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ID0523902000

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    Deutscher Bundestag 239. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1969 Inhalt: Gedenken an den Aufstand vom 17. Juni 1953 und an die Verabschiedung des Grundgesetzes von Hassel, Präsident 13245 A Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland Dr. h. c. Kiesinger, Bundeskanzler. . 13246 A Überweisung einer Vorlage an den Haushaltsausschuß 13254 C Änderung einer Ausschußüberweisung . 13254 D Verlegung der Fragestunde bis zum Beginn der Parlamentsferien 13254 D Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland Scheel (FDP) 13255 A Schmidt (Hamburg) (SPD) 13262 D, 13288 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 13274 C, 13288 B Brandt, Bundesminister . 13283 B, 13288 D Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Tag der Deutschen Einheit (Drucksache V/2818) — Erste Beratung — 13289 B Schriftlicher Bericht des Auswärtigen Ausschusses über den Antrag der Abg. Metzger, Dr. Mommer, Frau Dr. Hubert, Dr. Schulz (Berlin), Majonica, Dr. Lenz (Bergstraße), Illerhaus u. Gen. betr. Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften (Drucksachen V/2755, V/4123) Dr. Furler (CDU/CSU) 13289 C Nächste Sitzung 13290 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 13291 A Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13245 239. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1969 Stenographischer Bericht Beginn: 10.00 Uhr
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    Berichtigung Es ist zu lesen: 236. Sitzung, Seite 13107 B, Zeile 18 statt „Dr. Wahl": „Weigl" Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13291 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Dr. Aigner ** 21.6. Frau Albertz 21.6. Dr. Arndt (Berlin) 20.6. Dr. Arndt (Berlin/Köln) 17.6. Bals 17.6. Dr.-Ing. Dr. h. c. Balke 17.6. Bauer (Würzburg) * 20. 6. Bazille 21. 6. Behrendt ** 17.6. Berkhan * 20.6. Frau Blohm 20. 6. Blumenfeld * 20. 6. Dr. Brenck 15.7. Brück (Holz) * 20. 6. Buchstaller 19. 6. Burgemeister 20. 6. Corterier 17.6. Deringer 176. Dr. Dittrich ** 20. 6. Draeger * 20. 6. Dr. Eckhardt 21. 6. Dr. Even 28. 6. Flämig * 20.6. Franzen 19. 6. Dr. Friderichs 17.6. Dr. Giulini 20. 6. Dr. Götz 17.6. Freiherr von und zu Guttenberg 15.7. Haage (München) 17.6. Hahn (Bielefeld) ** 21. 6. Hamacher 30. 6. Dr. Heck 17. 6. Dr. Dr. Heinemann 20. 6. Hellenbrock 15.7. Frau Herklotz * 20.6. Hösl* 20. 6. Frau Holzmeister 18. 6. Dr. Jaeger 17.6. Junker 17.6. Kahn-Ackermann * 20. 6. Dr. Kempfler * 20. 6. Frau Klee * 20. 6. Dr. Kliesing (Honnef) * 20. 6. Klinker *' 21. 6. Koenen (Lippstadt) 20. 6. Dr. Kopf * 20. 6. * Für die Teilnahme an einer Sitzung der Versammlung der Westeuropäischen Union ** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments Anlage zum Stenographischen Bericht 1 Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Dr. Kübler * 20. 6. Kunze 15.7. Kurlbaum 17.6. Lange 20. 6. Lemmrich* 20. 6. Lenze (Attendorn) * 20. 6. Dr. Lohmar 30. 6. Lotze 15.7. Frau Dr. Maxsein * 20. 6. Meis 21. 6. Meister 20. 6. Memmel ** 19. 6. Dr. von Merkatz * 20. 6. Michels 27. 6. Mischnick 17.6. Missbach 5.7. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller 17.6. Müller (Berlin) 19. 6. Dr. Müller (München) * 20. 6. Müller (Remscheid) 19.6. Nellen 15.7. Pöhler * 20. 6. Dr. Pohle 19.6. Porten 19. 6. Raffert 17.6. Frau Renger 17.6. Richarts ** 20. 6. Richter * 20. 6. Dr. Rinderspacher * 20. 6. Rohde 17. 6. Frau Rudoll 20. 6. Dr. Rutschke * 20.6. Sander * 20. 6. Saxowski 17.6. Schlager 20. 6. Schmidhuber 20. 6. Dr. Schmidt (Offenbach) * 20. 6. Schmidt (Würgendorf) * 20. 6. Dr. Schulz (Berlin) * 20. 6. Frau Dr. Schwarzhaupt 17.6. Dr. Serres * 20. 6. Springorum ** 20.6. Dr. Staratzke 20. 6. Steinhoff 15.7. Dr. Steinmetz 20. 6. Dr. Freiherr von Vittinghoff-Schell * 20. 6. Dr. Wahl * 20. 6. Frau Wessel 15.7. Wienand* 20. 6. Dr. Wilhelmi 30. 6. Zebisch 21.6. b) Urlaubsanträge Frau Kleinert 4.7. Lemmer 27. 6.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Helmut Schmidt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im geteilten Deutschland ist dieses Jahr auf den 17. Juni gelegt worden, obgleich es eigentlich und ursprünglich — ich glaube, Herr Scheel hat auch daran erinnert — der Wille des Hauses war, den Bericht nicht an diesem Tage, sondern ihn jeweils am Beginn des Jahres zu hören. Es hat Gründe gegeben, ihn in diesem Jahr etwas zu verschieben. Ich will das nicht kritisieren, aber mir erscheint es wünschenswert, daß dann an diesem Tag auch vom 17. Juni 1953 die Rede ist, der uns in Erinnerung zurückruft den Aufstand der Arbeiter im anderen Teil, die ihren Protest dagegen, daß sie von der Mitbestimmung, z. B. über die



    Schmidt (Hamburg)

    Lohnfindung, ausgeschlossen waren, auf diese Weise zum Ausdruck gebracht haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Eine lange aufgestaute Erbitterung brach sich damals einen Weg durch. Jeder von uns kennt das Ergebnis dieses Ringens: die nackte militärische Gewalt hat sich gegen die Frauen und gegen die Männer in Ostberlin und anderen Industriegebieten der DDR durchgesetzt, die durch Demonstration und Arbeitsniederlegung ihre Empörung zum Ausdruck brachten.
    Der 17. Juni 1953 ist eine Niederlage, eine Niederlage des Freiheitswillens deutscher Arbeiter. Ich habe mich immer gefragt, ob es eigentlich wünschenswert ist, daß wir Niederlagen der Freiheit feierlich begehen. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob es nützlich ist, wenn ob dieser Niederlage der Freiheit einerseits Feiertage begangen werden und andererseits Propaganda politischer Art damit getrieben wird.
    Ich war, was den heutigen Tag angeht, nachdem der Bericht zur Lage der geteilten Nation heute gegeben werden sollte, der Meinung, daß dies keine Feiertagssitzung, sondern eine Arbeitssitzung des Deutschen Bundestages zu werden hatte.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das ist ja auch allgemein akzeptiert worden. Als Beispiel darf ich hier folgendes einmal öffentlich erwähnen. Ich war gestern bei einem Lehrbataillon der Bundeswehr in meinem heimatlichen Wahlkreis und habe mit innerer Genugtuung gesehen, wie diese Soldaten heute freiwillig arbeiten, um den Erlös dieser ihrer Arbeit am 17. Juni einem guten sozialen Zweck zuzuführen.

    (Beifall auf allen Seiten.)

    Eine der Konsequenzen, die mich nun selber trifft, aus der Tatsache, daß die Regierung heute morgen ihre Erklärung abgab und wir heute nachmittag dazu Stellung nehmen müssen, ist die, daß das innerhalb so weniger Stunden einer Mittagspause schwierig ist. Ich habe den Text der Erklärung von Herrn Dr. Kiesinger heute nacht um drei Uhr — da kam ich von einer Veranstaltung in Frankfurt nach Bonn zurück — auf meinem Schreibtisch vorgefunden. Da hatte ich allerdings keine Lust mehr, mich noch daranzusetzen. Das gebe ich zu.

    (Zuruf von der FDP: Nichts versäumt!)

    — Das ist nicht sehr freundlich; denn, liebe Freunde von der FDP, wenn Ihr Vorsitzender Scheel mit einem gewissen Anflug von Recht kritisiert, daß dieser Bericht nicht allzuviel über die Lage im anderen Teil Deutschlands enthalten habe, dann muß ich allerdings sagen, auf diese Art von Kritik hätte sich Ihr eigener Sprecher wochenlang vorbereiten und dann wenigstens seinerseits etwas über die Lage im anderen Teil Deutschlands beitragen können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich wollte Herrn Scheel nicht angreifen, aber auf
    Zwischenrufe gehören Antworten, und wenn man im
    Glashaus sitzt, soll man nicht mit Steinen um sich werfen.
    Lassen Sie mich im Verlauf der Ausführungen, die ich zu machen habe, ab und zu bitte versuchen, den Blick auf die Lage drüben zu werfen. Ich möchte damit beginnen — insoweit anknüpfend an die dankenswerten Feststellungen, die Herr Scheel, wie er glaubte, für alle, und wie auch ich annehme, für alle an den Beginn seiner Ausführungen meinte setzen zu dürfen —, daß ich meine, wir alle können übereinstimmend mit Genugtuung und Freude feststellen, daß die Energie und Intelligenz unserer Landsleute drüben unter schwierigen Bedingungen auch im Laufe der letzten zwölf Monate, seit wir uns das letzte Mal über die Lage drüben hier unterhalten haben, neue große wirtschaftliche Leistungen vollbracht haben, wirkliche bedeutende Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschaft, aber auch auf den Gebieten der Kultur oder des Sports. Die Stellung der DDR nicht nur innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, sondern auch im Welthandel hat sich etwas verstärkt. Wir empfinden darüber Genugtuung — mit den Bürgern im anderen Teil des Landes. Wir sind wie sie drüben daran interessiert, daß sie, wenn sie auch ihren freien politischen Willen nicht zum Ausdruck bringen können und dürfen, wenn sie sich auch mit einer sehr ungeliebten Regierung abfinden müssen, doch wenigstens mit ihrer eigenen Leistung ihre wirtschaftliche und soziale Lage verbessern konnten und den Anschluß an die industrielle, zum Teil auch an die modernste technologische Entwicklung der Welt finden konnten. Die Parteien des Bundestages — das hat Herr Scheel noch einmal unterstrichen, und es bedarf eigentlich nicht der Unterstreichung durch jeden von uns —, sind sich darin einig, daß wir alles tun wollen, um die Situation für das gespaltene Volk zu erleichtern. Wir wollen geduldig und zäh, wie hier schon von zwei Rednern gesagt worden ist, auf eine vernünftige Regelung der innerdeutschen Verhältnisse hinwirken. Für uns bleibt insoweit die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 Leitfaden der Politik. Die aus dieser Regierungserklärung erwachsenen Vorschläge der anschließenden Monate und Jahre liegen immer noch auf dem Verhandlungstisch. Wir haben nicht die Absicht, sie zurückzunehmen. Jeder hüben und drüben kennt sie, jeder kann sie kennen.
    Walter Ulbricht hat sich am 8. August des letzten Jahres von der Volkskammer — ein bißchen theaterhaft, aber immerhin — nach langer Pause zwischen unserem Angebot und dieser Reaktion auch seinerseits eine Vollmacht für die Benennung eines Beauftragten für Verhandlungen mit der Bundesregierung erteilen lassen. Aber neben allerhand gehässiger Polemik — vor allen Dingen gegen die Sozialdemokraten und gegen das, was sie drüben den „Sozialdemokratismus" zu nennen belieben — haben wir in der Zwischenzeit nichts Positives vermerken können. Der Vorsitzende des Staatsrats in Ostberlin sollte sich — er redet so gern von Realitäten — auch die Realität vor Augen halten, daß alle unsere Nachbarn, alle Nachbarn des deutschen Volkes in Europa erwarten, daß nicht nur einer der beiden deutschen Teile, sondern daß beide deutschen



    Schmidt (Hamburg)

    Teile zur Entspannung in Europa beitragen. Das ist eine Wirklichkeit.

    (Beifall bei der SPD.)

    Herr Ulbricht weiß das ganz genau. Er braucht keine Ausreiseerlaubnis nach dem Westen; es genügt, daß er hin und wieder zu Konzilien und Beratungen mit Gesinnungsgenossen in Osteuropa zusammentrifft, um dies wissen zu können.
    Wir alle miteinander wissen ganz nüchtern, daß die deutsche Frage auf absehbare Zeit nicht gelöst werden kann. Wir wissen, daß selbst der Weg zu Regelungen über ein Miteinander-Auskommen oder, wie es auch heißt, zu einem Modus vivendi — der vor Rückschlägen weiß Gott nicht gefeit bleibt — zu gelangen, sehr schwierig ist. Aber wir sind uns offenbar alle auch darin einig, daß unser Wille zum Frieden, den Herr Scheel soeben noch einmal für die Opposition unter dein Beifall des ganzen Hauses unterstrichen und bekräftigt hat — insoweit hat er die Übereinstimmung des Hauses festgestellt —, die Verständigung zwischen beiden Teilen Deutschlands verlangt.
    Ulbricht und seine Leute behaupten, mit einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR werde dem Frieden gedient. Ich weiß nicht, ob diese vielfältigen Anerkennungs- und Nichtanerkennungsdebatten im Westen unseres Vaterlandes wirklich der deutschlandpolitischen Entwicklung nützlich sind.

    (Vereinzelter Beifall.)

    Was ich hier sage, gilt für alle. Wir können jedenfalls beobachten, daß Walter Ulbricht selbst unter den Kommunisten nur sehr wenige von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugt hat, nur sehr wenige. Solange nämlich an den Grenzen seines Machtbereichs Minen verlegt werden und geschossen wird, solange er sich an gewaltsamen Einmärschen in fremde Länder beteiligt, solange er nicht auf Gewaltanwendung verzichtet, ist der ganze Streit darüber, ob eine Anerkennung dieser oder jener Art die Situation in Deutschland friedlicher oder weniger friedlich macht, eine verdammt akademische Auseinandersetzung!

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.)

    Diese ganze Diskussion ändert nichts an den Gefahren, die von der Art, in der die deutsche Spaltung heute in Deutschland ausgeübt, exekutiert und fortgesetzt wird, für den Frieden in Europa ausgehen.
    Ich habe einen Aufsatz vor mir, den mein Freund, der Bundesminister Herbert Wehner, vor kurzem zu all diesen Fragen geschrieben hat. Ich möchte einige Bemerkungen zitieren, die wohl — mehr zum Schluß — als eine Art Resümee aus relativ komplizierten Darlegungen geboten werden. Wehner schreibt, es sei kein Unglück, daß es weder eine ein für allemal feststehende Nichtanerkenungspartei, noch eine ein für allemal festehende oder unaufhaltsam zunehmende Anerkennungspartei gebe. Im Anschluß sagte er, in der schlimmsten Situation befänden sich eigentlich diejenigen, die vermeintlich ganz klare, nämlich ideologisch geflochtene Vorstellungen vom Ablauf der Weltgeschichte zu haben glaubten. Sie
    könnten fast alles in Ihrem Weltbild unterbringen und seien dann vollauf damit beschäftigt, die Allgemeingültigkeit dieses Weltbildes zu beweisen, und deswegen kämen sie auch gar nicht dazu, die tatsächlichen Verhältnisse zu ändern. Zweitens sagte er, auch ziemlich schlimm, aber nicht ganz so schlimm seien diejenigen dran, die sämtliche Rechtsbegriffe und Denkmodelle parat hätten und immer wieder erklären müßten, wie die Wirklichkeit in die Modelle hineinpasse. Und hin- und hergerissen würden dann schließlich diejenigen, die ihr eigenes Verhalten vorwiegend von den Äußerungen der Gegenseite abhängig machten. Ich darf Wehner dann zustimmen, der im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes schreibt, wir böten der DDR Verhandlungen ohne jegliche Diskriminierung an, die zu den Formen der Zusammenarbeit führten, die im beiderseitigen Interesse lägen. Dies war ein Angebot, das die Regierung der Großen Koalition vor Jahr und Tag hier gemacht hat — mit Zustimmung der FDP-Opposition —, und wir sollten diese unsere gemeinsame Vorstellung nicht durch allerhand Streit am Rande verdunkeln.

    (Beifall bei der SPD.)

    In einem Gespräch vor etwa 14 Tagen hat Dr. Barzel darauf hingewiesen, daß der heutige Tag in gewisser Weise ein Geburtstag in dreierlei Hinsicht ist: 20 Jahre Grundgesetz — Herr Scheel hat darüber gesprochen, der Herr Bundeskanzler hat darüber gesprochen —, 20 Jahre nordatlantisches Bündnis, 20 Jahre Europarat. Lassen Sie mich zunächst zum Grundgesetz etwas sagen.
    Da gibt es ja immer noch den Art. 146 im deutschen Grundgesetz. Es ist reizvoll, das Grundgesetz mit der neuen Verfassung der DDR zu vergleichen. Aber da ich das heute vor einem Jahr, in der vorigen Debatte zur Lage der Nation, schon sehr ausführlich getan habe, möchte ich mich nicht wiederholen. Aber der Art. 146 unseres Grundgesetzes sagt immer noch:
    Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
    So gilt es seit 20 Jahren.
    Übrigens: der 23. Mai dieses Jahres war nicht nur der 20. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes; der historische Zufall hat es gewollt, daß er zugleich der 107. Geburtstag der Sozialdemokratischen Partei gewesen ist.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Werden Sie erst mal 107 Jahre alt, Herr Barzel!

    (Abg. Dr. Barzel: Ist das nur angenehm? — Abg. Dr. Luda: Ohne senil zu werden?)

    — Ich würde mit Zwischenrufen der Art, wie ich soeben einen halblaut vermerkt habe, einstweilen etwas zurückhalten; Sie wissen, der Redner kann so etwas auch.

    (Heiterkeit.)

    Ich möchte für meine Fraktion begrüßen, was der Bundeskanzler im Namen beider Koalitionspartner zum Grundgesetz ausgeführt hat — ich weiß nicht,



    Schmidt (Hamburg)

    ob dies der Wortlaut war, aber der Sinn muß es gewesen sein —: Auch wir möchten uns ganz eindeutig und nachdrücklich aussprechen gegen diese törichte Mode, die sich überall verbreitet und die jetzt auch das Gebiet des Grundgesetzes anzugreifen scheint, wo einige anfangen, von einer Totalrevision unseres Grundgesetzes zu reden. Das kommt überhaupt nicht in Betracht!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dies ist die bisher beste Verfassung, die auf deutschem Boden und im deutschen Volk je gegolten hat. Herr Scheel, Sie haben soeben von teil-plebiszitären Instituten geredet, die Sie da hineinbringen wollen; ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir das einmal des Näheren hören könnten.

    (Abg. Scheel: Nach der bayerischen Verfassung!)

    — Es ist ja gut, wenn aus Bayern Anregungen für das Grundgesetz kommen. Es erinnert mich daran, daß in eisgrauer Zeit, nämlich vor 20 Jahren, die Mehrheit der Bayern diesem Grundgesetz nicht zugestimmt hat.

    (Heiterkeit.)

    Aber ich weiß nicht, ob Herr Scheel — im Gegensatz zu seinem Nachbarn, der links von ihm sitzt — eine Legitimation in Händen hat, für die Bayern zu sprechen. Diese Frage möchte ich offenlassen.

    (Abg. Stücklen: Machen wir schon selber!)

    Lassen Sie mich unterstreichen, daß der Bundeskanzler mit Recht den großen Unterschied betont hat hinsichtlich des Wesenskerns des Wesensgehalts der Grundrechte und ihres zentralen Platzes in unserer Verfassung im Vergleich zur neuen Verfassung der DDR. Ich möchte zweitens den großen Unterschied zwischen den Tatsachen unterstreichen, daß in diesem Staat nach unserem Grundgesetz die Regierung dem Parlament gegenüber verantwortlich ist und von diesem Parlament abhängt, während drüben der Staatsrat die Exekutive, die oberste Instanz im Staate ist, und zwar keineswegs etwa nur im Notstand. Was wir drüben haben, ist nicht eine einmalige „Stunde der Exekutive", sondern es ist auf Dauer, stets und ständig, ein Staat der Exekutive, ein Staat des Politbüros der SED.
    Eine Bemerkung zum föderativen Aufbau oder zur föderativen Funktionsweise oder, wenn Sie so wollen, zu dem Gleichgewichtssystem der Macht des Bundes und der Macht der Länder oder, wenn Sie so wollen, zu dem Gleichgewicht zwischen der Macht der Gemeinden und der Macht der Länder, zum Gleichgewicht der Befugnisse. Dieses bleibt noch weiter zu entwickeln; die Entwicklung ist in den letzten Jahren nicht in jeder Beziehung befriedigend gewesen. Es ist wohl auch heute noch nicht befriedigend. Die Regierungserklärung von heute morgen findet auch in diesem Punkt unsere Zustimmung.
    Ich will mich hier nicht allzu weit auf bildungspolitische Aspekte einlassen, die Sie, Herr Bundeskanzler, hier angedeutet haben. Da war manches, wie ich denke, zu pauschal; es konnte aber in einer solchen Regierungserklärung wohl auch nicht ins
    Detail und in die Qualität gehen. Immerhin, wenn Sie erwähnten, daß in zwölf Jahren der Abiturientenanteil an den entsprechenden Jahrgängen unserer jungen Leute von 3,5 oder 3,8 auf 9,3% gestiegen sei, dann gehört doch dazu — da muß ich Herrn Scheel ein bißchen recht geben — die Erwähnung der Tatsache, daß auf den übrigen Feldern die bildungsökonomischen Konsequenzen dieser an sich begrüßenswerten Entwicklung nicht gezogen worden sind,

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    was kein Vorwurf an die Bundesregierung,

    (Abg. Dr. Martin: Herr Schmidt, das ist auch pauschal!)

    und, lieber Herr Scheel, auch kein Vorwurf an alle drei Parteien des Deutschen Bundestages ist. Das hängt vielmehr mit der von uns so häufig gelobten föderalen Struktur und der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im deutschen Grundgesetz zusammen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Ich weiß jetzt nicht mehr aus dem Kopf, in wie vielen Landesregierungen sich eure FDP-Landesminister für eine Finanzverfassungsreform eingesetzt haben, die viel weiter ging als das, was wir schließlich zustande gebracht haben. Aber ich habe ein paar Beispiele im Kopf, ich könnte ein paar ironische Beispiele nennen. Im übrigen möchte ich
    — ich weiß jetzt nicht, ob ich Herrn Kiesinger oder Herrn Barzel zitieren muß; nach meiner Erinnerung war es Herr Barzel — dem Sprecher recht geben, der damals in einer jener Debatten, die ihr provoziert habt, gesagt hat: Irgendwann später einmal werden wir nicht gefragt werden, ob wir die Kompetenz gehabt haben.

    (Abg. Scheel: Der Bundeskanzler! — Heiterkeit.)

    — Schönen Dank! Ich habe schon an der freundlichen Geste gesehen, wie Herr Barzel den Ruhm abtrat.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Das ist sehr richtig. Infolgedessen kann es nicht schlecht sein, Herr Scheel, wenn die Freie Demokratische Partei für die Verschiebung der Kompetenz, die Sie offensichtlich im Auge haben, im Lande draußen eintritt.
    Ich will das hier weniger parteilich verschieden sehen, als mehr an die Adresse der Länder sagen

    (Abg. Rasner: Die sind nicht da!)

    — ein Land ist noch da; aber in Wirklichkeit ist es der Vorbote des neuen Bundespräsidenten, der dort sitzt —

    (Heiterkeit)

    Das Minimum an bildungsökonomischer Kompetenz, das der Bund braucht, ist in der Finanzverfassungsreform kaum erreicht worden. Hier ist ein großer Unterschied zur DDR, wenn Sie sich ansehen, wie groß die zentrale Kompetenz auf diesem Felde ist.



    Schmidt (Hamburg)

    Man hat damit allerdings drüben auf dem Gebiet des Schulwesens in manchen Punkten Leistungen erreicht, die wir bei uns auch gern schon ereicht hätten, wenngleich ich damit weiß Gott nicht den Eindruck machen will, als ob ich das Schulwesen oder den geistigen Gehalt des Schulwesens in der DDR — das wollte auch Herr Scheel vorhin nicht andeuten — akzeptieren wollte.
    Noch .ein Blick auf die Verfassung. Die DDR hat in ihrer neuen Verfassung, von der SED oktroyiert, etwas Einmaliges in der ganzen Welt getan: Sie hat sich im Wortlaut der Verfassung an eine Weltmacht gebunden und gegen eine andere Weltmacht verfassungsrechtlich Front gemacht. Das hat es auf der Welt überhaupt noch nicht gegeben. Das muß man wohl einmal sagen. Wir in der Bundesrepublik hingegen sind immer wieder mit dem inneren Ausbau unserer Verfassung beschäftigt. Wir hängen uns mit dem, was Inhalt unserer Verfassung ist, was unsere Verfassungswirklichkeit werden soll, nicht an Weltmächte und auch nicht an andere Mächte.
    Ich möchte in diesem Zusammenhang den Blick des Hauses auf zwei Erklärungen der Bundesregierung aus dem letzten und vorletzten Jahr richten, die lesenswert sind und die, wie mir scheint, vielleicht Stoff für verfassungspolitische Debatten des nächsten Bundestages abgeben werden. Ich beziehe mich insbesondere auf die Drucksache V/4002, in der die Bundesregierung unter dem Datum des 20. März dieses Jahres bemerkenswerte Ausführungen über die Weiterentwicklung des föderativen Systems ge-
    macht hat. Diese Antwort bezieht sich auch auf frühere Erklärungen der Bundesregierung, die ein Jahr vorher abgegeben worden sind. Hier heißt es unter anderem, die Bundesregierung habe am 27. Oktober 1967 vor dem Bundesrat ausgeführt, daß sie eine neue Gesamtkonzeption für das Grundgesetz nicht für nötig halte und daß es daher einer grundsätzlichen Änderung der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern nicht bedürfe.
    Jetzt, ein Jahr später, ist man etwas vorsichtiger geworden und sagt im Kontrast dazu:
    Diese Feststellung jedoch sollte und kann nicht das Ergebnis der uns aufgegebenen Prüfung vorwegnehmen, welchen Funktionswert das föderative System in einer hochkomplizierten industrialisierten Massengesellschaft hat und haben wird. Daher sind Verfassungsänderungen in Zukunft auch im föderativen Bereich unvermeidlich.
    Ich glaube, daß das richtig ist. Ich glaube, wir können froh sein, daß mit dem Grundgesetz am Anfang, heute vor 20 Jahren, überhaupt eine Plattform für Entwicklungen in dieser Richtung, von der die Bundesregierung jetzt mit Recht spricht, geschaffen wurde.
    Ich möchte, nachdem andere große Männer, die diese Epoche gestaltet haben, hier genannt worden sind, darauf hinweisen, daß das Grundgesetz heute möglicherweise nicht die Ausgangsplattform für eine solche Entwicklung sein könnte, wenn es damals nicht die Insistenz Kurt Schumachers gegeben hätte,
    der die Funktionstüchtigkeit des Bundes in diesem Grundgesetz eigentlich erst hergestellt hat.

    (Beifall bei der SPD.)

    Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang auch an Carlo Schmid und andere erinnern, die seinerzeit die Auseinandersetzung mit den Besatzungsmächten geführt haben. Ich erinnere mich noch daran, wie im April 1949 der für seine, soll ich sagen: föderalistische oder partikularistische Einstellung bekannte französische General Koenig, der damals hier Militärgouverneur war, den Sozialdemokraten schließlich zu ihrem Erfolg gratuliert hat.
    Manches von dem, was damals verfassungspolitisch zwischen den Parteien strittig gewesen ist — einige wenige Kollegen haben damals schon den Streit mit geführt und sind immer noch unter uns aktiv —, ist inzwischen erledigt. Dieser elende konfessionelle Schulstreit, das Verhältnis von Kirche und Staat, die Notstandsvorbehalte und die parlamentarische Kontrolle in Notstandsfällen, später dann die parlamentarische Kontrolle, was die Streitkräfte angeht, die Wehrverfassung, das Recht der unehelichen Kinder, die Verfassungsbeschwerde — das sind alles Dinge, die damals im Streit waren; das alles ist im Laufe der Evolution in den letzten 20 Jahren in Ordnung gebracht worden.
    Der Bundeskanzler hat vorhin die Wahl Heinemanns zum neuen Bundespräsidenten erwähnt. Das veranlaßt mich, an ein Wort zu erinnern, das Heinemann neulich einmal auf einem öffentlichen Kongreß ausgesprochen hat, als er die Verfassungen miteinander verglich, die er im Laufe seines Lebens in Deutschland selber erlebt hat. Er sprach erstens vom Wilhelminischen Deutschland, zweitens von Weimar, drittens vom Nazideutschland, wobei er bescheiden dazufügte: „in dem ich abseits stand" — diese Formel hat sich mir sehr eingeprägt —, er sprach viertens vom Besatzungsregime und fünftens von dieser unserer Bundesrepublik, um darzutun, wie sehr viel besser die Verfassung dieses Staates ist — im Vergleich zu dem, was vorhergegangen war. Man tut nichts Böses, sondern sagt etwas objektiv Zutreffendes, wenn man sechstens hinzufügt: Sie ist auch unendlich viel besser als die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit drüben in der DDR. Wenn man aber sagt, dies sei die beste Verfassung, in der unser Volk bisher auf unserem deutschen Boden gelebt habe, dann kann das ja nicht heißen und soll es auch nicht heißen, daß alles gut ist, was wir hier haben. Es kann auch nicht heißen, daß das, was heute gut ist, mit den Maßstäben von heute gemessen für gut befunden wird, morgen mit den Maßstäben für morgen gemessen noch gut wird genannt werden können.
    Unser Bekenntnis zur Stabilität -unserer Verfassung ist zugleich ein Bekenntnis zur Kontinuität des Ausbaus unserer Gesellschaft, zur Kontinuität des Fortschritts. Dafür gibt es, wenn ich es richtig sehe — ohne ein Verfassungs- oder Gesellschaftsphilosoph zu sein —, im Grundgesetz drei Maximen: erstens die Gleichheit aller vor dem Gesetz, zweitens die Gleichheit der Lebensverhältnisse — diese möchte ich hier noch einmal nennen, nachdem sie



    Schmidt (Hamburg)

    in der Debatte über die Finanzverfassung von vielen positiv, vor allem aber negativ in der Argumentation mißbraucht worden ist —, drittens die Gleichheit der Chancen für jedermann.
    Die Maxime des sozialen Rechtsstaats bedeutet für mich ganz wesentlich: Etablierung der Startgleichheit für jedermann und Eliminierung jeder Diskriminierung in unserer Gesellschaft.

    (Beifall bei der SPD.)

    Mit Zustimmung meiner Fraktion hat der Bundeskanzler heute morgen mit einer gewissen Genugtuung auf die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten im Krankheitsfall hingewiesen. Das ist ein Stück Eliminierung von Diskriminierung. Der Bundeskanzler hat ferner auf das Berufsbildungsgesetz und auf das Ausbildungsförderungsgesetz hingewiesen.
    Bezogen auf die Zukunft möchte ich folgendes hinzufügen: Bildungspolitik ist ein weites Feld. Es ist noch nicht genug, wenn man mit Befriedigung feststellt, daß die Zahl der Arbeiterkinder auf unseren höheren Schulen steigt. Man muß sich auch einmal anschauen, wie sich die unterschiedlichen Startchancen für beide hinterher in den Abiturzeugnissen, in den Erfolgsquoten, niederschlagen.
    Ich will hier in Klammern etwas sagen, ohne daß sich jemand deswegen verkleinert fühlen soll. Einstweilen besteht die Masse der Deutschen immer noch nicht aus Abiturienten, sondern aus Volksschülern, die anschließend eine Fortbildungsschule besucht haben. Auf dieses Problem möchte ich endlich einmal den Nachdruck der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland gelegt haben!

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wenn ich das viele Geräusch, von Professoren und Studenten gemacht, höre, kommt es mir manchmal ein bißchen so vor, als ob die Studenten und die Universitäten der Nabel der deutschen Gesellschaft wären. Das sind sie nicht!

    (Erneuter lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Was die Diskriminierung, die beseitigt werden muß, angeht, so gehört dazu z. B. das weite Feld der Vermögens- und Steuerpolitik. Das Dickicht der Steuerungerechtigkeiten ist eines der Felder, an das wir, wie ich meine, in den nächsten vier Jahren alle zusammen wirklich herangehen müssen.

    (Zuruf von der FDP: Ergänzungsabgabe!)

    Es hängt unmittelbar mit der Vermögenspolitik zusammen.
    Nun zu einem dritten Punkt, bei dem ich mich besonders einig weiß mit den Kollegen aus der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union. Wir müssen weg von der finanziellen Diskriminierung von Familien mit Kindern! Das ist eine ganz schlimme Sache.

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.)

    Der Familienlastenausgleich — dieses Schlagwort hat sich eingebürgert; ich will es auch nicht durch ein plastischeres Wort ersetzen — ist ein diskriminatorisches System.

    (Abg. Lücke: Sehr richtig!) Das muß weg!

    In diesem Zusammenhang etwas ausführlicher, auch mit dem Seitenblick auf die DDR, eine Bemerkung über die Diskriminierung der Frauen, insbesondere der arbeitenden Frauen, in unserer Gesellschaft.

    (Beifall bei der SPD.)

    In der Bundesrepublik ist jeder dritte Arbeitnehmer und jeder fünfte Selbständige eine Frau. Aber die erdrückende Mehrzahl der weiblichen Arbeitnehmer befindet sich im beruflichen Leben in sehr untergeordneten Positionen. Ihre Gehälter und Löhne liegen selbst bei gleichwertiger und selbst bei gleichartiger Tätigkeit erheblich unter dem Lohn- und Gehaltsniveau der entsprechenden männlichen Arbeitnehmer. Das ist eine schlimme Sache, die nicht der Gesetzgeber beseitigen muß, sondern die die beiden Tarifpartner endlich in Ordnung zu bringen haben!

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Soweit es den Gesetzgeber angeht, nämlich bei den staatlichen Gehältern und Löhnen, ist das sehr viel weiter in Ordnung gebracht als in der sogenannten freien Wirtschaft.
    Die berufstätigen Frauen sind vielfach nicht doppelt belastet, sondern dreifach belastet: sie sind außerdem noch Hausfrauen und in vielen Fällen auch noch Mütter, die Kinder erziehen sollen. Sie sind durch diese Häufung von verschiedenen Rollen in ihrer Entfaltung sehr gehindert, sind übrigens auch gehindert in dem Selbstständigkeitsbewußtsein, in dem Sicherheitsbewußtsein, das sie eigentlich beanspruchen dürfen. Ich würde unseren Sozialpolitikern hier in diesem Hause, die sich ja auf so vieles spezialisiert haben, empfehlen, daß sie sich einmal die Frage einer familienunabhängigen Alterssicherung der Frauen wirklich überlegen und zu dem Zweck in die DDR schauen. Man hat das nämlich dort im Prinzip angefangen, wenn auch der Quantität nach unzureichend.
    In diesem Zusammenhang: schauen Sie sich einmal an, wie das in der DDR mit den Kindertagesstätten und mit Kindergärten für Kinder von arbeitenden Frauen im Vergleich zu uns ist. Da sind die uns leider voraus. Schauen Sie sich einmal an, wie das mit der Teilzeitarbeit und wie das mit der Ganztagsschule ist. Wir werden viel zu tun haben, wenn wir die Diskriminierung der berufstätigen Frauen bei uns beseitigen wollen.
    Herr Scheel, Herr Barzel und ich haben neulich einmal gemeinsam zu diesem Thema vor einem Gremium von lauter liebenswürdigen Damen referieren müssen. Barzel war in der glücklichen Lage, als erster sprechen zu dürfen. Der Erste hat es im-



    Schmidt (Hamburg)

    mer am leichtesten — so wie der Bundeskanzler heute morgen, der hat es auch immer am leichtesten.

    (Heiterkeit.)

    Dann kam Schmidt, das war schon schwerer, und
    dann der arme Scheel: den letzten bissen die Hunde.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Wir waren uns aber alle einig — da darf ich Sie hier zum Zeugen anrufen und das in Erinnerung rufen —, ohne daß man vorher miteinander geredet hatte, daß wir an die Frauen in unserem Volk, in unserer Gesellschaft appellierten, sich nicht immer nur darüber zu beklagen, wie sehr sie benachteiligt usw. seien, sondern in ihren Familien dafür zu sorgen, daß ihre Töchter dieselbe sorgfältige Bildung und berufliche Ausbildung wie ihre Söhne bekommen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.)

    Das ist nämlich der einzige Weg, um das in Ordnung zu bringen.
    Die DDR hat einen noch höheren Prozentsatz berufstätiger Frauen. Von allen Arbeitnehmern in der DDR sind 47% Frauen. Man hat dort aus dieser Situation inzwischen eine ganze Ideologie entwickelt. Einer der Standardsätze etwa aus einem staatlichen Handbuch lautet dann folgendermaßen: „Die Förderung der Mädchen und Frauen für qualifizierte technische Berufe ist ein unabdingbares Element der technischen Revolution und der sozialistischen Rationalisierung."

    (Heiterkeit. — Zuruf von der CDU/CSU: Furchtbar!)

    — Furchtbar, ganz furchtbar! Aber, liebe Freunde, wenn die das auch mit solchen furchtbaren Phrasen zudecken, — wir sollten uns nicht vormachen, daß hier nicht für uns ein Problem läge, das wir noch zu lösen haben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Übrigens ist es ganz interessant, daß das Politbüro der SED neulich in einem offiziellen Bericht beklagt hat, daß nur ein völlig ungenügender Prozentsatz der Frauen in mittleren oder in leitenden Positionen tätig sei. Da kann man nur sagen: genau wie bei uns! Das ist offenbar gesamtdeutsches Schicksal der Frauen, aber kein Grund, sich darüber zu beruhigen.
    Es gibt ein anderes Feld der gesellschaftlichen Ordnung, auf dem das drüben völlig anders ist als bei uns, ich meine das Feld der Teilhabe der einzelnen Arbeitnehmer an den Prozessen der Entscheidung über das, was sie selber angeht. Der 17. Juni war ein Aufstand gegen das Ausgeschlossensein von der Mitbestimmung bei Löhnen, bei Arbeitsbedingungen, bei Arbeitsnormen, d. h. das Ausgeschlossensein von Entscheidungen, an denen beteiligt zu sein eigentlich ein Kernelement, ein wesentliches Element einer freiheitlichen Gesellschaft und Verfassung ausmacht. Wenn Arbeiter nicht selbst bei der Festsetzung ihrer Löhne oder ihrer Arbeitsnormen oder ihrer Arbeitsbedingungen mitreden können, dann — möchte ich sagen — ist das geradezu das Kriterium für die Unfreiheit einer Gesellschaft.

    (Beifall bei der SPD.)

    Da fällt mir ein — ich weiß nicht, ob der Finanzminister noch da ist.

    (Zuruf: Nein!)

    Aber Herr Stücklen ist ja da — —

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien und Beifall bei der SPD.)

    — Der Beifall war voreilig. Ich will dem Herrn
    Stücklen gar nichts. Ich will dem Herrn Strauß etwas.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Da fällt mir ein — das muß ich zitieren dürfen —, es ist ein paar Tage her, da hat der Herr Vorsitzende der CSU, nicht der Finanzminister,

    (Heiterkeit)

    in München gesagt:
    Manche, die so sehr um Recht und Freiheit besorgt sind und sich als Musterdemokraten empfehlen, lassen eine erstaunliche Lücke in ihrem Vokabular erkennen, wenn es um die Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands geht. Es fehlt nämlich seit geraumer Zeit im Vokabular prominenter Sprecher der SPD die Forderung nach Freiheit für das ganze Deutschland.
    Ich will dazu nichts weiter sagen als die Hoffnung aussprechen, daß jeder empfinden möge, daß dies ein Argument unterhalb der Gürtellinie ist.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Im übrigen gab es auf dem Parteitag der CSU auch durchaus Äußerungen und Einlassungen, die wir mit Zustimmung, zum Teil mit Vergnügen zur Kenntnis genommen haben, zum Teil mit Zustimmung und Vergnügen, z. B. die Tatsache, daß man sich in einer Arbeitsgemeinschaft dort zwei Stunden über Aufwertung oder Nichtaufwertung öffentlich unterhalten hat — und wirklich mit Zustimmung und Genugtuung, Herr Stücklen, die Tatsache der sehr eindeutigen Ablehnung sonstwo vorher geäußerter Vermutungen in bezug auf Möglichkeiten zukünftigen Zusammengehens mit der Nationaldemokratischen Partei.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU. — Zuruf von der CDU/CSU: Das war unter der Gürtellinie!)

    — Ich habe gesagt, ich habe das mit Zustimmung und Genugtuung gehört.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    Das war nicht unter der Gürtellinie. Wenn ich einer Sache, die ein CSU-Politiker vorträgt, hier zustimme und sage, ich empfinde Genugtuung, ist das unter der ,Gürtellinie?

    (Zurufe von der CDU/CSU.)



Rede von Erwin Schoettle
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Helmut Schmidt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Aber gern!