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ID0523904500

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    Deutscher Bundestag 239. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1969 Inhalt: Gedenken an den Aufstand vom 17. Juni 1953 und an die Verabschiedung des Grundgesetzes von Hassel, Präsident 13245 A Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland Dr. h. c. Kiesinger, Bundeskanzler. . 13246 A Überweisung einer Vorlage an den Haushaltsausschuß 13254 C Änderung einer Ausschußüberweisung . 13254 D Verlegung der Fragestunde bis zum Beginn der Parlamentsferien 13254 D Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland Scheel (FDP) 13255 A Schmidt (Hamburg) (SPD) 13262 D, 13288 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 13274 C, 13288 B Brandt, Bundesminister . 13283 B, 13288 D Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Tag der Deutschen Einheit (Drucksache V/2818) — Erste Beratung — 13289 B Schriftlicher Bericht des Auswärtigen Ausschusses über den Antrag der Abg. Metzger, Dr. Mommer, Frau Dr. Hubert, Dr. Schulz (Berlin), Majonica, Dr. Lenz (Bergstraße), Illerhaus u. Gen. betr. Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften (Drucksachen V/2755, V/4123) Dr. Furler (CDU/CSU) 13289 C Nächste Sitzung 13290 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 13291 A Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13245 239. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1969 Stenographischer Bericht Beginn: 10.00 Uhr
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    Berichtigung Es ist zu lesen: 236. Sitzung, Seite 13107 B, Zeile 18 statt „Dr. Wahl": „Weigl" Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 239. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1969 13291 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Dr. Aigner ** 21.6. Frau Albertz 21.6. Dr. Arndt (Berlin) 20.6. Dr. Arndt (Berlin/Köln) 17.6. Bals 17.6. Dr.-Ing. Dr. h. c. Balke 17.6. Bauer (Würzburg) * 20. 6. Bazille 21. 6. Behrendt ** 17.6. Berkhan * 20.6. Frau Blohm 20. 6. Blumenfeld * 20. 6. Dr. Brenck 15.7. Brück (Holz) * 20. 6. Buchstaller 19. 6. Burgemeister 20. 6. Corterier 17.6. Deringer 176. Dr. Dittrich ** 20. 6. Draeger * 20. 6. Dr. Eckhardt 21. 6. Dr. Even 28. 6. Flämig * 20.6. Franzen 19. 6. Dr. Friderichs 17.6. Dr. Giulini 20. 6. Dr. Götz 17.6. Freiherr von und zu Guttenberg 15.7. Haage (München) 17.6. Hahn (Bielefeld) ** 21. 6. Hamacher 30. 6. Dr. Heck 17. 6. Dr. Dr. Heinemann 20. 6. Hellenbrock 15.7. Frau Herklotz * 20.6. Hösl* 20. 6. Frau Holzmeister 18. 6. Dr. Jaeger 17.6. Junker 17.6. Kahn-Ackermann * 20. 6. Dr. Kempfler * 20. 6. Frau Klee * 20. 6. Dr. Kliesing (Honnef) * 20. 6. Klinker *' 21. 6. Koenen (Lippstadt) 20. 6. Dr. Kopf * 20. 6. * Für die Teilnahme an einer Sitzung der Versammlung der Westeuropäischen Union ** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments Anlage zum Stenographischen Bericht 1 Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Dr. Kübler * 20. 6. Kunze 15.7. Kurlbaum 17.6. Lange 20. 6. Lemmrich* 20. 6. Lenze (Attendorn) * 20. 6. Dr. Lohmar 30. 6. Lotze 15.7. Frau Dr. Maxsein * 20. 6. Meis 21. 6. Meister 20. 6. Memmel ** 19. 6. Dr. von Merkatz * 20. 6. Michels 27. 6. Mischnick 17.6. Missbach 5.7. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller 17.6. Müller (Berlin) 19. 6. Dr. Müller (München) * 20. 6. Müller (Remscheid) 19.6. Nellen 15.7. Pöhler * 20. 6. Dr. Pohle 19.6. Porten 19. 6. Raffert 17.6. Frau Renger 17.6. Richarts ** 20. 6. Richter * 20. 6. Dr. Rinderspacher * 20. 6. Rohde 17. 6. Frau Rudoll 20. 6. Dr. Rutschke * 20.6. Sander * 20. 6. Saxowski 17.6. Schlager 20. 6. Schmidhuber 20. 6. Dr. Schmidt (Offenbach) * 20. 6. Schmidt (Würgendorf) * 20. 6. Dr. Schulz (Berlin) * 20. 6. Frau Dr. Schwarzhaupt 17.6. Dr. Serres * 20. 6. Springorum ** 20.6. Dr. Staratzke 20. 6. Steinhoff 15.7. Dr. Steinmetz 20. 6. Dr. Freiherr von Vittinghoff-Schell * 20. 6. Dr. Wahl * 20. 6. Frau Wessel 15.7. Wienand* 20. 6. Dr. Wilhelmi 30. 6. Zebisch 21.6. b) Urlaubsanträge Frau Kleinert 4.7. Lemmer 27. 6.
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    Rede von Dr. Rainer Barzel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz hat der deutschen Politik drei Ziele gegeben:
    erstens, einen „demokratischen und sozialen Bundesstaat", „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben",
    zweitens, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden",
    drittens, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen".
    Dies ist eine Disposition der Fragen, die wir an uns selber zu stellen haben.
    Da muß am Beginn die Feststellung stehen, daß wir zwei der in der Verfassung genannten Ziele, nämlich die Wiedervereinigung und die Vereinigung Europas, noch nicht erreicht haben. Das sind die Fakten, und eine nüchterne Aussprache sollte von den Fakten ausgehen. Zu diesen Tatsachen gehört natürlich auch — und das sollte niemand gering schätzen —, daß die deutsche Politik sich zwanzig Jahre mit Leidenschaft bemüht hat, auch diese beiden Ziele zu erreichen. Zu den Fakten gehört — und das muß ganz am Anfang gesagt werden —, daß zwei dieser Ziele, nämlich die Wiedervereinigung und die Vereinigung Europas, aus deutscher Kraft allein nicht erreicht werden können und mit nationalistischer Kraftmeierei bestimmt nie werden erreicht werden.
    Zu diesem Blick gehört dann auch, daß lange Zeit zwischen den Parteien hier sehr streitig war, ob — so wir von Anfang an — die deutsche Politik die Einheit Deutschlands u n d die Vereinigung Europas zugleich erstreben solle oder ob das europäische Ziel erst angesteuert werden solle, nachdem die Wiedervereinigung erreicht sei; so andere. Darüber war lange heftiger Streit in diesem Hause.
    Heute ist unstreitig, daß beide Verfassungsziele Bestandteile einer Politik sind und sein müssen. Inzwischen begreifen alle, daß die Lösung der deutschen Frage auch als europäisches Problem angesehen werden muß. Allein die europäische Einordnung Deutschlands ermöglicht eben die Überwindung der deutschen Spaltung und uns hier, wie eines Tages dem ganzen Deutschland, soziale Sicherheit und wirtschaftliche Blüte.
    Dies gehört an den Beginn.



    Dr. Barzel
    Unser Grundgesetz, von dem heute so viel die Rede war, hat sich, wie wir meinen, bewährt, auch in der Fortentwicklung eines konstruktiven Föderalismus. Den Vätern des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat gebührt Dank für ihre Weitsicht. Wir meinen, daß am Grundgesetz vielleicht in technischen Fragen Reparaturarbeiten möglich werden mögen, nicht aber in den fundamentalen Teilen. Denn dieses Grundgesetz — und das scheint uns wichtig heute zu betonen, in völliger Übereinstimmung mit dem Herrn Bundeskanzler zu betonen — bestimmt nicht nur die Ziele der deutschen Politik, es enthält nicht nur die Organisations- und Kompetenznormen, sondern es setzt den schlechthin zentralen Maßstab für das positive oder negative Urteil über politische Lagen und Entwicklungen. Dieser zentrale Maßstab, der über Art. 146 hinaus gilt, ist die unantastbare Würde der menschlichen Person und die Anerkennung vorgegebener Menschenrechte. Nur dies, glaube ich, wird auch dem heutigen Tag, dem 17. Juni, und seinen Opfern ganz gerecht.

    (Beifall.)

    Damit — und es ist der Sinn dieser etwas theoretischen Einleitung, auf diesen Punkt zu kommen — entnehmen wir unserer Verfassung selbst den Maßstab dafür, was Fortschritt ist und was nicht Fortschritt ist. Nach unserer Verfassung ist also Fortschritt immer nur da — auch in gesamtdeutschen, auch in gesamteuropäischen, auch in gesellschaftspolitischen Dingen im Innern, auch in westeuropäischen Dingen —, immer nur da, wo Menschenrechte mehr zur Alltagswirklichkeit werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Mit anderen Worten: rückschrittlich, reaktionär und verfassungsfeindlich ist alles, was der Wirksamkeit der Menschrechte entgegensteht.
    Deshalb sage ich noch einmal: die Realität der „DDR" ist reaktionär, und es gibt deshalb keinen Weg und keine Möglichkeit für irgendeinen Demokraten, diesen reaktionären Antimenschenrechtsweg als einen möglichen Weg deutscher Politik anzuerkennen. Darum geht es doch in Wahrheit, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die deutsche Frage ist eben nicht durch Kniffe und auch nicht durch verbale Konstruktionen zu lösen, nicht einmal durch solche rechtlicher Art.
    Die deutsche Frage ist nichts anderes als ein fundamentales Freiheitsproblem. Wer soll das ganze Deutschland regieren? Eine linke Diktatur oder der freiheitliche Rechtsstaat? Das ist die Frage, und aus der kann man sich nicht herausstehlen, auch nicht aus der Geschichte und nicht aus der Spannung, die in Deutschland herrscht.
    Deshalb, Herr Kollege Schmidt, bin ich noch nicht ganz fertig mit meinem Urteil über Ihre Formulierung „Feiertag der Niederlage". Ich muß darüber weiter nachdenken. Aber prima facie möchte ich sagen: War dies wirklich nur eine Niederlage?

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Sie haben sich nicht durchgesetzt, natürlich. Aber ist es nicht vielmehr ein bleibender Auftrag und eine Verantwortung gerade aus dem Sinn dieser Opfer, auch der blutigen, zu begreifen, auch indem wir eine Form suchen, wie wir mit diesem Tag fertig werden? Vielleicht beginnen wir heute damit, ein Präjudiz zu setzen, — möglichst nicht gerade in der Form, daß die Diskussion über die Lage westdeutscher Urlauber im befreundeten Ausland zu sehr ausufert.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Nun bin ich allerdings gespannt, was die Presse wieder sagen wird. Wenn wir eine große kontroverse Debatte geführt hätten, hätte es geheißen: Das wurde dem Tag nicht gerecht. Hätten wir alle. Kontroversen verschwiegen, wäre es auch wieder falsch gewesen. Also falsch ist es sowieso. Deshalb ist es, glaube ich, gut, daß das Ferment der Einigkeit hier und heute stärker ist als das der Zerrissenheit. Jeder sollte beherzigen, was der Kanzler über das Scheitern des letzten Versuchs, eine Demokratie in Deutschland zu schaffen, gesagt hat. Das geschah nicht nur wegen ökonomischer Dinge, sondern wegen der Zerrissenheit. Deshalb sollte man, wenn es Einmütigkeit in vielen Punkten gibt, das nicht kritisieren, sondern sich freuen, daß das heute möglich ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Herr Kollege Schmidt, Sie haben ein Zitat meines Kollegen Franz-Josef Strauß in die Debatte eingeführt. Dieses Zitat kenne ich nicht; deshalb kann ich mich dazu nicht äußern. Aber nehmen Sie von dem ersten Sprecher der CDU/CSU schlicht folgendes hin: Ich glaube nicht, daß Kollege Strauß irgend etwas gemeint hat, das Ihnen unter die Gürtellinie gehen könnte. Er hat es sicher auch nicht gesagt.

    (Zurufe der Abg. Frau Berger-Heise.)

    — Hören Sie doch zu! Wollen Sie nicht hören, was ich jetzt sagen will? Dann sage ich es nicht.

    (Zurufe von der SPD: Doch!)

    Wir sind der Meinung, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, die wir kennen, und die Sozialdemokratische Partei, die wir nur zum Teil kennen, natürlich nur eine Wiedervereinigung in Freiheit herzustellen wünschen. Das ist eine ganz eindeutige Erklärung, und mir wäre es noch viel leichter, Herr Kollege Schmidt, das jetzt zu sagen, wenn Sie auf die Zwischenfrage meines Freundes Richard Stücklen — das ist auch eine Frage an einige auf der Regierungsbank gewesen — das Wort von der „Harzburger Front" endlich wegnähmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Das wird den 20 Jahren Bundesrepublik und der demokratischen Partei, die hier die Hauptverantwortung getragen hat, nicht gerecht.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Damit genug davon!

    Meine Damen und Herren, ich möchte noch einen anderen Faden aufnehmen, der, glaube ich, hier wichtig ist. Seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei sind jetzt zehn Monate vergangen, und wir



    Dr. Barzel
    ) haben einen etwas größeren Abstand zu den Ereignissen von damals. Ich glaube, jeder wird — gerade aus diesem Abstand — sagen: Es war gut, daß wir damals am 26. September diese Entschließung gefaßt haben, um unsere Position zu beziehen und die Leitlinien festzuhalten.
    Aber aus diesem Abstand bleibt heute eines nachzutragen, was in jener Debatte vom 26. September noch nicht gesagt werden konnte, weil wir noch zu sehr im Banne der Ereignisse von damals standen. Bis zum 21. August 1968 galt als politische Friedensphilosophie des Westens — wenn ich so sagen darf —, man müsse den potentiellen Gegner durch Bündnisse und Vorkehrungen abschrecken und zugleich die Entspannung mit ihm suchen. Wir haben diese Auffassung hier oft prinzipiell unterstützt.
    Aber es ist nie verborgen geblieben, daß wir dazu, was uns betrifft, auch immer gleich zwei skeptische Fragen mit auf den Tisch gelegt haben, nämlich erstens die Frage, ob Entspannung, so sehr wir sie wünschen, mit diesem Adressaten möglich ist, und zweitens die Frage, ob die Labilität, die Ungewißheit und die Gefährlichkeit des Status quo, wie er in Europa nun einmal entstanden ist, eine mögliche Basis für Entspannung sein könnten. Am 21. August merkten nun plötzlich alle, daß die westliche Entspannungsbemühung ohne Adressaten dastand und daß für die Moskauer Führer offensichtlich nichts härter war als die westliche Bemühung um Koexistenz.
    Zu diesen Fragen liegt nun eine gewichtige Arbeit eines Wissenschaftlers aus Großbritannien vor. Sie enthält einen hochinteressanten Satz, der, wie ich glaube, in unsere heutige Debatte gehört. Der Autor — er resümiert das aus dem Abstand — sagt:
    So stellt sich in der Rückschau heraus, daß der scheinbar immobile Status quo, auf den sich die Entspannung gründete, von sich aus nicht stabil genug war, um den Widersprüchen in der Politik der beteiligten Mächte ihre Schärfe zu nehmen. ... Heute ist der Status quo gleichbedeutend mit vergrößerter Feindseligkeit.
    Also, so schlußfolgert der Autor weiter, müsse sich einiges am Status quo ändern, wenn eine Entspannung wirklich erreicht werden solle.
    Eine bemerkenswerte Stimme! Mit unseren Worten heißt das: Der Status quo ist zu dynamisch, er kennt zu viel Rivalität und Gegeneinander, er ist zu labil und zu gefährlich, als daß man darauf Entspannung gründen könnte. Oder: Es gibt eben keine Entspannung, die greift, ohne zugleich den Spannungsursachen wirksam zu Leibe zu rücken. Auf Rivalität läßt sich auch in Deutschland keine Entspannung und keine Ordnung gründen.
    Meine Damen und Herren, das scheint mir eine wichtige Feststellung zu sein. Dazu muß man nun noch sagen — das gehört, glaube ich, in diese Debatte —, daß wir dieselbe prinzipielle Aussage für Europa nach West wie nach Ost machen. Was stand am Beginn der Europapolitik Abteilung West? Die Erklärung von Schuman vom Mai 1950 mit der Aufforderung an alle Europäer, an die Stelle der Rivalität die Zusammenarbeit zu setzen. Diese selbe Philosophie wird und muß auch nach Osten gelten, wenn ein tragfähiges Fundament erreicht werden soll und wir uns hier nicht in einer Schaumschlägerei von Tagesschlagzeilen erschöpfen wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die sowjetischen Führer mögen meinen, mit ihrem imperialen Akt — man kann es wohl nicht anders nennen — gegen die Tschechoslowakei und mit ihrer kolonialen Doktrin, die der Kanzler heute morgen beschrieben hat, das Problem gelöst zu haben. Sie haben sich — bestenfalls, und dann zu teuer — Zeit gekauft; und dies gegen den Zeitgeist und gegen den Willen der Völker. Wer nämlich die Deutschlandfrage, um die es doch in Wahrheit geht, ausklammern zu können glaubt, der irrt. Wer glaubt, er würde sie durch Druck auf uns lösen können, indem wir nach hinlänglicher Bearbeitung die Spaltung endgültig sanktionieren würden, der irrt auch, denn er unterschätzt unser Durchstehvermögen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Deshalb muß dies gesagt werden: Nicht nur eine europäische Friedensordnung, sondern auch ein solider Status quo — er ist auch denkbar — ist nicht ohne die Lösung der deutschen Frage möglich.
    In diesem Hause ist schon einmal davon gesprochen worden, daß die sowjetrussische Deutschlandpolitik auf Irttümern beruhe. Ludwig Erhard hat das hier gesagt. Ich finde immer, daß es nicht nur faszinierend ist, sich die sture Konsequenz der sowjetrussischen Deutschlandpolitik anzuschauen, mit der seit zwanzig Jahren mit anderen Worten dasselbe gesagt wird, sondern ebenso faszinierend ist ihre völlige Erfolglosigkeit. Sie spricht doch dafür, daß man in der Sowjetunion vielleicht noch einmal darüber nachdenken sollte, was die Sowjetunion eigentlich von und an der „DDR" hat. Sicherheit bekommt sie von ihr nur so viel, wie sie selbst durch die Rote Armee hineinsteckt. Vielleicht sollte man noch einmal versuchen, diese Irrtümer miteinander zu erörtern.
    Ganz sicher gibt es kein europäisches Sicherheitssystem und keine europäische Friedensordnung, es sei denn um den Kern einer Lösung der deutschen Probleme, und wenn es schrittweise ist, herum. Das muß man heute sehen, und dies muß man, glaube ich, unserem deutschen Volk sagen, um deutlich zu machen, was eigentlich dahintersteht, wenn wir hier zu dieser oder jener Sache nein sagen. Wir sagen dazu doch auch deshalb nein, weil wir die Entwicklung in Europa und in ganz Deutschland offenhalten wollen und weil wir uns nicht schuldig machen wollen, daß wegen unserer Haltung durch einseitige Verzichte und Vorleistungen eine Friedensordnung in Europa nicht zustande kommen kann. Das, glaube ich, ist das erste, was hier gesagt sein muß.
    Nun zum zweiten Punkt. Es ist davon gesprochen worden — das ist sicher richtig —, daß wir dieses Ziel nur erreichen, wenn unser Haus hier in Ordnung ist. Ich erinnere mich lebhaft an Gespräche aus den Jahren 1948 und 1949 mit Freunden im eigenen Land, mit europäischen Besuchern, mit alliierten Be-



    Dr. Barzel
    amten und Soldaten und an viele Aufsätze. Damals wurde die bange Frage gestellt, ob wohl diesmal der demokratische Versuch wenigstens in diesem Teil Deutschlands gelingen werde. Ich glaube, wir können heute sagen: Er ist gelungen.
    Wer einen Beweis braucht, der sehe sich die demokratisch-kritische Jugend an, soweit sie nicht gewalttätig ist, und dies ist die ganz überwiegende Mehrheit. Der wirtschaftliche und der soziale Fortschritt ist unverkennbar. Ich verzichte hier auf alle Zahlen. Diese zwanzig Jahre beweisen — das müssen wir einmal sagen — den Erfolg der Demokratie in unserem Lande. Diese Sache werden wir uns weder abhandeln noch von irgendwelchen Radikalinskis wegfunktionieren lassen. Es ist nämlich da, und unser Volk weiß, woher es kommt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich glaube, daß der Bundeskanzler recht hatte — Herr Scheel, er sagte es doch sehr zurückhaltend —, wenn er ,auf den Erfolg der gemeinsamen Arbeit hier hinwies. Am Schluß dieser Legislaturperiode wird eine große Regierungsleistung und eine wieder einmal reformerische Gesetzgebung dieses Bundestages stehen. Das muß man doch wohl noch sagen dürfen; es gehört auch zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland.
    Herr Scheel, ich will nicht noch einmal auf den Urlauber und viele andere Geschichten zu sprechen kommen. Erlauben Sie mir, nur auf einen Punkt hinzuweisen, weil mir das, ehrlich gesagt, das einzige war, worauf zu antworten mit wirklich sinnvoll und nötig schien. Sie haben sich ziemlich lange mit dem befaßt, was Sie mit Recht als Antwort der Bundesregierung auf die unfreundlichen Akte dritter Länder bezeichnen. Das ist Ihr gutes Recht, aber Sie sollten dem Bundeskanzler nicht vorwerfen, daß er ein paar Punkte nicht behandelt habe, die Sie im Bericht des Forschungsbeirats beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen oder im Protokoll über unsere kürzliche Debatte im April nachlesen können.
    Herr Scheel, Sie haben uns vorher gebeten, hier nichts zu behaupten, damit wir draußen nicht etwas Falsches über Sie verbreiten könnten. Darf ich Ihnen das zurückgeben und deshalb zunächst in diese Debatte einführen, was wirklich die Politik der Bundesregierung ist. Die Bundesregierung hat fünf Punkte zu diesem Problemkreis beschlossen. Die ersten drei Punkte kann ich jetzt auslassen. Die Punkte 4 und 5 möchte ich, Herr Präsident, hier sehr gern verlesen. Der vierte Punkt lautet:
    4. Die Bemühungen der Bundesregierung und ihrer Verbündeten für den Frieden in Europa und zur Überwindung der Spaltung Deutschlands werden erschwert durch unfreundliche Akte, die die Spaltung Deutschlands vertiefen. Eine von gegenseitigem Vertrauen getragene Freundschaft und Zusammenarbeit ist daher nur mit denjenigen Ländern möglich, die sich in der Grundfrage der nationalen Einheit auf die Seite des deutschen Volkes stellen.
    Da können Sie eigentlich zustimmen.
    5. Die nationale Einheit wird von der Ostberliner
    Regierung mißachtet, infolgedessen kann eine Unterstützung dieser Regierung nur als eine Handlung gewertet werden, die dem Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung zuwiderläuft. Die Bundesregierung muß daher die Anerkennung der DDR als unfreundlichen Akt betrachten. Sie wird in einem solchen Fall ihre Haltung und ihre Maßnahmen gemäß den Interessen des ganzen deutschen Volkes von den gegebenen Umständen abhängig machen.
    Das ist das, was Sie hier gefordert haben, nämlich eine Entscheidung von Fall zu Fall nach den Interessen des ganzen deutschen Volkes. Nur, Herr Scheel, wenn man fallweise entscheiden will und das volle Instrumentarium haben möchte, kann man sich auch nicht wieder selbst ein Tabu aufbauen und sagen, die Rückberufung eines Botschafters gehört dann nie dazu. Manchmal muß man vielleicht an einer Stelle einen Botschafter wegnehmen, damit die anderen nicht überall hinkommen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Erlauben Sie mir, noch auf einen anderen Teil zu sprechen zu kommen. Der Herr Bundeskanzler hat in seinem Bericht mit Recht darauf hingewiesen — wir haben schon ausgeführt, daß wir ihm zustimmen und daß wir ihn zu dieser großen Sicht beglückwünschen wie auch, was Herrn Scheel besonders schwergefallen ist, zu der guten parlamentarischen Form, in der hier an diesem Tag ein großer Bericht gegeben worden ist —, daß die sichtbaren Kennzeichen der Lage unserer Nation widerspruchsvoll sind, nicht nur in der Lage zwischen Ost und West. Ich will jetzt nicht auf das eingehen, was zum Tatsächlichen in der Zone hier zu sagen wäre. Vielleicht wäre es gut — wenn ich die Anregung an den zuständigen Minister geben darf —, wenn das Haus bei künftigen Debatten dieser Art eine schriftliche Unterlage über diese Zahlen haben könnte, so daß wir dann über die Politik sprechen können und hier nicht lange Berichte über Ziffern und Zahlen hören müssen. Das würde die Sache erleichtern.

    (Abg. Franke [Hannover] : Das haben wir schon einmal vorgeschlagen!)

    — Möglicherweise haben wir das schon einmal vorgeschlagen, Herr Kollege Franke, aber ich sage es jetzt von mir aus zum zweiten Male. —
    Die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland ist widerspruchsvoll, und wir müssen auch auf die Widersprüche hinweisen, die hier in der Bundesrepublik Deutschland bestehen. Wenn wir hier wieder nüchtern und redlich bleiben, müssen wir sehen, daß die sichtbaren Kennzeichen zugleich den Grad der Freiheit unserer Gesellschaft beweisen wie auch die Besorgnis, die man über die künftige Realität der Freiheit in manchen Bereichen haben muß. Die Fakten beweisen, daß einmal die Demokratie fest verwurzelt ist, daß aber zum anderen — wie übrigens in anderen Ländern auch — an den Rändern unserer Gesellschaft das Unkraut von Gewalt und Intoleranz und von Rücksichtslosigkeit wächst. Ich



    Dr. Barzel
    finde es unerträglich, wenn unser Staatsoberhaupt oder ein ausländischer Botschafter in unserem Lande rechtswidrig gehindert werden, ihre Arbeit zu tun.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es ist von Signifikanz, wenn in diesen Tagen ein sozialdemokratischer Kommentator das Wort vom linken Herrenmenschen in die Debatte eingeführt hat. Das ist ein Vorgang, der uns alle nachdenklich machen sollte.
    Dabei beweisen die Fakten, daß unser Volk die längste Friedensperiode seiner jüngeren Geschichte erlebt, daß — leider nur im freien Teil Deutschlands — das bisher größte Ausmaß an sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Wohlfahrt herrscht, daß aber zugleich immer wieder Miesmacher am Werke sind, die diesen gesellschaftlichen Erfolg herabsetzen. Die Fakten zeigen, daß die ganz überwiegende Mehrheit unseres Volkes nach zwei Kriegen und zwei Inflationen endlich in Ruhe und Ordnung ihrer Arbeit nachgehen will, daß aber zugleich andere da sind — lautstarke Wenige, aber wir müssen sie auch beachten —, die Unruhe, Umsturz und Krawall betreiben. Die Fakten beweisen, daß die gewalttätigen Krawallmacher unter den Jüngeren — und das sind nicht d i e Studenten, aber es sind auch Studenten darunter — notwendige Reformen verhindern. Sie rufen Reform, und zugleich verhindern sie diese durch ihre arrogante und intolerante Gewalttätigkeit.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ohne terrorfreien Raum sind Reformen schlecht vollziehbar. Und die anderen, welche auf der anderen Außenseite der deutschen Politik Nation rufen, gefährden durch ihren vorgestrigen Rechtsradikalismus, daß irgendwer in der Welt uns noch bei der Hauptsorge dieser Nation unterstützt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.) Die hindern eine gute Entwicklung.

    Deshalb, meine ich, sollten wir uns der Gesinnung unserer Verfassungsväter erinnern. Die haben ja das Modell einer kämpferischen Demokratie in der Verfassung festgelegt, und die erfordert kämpferische Demokraten, die auch die Courage haben, die im Rechtsstaat gesicherte Freiheit zu verteidigen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Damit uns hier keiner falsch versteht: Wir haben früher einmal von dieser Stelle aus gesagt, daß man mit administrativen Mitteln nicht etwa geistige Unruhe beseitigen kann. Das ist eine Frage der Politik. Aber mit administrativen Mitteln kann und muß Gesetz und Recht in diesem Land gewährleistet werden, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die freie Gesellschaft, die Freiheit der Meinung und die Freiheit des Protests haben doch eine einzige Basis, eine bleibende Bedingung der Freiheit sozusagen. Sie steht in Artikel 2 unseres Grundgesetzes; und dieses Zitat gehört in diese Debatte:
    Jeder hat
    — so heißt es dort —
    das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
    Meine Damen und Herren, Präsident Nixon hat sich — offensichtlich hat er mit noch stärkeren Problemen auf diesem Gebiet zu tun — in einer lesenswerten Rede vom 3. Juni mit diesem Problem beschäftigt. Ich möchte ganz wenige Sätze daraus doch vorlesen; sie passen nicht genau auf unsere Situation. Er sagt:
    Das Prinzip der gegenseitigen Achtung ist der Grundpfeiler, der unsere rechtsstaatliche Ordnung trägt, die die Freiheit erst möglich macht. Der Student,
    — so sagt er weiter —
    der in das Rektoratsgebäude eindringt, den Dekan bedroht, Akten entwendet und bedingungslos anzunehmende Forderungen stellt, mag erreichen, daß eine allzu nachgiebige Universitätsverwaltung einige seiner Forderungen erfüllt. Aber je größer sein Sieg, um so stärker hat er die Sicherheit seiner eigenen Rechte unterminiert.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    In einer freien Gesellschaft ist keines ihrer Mitglieder sicher, sofern nicht die Rechte aller respektiert werden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine Damen und Herren, und in' diesen Bericht und in diese Diskussion gehört dann eben auch, daß die Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands ganz offen und ohne jeden Skrupel die Antiisraelpolitik unterstützen. Sie stellen damit erneut ihre Gesinnung unter Beweis, die die Welt seit der Rolle Ulbrichts für den Einmarsch in die Tschechoslowakei kennt. Hier liegt zugleich — das sollte man draußen hören — eine der Erklärungen für die Antiisraelposition hiesiger Linksradikaler.
    Wir werden diese Position der kämpferischen Demokratie um so glaubhafter durchhalten, als wir uns nicht scheuen, ganz redlich zu argumentieren und auch einmal zu sagen, daß es auch Fehler gibt und noch nicht Erreichtes. Neulich stand jemand in einer Debatte mit jungen Menschen — es war ziemlich turbulent — auf und sagte nur einen Satz: „Ich kann das nicht hören, wenn der Bundestag debattiert; da irrt sich nie jemand, das kann doch nicht wahr sein!" — Ein ernster Einwand. Wir müssen deutlich machen, daß natürlich auch wir Fehler machen. Wir wollen uns deshalb das, was wir geschaffen haben, nicht herunterreden lassen.
    Aber betrachten wir den gelungenen Wiederaufbau nicht als die beste aller möglichen Welten, sondern als ein Fundament für weiteren Fortschritt,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)




    Dr. Barzel
    als Platz für neue Ideen. Und wenn junge Menschen wegen des Verhungerns in dieser Welt protestieren, sollten wir uns nur fragen, ob wir alles tun, was in unserer Kraft steht, um das nicht stattfinden zu lassen. Oder wenn andere — es ist häufig davon gesprochen worden — kritisch zum Bildungsproblem Stellung nehmen, dann wollen wir das ernst nehmen. Und alle, die es angeht, sollten sich bemühen, den Ruf nach Ordnung durch gleichzeitige Mitteilung vollzogener Reformen wirklich zu unterstützen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Und wenn wieder andere beklagen, Idee und Wirklichkeit der Demokratie klafften zu sehr auseinander, dann wollen wir das als ihre Frage gegen uns geiten lassen, wie überhaupt jedes sachliche und gewissenhafte Infragestellen zur Demokratie gehört. Es gibt sonst keinen Fortschritt, auch nicht in der Wissenschaft. Und demokratische Autorität erwächst nur aus dieser Reflexion. Lassen wir uns also in Frage stellen!
    Nur wir müssen dabei wissen, meine Damen und Herren, die Welt lebt nicht vom Fragen allein, sie braucht auch Antworten,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    sie braucht Menschen, die Antworten wissen, die Antworten wagen und die dann die Antworten auch verantworten. Sonst geht es nämlich überhaupt nicht weiter. Deshalb sollten wir — wie auch die anderen Kollegen das getan haben — den Blick auf einiges werfen, was vielleicht noch unvollkommen ist, was
    in der Zukunft der Verbesserung bedarf.
    Ich meine, daß die innenpolitische Arbeit neben den großen Zielen, von denen wir sprachen — Wiedervereinigung, vereinigtes Europa, äußere und innere Sicherheit — vor allem folgendem dienen muß: Erstens dem Aufstieg durch Bildung. Wir haben hier in einer etwas spannenderen Debatte, als man uns noch bestritt, überhaupt solche Fragen erörtern zu dürfen, mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß es eine unerträgliche Einengung des Bildungsproblems in Deutschland sei, wenn man nur auf die Universitäten sehe. Wir haben auf die 90 % Volksschüler, auf die Fortbildungsprobleme und die Ingenieurschüler schon damals hingewiesen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.) Das wollen wir auch weiter tun.

    Die Bundesregierung — Herr Kollege Stoltenberg hat das berichten können — hat — das darf man sagen — einen stolzen Erfolg errungen, indem sie in den Fragen der Technologie und der Forschung in der Welt weitestgehend den Anschluß gefunden hat. Dieser Bundestag hat hier auf Anregung der Bundesregierung durch das Arbeitsförderungs- und durch das Berufsausbildungsgesetz die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß wir zu besserer Bildung für alle, nicht nur für die Studierenden kommen, und dadurch die Aufstiegschancen für alle verbessert und Privilegien abgebaut. Ich meine, wir sollten — manche Befürchtungen dieses Tages, daß heute zwar über die gespaltene Nation diskutiert werde, daß aber vielleicht eine neue verschärfte Spaltung dazu kommen könnte, scheinen sich Gott sei Dank
    nicht zu bestätigen — miteinander noch die Anstrengung unternehmen — und Sie, Herr Kollege Scheel, sind herzlich dazu eingeladen —, auch das Ausbildungsförderungsgesetz noch in den nächsten Wochen in einem finanziell möglichen Rahmen zu verabschieden. Es gehört in diesen Dreisatz der Bildung, die wir hier brauchen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir haben, meine Damen und Herren, davon gesprochen — auch der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen —, daß auf dem Bildungsgebiet die Regierung und auch der Bundestag neue Kompetenzen bekommen. Ich darf Ihnen sagen, daß wir interne Vorarbeiten — Herr Kollege Martin — so weit vorangetrieben haben, daß der nächste Bundestag nicht auf den Regierungsentwurf eines Bundesgesetzes über die Grundsätze des Hochschulwesens wird warten müssen. Wir stehen vielmehr, wenn nötig und erforderlich, mit unserem Entwurf bereit.
    Wenn man das Ganze nüchtern betrachtet und als erstes festhält, daß die Haushaltspolitik in Bund, Ländern und Gemeinden ihre Prioritäten durchhält, wenn zweitens die Länder ihre moderne Schulpolitik fortsetzen oder, wo es noch notwendig ist, sie finden, und wenn es drittens gelingt, an Universitäten Ordnung und Reformwille Hand in Hand gehen zu lassen, dann haben wir eine Situation erreicht, in der wir die Probleme mindestens im Griff haben und sie lösen können, soweit der Staat diese Dinge lösen kann.
    Ein zweites aber, was not tut und. bei dem wir auch noch nicht am Ende sind, ist der Fortgang der Sozialreform. Ich habe mich, Herr Kollege Schmidt, sehr gefreut über Ihre Rede über die Familie, über die Frauen, über die Kindergärten usw. Das war eine gute Rede. Die hätte so jeder von uns halten können, und ich will deshalb hier nicht zuviel wiederholen. Daß die Diskriminierung der arbeitenden Frau, soweit es sie bei den Tarifpartnern noch gibt, vom Tisch muß, ist klar. Wir wollen darüber nicht die Hausfrau vergessen; sie ist nämlich auch eine arbeitende Frau.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir wollen den Familienlastenausgleich verbessern. Das ist alles notwendig. Wir haben ja dazu eine gemeinsame Erklärung abgegeben.
    . Ich mache es ganz kurz, meine Damen und Herren, denn dieser 17. Juni liegt natürlich im Jahre 1969. Ich möchte nur noch eines sagen: Auf dem Gebiet der Sozialreform verzeichnen wir außer der Eigentumspolitik die Rentenpolitik und die Lohnfortzahlung. Das zeigt, mit welchem Geist wir an die Dinge herangehen. Nun wird es notwendig, die Krankenversicherungsreform durchzuführen und die Lage der Krankenhäuser zu verbessern. Ich meine, die jüngsten Beratungen dieses Bundestages haben gezeigt, daß es nur möglich ist, diese gesellschafts-
    und sozialpolitischen Fragen zu lösen, wenn a) der Ausgleich der berechtigten Interessen aller erfolgt — unsere Gesellschaft hat eben Arbeiter und Angestellte, sie hat freie Berufe, Unternehmer, sie hat Bauern, sie hat Mittelständler und nicht nur eine



    Dr. Barzel
    Schicht — und wenn wir b) die ökonomischen Belastungen und die finanziellen Auswirkungen für alle zumutbar, für alle tragbar und gerecht verteilen. Man kann zwar eine ganze Weile sagen: hier sprechen wir jetzt vom Steuerzahler, dort vom Subventionsempfänger, hier vom Rentner und dort von jenem; aber am Schluß muß die Zeche für alle stimmen. Denn die eine Volkswirtschaft muß das alles erbringen, und deshalb muß es eben auch finanziell richtig sein.
    Notwendig ist drittens die Stärkung unserer Wirtschaftskraft. Wer die Zahlen über den Fortschritt Japans liest — die Japaner haben andere Bedingungen; aber dies ist dennoch ein wichtiger Punkt für unsere Lage auf dem Weltmarkt —, wer die Zahlen über internationale Wirtschaftskraftvergleiche und -prognosen für die 70er Jahre liest, wer sieht, wieviel Geld wir immer noch trotz besten Bemühens für Subventionen allein im Bundeshaushalt ausgeben, ausgerichtet an Subventionen von gestern, wer das alles kennt, der weiß: wir werden eine große Anstrengung machen müssen, um unsere Wirtschaftskraft zu stärken. Dazu gehört auch die Rationalisierung unserer Volkswirtschaft durch Lösung der bekannten regionalen und sektoralen Strukturprobleme. — Das habe ich nun wirklich kurz gemacht, Herr Kollege Schmidt, und ich will diesen Teil schon bescheiden beenden.
    Es kommt aber noch ein Viertes hinzu. Viele Mitbürger sagen uns: Der Wiederaufbau ist zu Ende; das ist gut gegangen; die Bundesrepublik Deutschland steht solide da; aber von Europa sehen wir wenig, und die Wiedervereinigung steht nicht vor der Tür. Sie fragen uns: Und nun? Wenn wir diese Frage nicht aufnehmen, werden andere sie beantworten.
    Nehmen wir die Frage nach dem Rang der Nation auf, so müssen wir noch einmal sagen, daß Nationalismus hoffnungslos rückschrittlich ist, daß wir gegen alle anderen nichts erreichen, sondern nur mit ihnen. Zum anderen müssen wir ganz deutlich sagen — und das ist eine große Chance für die Deutschen —, daß die Zeit, in der militärische Stärke plus wirtschaftliche Kapazität und Produktivkraft vorwiegend oder allein den Rang der Nation bestimmen, vorbei ist. Immer mehr bestimmen den Rang der Nation die Arbeitskraft, die soziale Gerechtigkeit, die breite Bildung, die Wissenschaft, die wirtschaftliche Dynamik und die schöpferische Kraft. Das sind die entscheidenden Daten für den Rang einer Nation, und hier können wir, die Deutschen, noch eine Menge auch für uns tun.
    Für den letzten Redner in einer solchen Debatte ist es nicht ganz leicht, nicht nur nachzureden, und ich möchte einen Versuch machen, der, wenn ich richtig zugehört habe, von den beiden Vorrednern noch nicht unternommen worden ist. Das soll kein Vorwurf sein.
    Ich möchte versuchen, ein paar Sätze über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland zu sagen, wenn man sich das einmal von draußen ansieht. Wenn man dabei genauso nüchtern bleibt wie am Anfang, muß man sagen, daß wir mehr Achtung als Sympathie gefunden haben, weniger Freundschaft als Interessenidentität, aber eine ganz solide Verläßlichkeit der NATO- und EWG-Partner wahrnehmen. Wir erkennen, daß nicht überall in der Welt unser Wunsch nach freier Selbstbestimmung aller Deutschen als besonders dringlich angesehen wird. Auch hören wir Fragen über unseren künftigen Kurs, und wir nehmen unverminderte Feindschaft aus Ostberlin und aus Moskau wahr. Mancher im Westen fragt uns, ob wir nur noch Ostpolitik zu treiben gedächten. Die innerdeutsche Lage ist eher verhärtet. Unsere zur Verständigung ausgestreckte Hand wird von den Kommunisten bewußt als die raffinierte Tarnung einer Faust mißdeutet. Es ist gut, sich nichts vorzumachen — auch insoweit nicht. Unsere Antwort darauf sollte sein: Beständigkeit und Selbstvertrauen.
    Nach diesen Jahren einer demokratischen, rechtlichen und sozialen Wirklichkeit scheuen wir keinen Vergleich mit anderen Ländern. Zensuren oder oberlehrerhafte Töne weisen wir zurück. Mit unseren Randfiguren der NPD, der DKP und des SDS werden wir so fertig wie andere Länder mit den ihren. Wer uns dabei helfen will, der soll anerkennen, wie die demokratische Wirklichkeit in diesem Lande ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wenn irgendwer draußen unsere Wirtschaftskraft rügt, ist er eingeladen, dieselbe Anstrengung zu machen. Es liegt doch nicht an uns, daß sie entgegen unserem Willen nicht noch stärker für Europa, für den Frieden, für die Entspannung eingesetzt werden kann. Wir bremsen doch diese Entwicklungen nicht, meine Damen und Herren!

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Die, die überhaupt nicht aufhören wollen, uns Hitler vorzuwerfen, sollten uns bestimmt jetzt nicht drängen, uns mit der roten Diktatur zu arrangieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir sagen deshalb noch einmal — und da nehme ich etwas auf, was Herr Scheel vorhin in die Debatte eingeführt hat —: Es muß ganz klar sein: Wir sind keine Großmacht. Unser Beitrag zur Machtpolitik erschöpft sich im militärischen Beitrag zum Bündnis. Wir haben keine Atomwaffen und wir wollen keine; der Kanzler hat noch einmal die insoweit einstimmige Entschließung des Hauses verlesen. Wir sind nur geeignet und bereit zu einem weltpolitischen Engagement, soweit es menschliche, soziale, wirtschaftliche und wissenschaftliche Hilfe betrifft. Dies ist freilich auch unsere Aufgabe.
    Meine Damen und Herren, all denen, die nun draußen noch fragen: Was werdet ihr eigentlich machen?, die sagen: Nun ist der General de Gaulle — der Bundeskanzler hat ihm mit Recht gedankt — zurückgetreten, was werdet ihr nun real machen in eurer Politik gegenüber Großbritannien? Allen, die diese Fragen stellen, möchte ich sagen: wir tun uns den größten Gefallen, wenn wir gerade in diesem Bereich nach Westen wie nach Osten beständige Politik üben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)




    Dr. Barzel
    Dies sollte die einzige Sensation sein, die die Deutschen für manch bösen Kritiker draußen bereithalten, meine Damen und Herren. Wir sind — und das muß deshalb hier gesagt werden — weder bereit, die in den Römischen Verträgen festgelegte Konzeption für die Einigung des freien Europa zu verlassen, noch sind wir bereit, uns mit der Spaltung Europas abzufinden oder durch Vorleistungen und Verzicht Konzept und Möglichkeit einer europäischen Friedensordnung zu verraten.
    Unsere Politik ist beständig, sie ist argumentiert, sie ist jedermann erkennbar, und sie ist wegen ihrer gleichbleibenden Prinzipien durchaus berechenbar für jedermann draußen. Deshalb nicht jeden Tag auf diesem Gebiet etwas Neues sagen, sondern konsequent das einmal Begonnene weiter tun.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Das, was wir hier wollen, ist nicht eine Erfindung neuen Datums, sondern Inhalt des Grundgesetzes. Das Grundgesetz sagt, wir wollten eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa, um dem Frieden der Welt zu dienen. Das fassen wir jetzt zusammen mit „europäische Friedensordnung". Die Spaltung Deutschlands und Europas steht dem entgegen.
    Man muß auch einmal sagen, daß Breschnjew-Doktrin und europäische Friedensordnung wie Feuer und Wasser sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Nach dieser Doktrin begibt sich jeder in die dauernde Abhängigkeit von Moskau, bei dem einmal die Kommunisten die Macht übernommen haben. Wir wissen — und das gehört in diesen Bericht zur Lage der Nation —, was alles diesen Zielen, dem gesamtdeutschen und dem gesamteuropäischen, entgegensteht: Gegen die Einheit stehen der Wille und die Politik Moskaus, steht die Breschnjew-Doktrin, steht die Verfassung der „DDR" und steht auch der Vertrag zwischen Moskau und Ostberlin vom 12. Juni 1964.
    Wir scheuen uns auch nicht zu sagen, daß gegen den Fortschritt der Vereinigung im freien Europa manches steht, Bastionen des Gewohnten, hier oder da gar Nationalismus oder ganz einfach mangelnder Wille. Prinzipien und Reden, Verträge und Konzeptionen gibt es da wirklich genug.
    Auf die Dauer — entschuldigen Sie diesen nüchternen Beitrag in einer Zeit, wo manche meinen, es stehe ein europäischer Frühling vor der Tür; vielleicht sind wir gerade beim beginnenden Tauwetter, und ich glaube, das ist nicht die Landschaft, die ganz große, kühne, neue Konzepte trägt; außerdem lenken die manchmal vielleicht nur vom konsequenten Gehen des beschrittenen Weges ab — wir d der gemeinsame Agrarmarkt als Motor für die EWG nicht genügen. Da muß auch politisch mehr hinzukommen. Deshalb unterstützen wir die Position, die der Kanzler in dieser wie in den anderen Fragen hier ganz klar zu den aktuellen Problemen eingenommen hat.
    Wir hatten schon einmal eine solche Situation, Herr Bundesaußenminister. Das war voriges Jahr, drei Tage, bevor das Parlament in die Ferien ging.
    Diesmal geht es zu einem löblicheren Tun, wie wir alle wissen. Es ist vielleicht ganz gut, die Auffassung der Fraktion der CDU/CSU und die ganz nahtlose Identität mit der des Kanzlers festzuhalten, weil dieses Haus nicht da sein wird, wenn die Regierung in den nächsten Monaten gemeinsam wird Politik machen können und müssen.
    Wir unterstreichen deshalb ganz präzise:
    Erstens: Nötig sind ein Treffen der europäischen Regierungschefs, die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Beitrittswilligen und der EWG, die Öffnung des Gemeinsamen Marktes für die Neutralen, sofern sie das wollen, der zügige Ausbau der Gemeinschaft und der sichtbare Beginn der politischen Zusammenarbeit.
    Zweitens: Wir sagen ja zu den Bemühungen um die Sowjetunion, ja zu dem Gespräch mit den Verantwortlichen in Ostberlin, ja zum Gespräch mit Polen wie mit allen europäischen Ländern, ja zur gesamteuropäischen Kooperation, ja zur Erklärung der Bundesregierung vom 30. Mai 1969 und ebenso entschieden nein zur Anerkennung der „DDR" und nein zum Verzicht auf deutsches Gebiet ohne Friedensvertrag.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren! Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen ist für eine 'europäische Friedensordnung so fundamental, wie es die zwischen Deutschland und Frankreich war. Diese Frage steht in einem fundamentalen Zusammenhang mit der Lösung der deutschen Frage; denn nicht nur alle Polen, auch alle Deutschen wollen in gesicherten Grenzen zusammenleben. Dies wird man nicht erreichen, wenn Unlegitimierte irgendwelche, und seien es auch nur politische, Absichtserklärungen des Verzichtes abgeben. Was heißt denn „Friedensordnung"? Das heißt Zusammenleben ohne Gewalt unter der Herrschaft des Rechtes. Und Recht, also die Basis der Ordnung, insonderheit neues Recht, wird doch für Demokraten nur verbindlich durch die Zustimmung aller Beteiligten. Dies heißt Friedensordnung und sonst gar nichts.
    In diesen Zusammenhang gehören noch wenige Dinge. Zur Lage gehört auch, daß eine Million Deutsche heute weder hier noch drüben, sondern in den östlichen unter fremder Verwaltung stehenden Teilen lebt. Ihre wirtschaftliche und ihre kulturelle Situation entzieht sich zwar unserer direkten Einwirkung, aber nichts enthebt uns der Pflicht, die Lage dieser Deutschen, wo immer möglich und wie immer möglich, zu verbessern. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung im zuständigen Ausschuß hierüber Mitteilungen machen könnte. Die europäische Menschenrechtskonvention ist hier der Maßstab. Und wenn es zwischen Polen und Deutschland etwas zu besprechen gibt, dann sicher zunächst auch dies: die Lage der deutschen Menschen in den unter fremder Verwaltung stehenden Teilen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, das andere, was in den Zusammenhang gehört — und noch einmal sehe



    Dr. Barzel
    ich jetzt den Kollegen Scheel an —: Wenn hier Fragen diskutiert werden, die Kambodscha oder arabische Länder durch unfreundliche Handlungen gegenüber Deutschland aufgeworfen haben, dann gehört in dieses Bild auch die weltpolitische Lage, und dazu gehört immer wieder zuerst die Ohnmacht der Europäer, die daran selbst schuld sind, weil sie sich nicht einigen. Dazu gehören aber auch das veränderte Engagement der USA in Asien und die verhärtete Spannung im Nahen Osten. Die deutschen Probleme stehen dabei für andere in der Regel nicht im Mittelpunkt.
    Wir dürfen nicht übersehen, daß Ostberlin in zunehmendem Maße seinen aggressiven Geist in außenpolitische Aktivität umsetzt. Die Schlagzeile des Zentralorgans der SED „Neues Deutschland" vom 25. August 1968 hieß: „In Prag regiert der Zionismus". Sie stimmte auf gespenstische Weise mit der des „Völkischen Beobachters" zum Einmarsch von 1938 überein. Dort hieß es: „In Prag regiert das Judentum". Meine Damen und Herren, nicht nur als ideologischer Besserwisser — das haben wir ja oft genug dargetan —, sondern auch als außenpolitischer Vormund spielt sich Ostberlin gegenüber den kleineren osteuropäischen Partnern auf.
    Da gibt es etwas, was man eine Ulbricht-Doktrin der wirtschaftlichen Bevormundung osteuropäischer Staaten nennen könnte. Sie besagt, daß das kommunistische Außenhandelsmonopol der COMECON-Länder diese Regierungen eigentlich verpflichte, ihre Außenhandelsunternehmen vom Westhandel
    abzuhalten. Sie sagt, Handelsfragen seien unter dem Aspekt der Ost-West-Auseinandersetzung zu sehen, und man solle seinen Bedarf im COMECON-Bereich decken, mit anderen Worten: bei Ulbricht. Auch hier wird der aggressive Geist Ostberlins in der wirtschaftlichen Bevormundung osteuropäischer Länder deutlich. Die Spatzen pfeifen es ja von den Dächern, was immer in Kommuniqués steht, daß die Gesinnung Ostberlins in osteuropäischen Hauptstädten zunehmend Antipathien wachruft. Wir werden auch deshalb dafür zu sorgen haben, daß durch unsere Bereitschaft zum Ausgleich und zur Verständigung und durch unsere Präsenz in diesen Ländern der deutsche Name in diesem Bereich nicht abermals total unter die Räder gerät.
    Das Dritte, was ich hierzu sagen möchte, damit man weiß, wie unsere Meinung ist, auch wenn die Politik dann ohne dieses Parlament weitergeht: Wir beurteilen den Budapester Aufruf der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes und ihre Einladung zu einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz skeptisch, weil diesen Worten ganz andere Taten entgegenstehen. Die Taten sind die Ablehnung der konkreten Gesprächsangebote des Bundeskanzlers, der Einmarsch in die Tschechoslowakei, die Breschnew-Doktrin, die Militärdoktrin der „DDR" und die Verhinderung diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland, die Mauer in Berlin und der Todesstreifen durch unser Land. Das sind die Realitäten. Man muß beides sehen, die Worte und die Realitäten, und man muß die Mahnung von Henry Kissinger beherzigen, nicht den Wechsel der
    Tonart schon für etwas Neu
    eues oder gar für Entspannung zu halten.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Zu den Fakten gehört schließlich, daß die NATO-Initiative von Reykjavik vom vorigen Jahr zu Entspannung und zu Abrüstungsmaßnahmen bisher von drüben ignoriert worden ist. Nur wenn dies alles im Blickfeld ist, nur dann und nur soweit scheint es uns sinnvoll, auf diplomatischem Wege auszuloten, ob und wo und wie hier Ansätze sein könnten, um unser Ziel schrittweise zu erreichen: Kooperation statt Konfrontation, Gleichberechtigung statt Hegemonie und Partnerschaft statt Rivalität.
    Eine europäische Friedensordnung ist mehr als das Festschreiben des Status quo. Soll deshalb ein europäisches Sicherheitssystem ein Schritt auf dem Wege zur Friedensordnung hin sein, dann müssen schon die Spannungsursachen Hand in Hand mit den Sicherheitsproblemen behandelt und gelöst werden. Wir begrüßen deshalb die Feststellung des holländischen Außenministers, der als Vorsitzender der letzten Konferenz des WEU-Ministerrats für alle seine Kollegen dort erklärt hat, daß nur bei Fortschritten in den deutschen Problemen eine solche Konferenz sinnvoll sei. Käme es unter dieser Voraussetzung zu einer solchen Konferenz, so stellte sich das Problem der Beteiligung der Deutschen. Wir meinen, es wäre lösbar ohne die völkerrechtliche Anerkennung der „DDR", z. B. nach dem Modell von 1963. Wir haben das kürzlich in der Öffentlichkeit dargetan. Ich nehme darauf Bezug.
    Vor allem aber nehme ich Bezug auf eine Äußerung des Herrn Bundesaußenministers, die ich heute in der Presse gelesen habe und für die ich mich sehr bedanke. Danach hat er gesagt, eine solche Konferenz habe doch gar keinen Sinn, wenn es nicht mindestens innerdeutsche Gespräche gebe. Das ist ein gutes Wort. So haben auch wir uns hier schon in der letzten Debatte zu dieser Frage eingelassen. Deshalb noch einmal: Walter Ulbricht hat es in der Hand zu zeigen, wie ernst die Worte des Aufrufs gemeint sind. Solange seine Taten nur die sind, das Gesprächsangebot des Kanzlers abzulehnen, halten wir von allen anderen Worten in diesem Dokument nicht sehr viel.
    Wie die Dinge liegen und wie der Einmarsch in die Tschechoslowakei beweist, hängen unsere Freiheit wie der Nichtkrieg in Europa — und mehr haben wir ja leider nicht — von der wirksamen Abschreckung durch die NATO ab. Von dieser Stelle aus hat Präsident Nixon das mit eindrucksvollen Worten dargetan. „Sicherheit durch Entspannung" ist ein schönes Ziel, wert es zu wünschen und dafür zu arbeiten. Aber real ist allein Sicherheit durch Bündnis mit eigenem Beitrag. Nur wer diese Realität sieht, wird davor gefeit sein, daß er eines Tages — nach Spaziergängen durch Wolkenkuckucksheime — in der Realität äußerer Gewalt und innerer Unfreiheit aufwacht.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Ich finde es gut, daß die Bundesregierung die Idee
    des Präsidenten der USA aufgenommen hat, die dritte
    Dimension in der NATO: die gesellschaftpolitische



    Dr. Barzel
    Zusammenarbeit, und ich werde mir wohl erlauben dürfen, auf die Reden des Kollegen Fritz Erler und auch auf die des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Beginn dieser Legislaturperiode hinzuweisen, in denen beide von der Notwendigkeit der gesellschaftspolitischen Zusammenarbeit auch in diesem Bündnis gesprochen haben.
    Meine Damen und Herren, wer zur Sicherheit ja sagt, muß zur NATO ja sagen. Wer zur NATO ja sagt, muß zum deutschen Beitrag ja sagen, und das geht nicht, ohne daß man zur Bundeswehr, zu den deutschen Soldaten und den Wehrpflichtigen, ja sagt. Auch dies gehört in den Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland.

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.)

    Da gibt es ein paar Probleme, die wir kennen. Wir haben begonnen, einige zu lösen; andere Sorgen untersuchen wir. Ich glaube, dieses Haus ist es der Bundeswehr schuldig, sie spüren zu lassen, daß sie in jeder Weise von der ganz großen Majorität dieses Hauses und auch von der Dankbarkeit des eigenen Volkes getragen wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.)

    Herr Präsident, ich hoffe, meine Zeit nicht überschritten zu haben. Ich fasse zusammen. Eine gute Zukunft haben wir nur zusammen mit anderen Völkern. Das ist die Basis unserer Politik nach außen. Die Basis unserer Politik nach innen muß heißen: Toleranz, Beachten der Freiheit des anderen. Was wir nach außen und nach innen erstreben, heißt: Herrschaft des Rechts, und das heißt zuerst: Menschenrechte. Die Menschenrechte sind der Schlüssel zum dauerhaften Frieden. Diesen gibt es nur, nach innen wie nach außen, in einer politischen Versammlung wie im ganzen Volk, durch Verzicht auf Gewalt und durch Rücksicht auf das Recht des anderen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Karl Mommer
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesvorsitzende der Freien Demokraten hat heute am frühen Nachmittag — und ich denke, das war sehr zu begrüßen — zunächst und vor allem von dem gesprochen, was uns an diesem Tag und über diesen Tag -hinaus im Ringen um Deutschland und um den deutschen Beitrag in Europa und für den Frieden in der Welt miteinander verbindet. Herr Kollege Scheel hat dann — und das wird auch jeder verstehen — das kritisch unter die Lupe genommen, was hier über die Arbeit der gegenwärtigen Bundesregierung gesagt worden ist. Das ist nicht nur sein Recht, sondern es ist seine Pflicht. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß die Zusammenarbeit von zwei annähernd gleich großen Parteien in einer Regierung der Großen Koalition gar nicht immer so einfach ist. Aber heute hat sich herausgestellt, daß es auch gar nicht so einfach ist,
    die Arbeitsergebnisse ernsthaft zu kritisieren, denn
    diese Arbeitsergebnisse können sich sehen lassen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir haben auf mehr als einem Gebiet mehr erreicht, als wir uns vorgenommen hatten. Damit meine ich nicht nur die Gleichstellung der Arbeiter mit den Angestellten auf dem Gebiet der Lohnfortzahlung. Der Bundeskanzler, der einen gedrängten Bericht geben wollte, hat manches, was auch sonst noch geleistet wurde, gar nicht mehr mit einbeziehen können. Ich denke z. B. an die wichtigen Tätigkeiten, die der Bundesverkehrsminister für die Fortentwicklung der Verkehrspolitik eingeleitet hat.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wahr ist, daß auf dem Gebiete des Wahlrechts keine Fortentwicklung stattgefunden hat. Aber gerade dies wird ja wohl die FDP der Regierung der Großen Koalition nicht übelnehmen,

    (Heiterkeit)

    wie man die Materie sonst auch beurteilen mag.
    Meine Damen und Herren, mir ist in Verbindung mit dem heutigen Tag, mit dem 17. Juni, mehrmals ein Absatz aus einem sehr nachdenkenswerten Aufsatz von Professor Scheuner durch den Kopf gegangen; ich möchte ihn im Zusammenhang mit meinem Beitrag dem Hohen Hause vortragen. Ulrich Scheuner sagt:
    Die Überwindung der deutschen Trennung besitzt nach 25 Jahren nicht mehr die gleiche natürliche Evidenz wie am Anfang der Teilung eines Volkes. Sie kann jedenfalls nicht allein mehr aus dem Rückblick auf die erfolgte Zerspaltung dieser Einheit und aus dem historischen Anspruch ihre Forderung begründen, sie muß vielmehr nun sich einfügen in ein Bild der Zukunft, das über nationale Ziele hinaus die Ordnung der europäischen Völker als ein Ganzes in den Gesichtskreis einbezieht.
    Und wenn das so ist, dann wäre es verlockend, heute nicht nur die Frage mit stellen zu dürfen, sondern sie auch als Bundesminister des Auswärtigen beantworten zu können, welche realen Chancen es wohl jetzt gibt, ob es stärkere reale Chancen als bisher gibt, auf dem Wege zur Einigung Europas — lies jetzt konkret: Westeuropas — wirklich voranzukommen.
    Ich denke, es hieße die Geduld des Hohen Hauses überfordern, eine solche Antwort heute im einzelnen versuchen zu wollen. Immerhin, meine Damen und Herren, eines ist in diesen Tagen deutlich geworden, nämlich daß sich das französische Volk doch wohl im wesentlichen für die Kontinuität der V. Republik ausgesprochen hat. Was immer man davon sonst halten mag — Kontinuität ist das Gegenteil von Unruhe.
    Mit dem neuen französischen Staatspräsidenten, dem wir, wie der Herr Bundeskanzler es gesagt hat, für seine große Aufgabe Erfolg wünschen, und der Regierung, die er berufen wird, wird die Bundesregierung wie mit ihren anderen Freunden und Part-



    Bundesminister Brandt
    nern innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft eine neue Prüfung unternehmen müssen, wie Europa vorangebracht werden kann. Dabei wird das langsamste Schiff die Geschwindigkeit des ganzen Geleitzuges bestimmen. Wir hoffen, daß in Kürze mehr Regierungen als bisher ihren Ehrgeiz darein setzen werden, die Geschwindigkeit des Geleitzuges zu steigern. Jedenfalls sind wir uns alle darüber einig, denke ich, daß das Kommando „Volldampf voraus!", allein für die Bundesrepublik gegeben, noch nicht ausreicht, um der europäischen Flotte eine gute Fahrt zu sichern.
    Meine Damen und Herren, ich denke also, es hat sich gezeigt, daß es keinen Automatismus, kein einfaches Überschlagen vom Ökonomischen ins Politische gibt, wo es um die Einigung Europas geht. Ich fürchte, wir haben erfahren und werden es noch erfahren, daß wir nicht kurz vor der Bildung eines europäischen oder westeuropäischen Bundesstaates stehen, sondern daß wir froh sein können, wenn wir auf politischem Gebiet zu wirklicher Konsultation und qualifizierter Zusammenarbeit zwischen den dazu bereiten Staaten kommen können, wobei die Bereiche der ökonomischen und der politischen Zusammenarbeit nicht voll deckungsgleich sein müssen. Ich fürchte, wir können froh sein, wenn wir in der nächsten Runde mehr Mitwirkungsrechte für die bestehenden parlamentarischen Körperschaften in Europa erreichen, statt hier den darauffolgenden Schritt, nämlich den der direkten Wahl, vorweg vollziehen zu wollen. Jedenfalls wird es aber — hier stimme ich den Punkten zu, die Herr Kollege Dr. Barzel soeben vorgetragen hat — sehr darauf ankommen, die wichtigen Fragen des inneren Ausbaus der Gemeinschaft, vor allen Dingen auf dem Gebiet der Agrarpolitik und Agrarfinanzierung, und die monetären Probleme mit Sicht auf eine gemeinsame europäische Währung im inhaltlichen Zusammenhang zu sehen mit den Beitrittsverhandlungen und dem Verhältnis einer sich erweiternden EWG zu den übrigen europäischen Staaten, nicht zuletzt zu den nichtgebundenen und neutralen, wie unseren südlichen Nachbarn, der Schweiz und Osterreich.
    Die Lage der Nation ist an diesem Nachmittag vielfach beschrieben worden. Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die meisten von uns der Meinung, daß sie Anlaß zu Besorgnis gibt. 20 Jahre Bundesrepublik entsprechen 20 Jahre DDR. Aus dem Wiederaufbau hier wie drüben, in dem Erfolg für die Menschen unvergleichbar, ist eine Verfestigung und eine Konsolidierung der Spaltung geworden, abermals unvergleichbar, was den Raum der Freiheit und die Möglichkeiten zur Entfaltung des einzelnen angeht. Die Qualität unserer staatlichen Existenz als Bundesrepublik Deutschland, unsere Ablehnung eines anderen Gesellschaftssystems, einer kommunistischen Einparteienherrschaft, besagt noch nichts über die Dauer der Spaltung und über die Dauer der staatlichen oder der quasi staatlichen Organisation des von uns getrennten Teils der Nation. Die Grundordnungen in beiden Teilen Deutschlands unterscheiden sich heute mehr denn je in ihren Strukturen und in ihren Zielsetzungen. Dies, denke ich, ist in der Erklärung des Herrn
    Bundeskanzlers ganz klargeworden. Die beiden Grundordnungen existieren, und es ist an uns, aus diesen Tatsachen Konsequenzen zu ziehen.
    Diese Bundesregierung hat, als sie sich am 13. Dezember 1966 die Richtlinien ihres Verhaltens gab, die von diesem Bundestag bestätigt wurden, begonnen, diese Konsequenzen für sich zu ziehen. Sie wollte dem Werk des Friedens nach West, Nord und Süd, wo immer es geht, die Versöhnung und den Frieden nach Osten hinzufügen. Dies ist in der Tat ein Vorhaben, das von niemandem in zweieinhalb Jahren gelöst werden kann. Es braucht dazu viel mehr Zeit. Es gibt keine Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die für die Bundesrepublik im Interesse der Nation eine andere elementare Aufgabe als diese vorfinden oder sich wählen könnte.
    Herr Präsident, ich bitte noch einmal zitieren zu dürfen. Professor Karl Kaiser schreibt dieser Tage:
    Die Frage, ob die Ostpolitik der Bundesrepublik gescheitert sei, kann nur dann bejaht werden, wenn man ihre Reichweite als kurz- oder mittelfristig betrachtet. Als der entscheidende Sprung bei der Gestaltung dieser Politik unter der Großen Koalition geschah, ließen ihre Autoren keinen Zweifel daran, daß die Ziele langfristig und sofortige Ergebnisse daher unwahrscheinlich waren, da ihr letztes Ziel in der Schaffung einer neuen Friedensordnung in Europa bestand, welche die Ost-West-Teilung des Kontinents überwinden sollte.
    Professor Kaiser sagt weiter:
    Da die Ostpolitik der Bundesregierung als eine langfristige Politik konzipiert war, die auf eine Verwandlung der Struktur des internationalen Systems zielte, kann ihr Erfolg oder Mißerfolg nur über einen entsprechenden Zeitraum hin beurteilt werden. Zweieinhalb Jahre können hiervon nur einen Bruchteil darstellen. Wenn schon Urteile gefällt werden, so sollte auch nicht verschwiegen werden, daß im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1968 das Ansehen der Bundesrepublik als einer Kraft des Ausgleichs und der Mäßigung in Zentral- und Südosteuropa gestiegen ist, was auch immer viele der gegenwärtigen Führungskräfte in diesen Ländern darüber sagen mögen. Weder sind die prinzipiellen Motive, die die Große Koalition einen neuen Weg nach Osteuropa wählen ließen, nach den Ereignissen des Jahres 1968 ungültig geworden, noch gibt es eine rationale Alternative zu der Politik der Entspannung.
    So weit Professor Kaiser.
    Meine Damen und Herren, ich greife diesen Satz von der nicht vorhandenen realen Alternative und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, allen Schwierigkeiten zum Trotz und auch weiterhin unvermeidbaren Rückschlägen zum Trotz immer wieder zu versuchen, das Verhältnis zur Sowjetunion und den anderen Staaten Osteuropas zu normalisieren, auf. Dies ist ein mühsames Werk, das versteckte und offene Gegner in Ost und West findet. Es gibt nicht



    Bundesminister Brandt
    nur in einer Himmelsrichtung Nutznießer der deutschen Spaltung und Interessenten an der Teilung des deutschen Volkes, dessen wirtschaftliche Kraft manchen noch dann zu groß ist, wenn es in der Bundesrepublik 60 Millionen Menschen umfaßt. Wir sind aber, denke ich, nicht geneigt, uns für den Fleiß unserer Menschen und die Ergebnisse harter Aufbauarbeit bei anderen zu entschuldigen,

    (Beifall bei der SPD)

    dies um so weniger, als die Bundesrepublik Deutschland, seit sie existiert, weiß Gott genügend Beweise ihrer Bereitschaft gegeben hat, für Europa auch Opfer zu bringen. Man sollte, so denke ich, niemals übersehen, daß in der ganzen Diskussion über Änderungen des Grundgesetzes niemals jene Formel in Frage gestellt worden ist, mit der sich unsere Bundesrepublik bis heute als einziger Staat bereit erklärt hat, zugunsten eines supranationalen Europa auf weitere Teile ihrer Souveränität zu verzichten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wenn es an uns und an uns allein gelegen hätte, brauchten wir heute nicht mehr über die Teilung zu sprechen. Wenn es an unseren Landsleuten drüben gelegen hätte, dann würde der Bundeskanzler heute in Berlin zur Lage der Nation gesprochen haben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Dies ist einer der historischen Aspekte des 17. Juni 1953.
    Deutschland, unverrückbar im Zentrum Europas, hat allein nicht die Kraft und die Möglichkeit, die Spaltung unseres Kontinents und unseres Landes — ein Ergebnis des zweiten Weltkrieges — zu überwinden. Wir brauchen dazu die Hilfe unserer Freunde, wir brauchen dazu dann aber auch, gestützt auf das Eingebettetsein in die atlantische, die westliche und die westeuropäische Gemeinschaft, irgendwo die Mitwirkung der Sowjetunion, der Völker und Regierungen Ost- und Südosteuropas, wenn wir vorankommen wollen.
    Es bedarf auch eines Minimums an Kooperationsbereitschaft seitens der Regierung ,in Ostberlin. Den Willen der Menschen dort können wir ohnehin unterstellen. Diese Mitwirkung der Regierung in Ostberlin ist bisher ausgeblieben, und keiner der vielen oft gut gemeinten Vorschläge oder Ratschläge, die man uns hier oder von seiten unserer Freunde gibt, kann über die fundamentale Tatsache hinwegtäuschen, daß die Spitze der DDR die Entkrampfung des innerdeutschen Verhältnisses nicht will. Sie hat bisher alle unsere Vorschläge abgelehnt und neue Bedingungen gestellt, darunter solche, von denen sie wußte und weiß, daß sie unannehmbar sind. Sie hat sich damit nicht nur gegen die Interessen unseres eigenen Volkes, sondern auch gegen die Wünsche und Absichten der anderen Völker gestellt, die an Fortschritten in der Entspannung und Entkrampfung des Ost-West-Verhältnisses interessiert sind.
    Dies ist der Grund dafür, daß man in Ostberlin meiner Überzeugung nach auf die Dauer nicht bei der Haltung des Kalten Krieges wird bleiben können. Ich denke im Anschluß daran, wenn ich das noch sagen darf, an den letzten Teil der Ausführungen von Herrn Kollegen Barzel, daß wir einen ersten interessanten Hinweis auf das, wovon ich gerade spreche, nach dem Budapester Appell der Warschauer Paktstaaten vom 17. März dieses Jahres erhalten haben. Dieser Appell, wie immer man ihn sonst beurteilt — jedenfalls muß man ihn mit sehr viel Skepsis beurteilen —,

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    mag bei manchen Beteiligten neben vielem anderen auch Ausdruck des Wunsches gewesen sein, Gräben zuzuschütten.

    (Abg. Dr. Barzel: Das muß man ausnutzen!)

    Er hat deshalb und weil er sonst völlig aussichtslos verhallt wäre, auf die Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR verzichtet. Die Regierung in Ostberlin — das ist interessant — hat dieses Budapester Papier unterschrieben. Im Gegensatz dazu sind danach offizielle Erklärungen führender Funktionäre der DDR abgegeben worden, in denen die völkerrechtliche Anerkennung zur Voraussetzung jeder Verhandlung gemacht wurde. Hier hat man also in Ostberlin selbst den Boden dessen verlassen, was man in Budapest zusammen mit den anderen Staaten des Paktes zu Papier gebracht hatte. Hier wird versucht, die osteuropäischen Regierungen einschließlich der Sowjetunion zu einer verschärften Haltung zu bewegen. Wenn sich diese Regierungen die Forderungen Ostberlins zu eigen machen, müssen sie wissen — so möchte ich meinen —, daß man den Budapester Appell nicht weiter ernsthaft wird beachten können, da der Gedanke einer europäischen Sicherheitskonferenz in den Jahren, die vor uns liegen — wie immer er sonst in das Nachdenken über eine Friedensordnung hineinpaßt —, Theorie bleibt. Ich denke, wir werden alle gut daran tun, aufmerksam zu verfolgen, ob das Wort der Sowjetunion, daß an das Zustandekommen einer europäischen Sicherheitskonferenz in den kommenden Jahren keine.. Voraussetzungen geknüpft werden, in und durch Ostberlin korrigiert wird.
    In der NATO hat man sich darauf verständigt, auszuloten, was in diesem Vorgang enthalten sein könnte. Man hat sich darauf verständigt, die verschiedenen bilateralen Kontakte in der zweiten Hälfte dieses Jahres in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen und Ende des Jahres zusammenzufassen, ob und wo sich Gebiete gemeinsamen Interesses abzeichnen sollten. Man hat sich weiter darauf verständigt — ohne zu glauben, daß dies ein Thema der nächsten Monate, vermutlich nicht einmal des nächsten Jahres ist —, zu sagen: Wenn das Thema aktuell wird, kann und darf es keine Vorbedingungen geben. Dann müssen die noramerikanischen Partner der atlantischen Allianz mit gleicher Selbstverständlichkeit dabeisein, wie die Sowjetunion meint dabei sein zu sollen, dann bedarf es einer gründlichen Vorbereitung, und dann muß die Mindestchance eines Teilerfolges gegeben sein, weil sich sonst die Lage in Europa nicht verbessern, sondern verschlechtern würde.
    Hier kommt der Gedanke herein, von dem Herr Kollege Barzel soeben sprach und den der niederländische Außenminister auf Grund einer von uns



    Bundesminister Brandt
    angeregten Diskussion öffentlich dargetan hat. Mir liegt daran, hier ein Wort zusätzlicher Klarstellung zu sagen, weil im Anschluß an die Tagung der Westeuropäischen Union hier und da vermutet worden ist, jetzt habe der Außenminister der Bundesrepublik seinerseits eine europäische Vorbedingung formulieren wollen, indem er sage, nur wenn das und das zwischen Bonn und Ostberlin passiert sei, könnten andere Dinge in bezug auf europäische Sicherheit und Friedensordnung erfolgen. In Wirklichkeit geht es doch um folgenden Doppelgedanken. Es geht in diesem Augenblick überhaupt nicht um das Etikett mit der Bezeichnung des Jahrgangs, also gewissermaßen darum, wann und wo nächste Woche eine Konferenz stattfindet. Das ist ja gar nicht das Thema. Es geht um inhaltliche Fragen und um den Hinweis darauf: wenn sich nicht bis zu dem Zeitpunkt, zu dem man ernsthaft über europäische Sicherheit und eine Friedensordnung reden wird, einiges auf dem Boden des geteilten Deutschlands verändert hat, würden die querelles allemandes und das, was sie ausstrahlen, im Grunde die Erfolgschancen einer solchen Unternehmung oder Teilunternehmung zerstören oder unheilvoll belasten. Bei dieser Auffassung bleibe ich, und die hat auch durchaus Zustimmung im Kreise unserer westeuropäischen Partner gefunden. Es wäre nicht nur tragisch, es wäre aussichtslos, wenn man vom anderen Teil Deutschlands aus den Versuch fortsetzen wollte, Verbesserungen des Ost-West-Verhältnisses zu blockieren. Die einzige Folge wäre, daß andere — die anderen, wenn man so will — Deutschland umgehen, vielleicht mit Bedauern, vielleicht mit Achselzucken über jenes seltsame Volk in der Mitte Europas, das so tüchtig ist in der Arbeit wie in der Selbstzerfleischung.
    Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion jedenfalls werden sich vermutlich nicht daran hindern lassen, ihre geplanten Gespräche zur Begrenzung des Wettrüstens auf dem Gebiet der interkontinentalen Zerstörungsmaschinen zu beginnen. Und wir können gar nichts anderes als zu begrüßen, daß diese Möglichkeit wahrgenommen wird, den Frieden zu festigen, ohne die Sicherheit zu gefährden. Wir werden aber darauf zu achten haben, daß unsere Interessen in den sorgfältigen und sicher nicht einfachen Konsultationen zur Geltung kommen. Dabei kann die Haltung dieser und einer anderen Bundesregierung gar nicht anders als konstruktiv sein, weil wir wissen, daß die Interessen der Vereinigten Staaten an der Erhaltung des sicheren Friedens in Europa auf der Basis einer glaubhaften Abschreckung nicht geringer sind als die unseren.
    Es ist also kein Widerspruch, wenn wir für ein geschlossenes Bündnis sind und dennoch mit anderen zusammen in dem hier zitierten Beschluß von Reykjavik vom Juni 1968 — bestätigt in Washington, NATO-Konferenz April 1969 — neben dem Hinweis auf . die Verläßlichkeit und Festigung des Bündnisses die Bereitschaft zu gleichmäßigen und gleichwertigen Truppenreduzierungen bekunden. Es ist kein Widerspruch, wenn wir in Genf Abrüstungsvorschläge gemacht und die Rechte der nicht nuklearen Staaten gefestigt haben und dennoch für die
    notwendigen Maßnahmen des Bündnisses nach der Besetzung der Tschechoslowakei mit eingetreten sind. Denn es ist eben kein Widerspruch, bereit zu sein zur Entspannung und zur Versöhnung und gleichzeitig für die eigene und kollektive Sicherheit zu sorgen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Bundesrepublik Deutschland kann ihre Ostpolitik nur von der Basis ihres Bündnisses her verfolgen. Sie hat es verstanden, glaubhaft dem Verdacht zu entgehen, sie, die Bundesrepublik, sei ein Störenfried; diese Rolle haben heute andere. Wenn uns ein durchschlagender Erfolg unserer Politik der ausgestreckten Hand bisher versagt geblieben ist, so liegt dies daran, daß im Rückblick das Jahr 1968 für Europa ein böses Jahr gewesen ist.
    Neben allem anderen liegt die Tragik der Ereignisse in der Tschechoslowakei und um diese darin, daß sie Fortschritte in der Überwindung, mindestens in der Milderung der Spannungen zwischen den beiden Teilen Europas verhindert haben. Wir können heute sagen, daß die Entwicklung nicht umgekehrt worden ist; sie wurde aufgehalten — aber eben aufgehalten — und kommt erst langsam und nur widerspruchsvoll in Gang.
    Einer der besonders bemerkenswerten Faktoren war ja die kürzliche Rede des polnischen Parteichefs Gomulka, die ihre volle Würdigung wohl erst noch wird erhalten müssen. Der Bundeskanzler und ich selbst haben auf die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 hingewiesen, in der wir unser Verständnis für den Wunsch des polnischen Volkes I ausgedrückt haben, in gesicherten Grenzen leben zu wollen. Aber auch zur Lösung dieses Problems werden wir Zeit brauchen.
    Ich darf noch zwei Bemerkungen machen, meine Damen und Herren. Die eine bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Außenpolitik und Innenpolitik. Es ist gut, sich an einem Tag wie diesem daran zu erinnern, wie sehr eine gute und stabile, möglichst vorbildliche Ordnung im Innern den Rang und die Rolle mitbestimmt, die ein Volk in der Welt spielt. Wir erleben alle Tage, daß ein demokratischer Staat keine überzeugende, erfolgreiche Außenpolitik treiben kann, wenn ihr die innenpolitische Deckung fehlt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Dazu hat während der Weimarer Republik Stresemann Worte gesagt, die auch heute noch beachtenswert sind. In der heutigen Lage könnte man auch ein Lied davon singen, was diesen Zusammenhang zwischen Innenpolitik und Außenpolitik angeht.
    Nach dem ersten Weltkrieg wurden die Chancen der deutschen Demokratie vertan. Reaktionäre Demokratiefeindlichkeit und engstirniger, bösartiger Nationalismus führten zum Abgleiten in das, woran wir gar nicht mehr so gerne zurückdenken, und dann in die Massenzerstörung.
    Nun geht es nicht nur darum, dem Extremismus zu wehren — so wichtig das ist —, sondern es geht — zusätzlich zum Angehen gegen den sich gegenseitig hochschaukelnden Exremismus von bei-



    Bundesminister Brandt
    den Seiten — darum, auch der Spekulation auf die Borniertheit klar entgegenzutreten und die Vernunft unseres Volkes, die sich aus einer teuer genug erkauften Erfahrung ergibt, stark dagegenzusetzen. Ich meine, man muß eine maßvolle, aber selbstbewußte Politik betreiben, die sich an den eigenen Interessen orientiert, aber auch die Interessen anderer sieht und sich um einen gemeinsamen Nenner bemüht. Man muß nicht nur vor Illusionen auf der Hut sein, sondern Unterwürfigkeit ebenso vermeiden wie Kapitulation und Verzicht auf legitime Interessen. Aber man muß dabei wissen — und es dort, wo es nötig ist, auch sagen —, daß der Nationalismus Gift ist für Deutschland und für Europa

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und daß heute ein guter Deutscher kein Nationalist sein kann.
    Hier ist zweimal in der Debatte — ohne daß mein Name damit in Zusammenhang gebracht wurde — dagegen polemisiert worden, daß irgendwo von der Harzburger Front gesprochen wurde. Es wäre feige, wenn ich nicht ein Wort dazu sagen würde; denn ich war ja gemeint. Erstens — das ist nur eine Kleinigkeit — war die Rede von einer Miniausgabe der Harzburger Front, und zweitens war für denjenigen, der den Text nachliest, von keiner Partei die Rede, weder von der CDU, noch von derjenigen, deren Buchstaben ich jetzt nicht aussprechen und am liebsten auch nicht im nächsten Bundestag sehen möchte, sondern es war allein die Rede von zwei Presseorganen, die sich — und dabei bleibe ich, das kann ich nicht zurücknehmen — zu einer Reihe von Gegenständen fast inhaltsgleich geäußert haben. Deshalb gab es diese zugespitzte Formulierung, und meine Befriedigung darüber, daß das, was gemeint wurde, auf Grund einer — wie ich zugeben muß -sehr zugespitzten Formulierung in diesen Tagen und Wochen zu einer begrüßenswerten Klärung geführt hat.