Protokoll:
18181

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 181

  • date_rangeDatum: 28. Juni 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 10:30 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 12:21 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/181 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 181. Sitzung Berlin, Dienstag, den 28. Juni 2016 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: Ausgang des Referendums über den Verbleib des Vereinigten König- reichs in der EU mit Blick auf den Europä- ischen Rat am 28./29. Juni 2016 in Brüssel Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 17881 B Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 17884 D Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17886 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17889 C Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17891 C Dr. Katarina Barley (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17893 D Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17894 D Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17895 B Norbert Spinrath (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17896 D Kai Whittaker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17897 C Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17898 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17899 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 17901 A (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. Juni 2016 17881 181. Sitzung Berlin, Dienstag, den 28. Juni 2016 Beginn: 10.30 Uhr
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    Ralph Brinkhaus (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. Juni 2016 17901 Anlage zum Stenografischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aken, Jan van DIE LINKE 28.06.2016 Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Arnold, Rainer SPD 28.06.2016 Barnett, Doris SPD 28.06.2016 Beckmeyer, Uwe SPD 28.06.2016 Behrens, Herbert DIE LINKE 28.06.2016 Bergner, Dr. Christoph CDU/CSU 28.06.2016 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 28.06.2016 Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 28.06.2016 Bülow, Marco SPD 28.06.2016 Daldrup, Bernhard SPD 28.06.2016 De Ridder, Dr. Daniela SPD 28.06.2016 Dehm, Dr. Diether DIE LINKE 28.06.2016 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Erler, Dr. h. c. Gernot SPD 28.06.2016 Ernstberger, Petra SPD 28.06.2016 Fischer (Hamburg), Dirk CDU/CSU 28.06.2016 Gädechens, Ingo CDU/CSU 28.06.2016 Gohlke, Nicole DIE LINKE 28.06.2016 Göppel, Josef CDU/CSU 28.06.2016 Groth, Annette DIE LINKE 28.06.2016 Gunkel, Wolfgang SPD 28.06.2016 Güntzler, Fritz CDU/CSU 28.06.2016 Gutting, Olav CDU/CSU 28.06.2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Hagedorn, Bettina SPD 28.06.2016 Heil (Peine), Hubertus SPD 28.06.2016 Heinrich, Gabriela SPD 28.06.2016 Heller, Uda CDU/CSU 28.06.2016 Herzog, Gustav SPD 28.06.2016 Hiller-Ohm, Gabriele SPD 28.06.2016 Hintze, Peter CDU/CSU 28.06.2016 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 28.06.2016 Jurk, Thomas SPD 28.06.2016 Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Kramme, Anette SPD 28.06.2016 Krings, Dr. Günter CDU/CSU 28.06.2016 Kühn (Dresden), Stephan BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Kühne, Dr. Roy CDU/CSU 28.06.2016 Launert, Dr. Silke CDU/CSU 28.06.2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 28.06.2016 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Mattheis, Hilde SPD 28.06.2016 Möhring, Cornelia DIE LINKE 28.06.2016 Otte, Henning CDU/CSU 28.06.2016 Paus, Lisa BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Petzold, Ulrich CDU/CSU 28.06.2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. Juni 201617902 (A) (C) (B) (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Pflugradt, Jeannine SPD 28.06.2016 Pilger, Detlev SPD 28.06.2016 Raatz, Dr. Simone SPD 28.06.2016 Renner, Martina DIE LINKE 28.06.2016 Rief, Josef CDU/CSU 28.06.2016 Rüthrich, Susann SPD 28.06.2016 Schiefner, Udo SPD 28.06.2016 Schimke, Jana CDU/CSU 28.06.2016 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 28.06.2016 Schmidt (Ühlingen), Gabriele CDU/CSU 28.06.2016 Schuster (Weil am Rhein), Armin CDU/CSU 28.06.2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Schwarz, Andreas SPD 28.06.2016 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 28.06.2016 Sendker, Reinhold CDU/CSU 28.06.2016 Steffen, Sonja SPD 28.06.2016 Thönnes, Franz SPD 28.06.2016 Tillmann, Antje CDU/CSU 28.06.2016 Troost, Dr. Axel DIE LINKE 28.06.2016 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 28.06.2016 Wicklein, Andrea SPD 28.06.2016 Wittke, Oliver CDU/CSU 28.06.2016 Zech, Tobias CDU/CSU 28.06.2016 Zöllmer, Manfred SPD 28.06.2016 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 181. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 1 Regierungserklärung zum Ausgang des Referendums in Großbritannien Anlage Anlage 1
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818100000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer 181. Plenarsitzung.

Wie am vergangenen Freitag bereits angekündigt, ha-
ben wir einen besonderen Tagesordnungspunkt:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

Ausgang des Referendums über den Ver-
bleib des Vereinigten Königreichs in der
EU mit Blick auf den Europäischen Rat am
28./29. Juni 2016 in Brüssel

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 77 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es offensicht-
lich Einvernehmen. Also können wir so verfahren.

Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungser-
klärung der Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1818100100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die briti-
sche Bevölkerung hat sich am vergangenen Donnerstag
mehrheitlich dafür entschieden, die Mitgliedschaft ihres
Landes in der Europäischen Union beenden zu wollen.
Mit großem Bedauern habe ich, hat die ganze Bundes-
regierung diese Entscheidung zur Kenntnis genommen.
Doch bei allem Bedauern: Es versteht sich von selbst,
dass es diese freie und demokratische Entscheidung der
britischen Wählerinnen und Wähler zu respektieren gilt.
Und mehr noch: Es gilt jetzt, nach vorn zu schauen und
alles daranzusetzen, die richtigen Schlussfolgerungen zu
ziehen und anschließend alle notwendigen Entscheidun-
gen zu treffen.

Ich wiederhole, was ich bereits am Freitag gesagt
habe: Die Bedeutung der Entscheidung des britischen
Volkes kann gar nicht hoch genug ermessen werden, für
das Vereinigte Königreich wie auch für die Europäische

Union nicht. Der vergangene Donnerstag war ein Ein-
schnitt für Europa. Er war ein Einschnitt für den europäi-
schen Einigungsprozess. Europa hat schon viele schwere
Herausforderungen und so manche Krise überstanden,
aber eine Situation wie diese hat es in den fast 60 Jah-
ren seit Verabschiedung der Römischen Verträge nicht
gegeben.

In einer solchen Situation gibt es naturgemäß viele und
sich zum Teil diametral gegenüberstehende Vorschläge.
Sie reichen von Forderungen, mit der europäischen In-
tegration – man könnte fast sagen: nun erst recht – in
großen Schritten voranzugehen und weitere Souveräni-
tätsrechte auf die europäische Ebene zu verlagern, bis hin
zu Überlegungen, Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten
zurückzuverlagern und alles dafür zu tun, dass sich die
Europäische Union aus den Angelegenheiten der Mit-
gliedstaaten möglichst heraushält.

Um es klar zu sagen: Jeder Vorschlag, der die Euro-
päische Union der 27 als Ganzes aus dieser Krise führen
kann, ist willkommen. Jeder Vorschlag, der dagegen die
Fliehkräfte stärkt, die Europa schon so sehr strapazieren,
hätte unabsehbare Folgen für uns alle. Er würde Europa
weiter spalten. Ich werde mich mit ganzer Kraft dafür
einsetzen – und das wird auch die ganze Bundesregie-
rung tun –, das zu verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Und ich sehe gute Möglichkeiten, dass uns das gelingen
kann. Denn heute, am fünften Tag nach dem Referen-
dum, sind wir uns schon weitaus klarer als am Freitag
darüber, was genau zu tun ist – beim heute beginnenden
Europäischen Rat und weit darüber hinaus.

Erstens. Wir spüren, wie sehr es ganz entscheidend da-
rauf ankommt, dass wir, die 27 anderen Mitgliedstaaten,
uns als willens und fähig erweisen, auf der Grundlage ei-
ner mit Ruhe und Besonnenheit vorgenommenen Analy-
se der Situation gemeinsam die richtigen Entscheidungen
zu treffen. Gemeinsam, das heißt immer: alle 27 – die
Euro-Staaten gemeinsam mit den Nicht-Euro-Staaten,
die kleinen Länder gemeinsam mit den großen, die alten
Mitgliedstaaten gemeinsam mit den neuen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Zweitens. Zunächst einmal liegt es an Großbritanni-
en selbst, zu erklären, wie es sein zukünftiges Verhältnis
zur Europäischen Union gestalten möchte. Wir haben zur
Kenntnis genommen, dass der britische Premierminister
David Cameron, anders als vermutet werden konnte, es
seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin überlassen
möchte, das konkrete weitere britische Vorgehen nach
dem Referendum festzulegen. Es kann und es sollte nie-
mand in Zweifel ziehen, dass es sich hierbei um eine
innerbritische Entscheidung handelt. Aber ebenso kann
und sollte es auch nicht das geringste Missverständnis
darüber geben, wie die Rahmenbedingungen gestaltet
sind, die die Europäischen Verträge für einen solchen
Fall wie diesen vorsehen.

Nach Artikel 50 der Europäischen Verträge hat Groß-
britannien formal den Europäischen Rat darüber zu un-
terrichten, dass es seine Mitgliedschaft beenden möchte.
Nach diesem Antrag werden die 27 anderen Mitglied-
staaten die in Artikel 50 Absatz 2 der Europäischen Ver-
träge erwähnten Leitlinien des Europäischen Rates für
die Verhandlungen festlegen. Nach der Festlegung die-
ser Leitlinien können die Verhandlungen beginnen, nicht
vorher, weder formell noch informell.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um es klipp und klar zusammenzufassen: Wir nehmen
zur Kenntnis, dass Großbritannien einen Antrag gemäß
Artikel 50 der EU-Verträge noch nicht stellen will, und
Großbritannien seinerseits muss zur Kenntnis nehmen,
dass es keine wie auch immer gearteten Verhandlungen
oder Vorgespräche geben kann und wird, solange der An-
trag nach Artikel 50 nicht gestellt wurde, weder formell
noch informell.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann unseren britischen Freunden nur raten, sich
hier nichts vorzumachen bei den notwendigen Entschei-
dungen, die in Großbritannien getroffen werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Sobald bzw. erst wenn der Antrag gemäß Artikel 50 der
EU-Verträge vorliegt, beginnt eine zweijährige Frist für
die Verhandlungen. Diese Frist kann verlängert werden,
und zwar wieder nur durch einen einstimmigen Be-
schluss. An ihrem Ende wird eine Vereinbarung über die
genauen Einzelheiten des Austritts Großbritanniens aus
der Europäischen Union stehen. Solange die Verhand-
lungen laufen, bleibt Großbritannien Mitglied der Euro-
päischen Union. Alle Rechte und Pflichten, die sich aus
dieser Mitgliedschaft ergeben, sind bis zum tatsächlichen
Austritt vollständig zu achten und einzuhalten, und das
gilt für beide Seiten gleichermaßen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Drittens. In den nach einem Antrag gemäß Artikel 50
der Europäischen Verträge geführten Austrittsverhand-

lungen werden auch die formalen wie inhaltlichen Re-
gelungen für die zukünftigen Beziehungen zwischen der
Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich zu
bestimmen sein. Aus meiner Sicht sollte gerade Groß-
britannien selbst ein großes Interesse daran haben, diese
Beziehungen eng und freundschaftlich zu gestalten. Aber
auch Deutschland profitiert natürlich von einem partner-
schaftlichen, freundschaftlichen Verhältnis; denn Groß-
britannien ist und bleibt ein wichtiger Partner, mit dem
uns sehr vieles verbindet: die guten nachbarschaftlichen
Beziehungen zwischen unseren Bürgerinnen und Bür-
gern, die kulturelle Verbundenheit, die enge wirtschaftli-
che Verflechtung, unsere Partnerschaft in der Außen- und
Sicherheitspolitik und nicht zuletzt unsere gemeinsamen
Werte.

Und vergessen wir nicht, dass wir mit Großbritannien
engste Verbündete in der NATO sind und bleiben, in der
wir gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika
Führungsverantwortung für Freiheit, Sicherheit und Sta-
bilität in Europa und darüber hinaus übernehmen. Darauf
können wir aufbauen, sowohl bei der Ausgestaltung des
zukünftigen britischen Verhältnisses zur Europäischen
Union als auch bei unseren eigenen bilateralen Beziehun-
gen zum Vereinigten Königreich, die seit dem Ende des
Zweiten Weltkrieges gewachsen sind und die wir in aller
Freundschaft weiterführen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Dies steht im Übrigen in keinerlei Widerspruch dazu,
dass Deutschland und die Europäische Union die Ver-
handlungen mit Großbritannien auf der Grundlage ihrer
eigenen Interessen führen werden. Das bedeutet zum
einen, dass Verhandlungen mit einem zukünftigen Dritt-
staat nicht dazu führen dürfen, die Errungenschaften der
europäischen Einigung für die 27 Mitgliedstaaten infrage
zu stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Und das bedeutet zum anderen, dass die Bundesregie-
rung bei den Verhandlungen immer auch ein besonderes
Augenmerk auf die Interessen der deutschen Bürgerin-
nen und Bürger und der deutschen Unternehmen richten
wird. Ich denke hier auch an die vielen deutschen Staats-
angehörigen, die in Großbritannien leben und von denen
sich manche in diesen Tagen Sorgen über ihre Zukunft
machen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir in
Deutschland mit ganzer Kraft daran arbeiten, im Interes-
se unserer Bürgerinnen und Bürger gute Lösungen für
alle nun aufkommenden Fragen zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Viertens. Wir werden sicherstellen, dass die Verhand-
lungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei ge-
führt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied ma-
chen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen
Union sein möchte oder nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Oh!)


Wer aus dieser Familie austreten möchte, der kann nicht
erwarten, dass damit alle Pflichten entfallen, die Privile-
gien aber weiterhin bestehen bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Wer beispielsweise freien Zugang zum europäischen
Binnenmarkt haben möchte, der wird im Gegenzug auch
die europäischen Grundfreiheiten und die anderen Re-
geln und Verpflichtungen akzeptieren müssen, die damit
einhergehen. Das gilt für Großbritannien genauso wie für
alle anderen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Freien Zugang zum Binnenmarkt bekommt der, der die
vier europäischen Grundfreiheiten akzeptiert: die der
Menschen, der Güter, der Dienstleistungen, des Kapitals.
Norwegen beispielsweise ist nicht Mitglied der Europä-
ischen Union, hat aber dennoch freien Zugang zum Bin-
nenmarkt, weil es im Gegenzug unter anderem die freie
Zuwanderung aus der Europäischen Union akzeptiert.

Fünftens. Wir sollten die Debatte nicht verengen auf
die Frage nach mehr oder weniger Europa. Was wir viel-
mehr brauchen, das ist ein erfolgreiches Europa; und ein
erfolgreiches Europa, das ist ein Europa, an dem die Bür-
gerinnen und Bürger teilhaben können, mit dem sie sich
identifizieren können und das ihr Leben spürbar verbes-
sert. Das ist das Gebot der Stunde.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist eine Aufgabe für die Institutionen der Europäi-
schen Union und die Mitgliedstaaten gleichermaßen.

Ein erfolgreiches Europa, das ist ein Europa, das sei-
ne Verträge und seine Versprechen einhält. Das ist uns
in der Vergangenheit wirklich nicht immer gelungen. Im
Jahr 2000 hat die Europäische Union in Lissabon ein Ver-
sprechen abgegeben, das ich hier wörtlich wiedergeben
möchte. Ich zitiere aus den Schlussfolgerungen des Euro-
päischen Rates vom 23./24. September 2000:

Die Union hat sich heute ein neues strategisches
Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel,
die Union zum wettbewerbsfähigsten und dyna-
mischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der
Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig
ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr
und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren so-
zialen Zusammenhalt zu erzielen.

Dieses Versprechen an die europäische Bevölkerung,
Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, war kein Grö-

ßenwahn der damaligen europäischen Politiker; aber ein-
gelöst wurde es nicht – weil Regeln missachtet wurden,
weil Verträge nicht eingehalten wurden, weil Einzelinte-
ressen sich gegen das Gemeinwohl durchsetzen konnten.

Das Wohlstandsversprechen selbst war deshalb noch
lange nicht falsch, im Gegenteil. Deshalb müssen wir
jetzt einen neuen Anlauf nehmen und uns gemeinsam
dafür einsetzen, Europa wettbewerbsfähiger zu machen
und die Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und
Globalisierungsverlierern zu verkleinern. Dazu gehört,
dass wir in Europa den Anschluss an die Digitalisierung
und an die Hochtechnologie nicht verpassen. Dazu ge-
hört, dass wir zusätzliche Anstrengungen im Bereich der
Forschung und Innovation unternehmen müssen. Dazu
gehört, dass wir endlich die immer noch viel zu hohe Ju-
gendarbeitslosigkeit in den Griff bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Nur so werden wir mit unserem europäischen Wirt-
schafts- und Sozialmodell dauerhaft erfolgreich sein.
Nur so werden wir auch vielen Menschen ihre grundsätz-
lichen Zweifel an der Richtung des europäischen Eini-
gungsprozesses nehmen können.

Sechstens. Wir müssen unsere Schlussfolgerungen
aus dem Referendum in Großbritannien mit historischem
Bewusstsein ziehen. Auch wenn es für uns kaum noch
vorstellbar ist, so sollten wir nie vergessen, dass die Idee
der europäischen Einigung eine Friedensidee war. Nach
Jahrhunderten furchtbarsten Blutvergießens fanden die
Gründer der europäischen Einigung den Weg zu Versöh-
nung und Frieden, manifestiert in den Römischen Verträ-
gen von vor bald 60 Jahren.

Wir alle sehen, dass die Welt eine Welt in Unruhe ist.
Auch in Europa spüren wir die Folgen von Unfreiheit,
Krisen, Konflikten und Kriegen in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft, die schon so viele Menschen das Leben
gekostet und so viele andere entwurzelt und aus ihren
Heimatländern vertrieben haben. Es gibt außen- und
sicherheitspolitische Herausforderungen, die uns Euro-
päern dauerhaft niemand abnehmen wird, für die ganz
zuvorderst wir unsere Verantwortung zu tragen haben.
Deshalb dürfen wir bei aller Aufmerksamkeit, die die
Entscheidung des britischen Volkes natürlich verdient,
zum Beispiel die Lage der Flüchtlinge aus Syrien oder
dem Irak keine Sekunde aus den Augen verlieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das EU-Türkei-Abkommen greift, aber es ist noch
lange nicht vollständig umgesetzt. Die Situation der Men-
schen, die sich auf der zentralen Mittelmeerroute in die
Hände skrupelloser Schlepper und Schleuser begeben,
schreit zum Himmel. Es führt kein Weg daran vorbei:
Nur gemeinsam werden wir die vielfältigen Aufgaben
bewältigen, vor die uns die weltweiten Fluchtbewegun-
gen stellen, vor die uns auch der Klimawandel, die Be-
kämpfung des Hungers oder der internationale Terroris-
mus stellen. Deshalb müssen wir auch die Gemeinsame

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen
Union – natürlich immer im Verbund mit unseren trans-
atlantischen Partnern – fit machen.


(Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU])


In einer Welt, die immer weiter zusammenwächst, sind
diese Aufgaben zu groß, als dass einzelne Staaten sie al-
leine erfolgreich bewältigen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Deutschland hat ein be-
sonderes Interesse daran, dass die europäische Einigung
gelingt. Deutschland trägt gemeinsam mit Frankreich
die besondere historische Verantwortung, die Errungen-
schaften der europäischen Einigung zu wahren und zu
schützen. Dieser Verantwortung stellen wir uns. Ich habe
deshalb gestern mit dem französischen Staatspräsidenten
François Hollande und dem italienischen Ministerprä-
sidenten Matteo Renzi über das weitere Vorgehen bera-
ten. Wir haben eine gemeinsame Haltung zum weiteren
Verfahren gegenüber Großbritannien vereinbart und uns
darauf verständigt, die Europäische Union weiterentwi-
ckeln zu wollen.

Heute und morgen besteht die Gelegenheit, die-
se Diskussion zusammen mit den anderen Staats- und
Regierungschefs beim Europäischen Rat in Brüssel zu
vertiefen, zusammen mit dem britischen Premierminis-
ter David Cameron, aber morgen auch allein im Kreis
derjenigen 27 Mitgliedstaaten, die auch in Zukunft fest
zur Europäischen Union stehen werden. Ziel sollte sein,
spätestens bis zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der
Römischen Verträge im März kommenden Jahres zu ei-
nem gemeinsamen Ergebnis zu gelangen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Gemeinsam werden wir daran arbeiten, dass die Euro-
päische Union jetzt die richtigen Schlussfolgerungen
aus dem Austritt Großbritanniens zieht, und zwar in dem
Bewusstsein, wie sehr wir alle jeden Tag von der Freizü-
gigkeit, der Niederlassungsfreiheit und den offenen Bin-
nengrenzen profitieren, die die europäische Einigung erst
möglich gemacht hat.

Junge Menschen in Europa können mit einem deut-
schen Schulabschluss in einem anderen Mitgliedstaat
studieren. Millionen Menschen sammeln mit dem Pro-
gramm Erasmus+ Erfahrungen in einem anderen Mit-
gliedstaat. Unsere Wirtschaft profitiert von den Freiheiten
des Binnenmarktes. Jeder kann sich überall niederlassen.
Wir können in Deutschland ohne Beschränkung portu-
giesische und niederländische Produkte kaufen, genauso
wie unsere Unternehmen ihre Produkte ohne Hindernisse
in Polen oder Italien anbieten können.

Wir können stolz sein auf unsere gemeinsamen euro-
päischen Werte, auf Freiheit, Demokratie und Rechts-
staatlichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und wir können stolz sein auf unser einzigartiges Gesell-
schaftsmodell, um das uns viele in der Welt beneiden und
das wir im globalen Wettbewerb zu behaupten haben.
Diese historischen Errungenschaften bleiben bestehen,
auch ohne die Mitgliedschaft Großbritanniens.

Jetzt, angesichts so vieler großer Herausforderungen,
wollen und werden wir mit ganzer Kraft daran arbeiten,
dass die Europäische Union einmal mehr die Wandlungs-
fähigkeit beweist, zu der sie auch in früheren Krisen
immer wieder imstande war. Die Europäische Union ist
stark genug, um den Austritt Großbritanniens zu ver-
kraften, sie ist stark genug, um auch mit 27 Mitglied-
staaten weiter voranzuschreiten, und sie ist stark genug,
auch künftig erfolgreich ihre Interessen in der Welt zu
vertreten. Die Europäische Union ist einer der größten
Wirtschaftsräume der Welt, sie ist eine einzigartige Soli-
dar- und Wertegemeinschaft mit hoher Anziehungskraft
in alle Welt, und sie ist unser Garant für Frieden, Wohl-
stand und Stabilität.

Ich bedanke mich für die vielen Stimmen aus dem
Deutschen Bundestag, die in den letzten Tagen ebenfalls
die Bedeutung und den einzigartigen Wert der europä-
ischen Einigung unterstrichen haben. Deutschland wird
sich immer für die Idee und den Wert der europäischen
Einigung einsetzen, auch und gerade in diesen schwieri-
gen Zeiten und an diesem historischen Scheideweg.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD – Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE] begibt sich während des Beifalls zum Rednerpult – Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was soll das denn? Er wurde doch noch gar nicht aufgerufen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818100200

Herr Kollege Bartsch, so viel Antrittsapplaus von al-

len Seiten des Hauses werden Sie nur selten bekommen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1818100300

Außer von den Grünen; die haben nicht geklatscht.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818100400

Aber ich muss zunächst einmal die Aussprache eröff-

nen,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Eben, Herr Bartsch! Sie Vorwitziger!)


Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


was ich hiermit tue. Ich erteile Ihnen hiermit das Wort. –
Bitte schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1818100500

Ich bedanke mich. – Herr Präsident! Meine Damen

und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mit Ih-
rer Rede eben noch einmal bewiesen, warum Europa in
einer Krise steckt. Wenn ich mir die Wortgruppen, die
Sie benutzt haben, vor Augen halte – „gute Lösungen
finden“, „jeder Vorschlag ist willkommen“, „mit ganzer
Kraft widmen wir uns dem“ –, dann muss ich feststellen:
Das kann man eigentlich immer sagen. Vor allen Dingen
haben Sie aber eines beschrieben: dass Großbritannien
ein Problem hat. Ich finde, die Dimension dieses schwar-
zen Freitags für Europa ist eine viel, viel größere, als die
Bundesregierung offensichtlich begreift.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor allen Dingen ist dieser schwarze Freitag ein Ergebnis
von Politik.

Brüssel ist seit vielen Jahren der Prügelknabe für so
ziemlich alles. Immer wenn national etwas schiefgeht –
im Übrigen auch bei Ihnen –, dann geht das nach Brüssel.
Ich glaube, dass das ein großer Fehler ist. Die Menschen
haben das Gefühl, es mit abgehobenen Eliten und techno-
kratischen Politikern zu tun zu haben. Das Ergebnis des
Referendums ist Ausdruck tiefer Unzufriedenheit, die es
in allen Ländern der EU gibt, im Übrigen auch in unse-
rem Land, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


Das hat mit Sicherheit damit zu tun, dass wir in Euro-
pa ein grundsätzliches Demokratiedefizit und ein grund-
sätzliches Transparenzdefizit haben. Frau Merkel, Sie ha-
ben gesagt, die Bürgerinnen und Bürger sollen teilhaben.
Was machen Sie denn bei TTIP und bei CETA? Das geht
sogar am Parlament vorbei. Die Bürger fühlen sich doch
verklapst, wenn man diese beiden Abkommen nimmt.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Unsinn!)


Die Elitenskepsis, liebe Kolleginnen und Kollegen,
hat auch damit zu tun, wie wir in Europa mit der Finanz-
krise umgegangen sind. Ich könnte meine ganze Redezeit
mit Äußerungen aus der Union zubringen,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dann reden Sie richtig gute Sachen!)


aber ich will nur noch einmal den Satz „Der Grieche
nervt“ in Erinnerung rufen und jetzt ein ganz aktuelles
Beispiel ansprechen.

Betrachten wir einmal die EZB. Ich weiß, dass sie un-
abhängig ist. Aber ab Juni ist nicht nur der Wahnsinn der
Nullzinspolitik Realität, sondern es können auch Unter-
nehmensanleihen gekauft werden, und das wird auch ge-
macht: bei BASF, bei Daimler, bei Renault. Statt Inves-
titionen in die Zukunft und ins Gemeinwesen zu tätigen,
werden Anleihen von Großkonzernen gekauft, die null
Zinsen bringen. Das ist Wettbewerbsverzerrung für den
Mittelstand, und gleichzeitig ist nie Geld zur Bekämp-

fung von Jugendarbeitslosigkeit und zur Bekämpfung
von Armut da. Das ist das Problem. Sie treiben den Sozi-
alabbau voran. Hier muss europäisch gehandelt werden,
damit der Frust gegen Europa eben nicht noch größer
wird, und hierzu gehört auch die katastrophale Politik
der Troika.


(Beifall bei der LINKEN)


Apropos Griechenland: Die ganzen „Exit“-Wortspiele
haben mit Griechenland begonnen. Es war doch Ihr Fi-
nanzminister, der mit dem Wort „Grexit“ angefangen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Griechen sollten raus. Das ist doch irgendwo herge-
kommen. Wie war das noch? Herr Schäuble hat gesagt:
„Am 28., 24 Uhr, isch over.“ Es war ein Glück im Jah-
re 2015, dass es so nicht gekommen ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf eines möchte ich hier mit Deutlichkeit aufmerk-
sam machen: Zur Wahrheit gehört doch, dass Herr
Cameron gezündelt hat. Er hat sich mit dem Zündeln sei-
ne Wiederwahl gesichert, und Herr Cameron gehört doch
zu Ihrer europäischen Parteienfamilie, Frau Merkel.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Nein! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Bleiben Sie bei der Wahrheit! – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das ist doch grottenfalsch! Von Europa keine Ahnung!)


Der hat gezündelt und sogar noch die Streichhölzer be-
reitgelegt. Herr Johnson und die halbe Fraktion waren
doch dafür. Sie haben sich erst Privilegien von Europa
geben lassen, und dann waren sie dagegen. Das ist ein-
fach wahr.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Informieren Sie sich doch erst einmal!)


– Die Tories sind doch Ihre Freunde. Das sind doch nicht
unsere Freunde, sondern Ihre. Sie machen doch mit de-
nen Politik.


(Beifall bei der LINKEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das ist doch eine ganz andere Parteienfamilie! Keine Ahnung von Europa, aber sich hierhinstellen!)


UKIP hat das ausgenutzt. Der Brexit ist ein von rechts
dominierter Austritt. Ich will Ihnen einmal eines sagen –
gerade den Damen und Herren von der CSU –: Es war
Herr Seehofer, der in Wildbad Kreuth zu dem, was die
Tories machen, gesagt hat: „Das ist CSU pur.“ Das ist
Ihre Politik. Sie haben damit Übereinstimmung signali-
siert.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Lehre sollte doch sein, dass Sie in der Union end-
lich einmal merken, dass mit dieser Auseinandersetzung

Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


zwischen den beiden Unionsparteien die Rechtspopulis-
ten letztlich befördert werden.


(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Unglaublich! – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: In Sachsen-Anhalt haben viele von Ihnen sie gewählt!)


Dass nur so wenige abstimmen, hat im Übrigen auch
mit dem zu tun, was sich „Kerneuropa“ nennt. Sie ha-
ben am Freitag die sechs Außenminister der Gründungs-
staaten ausgerechnet nach Deutschland eingeladen und
sich gestern um die Achse Berlin-Paris-Rom gekümmert.
Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen voller Bedauern:
Der letzte europäische Kanzler in diesem Land war
Helmut Kohl, und ich bedaure das sehr.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Jetzt wird die Rede langsam besser! – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sie haben Schröder vergessen!)


Das Agieren mit Kerneuropa ist eben ein großer Fehler.
Der Rest scheint Ihnen offensichtlich egal zu sein. Das
ist so!


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ganz schwache Rede!)


Brüssel wäre natürlich der richtige Ort gewesen, um
mit allen Mitgliedern zu sprechen. Das wäre vernünftig
gewesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das EP ist der richtige Ort, um diese Auseinandersetzung
zu führen.

Es ist doch auch ein Skandal, dass der EP-Präsident,
Herr Schulz, fordert, dass der Austrittsantrag der Briten
bis Dienstag da sein möge. In der Krise und im Umgang
mit Großbritannien wird sich zeigen, wie weit die Euro-
päische Union ist. Man darf nicht drohen, sondern man
muss gerade auch dann, wenn man sich scheidet, ein or-
dentliches Verfahren finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Entscheidende
ist: Jetzt ist endlich eine andere Politik gefordert.


(Beifall bei der LINKEN)


Dieser ganze Wahnsinn von Liberalisierung und Privati-
sierung muss endlich gestoppt werden.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Stabilisierung!)


Es muss eine klare Absage an Nationalismus und Rassis-
mus erfolgen. Hierüber wird es in diesem Hohen Haus
doch hoffentlich Konsens geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich hat Europa nur gemeinsam eine Chance; das
ist doch völlig klar. China, Japan und Nordamerika: Hin-
sichtlich der Anzahl der Menschen sind das doch andere
Dimensionen. Kleinstaaterei wird hier doch überhaupt
keine Lösung sein können. Wenn man ein gemeinsames
Europa will, dann darf man nicht zu viel reden, sondern
dann muss man sofort handeln.

Jeder Weg in eine neue Richtung beginnt immer mit
dem ersten Schritt, und deswegen will ich jetzt auf das
Zehnpunkteprogramm zurückkommen, das Sigmar
Gabriel, der Vizekanzler, entworfen hat. Da kann ich
nur feststellen, dass das der aktuellen Politik diametral
gegenübersteht. Ich finde es ja vernünftig. Ich finde es
vernünftig, dass wir den ersten Schritt zu einem anderen
Europa gehen. Wir brauchen in der zentralen Industrie-
macht Europas einen Politikwechsel, meine Damen und
Herren. Das wäre nötig.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht um das große Projekt des Friedens; da bin
ich überhaupt nicht so weit weg von Ihnen. Ja, es ist ein
Segen, dass wir in Europa Frieden haben; das darf nicht
zerstört werden. Ja, Europa ist ein großes kulturelles Pro-
jekt, wofür wir uns gemeinsam weiter engagieren wollen.
Ja, es ist ein Europa des Austausches und des Miteinan-
ders. Es ist kein Europa der Abschottung. Das, meine Da-
men und Herren, muss doch unser Ziel sein: ein Europa
der Menschen, um das in einem Satz zu sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke wird sich weiter dafür nachhaltig engagieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818100600

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Thomas

Oppermann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1818100700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Ich habe Dietmar Bartsch aufmerksam zugehört.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Nachdem schon Sahra Wagenknecht ihre Verehrung für
Ludwig Erhard bekundet hat, entdeckt Dietmar Bartsch
jetzt seine Vorliebe für Helmut Kohl.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Als Europäer! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie sind auf einem guten Weg!)


Ich stelle fest: Die Christdemokratisierung der Linken
schreitet unaufhaltsam voran.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber wenn der erste Schritt für ein besseres Euro-
pa die von Sahra Wagenknecht gestern vorgeschlagene
Volksabstimmung in Deutschland über europäische Ver-

Dr. Dietmar Bartsch






(A) (C)



(B) (D)


träge sein soll, dann bin ich nicht sicher, ob Sie auf dem
richtigen Weg sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Die europäischen Verträge sind teilweise sogar in unser
Grundgesetz inkorporiert. 80 Prozent der Deutschen ha-
ben letzte Woche in einer Forsa-Umfrage bekundet, dass
sie für einen Verbleib von Deutschland in der Europäi-
schen Union sind.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann brauchen Sie ja doch auch keine Angst zu haben!)


Deshalb werden Sie es nicht schaffen, uns jetzt nach dem
Vorbild Großbritanniens auf einen Weg zu bringen, der
dazu führt, unsere Gesellschaft zu spalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, mit Großbritannien ver-
liert die Europäische Union ihre zweitstärkste Volkswirt-
schaft, die 17 Prozent der europäischen Wirtschaftsleis-
tung erbringt. Aber insbesondere verliert sie einen gut
vernetzten weltpolitischen Akteur und damit ein gutes
Stück ihrer globalen Wirkungsmöglichkeiten. Wenn
Großbritannien jetzt auch noch aus dem Binnenmarkt
ausscheiden sollte, dann wäre das für Deutschland, dann
wäre das für die deutsche Wirtschaft keine gute Nach-
richt.

Aber vor allem Großbritannien stehen nun schwierige
Zeiten bevor. David Cameron, der Initiator dieser Volks-
abstimmung, hat einen riesigen politischen Scherbenhau-
fen hinterlassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Um einen innerparteilichen Dauerkonflikt zu befrieden,
hat er den Konflikt in die ganze Gesellschaft getragen.
Am Ende hat David Cameron aus einer gespaltenen Par-
tei ein gespaltenes Land gemacht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das war vorher auch schon gespalten!)


Gespalten ist es zwischen Schottland und Nordirland
auf der einen Seite sowie England und Wales auf der
anderen Seite. Diese Spaltung wird das Vereinigte Kö-
nigreich vor eine zusätzliche Belastungsprobe stellen.
Schottland hat bereits erklärt, dass es seinen Platz in der
Europäischen Union sieht,


(Beifall des Abg. Dr. Frank Steffel [CDU/ CSU])


und ein erneutes Referendum angekündigt. In Nordir-
land gibt es Forderungen nach einer Wiedervereinigung

Irlands. Die aktuelle Entwicklung Großbritanniens zeigt:
Nationalismus stärkt nicht die Nation. Nationalismus
spaltet und gefährdet die Einheit unserer Nationen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber gespalten ist das Land vor allen Dingen zwi-
schen Jung und Alt. Die unter 50-Jährigen haben mit gro-
ßer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


die unter 25-Jährigen sogar mit einer Dreiviertelmehr-
heit. Die jungen Menschen in Großbritannien favorisie-
ren ganz offenkundig nicht die nationalstaatliche Einige-
lung und Abkapselung. Sie sehen ganz klar ihre Zukunft
in einem vereinten, weltoffenen, modernen Europa. Ich
finde, das ist ein Zeichen der Hoffnung für Großbritanni-
en und für Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


Das Votum der jungen Briten sollte uns eine Verpflich-
tung sein. Wir dürfen diesen jungen Leuten nicht die
Hoffnung nehmen, dass eines Tages nach diesem Aus-
tritt Großbritannien wieder in die EU zurückkehren kann.
Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass die EU-27 nicht
auseinanderfällt, sondern zusammenbleibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Noch etwas anderes schulden wir diesen jungen Leu-
ten und allen, die für ein vereintes Europa kämpfen: dass
wir ein klares Zeichen gegen Antieuropäer und Natio-
nalisten setzen. Wer sich gegen Europa entscheidet, der
muss auch für die Konsequenzen geradestehen. Ich sage
das mit Blick auf die neue Diskussion in England. Ich bin
erstaunt, dass die Propagandisten des Brexits jetzt plötz-
lich, angesichts der Trümmer ihrer politischen Initiative,
sich erschrecken. Erst hieß es: Es kann mit dem Brexit
gar nicht schnell genug gehen. – Plötzlich heißt es: Es ist
überhaupt keine Eile geboten.

Ich stelle fest: Diejenigen, die unhaltbare Verspre-
chungen gemacht haben, kriegen jetzt kalte Füße. Dieje-
nigen, die vollmundige Ankündigungen gemacht haben,
werden plötzlich kleinlaut. Einigen dämmert offenbar
erst jetzt, was sie angerichtet haben. Ich finde, die Ver-
antwortung dafür müssen sie ganz alleine tragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


David Cameron will die Sache jetzt bis zur Wahl sei-
nes Nachfolgers liegen lassen. Ich finde, das ist eine Zu-
mutung für alle, denen Europa am Herzen liegt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Probleme dieser Partei scheinen immer noch wich-
tiger zu sein als die Probleme des Landes und die Pro-
bleme Europas. Eine monatelange Unsicherheit über die

Thomas Oppermann






(A) (C)



(B) (D)


Frage, wie es weitergeht, schadet der britischen, schadet
der deutschen und schadet der europäischen Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich ist es ganz allein die Entscheidung der bri-
tischen Regierung, wann sie den Austritt nach Artikel 50
EU-Vertrag erklärt. Aber es ist die Pflicht der deutschen
Bundesregierung und aller anderen Mitglieder im Euro-
päischen Rat, klarzumachen, was unsere Erwartung ist.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1818100800
Drängen
Sie im Europäischen Rat darauf, dass möglichst schnell
Klarheit geschaffen wird!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Europa braucht Klarheit. Wir können eine jahrelange
Hängepartie nicht gebrauchen.

Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte von Ihnen – und
das haben Sie ja auch schon angedeutet –, dass Sie für
unsere gemeinsame Regierung auf dem Gipfel ein zwei-
tes Zeichen setzen: die klare Ansage, dass es für Großbri-
tannien keine Sonderbehandlung geben kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat sie ja gesagt!)


– Ja, ich sage das ja. – Wir wollen faire Verhandlungen.
Wir wollen weiterhin tiefe und freundschaftliche Bezie-
hungen zum Vereinigten Königreich. Aber es darf keine
Belohnung für den Austritt, es darf keine Prämie für Na-
tionalismus und Europafeindlichkeit geben.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU] – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat sie alles schon gesagt!)


Ein Gemeinwesen kann – überall auf der Welt – nur
funktionieren, wenn Rechte und Pflichten zusammenge-
hören. Wenn man es zulassen würde, dass man die Vortei-
le behalten und gleichzeitig die Verpflichtungen loswer-
den könnte, dann allerdings, würde ich prognostizieren,
gäbe es bald überall in Europa Volksabstimmungen nach
diesem Muster. Ich sage ganz klar: Mit solchen Dingen
dürfen wir die Europäische Union nicht zum Abschuss
freigeben durch Nationalisten und Populisten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn die Feinde Europas über den Brexit jubeln, dann
kann die richtige Antwort darauf weder in einem einfa-
chen Ruf nach mehr Europa noch in einer als Denkpause
getarnten Schockstarre bestehen.

Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. Das Re-
ferendum zeigt, dass es ein breites Unbehagen gegenüber
der Europäischen Union gibt. Viele Menschen haben das
Gefühl, dass Europa unablässig dabei ist, ihnen durch
kleinteilige Regulierungen das Leben im Alltag schwer
zu machen. In den vergangenen 70 Jahren waren es ge-
rade die großen Fragen, die Europa vorangetrieben und
die Menschen mitgenommen haben: Frieden und Wohl-
stand, Freiheit und Demokratie, die Überwindung von
Nationalismus und die Überwindung jahrhundertealter

Feindschaften. An diesen historischen Leistungen muss
die Europäische Union jetzt anknüpfen. Das geht nur,
wenn wir uns wieder auf das Wichtige konzentrieren und
das weniger Wichtige im Sinne einer wohlverstandenen
Subsidiarität der politischen Gestaltung in den Mitglieds-
ländern überlassen. Dazu haben Frank-Walter Steinmeier
und Jean-Marc Ayrault in ihrem gemeinsamen Papier
den entscheidenden Punkt benannt: „Wir müssen unse-
re gemeinsame Politik strikt auf jene Herausforderungen
konzentrieren, die nur durch gemeinsame europäische
Antworten bewältigt werden können.“ Genau das ist es:
Wir brauchen ein besseres Europa, ein Europa, das sich
auf das Wesentliche konzentriert und das sich wieder den
Menschen zuwendet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört ganz sicher die Bewältigung der Flücht-
lingskrise. Um den Menschen das Vertrauen in die EU zu-
rückzugeben, müssen wir beides schaffen: unsere huma-
nitären Verpflichtungen erfüllen, aber auch die Kontrolle
über die Situation behalten. Wir alle haben erfahren, dass
die europäischen Binnengrenzen nur offengehalten wer-
den können, wenn wir die Außengrenzen sichern. Das ist
zweifellos eine Aufgabe, die die EU nur als Ganzes lösen
kann. Wir wollen keine Abschottung. Wir brauchen eine
neue europäische Flüchtlingsordnung, die Grenzländer
entlastet und Flüchtlinge besser und fairer verteilt. Wir
alle wissen, dass die Positionen der Mitgliedstaaten in
dieser Frage meilenweit auseinanderliegen. Trotzdem
bleibt nichts anderes übrig, als beharrlich weiter an einer
Annäherung der Positionen zu arbeiten und eine pragma-
tische Lösung zu erreichen. Die Menschen erwarten dies,
und diese Erwartung müssen wir auch erfüllen.


(Beifall bei der SPD)


Die zweite große Aufgabe Europas besteht in der
Schaffung wirtschaftlichen Wachstums und der Über-
windung der Finanzkrise. Das muss geleistet werden, um
das von der Bundeskanzlerin aus den Lissaboner Ver-
trägen zitierte Wohlstandsversprechen einzulösen. Vor
sieben Jahren haben Millionen Menschen in der Wirt-
schaftskrise ihre Arbeit verloren. Viele von ihnen haben
übrigens bis heute keinen neuen Arbeitsplatz gefunden.
Die Finanzkrise hat das Vertrauen von Millionen Men-
schen, von Millionen Bürgerinnen und Bürgern erschüt-
tert. Der Staat bzw. die Staatengemeinschaft war nicht
in der Lage, den bescheidenen Wohlstand der Menschen
vor dem gierigen Zugriff spekulierender Finanzmärkte
zu schützen. Trotz Bankenunion haben wir immer noch
keine wirkungsvolle Regulierung der Finanzmärkte und
keine Schließung der Steuerschlupflöcher in Europa. Ich
frage: Wann kommt endlich die Finanztransaktionsteuer?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Abstimmen lassen!)


Die EU wird sofort vertrauenswürdiger, wenn klar ist,
dass auch Finanzmärkte und Spekulanten an ihrer Finan-
zierung beteiligt werden.

Thomas Oppermann






(A) (C)



(B) (D)


Nach sieben Jahren Krise brauchen wir wieder eine
wirtschaftliche Dynamik in der Euro-Zone. Genau das
ist der Kern von Sigmar Gabriels und Martin Schulzʼ
Vorschlag einer europäischen Wachstumsregion. Wir
brauchen mehr Investition und Innovation, um die Ar-
beitslosigkeit in der EU zu bekämpfen. Wir müssen die
Währungsunion endlich zu einer Wirtschaftsunion ma-
chen. In einer wirtschaftlich intakten Euro-Zone können
wir wieder Vertrauen zurückgewinnen. Vor allen Dingen
ist das ein Weg, der 22 Millionen Arbeitslosen in der EU
wieder Mut und Hoffnung geben könnte. Die Jugendli-
chen waren die Ersten – darauf wurde bereits hingewie-
sen –, die in der Krise ihre Arbeit verloren haben, viel-
leicht nicht in Deutschland und in Großbritannien, wohl
aber in vielen anderen Ländern der EU. Die jungen Men-
schen waren die großen Verlierer des letzten Jahrzehnts.
Das darf nicht so bleiben. Nur wenn Europa der Jugend
wieder eine Perspektive gibt, dann hat auch Europa eine
Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Frau Bundeskanzlerin, da müssen wir mehr machen.
Das Wohlstandsversprechen zu erneuern, wird nicht al-
lein über den Juncker-Plan funktionieren. Wir brauchen
eine andere Dimension von Investitionsprogrammen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen ein Investitionsprogramm in Europa, das
die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft
stärkt und auch die Infrastruktur so modernisiert, dass
die jungen Menschen das Gefühl haben, dass sie auch
noch in zehn Jahren hier eine wirtschaftliche Perspektive
haben. Deshalb brauchten wir innerhalb von zehn Jahren
eigentlich die modernste digitale Infrastruktur auf der
ganzen Welt. Das wäre eine Dimension, an die man sich
jetzt ranmachen müsste.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren – ich komme gleich zum
Schluss, Herr Präsident –, die Probleme, die wir heute ha-
ben, egal ob Flüchtlinge, Sicherheit, Finanzmärkte oder
Klimawandel, sind alle transnational. Sie machen weder
an nationalen Grenzen halt, noch können sie innerhalb
nationaler Grenzen und in nationaler Souveränität gelöst
werden. Das geht nur mit europäischen Antworten.

Wenn sich jetzt wieder Nationalismus und national-
staatliches Denken in Europa durchsetzen, dann wird es
jedem einzelnen Land schlechter gehen als vorher. Es
wäre das Ende von Europa als Friedensmacht und das
Ende einer offenen europäischen Gesellschaft. Das dür-
fen wir nicht zulassen. Aber wenn nur diejenigen kämp-
fen, die Europa nicht wollen, dann wird es Europa bald
nicht mehr geben.

Uns Deutschen wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn
es allen in Europa gut geht. Deshalb: Lassen Sie uns für
ein besseres, stärkeres Europa kämpfen, und lassen Sie
uns daran gemeinsam arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818100900

Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Die Entscheidung der Briten in der letzten Woche ist
ein schwerer Rückschlag für die europäische Einigung.
Wenn sich zum ersten Mal die Bevölkerung eines euro-
päischen Landes dafür entscheidet, aus der EU auszutre-
ten, dann macht das die EU kleiner, es macht uns enger,
es macht uns große Sorgen. Europa schrumpft – territo-
rial, bevölkerungsmäßig und leider eben offenbar auch
politisch.

Sorgen muss uns vor allem die Art und Weise der
Kampagne der EU-Gegner in Großbritannien machen.
Abstiegsängste und Sorgen der Mittelschicht wurden
instrumentalisiert. Es ging nicht um Fakten, es ging
um Mythen. Es ging um den Mythos, dass sich sozia-
le und gesellschaftliche Probleme leichter ohne die EU
lösen lassen würden. Das ist die erste große Lehre, die
wir aus diesem Referendum ziehen müssen; das ist Auf-
trag an uns: Ich möchte keine politischen Debatten, bei
denen Inländer gegen Ausländer ausgespielt werden.
Ich möchte keine EU, in der Deutschland nur gewinnen
kann, wenn Europa verliert. Ich möchte keine EU, in
der mein Deutschsein gegen mein Europäischsein aus-
gespielt wird. Meine Damen und Herren – das sage ich
besonders für Krisensituationen, die wir hatten und die
wir haben werden –, ein starkes Deutschland ist es, wenn
in Deutschland Europäisch gesprochen wird, und nicht,
wenn in Europa Deutsch gesprochen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es geht darum, dass jeder nicht sich selbst der Nächs-
te ist, sondern dass Zusammenhalt und Solidarität das
Höchste sind, was wir gemeinsam haben.

Dieses Referendum ist aber auch nicht durch Zufall
oder wegen der aktuellen Brexit-Kampagne so ausgegan-
gen. Seit mehr als zehn Jahren hat David Cameron – und
bei weitem nicht nur er – Brüssel zum Sündenbock und
Blitzableiter missbraucht. Damit hat er den Boden für die
Ausstiegsstimmung selbst bereitet. Cameron hat ein Re-
ferendum ausgerufen, und zwar nicht aus Überzeugung,
weil er Beteiligung so wichtig findet, nein, quasi en pas-
sant als Ersatz für Argumente, und damit hat er sein Land
in eine tiefe Krise, in die tiefste seit vielen Jahrzehnten,
gestürzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wenn die Lage, vor der wir nun stehen, zuerst ein-
mal ein Riesenproblem für Großbritannien ist, kann es in
Europa kein Weiter-so, als wäre nichts gewesen, geben.

Der Austritt Großbritanniens stellt vieles infrage.
Er stellt nicht die EU infrage. Es geht aber nicht um
Schockstarre, es geht auch nicht um Depression; nein,
wir Europäerinnen und Europäer haben schon oft bewie-

Thomas Oppermann






(A) (C)



(B) (D)


sen, dass wir stark sind, erfinderisch, flexibel genug, um
ein solches Ereignis als Chance zu nutzen.

Wir haben – darauf kommt es jetzt an – das Verbin-
dende vor das Trennende gestellt. Für uns alle hier im
Land ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Großbritan-
nien immer Teil Europas war. Engländer, Schotten, Wali-
ser, Nordiren, London – sie gehören zu Europa. Wie auch
immer jetzt die Mehrheitsentscheidung für einen Brexit
von der Regierung und dem Parlament in London um-
gesetzt wird, was auch immer der Austrittsprozess zwi-
schen Großbritannien und der EU am Ende an Trennung
und Vereinbarungen hervorbringt, dieses Signal „Ihr seid
Europäerinnen und Europäer“, das muss bleiben, das ist
zentral. Diese Tür ist, was die Administration angeht, zu.
Diese Tür ist zu, weil es nicht rein- und wieder rausgeht.
Aber sie ist nicht zu, was unsere Herzen angeht. Sie ist
nicht zu, was ein gemeinsames europäisches Denken und
Fühlen angeht, und das ist ganz zentral.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ganz besonders treibt mich – das haben viele deutlich
gemacht – die Enttäuschung darüber um, wie die jungen
Britinnen und Briten abgestimmt haben. Sie waren mehr-
heitlich für einen Verbleib in der EU. Das Referendum
war ja nicht zuletzt eine Abstimmung über ihre eigene
Zukunft. Aber seien wir ehrlich: Dass es diese Jungen
ganz offensichtlich für so selbstverständlich hielten, dass
sie es sogar vergeigt haben, am Ende wirklich zur Wahl
zu gehen und abzustimmen, ist auch ein krasser Befund,
und an dem können wir nicht vorbeischauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Gerdes [SPD])


Trotzdem bleibt das Signal an die junge Generation:
Jugendaustausch, Kultur, Kooperation zwischen Schu-
len, Universitäten, in Ausbildungsprogrammen, etwa
Erasmus. Diese Programme müssen gestärkt und dürfen
nicht gestutzt werden; denn das ist die Zukunft Europas,
auf die wir setzen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke aber auch an die vielen Britinnen und Bri-
ten, die bei uns in Deutschland leben. Frau Merkel hat
den Deutschen, die in Großbritannien leben, klar signali-
siert: Ihr werdet dort Sicherheit haben. – Das muss aber
auch umgekehrt gelten. Viele sind hier längst verwurzelt.
Sie arbeiten hier. Sie forschen bei uns. Sie haben ihre
Familien hier. Als EU-Bürgerinnen und als EU-Bürger
mussten sie sich keine Sorge um ihren Status machen.
Nun stehen sie vor großer Unsicherheit. Ich möchte, dass
sie sich weiter als Europäerinnen und Europäer fühlen
können, dass sie bei uns leben können, mit einem ein-
fachen Weg zum deutschen Pass. Im Falle des Brexit
sollten wir ihnen eine echte Bleibeperspektive eröffnen.
Auch das wäre ein Schritt zu mehr Europa und ein gutes
Signal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Für die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutsch-
land ist klar: Das gemeinsame Europa, die Europäische
Union, ist ein weltweit einmaliges Projekt. So viele

schreckliche Kriege und Verbrechen haben die Men-
schen Europas in den letzten Jahrhunderten erlitten, so
viel Leid, so viel Zerstörung bis hin zum Zweiten Welt-
krieg und zum Holocaust. Die Europäische Union ist ein
friedlicher Zusammenschluss europäischer Bürgerinnen
und Bürger und Staaten. Es ist das Projekt, um miteinan-
der in Frieden und Demokratie zu leben. Für mich ist es,
wie für viele andere Osteuropäerinnen und Osteuropäer,
eben auch das große Freiheitsversprechen. Jede Grenze –
jede! –, auch eine durch den Zoll, macht die Menschen in
Europa kleiner und enger.

Ich weiß, dass hier manche das Pathos nervt. Aller-
dings: Ich glaube, dass wir vergessen haben, oft und gut
über die Europäische Union zu reden. Das heißt nicht,
dass wir nichts verändern wollen. Aber zu sagen: „Die-
se Europäische Union, dieses Europa, das ist unsere ge-
meinsame Heimat, und die wollen wir gemeinsam ver-
bessern“, darauf kommt es doch an, gerade jetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin sehr froh darüber, dass 77 Prozent der Deut-
schen sehr deutlich sagen, sie wollen in der EU bleiben.
Doch leider sehen wir, dass antieuropäische und popu-
listische Kräfte in vielen Ländern an Boden gewinnen.
Ich kann nur davor warnen, diesen EU-Gegnern mit der
leichtfertigen Ausrufung von riskanten Referenden auch
noch eine Bühne zu bieten. Nein, ich bin nicht plötzlich
gegen direkte Demokratie, aber die Abstimmung über
Politik ersetzt nicht die Politik, und darauf kommt es
jetzt an:


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Europa politisch zusammenzuhalten, meine Damen und
Herren, und nicht auf dem populistischen Boden unter-
wegs zu sein. Das gilt für Frau Wagenknecht, und das gilt
mitunter eben auch für Herrn Seehofer.

Die EU hat nicht nur die Roaminggebühren abge-
schafft und für hohe Standards im Bereich Umwelt- und
Naturschutz gesorgt; sie ist Vorreiterin im Kampf gegen
Diskriminierung und für Gleichberechtigung. Die Pro-
bleme, vor denen wir in einer globalisierten Welt stehen,
können wir Europäerinnen und Europäer nur gemeinsam
angehen: mit gemeinsamen Regeln. Gemeinsam als Ak-
teur auf der globalen Bühne können wir den Klimawan-
del aufhalten, die weltweite Steuerhinterziehung stoppen,
ja, auch den sozialen Zusammenhalt stärken, die Schere
zwischen Arm und Reich, die so riesig auseinanderklafft,
wieder zusammenbringen, die Finanzmärkte regulieren
und natürlich die Flüchtlingsfrage lösen – ausschließlich
gemeinsam.

Lassen Sie uns auch wieder über Europa streiten,
und zwar leidenschaftlich und gern kontrovers, damit
die Menschen da draußen merken: Das geht uns wirk-
lich etwas an, und das beschäftigt auch uns; da geht es
nicht um irgendetwas Bürokratisches, was die in Brüssel
machen. – So geht es nicht: Wenn es uns gerade in den
Kram passt, dann reden wir nicht davon, dass etwas eine
Entscheidung Europas ist, sondern sagen: Es ist nur auf
unserem Mist gewachsen. – Es geht genau darum, dass
wir streiten, leidenschaftlich streiten – über unser, über

Katrin Göring-Eckardt






(A) (C)



(B) (D)


dieses Europa und darüber, wie es in Zukunft aussehen
soll, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das müssen wir nicht nur hier machen; das müssen wir
auch da draußen auf der Straße machen: nicht mit den
Bürgerinnen und Bürgern darüber reden, ob sie denn nun
Europa wollen, sondern mit ihnen darüber diskutieren,
welches Europa es sein soll.

Meine Damen und Herren, wir sehen die Katerstim-
mung in Großbritannien und hoffen, dass das Ergebnis
des Referendums den Britinnen und Briten eine Chan-
ce eröffnet, ganz nüchtern, ohne populistische Parolen
über ihre Rolle in Europa und in der Welt nachzudenken.
Auch bei uns ist der Kater nicht gerade klein. Er hat in
Großbritannien damit zu tun, dass die Menschen Angst
und Sorgen haben: Was geht verloren? Was wird aus dem
Finanzplatz? Das Rating ist abgestürzt. Wo kann ich in
Zukunft studieren und arbeiten? Kein Wunder, dass sich
inzwischen offenbar viele wünschen, dass sie noch ein-
mal abstimmen dürften.

In Großbritannien waren die zwei häufigsten Suchan-
fragen laut Google Trends, und zwar nach der Abstim-
mung: Erstens. Was passiert, wenn man aus der Europä-
ischen Union austritt? Zweitens. Was ist eigentlich die
EU? – Trotzdem: Ein Rein und Raus gibt es nicht. Diese
Entscheidung steht. Man kann nicht eine Entscheidung
ausrufen und dann so lange abstimmen, bis es einem
gefällt. Dieses Aufwachen in Großbritannien muss ein
Aufwachen für ganz Europa sein. Wir müssen uns klar
darüber werden, was dieses Europa für uns gemeinsam
bedeutet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es kann vor allem eines nicht bedeuten, meine Damen
und Herren – das ist eine Warnung an die Bundesregie-
rung –: Hören Sie auf, mit „Kerneuropa“ den anderen
Vorgaben zu machen! Hören Sie auf mit den kleinen
Treffen, die schon mal vorbereiten, was im Großen pas-
siert! Am Samstag haben wir das mit den Außenminis-
tern der Gründungsstaaten erlebt.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Unsinn!)


Ich halte das nicht für sinnvoll. Wir sind jetzt ein Europa
der 27. Das sind wir, nichts anderes. Wir sind ein Europa
von 440 Millionen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818101000

Frau Kollegin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das müssen wir wirklich sein, und das werden wir
hoffentlich auch bleiben, meine Damen und Herren.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818101100

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun Volker

Kauder.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1818101200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Ja, das war ein schlechter Tag. So kann
man es formulieren, was am letzten Donnerstag in Groß-
britannien für Europa geschehen ist. Aber ich finde es
richtig, dass wir nicht bei dieser Aussage stehen bleiben,
sondern dass wir sagen: Europa bedauert es sehr, dass
Großbritannien ausscheiden will; aber Europa ist auch
ohne Großbritannien stark genug, um die Aufgaben zu
lösen, für die Europa da ist, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es geht jetzt darum, in aller Ruhe diese Entscheidung
zur Kenntnis zu nehmen und dann mit den Briten darüber
zu reden, wie es weitergehen soll. Ich kann nur sagen:
Die Briten haben entschieden. – Aber wer dafür plädiert,
die Entscheidung des britischen Volkes ernst zu nehmen,
der muss auch ernst nehmen, dass die Briten darüber erst
einmal in ihren Institutionen reden und dass sie entschei-
den, wann der Antrag gestellt wird. Diese Bevormun-
dung von außen – heute! jetzt! sofort! – halte ich in der
konkreten Situation nicht für angemessen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Ich finde es richtig, wenn da die Bundeskanzlerin sagt:
Die Briten müssen dies nun entscheiden. Wir wollen da
nicht unnötig Druck aufbauen, aber sie sollen jetzt bald
zu einem Ergebnis kommen. – Ich habe auch Verständ-
nis dafür, dass bei einer solchen Entscheidung, durch die
das Volk in Großbritannien auch aufgewühlt ist, erst ein-
mal mit ein bisschen Abstand Klarheit auch im Denken
geschaffen werden muss, was nun eigentlich geschehen
soll. Wir vermitteln durch die ständige Forderung „Jetzt!
Sofort!“ den Eindruck, als ob das alles auch so schnell
gehe.

Die Verhandlungen werden wie bei einem großen
Scheidungsprozess nicht in einer Woche entschieden
sein. Es wird um Monate und Jahre einer Phase des Tren-
nens gehen. In dieser Phase des Trennens muss geklärt
werden, wie die Position von Großbritannien aussieht.
Das ist die erste Frage, die jetzt geklärt werden muss.

Zweitens. Bei all den Gesprächen, die dann statt-
finden – auch das muss man klar und deutlich sagen –,
müssen wir, wie ich finde, schon auch unsere Interessen
berücksichtigen. Großbritannien ist ein wichtiger Han-
delspartner für uns. Ich finde, das soll Großbritannien
auch in Zukunft sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Großbritannien sitzt nach wie vor mit uns in der NATO;
da könnten noch manche Diskussionen auf uns zukom-

Katrin Göring-Eckardt






(A) (C)



(B) (D)


men. Von daher rate ich, mit diesem Land anständig um-
zugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


G7, G20 – überall sind sie dabei. Deswegen kann es wohl
nicht nach dem Motto laufen: Ihr habt eine Entscheidung
getroffen, die uns nicht passt, und dafür werden wir euch
anständig bestrafen. – Das ist nicht unsere Position, liebe
Kolleginnen und Kollegen; das werden wir auf gar kei-
nen Fall machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Göring-Eckardt und Thomas Oppermann haben
ja darauf hingewiesen, dass jetzt eine Entscheidung für
etwas getroffen wurde, was knapp die Hälfte so sieht, was
aber eine starke Minderheit anders sieht, vor allem die
junge Generation. Und dieser jungen Generation möch-
te ich sagen: Es werden andere Chancen, andere Zeiten
kommen. Nur – auch darauf hat Frau Göring-Eckardt
hingewiesen –, es zeugt doch schon von einer gewissen
Dramatik, dass eine junge Generation, die gewusst hat,
dass es um ihre Zukunft geht, nicht in ausreichender An-
zahl zur Wahl geht. Dafür gibt es keine Entschuldigung,
sondern nur den Hinweis: Nächstes Mal müsst ihr es bes-
ser machen!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Natürlich ist es auch richtig, dass wir darüber reden,
was wir tun können, damit dieses Europa attraktiver wird.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Es geht um die EU, nicht um Europa!)


Über den Nationalstaat braucht man in der Regel keine
Geschichte zu erzählen; aber über die Bedeutung Euro-
pas muss eine Geschichte erzählt werden. Wir haben hier
im Deutschen Bundestag immer wieder darauf hinge-
wiesen, dass die Gründungsgeschichte dieses gemeinsa-
men Europas auf den Erfahrungen mit den Kriegen, vor
allem mit dem Zweiten Weltkrieg, basiert und dahinter
die große Vision stand: Nie wieder Krieg! – Diese ist
in Erfüllung gegangen, und darüber sind wir auch froh
und dankbar. Aber jetzt muss eine neue Geschichte er-
zählt werden, eine Geschichte darüber, was dieses Eu-
ropa ausmacht. Sie sollte nicht nur aus nackten Fakten
und Aufgaben bestehen, sondern auch aus einer gewissen
Emotion. Wenn es nicht gelingt, Europa in den Herzen
der Menschen zu verankern, dann wird es in Zukunft sehr
schwer für Europa, die gute Geschichte zu erzählen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])


Ich glaube, es müssen zwei Dinge gemacht werden:
Zum einen müssen die immer wieder aufgerufenen Kri-
tikpunkte angepackt werden – dazu gleich –; zum ande-
ren muss aber auch immer wieder gesagt werden, was
dieses Europa bedeutet.

Auch ich muss mich immer wieder fragen: „Habe ich
da alles richtig gemacht?“,


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Nein!)


und komme zu dem Ergebnis: Es kann nicht sein, dass
wir immer dann, wenn es besonders schwierig wird, alle
Schuld auf Europa schieben. Es kann nicht sein, dass die
Kommunen die Schuld aufs Land schieben, das Land auf
den Bund und der Bund auf Europa. So werden wir die
Geschichte, die an die Herzen gehen soll, nicht erzählen
können, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Damit dies nicht passiert, müssen wir schauen, auf wel-
cher Ebene welche Aufgaben gelöst werden sollen. Dann
muss auch ganz genau geschaut werden, wo wir auf den
jeweiligen Ebenen Verantwortung abladen wollen und
wo das nicht geht.

Ich habe mehrfach an diesem Pult gesagt, dass ich fin-
de, dass Europa im Augenblick in keinem guten Zustand
ist – und das ist noch eine freundliche Formulierung.
Aber es geht hier nicht um Europa, sondern in erster Li-
nie um die Nationalstaaten. Insofern hoffe ich, Frau Bun-
deskanzlerin, dass es jetzt gelingt – nicht bei dem Gipfel,
der jetzt ansteht, aber in der nächsten Zeit –, dass sich die
Nationalstaaten wieder stärker bewusst werden, welche
Verantwortung sie für das gemeinsame Europa tragen,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


und entsprechende Ergebnisse hervorbringen. Es ist doch
nicht Europa, das die gemeinsame Flüchtlings- und Asyl-
politik verhindert, sondern es sind Nationalstaaten, die
nicht bereit sind, die notwendige Solidarität zu leisten.
Da gilt derselbe Satz wie für Großbritannien: gleiche
Rechte, aber auch gleiche Pflichten. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das muss da auch gesagt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ja, das sind ein paar Aufgaben, und wir müssen sagen:
Europa ist besonders dort gefordert, wo der Nationalstaat
zu klein geworden ist und die Aufgabe nicht leisten kann.
Da sind wiederum die Nationalstaaten gefordert, dies
zu akzeptieren. Wenn wir eine gemeinsame Außengren-
ze schaffen und sagen, dass es dafür die Binnengrenze
quasi nicht mehr gibt, dann muss doch aber auch klar
sein, dass die Konsequenz daraus ist, dass diese Außen-
grenze geschützt werden muss. Da, wie wir doch sehen,
der eine oder andere Nationalstaat das nicht kann, muss
Europa diese Aufgabe übernehmen. Die Menschen in
Europa, die Bürgerinnen und Bürger – vielleicht ein paar
Regierungen in den Nationalstaaten nicht –, würden hun-
dertprozentig den Satz unterschreiben: Eine europäische
Außengrenze erfordert auch eine europäische Grenz-
schutzpolizei.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da muss es jetzt mal einen Ruck geben. 150, 200 oder
300 neue Stellen reichen nicht aus. Da muss nun etwas
getan werden.

Volker Kauder






(A) (C)



(B) (D)


Angesichts der Situation, in der sich alle Armeen in
Europa befinden, muss doch endlich einmal die Frage
beantwortet werden: Wie können wir äußere Sicherheit
durch intensivere Zusammenarbeit gerade in diesem Be-
reich herstellen?


(Zuruf von der LINKEN: Wie Heckler & Koch!)


Da wird jeder seine Korrekturen vornehmen müssen.
Mehr Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik be-
deutet auch mehr Verantwortung für Europa in der Ver-
teidigungspolitik. Da kann dann nicht jede nationale
Eigenheit über das gemeinsame Interesse einer europäi-
schen Verteidigungspolitik gestellt werden; das fängt mit
der Zusammenarbeit bei Rüstungsexporten an. Und das
hat Konsequenzen. Man kann nicht sagen: „Europa soll
in den großen Bereichen mehr tun“, aber dann jedes Mal
auf nationale Eigenheiten beharren. Das funktioniert hin-
ten und vorne nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts
der Geschehnisse in Großbritannien rate ich, die Analyse
sorgfältig und nicht nach politischen Interessen vorzu-
nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Vielen Dank, aber damit sind auch Sie gemeint.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber Sie auch!)


Ja, es ist richtig: Wir müssen für mehr wirtschaftliches
Wachstum sorgen, und wir müssen mehr dafür tun, dass
junge Menschen Perspektiven haben. Aber das Thema
Jugendarbeitslosigkeit war in Großbritannien nicht der
entscheidende Punkt, um gegen Europa zu stimmen. Be-
nennen wir die Dinge doch, wie sie sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was soll ein junger Mensch in Spanien, Frankreich oder
einem anderen Land von diesem gemeinsamen Europa
halten, wenn er hört, dass 50 Prozent der Jugendlichen in
seinem Alter arbeitslos sind? Es reicht eben nicht, wenn
sich Europa für eine Wachstumsstrategie ausspricht und
sagt: Wachstum erzeugen wir, indem wir viel Geld in das
System hineinpumpen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
lieber Koalitionspartner, Sie von der SPD haben völlig
richtig erkannt – auch wenn Sie es heute nicht mehr
wissen wollen –, dass ohne notwendige Reformen keine
Wachstumsprozesse angestoßen werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen war die Agenda 2010, an der Frank-Walter
Steinmeier so erfolgreich mitgewirkt hat, doch richtig.
Ich kann nur sagen: Wenn eine Partei wie Sie, die SPD,
sich jetzt von dem erfolgreichen Wachstumsmotor verab-
schieden will, dann ist das kein gutes Beispiel für Wachs-
tumsperspektiven in Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn ich mir die französische Wirtschaft anschaue,
wenn ich mir die wirtschaftliche Situation in Spanien
anschaue, dann finde ich schon, dass dort einige Struktu-
ren geändert werden müssen. Dass wir eine so gute Be-
schäftigungssituation für junge Menschen haben, hängt
auf der einen Seite mit unserer wirtschaftlich guten Si-
tuation zusammen, auf der anderen Seite aber auch mit
unserem Bildungssystem. Ich nenne Ihnen ein Beispiel:
In meiner Region werden demnächst 13 000 zusätzliche
Arbeitskräfte gesucht: 11 000 Facharbeiter und 2 000 In-
genieure. In einem Bildungssystem wie Spanien, wo je-
der studiert und kaum noch einer Facharbeiter wird, kann
die Beschäftigung von jungen Menschen eben nicht so
erfolgen wie bei uns in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen müssen wir, wenn wir über eine Wachstums-
philosophie für Europa reden, auch im Blick haben, wel-
che Änderungen im Bildungssystem vorgenommen wer-
den müssen.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir sollten jetzt in
aller Ruhe mit Großbritannien verhandeln, so wie es die
Bundeskanzlerin gesagt hat. Ich finde, die Position, die
Angela Merkel heute Morgen formuliert hat, ist genau
die richtige Position für die nächsten Tage in Europa. Wir
unterstützen diesen Kurs.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dann sollten wir unsere eigenen Interessen in den Pro-
zess einbringen. Wir sollten mit großer Zuversicht, mit
großem Engagement und auch mit Begeisterung sagen:
Ja, das war kein guter Tag; aber wir stehen zu Europa,
weil wir wissen, was dieses Europa für uns und die junge
Generation bedeutet.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818101300

Ich erteile das Wort der Kollegin Katarina Barley für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Katarina Barley (SPD):
Rede ID: ID1818101400

Sehr verehrter Herr Präsident! Guten Tag, liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Der Brexit ist Realität geworden.
Mein Vater ist Brite. Auch ich habe die britische Staats-
bürgerschaft. Ich gebe zu: Ich bin immer noch ein Stück
weit erschüttert, auch darüber, welche Gräben in diesem
Land aufgerissen worden sind. Ich erlaube mir, hier noch
einmal an unsere Kollegin Jo Cox zu erinnern, die diese
aufgeheizte und aggressive Atmosphäre am Ende mit ih-
rem Leben bezahlt hat.


(Beifall im ganzen Hause)


Volker Kauder






(A) (C)



(B) (D)


Herr Kauder, niemand will Großbritannien für seine
Entscheidung bestrafen, ich als Letzte. Aber „in is in“
und „out is out“ – so viel muss klar sein.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Stimmt!)


Wenn wir jetzt über einen Better Deal verhandeln und
neue Zugeständnisse machen würden,


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das hat er nicht gesagt!)


wie sollten wir dann den anderen Staaten gegenübertre-
ten, die ihrerseits kommen und alle einen eigenen Deal
verhandeln wollen? Da müssen wir schon konsequent
sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Und wenn die erste Lehre aus dem Referendum ist: „Kei-
ne Innenpolitik auf Kosten der EU“, dann bitte ich sehr
darum, Herr Kauder, in einer Debatte wie der heutigen
auf solche innenpolitischen Polemiken zu verzichten;


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mit der Wahrheit müssen Sie schon leben!)


denn sonst sind das alles nur Sonntagsreden, und dann
fangen wir wieder vorne an.


(Beifall bei der SPD)


Die Gründerväter haben die Europäische Union als
gemeinsames Haus gebaut und nicht als Steinbruch, wo
jeder hinfährt, um sich das größte Stück herauszuschla-
gen. Zu diesem Geist der EU muss Deutschland wieder
zurückkehren. Das betrifft nicht nur die Brüsseler Ver-
handlungsebene, das betrifft – Herr Bartsch, bei allem
Respekt – auch die Opposition. Auch hier wird häufig In-
nenpolitik auf Kosten der Europäischen Union gemacht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn jetzt überall gesagt wird: „Es muss in der EU
wieder um die Menschen gehen“, dann sage ich: Ja, es
muss um die Menschen gehen; auch das ist eine Lehre
aus dem Referendum. Es muss um die Menschen gehen,
die jetzt schon viel von der Europäischen Union haben.
Das sind vor allen Dingen die Jungen, die mobil sind, die
Arbeitsmöglichkeiten haben, die gebildet sind. Aber wir
müssen eben auch von denen sprechen, die nichts davon
haben, die zumindest glauben, dass sie nichts davon ha-
ben. Frau Merkel, Sie fragten nach einem Vorschlag, wie
man die Union zusammenhalten kann. Ja, den haben wir:
Lassen Sie uns endlich ernst machen mit dem sozialen
Europa,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


lassen Sie uns Arbeit schaffen durch Investitionen, lassen
Sie uns den jungen Menschen überall eine Perspektive
geben!


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mit Schulden schafft man keine soziale Gerechtigkeit!)


Am Ende geht es doch um das Wichtigste – ich meine
das sehr ernst –: Am Ende geht es tatsächlich um Frieden.


(Beifall bei der SPD)


Frieden ist nicht selbstverständlich. Wir sehen in vie-
len Staaten autoritäre Nationalisten, die Staaten wieder
gegeneinander in Stellung bringen. Ich will Ihnen von
einem traumatischen Erlebnis bei einer Podiumsdis-
kussion mit einem Brexit-Befürworter berichten; Herr
Krichbaum war dabei. Der Brexit-Befürworter sagte:
„Wir brauchen nicht die EU, um Frieden zu stiften; wir
haben die NATO“, und brachte Griechenland und die
Türkei als Beispiel. Das ist ein großes und ein verheeren-
des Missverständnis; denn Frieden ist viel mehr als die
Abwesenheit von Krieg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frieden entsteht nur durch Austausch, durch Begeg-
nung – und dafür steht die Europäische Union. Es ist
kompliziert, miteinander zu reden, miteinander zu rin-
gen. Meine Kinder haben vier Großeltern aus vier eu-
ropäischen Ländern, die über Jahrhunderte viele Kriege
gegeneinander geführt haben. Mir ist das sehr ernst: Ich
möchte nicht sehen, dass meine Kinder oder irgendje-
mand von uns eine Welt erleben muss, in der sich Staaten
gegeneinander aufstellen, und dafür brauchen wir eine
starke Europäische Union.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818101500

Nächster Redner ist der Kollege Andrej Hunko für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1818101600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der nie-

derländische Philosoph Spinoza sagte einmal: Nicht
weinen, nicht lachen, verstehen. – Ich glaube, das ist der
richtige Ansatz, wie wir mit dem Referendum in Groß-
britannien umgehen sollten. Wir müssen doch die Frage
stellen, warum nicht nur in Großbritannien, sondern auch
in vielen anderen Ländern die EU-Skepsis immer weiter
steigt und warum zum Beispiel auch bei den Referen-
den 2005 in Frankreich und den Niederlanden über den
Verfassungsvertrag sowie 2008 in Irland und letztes Jahr
in Griechenland über das Austeritätsprogramm immer
eine Mehrheit dagegen gestimmt hat. Wenn man sich alle
Abstimmungen anschaut, sieht man, dass sich da eines
wie ein roter Faden hindurchzieht: Es sind immer die fi-
nanziell Schwächeren aus den prekären Gebieten, zum
Beispiel aus den nordenglischen Arbeiterstädten, von de-
nen eine Mehrheit dagegen stimmt. Ich glaube, eine ganz
wichtige Erkenntnis ist: Europa muss endlich sozialer
werden, oder es wird auseinanderfliegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Katarina Barley






(A) (C)



(B) (D)


Die Entscheidung in Großbritannien zum Brexit ist
nur ein Symptom. Ich glaube, dass die Ursachen in der
Konstruktion, in der Politik in ganz Europa liegen. Dabei
geht es um zwei zentrale Fragen: die soziale Frage und
die Demokratiefrage. Ich habe mit großem Interesse das
Papier von Herrn Gabriel und Herrn Schulz von der SPD
bezüglich einer Neugründung der Europäischen Union
gelesen. Der Begriff „Neugründung der Europäischen
Union“ ist ein Begriff der europäischen Linkspartei. Ich
habe das wirklich sehr interessiert gelesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind für eine Neugründung der Europäischen Uni-
on, vor allen Dingen auf sozialer und auf demokratischer
Grundlage. Das ist sehr konkret.

Wir stehen in den nächsten Wochen und Monaten vor
einer ganz weitreichenden Entscheidung, nämlich vor
der Frage der Einführung der sogenannten Freihandels-
abkommen CETA und TTIP. Es gibt jetzt starke Bestre-
bungen in der Europäischen Kommission, diese Abkom-
men vorbei an den nationalen Parlamenten, vorbei auch
gegebenenfalls an möglichen Referenden in einzelnen
Mitgliedstaaten durchzusetzen. Das ist ein erster Lack-
mustest, ob man aus diesen Abstimmungen etwas gelernt
hat oder nicht. Das darf nicht sein. Diese Abkommen
müssen demokratisch legitimiert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind gegen diese Abkommen – das ist völlig klar –;
aber Voraussetzung ist, dass in den Mitgliedstaaten über
diese Abkommen diskutiert, verhandelt und abgestimmt
wird. Ich will die Bundesregierung eindringlich auffor-
dern, sich massiv dafür einzusetzen, dass das nicht an
den einzelnen Staaten vorbei durchgewinkt wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818101700

Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1818101800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist keine Frage, die Entscheidung in der letzten Woche
war eine bittere Entscheidung für Großbritannien, aber
auch für ganz Europa. Wenn auch bei den Erwartungen
im Vorfeld dieser Entscheidung nicht ausgeschlossen
werden konnte, dass sie so ausfällt, so wurde – so emp-
fand ich es zumindest – beim Votum selbst deutlich, wel-
che große historische Tragweite mit dieser Entscheidung
verbunden war und ist. Ob wir das nun für richtig oder
für falsch halten, wir haben diese Entscheidung des bri-
tischen Volkes zu respektieren, und wir haben behutsam,
besonnen und vernünftig damit umzugehen. Schnell-
schüsse, irgendwelche Schuldzuweisungen oder gar ein
Britenbashing sind fehl am Platz.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ob es gelingt, behutsam und besonnen mit dieser Ent-
scheidung umzugehen, wird sich schon bei der Gestal-
tung des Prozesses in den nächsten Monaten zeigen. Die
Bundeskanzlerin hat deutlich darauf hingewiesen, wie
der Weg ist: Die Briten haben eine Mitteilung an den Eu-
ropäischen Rat zu machen, dieser erstellt dann die Leit-
linien, und auf dieser Basis wird der Prozess gestaltet.

Nun geht es darum: Soll das schnell gehen? Sollen
wir das beeinflussen? Sollen wir da Druck ausüben? Für
mich ist völlig unbestritten, dass sichere Rahmenbedin-
gungen für die wirtschaftliche Betätigung in ganz Europa
für uns und auch für andere Staaten von entscheidender
Bedeutung sind. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen,
es gilt auch: Die Entscheidung darüber, wann diese Mit-
teilung an den Europäischen Rat erfolgt, trifft die briti-
sche Regierung. Dazu braucht es keinen Druck von an-
deren Partnern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dann kommt die Gestaltung des Prozesses. Gelegent-
lich hört man ja, da müsse eine Revanche her oder Ähnli-
ches. Ich warne davor. Natürlich kann es keine Rosinen-
pickerei geben;


(Zuruf von der SPD: Das ist der Punkt!)


darauf hat die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklä-
rung deutlich hingewiesen. Aber es gilt auch: Großbri-
tannien ist in der Sicherheitspolitik und im Hinblick auf
die wirtschaftlichen Beziehungen – nicht nur zu Deutsch-
land, sondern auch zu vielen anderen europäischen Län-
dern; für Bayern gilt das in ganz besonderer Weise – ein
äußerst wichtiger Partner. Darüber ist keine theoretische
Diskussion zu führen. Vielmehr hat diese Entscheidung
auch auf die Menschen und auf die Arbeitsplätze bei uns
im Land ganz massive Auswirkungen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir können nicht so tun, als würde sie die Menschen und
die Arbeitsplätze bei uns nicht betreffen. Angesichts der
engen, wichtigen und intensiven wirtschaftlichen Bezie-
hungen, die wir zu Großbritannien haben, ist das Gegen-
teil der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb sind auch hier Besonnenheit, Vernunft und Ver-
antwortung gefragt. Einerseits gilt: keine Rosinenpicke-
rei. Andererseits aber brauchen wir das feste Bewusst-
sein: Wir sind und bleiben Partner, und die Menschen in
unseren Ländern werden die Auswirkungen der Verhand-
lungen spüren. In dieser Verantwortung müssen diese
Verhandlungen auch geführt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nach solch einer Entscheidung stellt sich natürlich
auch die Frage: Welche Konsequenzen, welche Schluss-
folgerungen ziehen wir daraus für die weitere Gestaltung
der Europäischen Union? Von Kolleginnen und Kollegen
ist bereits mehrfach angesprochen worden: Nicht überall
ist die Europäische Union derzeit in einer guten Verfas-
sung; das spüren wir auch ganz allgemein. Da kommen
dann sehr viele Fragen und auch viele Antworten ganz
schnell. Ein bisschen habe ich den Eindruck, dass man-

Andrej Hunko






(A) (C)



(B) (D)


ches in Richtung Aktionismus geht. Auch Aktionismus,
meine Damen und Herren, ist in dieser wichtigen Frage
nicht angesagt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen übrigens keine Umwandlung der Europä-
ischen Kommission in eine europäische Regierung, und
wir brauchen jetzt auch nicht schnell weitere Program-
me, um zusätzliches Geld auszugeben,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


das dann übrigens in erster Linie wir Deutsche auszuge-
ben hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich glaube, wir tun gut daran, uns einmal in die Si-
tuation der Menschen vor Ort zu versetzen und uns zu
fragen: Was erwarten sie von der Europäischen Union?
Ich will das an drei Punkten festmachen:

Erstens. Ich glaube, wir müssen uns alle miteinander –
ich schließe mich da überhaupt nicht aus – darauf besin-
nen, wie wir von der Europäischen Union und von diesem
Europa reden; das ist vorhin schon mehrfach angespro-
chen worden. Für mich – ich sage das ganz bewusst, auch
als CSU-Politikerin – ist das ein wirklich wichtiges An-
liegen: Reden wir noch von dem Friedensprojekt? Reden
wir noch von dem Wohlstand, den uns ganz wesentlich
Europa gebracht hat? Reden wir noch von den gemeinsa-
men Werten? Reden wir noch von der politischen Selbst-
behauptung Europas in einer zunehmend globalisierten
und schwierigen Welt? Wir reden darüber fast nicht, weil
für uns alles Positive selbstverständlich ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Bayern macht es vor!)


Gleichzeitig sage ich aber: Dieses positive Reden
schließt nicht aus, auch über manche Fehlentwicklungen
und Defizite zu reden. Auch das gehört dazu; beides ge-
hört zusammen. Wenn man das Letztere tut, dann muss
man auch konkrete Vorschläge machen, um diese Fehl-
entwicklungen und Defizite zu beheben und eben darü-
ber nicht nur zu sprechen und die Ängste und Sorgen der
Menschen zu überhöhen, sie aber nicht zu beseitigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Zweites. Wenn wir uns in die Situation der Men-
schen versetzen, dann spüren wir gerade aktuell, was die
wichtigsten Sorgen sind: die Gewährleistung der Sicher-
heit in unserem Land angesichts der vielen Krisen und
Kriege auf der ganzen Welt, die Gewährleistung der in-
neren Sicherheit, die Bekämpfung des Terrorismus, die
Bekämpfung der Kriminalität und manche Fragen, die
sich im Zusammenhang mit der weltweiten und in Eu-
ropa besonders spürbaren Migration stellen. Ich will nur
diese paar Themen in den Mittelpunkt stellen und deut-
lich machen: Gerade diese Themen sind es, die erstens
die Menschen in besonderer Weise berühren und ihnen
Ängste und Sorgen bereiten und zweitens von den Natio-
nalstaaten alleine nicht bewältigt werden können. Gerade
deshalb ist es wichtig, dass sich Europa um diese Fragen

und nicht um das viele Klein-Klein in Vertragsverlet-
zungsverfahren und Sonstigem kümmert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Dritte, was ich ansprechen möchte, ist: Die Euro-
päische Union kann nicht alle Defizite, die wir erkennen,
beseitigen und allen entsprechenden Handlungsnotwen-
digkeiten nachkommen. Die Jugendarbeitslosigkeit –
Volker Kauder hat es vorhin angesprochen – und manche
Fragen der Sozialpolitik – übrigens auch die Fragen des
gesamten Arbeitsmarktes – liegen in der nationalen Ver-
antwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Katarina Barley [SPD]: Das ist der Fehler!)


Wir streuen den Menschen Sand in die Augen, wenn
wir ihnen weismachen: Das ist ein europäisches Anlie-
gen, und das kann europäisch gelöst werden. Mit noch so
viel Geld – woher auch immer das kommen möge – kann
man diese Probleme nicht lösen. Sie können nur dadurch
gelöst werden, dass jeder Staat in Europa seine Haus-
aufgaben macht und alles tut, um wettbewerbsfähig zu
sein; denn nur dann wird Europa als Ganzes auch wett-
bewerbsfähig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, in jeder Krise liegt auch
eine Chance. Nach dem, was die Bundeskanzlerin in ih-
rer Regierungserklärung deutlich gemacht hat, bin ich
zuversichtlich, dass die jetzige Situation, die wahrlich
eine Riesenherausforderung für ganz Europa ist, nicht
als Krise verstanden, sondern als Chance betrachtet wird,
und wir sollten alles dafür tun, sie dabei konstruktiv zu
begleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818101900

Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Spinrath für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Norbert Spinrath (SPD):
Rede ID: ID1818102000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Zu lange hat Premier
Cameron gegen die EU gearbeitet. Sein Kampf in den
letzten Monaten für einen Verbleib des Vereinigten Kö-
nigreichs in der EU war nicht mehr glaubwürdig und
nicht mehr überzeugend genug. Jetzt aber, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, muss derselbe Premier, der nach
seiner eigenen Erklärung noch mehrere Monate im Amt
sein wird, mit seiner Regierung den Willen des Volkes
umsetzen. Ich fordere ihn hiermit auf, nicht länger Zeit
zu schinden, sondern die notwendige Mitteilung in Brüs-
sel schnellstmöglich vorzulegen.


(Beifall bei der SPD)


Eines muss der dortigen Regierung klar sein – ich bin
froh, dass darüber Einigung in diesem Hause herrschte –:
Vor einer Mitteilung über die Austrittsabsicht gegenüber
dem Europäischen Rat darf es keine Vorgespräche, darf
es keine Nachverhandlungen und darf es keine Zuge-

Gerda Hasselfeldt






(A) (C)



(B) (D)


ständnisse geben. Bei den dann folgenden Verhandlungen
geht es eben alleine um die Bedingungen des Austritts
und nicht um die zukünftigen Beziehungen des Landes
zur EU. Austrittsverhandlungen dürfen keine Gespräche
über eine Mitgliedschaft light des Vereinigten Königrei-
ches in der EU sein. Im Reich von Wahnvorstellungen
bewegt sich anscheinend Boris Johnson, der gestern vom
bevorzugten Zugang des Landes zum Binnenmarkt und
zu den Vorteilen der EU fabulierte, ganz ohne die aus
einer Mitgliedschaft erwachsenden Pflichten.

Die Europäische Union wird diesen Austritt sicherlich
verkraften. Sorgen mache ich mir aber um die Zukunft
des Vereinigten Königreiches. In den letzten Tagen zeigte
sich die innere Zerrissenheit des Landes, zwischen Jung
und Alt, zwischen Schottland, Nordirland und London
einerseits und dem Rest des Landes andererseits. Nicht
einmal mehr ein Verfall des Landes ist auszuschließen.
Das britische Pfund und die Wirtschaft stehen vor einer
ungewissen Zukunft.

Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, Frau Bundeskanz-
lerin, dass die 27 Mitgliedstaaten der Union zusammen-
stehen. Da haben die Treffen der vergangenen Tage mit
Ihren Kollegen aus Frankreich und Italien, aber eben auch
das Treffen der sechs Außenminister der Gründungs-
staaten auf Einladung von Frank-Walter Steinmeier am
Sonnabend wichtige Impulse gesetzt.


(Beifall bei der SPD)


Frau Bundeskanzlerin, ich bitte Sie, beim Europä-
ischen Rat darauf hinzuwirken, dass die 27 Mitglied-
staaten mit einer Stimme sprechen. Dabei reicht es eben
nicht, die Äußerungen von Herrn Cameron in Ruhe, wie
es Herr Kauder und die Kanzlerin formuliert haben, zur
Kenntnis zu nehmen. Nein, Sie müssen von der Regie-
rung des Vereinigten Königreiches schnellstmöglich und
nicht erst nach einem personellen Wechsel im Herbst die
Mitteilung der Austrittsabsicht einfordern.

Die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten müssen aber
auch das Vertrauen in die Europäische Union schnell
wiederherstellen und offen und für ihre Bürgerinnen und
Bürger erkennbar und nachvollziehbar darüber reden,
wie ein besseres Europa gestaltet werden soll. Geben
Sie, Frau Bundeskanzlerin – das möchte ich Ihnen mit
auf den Weg geben –, ein starkes Bekenntnis zur europä-
ischen Einigung ab. Doch dazu ist eben nicht nur ein Be-
kenntnis erforderlich, sondern auch konkretes Handeln.
Es gibt viel zu tun, auch auf unserer deutschen Seite.

Herr Kauder, wir sollten darüber nicht nur wohlfeil re-
den, aber immer dann die Schotten dicht machen, wenn
wir Sozialdemokraten von der sozialen Dimension Eu-
ropas reden. Auch das ist Realität. Da müssen Sie sich
bewegen.


(Beifall bei der SPD)


Frau Hasselfeldt, natürlich wollen wir, dass sich Eu-
ropa zu einem besseren Europa weiterentwickelt. Aber
dann müssen wir nicht nur über die Menschen reden,
sondern wir müssen sie auch deutlich und wahrnehmbar
in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen. Einfach
nur abzuwarten und die Dinge in Ruhe zur Kenntnis zu

nehmen, wäre jetzt ein schwerer Fehler und der Lage in
Europa nicht angemessen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818102100

Nächster Redner ist Kai Whittaker für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kai Whittaker (CDU):
Rede ID: ID1818102200

Herr Präsident! Werte Kollegen! Ich stehe heute vor

Ihnen als ein Mitglied des Deutschen Bundestages, direkt
gewählt für meinen Heimatwahlkreis Rastatt. Ich stehe
heute aber auch vor Ihnen als ein Bürger des Vereinigten
Königreiches von Großbritannien und Nordirland, der
am vergangenen Donnerstag für den Verbleib in der Eu-
ropäischen Union gestimmt hat,


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


als einer von 62 Prozent seiner Altersklasse.

Ich stehe aber heute insbesondere vor Ihnen als Euro-
päer, als Sohn eines britischen Vaters und einer deutschen
Mutter, als einer, den es ohne den freien Personenverkehr
nicht gäbe,


(Heiterkeit)


als einer, der ohne freie Grenzen in Europa nicht hier ste-
hen könnte.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Deshalb werde ich für diese Prinzipien der Europäischen
Union immer einstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Präsident, Sie hatten sicherlich recht, als Sie sag-
ten, dass am vergangenen Freitag über Europa die Sonne
wieder aufgegangen ist. Aber ich finde, sie scheint nicht
mehr so hell. Stattdessen ziehen am europäischen Him-
mel immer mehr dunkle Wolken auf. Sie kommen aus
Frankreich, den Niederlanden, Polen, Tschechien, Öster-
reich, Dänemark, Griechenland, Italien und, ja, auch aus
Deutschland. Sie speisen sich aus einer Angst, in einer
Union mit 500 Millionen Menschen verloren zu gehen,
einer Angst, die eigene Identität aufgeben zu müssen, um
Teil einer anderen Identität sein zu können, einer Angst,
vergessen zu werden und nicht am wachsenden Wohl-
stand teilhaben zu können.

Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Als Euro-
päer mag mir, mag uns das Ergebnis vom vergangenen
Donnerstag nicht gefallen. Die Einheit des Landes ist in
Gefahr. Die wirtschaftlichen Aussichten sind unsicher.
Die Zukunft der jungen Briten ist beschnitten. Aber als
Demokraten haben wir dieses Ergebnis zu respektieren
und umzusetzen. Ein zweites Referendum zum jetzigen
Zeitpunkt würde das Land weiter spalten und tiefer ins
Chaos führen.

Norbert Spinrath






(A) (C)



(B) (D)


Ich teile daher die Ansicht der Bundeskanzlerin, nicht
hastig, aber zielstrebig, nicht nachtretend, aber konse-
quent die Trennung zwischen Großbritannien und der
EU zu vollziehen. Ich bin auch überzeugt, dass wir kon-
sequent sein müssen. Denn wenn uns unsere europäische
Idee wirklich etwas wert ist, dann müssen wir klarma-
chen, was dieser Wert der EU-Mitgliedschaft tatsächlich
darstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sonst werden wir eines Tages unseren eigenen Bürgern
nicht mehr erklären können, warum wir Teil dieser euro-
päischen Familie bleiben sollten.

Genau darin liegt aber, finde ich, auch unsere Chan-
ce, diese dunklen Wolken am Himmel zu vertreiben. Die
Diskussion über Reformen in der EU ist zwar notwendig,
aber ich glaube, sie ist nicht entscheidend für die Zukunft
der EU. Denn wenn wir beständig das Schlechte an der
EU suchen, finden oder gar erfinden, wirken wir nur da-
rauf hin, dass sie zerbricht.

Stattdessen bin ich fest davon überzeugt, dass wir den
Kampf um die Zukunft unseres Kontinents mit den Fein-
den der EU aufnehmen müssen. Sie sehen in der EU die
Gefahr für ihren Nationalismus. Sie werden nicht ver-
schwinden, solange wir sie gewähren lassen. Das lehrt
uns die Geschichte.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


Die erste deutsche Demokratie ist in meinem Wahl-
kreis blutig niedergeschlagen worden, weil es zu wenige
Beschützer gab. Die zweite deutsche Demokratie von
Weimar ist untergegangen, weil es zu wenige Demokra-
ten gab. Ich will nicht, dass auch die Europäische Union
scheitert, weil es zu wenige leidenschaftliche Europäer
gab.


(Beifall im ganzen Hause)


Europa hat die besseren Argumente. Aber wir müssen
endlich damit anfangen, den Kampf gegen die Feinde
Europas mit ihrer populistischen Rhetorik zu führen.
Deshalb appelliere ich an alle enttäuschten Briten: Ja, das
Referendum müssen wir akzeptieren. Aber wenn sich die
Versprechungen der Nationalisten nicht erfüllen, dann
schlägt die Stunde, diese Entscheidung umzukehren.

Vor allem möchte ich aber als junger Bundestagsab-
geordneter mit dieser besonderen Biografie an die jun-
ge Generation aller Mitgliedstaaten unseres großartigen
Kontinents und insbesondere in Großbritannien appellie-
ren: Nehmt diesen Kampf auf! Übernehmt für eure Zu-
kunft in Europa Verantwortung!

Für den Moment bleibt mir nur eins zu sagen: Wir
werden euch vermissen, aber nicht vergessen. Der Tag
wird kommen, an dem wir wieder vereint sein werden,
stärker als je zuvor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818102300

Letzter Redner in dieser Aussprache ist der Kollege

Ralph Brinkhaus.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1818102400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Bartsch, eine kleine Korrektur: Die Tories haben
die EVP schon vor längerer Zeit verlassen.

Aber Sie haben mit einer Bemerkung tatsächlich recht
gehabt, und das ist sehr ernsthaft: Die Größe und das For-
mat einer Institution und einer Gemeinschaft zeigen sich
auch dann, wenn jemand diese Gemeinschaft verlässt.
Dementsprechend muss ich sagen: Die eine oder ande-
re Aufgeregtheit aus Brüssel, aus anderen europäischen
Hauptstädten oder auch hier im Parlament ist vor diesem
Hintergrund nicht zu verstehen. Ich kann nachvollziehen,
dass dabei Emotionen hochkochen. Aber Enttäuschung
ist kein guter Ratgeber, und Zorn ist nicht sonderlich sou-
verän.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Souverän ist das, was einige Kollegen hier gemacht
haben, nämlich darauf hinzuweisen, was uns mit Groß-
britannien verbindet. Das sind nicht nur wirtschaftliche,
kulturelle und politische Beziehungen, sondern auch
ganz viele persönliche Freundschaften. Wir haben Groß-
britannien ganz viel zu verdanken. Großbritannien hat
dafür gesorgt, dass es in diesem Land eine Demokratie
gibt und dass sich die Bundesrepublik Deutschland so
entwickelt hat, wie wir sie heute kennen. Dementspre-
chend werbe ich nachhaltig darum, fair mit Großbritanni-
en umzugehen, ein faires Verfahren durchzuführen. Na-
türlich muss klar gesagt werden, was geht und was nicht
geht, genauso wie es die Bundeskanzlerin gemacht hat.
Aber wir müssen auch den Langmut, die Größe und die
Geduld für Großbritannien aufbringen, wie wir es auch
bei anderen Ländern getan haben. Großbritannien war
immer ein harter Verhandlungspartner. Großbritannien
war nicht immer einfach. Aber Großbritannien hat nie
Verträge gebrochen.


(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Großbritannien hat nie Zusagen nicht eingehalten. Groß-
britannien hat auch nie falsche Zahlen geliefert. Ich er-
warte deswegen, dass gegenüber Großbritannien die
Fairness geübt wird, die auch gegenüber anderen geübt
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Natürlich müssen wir nun darüber diskutieren, wie der
Prozess abläuft und wie wir auseinanderkommen. Viele
Redner haben heute gesagt, dass das vernünftig gestal-
tet werden kann. Es muss vernünftig gestaltet werden,
weil wir über die Freundschaft zu Großbritannien hinaus
wirtschaftliche Interessen haben. Wie Herr Oppermann
bereits gesagt hat, geht nicht nur ein Land, sondern auch
die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU. Es geht einer

Kai Whittaker






(A) (C)



(B) (D)


unserer wichtigen Handelspartner. Mit Großbritannien
geht aber auch ein Land aus der Europäischen Union, das
mit seinem Geist für Wirtschaftsliberalität und Wettbe-
werb der Union sehr gut getan hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor diesem Hintergrund ist die Frage schon berech-
tigt, welche wirtschaftliche Bedeutung das Ausscheiden
Großbritanniens für uns hat. Aber ich warne vor dem
Alarmismus, der allenthalben gepflegt wird. Ich warne
davor, den nun erscheinenden Gutachten, in denen da-
rauf hingewiesen wird, wie viel Bruttoinlandsprodukt
verloren geht und welche schrecklichen Dinge noch pas-
sieren, sofort Glauben zu schenken. Denn es hängt von
uns ab, wie wir die zukünftigen Beziehungen zu Groß-
britannien gestalten, ob das etwas Gutes wird oder ob das
nicht etwas Gutes wird. Es hängt natürlich auch davon
ab, wie es in Großbritannien innenpolitisch weitergeht.
Es ist überhaupt keine Häme angebracht, wenn es nun
Auseinandersetzungen in der konservativen Partei, der
Labour-Partei oder anderen politischen Richtungen gibt.
Das hilft uns nicht weiter. Damit wir unsere Autos, Kü-
chen und Waschmaschinen weiterhin nach Großbritanni-
en exportieren können, sind wir darauf angewiesen, dass
es dort eine ordentliche Binnennachfrage gibt. Deshalb
ist es wichtig, dass sich die Verhältnisse in diesem Land
sehr schnell klären werden. Wir sollten alles dafür tun,
dass das auch klappt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen uns aber über alle Emotionen und wirt-
schaftlichen Bedenken hinaus natürlich Gedanken da-
rüber machen, wie es mit Europa weitergeht. Ich bin
verwundert, dass jeder, kaum dass das Abstimmungser-
gebnis veröffentlicht war, seine ihm bequeme Lösung
parat hatte, die er schon immer vertreten hat. Die einen
haben gesagt: „Wir brauchen jetzt eine Intensivierung
Europas“, als ob Dinge wie gemeinsame Einlagensiche-
rung die Begeisterung bei den Euro-Skeptikern steigern
würden. Die anderen haben gesagt: „Wir brauchen gar
kein Europa mehr“, als ob wir Herausforderungen wie
Flucht und Migration ohne Europa hinbekommen wür-
den. Die einen sagen: „Jetzt müssen wir ordentlich Geld
ausgeben, um zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit zu
beseitigen“, und die anderen sagen: „Wir dürfen über-
haupt kein Geld mehr ausgeben, weil das nur den Eu-
ro-Skeptizismus steigert.“

Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist keine Zeit
für Schnellschüsse. Wir müssen uns dringend Zeit neh-
men, um profund und genau darüber nachzudenken, ob
die europäischen Institutionen und die europäischen Re-
geln, aber auch – das sage ich ganz klar an dieser Stelle –
die Gesichter, die dieses Europa bisher vertreten haben,
geeignet sind, Europa in das nächste Jahrzehnt zu führen,
und dafür sorgen, dass die Fliehkräfte, die Sie artikuliert
haben, nicht entstehen und Europa zusammenbleibt. Da-
mit müssen wir sehr kritisch umgehen.

Eine Frage ist allerdings am heutigen Vormittag kaum
gestellt worden; diese müssen wir uns alle stellen. Die
Abstimmung in Großbritannien ist nur vordergründig
eine Abstimmung gegen Europa gewesen. Es ging viel
tiefer. Es ist eine Abstimmung gegen das etablierte poli-
tische System.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE] Es ist eine Abstimmung gegen das 21. Jahrhundert. Es ist ein Versuch, die Vergangenheit und den Milchmann zurückzubekommen. Leider ist das ein Phänomen, das wir nicht nur in Großbritannien haben, sondern das haben wir mittlerweile in ganz vielen Staaten, leider auch in der Bundesrepublik Deutschland. Wir als Vertreterinnen und Vertreter dieses etablierten politischen Systems müssen uns selbst ganz dringend fragen, bevor wir mit dem Finger auf Großbritannien zeigen, bevor wir mit dem Finger auf Brüssel zeigen, was wir anders machen können, um das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen, die uns momentan von der Fahne gehen. Wenn dieses Referendum dazu dient, dass wir diesen Prozess auch hier im Deutschen Bundestag einleiten und uns selbst infrage stellen, dann ist es tatsächlich so, wie Gerda Hasselfeldt gesagt hat: Dann ist diese Krise auch eine Chance. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1818102500

Ich schließe die Aussprache.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit dem gestrigen
Spieltag der Fußballeuropameisterschaft wissen viel-
leicht auch die Briten noch besser, dass manchmal auch
große, selbstbewusste Länder scheitern können und
durch kleine, ehrgeizige Teilnehmer verdrängt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages für Mittwoch nächster Woche ein.

Bis dahin und darüber hinaus begleiten unsere gu-
ten Wünsche die deutsche Fußballnationalmannschaft;
denn – das hat auch diese Debatte bestätigt – uns alle ver-
bindet die Überzeugung: Wo immer es um Europa geht,
sollte Deutschland bis zum Schluss dabei sein.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich schließe die heutige Sitzung.