin meiner Überzeugung nach auf die Dauer nicht bei der Haltung des Kalten Krieges wird bleiben können. Ich denke im Anschluß daran, wenn ich das noch sagen darf, an den letzten Teil der Ausführungen von Herrn Kollegen Barzel, daß wir einen ersten interessanten Hinweis auf das, wovon ich gerade spreche, nach dem Budapester Appell der Warschauer Paktstaaten vom 17. März dieses Jahres erhalten haben. Dieser Appell, wie immer man ihn sonst beurteilt — jedenfalls muß man ihn mit sehr viel Skepsis beurteilen —,
mag bei manchen Beteiligten neben vielem anderen auch Ausdruck des Wunsches gewesen sein, Gräben zuzuschütten.
Er hat deshalb und weil er sonst völlig aussichtslos verhallt wäre, auf die Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR verzichtet. Die Regierung in Ostberlin — das ist interessant — hat dieses Budapester Papier unterschrieben. Im Gegensatz dazu sind danach offizielle Erklärungen führender Funktionäre der DDR abgegeben worden, in denen die völkerrechtliche Anerkennung zur Voraussetzung jeder Verhandlung gemacht wurde. Hier hat man also in Ostberlin selbst den Boden dessen verlassen, was man in Budapest zusammen mit den anderen Staaten des Paktes zu Papier gebracht hatte. Hier wird versucht, die osteuropäischen Regierungen einschließlich der Sowjetunion zu einer verschärften Haltung zu bewegen. Wenn sich diese Regierungen die Forderungen Ostberlins zu eigen machen, müssen sie wissen — so möchte ich meinen —, daß man den Budapester Appell nicht weiter ernsthaft wird beachten können, da der Gedanke einer europäischen Sicherheitskonferenz in den Jahren, die vor uns liegen — wie immer er sonst in das Nachdenken über eine Friedensordnung hineinpaßt —, Theorie bleibt. Ich denke, wir werden alle gut daran tun, aufmerksam zu verfolgen, ob das Wort der Sowjetunion, daß an das Zustandekommen einer europäischen Sicherheitskonferenz in den kommenden Jahren keine.. Voraussetzungen geknüpft werden, in und durch Ostberlin korrigiert wird.In der NATO hat man sich darauf verständigt, auszuloten, was in diesem Vorgang enthalten sein könnte. Man hat sich darauf verständigt, die verschiedenen bilateralen Kontakte in der zweiten Hälfte dieses Jahres in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen und Ende des Jahres zusammenzufassen, ob und wo sich Gebiete gemeinsamen Interesses abzeichnen sollten. Man hat sich weiter darauf verständigt — ohne zu glauben, daß dies ein Thema der nächsten Monate, vermutlich nicht einmal des nächsten Jahres ist —, zu sagen: Wenn das Thema aktuell wird, kann und darf es keine Vorbedingungen geben. Dann müssen die noramerikanischen Partner der atlantischen Allianz mit gleicher Selbstverständlichkeit dabeisein, wie die Sowjetunion meint dabei sein zu sollen, dann bedarf es einer gründlichen Vorbereitung, und dann muß die Mindestchance eines Teilerfolges gegeben sein, weil sich sonst die Lage in Europa nicht verbessern, sondern verschlechtern würde.Hier kommt der Gedanke herein, von dem Herr Kollege Barzel soeben sprach und den der niederländische Außenminister auf Grund einer von uns
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13286 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969
Bundesminister Brandtangeregten Diskussion öffentlich dargetan hat. Mir liegt daran, hier ein Wort zusätzlicher Klarstellung zu sagen, weil im Anschluß an die Tagung der Westeuropäischen Union hier und da vermutet worden ist, jetzt habe der Außenminister der Bundesrepublik seinerseits eine europäische Vorbedingung formulieren wollen, indem er sage, nur wenn das und das zwischen Bonn und Ostberlin passiert sei, könnten andere Dinge in bezug auf europäische Sicherheit und Friedensordnung erfolgen. In Wirklichkeit geht es doch um folgenden Doppelgedanken. Es geht in diesem Augenblick überhaupt nicht um das Etikett mit der Bezeichnung des Jahrgangs, also gewissermaßen darum, wann und wo nächste Woche eine Konferenz stattfindet. Das ist ja gar nicht das Thema. Es geht um inhaltliche Fragen und um den Hinweis darauf: wenn sich nicht bis zu dem Zeitpunkt, zu dem man ernsthaft über europäische Sicherheit und eine Friedensordnung reden wird, einiges auf dem Boden des geteilten Deutschlands verändert hat, würden die querelles allemandes und das, was sie ausstrahlen, im Grunde die Erfolgschancen einer solchen Unternehmung oder Teilunternehmung zerstören oder unheilvoll belasten. Bei dieser Auffassung bleibe ich, und die hat auch durchaus Zustimmung im Kreise unserer westeuropäischen Partner gefunden. Es wäre nicht nur tragisch, es wäre aussichtslos, wenn man vom anderen Teil Deutschlands aus den Versuch fortsetzen wollte, Verbesserungen des Ost-West-Verhältnisses zu blockieren. Die einzige Folge wäre, daß andere — die anderen, wenn man so will — Deutschland umgehen, vielleicht mit Bedauern, vielleicht mit Achselzucken über jenes seltsame Volk in der Mitte Europas, das so tüchtig ist in der Arbeit wie in der Selbstzerfleischung.Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion jedenfalls werden sich vermutlich nicht daran hindern lassen, ihre geplanten Gespräche zur Begrenzung des Wettrüstens auf dem Gebiet der interkontinentalen Zerstörungsmaschinen zu beginnen. Und wir können gar nichts anderes als zu begrüßen, daß diese Möglichkeit wahrgenommen wird, den Frieden zu festigen, ohne die Sicherheit zu gefährden. Wir werden aber darauf zu achten haben, daß unsere Interessen in den sorgfältigen und sicher nicht einfachen Konsultationen zur Geltung kommen. Dabei kann die Haltung dieser und einer anderen Bundesregierung gar nicht anders als konstruktiv sein, weil wir wissen, daß die Interessen der Vereinigten Staaten an der Erhaltung des sicheren Friedens in Europa auf der Basis einer glaubhaften Abschreckung nicht geringer sind als die unseren.Es ist also kein Widerspruch, wenn wir für ein geschlossenes Bündnis sind und dennoch mit anderen zusammen in dem hier zitierten Beschluß von Reykjavik vom Juni 1968 — bestätigt in Washington, NATO-Konferenz April 1969 — neben dem Hinweis auf . die Verläßlichkeit und Festigung des Bündnisses die Bereitschaft zu gleichmäßigen und gleichwertigen Truppenreduzierungen bekunden. Es ist kein Widerspruch, wenn wir in Genf Abrüstungsvorschläge gemacht und die Rechte der nicht nuklearen Staaten gefestigt haben und dennoch für dienotwendigen Maßnahmen des Bündnisses nach der Besetzung der Tschechoslowakei mit eingetreten sind. Denn es ist eben kein Widerspruch, bereit zu sein zur Entspannung und zur Versöhnung und gleichzeitig für die eigene und kollektive Sicherheit zu sorgen.
Die Bundesrepublik Deutschland kann ihre Ostpolitik nur von der Basis ihres Bündnisses her verfolgen. Sie hat es verstanden, glaubhaft dem Verdacht zu entgehen, sie, die Bundesrepublik, sei ein Störenfried; diese Rolle haben heute andere. Wenn uns ein durchschlagender Erfolg unserer Politik der ausgestreckten Hand bisher versagt geblieben ist, so liegt dies daran, daß im Rückblick das Jahr 1968 für Europa ein böses Jahr gewesen ist.Neben allem anderen liegt die Tragik der Ereignisse in der Tschechoslowakei und um diese darin, daß sie Fortschritte in der Überwindung, mindestens in der Milderung der Spannungen zwischen den beiden Teilen Europas verhindert haben. Wir können heute sagen, daß die Entwicklung nicht umgekehrt worden ist; sie wurde aufgehalten — aber eben aufgehalten — und kommt erst langsam und nur widerspruchsvoll in Gang.Einer der besonders bemerkenswerten Faktoren war ja die kürzliche Rede des polnischen Parteichefs Gomulka, die ihre volle Würdigung wohl erst noch wird erhalten müssen. Der Bundeskanzler und ich selbst haben auf die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 hingewiesen, in der wir unser Verständnis für den Wunsch des polnischen Volkes I ausgedrückt haben, in gesicherten Grenzen leben zu wollen. Aber auch zur Lösung dieses Problems werden wir Zeit brauchen.Ich darf noch zwei Bemerkungen machen, meine Damen und Herren. Die eine bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Außenpolitik und Innenpolitik. Es ist gut, sich an einem Tag wie diesem daran zu erinnern, wie sehr eine gute und stabile, möglichst vorbildliche Ordnung im Innern den Rang und die Rolle mitbestimmt, die ein Volk in der Welt spielt. Wir erleben alle Tage, daß ein demokratischer Staat keine überzeugende, erfolgreiche Außenpolitik treiben kann, wenn ihr die innenpolitische Deckung fehlt.
Dazu hat während der Weimarer Republik Stresemann Worte gesagt, die auch heute noch beachtenswert sind. In der heutigen Lage könnte man auch ein Lied davon singen, was diesen Zusammenhang zwischen Innenpolitik und Außenpolitik angeht.Nach dem ersten Weltkrieg wurden die Chancen der deutschen Demokratie vertan. Reaktionäre Demokratiefeindlichkeit und engstirniger, bösartiger Nationalismus führten zum Abgleiten in das, woran wir gar nicht mehr so gerne zurückdenken, und dann in die Massenzerstörung.Nun geht es nicht nur darum, dem Extremismus zu wehren — so wichtig das ist —, sondern es geht — zusätzlich zum Angehen gegen den sich gegenseitig hochschaukelnden Exremismus von bei-
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Bundesminister Brandtden Seiten — darum, auch der Spekulation auf die Borniertheit klar entgegenzutreten und die Vernunft unseres Volkes, die sich aus einer teuer genug erkauften Erfahrung ergibt, stark dagegenzusetzen. Ich meine, man muß eine maßvolle, aber selbstbewußte Politik betreiben, die sich an den eigenen Interessen orientiert, aber auch die Interessen anderer sieht und sich um einen gemeinsamen Nenner bemüht. Man muß nicht nur vor Illusionen auf der Hut sein, sondern Unterwürfigkeit ebenso vermeiden wie Kapitulation und Verzicht auf legitime Interessen. Aber man muß dabei wissen — und es dort, wo es nötig ist, auch sagen —, daß der Nationalismus Gift ist für Deutschland und für Europa
und daß heute ein guter Deutscher kein Nationalist sein kann.Hier ist zweimal in der Debatte — ohne daß mein Name damit in Zusammenhang gebracht wurde — dagegen polemisiert worden, daß irgendwo von der Harzburger Front gesprochen wurde. Es wäre feige, wenn ich nicht ein Wort dazu sagen würde; denn ich war ja gemeint. Erstens — das ist nur eine Kleinigkeit — war die Rede von einer Miniausgabe der Harzburger Front, und zweitens war für denjenigen, der den Text nachliest, von keiner Partei die Rede, weder von der CDU, noch von derjenigen, deren Buchstaben ich jetzt nicht aussprechen und am liebsten auch nicht im nächsten Bundestag sehen möchte, sondern es war allein die Rede von zwei Presseorganen, die sich — und dabei bleibe ich, das kann ich nicht zurücknehmen — zu einer Reihe von Gegenständen fast inhaltsgleich geäußert haben. Deshalb gab es diese zugespitzte Formulierung, und meine Befriedigung darüber, daß das, was gemeint wurde, auf Grund einer — wie ich zugeben muß -sehr zugespitzten Formulierung in diesen Tagen und Wochen zu einer begrüßenswerten Klärung geführt hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Barzel, Herr Minister?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne.
Bitte, Herr Dr. Barzel.
Herr Kollege Brandt, was würden Sie davon halten, wenn ich unter denselben Konditionen und denselben Vorbedingungen und Einschränkungen, gestützt auf die eine oder andere schriftliche Äußerung, dann von „Mini-Volksfront" sprechen würde?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde das für eine nicht sehr gelungene Retourkutsche halten, Herr Kollege Barzel,
zumal Sie dafür nicht ein Blatt heranziehen könnten, das immerhin von dem Vorsitzenden einer der Koalitionsparteien herausgegeben wird.
Ich bin gern bereit, diesem Thema an anderer Stelle weiter nachzugehen und auch mit einer Dokumentation behilflich zu sein, die sich genau auf das bezieht, was ich gesagt habe, nämlich inhaltsgleiche Aussagen, wenn auch in etwas unterschiedlichem Ton, zu etwa gleicher Zeit an den beiden genannten Stellen, nämlich in den beiden Presseorganen, die ich auf meinem Parteitag im April dieses Jahres genannt habe.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Barzel? — Bitte!
Herr Kollege Brandt, würden Sie einen Weg sehen, die Mißverständnisse der Debatte auf eine ähnlich faire und künftiger Zusammenarbeit offene Weise zu klären, wie ich heute hier einen Vorwurf geklärt habe, der zu Unrecht gegen die sozialdemokratische Bundestagsfraktion erhoben worden war?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde mich sehr freuen, wenn auf allen Seiten die Bereitschaft vorhanden wäre — bei mir ist sie vorhanden —, einen solchen Vorfall zu klären. Aber was durch andere geschrieben steht, kann ich nicht nachträglich wegwischen, Herr Kollege Barzel.
Nun gut, dann wollen wir auf dieser Basis diskutieren. Ich bitte nachher ums Wort, Herr Präsident.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, mir liegt daran, in diesem Zusammenhang folgendes hinzuzufügen, und zwar ganz bewußt heute hinzuzufügen, nachdem ich mich gestern in Eastbourne auf einer großen internationalen Konferenz dazu geäußert habe. Dort habe ich gesagt: Ich kann nicht hinnehmen, wenn in gewissen kommunistischen Verlautbarungen — manchmal auch in anderen — immer wieder der Versuch gemacht wird, die Bundesrepublik Deutschland zu verteufeln. Ich habe gesagt — und ich denke, so sollte man zu diesen Dingen sprechen, zumal wenn man draußen, in welcher Eigenschaft auch immer, die Interessen unseres Landes zu vertreten hat —, daß ich dagegen unser Volk und unser Land in Schutz nehme. Wir haben unsere Erfahrungen nicht umsonst gemacht. Die große Mehrheit unserer Landsleute will nichts anderes als in Frieden leben, und deshalb verteidige ich sie nachdrücklich gegen den gespenstischen Vorwurf des Neonazismus, des Imperialismus und wie der Unsinn sonst noch heißen mag.
Schließlich geht es darum — das gehört auch zu dem, wovon soeben die Rede war —, jenen Geist der Erneuerung und der Reformfreudigkeit lebendig
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Bundesminister Brandt) zu erhalten und zu stärken, ohne den wir uns weder als Industrienation noch als Kulturnation behaupten können.Der Bundeskanzler hat heute früh ein sehr wichtiges Thema angeschnitten, als er an das Gebot des Grundgesetzes erinnerte, die Bundesrepublik Deutschland als einen demokratischen und sozialen Bundesstaat zu verwirklichen. Er hat aus seiner Sicht begründetermaßen darauf hingewiesen, daß dem Wertsystem des Grundgesetzes eine bevormundete, egalitäre Massengesellschaft widersprechen würde. Diese Thematik wird uns noch einige Zeit begleiten, und deshalb mag der Hinweis nützlich sein, daß aus der Sicht mancher von uns in diesem Hause und in dieser Koalition die Überzeugung maßgebend ist, daß die Demokratie nicht auf einen noch so wichtigen Bereich wie den staatlichen beschränkt bleiben, daß sie nicht auf Ration gesetzt werden kann, sondern daß sie, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden, das gesamte gesellschaftliche Leben erfassen muß. Aus dieser Sicht — und das ist ein Teil des Prozesses der Meinungsbildung in unserem Staat und in unserer Gesellschaft in den Jahren, die vor uns liegen — ist Demokratie ein fortwährender Prozeß, eine Aufgabe, an deren Verwirklichung unablässig zu arbeiten ist. Dabei mag es einem dann gehen wie dem Seereisenden, der den Horizont zunächst für eine feste Grenze hielt und erst später merkte, daß sich immer neue Horizonte öffnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in diesem Hause, glaube ich, als ein Mann bekannt, der nicht eine Kontroverse sucht, wo sie nicht nötig ist. Ich habe versucht, dem Bundesminister des Auswärtigen hier durch eine zweite Frage eine Brücke zu bauen, die er nicht betreten hat.
Ich würde es für falsch halten, ohne das sorgfältige Studium des Textes des Vorgangs jetzt aus dem Stegreif durch alle möglichen Erklärungen Eskalationen herbeizuführen.
Zur Sache selbst möchte ich nur folgendes sagen; vielleicht gibt es dann doch noch einen Weg. Was uns beschwert, ist der Versuch von dem einen oder anderen — und jetzt meine ich nicht die Herren, die da sitzen —, die CSU und einen Teil der CDU in die Nähe von Leuten zu rücken, die wir alle nicht im Bundestag sehen wollen.
— Und das nach diesem Parteitag! — Sehen Sie, das soll vom Tisch, und dazu habe ich versucht, hier eine Brücke zu bauen. Vielleicht, Herr Kollege Brandt, bin ich jetzt besser verstanden worden. Ich habe mich vorher, als sich hier jemand auf dieser Seite des Hauses durch eine Bemerkung über die
Wiedervereinigungspolitik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beschwert fühlte, sofort hingestellt und eine Erklärung abgegeben. Eine entsprechende Erklärung hatte ich auf Grund meiner zweiten Frage erhofft. Ich habe sie nicht bekommen.
Meine Damen und Herren, Koalitionen hin und Koalitionen her, eines muß doch klar sein: Demokraten haben andere Gegner in dieser Lage, von der wir heute gesprochen haben, als solche Versuche aus einer vorgestrigen Küche, einander schlechtzumachen. Ich sage eines: der ganze Erfolg dieser Zusammenarbeit, in der Sache gut, wäre doch zum Heulen schlecht, wenn hier in vorgestriger Weise unter die Gürtellinie hin und her geschossen werden sollte. Das muß vom Tisch, meine Damen und Herren.
Das Wort hat Herr Helmut Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende eines langen Tages — nur noch die wirklichen Politiker sind anwesend —
kann man sich, müde und ohne gegessen zu haben, in einer solchen Verfassung natürlich mißverstehen. Ich begrüße sehr — das darf ich für meine Kollegen hier sagen —, was Kollege Barzel eben gesagt hat: Man muß sich das Protokoll wohl genau ansehen. Ich hatte das Gefühl, daß sich zwei Herren in einem Punkt jedenfalls mißverstanden haben, obwohl der ursprüngliche Anlaß zum Streit ganz offensichtlich greifbar ist. Aber das, was hier gesagt worden ist, scheint ein doppeltes Mißverständnis zu sein.
Zweitens möchte ich aber etwas in Erinnerung rufen: Ich fand heute morgen — oder war es mittags — dafür nicht nur freundlichen Beifall aus den Reihen der CDU/CSU. Ich möchte in Erinnerung rufen, daß ich — en passant über den Parteitag der CSU sprechend — mit Genugtuung hervorgehoben habe, was der Vorsitzende der CSU über das Verhältnis, genauer gesagt, über das negative Verhältnis zwischen CSU und NPD dort ausgeführt hat.
Das, was ich hierzu heute mittag sagte, habe ich ganz gewiß im Namen der sozialdemokratischen Fraktion und Partei gesagt. Vielleicht hilft Ihnen das im Augenblick.
Das Wort hat nochmals der Herr Bundesaußenminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schade, daß der Stenographische Bericht nicht schon vorliegt. Ich denke, er wird zweierlei ergeben: zum ersten, daß ich gesagt habe oder bemüht war zu sagen, daß die umstrittene Äußerung, meine umstrittene Äußerung vom April dieses Jahres, sich nicht auf eine Partei dieses Hauses und eine andere bezogen hat,
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Bundesminister Brandtsondern auf zwei Blätter. Wenn gleichwohl der Gegenstand auf dem Parteitag der CSU behandelt worden ist, dann kann ich von mir aus nur sagen, obgleich ich nicht vorhatte — und das hier an sich auch nicht hingehört —, von mir aus Zensuren über einen solchen Parteitag zu erteilen, daß ich mit großer Befriedigung und im Sinne des Bestärktwerdens im Gefühl gemeinsamer Verantwortung — bei aller Härte auch der Argumente, die hin und her gegeben worden sind — gesehen habe, daß es nicht nur gegenüber der Partei, die in dieses Haus mit hinein möchte, sondern daß es auch in der Ablehnung eines Nationalismus — zu dem auch heute gesprochen worden ist — offensichtlich doch auch mit uns, die woanders stehen, gemeinsame Überzeugungen gibt. Das ist der eine Vorgang.Der zweite Vorgang, Herr Kollege Barzel, war folgender: Auf Ihre Zwischenfrage hin, ob ich an einer Klärung des Vorganges mitzuwirken bereit sei, habe ich nicht etwa gesagt — und ich bin ganz sicher, daß das Protokoll dies ausweisen wird —, daß ich meine Äußerung nicht wegwischen könnte, sondern ich habe nur gesagt, ich könne nicht wegwischen, was andere geschrieben haben.
Darum geht es. Tatsachen bleiben Tatsachen. Aber man muß immer wieder miteinander einen neuen Anfang machen können, und ich glaube, daß das Thema, nachdem es aufgebracht worden war, einer Erläuterung durch mich bedurfte; denn es war nie in dieser Ausweitung in der öffentlichen Debatte, wie es hier dargelegt worden ist, und es hat, soweit es sich auf eine Partei bezog, durch das, was dort und hier gesagt wurde, für mich seine Beantwortung gefunden. Aber ich sage noch einmal, die Äußerung über das Nichtwegwischenkönnen bezieht sich auf das, was andere geschrieben haben und wofür nur andere geradestehen können, nicht ich. Ich denke, daß das vielleicht in der Kürze des Wortwechsels vorhin nicht ganz richtig angekommen ist.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Die Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland ist beendet.
Ich rufe Punkt 2 b der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Tag der Deutschen Einheit
— Drucksache V/2818 —
Der Gesetzentwurf ist dem Ausschuß für gesamtdeutsche und Berliner Fragen — federführend —, dem Innenausschuß und ,dem Ausschuß für Arbeit — mitberatend — zu überweisen. — Es ist so beschlossen.
Schließlich rufe ich noch Punkt 2 c der Tagesordnung auf:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Auswärtigen Ausschusses über den von den Abgeordneten Metzger, Dr. Mommer, Frau Dr. Hubert, Dr. Schulz (Berlin), Majonica, Dr. Lenz (Bergstraße), Illerhaus und Genossen eingebrachten Antrag
betr: Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften
— Drucksachen V/2755, V/4123 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Furler
Das Wort zur Ergänzung seines Schriftlichen Berichts hat Herr Abgeordneter Professor Furler.
— Meine Damen und Herren, ich bitte, doch doch einen Augenblick Platz zu behalten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß leider, aber ganz kurz, einige Sätze zu diesem Bericht und dem Antrag, der die europäische Politik betrifft, sagen, weil die heutige Debatte ergeben hat, daß dieser Antrag in dem großem Zusammenhang der Probleme steht, die wir behandelt haben. Die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers und des Herrn Außenministers haben gezeigt, wie wichtig diese Frage ist.
Worum geht es? Ganz kurz — es scheint nur juristisch zu sein —: Es wird beantragt — der Antrag ist, von vielen Abgeordneten unterschrieben, vor mehr als einem Jahr in einer sehr schwierigen europäischen Zeit eingereicht worden —, daß die Bundesregierung — —
Einen Augenblick, Herr Kollege Furler! Es ist doch zu laut im Saal. Ich bitte um Gehör für den Berichterstatter!
— — daß die Bundesregierung gebeten wird, im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft auf die Einhaltung der in den Verträgen vorgesehenen Mehrheitsabstimmungen hinzuwirken.Die Römischen Verträge bieten die Möglichkeit, auch im entscheidenden Ministerrat Mehrheitsbeschlüsse zu fassen, und immer häufiger, je mehr die EWG voranschreitet. Das gibt es im Europarat nicht, das gibt es in der Westeuropäischen Union nicht. Das gibt es nur in den neuen Europäischen Gemeinschaften.. Hierüber brach — das ist etwas sehr Wesentliches — die größte EWG-Krise aus, die es gegeben hat, als, noch zur Zeit de Gaulles, Frankreich im Sommer 1965 seine Mitarbeit im Ministerrat einstellte und verlangte; daß durchgesetzt wird, daß in wichtigen Fragen im Ministerrat keine Mehrheitsentscheidungen mehr getroffen werden. Monatelang war die Gemeinschaft blockiert. Monatelang haben die Fünf gekämpft um diese Grundlage der europäischen Entwicklung, die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen. Es gab den berühmten Luxemburger Kompromiß nach sechsmonatigen Aueinandersetzungen, in dem Frankreich wieder in den
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Dr. FurlerMinisterrat zurückkam und der — ganz kurz —sagte: Die Fünf bleiben auf dem Standpunkt der Verträge, Frankreich aber hält seinen Standpunkt aufrecht, daß in sehr wichtigen Fragen nicht entschieden werden darf, wenn trotz langer Verhandlungen eine Einigung nicht zustande kommt.Man hat später im Rahmen des Haushalts und in nebensächlichen Fragen doch Mehrheitsbeschlüsse gefaßt. Aber es war die Sorge der Antragsteller und es war die Sorge des Auswärtigen Ausschusses, der auch den Herrn Bundeskanzler und den Herrn Außenminister zuziehen wollte, daß man in der Praxis nicht mehr wage, Mehrheitsbeschlüsse zu fassen, wenn ein Mitgliedstaat die Erklärung abgibt, es handle sich um wichtige Interessen.Diese Methode zu versuchen, einen Grundstein aus der neuen europäischen Entwicklung, aus den Römischen Verträgen, herauszubrechen, darf sich nicht wiederholen. Ich bin überzeugt, sie wird sich jetzt nicht mehr wiederholen. Mindestens ist das eine Hoffnung, die wir, auch der Deutsche Bundestag, an die neuere Entwicklung in Frankreich knüpfen, an die neue Wende, die vielleicht oder wahrscheinlich, wie der Herr Bundeskanzler gesagt hat, noch in diesem Jahr erfolgen wird. Wir erwarten von ihr nicht rasche und fundamentale Umwälzungen, aber eine Reihe von Dingen, die alle mit diesem Punkt zusammenhängen. Denn es gibt noch andere Notwendigkeiten einstimmiger Beschlußfassung, mit anderen Worten: Vetorechte, z. B. in Fragen des Beitritts dritter Staaten zu den Gemeinschaften. Auch hiersind wir der Meinung, daß diese harten Vetos sogar gegen die Aufnahme von Verhandlungen nicht aufrechterhalten werden dürfen. Trotz mancher Fortschritte hat uns hier die Politik de Gaulles sehr viele Sorgen, sehr viele Verzögerungen und manche Enttäuschung gebracht.Wir glauben daran, und dieser Antrag zielt darauf hin, daß die neue Bewegung, die möglich geworden ist, die Einmütigkeit über die Mehrheitsbeschlüsse, die eine Grundlage der Römischen Verträge bilden, eine faktische Lage schaffen. Möge dieser Antrag und die Resolution auch dazu führen, daß — was hier bei allen Rednern zum Ausdruck gekommen ist — die neue europäische Entwicklung in der EWG nach innen und nach außen nach dem Wandel, der eingetreten ist, einen neuen Antrieb erhält. Diesen Antrieb will auch dieser Antrag, und die Forderungen an unsere Regierung, die weder unbillig noch irgendwie illusionistisch sind, zielen ganz real darauf hin, in der europäischen Politik ganz allgemein und in den Europäischen Gemeinschaften weiterzukommen. Ich darf Sie bitten, den Antrag einstimmig anzunehmen.
Wir danken dem Herrn Berichterstatter. Das Wort wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag des Ausschusses zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Danke. Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme fest.
Ich darf dem Hause noch mitteilen, daß der Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen zehn Minuten nach Schluß dieser Sitzung zusammentritt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 18. Juni, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.