Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sieherzlich zu unserer Plenarsitzung . Bevor wir in die Ta-gesordnung eintreten, möchte ich der Kollegin PetraErnstberger zum 60 . Geburtstag gratulieren, den sie indieser Woche begangen hat, und dazu alle guten Wün-sche des Hauses übermitteln .Wir müssen auch noch zwei Wahlen durchführen . Zu-nächst sind Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77Absatz 2 des Grundgesetzes, also des Vermittlungs-ausschusses, zu wählen . Die Fraktion Die Linke schlägtvor, den Kollegen Jörn Wunderlich für den Kollegen Dietmar Bartsch als ordentliches Mitglied und den Kol-legen Bartsch anstelle des Kollegen Wunderlich als neu-es stellvertretendes Mitglied zu berufen – ein gewaltigesManöver, das aber nur stattfinden kann, wenn der Deut-sche Bundestag dieser Rochade zustimmt . – Es sieht aberganz so aus, als wären wir zu diesem frühen Zeitpunkt zusolch großzügigen Beschlüssen in der Lage .Darüber hinaus soll die Kollegin Sahra Wagenknechtals Nachfolgerin des Kollegen André Hahn als neuesstellvertretendes Mitglied des Gremiums berufen wer-den . Stimmen Sie auch dem zu? – Das ist der Fall . Da-mit sind die Kollegen Wunderlich und Bartsch sowie dieKollegin Wagenknecht als Mitglieder des Vermittlungs-ausschusses in den genannten Funktionen gewählt .Die SPD-Fraktion schlägt vor, als Vertreter der Bundes-republik Deutschland zur Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates die Kollegin Gabriela Heinrichfür den Kollegen Josip Juratovic als ordentliches Mitgliedund diesen, also den Kollegen Josip Juratovic, als Nach-folger der Kollegin Heinrich als stellvertretendes Mit-glied zu benennen . Das ist ein ähnlich kühnes Manöver,das hoffentlich auf ähnlich hohe Zustimmung stößt . – Dassieht ganz so aus . Damit sind die beiden mit getauschtenÄmtern für dieses Gremium benannt .Schließlich teile ich Ihnen mit, dass der Ältestenratsich in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, inder nächsten Sitzungswoche, die ja unsere Haushaltswo-che ist, wie üblich keine Befragung der Bundesregierung,keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stundendurchzuführen . Als Präsenztage sind die Tage von Mon-tag, dem 23 . November, bis Freitag, dem 27 . November,festgelegt worden . – Ich darf auch hier allgemeines Ein-vernehmen feststellen . Dann können wir so verfahren .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Stärkung der pfle-gerischen Versorgung und zur Änderungweiterer Vorschriften
Drucksachen 18/5926, 18/6182, 18/6410Nr. 2Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit
Drucksache 18/6688
Drucksache 18/6689b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine Zimmermann , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKEBürgerinnen- und Bürgerversicherung inder Pflege – Solidarische Pflegeversiche-rung einführen– zu dem Antrag der Abgeordneten ElisabethScharfenberg, Katja Dörner, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGute Pflege braucht sichere und zukunfts-feste RahmenbedingungenDrucksachen 18/5110, 18/6066, 18/6688
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Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister Hermann Gröhe .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Heute vor genau neun Jahren, am 13 . November 2006,tagte das erste Mal der erste wissenschaftliche Beiratzur Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Ein Jahrzehnt Diskussion, Ringen, Rechnen in Bezug auf denneuen Pflegebedürftigkeitsbegriff: Jetzt kommt er!
Mit der Beschlussfassung über das Pflegestärkungsge-setz II sorgen wir dafür, dass die individuelle Pflegebe-dürftigkeit besser erfasst wird . Nicht nur körperliche Be-einträchtigungen werden zukünftig berücksichtigt . Nein,die gesamte Lebenssituation eines Menschen – seinegeistige und seine psychische Situation – wird zukünftigberücksichtigt . Vor allen Dingen wird nicht nur auf De-fizite geschaut, sondern auch darauf, welche Fähigkeiten gestärkt werden können, welcher Unterstützungsbedarfein möglichst selbstbestimmtes Leben und Teilhabe si-chern kann . Dies ist vor allen Dingen für die wachsen-de Zahl der demenziell erkrankten Menschen – das sindheute 1,6 Millionen – eine gute Nachricht . Sie erhaltenendlich einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistun-gen der Pflegeversicherung.
Das ist ein Meilenstein für eine bessere Versorgung .Dass es gerade um eine Besserstellung für die demenzi-ell Erkrankten geht, sehen Sie auch an den Regelungenfür die automatische Überleitung, mit der wir erstens da-für sorgen, dass viele mehr Leistungen bekommen, aberniemand schlechtergestellt wird . Menschen, die heute alsdemenziell Erkrankte beispielsweise in der Pflegestufe II sind, werden mit dem Pflegegrad 4 gleichsam zwei Punk-te Verbesserung erfahren . Es geht um mehr Hilfe geradefür die demenziell Erkrankten . In 25 Jahren werden es1 Million zusätzlich – also 2,6 Millionen – sein .Doch nicht allein die Erfassung der Pflegebedürftig-keit wird individueller, sondern die Pflege selbst wird konsequent auf Teilhabe und Stärkung der Selbstständig-keit ausgerichtet . Dazu gehört beispielsweise, dass diePflegeunterstützung früher beginnt. Bereits am Anfang der Pflegebedürftigkeit wird zukünftig über den Pflege-grad 1 erste Unterstützung beispielsweise bei der Schaf-fung von Barrierefreiheit in der Wohnung, beim Umbaudes Badezimmers oder bei anderem gewährt .Noch etwas ist mir ganz wichtig: Wir stärken – dieshat die Erprobung des neuen Begutachtungsverfahrensklar gezeigt – den Grundsatz „Reha vor Pflege“. Der ist eben noch nicht in den Köpfen . „Ambulant vor statio-när“, das ist in den Köpfen, weil jeder gerne möglichst lange in den eigenen vier Wänden lebt . Aber Reha ist fürviele noch die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit,bei der es darum geht, morgen wieder ins Büro gehenzu können . Dass auch im hohen Alter Rehabilitation einMehr an Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Teil-habe ermöglichen kann, müssen wir noch viel stärkernutzen . Deswegen ist dies heute ein großer Schritt zurUmsetzung des Grundsatzes „Reha vor Pflege“.
Ich sprach davon, dass wir den Wunsch der Menschen,möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben,den wir schon seit dem 1 . Januar dieses Jahres mit we-sentlichen Leistungsverbesserungen unterstützen, nochstärker gewichten werden . Dazu gehört auch der Blickauf die enorme Leistung der Angehörigen der Pflegebe-dürftigen . Deswegen werden wir beispielsweise – na-türlich nur, wenn der Pflegebedürftige zustimmt – An-gehörige erstmals mit einem eigenen Beratungsanspruchausstatten und die Arbeit von Angehörigen in der Pflege bei deren Rente in Zukunft besser absichern . Auch diesist eine klare Anerkennung der enormen solidarischenPflegeleistungen in unseren Familien.
„Reha vor Pflege“ und „ambulant vor stationär“, das bedeutet ein Mehr an Lebensqualität . Es sichert aberauch die nachhaltige Finanzierbarkeit des Pflegesystems. Das sage ich angesichts so mancher Bemerkungen, wirnähmen zu viel Geld in die Hand .Schließlich stärken wir die Solidarität in der Pflege. Indem der pflegebedingte Eigenanteil zukünftig gleich-bleibend sein wird, nehmen wir den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen die Angst, dass durch einen hö-heren Eigenanteil bei einer im Rahmen einer Neubewer-tung erfolgten Höherstufung die eigene materielle Situa-tion verschlechtert wird . Das ist wichtig, weil dann auchfairer abgebildet wird, wie hoch der Pflegebedarf, zum Beispiel in einer Pflegeeinrichtung, ist. Es hat ja Einfluss auf die Personalbemessung und anderes mehr, wenn dienotwendige, realistische Bewertung des Pflegebedarfs nicht angemessen abgebildet wird . Insofern ist auch dieseine entscheidende Verbesserung . Und: Ja, wir werdendiese neue individuellere Pflege nur umsetzen können, wenn wir mehr Menschen dafür gewinnen, in der Pflege zu arbeiten . Deswegen brauchen wir attraktivere Arbeits-bedingungen in der Pflege.
Deswegen ist in unserem Gesetzentwurf klar festge-legt, dass die Pflegesätze – dabei geht es auch um die Personalstrukturen, den Personalschlüssel – bis zum30 . September des nächsten Jahres neu zu verhandelnsind, damit 2017, wenn der Pflegestärkungsbegriff Reali-tät wird, auch angepasste Pflegesätze vorliegen.Deswegen brauchen wir ein wissenschaftlich erprob-tes und ausgewiesenes Personalbemessungsverfahrenund beauftragen die Selbstverwaltung, ein solches zuentwickeln .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Deswegen treibt Kollege Karl-Josef Laumann die Ent-bürokratisierung in der Pflege voran. Deswegen haben wir übrigens im Gesetz während der parlamentarischenBeratungen klargestellt, dass Abbau von Bürokratie undmehr Zeit für die Pflege von den Kostenträgern nicht zum Personalabbau missbraucht werden dürfen . Es gehtum mehr Zeit für die Pflegebedürftigen und um weniger Zeit fürs Papier .
Schließlich werden wir – Kollegin Schwesig und ichgemeinsam – mit einem Pflegeberufsgesetz die Moder-nisierung der Berufe in der Alten-, Kranken- und Kin-derkrankenpflege vorantreiben. Die gute Nachricht ist: Noch nie haben in unserem Land so viele Menschen eineAusbildung in einem Pflegeberuf begonnen wie heute.
Wenn ich mit diesen Menschen spreche, dann höre ich,dass sie sagen: Ja, die Arbeit ist hart, aber sie machtFreude. – Neulich hat mir ein junger Pfleger gesagt: Eine Maschine kann nicht Danke sagen . – Sie wollen für an-dere Menschen da sein . Deswegen fühlen wir uns gutenArbeitsbedingungen in der Pflege verpflichtet. Heute bringen wir eine große Reform auf den Weg, beschließeneine Stärkung der Pflege, die für 2,7 Millionen Pflegebe-dürftige in diesem Land gut sein wird, für ihre Angehöri-gen und für die Pflegekräfte.Ich bitte um Zustimmung .
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Pia
Zimmermann das Wort .
Herzlichen Dank . – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir haben unsunsere Entscheidung nicht leicht gemacht, zumal solchein Gesetz schon lange gefordert wird – auch von uns .Das möchte ich insbesondere all denen sagen, die sichwundern, dass wir ein Gesetz zur Reform des Pflegebe-dürftigkeitsbegriffes ablehnen . Ich selber habe viele Jah-re in der Pflege gearbeitet und weiß, was für eine gute, umfängliche Pflege nötig ist. Sie haben hier zwar einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine ganzheitliche Sicht-weise auf die Menschen beinhaltet: auf ihre körperlichen,geistigen und sozialen Fähigkeiten . Es geht um ein Ge-setz, durch das die ungleiche Behandlung von Menschenmit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen ab-gestellt werden soll. Aber es ist ein janusköpfiges Gesetz. Es verbessert und verschlechtert zugleich, weil Sie, HerrMinister Gröhe, nicht bereit sind, die Grunddefizite der Pflegeversicherung, nämlich die Finanzierung und das Teilleistungssystem, zu verändern .
Die Reform geht auf Kosten von Menschen in den un-teren Pflegegraden und schränkt deren Wunschfreiheit – wo, wie und von wem sie gepflegt werden wollen – wei-ter ein . Herr Minister Gröhe, da steigen im zukünftigenPflegegrad 2 die Leistungen für die ambulante Pflege um 221 Euro. In der stationären Pflege sinken sie zugleich um 300 Euro . Das sind 3 600 Euro mehr, die pro Jahraufgebracht werden müssen, und das ist ungerecht .
Eine alleinlebende ältere Frau mit Pflegegrad 2, die ins Pflegeheim möchte, weil sie Kontakt zu anderen Menschen haben möchte, weil sie die Einsamkeit belas-tend findet und weil sie immer dann Hilfe haben möchte, wenn sie Hilfe braucht, muss nicht nur 2 065 Euro für ei-nen Platz im Pflegeheim aufbringen, sondern auch noch monatliche Investitionskosten in Höhe von 400 Euro .Die Pflegeversicherung übernimmt von diesen Kosten zukünftig nur noch 770 Euro . Ich frage Sie ernsthaft: Wobleibt die Wahlfreiheit dieser Frau, wenn sie 1 700 Euronetto Rente haben muss, um nicht in die Sozialhilfe zurutschen? Das ist unerhört, meine Damen und Herren .
Wie viele Menschen haben eine solche Rente? Menschenmit Pflegebedarf werden so in Armut getrieben. Da sagen wir Linke ganz klar Nein .
Darüber hinaus fehlt es in dem Gesetzentwurf anMaßnahmen, die die Bedingungen für die Pflege im All-tag so gestalten, dass teilnahmeorientierte Pflege, wie sie im neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff angelegt ist, mög-lich wird . Konkret: Ein inkontinenter Mann schafft es mitAssistenz zur Toilette . Beim Hinsetzen und Aufstehen,beim An- und Auskleiden braucht er Hilfe von 15 Mi-nuten . Im Rahmen des neuen Begutachtungsverfahrenswird ein Unterstützungsbedarf festgestellt; das Ziel istSelbstständigkeit . Das ist ein weiterer Fortschritt . Aberan dieser Stelle hört der Gesetzentwurf auf; denn ob dieassistierende Person überhaupt verfügbar ist, darüberentscheiden Sie erst 2020 – vielleicht!
Meine Damen und Herren, wissen wir hier im Haus,wie es ist, eigentlich noch selbstständig zur Toilette ge-hen zu können und dennoch eine Windelhose tragen zumüssen, weil die Zeit fehlt? Die Zeit wird weiter fehlen,weil es keine zusätzlichen Pflegekräfte gibt; denn sie sind in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgesehen . Esist bekannt, dass wir solche Situationen schon viel zu ofthaben . Mit diesem Gesetzentwurf suggerieren Sie, dasssich daran etwas ändern wird . Sie erwecken Erwartun-gen, die nicht erfüllt werden können . Das ist unverant-wortlich .
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz ist letztendlich eine Begutachtungs- und bestenfalls eine Bedürftig-keitsreform – kein großer Wurf, kein Wechsel hin zurinklusiven und teilhabenden Pflege. Wir Linke sagen: Die konkrete Lebenssituation aller an der Pflege betei-ligten Menschen – der Menschen mit Pflegebedarf, der Angehörigen, die pflegen, auch der Menschen, die pro-Bundesminister Hermann Gröhe
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fessionell pflegen – muss sich verbessern. Menschen mit unterschiedlichen Pflegebedarfen dürfen nicht gegenein-ander ausgespielt werden . Genau das machen Sie, meineDamen und Herren, und darum stimmen wir mit Nein .Herzlichen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Karl
Lauterbach das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal: Hinter uns liegen zwei Wochen, die für dieMenschen in Deutschland, die krank sind, pflegebedürf-tig sind oder es in Zukunft werden, außergewöhnlich gutwaren . Wir haben ein sehr gutes Hospiz- und Palliativ-gesetz beschlossen – aus meiner Sicht ein Durchbruch .Wir haben eine Änderung des Krankenhausfinanzie-rungsgesetzes beschlossen. Damit stärken wir die Pflege, erhöhen die Qualität und schaffen eine größere Gerech-tigkeit der Vergütung – die größte Krankenhausreform,die wir seit Jahren gemacht haben . Heute machen wir un-strittigerweise die größte Reform der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen . Das alles haben wir in zwei Wochenerreicht .
Ich möchte mich ausdrücklich bei allen im Parlament fürdie Zusammenarbeit bedanken . Das waren Wochen, wieich selbst – ich bin lange im Geschäft – sie in dieser Formnoch nicht erlebt habe . Das betrifft Millionen von Men-schen, nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft .Es ist richtig, dass diese Gesetze allesamt nicht perfektsind . Es gibt kein Gesetz, das wir hier nicht verbessernkönnten . Aber man darf das Erreichte nicht kleinreden,indem man die kleinen Dinge, die verbesserungswürdigsind, in den Vordergrund stellt .Ich fange mal damit an: Wir geben unmittelbar insge-samt etwa 20 Prozent mehr für die Pflege aus. Etwa 3 bis 4 Prozent legen wir zusätzlich zurück, um die Pflege be-zahlbar zu halten . Das sind großartige Leistungsauswei-tungen .
Es ist richtig, dass wir das Geld etwas anders vertei-len werden . Es ist zum Beispiel richtig, was Kollegin Zimmermann beschrieben hat: Für die weniger Pflege-bedürftigen gibt es in Teilen eine leichte Mehrbelastung .Aber für die große Zahl der stärker Pflegebedürftigen gibt es starke Entlastungen . Wir haben jetzt ein System,in dem die Angehörigen oft Angst haben, dass ihre zupflegenden Angehörigen höhergestuft werden, obwohl sie das medizinisch eigentlich benötigten, weil sie dannmehr zuzahlen müssten . Das kann doch nicht gerechtsein . Das ist aus meiner Sicht medizinisch falsch, weildie Menschen gegebenenfalls nicht die Pflege bekom-men, die sie brauchen . Es ist auch unethisch, weil wirAngehörige zwingen, etwas gegen das Interesse ihrerVerwandten zu unternehmen, indem sie dafür sorgen,dass in der Pflege nicht das getan wird, was eigentlich nötig ist, weil sie Angst haben, mehr zuzahlen zu müs-sen . Diese Ängste haben wir ausgeräumt . Das dürfen wirdoch nicht kleinreden . Darauf können wir stolz sein .
Auch die Entbürokratisierung ist bedeutsam . Die Ent-bürokratisierung funktioniert wie folgt: Wir messen jetzt,was der Einzelne in den einzelnen Bereichen noch kann,also nicht das, was ihm fehlt, sondern das, was er kann .Es wird zum Beispiel gefragt: Wie mobil ist er noch? Wiegut kann er denken? Wie dement ist er? Wie sehr ist erpsychisch belastet? Es werden Punkte vergeben . Je mehrPunkte jemand hat, desto selbstständiger ist er noch . DiePunkte spiegeln das wider, was der Mensch noch kann .Danach richtet sich die Pflegebedürftigkeit. Die Pflegen-den selbst entscheiden dann, wie man dieser Bedürftig-keit – ohne Minutenpflege – am besten begegnet. Das ist doch eine Umstellung des gesamten Systems: Weg vonder Dokumentation der Defizite, hin zu der Beseitigung derselbigen, indem man sich darauf konzentriert, was derEinzelne noch kann .Das ist eine große Reform . Daran haben wir – das istrichtig – viele Jahre gearbeitet . Das war keine Leichtig-keit – das musste vorbereitet werden –; aber das ist einQuantensprung in der Pflegeversicherung, eine Umkehr der Anreize, in meinen Augen ein Durchbruch .
Zu den Betreuungsleistungen . Die Betreuungsleistun-gen sind immer geringgeschätzt worden – zu Unrecht .Was nützt mir eine gute Pflege, wenn mich den ganzen Tag niemand anspricht? Ich vereinsame in der Pflege. Wenn ich keine Ansprache habe, verfallen die Kompeten-zen, die ich noch habe . Das Leben ist nicht mehr schön . –Wir dürfen nicht vergessen, dass in Pflegeeinrichtungen sehr viele Menschen leben, die keine Angehörigen mehrhaben oder Angehörige, die nicht mehr kommen können .Für diese Menschen brauchen wir Betreuung .Wir führen jetzt einen Rechtsanspruch auf individu-elle Betreuung ein . Einen Rechtsanspruch! Es ist falsch,wenn man sagt, dass die Kräfte dafür nicht da sind . DieKräfte sind da . Dafür haben wir schon im Rahmen derersten Stufe der Pflegereform gesorgt. Wir haben die Zahl der Betreuungskräfte – ich bringe das in Erinne-rung – um 25 000 erhöht; das ist keine Kleinigkeit . Undjetzt schaffen wir den Rechtsanspruch .
Natürlich ist alles verbesserungswürdig; aber das sindtrotzdem große Schritte nach vorne . Daher muss manhier, glaube ich, in den Vordergrund stellen: Das ist einegute Reform .Auf die Umstellung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die bessere Zuteilung der Mittel und die damit verbun-dene bessere Pflege bin ich schon eingegangen. Die Ent-bürokratisierung haben wir auch schon angesprochen .Pia Zimmermann
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Darauf, dass wir die Qualität stärker in den Vordergrundstellen, kann ich nur noch kurz eingehen . Dazu möchteich nur eines sagen: Wir machen auch vor der Personal-bemessung nicht halt . Wir regeln mit diesem Gesetz klippund klar, dass die Personalbemessung in den Pflegehei-men in den nächsten fünf Jahren angepasst werden soll .
Jetzt wird gesagt: Wieso machen Sie das nicht jetzt? Daskönnen wir jetzt nicht machen . Wir führen jetzt das neueSystem ein. Jetzt werden die neuen Pflegegrade ja erst eingeführt. Welche Personalausstattung für welchen Pfle-gegrad erforderlich ist, können wir nicht prüfen, bevordie Pflegegrade eingeführt wurden. Von daher ist das aus meiner Sicht eine gute Planung . Wir werden langfristigauch zu einer gerechteren Bezahlung in der Pflege kom-men; das ist dringend notwendig .
Elisabeth Scharfenberg ist die nächste Rednerin fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Mi-nister Gröhe! Herr Laumann! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über mehrereWahlperioden – das wurde schon gesagt – hat sich dashingezogen . Wir haben, ehrlich gesagt, überhaupt nichtmehr daran geglaubt, dass er noch kommt, der neue Pfle-gebegriff .
Sie bohren mit der Einführung richtig dicke Bretter .
Dass Sie das jetzt anpacken – das meine ich ehrlich –, daserkennen wir durchaus an .
– Der kommt noch . – Sie nehmen dafür auch viel Geldin die Hand . Menschen mit Demenz werden endlich denMenschen mit körperlichen Einschränkungen gleichge-stellt . Das alles begrüßen wir ausdrücklich . Aber
es ist nicht unsere Aufgabe, Sie zu loben .
Dafür haben Sie selbst genug Rednerinnen und Redner .Das müssen Sie schon selbst tun . Als Opposition ist esunsere Aufgabe, auf die Schwachstellen, die dieser Ge-setzentwurf nun einmal hat, aufmerksam zu machen .
Sie stellen uns mit dem PSG II die eierlegende Woll-milchsau vor. Aber der Entwurf des neuen Pflegegesetzes ist nur auf dem Papier ganz passabel . Im Gesetzentwurfsind viele Worthülsen enthalten . Damit kann man diesesGesetz überhaupt nicht umsetzen .Das PSG II wird seine Defizite in den Lebenswelten der Betroffenen zeigen. Gerade der neue Pflegebegriff hat ganz hohe Erwartungen geweckt . Ich befürchte, dasswir nach der Umsetzung sehr direkt mit den SchwächenIhres PSG II konfrontiert werden. Mit dem neuen Pflege-bedürftigkeitsbegriff sollen die Menschen in ihrer Selbst-ständigkeit gestärkt werden . 500 000 Anspruchsberech-tigte mehr – das ist eine echte Herausforderung .Teilhabe ist ein ganz zentraler Punkt des neuen Pfle-gebegriffs . Teilhabe bedeutet, Menschen dabei zu un-terstützen, dass sie selbst etwas tun können . Das kostetmehr Zeit, als sie einfach nur zu versorgen . Das bedeutet:geduldig anzuleiten und den Rhythmus der Menschenauszuhalten, anstatt es eben einmal schnell selbst zuerledigen . Gerade im Bereich Demenz geht es darum,500 000 Menschen mehr zu unterstützen . Das kostet vielmehr Zeit, und mehr Zeit bedeutet auch mehr Personal,das aber fehlt schon heute .
Wer soll denn bitte den neuen Pflegebegriff umset-zen? Sie schreiben zwar in Ihrem Gesetzentwurf, dass bis2020 ein Verfahren zur Personalbemessung entwickeltund erprobt werden soll .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch viel zuspät!
Es sind schon so viele Personalbemessungsverfahren ent-wickelt und erprobt, aber nie umgesetzt worden . DiesesSchicksal droht auch dem Personalbemessungsverfahrenim PSG II .
Von einer verbindlichen Umsetzung ist bei Ihnen auchgar nicht die Rede .Wir brauchen jetzt mehr Personal . Es muss zur Ein-führung des neuen Pflegebegriffs 2017 auch bereit sein, eine neue Art Pflege zu leisten, eine Pflege, die dem neu-en Pflegebegriff auch gerecht wird. Wir verlangen damit dem Pflegepersonal sehr viel ab. Dr. Karl Lauterbach
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Pflegekräfte arbeiten schon heute am Limit, sie gehen oft über ihre eigenen Kräfte und Grenzen hinaus . Dasfrustriert die Pflegekräfte, und zwar zu Recht. Sie haben ihren eigenen Anspruch an die Qualität der Pflegearbeit, ihr eigenes Berufsethos . Darum müssen wir dafür sorgen,dass die verantwortungsvollen Pflegerinnen und Pfleger nicht an dem Vakuum des neuen Pflegebegriffs und an der Unmöglichkeit der Umsetzung dieses Begriffs schei-tern und verzweifeln werden .
Herr Lauterbach, Sie haben davon gesprochen, dassdie Minutenpflege abgeschafft wird. Das ist doch der totale Quatsch! Ganz ehrlich: Ich finde das den Pflege-kräften gegenüber wirklich unverschämt . Der Druck inder Pflege – das ist doch das, was die Minutenpflege aus-macht – wird bestehen bleiben . Es wird sich nichts daranändern .
Es herrscht eine ganz große Unsicherheit . Der neuePflegebegriff ist definiert und genau vermessen. Wir kön-nen ausrechnen, welche Fähigkeiten in welchem Maßvorhanden bzw . nicht vorhanden sein müssen, um einenbestimmten Pflegegrad zu erreichen. Aber es ist nicht ge-nauso klar definiert, wie die Pflege aussehen soll, eine Pflege, die dem Anspruch auf mehr Teilhabe gerecht wird. Sicher: Es gibt eine aktivierende Pflege, aber im PSG II ist nicht die Rede davon, dass sie flächendeckend eingeführt werden soll .Der Anspruch auf mehr Teilhabe ist das Kernstück desneuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Diesem Anspruch muss man dann aber auch gerecht werden . Nur auf demPapier bringt er den Menschen überhaupt nichts . Es istauch merkwürdig, dass Sie einen Teilhabeanspruch ein-führen, ohne die Schnittstellen zum SGB IX auch nur zuerwähnen .
Das Bundesteilhabegesetz steht vor der Tür . Es wäredoch absolut sinnvoll gewesen, die Konkurrenz zwischenden Sozialgesetzbüchern IX, XI und XII zumindest zuthematisieren .
Sie haben den Beitrag zur Pflegeversicherung erhöht. Es fließt viel Geld in die Pflegeversicherung; es wird von 7 Milliarden Euro jährlich gesprochen . Doch die Finan-zierung der Pflegeversicherung ist nur bis 2022 gesichert. Das ist alles andere als nachhaltig . Aber, liebe Kollegin-nen und Kollegen, lieber Minister Gröhe, eine Reform,die so viele Menschen betrifft, braucht doch ein ganzstarkes Fundament .
Das Einzige, was Ihnen zur Finanzierung einfällt,ist der Pflegevorsorgefonds. Er schluckt jährlich rund 1,4 Milliarden Euro an Beitragsgeldern . Das sind Gel-der, die woanders besser aufgehoben wären . Durch denFonds wird der Beitrag zur Pflegeversicherung in der Zu-kunft gerade einmal um 0,1 Prozentpunkte gesenkt . Dasist keine spürbare Entlastung . Wenn der Fonds in 20 Jah-ren leer ist, dann muss der Beitrag eben wieder steigen .Sie wollen den ambulanten Bereich aufwerten unddazu unter anderem auch etwas für pflegende Angehörige tun . Aber das tun Sie, ehrlich gesagt, ziemlich halbher-zig: eine Absicherung in der Arbeitslosenversicherung,ein bisschen Rente mehr für manche. Pflegende Ange-hörige brauchen unterstützende Angebote für die Pflege-bedürftigen, um die sie sich kümmern, und sie brauchenauch ganz dringend unterstützende Angebote für sichselbst . Vor allem aber brauchen sie, die Angehörigen unddie Pflegebedürftigen gleichermaßen, eine gute Beratung und eine gute Information .Sie machen im PSG II einige Vorschläge zur Bera-tung, die aber teilweise sogar auf eine Verschlechterunghinauslaufen, zum Beispiel beim Beratungsanspruch . Ergreift zukünftig erst beim Vorliegen eines Pflegegrades. Das ist, ehrlich gesagt, viel zu spät .
Wichtig wäre jetzt ein unabhängiges, individuellesFallmanagement. Jeder Pflegebedürftige müsste einen Anspruch darauf haben . Inzwischen gibt es so vieleverschiedene Angebote und Möglichkeiten für Pflege-bedürftige und Angehörige, Angebote, die auf die unter-schiedlichsten Arten und Weisen kombinierbar sind . Dablickt doch kein Mensch mehr durch .
Der Fallmanager sollte bei der Kommune angesiedeltsein; denn nur dort ist bekannt, welche Angebote konkretund regional vor Ort vorhanden sind .
Ich wünsche dem neuen Pflegebegriff, dass er gelingt. Vor allem wünsche ich das natürlich den Pflegebedürf-tigen, den Angehörigen, den ihnen nahestehenden Men-schen, und insbesondere wünsche ich das den Pflegekräf-ten . Aber solange so viele Dinge noch nicht geregelt sind,wird der neue Pflegebegriff kaum Wirkung entfalten.
Ich appelliere an Sie: Kümmern Sie sich um diePersonalfrage jetzt! Sorgen Sie für eine nachhaltige Fi-nanzierung! Regeln Sie auch die Schnittstellen zur Ein-gliederungshilfe! Machen Sie die unterstützenden undentlastenden Angebote den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen durch ein unabhängiges, individuelles Fall-management zugänglich! Wenn Sie diese Aufgaben nichterledigen, dann wird sich an der Lebensrealität der be-troffenen Menschen – ich meine damit die Pflegebedürf-Elisabeth Scharfenberg
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tigen, deren Angehörige und insbesondere die belastetenPflegekräfte – nichts ändern.Vielen Dank .
So, ich hoffe, dass alle folgenden Redner der Koalition
die dringende Anregung von Frau Scharfenberg beach-
ten, die Abteilung „Lob und Preis der Bundesregierung“
im Manuskript hinreichend zu berücksichtigen .
Das können wir jetzt bei der Kollegin Michalk als Erstes
testen, die für die CDU/CSU-Fraktion das Wort erhält .
Vielen Dank . – Herr Präsident! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! In der Tat möchte ich wirklich da-
mit beginnen . Ich war dabei, als wir vor mehr als 20 Jah-
ren über die Pflegeversicherung als letzte notwendige
Säule in unserer sozialen Absicherung diskutiert und sie
nach einer intensiven Diskussion eingeführt haben . Wir
haben eine Pflegeversicherung, wir haben gut ausgebil-
dete Fachkräfte, immer mehr Menschen engagieren sich
in der ambulanten Pflege für ihre Lieben. Dass wir ana-
lysieren, was gut läuft und nicht gut läuft, das zeichnet
dieses Parlament aus . Dass wir heute das größte Reform-
paket in dieser wichtigen Versorgungssäule vorlegen, ist
sozusagen die Krönung .
Deshalb will ich in der Tat Herrn Bundesminister
Gröhe, seinen Staatssekretärinnen, Herrn Laumann und
dem ganzen Team im Haus herzlich danken .
– Ja, mit Beifall sollte man hier nicht sparen . – Die Oppo-
sition hat es ja schon bekräftigt: Niemand hat geglaubt,
dass wir es schaffen . Wir haben es geschafft .
Wir Menschen können durch einen Unfall, durch
Krankheit oder einfach nur durch das Alter pflegebedürf-
tig werden, jeder von uns . Alter heißt aber nicht automa-
tisch: pflegebedürftig. Deshalb gibt es eine Verbindung
zu all den guten Gedanken, die wir beim Präventionsge-
setz ausgetauscht haben . Aktives Altern hilft vielleicht,
Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern. Die gute Vorlage
aus dem Haus haben wir im parlamentarischen Bera-
tungsprozess an vielen Stellen nachgebessert . Das war
ein Prozess, der im guten Einvernehmen abgelaufen ist .
Liebe Kollegin Zimmermann, Sie haben uns hier vor-
gerechnet, was die Zuzahlung für jemanden mit dem
künftigen Pflegegrad 2 bedeutet, der sich entscheidet, in
ein Pflegeheim zu gehen. Dabei haben Sie aber unterlas-
sen, darauf hinzuweisen, dass wir im Rahmen des parla-
mentarischen Beratungsprozesses festgelegt haben, dass
der jetzt übliche Abschlag von 20 Prozent beim Zuschuss
wegfällt. Man erhält den vollen Pflegesatz. Insofern gibt
es eine Wahlfreiheit zwischen ambulant oder stationär .
Wir haben für pflegende Angehörige – das wurde
schon gesagt; aber man kann es nicht oft genug sagen –
weitere Verbesserungen in den Gesetzentwurf geschrie-
ben. Wenn man jemanden, der den Pflegegrad 5 hat, zu
Hause voll pflegt, dann macht die Anrechnung in der
Rentenversicherung einen ganzen Punkt aus . Das ist eine
Gleichstellung mit der außerhäuslichen Arbeit und eine
große Stärkung der sozialen Absicherung pflegender An-
gehöriger .
Frau Michalk, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Zimmermann zu?
Ja, gerne . – Bitte schön .
Vielen Dank, Frau Michalk . – Wir haben von zwei un-
terschiedlichen Dingen geredet . Sie haben von dem Fall
geredet, dass jemand in ein Pflegeheim gehen möchte,
begutachtet wird und man bei der Begutachtung zu dem
Ergebnis kommt, dass diese Person nicht in ein Pflege-
heim gehen sollte, die Person es aber doch tut .
Ja .
Dann muss man 20 Prozent dieser Kosten zusätzlich
tragen . Davon habe ich aber gar nicht geredet .
Es ist zwar gut, dass Sie diese Regelung abgeschafft
haben; das ist anzuerkennen .
Aber das hat nichts damit zu tun, dass eine Frau, wie ich
in diesem Zusammenhang erwähnt habe, eine Nettorente
von 1 700 Euro beziehen müsste, um überhaupt selbst-
ständig einen Pflegeheimplatz bezahlen zu können. Ich
wollte nur deutlich machen, dass Pflege auch nach Ihrem
Gesetzentwurf immer noch vom Geldbeutel abhängig ist .
Mehr wollte ich gar nicht sagen .
Liebe Kollegin Zimmermann, ich habe das schon rich-tig verstanden . Meine Antwort sollte Ihnen und auch derÖffentlichkeit zeigen, dass wir die Solidarität in der ge-samten Gruppe sehr wohl beachten und da für Verbesse-Elisabeth Scharfenberg
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rungen gesorgt haben . Was den Fakt betrifft, den Sie jetztnoch einmal skizziert haben, haben Gutachter untersucht,um welche Größenordnung es dabei geht . Sie wissen,dass wir über einen längeren Zeitraum Modellprojektedurchgeführt haben – es gab über 2 000 Begutachtun-gen im ambulanten und stationären Bereich –, in derenRahmen die Veränderungen und die Frage der Vor- undNachteile sehr genau analysiert wurden .
Es gibt dazu ein positives Gutachten . Das können Sienicht unter den Tisch fallen lassen .Außerdem ist wohl noch ein Gedanke wichtig: Unsergesamtes soziales Sicherungswesen ist vom Grundge-danken der Solidarität getragen . Wenn jetzt in dem einenoder anderen Fall – das hängt immer von der persönli-chen Konstellation ab – jemand, der den Pflegegrad 2 hat, vielleicht eine etwas höhere Zuzahlung zu leisten hatals nach dem bisherigen Begutachtungssystem, dann darfman nicht verkennen, dass die größere Anzahl derjeni-gen, die die Pflegegrade 3, 4 und 5 haben und in Zukunft im stationären Bereich versorgt werden, eine Entlastungerfährt . Durch den gleichen Zuzahlungsbetrag über allePflegegrade hinweg wird die Solidarität im System wei-ter gestärkt . Das war uns ein Herzensanliegen .
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Dynamisierungin diesem Gesetzentwurf eine Rolle spielt . Ich möchteauch darauf hinweisen, dass jeder, der heute begutachtetist, eine Pflegestufe bzw. einen Pflegegrad hat und Leis-tungen bezieht, Bestandsschutz bis an sein Lebensendegenießt . Jeder hat natürlich das Recht, sich neu begut-achten zu lassen . Allerdings sagen wir: In den Fällen, indenen der MDK, der die Begutachtung durchführt, eineWiederholungsbegutachtung befürwortet, sollte diese fürzwei Jahre ausgesetzt werden, damit genug Zeit ist, beider Antragstellung kein Stau entsteht und die Neubegut-achtungen in aller Ruhe erfolgen können . Wir haben jetztnoch ein Jahr und drei Monate Zeit für die Vorbereitung,um sicherzustellen, dass diese Verbesserungen zum 1 . Ja-nuar 2017 – nachdem wir ohne Hektik und nach intensi-ver Beratung über alles diskutiert haben – sowohl im am-bulanten als auch im stationären Bereich wirken können .Gerade in diesem Bereich können wir uns nämlich keineOberflächlichkeiten leisten.
Deshalb bin ich so dankbar, dass wir diesen Gesetzent-wurf gemeinsam in aller Ruhe beraten konnten .Ich habe eine Gepflogenheit: Wenn ich ein Thema be-arbeite, gebe ich mir immer ein Motto . Das ist so meineArbeitsphilosophie . – Bei dieser Gesetzesberatung habeich mir rückblickend auf das, was ich schon vor 20 Jah-ren gedacht habe, einen Spruch von Friedrich Schiller anmeinen Schreibtisch gehängt . Er hat folgenden wunder-baren Satz gesagt:Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben .Bewahret sie! Sie sinkt mit euch, mit euch wird siesich heben .Ich finde, wir haben mit dieser Gesetzesberatung und mit dieser großen Reform diesem Anspruch wirklich Ge-nüge getan .Ich freue mich, danke Ihnen für die Zusammenarbeitund bitte um Zustimmung .Danke schön .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nicht mehr selbstständig entscheiden zu kön-nen oder zum Pflegefall zu werden, das sind die größten Sorgen der Menschen, wenn sie an ihr Leben im Alterdenken . Laut einer Forsa-Umfrage haben acht von zehnMenschen diese Befürchtung .Mittlerweile ist der Wunsch „Bloß nicht zum Pflege-fall werden“ unter lebensälteren Menschen oft zu hören. Es ist ein Armutszeugnis, dass viele Menschen das Pfle-gesystem nicht oder kaum als wertvolle Hilfe ansehen,sondern auch als regelrechte Bedrohung wahrnehmen .Das muss sich ändern . Wir brauchen einen Richtungs-wechsel in der Pflege.
– Hören Sie mir einfach zu . Ich hoffe, Sie haben den Ent-schließungsantrag von uns gelesen . Der sagt etwas ganzanderes aus als das, was Sie wollen .Immer mehr Pflegebedürftige und ihre Familien müs-sen notwendige Pflegeentscheidungen aus finanziellen Gründen verschieben oder sogar verwerfen, da die Pfle-geversicherung von vornherein als Teilkaskoversiche-rung angelegt worden ist und nicht alle Kosten abdeckt .Die von den zu pflegenden Menschen zu leistenden Eigenanteile sind in den letzten Jahren gestiegen undwerden in der Zukunft weiter dramatisch ansteigen . Siezahlen jedoch nicht nur den Pflichtanteil des Pflegesat-zes. Hinzu kommen auch noch Verpflegungs- und Un-terkunftskosten. Diese finanziellen Belastungen treiben immer mehr Menschen in die Hilfe zur Pflege, nämlich in die Sozialhilfe, und das ist wirklich beschämend .
Das System der Pflegeversicherung ist zudem dadurch gekennzeichnet, dass seit Jahren rund ein Viertel der An-träge auf Gewährung von Pflegestufen abgelehnt wird. Die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich sind geprägt von niedrigen Löhnen, hohem Arbeitsdruck, Teilzeitbe-schäftigung und kurzfristiger Verfügbarkeit, und immeröfter müssen Pflegekräfte gegen ihr Berufsethos handeln. Maria Michalk
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Immer öfter entstehen gefährdende Pflegesituationen, und das können Sie doch wirklich nicht wollen .
Ich will Ihnen einmal einige Zahlen nennen: Auf100 zu Pflegende über 80 Jahre kommen in Schweden 33 Pflegekräfte, in Norwegen 22 Pflegekräfte und in Deutschland 11,2 Pflegekräfte. Daran sehen Sie doch schon, was in diesem System krank ist . Wir brauchenmehr gut ausgebildete Pflegekräfte.
Es ist höchste Zeit, mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf einen wirklichen Wandel zur guten Pflege für alle zu bewirken. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff al-lein, den Sie hier definieren, wird dies nicht verwirklicht. Nach dem Gesetzentwurf wollen Sie die Pflege stärken. Doch genau das wird damit nicht erreicht . Anders zu be-gutachten, heißt ja noch nicht, anders zu pflegen.
Ganz im Gegenteil: Der Pflegeaufwand wird wach-sen, wenn der zu pflegende Mensch mit all seinen Be-einträchtigungen und allen Ressourcen im Fokus stehensoll – nicht nur bei der Begutachtung, sondern auch imPflegealltag. Wie das nachher abgesichert wird, sagen Sie in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht deutlich .Die Leistungen zur ambulanten Pflege müssen verbes-sert werden. 71 Prozent werden zu Hause gepflegt. Dazu brauche ich mehr Geld und mehr Personal . Sie geben je-doch beides nicht . Sie wollen bis 2020 beraten, wie Per-sonalbemessung und Qualitätsstandards aussehen sollen .
Das Prinzip der Teilkaskoversicherung wird nicht an-getastet. Somit bleibt gute Pflege ein Luxusgut. Zudem ist zu befürchten, dass sich bei Neubegutachtungen ab2017 in den unteren Pflegegraden das Leistungsniveau verschlechtern wird . Die dringend notwendige Einfüh-rung der Personalbemessung wird verschoben .Deswegen: Stimmen Sie unserem Entschließungsan-trag zu! Stimmen Sie für die Pflegevollversicherung, eine jährliche Dynamisierung, eine bundesweit verbindlichePersonalbemessung und für die solidarische Pflegeversi-cherung! Denn gute Pflege ist eine Frage der Menschen-würde, und das geht uns alle an .Danke schön .
Das Wort erhält nun die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich möchte mit einem Dank beginnen, nicht nuran das Haus, sondern auch an die, die uns in den letztenneun Jahren bei der Entwicklung dieses Reformvorha-bens intensiv begleitet haben: die Wohlfahrtsverbände,die Gewerkschaften, aber auch die zwei Beiräte, die dieGrundlage für diesen Gesetzentwurf gelegt haben .
Ich freue mich sehr, dass wir heute diese Reform verab-schieden .Das, was ich zum Hospiz- und Palliativgesetz gesagthabe, nämlich dass sich manche Themen zu politischenAuseinandersetzungen und Kontroversen nicht eignen,wiederhole ich an dieser Stelle. Die Reform des Pfle-gebedürftigkeitsbegriffs, die in der Bevölkerung breitgetragen wird, die von allen gesellschaftlichen Kräftenunterstützt wird, sollten wir auch im Parlament breit un-terstützen . Und darum bitte ich Sie .
Es ist wichtig, immer wieder zu kommunizieren: Die-se Pflegereform nützt den Menschen. Es ist gut und rich-tig, dass wir diese heute auf den Weg bringen .Was machen wir heute? Wir haben mit dem PSG Idie Leistungen verbessert und bringen jetzt einen großenSystemwechsel auf den Weg . Denn wir gehen weg voneiner Mangelerhebung, die den Pflegebedarf in Minuten abgebildet hat, und hin zu einem teilhabeorientierten Be-griff . Das ist doch ein Systemwechsel, der allen zugute-kommt .Ja, der Pflegegrad 1 bedeutet einen neuen Anspruch für fast 500 000 Menschen .
500 000 Menschen werden mehr von der Pflegeleistung profitieren können. Das ist doch eine Entwicklung, der Sie nur zustimmen können .Frau Scharfenberg, bei aller Wertschätzung für dieRolle einer Oppositionspartei, aber wenn Sie sagen, dassdie Finanzierung nur bis 2022 gesichert sei:
Erklären Sie einmal, in welchem anderen Sozialversiche-rungssystem Sie sieben Jahre lang Sicherheit garantierenkönnen . Wo?
Ich würde mir auch gut überlegen, ob ich diese Botschaftverbreite; denn damit unterstellen Sie, dass Sie 2017überhaupt nichts ändern können. Wir wollen die Pflege-versicherung als Bürgerversicherung .
Sabine Zimmermann
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Sie sagen nun, dass Sie bis 2022 nichts ändern wollen .Das ist mir echt zu lang . Wir wollen die Bürgerversiche-rung in der Pflege, und zwar so schnell wie möglich.
Sie kritisieren, dass wir für die Pflegefachberufe nichts tun . Wir haben nachgeliefert und gesagt: In den nächstenfünf Jahren muss die Entwicklung und Erprobung derPersonalbemessung abgeschlossen sein .
Frau Mattheis .
Ich bin gerade so in Fahrt .
Ja, das merke ich . Es gibt den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage .
Stellen Sie sich vor, wir würden jetzt erklären: „Diese
Entwicklung und Erprobung müssen in anderthalb Jah-
ren über die Bühne gebracht sein.“ Was hätten Sie dann
gesagt? Sie würden uns vorwerfen: Das ist nicht ordent-
lich und sorgfältig genug .
Wir gehen mit unseren ganzen Bausteinen – der
nächste große Baustein ist die Ausbildungsreform – die
Verbesserung der Pflege an.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir immer einen Baustein
neben den anderen setzen und dass diese auch zusam-
menpassen .
Das damit gebaute Haus darf nicht zusammenfallen, son-
dern das muss fest stehen .
Von daher geht es nicht nur um die Leistungsverbesse-
rungen im PSG I . Jetzt geht es mit dem PSG II und mit all
dem, was wir als kritische Punkte aufgenommen haben,
um einen Systemwechsel . Wir haben gesagt: Macht die
Dokumentation schlanker und sorgt bitte für mehr Pfle-
ge . Ferner haben wir gesagt: Wir wollen die Beratung
verbessern, nicht nur für die Pflegebedürftigen, sondern
auch für die Angehörigen . Das muss klar sein .
In diesen kleinen Punkten, die den Systemwechsel her-
beiführen, liegt die Stärke dieses Gesetzes .
Frau Mattheis, jetzt sind Sie nicht mehr ganz so in
Fahrt . Kurz vor Ende Ihrer Redezeit könnten Sie, wenn
Sie mögen, eine Zwischenfrage zulassen .
Ich mag .
Na also . – Bitte schön, Frau Klein-Schmeink .
Ich bin gespannt .
Es ist schön, dass ich die Gelegenheit bekomme, eine
Frage zu stellen . – Frau Mattheis, Sie haben eben auf die
Zeithorizonte abgehoben . Sie haben auch darauf abge-
hoben, dass wir mit dem Pflegestärkungsgesetz zu Recht
neue Ansprüche schaffen . Aber ist es nicht so, dass man
für die Erfüllung dieses Anspruchs auch das dazugehö-
rige Personal und die Zeit bereitstellen muss, dass also
Anspruch auch auf Leistung treffen muss? Daher ist es
sehr merkwürdig, dass man die dazugehörige verbindli-
che Personalbemessung erst bis 2020 schaffen will .
Dazu habe ich die Frage, warum das im Bereich der
Pflege so lange dauern soll, während Sie für den Kran-
kenhausbereich, wo das Problem ganz ähnlich gelagert
ist, zwar auch nicht sofort eine Lösung haben, aber im-
merhin versprechen, hierfür bis 2017 etwas vorzulegen .
Es ist eindeutig so, dass die Situation im Krankenhaus
deutlich komplizierter ist als in der Pflege. Da gibt es
sehr viele Vorarbeiten . Ist es überhaupt zu verantworten,
die Pflegekräfte fünf Jahre lang auf die Einführung der
im Gesetzentwurf genannten Instrumente zu vertrösten?
Das ist ein sehr langer Zeitraum . Das ist eine komplette
Wahlperiode .
Geschätzte Frau Klein-Schmeink, manchmal hilftLesen . Im Gesetzentwurf steht: Entwicklung und Er-probung. Ich finde, diese Aussage zeigt uns: Jawohl, wir wollen die Erprobungsphase 2020 abgeschlossen haben .
Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir brauchen wirklich einefundierte Grundlage; denn das geht nicht mit einemSchnellschuss . Ich bin froh, dass wir beim Thema Perso-nalbemessung diesen großen Durchbruch erreicht haben .
Hilde Mattheis
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Sie wissen, dass bei den Verhandlungen darüber auchdie Länder mit am Tisch sitzen . Ich glaube, hierzu wirdes eine breite Debatte geben . Vielleicht können Sie IhrenLänderministerinnen und -ministern sagen, dass sie unsdabei unterstützen sollen . Das wäre schön .
Ich will abschließend auf Folgendes hinweisen: DasPflegestärkungsgesetz II ist nicht das Ende der Reform. Wer glaubt, dass Sozialversicherungssysteme irgend-wann nicht mehr verbesserungsbedürftig wären, der hatein ganz falsches Verständnis dieser Systeme . Mit demPSG III werden wir einen weiteren wichtigen Bausteinsetzen . Neben den Leistungsverbesserungen, neben derEntlastung der pflegenden Angehörigen, neben den gu-ten Arbeitsbedingungen für Pflegefachkräfte muss es uns auch um Pflegeinfrastruktur gehen, also niedrigschwelli-ge Pflegeinfrastruktur in den Kommunen. Das wird der Schwerpunkt des PSG III sein .Ich darf für meine Kolleginnen und Kollegen derSPD-Fraktion einfach zur Erinnerung sagen: Wir könnenimmer mehr dicke Häkchen hinter unser Konzept derPflegereform von 2012 setzen.Ich danke .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Erwin Rüddel das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Eine Bemerkung kann ich mir nicht ganz verkneifen,weil eben der Begriff „Bürgerversicherung“ gefallen ist:
Ich glaube, bevor dieses Haus eine Bürgerversicherungverabschiedet, wird eine CDU-geführte Regierung dasPflegestärkungsgesetz VII verabschieden.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass dievielen Diskussionen mit meiner Kollegin von den Grü-nen, Elisabeth Scharfenberg, dazu geführt haben, dassihre vielen Zweifel, die zu Beginn bestanden, heute wei-testgehend verschwunden sind .
Ich denke, das Gesetz wird in der Praxis entsprechendWirkung zeigen, sodass auch die letzten Zweifel ver-schwinden werden .Zehn Monate nachdem wir das erste Pflegestärkungs-gesetz verabschiedet haben, kommt jetzt schon die Um-setzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes. Wir schließen eine Gerechtigkeitslücke, indem wir die Demenzkran-ken den somatisch Erkrankten in der Pflegeversicherung gleichstellen und im Ergebnis über 5 Milliarden Euro fürDemenzkranke aktivieren . Ich denke, das ist ein großerWurf. Für bereits jetzt Pflegebedürftige gibt es einen Be-standsschutz, sodass sich niemand Sorgen darüber ma-chen muss, dass er durch diese Reform schlechtergestelltwird .
Zudem verbessern wir bereits in diesem Gesetzent-wurf die Situation von pflegenden Angehörigen und stärken die Pflegeberatung sowie die Qualität und Trans-parenz bei den Pflegeangeboten. Die Koalition hat zu Beginn der Legislaturperiode mehr Qualität, mehr Geld,mehr Betreuung und mehr Hände für gute Pflege in un-serem Land versprochen, und wir haben Wort gehalten .
Das zeigt sich auch am Bürokratieabbau, in der Neuge-staltung des Pflege-TÜVs, in den neuen gesetzlichen Re-gelungen zur Verbesserung der Medikamentensicherheitsowie in dem in der letzten Woche verabschiedeten Palli-ativ- und Hospizgesetz .Wir müssen sicherstellen, dass zukünftige zusätzlicheLeistungen auch am Bett ankommen . Hier darf es kei-ne Tricksereien geben . Das sage ich auch gegenüber denkommunalen Spitzenverbänden, die mit Blick auf denBürokratieabbau in der Pflege bekanntlich gewisse Be-gehrlichkeiten entwickelt hatten . Deshalb habe ich michdafür eingesetzt, dass die Dividende aus dem Bürokra-tieabbau den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in derPflege zusteht
und auf diese Weise dort ankommt, wo sie hingehört, undzwar bei den pflegebedürftigen Menschen in unserem Land . Die gewonnene Zeit ist nicht zur Konsolidierungkommunaler Haushalte gedacht .
Ebenso deutlich sage ich mit Blick auf die Pfle-ge-WGs: Wir werden aufpassen, dass das System nichtvon professionellen Anbietern in einer Weise ausgenutztwird, die nicht im Sinne des Gesetzgebers ist . Wir wollenkeine Geschäftemacherei, sondern gute Betreuung undPflege. Deshalb stellen wir sicher, dass der MDK ent-sprechende Prüfungsvollmachten erhält .Dieses Pflegestärkungsgesetz II bringt bereits einen erweiterten Beratungsauftrag für die Kassen . 2016 wer-den wir mit dem Pflegestärkungsgesetz III den Kommu-nen zusätzliche Beratungsaufgaben übertragen, wie esin der Bund-Länder-Kommission vereinbart worden ist .Hilde Mattheis
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Die zusätzlichen Angebote der Kommunen – ich denkehier an die Vernetzung mit Seniorenbeiräten, Mehrgene-rationenhäusern oder Pflegestützpunkten – werden eine aufsuchende und umfassende Beratung für Pflegebedürf-tige und deren Familien bieten können, sodass in jedemeinzelnen Fall ein individuelles Paket geschnürt werdenkann, das optimal auf die Bedürfnisse der zu Pflegenden zugeschnitten ist .Zudem müssen wir noch bei der Versorgung mit Heil-und Hilfsmitteln aktiv werden. Unsere Pflegebedürftigen haben ein Anrecht auf eine anständige Versorgung . Wirwerden es nicht hinnehmen, wenn an der Qualität vonWindeln oder Rollstühlen gespart werden soll . Wir mobi-lisieren für die Altenpflege zusätzlich 7 Milliarden Euro. Da kann nicht an anderer Stelle an den Windeln gespartwerden .
Deshalb müssen wir dafür sorgen, die erforderlichenQualitätsstandards sicherzustellen . Damit werden wirdas, was ich die Runderneuerung der Pflege nenne, fein-justieren müssen und dann abschließen .Meine Damen und Herren, diese Koalition schafftgrundlegende und umfassende Verbesserungen für diePflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte in Deutschland . Ich danke ganz besonders dem Minis-ter, der zuständigen Parlamentarischen StaatssekretärinIngrid Fischbach und dem Pflegebevollmächtigten, dass sie diese Reform vorbereitet haben, und bitte sie, diesenDank an das Haus weiterzugeben .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Rawert für
die SPD-Fraktion .
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Mitbürge-rinnen! Liebe Mitbürger! Der heutige Freitag, der 13 ., istein guter, ein sehr guter Tag für pflegebedürftige Kinder und Jugendliche, für pflegebedürftige ältere Menschen, für die Angehörigen und für die haupt- und ehrenamtlichin der Begleitung, Betreuung und Pflege tätigen Men-schen .
Wir alle profitieren von dem Gesetz, welches wir gleich beschließen werden, nämlich dem Zweiten Pflegestär-kungsgesetz. Pflege ist damit in der Mitte unserer Ge-sellschaft angekommen . Wir machen deutlich: Im Mit-telpunkt steht die Solidarität miteinander und die Sorgefüreinander, gerade dann, wenn für den einzelnen Men-schen ein Lebensrisiko wie die Pflegebedürftigkeit auf-tritt. Das ist die Aufgabe der sozialen Pflegeversicherung. Dafür, dass wir heute dazu gekommen sind, gebührt vie-len Menschen in den Institutionen, Verbänden und Bünd-nissen für gute Pflege Dank. Es wurde schon daran erinnert, dass die erste Sitzungder Beiräte vor mehreren Jahren stattgefunden hat . Indiesen waren die gesamte Zivilgesellschaft, sämtlicheAkteurinnen und Akteure im Gesundheits- und Pflege-wesen vertreten . Die Beiräte haben uns den Weg ge-wiesen . Sie haben Forderungen gestellt, und sie habeneine Roadmap vorgelegt . Wir sind dabei, die Roadmapmit diesem Gesetz abzuarbeiten . Das ist ein Gesetz nichtnur der Politik, sondern der Gesellschaft mit sämtlichenAkteuren . Auch deswegen ist heute ein guter Tag, unddiesen gilt mein herzlicher Dank .
Geschlossen wird eine Gerechtigkeitslücke zwischensomatischen, psychischen und kognitiven Beeinträchti-gungen von pflegebedürftigen Menschen. Das ist gut so, das ist gerecht so .Das Geschacher um die Pflege in Minuten hört auf. Betrachtet werden nicht mehr einzelne Defizite, betrach-tet wird der Mensch mit seinen Ressourcen . Künftig än-dert sich also die Blickrichtung. Nicht mehr die Pflegen-den und deren Zeitbedarf stehen im Mittelpunkt, sondernder Grad der Selbstständigkeit und die individuellen Fä-higkeiten des pflegebedürftigen Menschen. Die konkrete Frage lautet: Inwieweit ist es den Pflegebedürftigen noch möglich, ein eigenständiges Leben zu führen, oder bis zuwelchem Grad ist diese Eigenständigkeit eingeschränkt?Danach wird bewertet .Die neue Pflegebewertung wird würdevoller für alle Betroffenen, insbesondere für die Menschen mit Pflege-bedürftigkeit. Es erfolgt eine Einstufung in fünf Pflege-grade, und zwar gerechter, nachvollziehbarer und trans-parenter. Das ist wichtig für die Pflegebedürftigen und selbstverständlich auch für deren Familienangehörige .Auf den erweiterten Zugang zu den Leistungen dersozialen Pflegeversicherung von über 500 000 Menschen ist schon vom Minister und von Frau Mattheis hingewie-sen worden . Es ist von mehr Gerechtigkeit für die an De-menz und an psychischen Leiden Erkrankten gesprochenworden . Wir haben einen Ausbau von Leistungen sowohlin den ambulanten Wohngruppen als auch in der Kurz-zeitpflege sowie in der Tages- und Nachtpflege sicher-gestellt . Ab dem 1 . Januar 2017 werden die an Demenzerkrankten Menschen mit einem sogenannten doppeltenStufensprung höher bewertet . Dies passiert automatisch;es bedarf keiner weiteren zusätzlichen Arbeit seitens derpflegebedürftigen Personen oder deren Angehörigen. Al-lein das ist ein zentraler und allgemein anerkannter pfle-gepolitischer Erfolg . Schon deswegen ist dieser Gesetz-entwurf ein Meilenstein .
Von den Linken ist vorhin etwas zum Thema der am-bulanten Pflege gesagt worden. Wegen der Kürze der Zeit kann ich leider nicht näher darauf eingehen . Weitauszu kurz gegriffen wurde dabei wegen der vielen Verbes-serungen in der Begleitung, in der Betreuung und in derEntlastung der Angehörigen . Wir fördern mit diesem Ge-setz genau das, was die Mehrheit der Bevölkerung will,Erwin Rüddel
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nämlich so lange wie möglich im eigenen häuslichenUmfeld bleiben . Das sichern wir ihnen hiermit zu, unddas ist gut so .
Wir sichern auch den Angehörigen einen besserenZugang zu Rentenversicherung und Arbeitslosenversi-cherung zu; denn es kann und darf nicht sein, dass diepflegenden Angehörigen, zumeist Frauen, dafür bezah-len, indem sie selbst in Altersarmut geraten . Dieser Punktist uns als SPD, aber auch darüber hinaus sehr wichtig .
Ein weiterer großer sozialpolitischer Erfolg liegt da-rin, dass keine pflegebedürftige Person in stationären Einrichtungen aus Angst vor finanzieller Höherstufung nicht mehr beantragt, mehr Pflege zu bekommen. Damit machen wir Schluss . Keine Angst, liebe Einrichtungen,liebe Träger und Verbände von Einrichtungen: Die Höhedieses Anteiles wird von den jeweiligen Pflegeeinrich-tungen zusammen mit den Pflegekassen bzw. dem Sozi-alhilfeträger verhandelt . Auch das ist gut so; denn es ge-währleistet ihnen mehr Flexibilität, und sie können somitmehr Kreativität und noch mehr Qualität in der Pflege erbringen .
Ich muss leider zum Schluss kommen . Die individu-elle bedürfnisorientierte Pflege werden wir mit diesem Gesetz stärker abbilden und sicherstellen . Selbstver-ständlich ist auch dieses Gesetz kein Allheilmittel . DasPSG III steht vor der Tür; davon ist schon gesprochenworden. Wir werden die Pflegeberatung unterstützen, wir werden die Pflegeinfrastruktur in den Kommunen ver-bessern, und wir werden vor allen Dingen die Netzwerkemit vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren stärken .
Frau Kollegin .
Ich komme zum letzten Satz . Danke . – Mein Appell:
Ich fordere uns alle als Verantwortliche dazu auf, diese
Pflegereform mit voller Kraft mitzumachen, sie zu ge-
stalten und mit Leben zu füllen . Zeigen wir gemeinsam
Tatkraft für eine gute und würdevolle Pflege.
Haben Sie Dank fürs Zuhören .
Nächster Redner ist der Kollege Erich Irlstorfer für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem Ersten Pflegestärkungsgesetz hat der Gesetzgeber die Leistungen der Pflegeversicherung ab dem 1. Januar 2015 deutlich ausgeweitet . Dieses Gesetz war ein Vor-griff auf das Zweite Pflegestärkungsgesetz, das wir heute beraten und beschließen. Der neue Pflegebedürftigkeits-begriff, das Kernstück dieses Gesetzentwurfes, stellt eineneue Grundlage für die Pflege in Deutschland dar – ganz subtil in Bezug auf die Neuausrichtung der Pflege an der Selbstständigkeit der Gepflegten, aber auch ganz offen-kundig beispielsweise im Rahmen der neuen Pflegebe-gutachtung .Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen,dass es viele Neuerungen gibt, sodass ich mich auf einigewenige Punkte konzentriere .Meine Kernaussage ist, dass die Pflege in Deutschland deutliche Verbesserungen braucht, und zwar nicht nur dieEinführung oder Erweiterung einzelner Leistungen . Wirbrauchen vielmehr eine strukturell angelegte Pflegere-form . Ich glaube, das gelingt uns mit der Verabschiedungdieses Gesetzentwurfs . Ich meine damit nicht nur diegroßen Linien mit der Einführung des neuen Pflegebe-dürftigkeitsbegriffs mit all seinen Konsequenzen, son-dern auch eine Reihe kleinteiliger Maßnahmen, die sichganz konkret auf die Versorgungsangebote vor Ort aus-wirken werden . Das aktive Gestalten der Versorgungs-strukturen, aber auch das Schaffen von Freiräumen inder Versorgung sind Markenzeichen der Pflegepolitik der Union . Das liegt nicht nur im Interesse der Versicherten,sondern es ist auch im Sinne der Beitragszahler, meinesehr geehrten Damen und Herren . Ich möchte beispiel-haft drei gesetzliche Neuerungen erläutern, die Ausdruckdieser Politik sind .Erstens: das Thema Wohngruppen; mein Kolle-ge Erwin Rüddel hat es bereits angesprochen . Ziel desWohngruppenzuschlags ist die Förderung neuer Wohn-formen für Pflegebedürftige als Alternative zum Heim. Es liegt in der Natur der Sache, dass neue Wohnformenoft vergleichbar mit altbewährten Konzepten der voll-stationären, teilstationären und ambulanten Pflege sind. Allerdings müssen sie – das ist wesentlich – einen Mehr-wert für die Versicherten und somit für die Menschenaufweisen . Neue Wohnformen können sich beispielswei-se durch eine stärkere Selbstbestimmung der Bewohnerauszeichnen . Deshalb begrüßen wir neue Wohnformenwie Wohngruppen ausdrücklich .Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein durch hoheKosten für die Sozialversicherung ohne greifbare Unter-schiede zu einem Pflegeheim dürfen sich Wohngruppen allerdings nicht auszeichnen . Denen, die die Förderungder Wohngruppen missbrauchen, treten wir deshalb mitdiesem Gesetz entgegen . Wenn nötig, werden wir auch inweiteren Gesetzen nachjustieren . Das ist keine Drohung,sondern ein ernstgemeinter Hinweis .
Zweitens . Die Entscheidung, welche Versorgungsan-gebote in Deutschland bestehen sollen, ist Aufgabe derPflegepolitik. Pflege ist kein Geschäft wie jedes andere und darf es auch nicht sein . In der klassischen vollstati-onären Versorgung nehmen wir den neuen Pflegebedürf-tigkeitsbegriff zum Anlass, um die PersonalausstattungMechthild Rawert
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zu analysieren und im erforderlichen Maß anzupassen .Ein fundiertes Personalbemessungssystem wird entwi-ckelt und erprobt; starre Personalschlüssel werden nichtvorgegeben . Damit setzen wir an den Personalstrukturen,einem Kern der pflegerischen Versorgung, an. Mit die-sem Gesetz stoßen wir ihre Anpassung an die Versorgungan . Wesentlich ist, dass wir hier nicht stehen bleiben, dasses weitergeht. Beim Pflegeberufegesetz, das gerade be-raten wird, planen wir echte Verbesserungen . Wir sindja um eine Steigerung der Attraktivität dieser Berufe be-müht . Ich denke, das sowie die digitale Dokumentationsind Kernelemente der Zukunft .
Das sind Verbesserungen .
Drittens. Auch die Beratungsangebote, die Pflegebe-dürftigen und ihren Angehörigen helfen sollen, werdenmit diesem Gesetz reformiert . Wir stellen die Weichen,damit die Pflegeberatung in Deutschland noch besser verfügbar ist und vor allem mehr genutzt werden kann .Künftig müssen die Pflegekassen allen, die einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung stellen, inner-halb von zwei Wochen aktiv eine Pflegeberatung anbie-ten . Angehörige erhalten erstmals einen eigenständigenAnspruch auf Pflegeberatung. Pflegekassen und Länder werden die verschiedenen Beratungsangebote vor Ortaufeinander abstimmen und so die Beratungsstrukturenstärken . Das ist uns wichtig .Zum Schluss möchte ich sagen: Wir werden die Um-setzung der Pflegereform und die damit verbundenen Aufgaben nur meistern können, wenn wir gemeinsam ander Umsetzung arbeiten. Ich rufe die Pflegeheime, die Pflegedienste, die Kassen, die Länder und natürlich auch uns Bundespolitiker zur konstruktiven Zusammenarbeitmit den Menschen vor Ort auf, damit wir diese Reformvollständig umsetzen .
Damit werden wir die Pflege in Deutschland auf ein neu-es Fundament stellen .Herzlichen Dank .
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Tino Sorge für die CDU/CSU-Fraktion .
Hochverehrter Herr Präsident Lammert! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Debatte schonviele Zahlen gehört . In den nächsten 15 Jahren müssenwir damit rechnen, dass insbesondere die Zahl pflegebe-dürftiger Menschen in Deutschland stark ansteigen wird .Wir reden über einen Anstieg von 35 Prozent . Wir wis-sen bereits jetzt, dass im Jahr 2030 3,5 Millionen Men-schen pflegebedürftig sein werden. Im Jahr 2050 werden es 4,5 Millionen sein . Was ich an der gesamten Debattesehr bemerkenswert fand, war, dass angesichts der Tatsa-che, dass aufgrund der älter werdenden Gesellschaft dieGesundheitskosten steigen werden, ein politischer undgesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass in diePflege investiertes Geld gut investiertes Geld ist.
Mit diesem Pflegestärkungsgesetz stärken wir im bes-ten Sinne des Wortes diejenigen, die sich tagtäglich inder Pflege einsetzen. Wir unterstützen diejenigen, die als Pflegebedürftige unsere Hilfe ganz dringend benöti-gen . Das tun wir nicht abstrakt-generell, sondern kon-kret-individuell . Gerade die nächsten Angehörigen, dieeine intensive, herzliche und verlässliche Betreuungund Versorgung übernehmen, verdienen unser aller An-erkennung für ihre Leistung, ihr Engagement und ihrenkörperlich anstrengenden und nicht selbstverständlichenEinsatz . Was sie tun, geht weit über das hinaus, was wirmit den gesetzlichen Regelungen schaffen .Zugleich bedeutet dieses Gesetz auch Wertschätzung .Es gibt umfangreiche Leistungsverbesserungen und ei-nen verbesserten Pflegebedürftigkeitsbegriff. All dies sind Mosaikteile einer Pflegepolitik aus einem Guss, die am Wohl der Menschen orientiert ist und die allenPflegebedürftigen zugutekommen wird, heute und in der Zukunft .Ich möchte an dieser Stelle einmal denjenigen Danksagen, die sich im Pflegebereich einsetzen und dabei oft ihr eigenes Leben hintanstellen . Ich möchte auch denje-nigen danken, die in Pflegeeinrichtungen arbeiten, die in Pflegeschulen für diese Berufe werben und den Fach-kräften das Rüstzeug vermitteln, um hochwertig und zu-gleich empathisch pflegen zu können. Ihnen allen gilt ein ganz großes Dankeschön .
Ich möchte auch dem Ministerium, insbesondere Bun-desminister Hermann Gröhe, dem Pflegebeauftragten Karl-Josef Laumann, der Parlamentarischen Staatssekre-tärin Ingrid Fischbach und ganz besonders unserem Be-richterstatter Erwin Rüddel meinen Dank aussprechen .Das tue ich deshalb, weil die Zusammenarbeit äußerstangenehm, konstruktiv und zielorientiert war . VielenDank dafür .
In dieser Woche feiern wir 26 Jahre Mauerfall . Indiesen 26 Jahren hat sich vieles grundlegend verändert .Mit Blick auf Pflege und Demografie kann ich sagen: In meinem Bundesland Sachsen-Anhalt kann man geradezulive und hautnah verfolgen, wie sich der demografische Wandel im Alltagsleben auswirkt . Aufgrund der verzerr-ten Altersstruktur reden wir bereits jetzt über mehr Mit-tel für Pflegeeinrichtungen. Wir haben eine höhere Rate multimorbider Patienten, die versorgt werden müssen .Erich Irlstorfer
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Zugleich haben wir eine überdurchschnittliche Fluktuati-on und Mobilität gut ausgebildeter Ärzte sowie Fach- undPflegekräfte zu verzeichnen. Wenn man sich die Zahlen anschaut und weiß, dass im Jahr 2025 fast 60 Prozent derMenschen in meinem Bundesland über 50 Jahre alt seinwerden und dass wir schon jetzt 4 Prozent Pflegebedürf-tige und damit die höchste Pflegequote in Deutschland haben, dann können Sie erahnen, wie wichtig das ThemaPflege ist. Jetzt kann man sagen: Na gut, das ist eben ein regio-nales Problem . – Das ist aber kein regionales Problem,und es ist auch kein ostdeutsches Problem . Es ist ein Pro-blem, das uns alle angeht .
In den neuen Bundesländern werden Entwicklungen vor-weggenommen, die in anderen Regionen Deutschlandszeitlich verzögert auftreten werden .Es ist wichtig, dass die Gesundheits- und Pflegepolitik nicht nur einzelne Gesetzesprojekte in den Blick nimmt,sondern im Sinne ineinandergreifender Zahnräder in denkommenden Jahren den Schwerpunkt auf die Reform derMedizinerausbildung und der Pflegeberufe sowie auf die Stärkung der Kommunen im Gesundheitsbereich setzt .Dieser gesamtdeutschen Herausforderung werden wirmit diesem Schritt, dem Pflegestärkungsgesetz II, ein weiteres Stück gerechter .Wenn heute mit Bundesgesundheitsminister HermannGröhe ein Nordrhein-Westfale die Debatte eröffnet hat,eine Sächsin, ein Rheinland-Pfälzer und ein Bayer diesesReformvorhaben erläutern konnten, dann passt es dochganz gut, dass ein Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt,nicht nur dem Land der Reformation, sondern auch dem„Land der Frühaufsteher“, den Abschluss machen darf.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Rawert,ist doch gelebte Vielfalt mit dem festen Ziel, die Pflege in Deutschland noch zukunftssicherer zu machen . Dazuleisten wir heute einen ganz großen Beitrag . Darauf kön-nen wir stolz sein .Herzlichen Dank .
Fast noch schöner als die Beteiligung der Frühaufste-
her ist der Hinweis, dass das Gesetz ganztägig gelten soll .
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, ohne die
dieses Gesetz seine Gültigkeit nicht erhält, hat die Kolle-
gin Baehrens um das Wort für eine persönliche Erklärung
zur Abstimmung gebeten . – Bitte schön .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derneue Pflegebegriff kommt, und es gibt keinen vernünfti-gen Grund, diesem neuen, ganzheitlicheren Leitbild vonPflege und dem neuen Begutachtungsverfahren heute nicht zuzustimmen .Diese Pflegereform schließt wichtige Lücken, aber sie hat auch ihre Tücken . Das betrifft insbesondere denstationären Bereich, wo vorgesehen ist, die umfangrei-chen Veränderungen budgetneutral umzusetzen, damitdie Heime nach der Umstellung das gleiche Budget zurVerfügung haben wie vorher und um die Kosten der Pfle-geversicherung berechenbar zu halten .
Das ist aus praktischen Gründen nachvollziehbar . DieTücke liegt jedoch darin, dass diese Form der Überlei-tung keinerlei Spielraum für die dringend notwendigenLeistungsverbesserungen in den Heimen lässt .
Wir haben im PSG I die ambulante Pflege nachdrücklich gestärkt . Wir haben die palliative Versorgung im häusli-chen Bereich und in den Hospizen verbessert . Demge-genüber werden an die Pflegeheime lediglich höhere An-forderungen gestellt, ohne eine verbindliche Regelungzur Finanzierung dieser Leistungen zu verankern .Herr Minister Gröhe, Sie haben am vergangenen Don-nerstag gesagt:Wir werden die Altenpflegeeinrichtungen verpflich-ten, mit Palliativnetzwerken und Palliativmedizi-nern zusammenzuarbeiten .Ich höre die Pflegekräfte in den Heimen fragen: Wa-rum eigentlich trauen Sie uns Altenpflegefachkräften nicht zu, eine hospizlich-palliative Versorgung im Heimzu gewährleisten? Ja, wir möchten die Bewohner auchauf ihrer letzten Wegstrecke begleiten und so versorgen,wie wir es gelernt haben . Aber warum geben Sie uns da-für nicht die gleiche finanzielle und personelle Ausstat-tung wie den stationären Hospizen? – Recht haben sie .
Darum frage ich weiter: Warum eigentlich geht die Pfle-geversicherung nach wie vor davon aus, dass in Pflege-heimen etwa 50 Prozent Fachpersonal ausreichen, wäh-rend die Krankenversicherung selbstverständlich nahezu100 Prozent des Fachpersonals in Hospizen und rund80 Prozent der Fachkräfte in der ambulanten Pflege fi-nanziert?Wir haben für mehr Betreuungskräfte in den Heimengesorgt .
Allerdings entlastet auch dies nicht die Fachpflegekräfte; denn die höhere Zahl an Betreuungskräften muss vomTino Sorge
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examinierten Pflegepersonal angeleitet und unterstützt werden .
Die Verantwortung sowohl für die Pflege wie auch für die Betreuung bleibt beim Fachpersonal. Das „zusätzliche“ Betreuungspersonal führt dazu, dass der sowieso schonniedrige Fachkraftanteil der Altenpflege de facto bereits unter 50 Prozent liegt .
Darum ist es richtig, ein fundiertes Verfahren für die Per-sonalbemessung in den Pflegeheimen auf der Basis des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu entwickeln. Natür-lich wäre es wünschenswert, wenn das schneller ginge .
Noch eine Tücke möchte ich kurz ansprechen, nämlichden einrichtungsindividuellen einheitlichen Eigenan-teil . Gemeint ist damit: Alle Bewohner zahlen künftigim Heim den gleichen Preis für die Pflege, unabhängig davon, wie viel pflegerische Unterstützung sie aufgrund ihres Pflegegrades erhalten. Damit wird das heutige System der Preisbildung verändert, obwohl das Gesetzweiterhin am Prinzip der leistungsgerechten Vergütungfesthält. So wird der Problematik begegnet, dass Pflege-bedürftige oder Angehörige
oft auf die Beantragung einer höheren Pflegestufe ver-zichtet haben,
um höhere Kosten zu vermeiden . Diese Neuerung ist gutgemeint, aber, wie ich befürchte, nicht gut durchdacht .Ein einheitlicher Eigenanteil ist gut für diejenigen, dieeinen hohen Pflegebedarf haben und viele Leistungen in Anspruch nehmen müssen .
Die Solidarität mit den schwer Pflegebedürftigen führt jedoch zur finanziellen Mehrbelastung von Pflegebedürf-tigen mit niedrigem Pflegegrad. Es stellt sich daher be-rechtigerweise die Frage, ob das von jenen als gerechtempfunden werden wird, die zukünftig zwar gleich vielbezahlen, aber wesentlich weniger Leistungen erhalten .
Wer wird ihnen erklären, dass die Altenpflegerin kaum Zeit für sie hat, während die Nachbarin intensiv versorgtwird? Sie werden sich nicht ans Ministerium, an die Pfle-gekassen oder an uns Abgeordnete wenden .
Sie werden diejenigen fragen, die ihnen am nächstensind, und das sind die Pflegekräfte. Sie werden diejeni-gen fragen, die sich schon heute im Alltag aufreiben, umallen gerecht zu werden, weil die Personalschlüssel nichtausreichend sind .
Denn obwohl der Bedarf und die Anforderungen an me-dizinischer Behandlungspflege und Sterbebegleitung enorm zugenommen haben, haben wir heute die gleichenPersonalschlüssel in der stationären Pflege wie Anfang der 90er-Jahre . Darum mache ich mit meiner persönli-chen Erklärung heute darauf aufmerksam: Es ist Zeit,mehr für die Pflege und die Fachkräfte in stationären Einrichtungen zu tun . Dafür möchte ich werben . Deshalbwar es mir wichtig, das sagen zu können .
Frau Kollegin Baehrens, das war eine Demonstrationdafür, wofür diese Bestimmung der Geschäftsordnungnicht gedacht ist .
Sie wird ganz sicher die Neigung der jeweils amtieren-den Präsidenten, Erklärungen zu Abstimmungen über-haupt, schon gar vor der Abstimmung zuzulassen, weiterreduzieren; denn im Ergebnis führt das zu einer Verlän-gerung der Redezeiten einer Fraktion, die angesichts derProportionen, die wir hier haben, von den Oppositions-fraktionen als nicht besonders freundlich empfundenwerden kann .
Wir führen jetzt aber keine Geschäftsordnungsdebatte .Das wird gegebenenfalls noch einmal im Ältestenrat auf-gegriffen . Aber noch einmal: Der Zweck einer solchenErklärung zur Abstimmung ist, gegebenenfalls deutlichzu machen, warum man, aus welchen Gründen auch im-mer, die Schlussfolgerung nicht teilen will, die im Übri-gen die Kolleginnen und Kollegen der eigenen Fraktionzur Zustimmung oder Ablehnung eines Gesetzentwurfesveranlassen .Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines ZweitenGesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften . Der Ausschussfür Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung auf der Drucksache 18/6688, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-sachen 18/5926 und 18/6182 in der AusschussfassungHeike Baehrens
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anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
– bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen sowieeinigen Enthaltungen der Fraktion Die Linke – angenom-men, was im Übrigen für die Feststellung der Mehrheits-verhältnisse nicht notwendigerweise vorgetragen werdenmuss . Wenn das aber den Frieden fürs Wochenende för-dert,
will ich dem natürlich nicht im Wege stehen . Außerdemlässt sich das in der dritten Beratung – und darauf kommtes ja an – förmlich festhalten .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plät-zen zu erheben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmender Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und einigen Enthaltungen seitens derLinken gegen die Stimmen der übrigen Kolleginnen undKollegen der Fraktion Die Linke angenommen .Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Druck-sache 18/6692 . Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damitist der Entschließungsantrag mit Mehrheit abgelehnt .Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-fehlungen des Ausschusses auf der Drucksache 18/6688unter dem Tagesordnungspunkt 27 b fort . Unter Buchsta-be b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antra-ges der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/5110mit dem Titel „Bürgerinnen- und Bürgerversicherungin der Pflege – Solidarische Pflegeversicherung einfüh-ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Be-schlussempfehlung gegen die Stimmen der Antragstellerangenommen .Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf derDrucksache 18/6066 mit dem Titel „Gute Pflege braucht sichere und zukunftsfeste Rahmenbedingungen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmtdagegen? – Dann ist auch diese Beschlussempfehlungmit Mehrheit gegen die Stimmen der Oppositionsfrakti-onen angenommen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Bekämpfung von Doping im SportDrucksache 18/4898Beschlussempfehlung und Bericht des Sportaus-schusses
Drucksache 18/6677b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr . André Hahn,Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEAnti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegenDrucksachen 18/2308, 18/6678Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen vor .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Dazu kann ichEinvernehmen feststellen .Ich eröffne mit dieser Vereinbarung die Ausspracheund erteile zunächst dem Bundesminister Heiko Maasdas Wort .
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Heute ist ein sportpolitisch histori-scher Tag . Mit diesem Gesetz wird der Kampf gegen dasDoping zu einem Fall für den Staatsanwalt . Das ist eineKampfansage an die Täuscher, Trickser und Betrüger imSport . Mit dem heutigen Tag stellen wir klar: Ein Leis-tungssportler, der dopt, handelt kriminell .
Wir haben es uns mit diesem Gesetz nicht einfachgemacht . Hinter uns liegen Jahrzehnte der Diskussio-nen, der Appelle, des Beklagens und der gescheitertenVersuche . Die ersten Dopingkontrollen bei OlympischenSpielen gab es im Jahr 1968 . Das ist jetzt 47 Jahre her .Aber in den Griff bekommen hat man das Problem bisheute nicht . Gerade auch vor dem Hintergrund der ak-tuellen Geschehnisse, die man aus Russland und demWeltleichtathletikverband mitbekommt, muss man, glau-be ich, attestieren: An der einen oder anderen Stelle istdas Problem nicht kleiner, sondern möglicherweise so-gar größer geworden . Bei allen Unternehmungen, die derSport bereits in die Wege geleitet hat, hat sich, wie wirfinden, gezeigt: Der Sport und seine Verbände brauchen Unterstützung . Die bekommen sie jetzt, und zwar mitdiesem Anti-Doping-Gesetz .
Meine Damen und Herren, Ben Johnson, Diego Maradona, Lance Armstrong und wie sie alle heißen: Siealle waren Ikonen des Sports . Aber sie alle haben ma-nipuliert und betrogen, sie haben die Ideale des Sportsverraten, sie haben Titel und Medaillen verloren, und siehaben Millionen Fans – nicht nur ihre eigenen – bitterenttäuscht . Heute unterstützen viele Sportlerinnen undSportler unser Gesetz . Wir haben viele gute HinweisePräsident Dr. Norbert Lammert
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bekommen: aus dem Sport, von Verbänden und auch vonSportlerinnen und Sportlern . Das alles hat uns geholfen,den Entwurf, den wir vorgelegt haben, noch besser zumachen . Ich will dafür drei Beispiele nennen .Erstens . Wir stellen im Gesetz ausdrücklich klar, dasssich ein Sportler, der Dopingmittel besitzt, nur dannstrafbar macht, wenn er auch wirklich die Absicht hat,sich dadurch einen Vorteil im sportlichen Wettbewerb zuverschaffen . Dieser subjektive Tatbestand muss bei allenDelikten immer gegeben sein . Wir schreiben das hieraber ausdrücklich ins Gesetz und greifen damit die Sor-ge einiger Sportlerinnen und Sportler auf, die sich davorfürchten, straffällig zu werden, weil ihnen irgendjemandunbemerkt ein Dopingmittel in die Tasche untergescho-ben hat .
Zweitens . Wir sorgen dafür, dass ein Leistungssport-ler seiner Strafbarkeit nicht dadurch entgeht, dass erim Ausland dopt . Strafbar macht sich also auch, wer inDeutschland gedopt an einem Wettbewerb teilnimmt,und zwar völlig egal, in welchem Land er vorher Pillenund Dopingmittel eingenommen hat . Damit verhindernwir, dass das deutsche Recht umgangen wird, und wirsorgen für Chancengleichheit gegenüber ausländischenAthleten, die in Deutschland starten . Es macht sich alsoauch strafbar, wer im Ausland dopt und beim Wettkampfin Deutschland davon profitiert. Das ist richtig, und das heißt: Gleiches Recht für alle .
Die dritte Verbesserung: Wir bauen eine goldene Brü-cke für Sportlerinnen und Sportler, die sich vom Dopinglossagen und zurück in die Legalität wollen . Wenn je-mand aus freien Stücken den Besitz an Dopingmittelnaufgibt und sie vernichtet oder abgibt, dann geht erstraffrei aus . Wer ernsthaft Reue und Umkehr zeigt, demkommt diese Passage des neuen Gesetzes entgegen .Meine Damen und Herren, viele Sportlerinnen undSportler unterstützen diesen Gesetzentwurf, aber ichweiß auch, dass es bei einzelnen Athleten immer nochSkepsis gibt .
– Nur ruhig . Frau Künast, man hat den Eindruck, Sie sindheute Morgen gedopt erschienen .Ich will das aufgreifen, was sie gesagt haben, undauch das, was es an Kritik gegeben hat . Wir haben das,was geäußert wurde, sehr ernst genommen .
Chancengleichheit erreichen wir nicht durch Nachsicht,meine sehr verehrten Damen und Herren . Das ist derGrund, weshalb wir das Dopen unter Strafe stellen .
Chancengleichheit erreichen wir nur, wenn wir den Be-trügern vollständig das Handwerk legen . Nur so könnenwir den Druck von den einzelnen Athleten nehmen, demsie sich ausgesetzt sehen .
Wir müssen deshalb den Teufelskreis aus Doping undBetrug stoppen . Wir haben uns entschieden, dazu auchmit den Mitteln des Strafrechts vorzugehen . Dieses Ge-setz wird den Sport – da bin ich mir vollkommen sicher –sauberer, ehrlicher und fairer machen . Es wird die Sport-verbände – entgegen dem, was vielleicht der eine oderandere befürchtet – bei ihrem Kampf gegen das Dopingunterstützen .
Meine Damen und Herren, seit dem Jahr 2000 ver-pflichten sich alle Athleten im olympischen Eid zu einem „Sport ohne Doping und ohne Drogen …, im wahrenGeist der Sportlichkeit“. Wir wollen, dass dieser Eid im Sommer 2024 bei der Eröffnung der Olympischen Spielein Hamburg gesprochen wird .
Wie ernst wir unsere Bewerbung nehmen – es ist nichtnur eine der Hamburgerinnen und Hamburger, sondernmittlerweile eine unseres ganzen Landes –, zeigen wirauch mit diesem Gesetz und der Ernsthaftigkeit, mit derwir gegen Doping vorgehen . Mit dem neuen Gesetz wer-den wir im internationalen Vergleich deutlich vorne lie-gen .Ich hätte vielleicht eine Anregung an die Verbände,die große Sportveranstaltungen vergeben: das IOC, dieFIFA, die UEFA und wer auch immer . Wenn sie sich da-rauf verständigen könnten – sie alle sind ja Unterstützerim Antidopingkampf –,
ihre Großereignisse zukünftig nur noch in Länder zu ver-geben, die ein Anti-Doping-Gesetz haben, so wie wir eshaben werden,
dann würden sie der Glaubwürdigkeit ihrer Verbände ei-nen Dienst erweisen .
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass die-se wirklich sehr, sehr lange Diskussion heute zu einemAbschluss geführt wird und wir mit diesem Anti-Do-ping-Gesetz nicht nur eine Kampfansage an die Doperformulieren, sondern vor allen Dingen die große MasseBundesminister Heiko Maas
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der ehrlichen Sportler besser schützen, als das in der Ver-gangenheit möglich gewesen ist .Schönen Dank .
André Hahn erhält nun das Wort für die Fraktion Die
Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Er-eignisse erschütterten in den vergangenen Tagen undWochen die Sportwelt: der FIFA-Skandal, in dessenFolge Sepp Blatter und UEFA-Präsident Platini suspen-diert wurden, der dringende Verdacht des Stimmenkaufsbei der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 anDeutschland mit einem katastrophalen Krisenmanage-ment des DFB, dessen Präsident dann zurücktretenmusste, sowie die Dopingskandale bei den LeichtathletenRusslands und dem Internationalen Leichtathletik-Ver-band; der Minister hat es eben angesprochen . Alle dreiEreignisse haben dem Sport, insbesondere dem Spitzen-sport, nachhaltig schweren Schaden zugefügt .Spätestens hier wird klar: Gegen Doping, Korruptionund Manipulation im Sport müssen die Sportverbände,die Politik und die Gesellschaft gemeinsam vorgehen,mit null Toleranz, national wie international . Auch des-halb hat die Linke bereits im August 2014 einen Antragauf Vorlage eines Anti-Doping-Gesetzes für den Sport inden Bundestag eingebracht . Deshalb unterstützt sie vomGrundsatz her das Vorhaben der Koalition, ein derartigesGesetz zu beschließen .Zugleich sind wir, die Linke, aber auch dafür, dass dieost- und westdeutsche Geschichte des Dopings und derManipulation im Sport konsequent aufgearbeitet wird .
Die im wahrsten Sinne des Wortes erst vor wenigenStunden getroffene Entscheidung, einen Entschädigungs-fonds für Dopingopfer mit einem Volumen von 10 Mil-lionen Euro einzurichten, ist ohne Zweifel ein richtigerSchritt . Wir brauchen aber endlich einen redlichen Um-gang mit der Geschichte, eine ehrliche Bilanz und eineakzeptable Lösung für die Dopingopfer in Ost und West .
Nun aber zum vorliegenden Anti-Doping-Gesetz . Am17 . Juni 2015 führte der Sportausschuss eine öffentlicheAnhörung zum Gesetzentwurf der Koalition sowie zumAntrag der Linken durch . In dieser Anhörung gab es zuvielen Punkten zum Teil sehr kritische Einwendungensowohl vom Leichtathleten und Olympiasieger RobertHarting als auch von Vertretern des DOSB sowie von derMehrzahl der anwesenden Juristen . Noch einmal: DieAnhörung fand Mitte Juni statt . An diesem Dienstag, alsoerst einen Tag vor der Beratung des Sportausschusses,bekamen wir dann einen mehrere Punkte umfassendenÄnderungsantrag der Koalition präsentiert .
Bis zuletzt war völlig offen, ob es innerhalb der Koalitionüberhaupt zu einer Einigung kommen würde .
Zwar steht das Anti-Doping-Gesetz, Herr KollegeSchmidt, im Koalitionsvertrag;
aber Union und SPD stritten sich bis zuletzt sprichwört-lich wie die Kesselflicker, sodass es fast ein Wunder ist, dass heute tatsächlich über einen gemeinsamen Entwurfabgestimmt werden kann .
Doch das, meine Damen und Herren und Herr KollegeGienger, ist fast schon die einzige positive Nachricht . Indem vorgelegten Änderungsantrag der Koalition sind dieaus meiner Sicht berechtigten Einwendungen aus der An-hörung nur unzureichend aufgenommen worden .Wir als Linke haben zu diesem Thema seit langemeine klare Position: Doping im Sport, um sich gegenüberanderen Sportlerinnen und Sportlern einen Wettbewerbs-vorteil zu verschaffen, gefährdet nicht nur die Gesund-heit, sondern ist auch eine Gefahr für den Sport als sol-chen und für die Werte, die durch ihn in die Gesellschafttransportiert werden .
Es geht hier nicht um das Recht auf Selbstschädigung .Hier geht es schlicht und einfach um Betrug; auch dagebe ich dem Minister recht . Genau deshalb haben wirvor anderthalb Jahren unseren Antrag eingereicht . Zuden Vorschlägen der Linken gehörte die Einführung ei-nes neuen Straftatbestandes Sportbetrug in das Strafge-setzbuch, die Erweiterung bestehender Strafvorschriftenfür den Handel mit Dopingmitteln sowie der zwingendeEntzug der Approbation für Ärztinnen und Ärzte, dienachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren .Pharmazeutische Unternehmen sollten verpflichtet wer-den, bei Produkten, welche zum Doping geeignet sind,entsprechende Warnhinweise auf den Verpackungen an-zubringen . Für den Schutz von Whistleblowern wolltenund wollen wir bereichsspezifische Regelungen schaffen. Mit unserem Antrag werden auch deutlich verschärfteSanktionen für Spitzensportlerinnen und -sportler vorge-schlagen, welche Eigendoping mit dem Ziel betreiben,sich einen unlauteren Vorteil im sportlichen Wettbewerbzu verschaffen . Bei Wiederholungstätern sollten auchFreiheitsstrafen verhängt werden können . Die Geldbu-ßen sollten sich jeweils an der Höhe der direkt oder mit-telbar durch den Sport erzielten Einnahmen orientieren,Bundesminister Heiko Maas
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könnten also, wie Gehalt, Siegprämien und Einnahmenaus Werbeverträgen, von Sportart zu Sportart durchausunterschiedlich sein .Anders als manche Skeptiker sehen wir in einem An-ti-Doping-Gesetz keine Beeinträchtigung oder Aushöh-lung der Sportgerichtsbarkeit . Beides kann problemlosnebeneinander funktionieren . Die Verbände können beiDopingvergehen weiterhin die in ihren Satzungen vor-gesehenen Wettkampfsperren aussprechen . Bei gravie-renden Verstößen gegen Dopingbestimmungen oder beiWiederholungstätern kann künftig aber auch die Staats-anwaltschaft tätig werden . Ich wiederhole: Das ist kei-ne unzulässige Doppelbestrafung . Schon heute wird einFußballer gemäß Regelwerk nach einer Tätlichkeit vomPlatz gestellt und entsprechend gesperrt; darüber hinauskann es dennoch ein Ermittlungsverfahren wegen Kör-perverletzung geben .
Bei Sportlern, die am Ende ihrer Karriere stehen, könnenWettkampfsperren aber gänzlich ins Leere laufen, wennsie ihre Laufbahn einfach beenden . Gerade hier erhöhteine Strafbarkeit von Doping die Hürde, sich entspre-chender Mittel zu bedienen .Bei der Einbringung unseres Antrags hatte ich zudemdeutlich gemacht, dass wir es für ganz wichtig halten,auch auf Bundesebene Prävention zu betreiben . Aus un-serer Sicht soll im Jugend- und Nachwuchssport, im Fit-nessbereich sowie in der Aus- und Weiterbildung der indiesem Umfeld tätigen Personen über die Wirkung vonanabolen Steroiden, Nahrungsergänzungsmitteln undsporttypischen Aufbaupräparaten aufgeklärt und eine un-abhängige Ombudsstelle eingerichtet werden .
Der von uns vorgelegte Antrag zielt hinsichtlich derstrafrechtlichen Maßnahmen ganz bewusst auf die Do-pinganwendung im Hochleistungssport, nicht aber aufdie gesundheitliche Gefährdung durch Selbstdoping oderdie Einnahme verbotener Substanzen, zum Beispiel vonAnabolika in Fitnessstudios . Dies kann weder in einemGesetz geregelt noch wirksam kontrolliert werden .Mit unserem Antrag wollten wir als Linke konstrukti-ve Vorschläge für ein Anti-Doping-Gesetz unterbreiten .Natürlich messen wir den nun vorliegenden Gesetzent-wurf an jenen Kriterien, die wir vor 16 Monaten formu-liert haben . Wenn man dies als Maßstab nimmt, mussman sagen, dass der Regierungsentwurf zwar in die rich-tige Richtung geht, zentrale Forderungen, die auch inder Anhörung formuliert wurden, aber unberücksichtigtlässt .Ich frage: Warum gibt es keine gesetzliche Verpflich-tung des Bundes zur Prävention? Warum hat man daraufverzichtet, endlich eine wirklich unabhängige Ombuds-stelle einzurichten, an die sich Athleten, Trainer, Ärzteoder auch Eltern von Sportlern vertrauensvoll wendenkönnen? Die bei der NADA geschaffene Stelle, auf dieman im Ausschuss hingewiesen hat, wird von den Betrof-fenen offenkundig nicht angenommen .
Das wurde in der Sitzung des Sportausschusses am Mitt-woch deutlich .
Mich persönlich wundert das nicht; denn ein Athlet, derirgendein Problem mit oder Hinweise auf Doping hat,wird sich nicht ausgerechnet an eine Institution wenden,die Dopingsünder verfolgt und die Daten für deren even-tuelle Bestrafung liefert . Wir brauchen endlich eine wirk-lich unabhängige Anlaufstelle .
Doch davon ist im Gesetzentwurf ebenso wenig dieRede wie von einem echten Schutz für Whistleblower .Aber ohne die Information von Insidern – das zeigen allebisherigen Erfahrungen – wird es kaum möglich sein,Dopingstrukturen aufzudecken und Hintermänner zurRechenschaft zu ziehen . Im vorliegenden Gesetzentwurffindet sich auch keine Kennzeichnungspflicht für Medi-kamente, die Dopingsubstanzen enthalten, keine klareRegelung zum Approbationsentzug für Ärzte, die Do-ping anwendungen unterstützen, obwohl dies gerade von-seiten der Sportler auch in der Anhörung gefordert wor-den ist . Die Koalition hat sich lediglich auf den kleinstengemeinsamen Nenner geeinigt . Das wird den Herausfor-derungen in diesem schwierigen Themenbereich nichteinmal ansatzweise gerecht . Wir als Linke unterstützendurchgreifende Maßnahmen zur Dopingbekämpfung .Der vorliegende Gesetzentwurf erfüllt diesen Anspruchleider nicht .Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekre-
tär im Bundesinnenministerium Günter Krings .
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Schon die Aussprache in der ersten Beratung zumvorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfungvon Doping im Sport hat gezeigt: Wir sind uns erfreuli-cherweise zumindest darin einig, dass Doping im Sportnicht nur den Sport unmittelbar gefährdet, sondern auchdie mit ihm verbundenen Werte; denn: Sport verbindet,und Sport vermittelt Werte wie Integrität und Fairness .Wird im Sport betrogen, fühlen sich nicht nur dieKonkurrenten betrogen, sondern auch wir, die wir alsZuschauer mitfiebern und sportliche Leistungen bewun-dern, ebenso wie junge Menschen, für die Sportler Idolesind, die in Sportlern Vorbilder sehen, die ihre Leistun-Dr. André Hahn
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gen durch hartes Training und Verantwortungsbewusst-sein erreichen und eben nicht durch den Gebrauch vonillegalen Substanzen . Was wir alle, Leistungssportler,Freizeitsportler oder eben nur Zuschauer, im Sport nichtwollen, das ist Betrug und Unfairness .
Es ist richtig: Wir können Doping im Sport nicht gänzlichausrotten . Das zu glauben, wäre naiv; das tut vermutlichauch niemand . Aber wir können das uns Mögliche tun,um Doping im Leistungssport einzudämmen und besserzu bekämpfen .Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzent-wurf ist mit seinen Strafvorschriften unter anderem anden selbst dopenden Leistungssportler adressiert; Brei-tensportler werden gerade nicht erfasst .Zum Teil ist die Kritik geäußert worden, Strafrecht seihier nicht das richtige Mittel, um gegen Doping vorzuge-hen, Sportler – so wurde gesagt – würden hierdurch kri-minalisiert . Meine Damen und Herren, Leistungssportler,die Dopingmittel oder Dopingmethoden anwenden, sol-len ja kriminalisiert werden . Das ist doch der Sinn desStrafrechts: als Ultima Ratio Täter eines sozial in hohemMaße als schädlich empfundenen Verhaltens mit straf-rechtlichen Sanktionen zu überziehen . So sieht das imRechtsstaat eben aus .
Das Sportrecht und seine Sanktionsmöglichkeitenhaben natürlich weiterhin Geltung . Aber es hat sich inder Vergangenheit eben gezeigt, dass der Sport alleinnicht in der Lage ist, wirkungsvoll gegen Doping imLeistungssport vorzugehen . Erlauben Sie mir in diesemZusammenhang die Bemerkung: Ohnehin scheint mir indiesen Tagen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die blo-ßen Selbstregulierungskräfte im deutschen und im inter-nationalen Sport ein wenig abzunehmen .
Die Probleme mit einer sportinternen Dopingbekämp-fung hängen zum einen mit dem Umstand zusammen,dass dem Sport die tauglichen Ermittlungsinstrumentefehlen . Dopingfälle können bisher im Wesentlichen nurverfolgt werden, wenn positive Dopingproben bereitsvorliegen . Sachverhalte, die zum Beispiel den Besitz vonDopingmitteln betreffen, waren in der Vergangenheitfaktisch bedeutungslos .Wir brauchen das Strafrecht aus generalpräventivenZwecken . Wir brauchen es aber auch aus Repressions-gründen . Ich verbinde mit den neuen strafrechtlichen Re-gelungen die Erwartung, dass das Entdeckungsrisiko fürden dopenden Sportler und damit für seine Helfer deut-lich gesteigert wird .Es geht beim Doping im Sport eben nicht nur um denEinzeltäter, nicht nur um den einen dopenden Sportler,es geht auch nicht nur um den einen Dopingmittel ver-abreichenden Arzt, sondern es geht hier um kriminelleStrukturen, ja, auch um organisierte Kriminalität . DieStrafvorschriften im Entwurf des Anti-Doping-Gesetzeserlauben den staatlichen Ermittlungsbehörden die um-fassende Sachverhaltsaufklärung über den Einzelfall hi-naus . Hierdurch können Strukturen aufgedeckt und kannDoping nachhaltiger und besser bekämpft werden .Die Sportgerichtsbarkeit – sie ist eben angesprochenworden – hat unstreitig ihre Berechtigung für Streitig-keiten im Sport, und sie wird diese Berechtigung auchbehalten . Das will ich hier sehr klar erklären .
Sie sorgt für schnelle Verfahren und auch für schnelle,sachgerechte Entscheidungen in vielen Einzelfällen .Darüber hinaus ermöglicht sie, die Besonderheiten desSports in ganz besonderer Weise zu berücksichtigen undgleichartige Fälle auch gleichartig zu behandeln, waswiederum der Fairness dient . Aber dem Sport selbst feh-len eben die Aufklärungsmöglichkeiten . Sportorganisati-onen fehlen die Aufklärungsmöglichkeiten, wie sie staat-lichen Ermittlungsstellen zur Verfügung stehen . Deshalbbrauchen wir beide: Sportgerichtsbarkeit und für diewirklich schweren Fälle als Ultima Ratio das Strafrecht .Über die Besitzstrafbarkeit wurde bereits ausführlichgesprochen . Ich denke, allen hier, die sich ein wenig in-tensiver damit beschäftigt haben, ist inzwischen klar ge-worden, dass nur der Besitz mit der Absicht, das Doping-mittel auch anzuwenden, unter Strafe gestellt werdensoll . Damit sind die immer wieder ins Feld geführten Fäl-le des Unterschiebens von Dopingmitteln – der Bundes-justizminister hat darauf hingewiesen – natürlich geradenicht von der Strafbarkeit nach dem Anti-Doping-Gesetzerfasst .
Deswegen sind auch die geäußerten Befürchtungen Un-sinn . Die Strafverfolgungsbehörden und letztlich das Ge-richt müssen den Vorsatz ersten Grades – so nennen dieJuristen das – nachweisen . Andernfalls gibt es keine Ver-urteilung . Vor dem Hintergrund, dass mit dem Gesetzent-wurf auch der mengenunabhängige Besitz unter Strafegestellt ist, ist es auch gut, dass wir die Versuchsstraf-barkeit im Hinblick auf den Besitz hier herausgenommenhaben .Bei allem darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dasses am allerbesten wäre, wenn es dieses Gesetzes über-haupt nicht bedurft hätte . Ich möchte deshalb ausdrück-lich auch auf die Präventionsarbeit hinweisen, die schonheute geleistet wird, allen voran von den Sportverbändenund auch der NADA . Die Präventionsarbeit geht dabeigerade auf die jungen Sportlerinnen und Sportler zu .Diese jungen Menschen müssen klar und deutlich und,wo nötig, auch drastisch erfahren – möglichst nicht erstdurch den Strafrichter –, was sie ihrem Körper, ja, wassie ihrer Seele durch Doping antun können .Meine Damen und Herren, wie alle anderen gesell-schaftlichen Bereiche stehen sportliche Aktivitäten na-türlich unter dem Schutz unserer Privatautonomie, unterdem Schutz entsprechender Grundrechte . Damit steht derSport aber natürlich nicht außerhalb unserer Rechtsord-nung . Durch ein Gesetz gegen Doping im Sport leistenwir deshalb unseren offenbar notwendigen Beitrag, denParl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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Sport dabei zu unterstützen, sauber und attraktiv zu blei-ben .Ich freue mich, dass wir über dieses notwendige Ge-setz heute abstimmen können . Dem integren Sportler undder integren Sportlerin, aber eben auch dem sauberenSport insgesamt tut dieses Gesetz gut . Ich bitte Sie daherum Zustimmung .
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrgeehrter Herr Maas, bei Ihrer Rede hatte ich ein Déjà-vu,und das lag nicht daran, dass in dem Darjeeling, den ichheute früh hier im Restaurant zum Frühstück getrunkenhabe, irgendetwas drin gewesen wäre .
Ich habe den Eindruck, Ihre Reden fangen immer so an:Heute ist ein toller Tag .
Na ja, heute ist Freitag, der 13 . Mir ist bisher nichts pas-siert . Insofern ist es ein toller Tag . Aber mit: „Heute istein toller Tag“, fing auch die Rede zur sogenannten Miet-preisbremse an .
Leider stellen wir später fest, dass sich die Realität nichtnach diesen Redebeginnen des Ministers richtet .
Es ist bei der Mietpreisbremse so und auch hier . Dasmuss man einmal feststellen .Auch wenn Sie, Herr Maas, Kritik an diesem Gesetz-entwurf zurückweisen, finde ich es putzig, dass wir in diesen Zeiten ein Gesetz verabschieden, dessen ersterParagraf mit „und damit zur Erhaltung der Integrität desSports beizutragen“ endet.
Erhaltung von Integrität?
Meine Damen und Herren, da stimmt schon das Zielnicht; denn der Leistungssport hat im Augenblick garkeine Integrität . Welche meinen Sie denn? Meinen Siedie, die sich im Schattenreich bewegen? FIFA-Funktio-näre?
Einige – mindestens einige – DFB-Funktionäre? Oderden Leichtathletik-Weltverband? Von welchem Erhalt,von welcher Integrität ist in diesem Gesetzentwurf ei-gentlich die Rede? Ich glaube, Sie doktern an einem un-sauberen Sport herum
und meinen, es jetzt mithilfe des Strafgesetzbuchs, indemSie gegen Einzelne vorgehen, richten zu können . MeineDamen und Herren, ich denke aber, dass sich so nichtsmassiv verändert .Geht es um die Frage, wie der Sport wirklich zu Inte-grität kommt, muss man doch feststellen, dass der Leis-tungssport heute gar keine Vorbildwirkung mehr hat,dass er von Abhängigkeiten und Seilschaften bestimmtist und dass wir dem eigentlich entgegensetzen müssten,dass in Zukunft die Standards tatsächlich zu Standardswerden sollen, dass Vergütungen offengelegt werden,dass Verträge nicht mehr mündlich geschlossen werdenund dann nach Jahren 2 Millionen Euro für bestimmteLeistungen gezahlt werden, bei denen keiner mehr sieht,ob sie erbracht wurden . Da hilft kein sogenanntes An-ti-Doping-Gesetz . Die Strukturen im Leistungssport sindvon Grund auf falsch . Das müsste unser Ausgangspunktsein .
Ich habe vorgestern zum ersten Mal die Situation er-lebt, dass Herr Grindel und ich einer Meinung waren .
Das war am Anfang der Legislaturperiode so nicht abzu-sehen, Herr Grindel .
– Ich glaube auch; wahrscheinlich ändert es sich jetztgleich . – Ich weiß gar nicht, ob er sich als Mitglied desSportausschusses oder des Rechtsausschusses, als Präsi-diumsmitglied des DFB oder als etwas Zukünftiges ge-äußert hat,
zumindest in diesem einen Punkt waren wir einer Mei-nung: Das gesamte System im Profisport ist falsch.
Ich glaube, so müssen wir darüber diskutieren . Eshilft nicht, Regelungen zur Strafbarkeit von Sportlern zuParl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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treffen, wenn man, wie jetzt beim Thema Leichtathle-tik – Stichwort: Russland usw . – merkt: Wir haben zwarInstitutionen, die zum Beispiel „Anti-Doping Agentur“ heißen, die es aber leider komplett verpassen, sich umgenau dieses Thema zu kümmern .
– Vertuschung, ja . – Meine Damen und Herren, wenn ir-gendeine andere Behörde so arbeiten und mit ihrer Auf-gabenstellung so umgehen würde, würden wir alle, wiebeim Thema Verfassungsschutz, sagen: Auflösen und neu gründen! Hier stimmt diese Forderung meines Erachtensauch .Ich will Ihnen sagen, warum ich das kritisch sehe undwarum ich auf die Strukturen eingegangen bin . Das Straf-recht soll Ultima Ratio sein . Ich glaube, Sie behandeln eshier nicht so . Winfried Hassemer hat einmal gesagt:Der Strafgesetzgeber– das sind wir -ist in der Wahl der Anlässe und der Ziele seinesHandelns nicht frei; er ist beschränkt auf den Schutzelementarer Werte des Gemeinschaftslebens …Ich sage Ihnen: Fairness oder Integrität im Sport sindkeine elementaren Werte des Gemeinschaftslebens . Dasist kein Fall fürs Strafrecht . Es ist Aufgabe des organi-sierten Sports selber, Doping und auch Korruption end-lich systematisch und ordentlich zu bekämpfen .
Ich mache mir langsam Sorgen um unser Rechtssystem,da es mit immer mehr Aufgaben belastet wird – das be-trifft den Staat, die Staatsanwaltschaften, die Gerichteund die Steuerzahler –, die ein hochpotenter Wirtschafts-bereich bitte selber erfüllen sollte . Man kann ja zum Bei-spiel über Betrug im Sport reden . Aber auch da muss dieUltima-Ratio-Regel gelten .Ich meine, heute ist kein besonders guter Tag .
Sport und Integrität werden in Zukunft erst dann wie-der, ohne zu einer Lachnummer zu werden, ordentlichin einen Satz passen, wenn sich der Sport und seineFunktionäre selber als Vorbilder auf den Weg machen .Die Vorbildfunktion und die Integrität beginnen bei denFunktionären und, ehrlich gesagt, nicht bei den Sportlern .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Freitag für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Rede der Kollegin Künast erlaube ich mir zu-
nächst, zur Sachlichkeit zurückzukehren .
Deutschland bekommt ein Anti-Doping-Gesetz, nach
rund zwei Jahrzehnten – nennen wir es einmal so – anhal-
tender, kontroverser und teilweise auch ziemlich verlet-
zender Diskussionen in Sport und Politik, mit und unter
Juristen . Einheitliche Linien waren in keinem der drei
genannten Bereiche zu erkennen . Es gab überall Befür-
worter und auch erbitterte Gegner .
Wenn ich mich recht erinnere: Allein die bloße Erwäh-
nung des Begriffes „Anti-Doping-Gesetz“ trieb manchen
Vertreter des organisierten Sports über Jahre geradezu auf
die berühmte Palme, aber – das ist, glaube ich, auch der
Kollegin Künast entgangen – nicht alle, längst nicht alle .
Es hatte sich nämlich mittlerweile auch bei Verbandsver-
tretern die Erkenntnis durchgesetzt, dass allein mit Kon-
trollen im Training und im Wettkampf der Kampf gegen
Doping nicht zu gewinnen ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Verabschie-
dung des heutigen Gesetzentwurfes findet in unserem
Land in der Tat ein Paradigmenwechsel statt . Liegt ein
Verdacht vor oder gibt es entsprechende Hinweise, steht
demnächst eben nicht nur, wie bisher, das Umfeld der
Sportler im Fokus, sondern der Sportler gerät auch selbst
in den Fokus staatlicher Ermittlungen, sofern er der defi-
nierten Zielgruppe angehört .
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf erreichen, dass
alles getan wird, um saubere Sportlerinnen und Sportler
zu schützen . Das alleine ist die Motivation .
H
Natürlich ist dieser Gesetzentwurf kein Allheil-mittel, aber er ist aus unserer Sicht ein ganz unverzicht-barer Baustein in diesem großen Puzzle des Kampfsgegen Doping .
Wollen wir denn wirklich weiterhin tatenlos zusehen,wie Betrüger im Sport – ob als Aktive oder, Frau Kolle-gin Künast, auch als korrupte Funktionäre, wie jetzt imInternationalen Leichtathletikverband – dem Sport mitseinen so wunderbaren Werten, wie Fairness, Respektund Völkerverständigung, schaden und ihn vor die Hun-de gehen lassen? Wir wollen das jedenfalls nicht .Ich muss sagen: Vor diesem Hintergrund wirkt es ge-radezu absurd, dass der erbittertste Widerstand über Jah-Renate Künast
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re ausgerechnet von der Spitze des organisierten Sportsin Deutschland gekommen ist .Frau Künast, ich sage Ihnen: Das, was Sie gerade ge-macht haben, geht nicht . Sie haben eine Pauschalverur-teilung des Sports vorgenommen .
– Ich höre immer zu, wenn Sie reden, Herr Kollege Mutlu; das gilt immer besonders, wenn jemand von derFraktion Die Grünen redet .
Frau Kollegin, diese Pauschalverurteilung des Sportswar eine Beleidigung für alle, die im Sport für Integritätund Sauberkeit kämpfen . Die gibt es nämlich auch . Scha-de, dass Sie sie offensichtlich nicht kennen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Do-ping reden, dann reden wir eben nicht über eine lästigeoder lässliche Begleiterscheinung im Sport . Nein, wir re-den mittlerweile nämlich über eine Industrie ungeahntenAusmaßes, unbestritten über eine Form von organisierterKriminalität und über unzählige Menschen, die auf dereinen oder anderen Seite involviert sind . Auf der einenSeite sind die Hersteller, die Dealer, die Verabreicher, dieKonsumenten, die Athleten mit ihren erbeuteten Siegen,Medaillen, Prämien und im Idealfall auch fetten Sponso-renverträgen, und auf der anderen Seite sind die Forscherin den Laboren, die Dopingjäger der nationalen Antido-pingagenturen – Russland im konkreten Fall einmal aus-genommen –, die Kontrolleure und eben die sauberenAthleten, die um Siege, Medaillen, Prämien, emotionals-te Momente und vielleicht auch fette Sponsorenverträgebetrogen wurden .
Die diesem Gesetzentwurf zugrundeliegenden straf-rechtlichen Regelungen werden die unbestrittenen Mög-lichkeiten des Sports zu schnellen Sanktionen des Sportsnicht schwächen und schon gar nicht aushebeln; dennes sind nicht vergleichbare Verfahren . Daher bleibt esauch in Zukunft so: Der Sport bleibt bei seinen schnellenSanktionen und der Staat bei seinen gegenüber dem Sportnatürlich unbestritten überlegenen Ermittlungsmethoden .Kurzum: Jeder soll das machen, was er am besten kann .Auch auf staatlicher Seite sehe ich noch ein wenigLuft nach oben; denn auch hier braucht es Experten . Die-se findet man ganz zweifellos in Anti-Doping-Schwer-punktstaatsanwaltschaften .
Und da muss ich schon darauf hinweisen, dass leider nur2 unserer 16 Bundesländer hier ernst machen, nämlichder Freistaat Bayern und das Bundesland Baden-Würt-temberg . Sie sind sozusagen einsame Vorreiter in derRiege der Bundesländer .
Ich appelliere daher an die Bundesländer, uns im Kampfgegen Doping zu unterstützen und ihren Teil dazu bei-zutragen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eingangsdarauf hingewiesen: Wir haben mehr als zwei Jahrzehnteum solch einen Gesetzentwurf gerungen. Ich finde, es ist an der Zeit, Dank zu sagen, Dank an alle, die zum Zu-standekommen des Gesetzentwurfs beigetragen haben .Da darf ich insbesondere Justizminister Heiko Maaserwähnen, der schon zu Beginn seiner Amtszeit klarge-macht hat, dass er so ein Gesetz möchte .
Ich danke auch meiner Fraktion, meiner Arbeitsgruppeund insbesondere dem Sprecher der Arbeitsgruppe Rechtund Verbraucherschutz, unserem Kollegen JohannesFechner, der uns ebenfalls nach Kräften unterstützt hat .Ein weiterer Dank geht an die Minister de Maizière undGröhe . Es war eine Gemeinschaftsaktion . Vielen Dankan alle, die dazu beigetragen haben, auch dem Koaliti-onspartner, der nach Anlaufschwierigkeiten nun mit imBoot sitzt . Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen,dafür .
Ich bin fest davon überzeugt, es wird für Doper in un-serem Land etwas ungemütlicher . Das ist doch wirklicheine gute Nachricht. Ich bin sicher, irgendwann finden auch Bündnis 90/Die Grünen das gut .
Nächster Redner ist der Kollege Özcan Mutlu für
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenes schon gehört: In den vergangenen Wochen hat uns dieWelt-Anti-Doping-Agentur ihren Bericht über deutlicheUnregelmäßigkeiten im Kampf gegen Doping vorgelegt .Die Ergebnisse, die in den Medien breit diskutiertworden sind, sind erschreckend: In Russland – ich glau-be, das ist nicht das einzige Land, das damit Problemehat – besteht ein von der Regierung gedecktes Systemdes organisierten Dopings . Unfassbar ist die Erkenntnis,dass die Tests erst von russischen Ärzten geprüft wordensind, bevor sie zu einem unabhängigen akkreditiertenDopinglabor gegangen sind . Wenige Tage zuvor nahmenfranzösische Behörden Ermittlungen gegen den Alters-präsidenten des internationalen Leichtathletikverbandesauf . Der Vorwurf war gravierend: Er habe mithilfe engerVerwandter ein Schmiergeld- und Schutzgeldsystem eta-Dagmar Freitag
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bliert, in dem sich gedopte und erwischte Sportler regel-recht freikaufen konnten .Diese Vorfälle sind Belege dafür, dass der organisierteSport ein massives und ernsthaftes Problem mit Dopinghat . Ich zitiere aus einer Studie aus Deutschland, desBISp, aus 2013:6 % der deutschen Spitzensportler geben die regel-mäßige Einnahme von Dopingmitteln ehrlich zu .
Meine Damen und Herren, wir lehnen wie alle Frak-tionen in diesem Hause Doping im Sport in aller Deut-lichkeit ab .
Frau Kollegin Freitag, das sollten Sie bereits mitbekom-men haben .
Wir wollen aber auch nicht verhehlen, dass der orga-nisierte Sport immer noch zu wenige Anstrengungenunternimmt, um Doping im Sport einzudämmen . Denndie Vorfälle beim IAAF und in Russland zeigen, dass esnicht nur der Sportler oder die Sportlerin ist, Frau Kolle-gin Freitag, sondern es sind die Strukturen um den Sport-ler, um die Athletin herum: Trainer, Ärzte, Funktionäre,aber auch Medien und Sponsoren, die ein starkes eigenesInteresse an Höchstleistungen des Sportlers haben .
Und da greift Ihr Gesetz eben nicht .
Wir als Gesetzgeber sollten Abstand davon nehmen,eine einseitige und so weitgehende Kriminalisierung derSportlerinnen und Sportler in Deutschland vorzunehmen .Herr Krings, genau das wird mit Ihrem Gesetz passieren .Deshalb haben wir damit ein Problem .Es geht beim Doping hauptsächlich um den Tatbe-stand Sportbetrug – das wurde hier auch vom KollegenHahn gesagt –, der mit der Absicht begangen wird, wirt-schaftliche Gewinne zu erzielen .
Kollege Mutlu, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Freitag?
Nein, ich habe nur noch 50 Sekunden Redezeit . Ich
möchte jetzt weiterreden .
Die Frage und die Antwort würden nicht auf Ihre Re-
dezeit angerechnet werden .
Ja, ich weiß, Herr Präsident . Aber ich möchte trotz-
dem in meiner Rede weitermachen .
Ich möchte für meine Fraktion noch einmal feststel-
len, dass der Griff zum Strafrecht, wenn überhaupt, nur
der allerletzte Schritt sein darf und gut begründet werden
muss. Ihre Begründung mit Begrifflichkeiten wie „Inte-
grität des Sports“ oder „Fairness im Sport“ greifen zu
kurz .
Wir müssen uns bei der Bekämpfung des Dopings
insbesondere mit der Leistungsspirale im Sport ausein-
andersetzen . Immer höher, immer schneller, immer wei-
ter und eine ausufernde Kommerzialisierung des Sports
sind die wahren Ursachen von Doping . Diese Ursachen
müssen wir gemeinsam mit dem Sport bekämpfen, statt
Begrifflichkeiten wie „Fairness im Sport“ zu bemühen.
Im Sport geht es leider nicht mehr um die olympische
Idee . Es geht um Milliarden, die dabei umgesetzt werden .
Diese Fakten, diesen Tatbestand sollte man in einem An-
tidopinggesetz abbilden .
Wir brauchen mehr Prävention, eine Evaluierung und
den Ausbau der Dopingforschung . Wir sind auch der
Meinung, dass eine rechtspolitisch fragwürdige Auswei-
tung von Befugnissen der NADA sehr problematisch ist .
Wir brauchen eine tatsächlich unabhängige Ombuds-
stelle oder eine Ombudsperson . Wir brauchen vielleicht
auch im Sport etwas Ähnliches wie einen Whistleblo-
wer-Schutz, damit Athletinnen oder Athleten, die der
Meinung sind, dass das Dopen von Kollegen nicht mehr
angeht, und dies aufgrund der Strukturen nicht offen sa-
gen wollen, geschützt sind .
Auf all diese Dinge wird in dem Gesetzentwurf nicht
eingegangen . Deshalb werden wir, obwohl wir mit Ihnen
an dem Ziel, Doping zu bekämpfen, festhalten, diesem
Gesetzentwurf nicht zustimmen .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Freitag .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Der Kollege Mutlu hateinmal darauf verwiesen, dass das Umfeld des dopendenÖzcan Mutlu
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Sportlers nicht erfasst würde . Das ist natürlich nicht rich-tig . Es war im Übrigen bisher schon so, dass das Umfelderfasst wurde . Ein Blick ins Arzneimittelgesetz würde imZweifel weiterhelfen .Herr Kollege Mutlu, es geht mir aber um einen ande-ren Punkt Ihrer Rede . – Herr Kollege Mutlu, ich weißnicht, wem Sie gerade zuhören, der Frau Kollegin Künastoder mir .
– Wunderbar! Multitalente beeindrucken mich immerbesonders .
Herr Kollege Mutlu, Sie haben vor allen Dingen kriti-siert, dass der dopende Sportler selbst in den Fokus staat-licher Ermittlungen rückt . Darf ich Sie darauf hinweisen,dass es erklärtes Ziel der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen in früheren Jahren war, genau dies zu machen? Ichdarf, Herr Präsident, dem Kollegen Mutlu kurz ein Zitatzur Kenntnis geben .Einer Ihrer Vorgänger, nämlich der anerkannteSport experte Winfried Hermann, heute Minister in Ba-den-Württemberg, wird im Jahr 2007 mit dem Hinweiszitiert, der damalige Gesetzentwurf der Großen Koaliti-on mache „einen weiten Bogen um den Sportler selber“; denn selbst mit den neuen Strafregelungen mache sichein Sportler, der dopt, nicht strafbar . – Das war damalsim Jahr 2007 richtig . Ich frage Sie jetzt: Woher kommtder Sinneswandel in Ihrer Fraktion, dass Sie heute kri-tisieren, dass diese Regierungskoalition genau das jetztdurchsetzen will?
Vielen Dank .
Der Kollege Mutlu hat die Möglichkeit, darauf einzu-
gehen, wenn er das möchte .
Ich kann es kurz und schmerzlos machen . – Frau
Vorsitzende des Sportausschusses, wenn Sie sich unse-
ren Entschließungsantrag zu Ihrem Gesetzesvorhaben
gründlich durchgelesen hätten,
würden Sie wissen, dass es hier nicht um einen grundle-
genden Sinneswandel geht,
sondern es geht darum, dass wir das Strafgesetz erst im
allerletzten Fall bemühen wollen . Es steht im Entschlie-
ßungsantrag ganz ausdrücklich: Wenn keine anderen
Wege möglich sind, dann ist natürlich auch die Einfüh-
rung eines Straftatbestands Sportbetrug zu prüfen . Das
ist, denke ich, deutlich und klar, und wenn Sie sich das
noch einmal durchlesen, werden Sie es auch merken .
Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege
Eberhard Gienger .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Künast, zunächst einmal muss ich meiner KolleginFrau Freitag recht geben: Mit Pauschalverurteilungendes Sports kommen Sie nicht weiter . Und was den Bei-fall in diesem Hause betrifft, wurde ich an Karl Valentinerinnert, der sagte: „Der Beifall wollte keinen Anfangnehmen.“
Das vorliegende Gesetz stellt einen bedeutenden Fort-schritt im Kampf gegen Doping dar . Die Vergangenheithat uns gelehrt, dass der organisierte Sport offensichtlichdoch nicht in der Lage ist, das Dopingproblem in denGriff zu bekommen . Darüber hinaus zeigt sich aktuell –das wurde heute schon mehrfach erwähnt –, dass derWeltleichtathletikverband eine erschreckende Szenerievon nie dagewesenem Ausmaß generiert hat . Darin istwohl nicht nur der ehemalige Präsident des Verbandes in-volviert, sondern auch gleich noch ein von der internati-onalen Anti-Doping-Agentur akkreditiertes Dopinglaborin Russland, nationale Fachverbände, Trainer und nichtzuletzt auch die dopenden Sportler selbst .Eine derartige Erosion und Zerstörung der Ideale desSports hat es meiner Meinung nach noch gar nie gege-ben . Wie soll man im Kontext derartiger Abgründe fürden Sport werben und junge Menschen für den Spitzen-sport gewinnen, um an internationalen Wettbewerbenteilzunehmen? Nicht zuletzt stellt sich aber auch dieFrage nach der Grundlage unserer Sportförderung . Mitdem vorliegenden Anti-Doping-Gesetz machen wir klar:Die Förderung rechtfertigt sich nur dann, wenn wir auchDagmar Freitag
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entschlossen gegen Doping vorgehen, und zwar nationalwie international .Doping, Korruption und Manipulation sind längst in-ternationale Phänomene und eine ernsthafte Bedrohungvon Sport und Gesellschaft . Dem Doping sagen wir mitdem Gesetz jetzt den Kampf an, aber bestimmt nicht denEngagierten, die zur Aufklärung beitragen . Der Fall beiminternationalen Leichtathletikverband offenbart: Ohnetiefgreifende Veränderungen und Konsequenzen läuft derSport Gefahr, die eigenen Grundwerte zu zerstören .
Die Sportorganisationen sind deswegen aufgerufen, jetztentschlossen zu handeln . Es hilft jedoch nicht, dabei nurauf andere Länder zu zeigen, nachlässige Verbände zuverurteilen oder bei überführten Sportlern den Kopf zuschütteln . Wie können wir international Aufklärung for-dern, ohne hierzulande den Antidopingkampf weiterzu-entwickeln?
Die bekannten Dopingfälle verdeutlichen, dass hoch-professionell, verdeckt, vernetzt und mit enormer krimi-neller Energie vorgegangen wird . Dem kann der organi-sierte Sport nur schwer etwas entgegensetzen,
wobei der Glaube an die Selbstreinigungskräfte desSports hier auch gar keine Rolle spielt . Deswegen brau-chen wir das vorliegende Anti-Doping-Gesetz und dasStrafrecht mit Ultima Ratio .Der Sport nimmt in unserem Land eine wichtige Po-sition und Vorbildfunktion ein . Die Integrität des Sports,die Gesundheit der Athleten und auch die Fairness unddie Chancengleichheit gilt es – und in letzter Instanz auchmit dem Strafrecht – zu schützen . Ich kann die Grünenhier durchaus beruhigen: Bei der Auswahl der genann-ten Rechtsgüter hat der Gesetzgeber Ermessensspielraumeingeräumt . Wesentlich ist, dass der Bestimmtheits-grundsatz und die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben .Lieber Özcan Mutlu, die Evaluierung haben wir auch insGesetz aufgenommen .
Letzteres zeigt aber auch – zumindest was die Ver-hältnismäßigkeit bei der Abgrenzung der Zielgruppenbetrifft –: Der Gesetzgeber hat sich bewusst auf die Spit-zensportler konzentriert, und zwar im Testpool der Na-tionalen Anti Doping Agentur . Aber auch jene Personensind vom Gesetz betroffen, die durch Spitzensport Ein-nahmen von erheblichem Umfang erzielen . Schließlichist es so, dass im Spitzensport durchaus hohe Preisgelderbei den Sportwettbewerben und dadurch auch Vermö-gensvorteile zu erzielen sind .Wir sind also beim Adressatenkreis mit Augenmaßvorgegangen . Nicht einbezogen sind die Breitensport-ler, die Medikamentenmissbrauch betreiben . Sie werdenvon der Schiedsgerichtsbarkeit aber dennoch erfasst,aber nicht von der strafrechtlichen Seite . Damit es aberzu keinen Missverständnissen kommt: Wer, egal wo, mitanabolen Steroiden handelt, kann auch nach bisherigerRechtsprechung belangt werden .Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz auf die Anträgeder Opposition eingehen, da hier deutliche Unterschie-de sichtbar werden . Ich frage mich, welches politischeSignal die Grünen eigentlich mit der Ablehnung des An-ti-Doping-Gesetzes verbinden, gerade mit Blick auf dieLeichtathletik . Wie wollen Sie denn Dopingbetrug fest-machen? Frei nach dem Motto: Legalisierung von Can-nabis, dann auch Legalisierung von Dopingmitteln?Lieber Özcan Mutlu, ich habe gestern von dir imDeutschlandfunk ein Zitat gehört . Das möchte ich hierkurz vortragen:Wir können nicht auf der einen Seite für die Legali-sierung von Cannabis einstehen– das muss man ohnehin nicht –und auf der anderen Seite den Besitz von leistungs-steigernden Mitteln … unter Strafe stellen .
Das ist einfach ein Widerspruch in sich . Und des-halb finden wir: Das Recht auf Selbstschädigung ei-nes Menschen – egal ob er Leistungssportler ist odernicht –, das hat er, und da kann man nicht mit Gesetzdem irgendwie das Ganze verbieten .
Da stelle ich mir doch ernsthaft die Frage – das lässtmich total ratlos zurück –, wie das gemeint sein soll .Vielleicht kannst du mir nachher weitere Informationendarüber geben . Als Sportpolitiker müsste man zumindestwissen, dass privater Rausch und Manipulation im Spit-zensport nicht das Gleiche sind .
Vielmehr muss man die Gesundheit der jungen Men-schen in den Fokus nehmen .
Herr Kollege Gienger, gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge des Kollegen Mutlu?
Natürlich, gerne .
Herr Kollege Gienger, würden Sie zur Kenntnis neh-men, dass es in diesem Deutschlandfunk-Interview umden Tatbestand der uneingeschränkten Besitzstrafbarkeitging? Das ist für uns zu weitgehend . Deshalb habe ichauf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht . Wenn Sienur diesen einen Satz aus dem längeren Interview her-Eberhard Gienger
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ausnehmen, ist das nicht anständig . Aber egal, ich wolltedas einmal zur Klarstellung sagen . Nehmen Sie das zurKenntnis, und sagen Sie, was noch so in dem Interviewsteht .
Ich weiß nicht, ob ich das noch alles vortragen darf .
Das liegt bei Ihnen .
Es ist für mich auf jeden Fall eindeutig . Wenn ich die-
sen Satz aus dem Interview betrachte, muss ich mir doch
die Frage stellen dürfen, ob Sie demzufolge Dopingmit-
tel legalisieren wollen .
Das liest sich hier so . Ich kann es bedauerlicherweise
nicht anders interpretieren .
Die Vorschläge der Linken sind hingegen konkreter,
nur sind sie bedauerlicherweise längst überholt . Die
Finanzierung der NADA haben wir bereits sicherge-
stellt . Einen unabhängigen Ombudsmann haben wir in
Deutschland seit 2012, lieber André Hahn .
Noch ein Punkt: Bereits nach geltender Rechtslage kann
einem Arzt die Approbation entzogen werden, wenn die-
ser Doping unterstützt .
Prävention wird durch NADA und die Verbände bereits
betrieben .
Insofern verstehe ich die Kritik der Linken nicht so recht .
Eigentlich müssten sie dieses Gesetz doch unterstützen
und mit wehender Fahne in der Hand dem Gesetz vo-
rauslaufen .
Das tun sie bedauerlicherweise nicht .
Das vorliegende Anti-Doping-Gesetz wird in der
Sportgerichtsbarkeit keine Widersprüche hervorrufen,
sondern sie sinnvoll ergänzen und nicht beschneiden . Das
haben wir schon mehrfach gehört . Auch in anderen Le-
bens- und Rechtsbereichen existieren staatliche Gerichte
neben Schiedsgerichten . Die Sportschiedsgerichtsbarkeit
haben wir im Anti-Doping-Gesetz gestärkt . Sie ist wei-
terhin zentral, wenn es darum geht, das internationale
Regelwerk im Sport durchzusetzen und überführte Spit-
zensportler umgehend für einen Wettkampf zu sperren .
An dieser Stelle möchte ich mich ebenfalls ganz herz-
lich bei dem Justiz-, dem Innen- und dem Gesundheits-
ministerium ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit
bedanken . Wie bereits angekündigt, werden wir zudem
einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Korrupti-
on und Manipulation im Sport bald diskutieren . Dieses
zweite wichtige Vorhaben befindet sich in der Verbän-
deanhörung . Ich denke, wir sind hier auf einem guten
Weg .
Bevor der abschließende Redner, Kollege Grindel, das
Wort hat, erteile ich das Wort zu einer Kurzintervention
dem Kollegen André Hahn .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Herr Kollege Gienger,
Sie haben gesagt, die Dinge, die in unserem Antrag ste-
hen, seien überholt, und haben zwei Punkte genannt, die
so nicht korrekt sind .
Zum einen haben Sie auf den Ombudsmann verwie-
sen, der angeblich unabhängig sei . Ich habe vorhin in
meiner Rede darauf hingewiesen, dass er der Nationa-
len Anti Doping Agentur zugeordnet ist, der Behörde,
die Doping verfolgt, die Dopingsünder bestraft, die aus
Sicht der Betroffenen keine unabhängige Stelle ist . Wir
brauchen einen Anlaufpunkt, der die Dopingverfolgung
vornimmt, der sich aber nicht im Zusammenhang mit
dieser Organisation befindet. Das ist nicht geregelt und
demzufolge nicht korrekt .
Zum anderen haben Sie gesagt, dass die Approbation
aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften schon jetzt
entzogen werden kann . Ich möchte Sie fragen: Wie oft
ist das in Deutschland wegen Doping passiert? Können
Sie einmal darstellen, wo das bislang stattgefunden hat?
Es gibt andere Punkte, zu denen Sie gar nichts ge-
sagt haben, die aber auch in unserem Antrag stehen . Die
Kennzeichnung von Arzneimitteln, in denen Dopingstof-
fe enthalten sind, ist nicht geregelt . Die Frage des Schut-
zes von Whistleblowern ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht
geregelt . Das zeigt, dass unser Antrag Forderungen ent-
hält, die deutlich über das hinausgehen, was im Gesetz-
entwurf steht . Deshalb ist der Antrag nicht überholt, son-
dern höchst aktuell .
Herr Kollege Gienger, möchten Sie darauf antwor-ten? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann haben Sie das Wort .Özcan Mutlu
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Schönen Dank . – Herr Präsident! Lieber Kollege
André Hahn, ich bleibe beim „du“, auch wenn du mich
mit „Sie“ angesprochen hast.
Die Prävention durch die NADA und die Verbände
wird vorgenommen . Die NADA unterstützt die Sportler
und die Verbände und ist nicht nur dafür da, zu kontrol-
lieren . Sie ist eine Hilfestellung für die Sportler .
Noch eines: Die NADA sperrt die Sportler nicht, son-
dern das machen die Verbände . Vor diesem Hintergrund
kann man das nicht ohne Weiteres stehen lassen .
Zur zweiten Frage, dem Entzug der Approbation . Dies
ist in § 3 Absatz 1 Nummer 2 der Bundesärzteordnung
geregelt . Hierfür sind die Landesbehörden zuständig .
– Wenn ein Arzt Doping unterstützt, dann kann ihm die
Approbation entzogen werden . Daran führt kein Weg
vorbei .
Schließlich gebe ich zu: Wir können, was das Gesetz
angeht, durchaus noch einige Themen mit aufnehmen,
beispielsweise die Kennzeichnungspflicht bei Arzneimit-
teln . Dafür haben wir aber auch einen Evaluierungspa-
ragrafen . Nach spätestens fünf Jahren wird das durchge-
zogen . Wenn dann bessere Erkenntnisse vorliegen, wie
beispielsweise zur Kennzeichnung von Arzneimitteln,
dann kann es durchaus umgesetzt werden .
Jetzt hat zum Abschluss dieser Aussprache der Kol-
lege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bei diesem Thema ist die entscheidende Frage: Reichtdie sportrechtliche Sanktion aus, oder brauchen wir dasStrafrecht?
In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Mutlu,haben Sie die anonyme Untersuchung der DeutschenSporthochschule angesprochen und darauf verwiesen,dass über 5 Prozent der Sportler angegeben haben, siewürden dopen . Sie haben nicht angesprochen, dass über40 Prozent der Sportler diese Frage gar nicht beantwortethaben .
Insofern kann man sagen: Egal ob das Dunkelfeld beieiner Größenordnung von über 5 oder annähernd sogarin Richtung 40 Prozent liegt, es ist jedenfalls deutlichhöher als die 0,1 Prozent der positiven Dopingtests, diedie NADA auch im letzten Jahr gefunden hat . Deswegensage ich Ihnen: Ich halte es für einen klaren Widerspruch,dass man auf der einen Seite die Diagnose eines ernst-haften Problems im Sportsystem anspricht und auf deranderen Seite sagt: Dieses Sportsystem soll sich alleinauf interne Maßnahmen beschränken .Gerade diese Untersuchung, die zeigt, dass die NADA-Dopingtests bisher zu unzureichenden Ergebnis-sen geführt haben, macht deutlich, wie richtig in der Tatunsere Überzeugung ist: Wenn man gegen Doping durch-greifende Maßnahmen ergreifen will, dann geht das nurüber das Strafrecht . Diesen Schritt vollziehen wir heute,liebe Kolleginnen und Kollegen .
Das hat die NADA auch bei der öffentlichen Anhö-rung bestätigt . Der Justiziar der NADA hat uns klipp undklar erklärt – ich zitiere –:Wir haben in jedem Jahr mindestens 25 Anzeigen,die wir an die Staatsanwaltschaften richten . Wenndiese nicht gerade in Freiburg oder München– wo es Doping-Schwerpunkt-Staatsanwaltschaftengibt –ankommen, werden sie schneller eingestellt, als wirsie tippen können . Das liegt nicht daran, weil dieKolleginnen und Kollegen Staatsanwälte nicht han-deln wollen, sondern sie schlichtweg nicht handelnkönnen, weil sie kein strafbares Verhalten oder kei-nen Anfangsverdacht sehen . . .Wenn wir also gegen Doping durchgreifen wollen,dann brauchen wir Staatsanwaltschaften und Polizeibe-amte, die auch durchgreifen können, dann brauchen wirStraftatbestände, die ihnen helfen, gegen die zu ermit-teln, die Fairness im Sport mit Füßen treten, dann brau-chen wir das Strafrecht im Kampf gegen Doping, liebeKolleginnen und Kollegen .
Die Experten haben uns auch deutlich gemacht, dasses zum Beispiel ohne die Antidopinggesetze in Frank-reich oder Italien nicht möglich gewesen wäre, zum Bei-spiel gegen Doping im Radsport wirklich durchzugrei-fen . Aufgrund dieses Zusammenhangs habe ich in derTat gesagt, Frau Kollegin Künast, dass Sie mit Ihrer Be-merkung recht haben, dass die ganze Konstruktion nichtinteger ist . Ich habe mich auf die Situation in Russlandund die unzureichende Reaktion des Weltleichtathletik-verbandes bezogen . Insofern verstehe ich Ihre Positionnicht, dass Sie gleichzeitig gegen strafrechtliche Maß-nahmen sind und sich nur für sportrechtliche, also nur fürinterne Sanktionen aussprechen . Wenn man sagt: „Dieganze Konstruktion ist nicht integer“, dann kann man doch nicht glauben, dass die sportrechtlichen Sanktionenplötzlich zu dieser Integrität führen . Wenn man bei ei-ner Konstruktion, die nicht integer ist, durchgreifen will,dann muss man vielmehr von außen Maßnahmen ergrei-
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fen, dann müssen wir das Strafrecht im Kampf gegen Do-ping anwenden, liebe Freunde .
Für strafrechtliche Maßnahmen ist es nötig, Rechtsgü-ter zu benennen, die wir schützen wollen . Wer dopt, derbetrügt und der mindert im Spitzensport die Verdienst-möglichkeiten von anderen Sportlern, der beschädigtVermögensinteressen von Vereinen und Sportveranstal-tern . Insofern ist es konsequent – das darf nicht überse-hen werden –, dass wir das Rechtsgut des Vermögensauch mit dem vorliegenden Anti-Doping-Gesetz schüt-zen wollen .Aber wir wollen in der Tat auch das Rechtsgut derIntegrität des sportlichen Wettbewerbs schützen . Ange-sichts der großen gesellschaftlichen Integrationskraftdes Sports, angesichts von 28 Millionen Mitgliedern desDOSB und vor dem Hintergrund der großen Aufmerk-samkeit einer ganzen Nation bei sportlichen Großveran-staltungen, die ansonsten im digitalen Zeitalter in vielekleine Teilöffentlichkeiten zerfällt, kann man doch nichtbestreiten, dass dem Schutz der Integrität des sportlichenWettbewerbs eine wachsende Bedeutung zukommt .
Zu Recht investieren wir als der Bund dreistellige Mil-lionenbeträge in den Spitzensport . Wir wissen, wie wich-tig erfolgreiche Sportidole als Motivation für Kinderund Jugendliche sind, um selbst Sport zu treiben . Aberwenn sich ein Jugendlicher in Zukunft fragt: „Lohnt essich, die Strapazen des Trainings auf mich zu nehmen?“, dann wollen wir ihm zumindest sagen können: Wenn dudich anstrengst und wenn du Talent hast, dann hast du imSport alle Chancen, weil nur deine Leistung zählt undnicht die Leistung deiner behandelnden Ärzte oder dieSkrupellosigkeit deiner Betreuer . – Für diejenigen, diedaran glauben, dass es im Sport mit rechten Dingen zu-geht, brauchen wir Rahmenbedingungen, die es ermögli-chen, auch durchzugreifen . Deswegen schaffen wir jetzteine entsprechende strafrechtliche Vorschrift, liebe Kol-leginnen und Kollegen .
Adressaten dieses Gesetzes sind ausschließlich Spit-zensportler, die dem Testpool der NADA angehören oderin erheblichem Umfang ihre Einnahmen aus dem sport-lichen Wettbewerb beziehen . Dem wird nun entgegenge-halten – auch das ist hier heute Morgen gesagt worden –,auch der Breitensportler dürfe sich doch wohl nichtdopen und müsse bestraft werden . Natürlich muss auchMax Mustermann, der beim Berlin-Marathon mit einemDopingmittel erwischt wird, bestraft werden und aus demWettbewerb ausscheiden . Aber bei ihm reicht es aus – dasist wahr –, ihn nach Sportrecht zu sanktionieren . Wederläuft er beim Berlin-Marathon aus finanziellen Gründen mit und würde die Einkünfte seiner Konkurrenten durchEinnahmen, die er aufgrund von Doping erzielte, schmä-lern, noch verlieren junge Leute den Glauben an den sau-beren Sport, wenn Max Mustermann gedopt ist .Das kann aber eben bei Läufern aus dem Testpool derNADA schon völlig anders aussehen . Da gucken jungeLäufer schon genau hin, wie sich ihre Vorbilder aus ih-rem Verein oder dem DOSB-Team schlagen . Da geht esdann auch schon um Sieg- oder Platzprämien, um Sport-fördermittel oder Unterstützung durch die Sporthilfe .Deshalb ist es doch völlig klar: Je mehr ein Sportler fürdie Integrationskraft und den Vorbildcharakter des Sportssteht und damit auch Geld verdient, umso mehr muss ihndie volle Härte des Strafrechts treffen, wenn er dopt unddamit die Ideale des Sports geradezu mit Füßen tritt, lie-be Kolleginnen und Kollegen .
In der Tat: Wir haben neben der Ausweitung des Tatbe-stands Doping auch auf ausländische Trainingsaufenthal-te und dem Verzicht auf eine Versuchsstrafbarkeit beimBesitz von Dopingmitteln wegen der starken Vorverlage-rung der Strafbarkeit im Rahmen der Ausschussberatun-gen als Drittes auch die tätige Reue eingeführt . Zu Rechtist vom Minister erwähnt worden, dass im Strafrecht dietätige Reue nichts Neues ist . Sie wird insbesondere beisolchen Delikten vorgesehen, bei denen die Strafbarkeitbereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Tathandlunggegeben ist . Eine solche tätige Reue muss natürlich frei-willig und nach außen hin deutlich sichtbar erfolgen .
Die tätige Reue ist notwendig wegen der besonderenKonstruktion unseres Gesetzes . Wenn ein Sportler, be-vor er das Dopingmittel zum ersten Mal einnimmt, sichdann doch entschließt, den fairen Weg des Sports nichtzu verlassen und auf rechtmäßige Weise um Siege undTitel zu kämpfen, dann steht er nämlich vor einem Di-lemma: Auch wenn er das Dopingmittel zum Beispielgegen Quittung bei einer Apotheke abgibt und damit dasRechtsgut der Integrität des sportlichen Wettbewerbsnicht tangiert hat, würde er ohne die tätige Reue trotzdemwegen Besitzes eines Dopingmittels bestraft werden,weil er diese Deliktsform bereits vollendet hat, indem erdas Mittel zum Beispiel eine Zeit lang bei sich zu Hauseaufbewahrt hat .Mit der tätigen Reue wollen wir dem sozusagen wan-kenden Sportler eine Brücke zurück ins gesetzmäßigeVerhalten bauen . Ohne diese neue Vorschrift gäbe es jagar keinen Anreiz für einen Sportler, über den Weg zu-rück zu Fairness und Integrität nachzudenken, weil er jawüsste: Wegen Besitzes bist du sowieso dran . – Nein, wirwollen den Sportlern und Athleten in Deutschland sagen:Wer sauber bleiben will, dem bieten wir eine Möglich-keit, zu Fairness und Integrität zurückzukehren . Deswe-gen ist diese Ergänzung des Gesetzes von großer Bedeu-tung, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Die Integrität des sportlichen Wettbewerbs – Staats-sekretär Krings hat darauf hingewiesen – wird nicht nurdurch Doping, sondern auch durch Spielmanipulationgefährdet . Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass dasReinhard Grindel
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Bundesjustizministerium jetzt die Abstimmung mit denLändern und Verbänden eingeleitet hat und wir unverzüg-lich zu einem Kabinettsbeschluss und hier im Bundestagzu einer Beratung des Gesetzes gegen Spielmanipulationkommen werden . Wir brauchen den umfassenden Schutzder Integrität des sportlichen Wettbewerbs, und daraufhaben wir uns auch im Koalitionsvertrag verständigt .Eine Anmerkung zum Schluss . Wir, zumindest dieAbgeordneten der Koalition, sind davon überzeugt, dassdieses Gesetz gut ist für den deutschen Sport . Und dochwissen wir, dass der Deutsche Olympische Sportbunddieses Gesetz bis heute ablehnt .
Ich bedauere das . Deshalb sage ich: Ich bin zutiefst da-von überzeugt, dass es für die Integrität des Sports, seineIntegrations- und Strahlkraft nicht in erster Linie daraufankommt, unbedingt immer Gold zu gewinnen .
Vielmehr kommt es darauf an, immer Fairness und An-stand im Sport zu verwirklichen und auf keinen Fall zuverlieren . Das ist die Botschaft dieses Gesetzes .Herzlichen Dank fürs Zuhören .
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Be-
kämpfung von Doping im Sport . Es liegt mir dazu eine
schriftliche Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unse-
rer Geschäftsordnung vor .1)
Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/6677, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/4898 in der Aus-
schussfassung anzunehmen . Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke angenommen .
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .
1) Anlage 2
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/6687 .
– Bleiben Sie bitte noch auf Ihren Plätzen; wir haben
noch Abstimmungen . – Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stim-
men von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke abgelehnt .
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b . Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Sportaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6678, den Antrag der Fraktion Die Lin-
ke auf Drucksache 18/2308 abzulehnen . Wer für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte
ich um ein Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen gibt es keine . Die Beschlussempfehlung des
Ausschusses ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Bärbel Höhn, Renate Künast,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Dem CETA-Abkommen so nicht zustimmen
Drucksache 18/6201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
höre ich keinen . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Katharina Dröge von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist noch nicht lange her, dass wir hier imBundestag über das Freihandelsabkommen TTIP mit denUSA diskutiert haben . Heute geht es um das Freihan-delsabkommen CETA mit Kanada . Aus unserer Sicht istes auch dringend erforderlich, dass der Bundestag überReinhard Grindel
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dieses Freihandelsabkommen ausführlich und detailliertdiskutiert .
Ich möchte Ihnen auch erklären, warum das aus unsererSicht so notwendig ist .Der CETA-Vertragstext liegt mittlerweile schon überein Jahr vor . Im August letzten Jahres hat die Bundesre-gierung uns das ausverhandelte Dokument zugeschickt .Seitdem ist nur eines klar, nämlich dass nichts klar ist .Weder wann, weder wo noch was beschlossen wird, istbislang klar . Und dazu tragen Sie als Regierung maßgeb-lich bei .
So behauptet beispielsweise die Bundesregierung, inPerson des Bundesministers Sigmar Gabriel, dass CETAnachverhandelt werden könne . Er hat auch auf meineschriftliche Frage eine Reihe von Punkten genannt, diedie Bundesregierung gerne in diesem Abkommen nochnachverhandeln möchte . Er nennt das nicht Nachver-handlung; denn das könnte problematisch sein . Er nenntdas Präzisierung von Rechtsbegriffen, nennt uns dannaber erhebliche Dinge, die im Rahmen dieser Präzisie-rung von Rechtsbegriffen noch nachverhandelt werdensollen . Immerhin sagt er jedoch, dass er am Vertrag nochetwas ändern möchte .Gleichzeitig sagt aber die EU-Kommissarin, die fürdieses Thema zuständig ist, dass der Deal closed ist, dasheißt, dass am Abkommen nichts mehr geändert werdenkann. In dieser Unsicherheit befinden wir uns jetzt als Bundestag. Und ich finde, es ist relevant, darüber ein-mal zu diskutieren . Denn wenn Herr Gabriel recht habensollte – wir würden ihn ja darin unterstützen, dass dasAbkommen noch einmal aufgemacht werden sollte, umentscheidende Punkte zu verbessern –, dann wäre es aberauch sinnvoll, dass wir hier im Bundestag im Rahmendieser Nachverhandlungen beteiligt werden .
Aus meiner Sicht geht es nicht, dass sich ein Bundes-wirtschaftsminister allein so ein paar Punkte ausdenkt,die er im Rahmen dieses Abkommens bis Dezember oderJanuar – wir wissen ja noch nicht einmal, wie lange dieseRechtsförmlichkeitsprüfung noch dauern wird – in Brüs-sel noch irgendwie unterschummeln will, und wir danachdas fertige Ding dann nur noch zur Abstimmung bzw .zum Abnicken vorgelegt bekommen . Da können wir alsParlament kein einziges Wort mehr am Vertragstext än-dern . Wir können dann nur noch Ja oder Nein sagen . Dasist ein Problem . Deswegen zielt unser Antrag darauf ab,dass wir als Bundestag beteiligt werden, falls denn Nach-verhandlungen möglich sind .
Die zweite Konfusion betrifft den Inhalt des Vertrags-textes . Um die Schiedsgerichte haben wir hier schonhart gerungen . Sie kennen unsere Position . Wir kennenmittlerweile die Position von Frau Malmström, wissenaber auch, dass sie diese Positionen in CETA nicht mehrverhandeln wird . Ein weiteres unklares Element in die-sem Abkommen ist aber die Beteiligung der Parlamente,wenn der Vertragstext einmal abgeschlossen ist .Laut CETA ist ja ein sogenannter Hauptausschussvorgesehen, der die Kompetenz haben wird, in Rück-kopplung mit dem Europäischen Rat die Anhänge undProtokolle des Vertragstexts zu ändern . Wir haben dieBundesregierung gefragt: Wie bewerten Sie das? Darauf-hin bekamen wir erst die Antwort: Dieser Hauptausschusskann auf keinen Fall eigenmächtig, ohne Beteiligung desParlamentes, den Vertragstext verändern . – Dann habenwir noch einmal nachgefragt, haben auf Textstellen in ei-nem Gutachten verwiesen, haben auch auf Textstellen inden europäischen Verträgen verwiesen und gesagt: Wennman diese Textstellen zugrunde legt, dann ist doch nichtrechtssicher geklärt, dass das Europäische Parlamentauch beteiligt werden muss .Es gab einen ziemlich langen Schriftwechsel zwi-schen uns, also zwischen Frau Haßelmann und derBundesregierung . Und irgendwann – genau gesagt, wares gestern – hat Herr Machnig dann zugegeben: Ja, esstimmt . In den Verträgen steht tatsächlich, dass es dieMöglichkeit gibt, ein sogenanntes schnelles Verfahrendurchzuführen, bei dem das Europäische Parlament nichtbeteiligt ist .Das ist keine Art des Umgangs mit dem Parlament .Wir haben zigmal nachfragen müssen, um eine relevanteFrage zu klären, nämlich die demokratische Beteiligungvon Parlamenten . Die Bundesregierung hatte es entwedernicht auf dem Schirm oder wollte uns täuschen . Beidesfinde ich relevant. Beides finde ich schlimm. Und zu bei-dem sage ich: So geht man mit einem Abkommen, dasrelevante Auswirkungen haben wird, nicht um . Deswe-gen fordere ich Sie alle auf: Stellen wir uns alle endlichvernünftig der Debatte . Wir haben einen langen Antragmit vielen inhaltlichen Punkten geschrieben .
Frau Kollegin Dröge, darf ich Sie an die vereinbarte
Redezeit erinnern?
Genau . – Leider kann ich
den ganzen Inhalt meines Antrags in drei Minuten nichtmehr darstellen . Aber meine Kollegin, Frau Höhn, istgleich auch noch dran . Sie wird Ihnen dazu noch vielegute Dinge sagen . Deswegen belasse ich es erst einmalbei diesen Punkten
und wünsche mir, dass Sie auch mit uns endlich in dieinhaltliche Debatte einsteigen .
Katharina Dröge
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Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Mark
Hauptmann .
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Lie-
be Frau Dröge, Sie reden ja wirklich schnell .
Das kann Ihnen keiner absprechen . Aber richtig ist das
trotzdem nicht . Wenn Sie sich anmaßen, zu sagen, wir
sollten hier im Deutschen Bundestag doch einmal über
CETA reden, antworte ich: Das machen wir, und das
haben wir bisher auch schon gemacht . Deswegen nutzen
wir diese Debatte natürlich auch gerne als Gelegenheit,
das geradezustellen, was Sie im Hinblick auf die Empö-
rungsindustrie der Anti-TTIP- und Anti-CETA-Bewe-
gung gerade wieder gesagt haben .
– Nein, es ist keine Frechheit, es ist die Wahrheit .
Frau Kollegin Dröge, Sie sind der gleiche Jahrgang
wie ich . In den 1980er-Jahren war die Welt, die wir heute
sehen, noch eine andere .
Deutschland, Europa und die westliche Welt hatten wirt-
schaftlichen Kontakt zu ungefähr 800 Millionen Men-
schen . Heute beteiligen sich durch die Globalisierung
fast 8 Milliarden Menschen an diesem Austausch . Nur
Nordkorea glaubt, man müsse oder brauche sich nicht
daran zu beteiligen .
Mit CETA und TTIP, die ja von Ihnen gerne in einem
Atemzug genannt werden, beanspruchen wir, diese Glo-
balisierung aktiv gestalten zu wollen, und wir wollen mit
CETA und TTIP die Globalisierung mit westlichen Stan-
dards gestalten .
Das ist letztendlich der Grund, warum wir mit Kanada
und warum wir mit den USA verhandeln .
Ich sage Ihnen, Herr Ernst, und auch Ihren Kollegen –
und das wissen Sie ganz genau, weil auch Sie sich damit
befassen und auch Ihr Horizont durchaus ausreicht, um
die internationalen Bedingungen zur Kenntnis zu neh-
men –: Wenn wir nicht handeln, wenn wir als Europäer
mit den Amerikanern und den Kanadiern keine Regelung
finden, wenn wir als westliches Wertebündnis keine Re-
gelung finden,
dann machen es andere – China und andere Akteure –,
und dann sind wir gezwungen, nach deren Standards zu
handeln . Das kann nicht in unserem Interesse liegen .
Sehr geehrte Damen und Herren, 40 Handelsabkom-
men verhandelt die EU bzw . hat sie schon verhandelt .
Derzeit werden noch für 12 Handelsabkommen Verhand-
lungen geführt . Kollegin Dröge hat es richtig gesagt: Seit
2014 liegt ein konsolidierter Text für das Abkommen
zwischen Europa und Kanada vor . Jetzt geht es eben dar-
um, in diesem Prozess des Legal Scrubbing den Vertrag-
stext in die einzelnen Sprachen zu übersetzen; denn nicht
nur in Europa, sondern auch in Kanada werden mehrere
Sprachen gesprochen .
Übrigens: 70 Prozent der kanadischen Bevölkerung
sind für CETA .
Ich glaube, das ist ein deutlicher Beweis dafür, dass
CETA nicht nur in den verschiedenen Mitgliedstaaten
Europas von einer breiten Unterstützung getragen wird,
sondern dass es eben auch in Kanada einen Willen gibt,
mit Europa zusammen verschiedene Positionen in Ein-
klang zu bringen .
– Herr Kollege, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen
möchten, dann tun Sie das ruhig . Aber sich einfach nur
zu empören, bringt nichts; denn Ihr Dazwischenbrüllen
macht die Debatte nicht leichter . Sie sorgen mit Ihrem
Dazwischenbrüllen lediglich dafür, dass die Debat-
te nicht versachlicht werden kann . Das ist letztendlich
der Punkt, den wir hier anmerken: Wir müssen zu mehr
Sachlichkeit zurückkommen .
Herr Kollege Hauptmann, nach dieser Aufforderung
hat sich der Kollege Dehm sofort gemeldet . Gestatten Sie
eine entsprechende Zwischenfrage?
Gerne . Ich habe es ihm ja angeboten .
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Wer nicht hören will, muss fühlen .
Deswegen stelle ich die Frage, zu der Sie mich aufgefor-
dert haben .
Wenn das mit den 70 Prozent Zustimmung so zutrifft,
wie erklären Sie sich denn dann, dass die Kanadier eine
Regierung zum Teufel gejagt haben, die für CETA war,
und jetzt eine Regierung gewählt haben, die dagegen ist?
Herr Kollege, wir haben letzte Woche wieder Par-
lamentarier aus Kanada zu Gast gehabt . Wir stehen im
regelmäßigen Austausch mit den Kollegen in Kanada .
Sowohl unsere Kollegen im kanadischen Parlament als
auch 70 Prozent der Bevölkerung, wie ich es gerade
gesagt habe, befürworten CETA . Das war das Ergebnis
einer repräsentativen Umfrage der kanadischen Handels-
kammer .
Von daher zeigt das deutlich, dass innerhalb der Bevölke-
rung ein starkes Maß an Unterstützung da ist . Und diese
Unterstützung sollten wir nutzen, auf beiden Seiten des
Atlantiks .
Ich möchte zurückkehren zu dem Prozess, den Sie
angemahnt haben, nämlich dass wir Veränderungen bei
CETA bräuchten und jetzt das Paket noch einmal auf-
schnüren müssten . Frau Kollegin Dröge, wir haben ein
ausformuliertes und ausverhandeltes Programm . Wenn
wir jetzt dieses Paket aufschnüren und in einem entspre-
chenden Prozess neu verhandeln, dann kommen wir nie
zu einem Ergebnis .
Sie wissen doch hoffentlich, dass auf der anderen Sei-
te der Welt, nämlich in Asien, mit den Verhandlungen zur
Transpazifischen Partnerschaft schon Fakten geschaffen
werden .
Das heißt, die Welt um uns herum schläft nicht; Asien
handelt . Es gibt weitere Abkommen mit ASEAN+6, also
mit den ASEAN-Staaten plus China, Japan, Südkorea
und anderen . All diese Länder werden in den nächsten
Jahren globale Standards setzen, wenn wir als Europäer
uns immer wieder zerstreiten, immer wieder Pakete auf-
schnüren wollen, immer wieder das bereits Verhandelte
infrage stellen . Das kann nicht unser Anspruch sein .
Vielmehr brauchen wir in Zukunft einen Startpunkt . Die-
ser Startpunkt für CETA ist jetzt .
Warum mit Kanada? Kanada ist der zweitgrößte Flä-
chenstaat der Welt, die elftgrößte Volkswirtschaft und
einer der wohlhabendsten Staaten, aber vor allem einer
unserer wichtigsten Wertepartner . Die EU-Direktinves-
titionen in Kanada betrugen 136 Milliarden Euro und
machten damit ungefähr 28 Prozent der Auslandsinves-
titionen in Kanada aus . Für diese Investitionen brauchen
wir natürlich auch Rechtssicherheit .
Dann komme ich zu dem Punkt, den Sie immer wie-
der gerne ansprechen: Investor-Staat-Schiedsverfahren .
Auch hier mahne ich Sie zu einer Versachlichung der
Debatte . Wir als Deutsche haben doch den Investitions-
schutz geradezu erfunden .
1959 haben wir mit dem ersten Abkommen zwischen
Deutschland und Pakistan
quasi den Investitionsschutz für deutsche Unternehmen
im Ausland erfunden . Insgesamt haben wir 140 Abkom-
men zum Investitionsschutz geschlossen .
Im Rahmen dieser Abkommen haben deutsche Un-
ternehmer in 70 Fällen im Ausland gegen andere Staa-
ten geklagt und ungefähr 50 Prozent dieser Fälle auch
gewonnen . Drei Verfahren wurden gegen Deutschland
geführt; eines endete mit einem Vergleich, in zwei Ver-
fahren gibt es bisher noch keine Entscheidung . Das heißt
einerseits, Deutschland hat bis jetzt noch nie einen Pro-
zess verloren, hat aber auf der anderen Seite mit den Ver-
fahren vor Schiedsgerichten dafür gesorgt, dass die Inte-
ressen unserer Unternehmen, die im Ausland investieren,
gewahrt werden konnten . Deswegen sind wir der festen
Überzeugung, dass Schiedsgerichtsverfahren notwendig
sind, um ausländische Investitionen zu ermöglichen und
bei Enteignungen, zu denen es in der Vergangenheit im-
mer wieder gekommen ist, dass also ausländische Firmen
von den jeweiligen Staaten enteignet wurden – -
Herr Kollege Hauptmann, gestatten Sie noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Lenkert?
Nein . Ich habe bereits eine Frage zugelassen . – DerPunkt ist somit, dass die Firmen nach einer Enteignungeine Entschädigung bekommen . Das wird letztendlichüber Schiedsgerichtsverfahren geregelt . Deswegen sindsie unglaublich wertvoll . Es ist wichtig, dass wir es imRahmen von CETA bei den vorgesehenen Schiedsgerich-ten belassen .
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Auch Sie wissen, dass CETA ein moderner Vertrag ist .CETA sieht die Möglichkeit vor, die Anforderungen derGlobalisierung in den nächsten Jahren zu berücksichti-gen . Der Vertragstext ist also nicht in Stein gemeißelt,sondern kann in den nächsten Jahren noch Veränderun-gen erfahren . Das ist aus Sicht unserer Fraktion einesehr moderne Vertragsgestaltung . Daraus ergibt sich aberauch, dass wir einen Startpunkt brauchen, um gemein-sam auf Grundlage unseres Wertefundaments für freienHandel und auch – liebe Kollegen der Grünen – für fai-ren Handel zu sorgen . Fairer Handel ist ohne Freihandelnicht möglich . Von daher werben wir für CETA und wer-ben wir für TTIP .Mit CETA schaffen wir letztendlich eine elementareGrundlage für mehr Freihandel . Wenn wir dem Antragder Grünen folgten, dann würden wir diese Chance gera-dezu verpassen . Wir würden die Verhandlungserfolge, diebisher erzielt worden sind, gefährden und dafür sorgen,dass die weltweiten Standards sich nicht nach uns, sichnicht nach Europa, sich nicht nach dem transatlantischenWertebündnis, sondern nach anderen Staaten richten .Der globale Welthandel ist doch unsere Arena .Deutschland als Exportnation – wir sind Exportwelt-meister! – ist darauf angewiesen, in dieser Arena handelnzu können . Mit Ihrem Antrag würde man den Export-weltmeister Deutschland vom Platz stellen .
Das können wir nicht gutheißen . Daher werben wir fürCETA und für TTIP .Herzlichen Dank .
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Klaus Ernst .
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Prä-
sident! Ich habe hier ein Argument gehört, Herr Haupt-
mann, das so daneben ist, dass ich darauf eingehen muss .
Sie sagen, wenn man den Antrag annähme, würde man
ausländische Investitionen verhindern . Fakt ist: Wir
haben momentan kein Handelsabkommen mit Kanada –
auch keines mit den USA –, und trotzdem haben wir eine
Vielzahl von Investitionen der Kanadier bei uns und von
uns bei den Kanadiern . Ich bitte Sie, doch wenigstens die
Realität zur Kenntnis zu nehmen und hier nicht so einen
Unsinn zu erzählen .
Herr Kollege Ernst, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hauptmann?
Auf die freue ich mich ganz besonders .
Herr Kollege Ernst, eines werden wir natürlich nicht
infrage stellen: Das sind die Realitäten . Natürlich gibt es
Investitionen . Das will doch gar kein Mensch bestreiten .
Es geht aber um das Mehr an Investitionen, um zusätzli-
che Impulse, darum, Zölle abzuschaffen,
weltweit gemeinsame Standards zu etablieren .
Schauen Sie sich das doch bei den Automobilen an:
Wir haben heute hohe Zölle, wenn Automobile deutscher
Unternehmen aus den USA nach Deutschland zurückge-
führt werden; und wenn deutsche Lkw nach Nordameri-
ka exportiert werden, fällt eine Zollbelastung von 25 Pro-
zent an .
Das sorgt natürlich dafür, dass wir keine Mehrinvestiti-
onen haben . Von daher frage ich: Wie halten Sie es mit
zusätzlichen Mehrinvestitionen, durch die übrigens auch
mehr Arbeitsplätze entstehen würden?
Herr Hauptmann, ich glaube, Sie haben den Sinn die-ser Handelsabkommen noch gar nicht richtig begriffen .Es geht nicht nur um den Abbau von Zöllen . Das wärenja die tarifären Handelshemmnisse .
Sinn der Handelsabkommen ist der Abbau von nichttari-fären Handelshemmnissen .
Nichttarifäre Handelshemmnisse sind nach dem allge-meinen Verständnis Regelungen, Herr Hauptmann:
Regelungen des Arbeitsschutzes, Regelungen des Um-weltschutzes, Regelungen des Verbraucherschutzes . Da-bei geht es zum Beispiel um die Frage, welche Chemie indem jeweiligen Land verwendet werden darf und welchenicht, welche Substanzen in Medikamenten zugelassenwerden und welche nicht . Das ist der eigentliche Sinndieser Handelsabkommen .
Mark Hauptmann
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Es geht also überhaupt nicht um Ihre Zölle . Die Zöllekann man von mir aus abbauen; das ist nicht das Prob-lem . Es geht darum, dass diese Handelsabkommen dazudienen sollen, die Standards
in Europa, in Kanada und übrigens auch in den USA ab-zusenken .
Ich würde Sie bitten, das zur Kenntnis zu nehmen .
– Ich werde Ihnen das gleich noch beweisen .Jetzt kommen wir zur Transparenz .
– Sie können weiter brüllen, Sie können aber auch nocheine Frage stellen . Ich bin gerne bereit, sie zu beantwor-ten .
Meine Damen und Herren, gestern waren wir mit demAusschuss für Wirtschaft in Brüssel . Dort haben wir FrauMalmström getroffen . Sie hat gesagt, dass die Transpa-renz, also was die Einbeziehung der Bürger angeht, beidiesen Fragen vorbildlich sei .
Da habe ich wirklich gedacht: Sie lebt auf einem anderenStern .
Das CETA-Abkommen ist – das wissen Sie alle, dieSie hier sitzen – ohne jegliche Beteiligung der europä-ischen Parlamente verhandelt worden . Keiner, der hiersitzt, auch Sie nicht, hat die Chance gehabt, auch nur einKomma oder einen einzigen Buchstaben in diesen Ver-trägen zu beeinflussen. Jetzt gucken wir einmal, was un-ser Parlamentspräsident, Herr Lammert, dazu gesagt hat .Er hat gesagt – Zitat –:Ich halte es für ausgeschlossen, dass der Bundes-tag einen Handelsvertrag zwischen der EU und denUSA– darum ging es in dem Fall –ratifizieren wird, dessen Zustandekommen er weder begleiten noch in alternativen Optionen beeinflus-sen konnte .Was bei TTIP gilt, das muss doch wohl auch für CETAgelten .
Bei CETA hat er nichts beeinflussen können. Wenn Sie den Bundestagspräsidenten ernst nehmen und nicht zueiner Witzfigur machen wollen, dann müssen wir als Par-lament unsere Rechte ernst nehmen und dürfen uns nichtkleinmachen .
Dann müssen wir CETA ablehnen, weil wir nicht betei-ligt waren .Es gibt übrigens einen sehr aktuellen Vorschlag – ichweiß nicht, ob Sie ihn schon gesehen haben –: Es sollenLeseräume eingerichtet werden, nicht mehr in der Bot-schaft der USA, sondern in Ministerien . Haben Sie daseinmal gelesen? Die Regeln, die für diejenigen vorgese-hen sind, die Dokumente einsehen wollen, erinnern michan die Regeln, die gelten, wenn man einen Einsitzendenbesucht: Sicherheitspersonal muss anwesend sein; Name,Besuchszeit und konsultierte Dokumente – Texte, die dieEuropäische Union verhandelt – werden notiert; Handysund sonstige elektronische Geräte müssen abgegebenwerden; eine Verpflichtungserklärung zur Einhaltung der Regeln muss unterschrieben werden;
es ist nur erlaubt, Notizen zu machen; aber über dieseInformationen darf nicht gesprochen werden . Meine Da-men und Herren, da gibt es nur noch eine Steigerung:Panzerglas zwischen dem Besucher und dem Dokument .
Und das soll transparent sein?Im Übrigen empfehle ich Ihnen, auch meinen Kolle-gen von der SPD, die gestern dabei waren: Schauen Siesich die heutige Stellungnahme der Europäischen Unionan . Darin steht, dass das gar nicht für die Abgeordnetengilt . Es gilt für die Minister; es gilt für das Regierungs-personal . Diese sollen sich behandeln lassen, als würdensie einen Verbrecher besuchen, wenn sie Dokumente ein-sehen wollen . Wenn wir in diesem Parlament noch einbisschen Selbstbewusstsein haben, dann müssen wir sol-che Vorgänge ablehnen; denn sonst machen wir uns zumBüttel der Europäischen Union .
Herr Kollege Ernst, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wiese?
Sehr gerne .Klaus Ernst
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Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, vielen Dank, dass
Sie die Zwischenfrage zulassen . Ich diskutiere immer
gerne mit Ihnen .
Wir waren gestern zusammen in Brüssel und haben
gehört, dass Kommissarin Malmström gesagt hat, dass
sich im Hinblick auf den Zugang von uns Abgeordneten
etwas ändern soll . Ich gebe Ihnen in diesem Punkt völlig
recht:
Das, was jetzt auf den Weg gebracht worden ist, ist noch
nicht befriedigend . Auch ich möchte die Dokumente
gerne bei mir im Büro auf meinem Schreibtisch liegen
haben .
Auch ich möchte nicht als Bittsteller momentan zur
US-Botschaft gehen, klingeln und sagen, dass ich Ein-
blick in konsolidierte Dokumente haben möchte . Darum
bin ich mit der momentanen Situation nicht zufrieden .
Sie haben gerade aus einem Dokument zitiert, das die
Kommission veröffentlicht hat . Aber es gibt zwei Doku-
mente: 356/15 und 358/15 . In diesem Dokument werden
die Punkte angesprochen, die Sie gerade beschrieben
haben .
Ich habe fast den Eindruck, dass Sie noch nie in der
Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages gewe-
sen sind .
Doch, doch! Da war ich .
Auch dort muss man sich anmelden, auch dort sitzt
jemand im Nebenraum, und man muss sein Handy ab-
geben,
aber man darf sich Notizen machen .
– Das Handy muss man abgeben . Das ist wirklich so .
– Man muss es abgeben . – Dort können Sie übrigens
auch die Klageschrift der Bundesregierung gegen Vat-
tenfall lesen .
In dem von mir angesprochenen Dokument – dieser
Punkt ist mir wichtig – steht nicht, dass nur Minister
und Beamte Zugang zu den Dokumenten haben . Es liegt
allerdings nur die englische Fassung vor; darüber kann
man streiten – zwei Juristen, drei Meinungen . Aber mei-
ne erste Frage lautet: Stellen Sie fest, dass es langsam
in die richtige Richtung geht und dass die langsamen
Schritte sowohl der Bundesregierung als auch dem Bun-
destagspräsidenten zu verdanken sind, die immer wieder
versuchen, zu intervenieren? Die deutsche Botschaft hat
zuletzt am Donnerstagabend in Washington förmlich in-
terveniert, um noch einmal Druck zu machen . Wann hat
die Linkspartei einmal einen Brief an Frau Malmström
geschrieben, um Einsicht in die Dokumente einzufor-
dern?
Meine zweite Frage, die ich Ihnen noch stellen möch-
te . Sollten wir in der nächsten Woche Zugang zu den
Räumen bekommen, sei es im Wirtschaftsministerium,
sei es im Arbeitsministerium: Versprechen Sie mir, dass
wir dann zusammen hingehen und die Dokumente lesen?
Zum letzten Teil Ihrer Frage: Ja . Aber ein Problem ist,dass ein großer Teil der Abgeordneten die Dokumentenicht lesen kann, weil sie kein Englisch können; die Do-kumente sind nämlich auf Englisch verfasst .
Das ist das erste Problem: Wenn wir hier Vereinbarungentreffen
und ein Teil der Abgeordneten faktisch ausgeschlossenist, dann ist das nicht transparent .
Jetzt komme ich zu den von Ihnen genannten Stel-lungnahmen der Europäischen Kommission . Ja, es gibtzwei Dokumente . In dem einen sind die Verfahren ge-regelt; von den Verfahren sind die Parlamentarier nichtbetroffen . Heute liegt eine zweite Stellungnahme vor . Indieser Stellungnahme heißt es eindeutig, dass dies nurdie Ministerien betrifft, dass allerdings die nationalenParlamente entsprechend ihrer Gesetzgebung Regelun-gen treffen können . Das ist interessant; denn Frau Malm-ström hat uns gestern etwas ganz anderes erzählt . Sie hatuns erzählt: Jetzt gibt es die große Offenheit für Abge-ordnete . – Aber ich kann nicht feststellen, dass es dieseOffenheit gibt .Jetzt komme ich zur Geheimschutzstelle . Ja, auch ichbin der Auffassung: In einem Parlament muss es eineGeheimschutzstelle geben . Aber hier stellt sich docheine ganz andere Frage: Warum werden Dokumente, die500 Millionen Bürger in Europa betreffen, als Geheimsa-che behandelt und selbst vor den Parlamentariern geheimgehalten?
Das ist doch die Frage, lieber Kollege, die wir uns stellenmüssen .Es geht um den Umgang mit uns in diesen Verfahren .Die Verhandlungen über CETA sind lange abgeschlos-sen, über TTIP wird seit Jahren verhandelt, aber wir
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Parlamentarier werden nach wie vor von den wichtigenDokumenten ferngehalten . Das ist ein Skandal . Ich binder Auffassung – ich hoffe, dass ich Sie und viele in derSPD dabei als Partner habe –, dass wir uns dagegen weh-ren müssen . Wir dürfen jetzt nicht kuschen . Das ist dieAufgabe, vor der wir stehen .
Allerdings sind die Verträge nicht nur wegen der Ge-heimhaltung, sondern auch wegen ihres Inhalts abzuleh-nen .Nun komme ich zur Union . Sie und auch die EUbehaupten permanent, es gebe keinen Abbau von Stan-dards . Aber genau das ist doch das Ziel der Abkommen .Wenn dies nicht so wäre, lieber Kollege Hauptmann,meine Damen und Herren, warum sind dann unsere Bun-desregierung und auch viele in der Öffentlichkeit derAuffassung, dass bestimmte Bereiche von diesen Verein-barungen ausgenommen werden müssen? Warum wollenwir bestimmte Dinge ausnehmen? Wenn es überall nuraufwärtsginge, müssten wir ja alle Bereiche einbeziehen,damit es besser wird als vorher . Nein, bestimmte Berei-che sollen explizit ausgenommen werden: Daseinsvor-sorge soll ausgenommen werden, Kultur soll ausgenom-men werden, öffentliche Wohlfahrt soll ausgenommenwerden . Warum?
Wenn diese Verfahren einen anderen Charakter hätten,müssten sie nicht ausgenommen werden . Allein die Tat-sache, dass wir selber dafür kämpfen, einzelne Bereicheaus dieser Liberalisierung, aus dieser Vereinheitlichungauszunehmen, ist der Beweis dafür, dass die Verträgein Richtung Abbau von Standards gehen . Deshalb ist esrichtig, sie abzulehnen .
Ich komme zum Schluss . Ich möchte Ihnen sagen: Ver-antwortlich für diese Abkommen ist momentan die Euro-päische Union, die sie verhandelt . Aber im Hintergrundstehen die europäischen Regierungen . Deshalb müssenwir in den nationalen Parlamenten Position beziehen .Wenn wir dies nicht tun, sind auch wir als Parlamentedafür verantwortlich, dass vor privaten Schiedsgerich-ten geklagt wird . Sie gelten nach wie vor in CETA, undwenn sie in CETA enthalten sind, haben die Amerikanerüber Kanada die Möglichkeit, uns zu verklagen . Deshalbmüssen wir dafür sorgen, dass das abgelehnt wird . Wennes nicht abgelehnt wird, wird es dazu führen, dass wirmitverantwortlich sind, wenn Regierungen vor diesenSchiedsgerichten verklagt werden und letztendlich diedeutschen und europäischen Steuerzahler für das zahlenmüssen, was andere versauen .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal für
die SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lie-
ber Kollege Klaus Ernst, wir haben heute einen Antrag
der Grünen auf der Tagesordnung, der sich mit CETA
beschäftigt, also mit dem schon ausgehandelten Abkom-
men der EU mit Kanada; darüber haben wir zu diskutie-
ren . Sie haben hier eben eine ganze Zeit über TTIP und
über Transparenz gesprochen . Da gehe ich ja mit . Aber
das hat nichts mit diesem Tagesordnungspunkt zu tun .
Von daher: Thema verfehlt, setzen, sechs .
Der Antrag der Grünen fasst noch einmal die Kritik
zusammen, die die Fraktion an dem Freihandelsabkom-
men zwischen der EU und Kanada hat .
Herr Kollege Westphal, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ernst?
Selbstverständlich .
Bernd – wir sind ja per Du; ich darf das so sagen –,ich habe doch deutlich dargestellt – deshalb habe ich sehrwohl zum Inhalt gesprochen –, dass dieses Parlamentbei CETA, also bei dem Handelsabkommen mit Kana-da, in keiner Weise beteiligt war . Ich habe die Positiondes Präsidenten des Deutschen Bundestages angeführt,der gesagt hat: Dann müsste man so ein Abkommen ei-gentlich ablehnen . Er kann sich nicht vorstellen, dass sozugestimmt wird . Daher habe ich doch bitte schön zumThema gesprochen .Ich habe auch zum Thema gesprochen, Kollege Westphal, lieber Bernd, als ich gesagt habe: Bei diesenAbkommen geht es im Kern darum, dass dereguliert wer-den soll . Genau das ist ja in CETA enthalten . Auch derInvestorenschutz ist in CETA enthalten . Genau darüberdiskutieren wir . Ich habe zum Schluss noch einmal da-rauf hingewiesen,
Klaus Ernst
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dass, wenn wir den Investorenschutz bei CETA bekom-men, wir ihn automatisch mit Amerika bekommen, weilsehr viele amerikanische Unternehmen in Kanada sind .Sie können das Abkommen nutzen, um europäische Staa-ten zu verklagen . Daher habe ich doch bitte schön zumThema gesprochen .Mich würde interessieren: Wie seht ihr das? Seid ihrgegen CETA, wenn private Schiedsgerichte enthaltensind, oder seid ihr dafür? Diese Antwort seid ihr als Sozi-aldemokraten schuldig .
Ich bin ja erst am Anfang meiner Rede . Von daherkomme ich gleich dazu .
Aber ich will zu der Frage Stellung nehmen .
– Jetzt musst du auch zuhören, wenn ich antworte . – DieFrage war ja, inwieweit der Bundestag beteiligt ist . Wirhaben ja die Freihandelsabkommen auf europäischerEbene delegiert . Das heißt, der Bundestag ist gar nichtVerhandlungsführer, auch nicht das Europäische Par-lament, sondern die EU-Kommission . Dieser Vertragmusste erst einmal ausgehandelt werden . Er liegt jetztvor und wird übersetzt . Wenn es ein gemischtes Abkom-men ist – wir gehen davon aus, dass es so ist –, dann wirdsich dieses Parlament damit beschäftigen . – So weit dieAntwort auf Ihre Frage .Die Verhandlungen zum Abkommen CETA sind seitdem 26 . September 2014 abgeschlossen . Das sage ich,damit auch dies klar ist . Es ist im Grunde genommenschon verhandelt und liegt vor . Derzeit läuft die Rechts-förmlichkeitsprüfung, das sogenannte Legal Scrubbing,und dementsprechend auch die Übersetzung . Wahr-scheinlich wird es im ersten Halbjahr 2016 in deutscherSprache vorliegen . Wir sind einer Meinung, dass es si-cherlich ein Anspruch ist, den Parlamentarier haben kön-nen, dass solch ein kompliziertes Vertragswerk in deut-scher Sprache vorliegt .Abgesehen davon bitte ich um mehr Vertrauen, wasdas Europäische Parlament betrifft . Auch dort gibt esklare Positionierungen . Ich bitte auch darum, den Kolle-gen Bernd Lange zu unterstützen, der eine hervorragendeArbeit macht, für Aufklärung sorgt und die Dinge dar-stellt .
Auch in Kanada hat es Veränderungen in der Regierunggegeben . Der neue Premierminister Justin Trudeau – erist seit dem 4 . November dieses Jahres, also sehr frisch,im Amt – hat sich für dieses Freihandelsabkommen aus-gesprochen . Nun muss sich auch die EU-Kommissionden strittigen Fragen zuwenden . Wir haben gestern zu-mindest erreichen können – du hast die Verhandlungenund Gespräche mit der EU-Kommission erwähnt –, dassuns die für Handel zuständige Kommissarin Malmströmversichert hat, dass sie der kanadischen Regierung dieentsprechenden Punkte schriftlich mitgeteilt hat . Wirerwarten, dass wir zumindest hier Fortschritte erreichenwerden .Was die kanadische Seite angeht, hatten wir heu-te Morgen in der Diskussion mit der Botschafterin vonKanada noch einmal die Möglichkeit, darauf hinzuwei-sen, dass wir, gerade was den Investitionsschutz angeht,eine Weiterentwicklung brauchen . Die Vorschläge, diedie SPD im Hinblick auf einen Internationalen Handels-gerichtshof entwickelt hat, könnten hier aufgenommenwerden, nicht in einem neuen Verfahren, sondern imRahmen der Weiterentwicklung dieses Abkommens .Ich will zwei inhaltliche Punkte ansprechen, diein dem Antrag der Grünen erwähnt werden . Sie, Frau Dröge, haben eben ausgeführt, was in Kapitel 10 und 11des CETA-Abkommens hinsichtlich der Ausnahmen fürdie kommunale Ebene vereinbart ist und welche Vorbe-halte die Anhänge I und II bezüglich der kommunalen öf-fentlichen Dienstleistungen enthalten . Im Antrag werdenBedenken geäußert, der CETA-Hauptausschuss könnedie Negativliste verändern . Ich muss Ihnen sagen, dassdas falsch ist . Das, was Sie in dem Antrag formulieren,ist widerlegt . Der Hauptausschuss hat keine Befugnis,die in Anhang I und II genannten individuellen Vorbehal-te der Mitgliedstaaten im Bereich der Dienstleistungeneigenmächtig zu verändern; er kann lediglich Empfeh-lungen aussprechen . Deshalb ist das, was Sie auf Seite 6Ihres Antrags formulieren, falsch; Dirk Wiese hat gleichsicherlich noch Gelegenheit, darauf näher einzugehen .Wir haben im GATS-Abkommen übrigens seit 20 Jahrensolche Regelungen und bis heute keine Probleme damit .Was die Vereinbarkeit mit dem Inhalt des Freihan-delsabkommens angeht, ein zweiter inhaltlicher Punkt .Im Antrag wird einerseits Kritik daran geäußert, dassMechanismen vorgesehen sind, die ein nachträglichesVerändern und Anpassen, also ein sogenanntes LivingAgreement, verlangen . Andererseits kritisieren Sie, dassdas Abkommen als gesetzgeberische Momentaufnahmeeinzementiert würde und dadurch präjudizierende Wir-kung haben könnte, Stichwort „Urheberrecht“.
Sie müssen sich schon entscheiden, für welche VarianteSie hier sprechen . Ich denke, man sollte die Möglichkeithaben, neue Erkenntnisse in ein Living Document ein-fließen zu lassen. Das erfüllt dieses Abkommen.Die Diskussion über Freihandelsabkommen ist wich-tig . Durch die breite Diskussion, die wir auch öffentlichführen, wird deutlich, dass es eine ganze Menge Chancengibt, den Freihandel auch global voranzubringen . Wirmüssen nur die Vorteile für uns, für unseren Standort er-kennen . Manche, auch auf Brüsseler Ebene, schütteln nurnoch den Kopf, wenn sie hören, welche Argumente teil-weise aus einem so großen Exportland wie Deutschlandangeführt werden und dass man Freihandelsabkommengegenüber hier sehr kritisch eingestellt ist . Wir habenunseren Nutzen von solchen Abkommen, was Beschäf-tigung, Innovation und Freihandel angeht . Gestern habenwir sogar mit Vertretern der katholischen Kirche disku-Klaus Ernst
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tiert, die auch die Impulse für eine globale Regulierungder Märkte gesehen haben .
Herr Kollege Westphal, denken Sie an die Redezeit?
Letzter Satz, Herr Präsident . – Der globale Handel
muss nicht nur frei, sondern auch fair sein . Daran werden
wir als Sozialdemokraten arbeiten .
Vielen Dank .
Jetzt hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/CSU
das Wort .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit
etwas Positivem beginnen, und zwar mit dem Titel des
Antrags der Grünen . Er bringt nämlich zum Ausdruck,
dass es einen gewissen Lernprozess gegeben hat . Hieß
es in den letzten Anträgen zum Thema CETA noch, man
wolle den Gesetzentwurf komplett ablehnen, so heißt es
jetzt: So ist nicht zuzustimmen . – Ich denke, wenn wir
noch etwas mehr Debatten führen, kommen wir da viel-
leicht ein gutes Stück vorwärts, sodass auch dieser Lern-
prozess noch weiter fortschreitet. Ich finde, das ist eine
gute Sache .
Herr Beyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Dröge?
Im Moment nicht, vielleicht hinterher .
– Es gab schon so viele schöne Zwischenfragen . Wirkönnen uns gleich sehr gerne noch einmal austauschen .
Vielleicht ist das Ganze ja auch ein positiver Ausfluss aus der baden-württembergischen Landesregierung . Dorttragen die Grünen ja durchaus Regierungsverantwortung .Wenn man dorthin schaut, dann erkennt man, dass dergesamte Prozess zu CETA und TTIP, den beiden Freihan-delsabkommen mit den nordamerikanischen Partnern,dort durchaus konstruktiv und positiv begleitet wird . Esgibt ein Positionspapier, einen Beschluss der Landes-regierung Baden-Württembergs dazu, wo die Chancendieser Abkommen betont werden . Das ist etwas ganz an-deres als das, was sich in Ihrem, wie Sie selbst gesagthaben, sehr lang ausformulierten Antrag letztlich findet.Wo stehen wir mit CETA? Das haben wir von den Vor-rednern schon ein paar Mal gehört . Deswegen kann ichmich an dieser Stelle kurzfassen .Das Ganze ist ausverhandelt . Die Verhandlungen sindschon vor über einem Jahr final zu Ende geführt worden; sie sind also abgeschlossen . Man ist jetzt in der Phase derRechtsförmlichkeitsprüfung, des Legal Scrubbing; daswurde hier schon genannt .Ich rate allerdings gemeinsam mit meiner Fraktioneindringlich davon ab, das Inkrafttreten von CETA durchweitere überzogene Forderungen nach einem komplet-ten erneuten Aufschnüren dieses Verhandlungspakets,wie sie auch in dem Antrag der Grünen formuliert sind,weiter zu verzögern . Das ist gerade im Hinblick auf wirt-schaftliche Impulse nicht das, was wir brauchen . Dane-ben ist das übrigens auch völlig unrealistisch . Ich kommegleich noch einmal darauf zu sprechen .Meine Damen und Herren, CETA ist das Ergebnisintensiver Verhandlungen zwischen den Delegationenunserer Seite, der Europäischen Union, und Kanadas .Dieses Ergebnis ist ein gutes Ergebnis, mit dem wir sehrzufrieden sein können . Es ist insbesondere ein wichtigerBaustein für eine der Zukunft zugewandte Handelspoli-tik auf globaler Ebene .Bei TTIP sind wir – um das hier auch noch einmal zuerwähnen; da verhandelt man noch nicht so lange, des-halb liegt das in der Natur der Sache – noch nicht ganzso weit, aber auch auf einem guten Weg . Ich bin frohenMutes, dass wir das mit großem Engagement und – ja –auch mit parlamentarischer Begleitung – nicht nur aufeuropäischer Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene –nach vorne und zu einem guten Ergebnis bringen können .
Denn – machen wir uns da nichts vor – unseren Wohl-stand, den wir in unserer starken Volkswirtschaft, inDeutschland, im Großen und Ganzen genießen, verdan-ken wir nicht zuletzt der Wirtschaft und vor allen Dingenden Menschen, die in den Unternehmen und Betriebenhier in Deutschland arbeiten, und genau für diese Men-schen sind diese Freihandelsabkommen – ich nenne siebewusst beide – TTIP und CETA, das bereits zu Endeverhandelt ist . Für diese Menschen müssen diese Pro-jekte gelingen und gut umgesetzt werden . Wir könnenuns jetzt nicht zurücklehnen und sagen: Unser relativerWohlstand und unsere starke volkswirtschaftliche undpolitische Position in Europa sind gottgegeben, und daswird immer so bleiben .Die Realität, vor der wir uns ja nicht verschließenwollen, ist, dass es auf dem Markt der Volkswirtschaf-ten – so ist die Entwicklung nun einmal; das ist nichtsSchlechtes – nun andere, erstarkende, gestaltungsmäch-tige, wie wir sie einmal bezeichnet haben, Wettbewerbergibt, nämlich die Volksrepublik China, Indien und weite-re Länder . Diese Länder haben Umweltschutzstandards,Sozialstandards und Arbeitsschutzstandards, die diejeni-Bernd Westphal
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gen, die die TTIP- und CETA-Freihandelsabkommen ve-hement bekämpfen, überhaupt nicht haben wollen – undinsbesondere auch wir nicht .Deswegen kämpfen wir dafür, dass diese Verhand-lungen auf einen hohen Schutzstandard ausgerichtet,entsprechend weitergeführt und letztlich zu einem gutenEnde gebracht werden; denn wenn wir nicht aufpassen –der Kollege Hauptmann und andere Redner an diesemPult haben schon darauf hingewiesen – , werden uns dieStandards gesetzt, und diese wären allemal – davon kön-nen wir mit Sicherheit ausgehen – geringer als die, diewir jetzt mit den nordamerikanischen Freunden zusam-men verhandeln können .
Dass wir in der Welt enger zusammenrücken und dasses immer globaler wirkende Herausforderungen gibt,führt uns auch zu der Erkenntnis, dass wir alleine schei-tern müssen . Es ist nämlich ein Faktum, dass die Tendenzzurück zu immer mehr Nationalstaatlichkeit und weni-ger Supranationalismus kleingeistig, rückwärtsgewandtund letztlich insbesondere schlecht für die Menschenist . Denn das Abschotten – und Protektionismus ist einAbschotten – von den globalisierenden Fortschritten inder Welt führt zu keinem guten Ergebnis . Und deswegenkönnen wir das nicht unterstützen .Meine Damen und Herren, ich sage aber auch, dasseine – so will ich es einmal bezeichnen – Selbstverzwer-gung vor den Verhandlungspartnern nicht angezeigt ist .
Die europäische Seite und die EU-Mitgliedstaaten kön-nen durchaus selbstbewusst mit den Amerikanern, mitden Kanadiern Verhandlungen führen, wie es auch ge-schehen ist, wenn man sich einmal vor Augen hält, dassin Europa mehr Menschen leben, nämlich über 500 Mil-lionen Menschen, während in den USA und in Kanadazusammen ungefähr 355 Millionen leben . Wir könnenselbstbewusst und auf Augenhöhe miteinander reden undverhandeln und lassen uns nicht von den Amerikanern,die ja hier oftmals als die ganz Bösen dargestellt werden,insbesondere die amerikanische Industrie, über den Leis-ten ziehen . Wir müssen hier selbstbewusst auftreten – dasmachen wir auch –, dann kommt das Ganze auch zu gu-ten Ergebnissen .Wer sich auf dem transatlantischen Terrain bewegt,weiß, dass jenseits des Atlantiks das Interesse an Europain der letzten Zeit ein Stück weit nachlässt – so will iches einmal ausdrücken –
und dass sich alles ein wenig hin zum transpazifischen Verhältnis, zur transpazifischen Partnerschaft verrückt. Ein Scheitern dieses Abkommens wäre schlecht für Eu-ropa und insbesondere für die Menschen in Deutschland .Dabei geht es weniger um bloßes Wirtschaftswachstum –dazu existiert ja ein bunter Strauß von Studien, die sichzum Teil widersprechen –, sondern vielmehr – darin liegtdie geostrategische und geopolitische Bedeutung vonTTIP und CETA – um nichts Geringeres als die zukünfti-ge Gestaltung des globalen Handels . Und das kann ebennicht mit Angst gelingen .Wenn ich den Antrag der Grünen lese, dann stelleich fest, dass es eine Aneinanderreihung von Ängsten,Vorbehalten und Worst-Case-Szenarien ist . Ich nehmeeinmal die Schiedsgerichte heraus, auf die ich aus Zeit-gründen nicht lange eingehen will . Wir können dochnicht von Ängsten bestimmte Politik betreiben und dabeiunseren Sachverstand komplett ausschalten . Wenn dieMenschen in unserem Lande bei ihren Unternehmungen,bei dem, was sie anpacken, womit sie Zukunft gestaltenwollen, in den letzten Jahren so agiert hätten, dann wäreDeutschland nicht da, wo es jetzt in der Welt steht – miteiner starken Volkswirtschaft, mit einem großen Selbst-bewusstsein .
Deswegen sage ich an dieser Stelle: Der Antrag isteine Aneinanderreihung von Angstmachereien . Das führtnicht zum Erfolg . Lassen Sie uns konstruktiv an der Sa-che arbeiten . Dann kommen wir auch zu einem gutenVerhandlungsergebnis, meine Damen und Herren .
Es ist sicherlich richtig – ich komme sofort zumSchluss, Herr Präsident –, auf mögliche Probleme hin-zuweisen . Das bezieht auch die Leseräume ein . Es ist jaschon angesprochen worden, dass sich der Parlament-spräsident für die Parlamentarierrechte starkmacht . Dasist sicherlich zu unterstützen . Ich glaube auch hier, dasswir auf dem richtigen Weg sind .Meine Damen und Herren, wenn CETA und TTIPselbstbewusst weiterverhandelt und gut umgesetzt wer-den, dann ist CETA, dann ist TTIP gut für die Menschen,insbesondere für die Menschen in Europa und ganzspeziell für die Menschen in unserem wunderschönenDeutschland – ein ganz wunderbares Ergebnis .Vielen Dank .
Ich darf generell daran erinnern, dass es sich bei den
vereinbarten Redezeiten nicht um Richtwerte handelt,
sondern um präzise vereinbarte Zeiträume .
Ich erteile jetzt zu einer kurzen Kurzintervention der
Kollegin Dröge das Wort .
Sehr geehrter Herr Kollege Beyer, Sie haben ja leidermeine Zwischenfrage nicht zugelassen . Ich möchte aberdoch auf etwas eingehen und Sie zu dem, was Sie geradegesagt haben, noch etwas fragen .Als Sie über unsere Anträge sprachen, hatte ich denEindruck, Sie haben nur die Titel unserer Anträge gele-sen . Deswegen möchte ich Sie noch einmal auf den In-halt unserer Anträge hinweisen . Wenn Sie den Inhalt zurKenntnis genommen hätten, dann wüssten Sie, dass inPeter Beyer
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den Anträgen, die wir bislang zu CETA gestellt haben,immer klar formuliert wurde – beispielsweise in demletzten Antrag, den Sie zitiert haben –: So, wie das Sys-tem der Schiedsgerichte enthalten ist, kann man CETAnicht zustimmen . Und da das System der Schiedsgerichteenthalten ist, muss man dieses Abkommen ablehnen . Dashat aber immer beinhaltet – das steht in allen Anträgen,die wir gestellt haben –, dass es die Option zur Verände-rung gibt .Deswegen die zweite Frage an Sie: Haben Sie ei-gentlich wahrgenommen, was wir hier diskutiert haben?Unser Antrag ist nämlich anlässlich des Handelns derBundesregierung gestellt worden, deren Vertreter gesagthaben, dass sie das CETA-Abkommen nachverhandelnwerden . Sie und Herr Hauptmann begründen in IhrenReden die ganze Zeit nur, warum das CETA-Abkommenauf keinen Fall nachverhandelt werden dürfte .
Daher frage ich Sie: Wie erklären Sie denn das Han-deln Ihrer eigenen Bundesregierung, die Sie mit Ih-ren Stimmen tragen? Wie ist denn Ihre Position zu denPunkten, die man unserer Meinung nach nachverhandelnmüsste? Oder haben Sie sich einmal an Herrn Gabrielgewandt und gesagt: „Bitte unterlasse deine Handlungenin Brüssel“?
Herr Kollege Beyer, Sie haben die Möglichkeit, da-
rauf zu erwidern .
Das mache ich sehr gerne, Herr Präsident . – Vielen
Dank, Frau Kollegin Dröge, für die an mich gerichteten
Fragen . Ich werde mit der letzten Frage beginnen . Selbst-
verständlich stehen wir mit dem Bundeswirtschaftsmi-
nister im Dialog .
Bloß: Ich habe genauso wie der Kollege Hauptmann oder
auch die anderen Mitglieder meiner Fraktion eine völlig
andere Wahrnehmung . Sie betonen hier, es gäbe Wider-
sprüche . Ich habe mir Ihren Antrag sehr wohl durchgele-
sen . Darin steht sehr viel von Widersprüchen – das kam
auch vorhin in den Reden zum Ausdruck – und davon,
dass das Bundeswirtschaftsministerium erklärt habe,
man müsse bestimmte Dinge neu aufschnüren . Dabei
war nicht die Rede davon, das Paket komplett neu zu ver-
handeln . Das ist auch richtig, sehr geehrte Frau Dröge .
Das Bundeswirtschaftsministerium ist sich seiner Ver-
antwortung bewusst . Man verschließt ja nicht die Augen
vor der Realität . Niemand im Bundeswirtschaftsministe-
rium, den ich kenne, sagt: Wir müssen das Verhandlungs-
paket komplett neu aufschnüren . – Dort hat man schließ-
lich die Realität akzeptiert .
Dass bereits vor über einem Jahr die Verhandlun-
gen abgeschlossen worden sind, müssen Sie einmal zur
Kenntnis nehmen und auch die Tatsache, dass es im
Rahmen der Rechtsförmlichkeitsprüfung, die als Legal
Scrubbing bezeichnet wird, ein ganz normaler Vorgang
ist, Dinge in der Feinjustierung zu verändern .
Das ist etwas, was wir natürlich unterstützen . Die Chance
zu nutzen, die darin besteht, vielleicht die eine oder an-
dere Sache in unserem Sinne zu korrigieren, ist unterstüt-
zenswert und richtig . Aber ein komplettes Aufschnüren
des Verhandlungspaketes ist dummes Zeug . Deswegen
lehnen wir es ab .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Bärbel Höhn für Bünd-
nis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am10 . Oktober dieses Jahres gab es eine sehr große De-monstration in Berlin . 250 000 Menschen – ich war da-bei – haben gegen die Freihandelsabkommen CETA undTTIP demonstriert .
Wenn Sie hier von „Empörungsindustrie“ und von „Angstmacherei“ reden,
dann sage ich: Nehmen Sie die Sorgen der Menschenernst! Das sollten gerade auch Sie in der Koalition tun .
Warum haben diese Menschen Sorgen? Es geht hierum Punkte, die seit Jahren und Jahrzehnten in WTO-Ver-handlungen nicht geklärt worden sind, zum Beispieldie Frage der Gentechnik . Das ist zwischen Europa undNordamerika schon immer ein Riesenproblem gewesen .Natürlich hat Nordamerika mit seinem Gentechnikein-satz immer gesagt: Eure Argumente gegen die Gentech-nik sind doch nur ein Handelshemmnis . Ihr wollt eureKatharina Dröge
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Märkte für unsere Produkte einfach sperren . – Wir habengesagt: Nein, wir haben einen vorsorgenden Verbrau-cherschutz .Das, was jetzt mit dem CETA-Abkommen passierensoll – der Text liegt ja vor –, ist, dass dieser Konflikt zu-lasten der Verbraucher und zugunsten der Gentechnikgelöst werden soll . Dagegen werden wir Widerstand leis-ten . Das nehmen wir so nicht hin .
Wie wichtig dieses Thema ist, wissen Sie selbst . HerrSeehofer hat damals als Minister als Nachfolger von FrauKünast im November 2005 den Anbau von MON 810 ge-nehmigt . Das war die erste kommerziell angebaute Gen-technikpflanze. Gegen diesen Anbau hat es so viel Wi-derstand gegeben, auch von den Bauern aus Bayern undauch von der Firma Hipp aus Bayern, dass Herr Seehoferspäter seine Nachfolgerin Frau Aigner angewiesen hat,den Anbau von MON 810 wieder zu verbieten .Wenn Sie dem CETA-Abkommen jetzt zustimmen,wird es die Möglichkeit, zukünftig den Anbau von Gen-technikpflanzen zu verbieten, nicht mehr geben, es sei denn, Sie sind bereit, massive Schadensersatzzahlun-gen zu leisten . Das, meine Damen und Herren, ist nichtdas, was wir wollen . Deshalb: Stimmen Sie gegen das CETA-Abkommen in der jetzigen Form!
Dass bereits die Verhandlungen Standards absenken,sehen wir doch . Ein Beispiel dafür ist Honig aus Kanada .Der Europäische Gerichtshof hat erklärt: Dieser Honigmuss besonders gekennzeichnet werden, weil das gen-technisch veränderte Material in den Pollen über demGrenzwert liegt . – Was hat die EU gemacht? Weil sie dieVerhandlungen mit Kanada nicht gefährden wollte, hatsie den Pollen als Bestandteil des Honigs deklariert, unddamit war der Gentechnikanteil unter dem Grenzwert .Diese Beispiele könnte ich noch fortsetzen . Schonheute werden Standards aufgrund der Verhandlungen imRahmen des CETA-Abkommens relativiert . Deshalb istIhr Versprechen, dass keine Standards abgesenkt werden,nur ein hohles Versprechen, das wir nicht glauben .
Sie wissen doch, was im Vertrag steht: 75 000 Ton-nen Schweinefleisch zollfrei, 50 000 Tonnen Rindfleisch zollfrei . Wo sind die Schweinepreise momentan? Im Kel-ler! Wenn Sie das, was im Vertrag geregelt ist, eingedenkder Tatsache, dass die Kosten in Kanada um 40 Prozentgeringer sind, zulassen, dann übt das einen so starkenDruck auf unsere einheimischen Familienbetriebe aus,dass noch mehr aufgeben müssen . Was machen Sie ei-gentlich für eine Politik für die Bauern in diesem Land?
Letzter Punkt . Eine kanadische NGO hat eine Initiati-ve gestartet, die eine Passage im Paris-Abkommen zumZiel hat, wonach Schiedsgerichte in geschlossenen wiezukünftigen Freihandelsverträgen für den Pariser Kli-mavertrag nicht gelten dürfen, weil man sich sonst nichtin der Lage sieht, den Paris-Vertrag für Klimaschutzzu erfüllen . Das hat übrigens das Europaparlament miteiner Resolution unterstützt . So viel zu der momenta-nen Haltung in Kanada . Seit der Regierungsübernahmedurch Herrn Trudeau zeichnet sich eine Veränderung ab .Er sieht diesen Vertrag in einem neuen Licht . NehmenSie die Möglichkeit wahr, endlich neu zu verhandeln,auch über Schiedsverfahren! Sie können doch nicht dieSchiedsverfahren bei TTIP verändern wollen, währendsich bei CETA nichts ändern soll . Dann würden 80 Pro-zent der Klagen von US-Firmen mit Niederlassungen inKanada auf der Grundlage des CETA-Vertrages trotzdemhier erhoben werden . Lassen Sie uns also die Verträgenachverhandeln! Ich bin nicht bereit, dass der Preis füreinheitliche Autoblinker die Gentechnik auf unseremTeller sein soll . Das werden wir nicht hinnehmen .
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Spiering für die
SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne! Lassen Sie micheine Vorbemerkung machen . Es mag sein, dass ich falschliege, aber wenn ich das Verfahren einigermaßen richtigverstanden habe, dann hat man sich in Europa geeinigt,dass das Europäische Parlament für Europa die Verhand-lungen führt .
– Richtig, die Kommission . Danke schön, Herr Ernst, fürdie Berichtigung .
Momentan liegt die Verhandlungsführung also beider Europäischen Kommission . Es entspricht unsereneuropäischen Wertvorstellungen, das gemeinsam zu tun .Wenn ich es weiterhin richtig verstanden habe – die Aus-sagen in meiner Fraktion sind eindeutig –, dann handeltes sich um ein gemischtes Abkommen . Wenn es sich umein solches Abkommen handelt – davon gehe ich aus –,dann wird es letztendlich zu einer endgültigen Entschei-dung über CETA und TTIP in diesem Hohen Hause kom-men; das ist so auch richtig .
– Richtig, mit Ja und Nein . – Von meinem Verständnisher – ich kann sicherlich falsch liegen – verhält es sichBärbel Höhn
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so: Entweder wir trauen Europa und dem EuropäischenParlament einschließlich aller Abgeordneten und Frak-tionen – Frau Höhn, auch der Grünen – Kompetenz zuoder nicht .
Das ist für mich die entscheidende Frage: Trauen wirdem Europäischen Parlament zu, seine Souveränität fürEuropa auszuüben?
Wenn nicht, dann ist das Ihre Entscheidung . Aber wirtrauen es dem Europäischen Parlament zu . Wir trauendem Europäischen Parlament und der Kommission auchzu, ordnungsgemäß zu verhandeln .
Herr Kollege Spiering, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Ernst?
Das müssen Sie schon mir überlassen . Jetzt erst recht!
Der Kollege Ernst hat damit das Wort .
Das macht Sie sehr sympathisch, Herr Spiering . – Ich
will auf das Vertrauen eingehen . Glauben Sie denn, Kol-
lege Spiering, dass es dem Präsidenten des Deutschen
Bundestags an Vertrauen in die europäischen Institutio-
nen mangelt?
Darum geht es nicht .
Doch, genau darum geht es . – Er fordert, dass bei den
infragestehenden Handelsabkommen die Parlamente in
der Form beteiligt werden müssen, dass sie Einfluss auf
die Inhalte haben .
Die nationalen Parlamente .
Richtig, die nationalen Parlamente . – Er hat ausdrück-
lich von unserem Parlament und nicht vom italienischen
oder vom Europäischen Parlament gesprochen . Er for-
dert, dass die Parlamente Einfluss auf die Gestaltung der
Verträge haben müssen .
Sie sollen nicht nur abwinken oder mit Ja oder Nein stim-
men . Ich glaube, dem Präsidenten des Deutschen Bun-
destages mangelt es nicht an Vertrauen in die europäi-
schen Institutionen .
– Was hat er nicht verstanden? Meinen Sie Herrn Spiering
oder mich?
– Ich verstehe zwar viel nicht . Aber Sie könnten einmal
zuhören .
Der Punkt ist: Wenn wir uns als Parlament nur auf die
Vertrauensebene begeben, Herr Kollege Spiering, dann
werden wir dem nicht gerecht, was die Bürger von uns
erwarten . Die Bürger erwarten schon, dass auch dann,
wenn es ein gemischtes Abkommen ist – Sie sagen, es
solle eines sein; es war gestern bei Frau Malmström
völlig unklar, ob es ein gemischtes Abkommen ist oder
nicht; es ist selbst jetzt noch unklar, ob wir selbst bei der
Endabstimmung überhaupt mitreden dürfen –,
wir über das Vertrauen hinaus einen Schritt machen, um
unseren Einfluss als Parlament im Sinne unseres Bun-
destagspräsidenten geltend zu machen . Glauben Sie das
nicht auch?
Herr Ernst, lassen Sie mich bescheiden antworten: Essteht mir nicht zu, den Bundestagspräsidenten zu inter-pretieren . Dafür fühle ich mich viel zu klein .Meine zweite Bemerkung betrifft das Grundverständ-nis – das will ich gerne noch einmal erklären – des Auf-baus der Europäischen Union . Daran kann man viel kri-tisieren . Ich mache mir viele Sorgen um Europa, ganzviele, aber so, wie Europa im Moment aufgebaut ist,müssen wir dem Europäischen Parlament und der Euro-päischen Kommission erst einmal zubilligen, das zu tun,was ihnen obliegt . Das ist meine Auffassung dazu .
Ich will das gerne wiederholen: Ich gehe davon aus,dass meine Fraktion recht hat und wir ein gemischtes Ab-kommen haben . Die Fragen, die übrigens zu Recht vonder Bevölkerung angesprochen werden, müssen beant-wortet werden . Frau Höhn, ich nehme die 250 000 Men-schen, die demonstriert haben, sehr ernst .
Rainer Spiering
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Frau Höhn, ich nehme aber auch viele andere ernst,die im Lande im Moment Auffassungen vertreten, dieich nicht vertrete und die den Umgang mit Flüchtlingenbetreffen . Auch die nehme ich ernst; denn man muss dieStrömungen aufnehmen . Man kann sich nicht davor weg-ducken .Weil wir die Fragen und Bedenken ernst nehmen, be-schäftigen wir uns intensiv damit . Es ist nicht so, dasswir die Kritikpunkte der Grünen nicht verstehen können .Selbstverständlich kann man diese verstehen . Ich halteTransparenz für das Wichtigste im politischen Umgang .Wir müssen klarmachen, worum es uns geht . Aber nocheinmal: Der entscheidende Tag wird dann kommen,wenn wir hier im Bundestag mit Ja oder Nein abstimmen .
Lassen Sie mich abschließend noch etwas sagen, wozuich noch gar nicht gekommen bin . Meine Aufgabe war eshier, die AG Landwirtschaft zu vertreten .
Wir haben im Bereich der Landwirtschaft einen Sektor,die Landmaschinentechnologie, der extrem erfolgreichist . Der ist allerdings zu 75 Prozent vom Export abhän-gig . Ich habe mir einmal die Zahlen von Kanada kommenlassen . Wir kommen fast nicht in diesen Markt hinein .
– Ich als Vertreter einer Industrienation bedaure das . –Wir haben ganz große Probleme, in diesen Markt zukommen . Ich habe mir heute Morgen die Zahlen gebenlassen . Es gibt einen Wahnsinnsmarkt, es werden da al-lein 26 000 Schlepper pro Jahr veräußert . Wir kommen dagar nicht vor. Wir haben aber eine unglaublich effiziente, auf Hightech basierende Landmaschinenindustrie . Ichwürde mich zutiefst freuen, wenn die sehr gut bezahltenArbeitsplätze in den Betrieben, die fast durchgängig derMitbestimmung unterliegen, in Deutschland an Zahl zu-nehmen könnten, weil das unserer Mentalität entspricht .
Herzlichen Dank fürs Zuhören .
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dirk Wiese für die SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Kollege Bernd Westphal hat schon ange-deutet, dass ich mich auf zwei Punkte des Antrags derGrünen beschränken will . Einer davon betrifft den Be-reich der regulatorischen Kooperation .Die angestrebte regulatorische Kooperation kann… dazu beitragen, die Entwicklung neuer Regulie-rungen besser zu koordinieren bzw . gemeinsam zugestalten . … Die Entwicklung gemeinsamer transat-lantischer Standards kann gute Rahmenbedingun-gen für Innovationen insbesondere auch im Bereichder nachhaltigen Zukunftstechnologien schaffenund damit die Innovationsfähigkeit der Unterneh-men insgesamt steigern .Liebe Grüne, Sie dürfen klatschen, das ist aus dem Eck-punktepapier der baden-württembergischen Landesre-gierung .
Liebe Grüne, Sie haben in Ihrem Antrag dargestelltund viele Punkte aufgeführt, warum Sie CETA in derderzeitigen Fassung nicht zustimmen . Ich muss Ihnenehrlicherweise eines sagen: Ich war unter der Woche hierin Berlin auf Podiumsdiskussionen zu TTIP und CETAund habe Ihre baden-württembergische StaatsministerinSilke Krebs auf den Diskussionen explizit sagen gehört –der Kollege Beyer war selbst da gewesen und auch KlausMüller von der Verbraucherzentrale Bundesverband –,dass sie die Position, die die Bundestagsfraktion ein-nimmt, nicht versteht und nicht teilt . Gleichzeitig abersagt sie, sie würde CETA in der jetzigen Form zustim-men . Sie hingegen suggerieren den Bürgern, dass Siesich an die Spitze einer Bewegung stellen, die versucht,CETA abzulehnen und zu verändern . Das ist aber un-glaubwürdig, weil die baden-württembergische Landes-regierung und auch andere Landesregierungen, in denenSie Wirtschaftsminister stellen, dem letztendlich zustim-men wollen . Es ist unglaubwürdig, was Sie den Bürge-rinnen und Bürgern suggerieren .
An dieser Stelle – jetzt bitte einmal zuhören – mussich den Kollegen Klaus Ernst einmal loben .
Der Kollege Klaus Ernst ist in der Sache wenigstens klar .Auch wenn wir uns bei CETA und TTIP nur auf Markt-zugangskriterien einigen würden, auch wenn wir uns nurauf Zölle einigen würden, auch wenn wir die Schiedsge-richte komplett herausnehmen oder etwa die Implemen-tierung der ILO-Kernarbeitsnormen durchsetzen würden:Sie würden es trotzdem ablehnen . Sie würden Nein zuTTIP und CETA sagen, egal welche Reformbestrebungenwir auf den Weg bringen . Das sollten Sie an der einenoder anderen Stelle ebenfalls ehrlich sagen .
Noch ein letzter Punkt . Liebe Kolleginnen und Kol-legen der CDU/CSU, eine kleine Differenz besteht auchzwischen uns . Das muss man einmal sagen .
Rainer Spiering
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Sie sind für TTIP und CETA, egal was darin steht . Wirwollen wenigstens noch verhandeln . Das ist ein ganzkleiner Unterschied .
Wir wollen ein gutes, ein richtiges Abkommen . Dafürmuss man erst einmal verhandeln .
Frau Dröge, Sie haben am Anfang das Bundeswirt-schaftsministerium angesprochen .
Kollege Wiese, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lenkert?
Ja, selbstverständlich .
Vielen Dank, Herr Kollege . – Ich wollte vorhin schon
die Kollegen fragen: Ist Ihnen der Fall Hamburg-Moor-
burg bekannt? Ausgangspunkt waren die vom Hambur-
ger Senat ausgesprochenen Umweltauflagen. In einem
internationalen Schiedsgerichtsverfahren mit den USA
wurde ein Vergleich geschlossen, und die Umweltau-
flagen wurden zurückgenommen. Jetzt findet daraufhin
ein Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische
Kommission statt, weil bei den Umweltauflagen euro-
päisches Recht nicht eingehalten worden ist . Die Um-
weltauflagen mussten aber aufgrund des Vergleiches im
Schiedsgerichtsverfahren zurückgenommen werden .
Meine Frage an Sie: Ist es klug, ein Abkommen ab-
zuschließen, wonach sich am Ende die Hansestadt Ham-
burg entscheiden muss, ob sie an den Investor das im
Schiedsgerichtsverfahren ausgehandelte Strafgeld oder
an die EU-Kommission wegen Vertragsverletzung zahlt,
weil man die EU-Norm nicht eingehalten hat?
[SPD]: Steilvorlage!)
Diese Reformen in den Verfahren, lieber Herr Klaus
Ernst, erreicht man nur am Verhandlungstisch . Wenn
man nicht am Verhandlungstisch sitzt, wird es noch mehr
Fälle wie Hamburg-Moorburg geben . Sie tragen dazu
bei, weil Sie es ablehnen und nicht mitgestalten wollen .
Die Kollegin Höhn möchte auch eine Zwischenfrage
stellen, wobei ich meine, dass am Schluss der Debatte
keine weiteren Zwischenfragen mehr gestellt werden
sollten . Wir haben schon eine sehr lebendige Debatte ge-
habt .
Sie haben das Wort .
Herr Kollege Wiese, Sie haben gerade zu Recht ge-
sagt, dass eine Reform der Schiedsgerichtsverfahren
auch von den Sozialdemokraten deshalb angestrebt wird,
weil die Passagen, die bei TTIP vorgesehen sind, auch
aus Ihrer Sicht nicht befriedigend sind . Gleichzeitig gibt
es aber im CETA-Vertragstext Passagen zu Schiedsge-
richtsverfahren . Hier wird gesagt: Nur noch im Rahmen
eines Legal Scrubbing wird etwas geändert . Wird die
SPD-Fraktion einem CETA-Vertragstext zustimmen, wo
diese Schiedsgerichtsverfahren noch enthalten sind und
damit US-Firmen über ihre Dependancen in Kanada wei-
terhin die Schiedsgerichtsverfahren gegen Deutschland
anstrengen können?
Ich komme gerne darauf zu sprechen . Einmal bitteich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass auch in den re-formierten ISDS-Verfahren, sowohl das Abkommen mitSingapur als auch das CETA-Abkommen betreffend, dieklassische Klagemöglichkeit von Briefkastenfirmen
– lassen Sie mich aussprechen –, die in allen vorherigenAbkommen stand, herausgenommen worden ist . Das istdie erste Feststellung .
Den zweiten Punkt, den Sie ansprechen, kann ich ausSicht der Opposition voll und ganz verstehen . Sie möch-ten gerne wissen, ob am heutigen Tag feststeht, ob wir Jaoder Nein sagen . Ich kann das nachvollziehen . Das ist Ihrgutes Recht .Nur: Die neue kanadische Regierung hat vor einerWoche die Arbeit aufgenommen . Wir waren gestern zuGesprächen in Brüssel . Auch wir haben mit den Kolle-ginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments ge-sprochen . Ich bin guter Dinge, dass wir in dem sich nochDirk Wiese
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bis Ostern 2016 hinziehenden sogenannten Legal-Scrub-bing-Verfahren – Frau Dröge, ich teile Ihnen den Zeit-plan gern mit; schließlich haben Sie vorhin gesagt, Siewüssten davon nichts – noch zu punktuellen Veränderun-gen kommen .
Die EU-Kommissarin Malmström hat uns gestern ineinem Gespräch gesagt – Frau Dröge, vielleicht tauschenSie sich einmal mit dem Kollegen Janecek aus, wenn ervon einer Reise zurückgekommen ist –, dass sie Kontaktmit der neuen kanadischen Handelsministerin aufnimmt,um klarzustellen, dass im Legal-Scrubbing-Verfahrennoch Möglichkeiten bestehen, an der einen oder anderenStelle Feinjustierungen, Änderungen vorzunehmen .
Ich bitte Sie an diesem Punkt einfach einmal um etwasGeduld; denn hier wird sich zeigen, dass die SPD sowohlim Europäischen Parlament als auch über das Bundes-wirtschaftsministerium an jeder Stelle versuchen wird,da noch etwas zustande zu bringen . Das ist Politikgestal-ten, und da machen Sie nicht mit .
Ich will noch auf einen Punkt eingehen: Sie fordernin Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, dass die wei-teren Kooperationsvereinbarungen im Regelungsbereichso zu gestalten sind, dass daraus keine Verlagerung vonKompetenzen in den Exekutivbereich erwächst . Ich kannIhnen eins sagen – das steht im vorläufigen CETA-Ver-tragsentwurf; er ist übrigens öffentlich; man kann ihneinsehen; Herr Kollege Ernst, ich lade Sie herzlich ein, inmein Büro zu kommen; da liegt dieser Entwurf auf demSchreibtisch –: Keine Kompetenzen werden in den Exe-kutivbereich verschoben, da die Kompetenzverteilungim Vertragsentwurfstext gar nicht geregelt wird . CETAverweist vielmehr darauf, dass Entscheidungen erst dannwirksam werden, wenn die Vertragsparteien im Einklangmit ihrem jeweiligen internen Verfahren zugestimmthaben . Darum ist die Behauptung, die Sie in Ihrem An-trag aufstellen, schlichtweg falsch .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Damit schließe ich die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/6201 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall; es gibt keinenWiderspruch . Dann ist die Überweisung so beschlossen .Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 30 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDIndustrie 4.0 und Smart Services – Wirt-schafts-, arbeits-, bildungs- und forschungs-politische Maßnahmen für die Digitalisierungund intelligente Vernetzung von Produktions-und WertschöpfungskettenDrucksache 18/6643Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist auch dieses so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als ersterRednerin das Wort der Bundesministerin ProfessorDr . Johanna Wanka .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Industrie 4 .0 wissen Sie, wer sich diesen Begriffüberlegt hat, woher dieses Wort kommt?
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Wir haben – „wir“ heißt an der Stelle: der Wirtschafts-minister und ich – in diesem Jahr anlässlich der letzenHannover Messe die Plattform Industrie 4 .0 etabliert . Soetwas schaffen wir in Deutschland, wo Wirtschaft, Wis-senschaft und gesellschaftliche Kräfte zusammensitzenund über diese Dinge beraten . So wird eine Andockstellegeschaffen . Es ist also nicht so, dass gesagt wird: DieWirtschaft soll sich von allein entwickeln, und außer-dem sind wir schon gut . Es wird vielmehr überlegt, wieman die neuen Entwicklungen vonseiten der Politik, aberauch vonseiten der Wissenschaft flankieren kann. Man könnte ständig darüber reden, dass es die größtePlattform ihrer Art weltweit ist und dass dort viele Part-ner beteiligt sind . Das stimmt zwar alles; aber das Einzi-ge, was uns interessiert, ist: Was liefert diese Plattform?In der nächsten Woche werden wir auf dem IT-Gipfel200 Beispiele präsentieren, die zeigen, wo Industrie 4 .0in Deutschland schon realisiert wurde .
In diesem Zusammenhang möchte ich drei Punkte her-ausgreifen:Erster Punkt . Die KMUs stehen bei uns im Fokus,wenn es um Industrie 4 .0 geht . Wir haben dafür entspre-chende Programme entwickelt . Im Programm „Indus-trie 4.0 auf dem Hallenboden“ geht es ganz konkret da-rum, wie die Wirtschaftlichkeit von Industrie 4 .0 durchkleine Unternehmen beurteilt werden kann und welcheEinführungsstrategien man anwenden kann . Dazu gehörtnicht so sehr das Herstellen von Handreichungen, son-dern es geht um das Erstellen von Musterbeispielen aufder Grundlage von einfachen Szenarien . Der Mittelstandwird durch diese Programme an Industrie 4 .0 herange-führt und entsprechend motiviert .Ich freue mich, dass wir jetzt die Situation haben – an-ders als im letzten Jahr –, dass 70 Prozent der KMUsglauben, dass durch die mit Industrie 4 .0 verbundeneEffizienzsteigerung ein großer Vorteil für ihre Betriebe entstehen kann . Das Wirtschaftsministerium will nächs-tes Jahr die fünf angekündigten Demonstrationszentreneinrichten . Das ist eine gute Anlaufstelle für den Mittel-stand . Dazu brauchen wir aber die Ergebnisse aus diesenProgrammen . Wir müssen eine Antwort auf die Frage ge-ben, wie man Investitionsentscheidungen trifft . Da müs-sen wir etwas vorzuweisen haben .Wir wollen – diese Neuerung haben wir angekur-belt –, dass man auch testen kann; ein Mittelständlersoll seine Idee testen können . Aber vonseiten unseresRessorts werden keine Testzentren eingerichtet . Denn inder Forschung, auch bei Großunternehmen in Deutsch-land gibt es Testmöglichkeiten, und wir geben dem Mit-telstand über ein Förderprogramm das dazu notwendigeGeld . Die Mittelständler können selbst entscheiden, wosie ihre Idee austesten wollen . Wir werden nächste Wo-che bekannt geben, wo es Koordinierungsstellen gibt, indenen man sich beraten lassen kann . Ich denke, dies isteine ganz wesentliche Maßnahme, um den Mittelstandmitzunehmen .
Zweiter Punkt . Ohne entsprechende Sicherheit – da brau-chen wir uns gar nicht katholisch zu machen – ist es nichtmöglich, Industrie 4 .0 zu realisieren . Ich bin sehr stolzdarauf, dass wir die Idee des Industrial Data Space, dievon Fraunhofer kam, durchgekämpft haben . Da gab esviele Gegner etc .; das können Sie in der Presse noch ein-mal nachlesen . Jetzt ist es Standard .
Jetzt haben wir dazu bei der Plattform Industrie 4 .0 or-ganisatorisch alle zusammen – es sind alle Großen dabei;es ist der Mittelstand dabei –, sodass es umgesetzt wird;Stichwort „MoU“. Wir geben im Moment Geld, um die Entwicklung der Softwarebausteine zu befördern .Thema IT-Sicherheit . Die drei Kompetenzzentren fürIT-Sicherheit haben wir vier Jahre finanziert und dann evaluiert . Bei einer solchen Evaluation kann auch einerrausfallen . Das Ergebnis aber ist: Exzellent! Super! – Soist die internationale Einschätzung . Deshalb erhöhen wirjetzt die Summe für die nächsten vier Jahre . Wir gehenauf 40 Millionen Euro . Diese Summe werden wir dorthineinstecken . Dann gibt es Kontinuität . Ich nenne auchdas große Programm „Referenzprojekt für IT-Sicherheitin Industrie 4.0“, das im Juli gestartet ist, und, und, und.Der dritte Punkt . Allen ist klar, dass Industrie 4 .0 nurfunktionieren kann, wenn die Mitarbeiter mitziehen odermitgezogen werden . Das heißt, es gibt Veränderungenin der Arbeitsorganisation, in der Arbeitsmotivation, beidem, was man können muss . Das muss jetzt in Deutsch-Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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land entsprechend umgesetzt werden, und das ist nichteinfach . Wir behandeln dieses Thema im Ministerium inunterschiedlichsten Programmen, schon seit Jahren . Ichhoffe, ich höre nachher nicht das Märchen, das ich schonmehrfach gehört habe, nämlich dass wir erst jetzt, nachall der Technologie, anfangen, uns um diese Punkte zukümmern . Das ist einfach Quatsch . Das kann man bele-gen . Das kann man zeigen .Ich habe noch vor der Bundestagswahl Verhandlun-gen mit den Sozialpartnern gehabt, also mit den Ge-werkschaften, mit den Arbeitgeberverbänden . Deswegenhaben wir jetzt die Möglichkeit, gemeinsam ein großesProgramm zu etablieren, bei dem es um die Arbeitsweltvon morgen geht, bei dem von Vornherein die Interes-sen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer mit verankertsind – mit richtig vielen 100 Millionen .Aber es geht nicht darum, dass man nur Forschungmacht; Forschung muss immer an die konkrete Wirt-schaft gebunden sein . Deswegen wird es keine abstrak-ten Forschungsprojekte geben, sondern sie werden an-wendungsbezogen sein, immer in Verbindung mit einemBetrieb, einem kleinen, einem mittelgroßen, je nachdem .Wir haben die Initiative Berufsbildung 4 .0 zur Berufs-feldentwicklung gestartet – mit den Kammern, mit demBIBB . Die Berufsfelder müssen geändert werden . DieDigitalisierung muss sich in den Curricula wiederfinden. Wir werden hier hoffentlich beschließen, was gestern inder Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses nichtstrittig war: An die überbetrieblichen Ausbildungszen-tren des Handwerks geben wir 14 Millionen Euro imnächsten Jahr; das soll sich steigern bis auf 20 MillionenEuro . Das ist für die Hardware an der Stelle .
Meine Damen und Herren, es wird in Deutschland im-mer gesagt: Guckt bei Industrie 4 .0 auf die Amerikaner!Was die alles können! – Unsere großen Wirtschaftschefs,ob nun Denner oder Veit, sind dagewesen . Sie sagen uni-sono – sie sagen das jetzt auch vor versammelter Mann-schaft, auf großer Bühne –: Da ist viel heiße Luft . Wirsind richtig gut . – Dieses Selbstbewusstsein wünscheich uns bei diesem Thema; denn Marketing gehört auchdazu . Wir haben es oft ein bisschen vergeigt oder nichtgeschafft . Ich denke, mit Industrie 4 .0 sind wir, auch wasdas Marketing anbetrifft, gut gewesen . Und jetzt wollenwir handeln .Danke .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Herbert
Behrens von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es geht um Industrie 4 .0, eine Produktionsweise, dieheute in den Betrieben schon teilweise vorhanden ist –wir haben es gerade gehört –, aber in der Zukunft nochwesentlich größere Dimensionen erreichen wird . Darumhätte ich bei diesem umfassenden und umfangreichenAntrag der Koalitionsfraktionen erwartet, dass sie Ant-worten auf die neuen Herausforderungen geben,
dass sie klarmachen, an was es eigentlich fehlt, nachdemim Bundestag seit zwei Jahren über Industrie 4 .0 disku-tiert wird . Diese Antworten bleiben sie schuldig . DiesenAnforderungen werden sie nicht gerecht .Sie haben keine Antwort auf die Frage gegeben: Wiemüssen eigentlich die Schwerpunkte gesetzt werden? Esist eine Ansammlung, teilweise ein Sammelsurium vonverschiedenen Maßnahmen, die es in der Vergangenheitgegeben hat und die es auch künftig noch geben soll . Siehaben nicht gleich zu Anfang festgestellt: Es bedarf einesschnellen Internets auf Glasfaserbasis . – Sie haben wie-derholt: Es kann so weiterlaufen wie bisher . Die Indust-rie hat ja zugesagt, zu investieren . Sie wollen sozusagentechnologieneutral – das ist ja das besondere Wort, dasSie verwenden – agieren. Nein, es bedarf eines flächen-deckenden Glasfaserausbaus, um wirklich das umzuset-zen, was wir mit Industrie 4 .0 verbinden .
[SPD]: Steht aber drin!)
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Unternehmensentscheidungen, b) zwingend Mitbestim-mung bei allen personellen Maßnahmen einschließlichOutsourcing, Leiharbeit und Werkverträgen, und wirbrauchen c) Gestaltungsmöglichkeiten von Betriebsrätenüber die Betriebsgrenze hinaus, wenn es zu Kooperati-onen kommt . Wenn es dazu kommt, dass Betriebe engkooperieren, darf die Mitbestimmung nicht an den Be-triebsgrenzen Halt machen . Das alles macht ein anderesBetriebsverfassungsgesetz möglich .Die Linke fordert mehr Mitbestimmung und Beteili-gung; denn nur mit mehr Demokratie im Betrieb wirdes auch zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichenFortschritt kommen können .
Unsere Aufgabe als Politiker ist es, die Rahmenbedin-gungen zu setzen . Wir können – das ist klar – nicht jedeneinzelnen kleinen Schritt vorgeben . Darum gehört nochviel Forschungsarbeit auf diesem Feld dazu . MinisterinWanka hat recht, wenn sie sagt: Wir fangen nicht erstheute an . Es gibt bereits aus den Jahren des technologi-schen Umbruchs bzw . der Digitalisierung in der Produk-tion weitreichende Forschungsergebnisse . Damals hießdie Überschrift dazu „Leben und Arbeiten in der Infor-mationsgesellschaft“.Wir brauchen Forschung darüber, wie Belegschaftenmit diesem Veränderungsprozess umgehen . Wir müssenihnen Sicherheit geben, damit sie wissen, auf was siesich – qualifikatorisch, aber auch im Hinblick auf die Veränderung des Betriebes – vorbereiten müssen . Des-halb fordern wir, dass die Forschungen, die hier in demAntrag noch einmal explizit genannt worden sind, auchwirklich ernst genommen werden . Wir brauchen keineweiteren Forschungsergebnisse, die in den Bibliothekender Universitäten verschwinden oder verstauben . DieseForschungsergebnisse müssen in die politischen, aberauch in die unternehmerischen Entscheidungen einflie-ßen, sonst machen sie keinen Sinn .
Ich kritisiere an Ihrem Antrag, dass Sie, wie vorhinschon gesagt, keine eindeutigen Hinweise darauf geben,wie Sie zu den Forderungen stehen, die beispielsweisevon der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber-verbände oder vom Bundesverband der Deutschen In-dustrie kommen . Ich lese nichts von Widerspruch zu deranmaßenden Forderung, Unternehmensgründer mit Son-derrechten auszustatten, keine gesetzlichen Beschrän-kungen beim mobilen Arbeiten zuzulassen oder dasVerbot der Sonntags- und Feiertagsarbeit aufzuweichen .Dazu haben Sie Stellung zu nehmen, damit wir Sicher-heit in den Umbau der Industrie bekommen . Ohne dieseSicherheit, insbesondere auch für die Beschäftigten, wirdes keinen vernünftigen Einstieg in die Industrie 4 .0 gebenkönnen .
Es besteht die Gefahr, dass Belegschaften zur Rest-größe von industriellen Veränderungsprozessen werden .Sie haben keine Antworten auf die Frage, wie sich mög-licherweise die Lebensqualität der Belegschaften verän-dert, wenn es zur Entgrenzung von Arbeitszeiten kommt,sei es, dass sie zu Hause arbeiten müssen oder sollen, seies, dass sie just in time in den Produktionsprozess inte-griert werden . Ohne diese Antworten werden wir aber dieIndustrie 4 .0 nicht gestalten können .
Von daher ist es erforderlich, dass wir zu den Forde-rungen der Wirtschaftsverbände eindeutig Position be-ziehen, die aus den Möglichkeiten, die ihnen die neuenTechnologien bieten, einseitig ihren Profit heraussaugen wollen . Die Linke sagt: Ja, wir wollen einen technologi-schen Fortschritt, der den Menschen dient . Wir wollendie Möglichkeiten nutzen für gute Arbeit, für gute Löh-ne, für eine umweltverträglichere Produktion und fürEntwicklungsmöglichkeiten in den Ländern des globalenSüdens .
Das sind die wirklichen Herausforderungen der Digi-talisierung von Wirtschaft und Arbeit . Ihr Denken ist vonHerbert Behrens
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gestern und lässt es nicht zu, dass wir wirklich die Pro-bleme von morgen lösen können .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Hubertus Heil
von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Was verstehen wir eigentlich unter der ChiffreIndustrie 4 .0? Ich glaube, wir müssen es immer wiedererklären, weil wir als Parlament nicht die Aufgabe haben,in Fachtermini zu sprechen, sondern die Aufgabe haben,uns mitzuteilen . Es geht dabei um die intelligente undinternetbasierte Vernetzung von industrieller Produktion,und zwar auf allen Stufen der Wertschöpfung . Es gehtnach den industriellen Revolutionen der letzten 150 Jah-re – nach Dampfmaschine, Fließband und Robotik – tat-sächlich um einen neuen Sprung .Warum wird sich das Ganze ökonomisch überhauptals Frage stellen? Weil es natürlich technologiegetrie-bene, riesige Produktivitätsfortschritte verspricht, wennwir uns auf diesen Weg machen . Es wäre hinsichtlichder ökonomischen Entwicklung dieses Landes eine Ka-tastrophe, wenn wir diesen Weg nicht konsequent gehenwürden . Deshalb, Herr Kollege, ist beides richtig . Wirmüssen aus diesem technologischen und ökonomischenFortschritt sozialen Fortschritt machen, ohne Zweifel .Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Produktivität ge-recht verteilt wird . Aber erst einmal müssen wir für einenProduktivitätssprung sorgen . Es muss etwas erwirtschaf-tet werden, und es muss gerecht verteilt werden . Das sindfür uns Sozialdemokraten keine Gegensätze, sondernwechselseitige Bedingungen .
Frau Ministerin Wanka, bei allem in Ihrer Rede, wasich unterstreiche, muss ich sagen: Ich finde, diese Chiff-re Industrie 4 .0 hat sich zwar in den letzten zwei Jahrendurchgesetzt . Trotzdem müssen wir ein bisschen aufpas-sen, dass sich auch Teile der Wirtschaft darunter versam-meln und damit identifizieren können, die sich manchmal nicht im klassischen Sinne mit dem Begriff „Industrie“ anfreunden . Die großen Industriebetriebe unseres Lan-des, ob nun Bosch oder Siemens, und auch größere Tei-le der Automobilindustrie, haben sich längst auf diesenWeg gemacht .Es gibt auch eine Reihe von großen Hidden Cham-pions, wie sie immer genannt werden, im produzierendenMittelstand unserer Marktwirtschaft, die sich auf diesenWeg gemacht haben: Unternehmen wie Festo, KUKA,TRUMPF und WITTENSTEIN . Aber die Tatsache, dassin den letzten zwei Jahren vor allen Dingen immer die-se sechs Beispiele genannt werden, zeigt auch, dass wirnoch viel Aufholbedarf haben . Wir müssen dafür sorgen,dass sich gerade mittelständische Unternehmen auf die-sen Weg machen und machen können und dass sie nichtabgehängt werden . Da bin ich mir nicht sicher, ob dieseChiffre Industrie 4 .0 immer ganz hilfreich ist, weil vie-le dieser Unternehmen sich nicht im klassischen Sinneals große Industrieunternehmen begreifen, sondern alsproduzierender Mittelstand . Deshalb wäre es eigentlichwichtiger, insgesamt über eine Wirtschaft 4 .0 zu spre-chen .Wie auch immer der Begriff lautet – es geht um ganzkonkrete Handlungsfelder . Meine Damen und Herren, wirbeschreiben im vorliegenden Antrag nicht nur, was dieBundesregierung macht – sie ist in vielen Bereichen aufeinem guten Weg –, sondern bündeln es in einer Strate-gie . Herr Kollege Behrens von den Linken, Sie beklagensich darüber, dass wir darin so viele Themen ansprechen .Das liegt einfach daran, dass wir vom Ressortdenken undvon der Vorstellung einzelner Säulen Abstand nehmen,wenn wir dieses Thema angehen; denn dann wäre es kei-ne Strategie . Wir müssen vernetzt denken, wenn wir indiesem Bereich zu Fortschritten kommen wollen .Wir verstehen – erstens – die digitale Infrastrukturals Grundlage . Sie ist die Grundlage dafür, dass wir unsauf den Weg zur Industrie 4 .0 machen können . Ohne siewäre es eine abstrakte und akademische Debatte . Hier hatDeutschland tatsächlich einen Nachholbedarf, auch iminternationalen Vergleich . Wir schreiben in unserem An-trag übrigens, dass wir uns in diesem Zusammenhang mitdem Zwischenziel einer Übertragungsgeschwindigkeitvon 50 Mbit pro Sekunde im Jahr 2018 nicht zufrieden-geben können, dass wir größere Bandbreiten brauchen .Sie haben die Glasfaser angesprochen . Im Antrag stehtexplizit, dass wir insbesondere auf die Glasfasertechno-logie setzen, um diese Bandbreiten in Deutschland zuerreichen .Zweitens geht es uns um Forschung zur Industrie 4 .0 .In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass derHaushaltsausschuss gestern beschlossen hat, Ihrem Mi-nisterium, Frau Wanka, 6 Millionen Euro zusätzlich fürdie IT-Sicherheitsforschung beim Fraunhofer-Institut zurVerfügung zu stellen. Ich finde, das ist ein guter Schritt, eine gute Unterstützung auf diesem Weg . Wir müssen indiesem Bereich vor allen Dingen anwendungsorientiertforschen, im Interesse einer Durchdringung auch für denMittelstand .Drittens . Es geht um Aus- und Weiterbildung, die andie Erfordernisse der Industrie 4 .0 angepasst werdenmüssen . Es geht um neue Berufsbilder . Es geht darum,dass wir mehr moderne Berufsbilder brauchen . Das gehtnur im Dialog zwischen den Sozialpartnern, beispiels-weise in der Frage, dass wir in vielen mittelständischenUnternehmen im Maschinenbau zukünftig mehr Mecha-troniker brauchen . Da geht es konkret um Fachkräftesi-cherung in diesem Bereich .Viertens . Es geht um Arbeit 4 .0 . Ich will sagen: Das,was Sie eingefordert haben, nämlich Studien durchzu-führen, wurde im Bundesarbeitsministerium schon längstauf den Weg gebracht . Zudem hat Frau Wanka zusätz-liches Geld für die Arbeitsforschung erhalten . Das hatHerbert Behrens
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der DGB ausdrücklich begrüßt . Wir wollen in diesemProzess nicht nur dafür sorgen, dass die betriebliche Mit-bestimmung nicht unter die Räder kommt, sondern imAntrag steht ausdrücklich: Wir wollen die betrieblicheMitbestimmung weiterentwickeln, und zwar in zwei-erlei Hinsicht . Das ist wichtig, um diesen Prozess hin-zubekommen . Denn gegen die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer können und wollen wir uns nicht auf denWeg machen .Es ist gut, dass wir dafür sorgen, dass aus dem tech-nischen Fortschritt kein Fortschritt für wenige wird, son-dern Fortschritt für möglichst viele Menschen . Wir kön-nen das Konzept der Industrie 4 .0, wenn wir den Rahmenrichtig gestalten, zum Beispiel nutzen, um die Huma-nisierung der Arbeitswelt voranzubringen . Das machtAndrea Nahles mit dem Grünbuch Arbeit 4 .0 und demProzess auf dem Weg zum Weißbuch Arbeit 4 .0 deutlich .Das ist ein wesentlicher Teil der Strategie .
Fünftens – ich bin sehr dankbar, dass sich die Koa-litionsfraktionen da einig waren – haben wir uns klardazu bekannt, dass wir uns nicht nur im Bestand unsererWirtschaft – die großen und mittelständischen Unterneh-men – auf den Weg machen müssen, sondern wir vielmehr junge, dynamische, wachsende Start-ups und Un-ternehmen in diesem Land brauchen und wir sehr kon-kret etwas für sie tun müssen . Beispielsweise müssenwir dafür sorgen, dass mehr Wagniskapital zur Verfü-gung steht, um das Wachstum junger, vor allen Dingendigitaler Unternehmen zu unterstützen . Wir brauchen dasWagniskapital als Ausrüstung in dieser Entwicklung . Dageht es nicht nur darum, den Bundesfinanzminister da-von abzuhalten, die Rahmenbedingungen zu verschlech-tern – Stichwort „Streubesitz“ –, sondern auch darum, etwas dafür zu tun, dass die Bedingungen besser werden .
Das hat die Kanzlerin auf dem IT-Gipfel zugesagt . Da-bei ging es beispielsweise um Verlustvorträge, die beiAnteilseignerwechsel vorzunehmen sind . Wir brauchen,meine Damen und Herren, ein Wagniskapitalgesetz .
Das steht im Koalitionsvertrag, und die Koalitionsfrakti-onen sind miteinander der Meinung, dass es Aufgabe dervon uns getragenen Regierung ist, entsprechende Geset-zesvorschläge zu machen .
Es geht um IT-Sicherheit und Datenschutz, es gehtum Normen und Rechtsrahmen, es geht um Technologie-transfer und Wissenstransfer . Aber im Kern, meine Da-men und Herren, geht es um Folgendes: Wir sind in derSituation, dass wir eine gute industrielle Basis haben . DieMinisterin hat es beschrieben: 22 Prozent der deutsch-landweiten Wertschöpfung entfallen auf die Industrie .Wir haben die Plattform Industrie 4 .0, die Bundeswirt-schaftsminister Sigmar Gabriel auf den Weg gebrachthat . Damit bringen wir alle Akteure an einen Tisch . Auchdas Bundesministerium für Bildung und Forschung wirktdaran mit. Ich finde, das ist eine gute Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften .
Wir müssen uns schleunigst auf den Weg machen . An-dere schlafen nicht . Es gibt in Teilen der Welt Unterneh-men, die besser sind als unsere in Deutschland, wenn esdarum geht, aus Daten Geschäftsmodelle zu entwickeln .Wir wollen uns auf diesen Weg machen, und dieser An-trag zeigt: Wir machen uns auf den Weg . Das ist eine guteNachricht .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dieter Janecek
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte FrauDr . Wanka! Sehr geehrter Herr Heil, dieser Antrag liestsich so: Wenn sich zwei Ministerien nicht einigen kön-nen, schreibt man alles zusammen; am Ende hatten Sieein fertiges Stück, aber eine klare Strategie für die In-dustrie 4 .0 haben Sie nun wirklich nicht formuliert . Dasist ein Grund – ich nenne Ihnen gleich noch andere –,warum wir diesen Antrag ablehnen werden .
Auch ich komme ein bisschen rum in der Welt . FrauDr . Wanka, wenn Sie zu den Amerikanern, den Chinesenoder den Afrikanern gehen und ihnen von Industrie 4 .0erzählen, dann sagen die Ihnen nicht: Mit dem Begriffkönnen wir etwas anfangen; da hat Deutschland ebensowie bei der Energiewende Maßstäbe gesetzt . – Das isteine ehrliche Analyse; das muss man erst einmal fest-halten . Ich glaube, dass diese Analyse zutreffend ist . Mitdiesem Begriff suggerieren Sie und die Bundesregie-rung zusammen mit dem Bundesverband der DeutschenIndustrie zwar, dass wir jetzt aufholen wollen, dass wirHardware und Software endlich zusammenbringen wol-len . Aber das Problem ist, dass die gesamten Rahmen-bedingungen des Internets in diesem Antrag überhauptnicht thematisiert werden . Das ist ein großes Problem .Sie können viele Forschungsprojekte auflegen und viel über Automatisierung reden; aber Sie müssen auch überdie Entscheidungen sprechen, die Sie zum Beispiel imEuropäischen Parlament treffen . Dort hat nämlich je-weils nur ein Abgeordneter Ihrer Fraktionen für die Netz-neutralität gestimmt . Wenn das so weitergeht, werden wirschlechte Rahmenbedingungen für den Mittelstand undfür die Industrie bekommen .
Hubertus Heil
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Diese Themen gehören zu einer Gesamtstrategie .Das freie Internet ist in Gefahr . Wir haben im Zusam-menhang mit Industrie 4 .0 auch über Innovationen durchOffenheit zu sprechen: Open Access, freie Schnittstellen,Wettbewerbsrecht . Wo sind die Vorschläge dazu?
Wir haben Probleme mit der Plattformisierung der Wirt-schaft . Es ist ja gut, wenn sich die Industrie automati-siert; aber wenn sich die gesamte Struktur der Wirtschaftgleichzeitig so verändert – Herr Heil hat das immer-hin angesprochen; ich finde es richtig, dass er gesagt hat, dass das Thema eigentlich „Wirtschaft 4.0“ heißen muss –, dass immer mehr digitale Plattformen entstehen,die ein Andocken anderer Plattformen ermöglichen, wirbzw . unsere Industrie diese Plattformen aber nicht baut,dann ist das ein grundlegendes Problem . Dann verlierenwir international auch Marktanteile. Dieser Prozess fin-det gerade statt .
Ich will ein positives Beispiel nennen . Deutsche Au-tomobilhersteller haben gesagt: Okay, wir haben es ver-pennt; aber wir kaufen jetzt Nokia Maps, bauen uns eineeigene Map und machen da etwas . – Über diese großenRahmenlinien haben Sie nicht gesprochen . Darüber müs-sen wir aber reden . Das muss unsere Richtung sein .Ein freies Internet schafft Wettbewerb . Dieser Wett-bewerb muss fair sein, und die Bedingungen für diesenWettbewerb müssen wir in Europa selbst schaffen . Wirmüssen nicht – da gebe ich Ihnen recht – in Sack undAsche gehen, weder unsere Industrie noch unsere For-schungslandschaft; denn wir können das . Aber wir habendas in der Vergangenheit nicht wirklich gut gemacht . Wirmüssen das besser machen . Wir müssen den Rahmen set-zen .Nächstes Beispiel: Europäische Datenschutz-Grund-verordnung . Auch diesbezüglich ist Deutschland keinPlayer, der das Ganze so entwickelt, dass Sicherheit zueinem Wettbewerbsvorteil wird . Sicherheit wird, wennwir das nicht ordentlich machen, zu einem Wettbewerbs-nachteil . Der Rahmen muss stimmen .
Der Rahmen stimmt aber nicht, und solange dieserRahmen nicht stimmt, werden wir auch mit der Indus-trie 4 .0 – das ist ein sogenanntes Buzzword – nicht re-üssieren .Wir müssen uns auch einmal fragen: Was sind denn dieThemen, die wir nach vorne stellen wollen? Automatisie-rungsprozesse finden in der Industrie vom Stahlwerk bis zur Gießerei – auch ich komme rum – seit 20 Jahren statt .Das ist für die Industrie nichts Neues . Es ist richtig, dassdadurch Produktivitätspotenziale erschlossen werden,vielleicht auch ökologische Potenziale . Auch darübersollten wir reden . Wir sollten fragen: Wie können wir dieMobilität anders lenken? Wie können wir zum Beispieldafür sorgen, dass sich der Besitz von Automobilen öftergeteilt wird und nicht mehr jeder eins besitzen muss? Daskann Vorteile für Städte und Kommunen haben . Da kannviel getan werden . Aber diese Fragen müssen in den Vor-dergrund gestellt werden .Es reicht nicht, auf ich weiß nicht wie vielen Seitenzahlreiche Spiegelstriche zu setzen . Das ist schön undgut . Ich erkenne auch an, dass etwas passiert . Am Endemuss man aber eine Richtung definieren: Wo wollen wir mit dieser Wirtschaft 4 .0 hin? Wo wollen wir mit derDigitalisierung hin? Wie wollen wir fairen Wettbewerbschaffen? Wie wollen wir ökologische Rahmenbedingun-gen schaffen, die für Ressourcenschonung sorgen? Dasalles müssen wir zusammenbringen, wir müssen etwasfür den Mittelstand tun und die Rechtssetzung in Europaim Sinne unserer Unternehmen gestalten . Wir dürfen unsnicht danach richten, was das Silicon Valley macht, son-dern müssen selbstbewusst vorangehen . Wenn wir dasschaffen, dann haben wir wirklich etwas gewonnen .Weil Sie das in Ihrem Antrag nicht formuliert haben,werden wir heute nicht zustimmen, nicht, weil wir denAntrag prinzipiell ablehnen – er enthält viele interessanteMaßnahmen, das Grünbuch „Arbeiten 4.0“ und anderes, womit wenigstens eine Analyse in Angriff genommenwird –, aber die Ziele stimmen noch nicht . Der Rahmenmuss gesetzt werden; die Rechtssetzung muss stimmen;der Wettbewerb muss stimmen . Das alles ist in dem An-trag nicht enthalten . Deswegen werden wir diesen Antragablehnen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Axel Knoerig
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin, FrauProfessor Wanka! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, wirstellen fest, dass die Digitalisierung einen riesigen Ab-satzmarkt erzeugt hat, der unserer Wirtschaft weltweitneue Chancen bietet . Die Globalisierung und auch diemittlerweile über 130 Handelsabkommen – dieses The-ma haben wir in der vorherigen Debatte besprochen –tragen dazu bei, dass wir uns neue Zukunftsmärkte er-schließen . Dabei sind hohe Wachstumsraten zu erwarten .Allein durch Industrie 4 .0, durch das digitalisierte Arbei-ten und Wirtschaften, erwarten wir ein zusätzliches Wirt-schaftswachstum von 1,7 Prozent . Diese Wertschöpfungwird sich vor allem in den Branchen Informations- undKommunikationstechnologie, Maschinen-, Anlagen- undAutomobilbau vollziehen; hier wird es zu immensenSteigerungen kommen . Und dass die Arbeitslosigkeitderzeit auf dem niedrigsten Stand seit 1991 ist, ist vorallem dem entschlossenen Handeln der Unternehmer undihrer Fachkräfte zu verdanken .
Es ist völlig richtig, dass wir die Debatte nicht alleinauf Technik und auf Industriepolitik beschränken dür-Dieter Janecek
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fen – das hat die Ministerin richtigerweise ausgeführt –;vielmehr müssen wir die Entwicklung auch mit sozialenund kulturellen Veränderungen verbinden . Unter demStichwort „Arbeit 4.0“ – es ist schon angesprochen wor-den – beschäftigen wir uns mit den Auswirkungen derDigitalisierung auf die Arbeitswelt .Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft hat sichimmer wichtigen gesellschaftlichen Veränderungen an-gepasst . In den 80er-Jahren entstand ein neues Verhält-nis zwischen Wirtschaft und Ökologie, jetzt verändertdie Digitalisierung das Verhältnis zwischen Technikund Arbeit . Dabei müssen wir eine Frage besonders inden Vordergrund stellen: Was prägt die digitale sozialeMarktwirtschaft?Als Erstes ist zu nennen: Seitdem die Digitalisierungauf den Finanzmärkten greift, haben sich die Börsenbe-wegungen verändert . Wir haben Krisen erlebt . Deswegenist es wichtig, die Finanzmärkte im Hinblick auf das ge-samtwirtschaftliche Gleichgewicht intensiv zu beobach-ten .Wir stellen zweitens fest, dass die Wertschöpfungunserer Wirtschaft immer mehr über das Internet unddie Daten als solche bestimmt wird . Deshalb nimmt diestaatliche Regulierung in der Netzpolitik einen immerhöheren Stellenwert für unsere Volkswirtschaft ein . Dazugehören unter anderem die Preisregulierung, das Urhe-berrecht, der Verbraucherschutz und die Datensicherheit .Der dritte Punkt ist besonders wichtig im Hinblick aufden Schutz von Unternehmen, Patenten und Informati-onsrechten vor Cyberkriminalität; denn es kann nichtsein, dass in unserer Volkswirtschaft jährlich ein Schadenvon über 50 Milliarden Euro angerichtet wird .Marktorientierte Wirtschaftspolitik und staatlich fi-nanzierte Arbeitspolitik stehen seit jeher in einem Span-nungsverhältnis . Der digitale Wandel richtet dieses neuaus . Was wir angesichts dieser massiven Veränderungenbrauchen, ist eine neue Kooperation von Wirtschaft undArbeit . Dabei müssen wir unseren Blick vor allem auf dieUnternehmenskultur richten; denn der digitale Wandelfindet innerhalb der Unternehmen statt. Deswegen for-dern wir ein Umdenken auf beiden Seiten: Arbeitnehmermüssen unternehmensorientierter denken, und Unterneh-men müssen Mitarbeiterinteressen mehr berücksichtigen .Mit einem neuen Label möchte ich die wichtigsteStrategie für Wirtschaft und Arbeit auf den Punkt brin-gen: Jetzt ist ein „Neues Digitales Management“ gefragt. Dieses „Neue Digitale Management“ muss vor allem ganzheitlich ausgerichtet sein . Das bedeutet für die Un-ternehmen, dass erstens die leitenden Aufgaben mehr de-legiert werden müssen, dass Hierarchien abgebaut unddezentrale Strukturen, Netzwerke und Mobilität aufge-baut werden müssen .Zweitens. Auch effizientes Personalmanagement ge-hört zur eigenen Fachkräftesicherung dazu . In meinemWahlkreis Diepholz–Nienburg erlebe ich immer wieder,dass Unternehmer spezielle Personalmanager einstellen,um betriebsintern das ganze Spektrum der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung gut abzudecken und umdarüber hinaus neue Arbeitskräfte zu akquirieren .Der dritte Punkt ist entscheidend: Arbeitnehmer soll-ten durch Mitbestimmung und Teilhabe in die Verant-wortung und somit in das unternehmerische Handelneingebunden werden .Diese digitalen Prozesse schaffen vor allem eine neueArt der Transparenz in den Unternehmen . Der VW-Skan-dal ist ein gutes Beispiel . Denn ich meine, dass dieserinsbesondere in der Firmenkultur begründet ist . Die digi-talen Medien, die neuen Arbeits- und Geschäftsprozessebieten einen Neubeginn, eine Chance, dass mithilfe die-ser digitalen Geschäftsprozesse die Unternehmenskulturtransparent ausgestaltet werden kann .Wir brauchen natürlich – das ist auch angesprochenworden – leistungsfähige Infrastrukturen . Dazu gehörenEU-weite Serverlandschaften und ein schnelles Internetjenseits von 100 Mbit/s . Wir wollen vor allem in Europakeine Konzentration von Diensten und keine Kartellbil-dung im digitalen Markt – Google ist hierfür ein Bei-spiel –, wie das entsprechend untersucht wird .
Stattdessen brauchen wir im digitalen Binnenmarktgünstige Investitionsbedingungen vor allem für kleineund mittelständische Unternehmen und eine Sicherheits-architektur für das Internet, die von europäischer Souve-ränität geprägt ist . Deswegen muss die Politik an dieserStelle die regulatorischen Vorgaben europäisch begrün-den und globale Standards setzen .Abschließend möchte ich mit Blick zu den Kollegenvon den Grünen sagen: Wir gehen progressiv an die Wirt-schaft heran
und gestalten neue Geschäftsmodelle . Wir verteufelnes nicht, dass man, zum Beispiel im Bereich der Medi-zin, über die Ländergrenzen hinweg zu neuen Dienstenkommt, zu Spezialdiensten, die über das Internet laufen .Deswegen kann man das eine wie auch das andere, dieNetzneutralität und die Spezialdienste, zu einem gutenTrend miteinander verbinden .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Ganz herzlichen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kol-legen, bisher hat bis auf Ministerin Wanka jeder Redner,jede Rednerin die Redezeit überzogen . Ich habe einfachdie Bitte, dass Sie auf das Warnsignal, das Sie erhalten,achten . Wir haben bereits jetzt eine Überziehung von ei-ner Stunde .
Das wird ein wenig schwierig für einen Teil der Kollegenwerden . Das werden wir nicht aufholen – diese Illusionhabe ich nicht –, aber wir sollten versuchen, es nicht nochweiter zu vergrößern . Deshalb meine Bitte .Axel Knoerig
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Jetzt hat Kai Gehring als nächster Redner das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Schade, dass dieser
Appell jetzt den letzten Oppositionsredner in dieser De-
batte trifft .
Er trifft alle .
Sehr geehrte Damen und Herren! Mit den Schlag-worten „Industrie 4.0“ und „Smart Services“ verbinden sich ganz klar epochale internetbasierte Veränderungen .Deswegen brauchen wir freies Internet für alle statt einZweiklasseninternet, und deshalb kann ich nur sagen:Finger weg von der Netzneutralität .
In der Industrie 4 .0 liegen Chancen für Innovation, Chan-cen für eine humanere Gestaltung der Arbeitswelt und ef-fizienteren Ressourceneinsatz, Chancen, die wir nutzen müssen und die wir auch dringend politisch gemeinsamgestalten müssen .Bei dem Antrag der Koalitionsfraktionen teilen wirsicherlich die Beschreibung, dass wirtschafts-, arbeits-,bildungs- und forschungspolitische Maßnahmen zurFörderung der Digitalisierung notwendig sind, übrigensauch Datenschutz und -sicherheit . Aber Sie stellen denlernenden, den forschenden und arbeitenden Menschennicht in den Mittelpunkt Ihres Antrags .
Dafür haben Sie auf jeden Fall ein Fleißkärtchen verdient .Dennoch bleibt das Bild blass, wie Sie denn die vierte in-dustrielle Revolution kreativ, menschlich und ökologischausrichten wollen. Ihre Auflistung ist ein Sammelsurium. Jedes Ministerium wurschtelt vor sich hin . Industrie 4 .0braucht dringend eine konsistente Gesamtstrategie .
klatschen!)– Ja, dann klatschen Sie doch mit . – Zur Breitbandinfra-struktur schreiben Sie, dass das die Grundvoraussetzungfür die erfolgreiche Etablierung von Industrie 4 .0 ist .
Ich sage Ihnen: Butter bei die Fische . Da gibt es seitJahren kein ordentliches Vorankommen . Wenn die Basisfehlt, muss man sich um den Innovationsstandort wirk-lich Sorgen machen .
Sie sehen leider keinen Reformbedarf bei Ihrer völligtechnologiefixierten Hightech-Strategie. In Ihrem Antrag sind ja zig Punkte zur Hightech-Strategie enthalten; esist erstaunlich, dass die Ministerin gar nichts dazu gesagthat . Zugleich loben Sie Programme zur sozialen Imple-mentierung und zur Arbeitsforschung über den grünenKlee . Stattdessen sollten Sie technologische und sozia-le Innovationen von vornherein zusammendenken unddiesen interdisziplinären Ansatz auf die gesamte High-tech-Strategie übertragen .
Wenn Sie so versäult an die Sache herangehen, dannkann das keinen neuen Gründergeist, den wir so dringendbrauchen, entfachen. Allein der Begriff „Industrie 4.0“ würde mich als neuen Gründer oder Inhaber eines klei-nen oder mittelständischen Unternehmens nicht anspre-chen . Insofern: Schön, dass Sie sich ihn ausgedachthaben . Aber offensichtlich zündet er gerade bei denen,die „small and beautiful“ sein wollen, die Gründerinnen und Gründer der Zukunft sein wollen, nicht .Wer neue Herausforderungen für Beschäftigte an-spricht, der darf zu neuen Arbeitszeitmodellen nichtschweigen und Aus- und Weiterbildung nicht vernach-lässigen, liebe Koalition . Wir müssen Ihre hehren Wortehier an den Taten und ganz klar auch an Haushaltszahlenmessen .
Da zeigt sich: Die Unterfinanzierung bei den Berufsschu-len bleibt bestehen . Auch die Barriere Kooperationsver-bot für die digitale Bildung bleibt . Modelle für neue, voll-zeitnahe Teilzeitbeschäftigung bleiben Sie uns schuldig .Sie schweigen zu den Schutzstandards für Beschäftigte .Auch auf Impulse für eine echte Weiterbildungskultur,ob analog oder digital, warten wir vergebens . In diesemAntrag attestieren Sie Geringqualifizierten ganz klar ein Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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„erhöhtes Arbeitsplatzrisiko“ in der Arbeitswelt 4.0. Ein Rezept dagegen formulieren Sie aber nicht . Das musssich dringend ändern . Industrie 4 .0 gelingt nur mit Bil-dung 4 .0 .
Wir müssen die Barrieren einreißen: zwischen beruf-licher und akademischer Bildung, zwischen Wirtschaftund Wissenschaft . Gute Beispiele für Wissens- und Tech-nologietransfer muss man bundesweit übertragen .
Hier sollte der Staat auch einen besseren Rahmen setzen,vor allem bei Ausgründungen aus Hochschulen und For-schungseinrichtungen und für Start-ups .Die Formulierung in Ihrem Antrag, dass hier „kon-krete Fördermaßnahmen … wichtige Impulse liefern“ könnten, offenbart Ihre Ideenlosigkeit . Übrigens: Auchdie Forderung, jetzt die Forschungs- und Entwicklungs-ausgaben zu erhöhen, ist dringend noch einmal anzuspre-chen; denn von der Erreichung des 3,5-Prozent-Ziels,das auch Ihre regierungseigene Kommission formulierthat, sind wir weit entfernt . Das muss gesamtstaatlichgeschafft werden, aber eben auch mit der Wirtschaft zu-sammen . Deshalb: Kommen Sie endlich in die Hufe, undbringen Sie eine steuerliche Forschungsförderung fürkleine und mittlere Unternehmen auf den Weg! Das istdringend notwendig .
Weil in Ihrem ganzen Antrag Anspruch und Wirklich-keit so extrem weit auseinanderklaffen, können wir ihmleider nicht zustimmen .
Ich sage – gerade Ihnen, Herr Rupprecht –: Haben Siedoch Mut zu Strukturreformen, statt 75 Forderungenan sich selber zu formulieren! Da geben Sie sich ja fastselbst auf .Danke .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Gabriele
Katzmarek von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Ich freue mich, dass wir das Thema „Industrie 4.0“ heute hier diskutieren können . Was mich nur etwas erstaunt –das will ich gleich zu Beginn sagen –, ist das, was dieOpposition vorgetragen hat . Herr Behrens, Sie habenbeispielsweise davon gesprochen, dass wir in unseremAntrag nichts zu den Forderungen der Arbeitgeber sa-gen . Wir haben halt ein anderes Politikverständnis; daswill ich Ihnen schon einmal sagen . Es geht nicht darum,dass wir Anträge einbringen, in denen wir uns mit Forde-rungen von Arbeitgebern oder sonstigen Gruppierungen,die irgendwo zu lesen sind, auseinandersetzen, sondernunser Verständnis ist, diesen Prozess im Interesse derMenschen in diesem Land zu gestalten . Deshalb habenwir entsprechende Forderungen in unseren Antrag aufge-nommen und auch Maßnahmen aufgeschrieben . Uns gehtes um die Frage: Wie sieht unsere Zukunft aus? Denn wirwollen Zukunft gestalten und nicht nur hier stehen undsagen, warum wir gegen etwas sind .
– Dazu haben wir auch etwas geschrieben . Lesen Sienoch einmal die Seite 8 . Ich komme gleich aber nocheinmal darauf . Nach der Debatte können wir die Absätzegerne noch einmal – dieses Angebot mache ich Ihnen –gemeinsam durchgehen . Dazu bleibt hier jetzt aber keineZeit .Ich will auch noch eines zu der anderen Oppositions-fraktion, zu Ihnen von den Grünen, sagen: Ich fand essehr spannend, dass Sie, Herr Janecek, auf der einen Sei-te gesagt haben: „Darin sind zu viele Punkte aneinander-gereiht; es ist ein ganzes Maßnahmenbündel“, während Sie sich gemeinsam mit Herrn Gehring gleichzeitig darü-ber beklagt haben, was alles nicht enthalten ist . Natürlichfehlt in diesem Antrag noch etwas; denn wir reden übereinen Prozess .
Er ist heute nicht abgeschlossen und beendet, sondern ermuss permanent weiterentwickelt werden .
Von daher hätte ich mich sehr gefreut, wenn Sie das,was Ihrer Meinung nach im Augenblick sehr wichtig istund in diesem Antrag noch fehlt, durch Änderungswün-sche hinzugefügt hätten .
Auch Ihre Aussage, der Mensch stehe nicht im Mit-telpunkt, stimmt nicht . Wenn Sie genauer lesen, dannwerden Sie sehen, dass dem ein ganz großes Kapitel ge-widmet ist .Wir übernehmen politische Verantwortung; denn es istunsere Aufgabe, in diesem Prozess dafür Sorge zu tra-gen – Hubertus Heil hat das bereits gesagt –, dass dieMenschen nicht unter die Räder kommen . Durch die Fra-gen, die wir aufwerfen, aber auch durch die Maßnahmen,Kai Gehring
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die wir formulieren, übernehmen wir die Verantwortungfür den sozialen Fortschritt .
Die SPD-Fraktion hat sich recht früh und intensiv mitdem politischen Handlungsbedarf bei Industrie 4 .0 be-schäftigt . In einem breit angelegten Dialog mit Gewerk-schaften, Unternehmen, der Wissenschaft und Verbändenwurden die Fragen der digitalen Transformation disku-tiert .Im Juni haben wir ein Positionspapier vorgelegt, dasden Blick ausführlich und ganzheitlich auf die Heraus-forderungen, Ziele und Maßnahmen richtet . Vieles davonist in den heute vorliegenden Antrag eingeflossen.Meine Vorredner haben einen Teil davon schon be-nannt . Insbesondere auf einen Punkt will ich noch einmaleingehen, weil er in der Diskussion auch bei der Oppo-sition eine besondere Rolle spielte: Neben der Aus- undWeiterbildung, bei der es explizit um Arbeitnehmerfra-gen geht, zum Beispiel: „Wie sind die Arbeitnehmerfür die Zukunft gerüstet, um diesen Wandel meistern zukönnen?“, haben wir auch einiges andere mit aufgenom-men, beispielsweise das Thema Arbeit 4 .0, und zwar inder Form, wie Andrea Nahles es ja auch schon in ihremGrünbuch angesprochen hat . Andrea Nahles mit ihremMinisterium hat ja zu Recht dieses Thema oben auf dieAgenda gesetzt .
Ich habe gerade gesagt, Sie sollten einmal die Seite 8des Antrags aufschlagen. Dort finden Sie etwas zu den Fragen, wie Beschäftigte mitgenommen werden und wasfür Beschäftigte passieren muss . Die Antwort daraufhaben wir dort aufgenommen, indem wir klar formulierthaben, dass die betriebliche Mitbestimmung gestärktwerden muss, dass wir dem Missbrauch von Werkverträ-gen wirksam entgegentreten und dass wir es nicht zulas-sen werden, dass technische Möglichkeiten dazu genutztwerden, Arbeitnehmerrechte – ein Stichwort ist zum Bei-spiel „Arbeitnehmerdatenschutz“ – einzuschränken, und das beschließen wir heute .Ich habe gerade etwas zur politischen Verantwortunggesagt . Mit diesem Antrag und mit unserer Positionie-rung dazu übernehmen wir politische Verantwortung .Wir stellen uns nicht nur hin und sagen: „Es könnte al-les viel, viel mehr sein; es reicht uns nicht“, sondern wir kümmern uns um die Menschen in diesem Land, und wirachten darauf, dass die Menschen in diesem Land nichtunter die Räder kommen . Wir werden – und das ist so-zialdemokratische Wirtschaftspolitik – nicht nur bewah-rend tätig sein, sondern die Chancen nutzen, die Zukunftim Interesse der Menschen und der Arbeitsplätze für dieMenschen zu gestalten .
Unser Antrag ist ein wichtiger Beitrag dazu, den wirheute leisten .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Wolfgang
Stefinger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Ministerin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierungverändert alle Lebensbereiche – das haben wir schongehört –: Gesellschaft, Staat, Wirtschaft . Alle sind glei-chermaßen davon betroffen . Die neuen Technologienverändern die Kommunikation, die Interaktion zwischenMenschen, zwischen Mensch und Maschine, zwischenMaschinen . Produktion und Internet verschmelzen zucyberphysischen Systemen . Die Veränderungen sind soimmens, dass manch einer von der „digitalen Revoluti-on“ spricht.Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten, siebietet Chancen, nicht nur im persönlichen Bereich – daserleben wir täglich, wenn wir unsere Smartphones in derHand halten und neue Angebote für irgendwelche Appsbekommen –, sondern auch im betrieblichen Bereich ent-stehen neue Möglichkeiten, neue Wege der Produktionund Dienstleistung .Die Fertigungsprozesse werden flexibler, effizienter, individueller und nachhaltiger . Neue Geschäftsmodel-le entstehen, neue Arbeitsformen und Tätigkeitsfeldereröffnen sich . Die Maschinen können über das Internetgesteuert werden, sie kommunizieren selbstständig mit-einander . Produkte werden über Chips mit Maschinenvernetzt sein . Die gesamte Wertschöpfungskette bis zumKunden – alles automatisch, alles digital . Science- Fictionwird Realität, werden Sie sich vielleicht denken .Wir möchten diese Realität mitgestalten . Industrie 4 .0ist für Deutschland von herausragender Bedeutung . Wirmöchten, dass Deutschland Leitanbieter auf diesem Ge-biet ist .
Das klare Ziel der Koalition ist: Deutschland soll di-gitales Wachstumsland Nummer eins in Europa werden .Hierfür hat Deutschland die besten Voraussetzungen;Frau Ministerin hat bereits darauf hingewiesen . Im Üb-rigen: Herzlichen Dank, dass Sie heute selber zu diesemThema gesprochen haben . Das unterstreicht noch einmalden Stellenwert dieses Themas im Bundesbildungsminis-terium .
Sie haben es bereits angesprochen: Wir haben Spit-zenpositionen im Maschinen- und Anlagenbau, in derAutomobilindustrie, in der Elektrotechnik, in der Chemieund zunehmend auch bei der IT-Sicherheit, wenn ich nuran unsere drei Kompetenzzentren denke, die bereits mitPreisen ausgezeichnet wurden . Wir haben hervorragen-de Fachkräfte, einen starken Mittelstand . Deutschlandist – und auch deswegen ist das Thema für uns besondersGabriele Katzmarek
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 137 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . November 201513474
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wichtig – international führender Fabrikausrüster . Diegeschaffene Plattform Industrie 4 .0 ist im internationalenVergleich eines der größten Netzwerke im Bereich Indus-trie 4 .0 . Und hier muss ich Sie, lieber Herr Kollege Heil,korrigieren . Das BMBF wirkt hier nicht nur mit,
sondern wir sind Taktgeber in diesem Bereich
und machen das gemeinsam mit dem Wirtschaftsminis-terium .
[SPD]: Wichtig ist, dass es klappt!)
Alles automatisch, alles digital! Wo bleibt der Mensch?Diese Frage kam schon .
Haben wir Menschen in der Zukunft leere Fabriken?Nein, das werden wir nicht haben . Der Mensch wirdauch weiterhin gebraucht, nur eben anders . Deshalb istim Antrag ein Schwerpunkt auf Bildung, Weiterbildungund Forschung gelegt .Natürlich bedeutet Industrie 4 .0 eine Veränderungder Arbeitsabläufe, der Tätigkeitsbeschreibung, der Ar-beitsplatzgestaltung. Deswegen sind Qualifizierungs-maßnahmen nötig, Ausbildungsinhalte sind anzupassen .Hochschulen und Berufsschulen müssen sich auf Verän-derungen einstellen; denn die Vermittlung von IT-Kom-petenz muss in Zukunft einen noch höheren Stellenwerteinnehmen .
Auch Geringqualifizierte und An- und Ungelernte müs-sen natürlich mitgenommen werden . Das haben wir imAntrag entsprechend formuliert .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Rahmendes Förderprogramms „Innovationen für die Produktion,Dienstleistung und Arbeit von morgen“ ist in diesem Be-reich bereits vieles angestoßen . Ich darf noch einmal dieSumme nennen: Wir sind hier bei 1 Milliarde Euro, diedas Bundesbildungsministerium bis 2020 hierfür vorge-sehen hat .Unsere Betriebe, unsere Produktion und unser gesell-schaftliches Miteinander verändern sich durch die fort-schreitende Digitalisierung . Wir setzen auf die Chancender Digitalisierung für Industrie, für Unternehmen undfür die Gesellschaft . Wir wollen den Wandel gestaltenund stärken hierfür Bildung, Forschung und Innovatio-nen – anwendungsbezogen, mit Unternehmen, mit demHandwerk .„Deutschland hat die Chance, das bessere SiliconValley zu werden“, sagte Christoph Keese nach seinem USA-Aufenthalt 2014 . Ich sage Ihnen: Nach meinerUSA-Reise kann ich Ihnen bestätigen, dass er recht hat .Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns diese Chance ge-meinsam nutzen! Wir sind überzeugt: Deutschland kanndas .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Simone
Raatz von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der aktuel-le Monitoring-Report „Wirtschaft DIGITAL“, den das BMWi in Auftrag gegeben hat, zeigt, dass Deutschlandim Zehn-Länder-Vergleich auf Platz sechs zurückgefal-len ist . Ich denke, das ist ein Aha-Signal . Warum ist dasso? Die Studie identifiziert dafür drei große Schwächen in Deutschland . Auf diese sind zum Beispiel die Vorred-ner in keiner Weise eingegangen, insbesondere die vonder Opposition nicht .Erstens . Das ist die mangelnde Verfügbarkeit vonFachkräften . Erst wenn ich Fachkräfte habe, kann ichüber Mitbestimmung reden oder – sage ich einmal – ausdem Grünbuch zitieren . Das ist der erste Punkt, warumDeutschland auf Platz sechs zurückgefallen ist, nämlichdass wir in diesem Bereich nicht ausreichend Fachkräf-te haben . Zweitens . Die teilweise schlecht ausgebauteNetz infrastruktur ist zu nennen; das ist angeführt wor-Dr. Wolfgang Stefinger
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 137 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . November 2015 13475
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den . Drittens . Das ist der geringe Anteil an Exporten derInformations- und Kommunikationstechnologie .Das macht deutlich: Wir müssen bei der Digitalisie-rung der Wirtschaft erheblich an Tempo zulegen . Wirbrauchen natürlich auch Antworten . Ich habe hier vonder Opposition eigentlich nur Fragen vernommen . Wirversuchen mit dem Antrag, einige Antworten zu geben .Natürlich gelingt das nicht vollumfänglich . Aber wir la-den Sie immer herzlich ein, sich mit Ihren Ideen zu be-teiligen .
Wir stehen dem offen gegenüber .
Ich bin daher froh, dass sowohl das BMWi als auch dasBMBF Förderprogramme aufgelegt haben, die einenganz wichtigen Beitrag zum Gelingen der vierten indus-triellen Revolution leisten werden . Dafür an dieser Stelleeinmal ganz herzlichen Dank an die beiden Ministerien .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 78 Prozent der fürdas Monitoring befragten Entscheidungsträger geben an,dass sie insbesondere im Bereich des Ausbaus der Fach-kräfteförderung die Politik, also uns, in der Pflicht sehen. Industrie 4 .0 – einige der Vorredner haben das bereitserwähnt – beschleunigt den Strukturwandel in der Ar-beitswelt erheblich und verlangt den Beschäftigten neueKompetenzen und mehr Flexibilität ab .Unser Blick muss dabei gerade auch auf den Men-schen liegen, die eben weniger gut ausgebildet sind;denn – das muss man ehrlich sagen – gerade sie sind mitIndustrie 4 .0 besonderen Arbeitsplatzrisiken ausgesetzt .Ja, auch diesem Thema wenden wir uns in unserem An-trag zu . Gute Bildung von Anfang an und kontinuierlicheberufsbegleitende Qualifizierung sind der Schlüssel für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4 .0 .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit die industriel-le Revolution gelingt, wollen wir unser Aus- und Weiter-bildungssystem modernisieren und die Durchlässigkeitzwischen beruflicher und akademischer Bildung weiter verbessern; ein Thema, das insbesondere meiner Frakti-on sehr am Herzen liegt .
Dazu haben wir uns innerhalb der Koalitionsfraktionenmit dem vorliegenden Antrag auf verschiedene Maßnah-men verständigt . Es trifft nämlich nicht zu, Herr Behrens,dass es im Antrag nichts dazu gibt . Ich werde an dieserStelle aber nur auf wenige Punkte eingehen können .Wir werden zum einen die Berufsschulen verstärktdarin unterstützen, dass sie sich den Anforderungen derDigitalisierung endlich stellen . Ein besonderes Augen-merk liegt dabei auf dem Qualifizierungsbedarf von Be-rufsschullehrerinnen und Berufsschullehrern .Zum anderen starten wir eine Initiative zur Förderungder Digitalisierung in der beruflichen Ausbildung. Ich denke, auch das ist dringend geboten . Gleichzeitig unter-stützen wir eine entsprechende technische Ausstattung inden überbetrieblichen Berufsbildungsstätten .Ja, Herr Gehring, sicherlich hätte man mehr finanzi-elle Mittel für diesen Bereich bereitstellen können . MeinKollege Herr Stefinger hat aber gerade darauf hinge-wiesen, welche Mittel im Bildungsministerium für die-sen Bereich eingesetzt werden . Wenn Sie die aktuellenHaushaltsverhandlungen verfolgt haben, dann wissenSie, dass zum Beispiel für den Bereich Industrie 4 .0 zu-sätzlich 11 Millionen Euro eingestellt worden sind . Ichdenke, mit diesem Geld können wir sicherlich das eineoder andere Sinnvolle machen . Ich hoffe deshalb, dassdas Ihre Kritik zum Teil vergessen lässt .Neben den genannten Maßnahmen im Bereich derAusbildung ist auch die berufliche Fort- und Weiterbil-dung der Beschäftigten für den Erfolg von Industrie 4 .0enorm wichtig . Mich hat überrascht, dass dabei schon die30- bis 40-Jährigen angesprochen sind . Sie müssen sichbereits heute zur Qualifizierung auf den Weg machen. Das erwartet man nicht, aber das ist schon die kritischeAlterskohorte, die wir mit solchen Weiterbildungsmaß-nahmen bedenken müssen .Deshalb werden wir sowohl die Schaffung von dif-ferenzierten und beschäftigungsorientierten Weiterbil-dungsangeboten unterstützen als auch die Beratungsan-gebote für Beschäftigte ausbauen . Denn so können siesich über ihre Qualifikationsbedarfe umfassend informie-ren . Ich denke, das wird immer wichtiger werden .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Fach-kräftebedarf in den technologiegeprägten Berufen nach-haltig decken wollen, geht es neben der Modernisierungder dualen Ausbildung auch um den systematischenAusbau von Fort- und Weiterbildung . Es gibt Bereiche,die noch gar nicht bedacht wurden, die aber auch einenwesentlichen Inhalt haben . So geht es natürlich auch umdie frühzeitige Sensibilisierung für Zukunftsfelder vonKindern und Jugendlichen . Ich denke in diesem Zusam-menhang zum Beispiel an die Stiftung „Haus der kleinenForscher“, die sehr gute Projekte durchführt.Genauso wichtig ist es, endlich die Studienabbrecher-quote in den MINT-Fächern deutlich zu reduzieren . Indiesem Bereich verlieren wir enorm viel Fachkräftepo-tenzial .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir habenviel vor . Einiges davon ist in unserem Antrag enthalten .Jetzt muss es uns noch gelingen, diese Vorhaben minis-teriumsübergreifend umzusetzen, und dann, denke ich,werden wir auch dem Thema Industrie 4 .0 zum Erfolgverhelfen . Ich bin zuversichtlich .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Dr. Simone Raatz
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Vielen Dank . – Als letzter Redner in der Debatte hat
Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Als letzter Redner in der Debatte versu-che ich, zusammenzufassen, was bisher gesagt wurde,und zwar nicht aus der Sicht von Bildung und Forschungoder der Wirtschaft, sondern aus der Sicht des jüngstenAusschusses im Deutschen Bundestag, des AusschussesDigitale Agenda .Sehr geehrter Herr Kollege Janecek und Herr KollegeBehrens, ich bin nicht ganz so unzufrieden wie Sie . Dennmit dem Antrag wird einiges auf den Weg gebracht . Dasmuss man auch ehrlich zugeben .Es wurde gesagt, dass die Digitalisierung in alle Be-reiche des Lebens Einzug gehalten hat . Wir können dasnicht ausbremsen oder aufhalten – das wollen wir auchgar nicht –, sondern wir müssen es positiv begleiten . Dashaben wir uns auch gerade in unserem Ausschuss auf dieFahne geschrieben: die Chancendiskussion in der Frage,wie wir auf der einen Seite die Potenziale der Transfor-mation der digitalen Gesellschaft heben und auf der an-deren Seite auch die Risiken benennen und die Nachteilebeseitigen können .Das versuchen wir auch mit diesem Antrag. Ich finde, die Zusammenarbeit dazu ist außergewöhnlich und auchsehr, sehr gut .
Meine Damen und Herren, auch beim Thema Indus-trie 4 .0 – ich denke, das ist das entscheidende Zukunfts-thema und die wichtigste Säule der Digitalisierung gera-de für einen Industriestandort wie Deutschland – müssenwir nicht nur Anschluss behalten, sondern auch, wie dieMinisterin schon gesagt hat, Vorreiter sein . Das möchteich uneingeschränkt unterstreichen .Wenn wir die gesamten Wertschöpfungsprozesse beiuns erhalten wollen, müssen wir Vorreiter sein, wie esuns bisher bei allen anderen industriellen Revolutionengelungen ist, beginnend mit der Dampfmaschine 1784über die elektrischen Fließbänder, die die Massenpro-duktion ermöglichten, knapp 100 Jahre später bis hin zurComputertechnik, die weitere 100 Jahre später, in den1970er-Jahren, mit der Robotik und anderem in die In-dustrie Einzug gehalten hat . Immer waren wir Vorreiter,immer haben wir sehr gut mitgespielt .Jetzt kommt Industrie 4 .0 . Das bedeutet, Smart Fac-tory kommt . Das bedeutet die totale Vernetzung, dieSelbst organisation in der Produktion . Mensch, Maschine,Anlagen, Logistik, Produkte, selbst die Kunden und dieGeschäftspartner sind miteinander vernetzt . Es entstehenganz andere Dienstleistungsmodelle, Smart Services,weil alle miteinander kommunizieren und kooperieren .Ich glaube, das ist eine sehr große Chance .Um noch einmal auf unsere Vorreiterrolle zurück-zukommen: Das ist auch eine Werbemöglichkeit fürDeutschland; die Frau Ministerin hat es sehr deutlichgesagt . Als wir im Ausland unterwegs waren – Sie hät-ten gerne mitkommen können, Herr Kollege Janecek;aber leider ging das nicht –, in Japan, in Taiwan oder inSüdkorea, war bei jedem Gespräch die erste Frage: Wiesieht es aus mit Industrie 4 .0? Ihr seid da die Vorreiter . Ihrkönnt das . Wie funktioniert das? – Wir waren aber nichtganz so euphorisch, weil wir in Deutschland immer einbisschen zurückhaltend sind, die ganze Sache abstraktsehen und erst einmal alles regulieren müssen . Wir konn-ten nur sagen: Wir haben dem Kind einen Namen gege-ben und hoffen jetzt alle gemeinsam, dass dieses Kindirgendwann auch auf die Welt kommt . – In einem gebeich Ihnen recht: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zulange abwarten . Wir müssen die Rolle, die uns zugeteiltwurde, mit Leben erfüllen . Das Ministerium macht eineganz hervorragende Arbeit . Auch der Antrag zeigt, dasswir den Anforderungen gerecht werden können .Ich gehe in der letzten Minute, die ich habe, noch kurzauf den Antrag ein . Es handelt sich um einen ganzheitli-chen Ansatz . Er hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit,Herr Kollege Gehring .
Wir fragen, welche Bedingungen herrschen und was wirfür den Erfolg der Industrie 4 .0 brauchen .Wir haben gesagt: Wir brauchen innovative Unterneh-mer . – Dahinter können wir einen Haken machen; denndie haben wir in Deutschland . Wir haben gesagt: Wirbrauchen Innovationskraft durch entsprechendes Kapi-tal, nicht Venture Capital, sondern das vorhandene Ka-pital . – Auch dahinter können wir einen Haken machen;das haben wir .
Venture Capital – da gebe ich Ihnen völlig recht – musskommen . Da sind wir uns einig .
Dann kommt ein Punkt, an dem wir noch Luft nachoben haben: der kontinuierliche Ausbau der Breitband-infrastruktur und natürlich die neue Mobilfunktechnolo-gie 5G . Das müssen wir intensiver angehen; denn ohnediese Mobilfunktechnologie und einen umfassendenBreitbandausbau wird das nicht funktionieren .Wir brauchen die Verfügbarkeit von qualifizierten Ar-beitskräften; dazu müssen wir mehr Mittel in die Ausbil-dung und die Qualifizierung stecken. Wir brauchen eine moderne Verwaltung, nicht die Old-Fashion-Verwaltung,die wir jetzt haben, um die Genehmigungspraxis zu ver-bessern . Wir brauchen den Abbau von bürokratischenHürden und die Abschaffung der Überregulierung . Dasalles ist aus dem vorigen Jahrhundert . Da müssen wirbesser werden .
Wir müssen auch Standards definieren und sagen, welche Techniken belastbar sein werden . – Frau Präsi-dentin, ich komme zum Schluss . Ich sehe das Signal sehr
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wohl . – Wir wurden immer wieder nach der IT-Sicher-heit gefragt . Manche Unternehmen haben Angst, ihreGeschäftsgeheimnisse in der Cloud zu verlieren . Da-rauf müssen wir Antworten geben . Wir dürfen auch denländlichen Raum nicht vergessen . Dort müssen wir denAusbau forcieren, damit die Chancen der neuen Techno-logien auch im ländlichen Raum wahrgenommen werdenkönnen und der ländliche Raum den Anschluss nichtverliert . Nicht der Wandel ist das Risiko . Wenn wir denWandel nicht begleiten, dann werden wir den Anschlussverlieren . Machen wir es so, wie bei den anderen indus-triellen Revolutionen: Seien wir Vorreiter .Danke .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
muss leider sagen: Es reicht nicht aus, dass Sie das Signal
sehen; Sie müssen ihm auch folgen . Das ist das Entschei-
dende .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zum Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD auf der Drucksache 18/6643 . Die Frakti-
onen der CDU/CSU und SPD wünschen Abstimmung in
der Sache . Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke wünschen Überweisung, und zwar
federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und Ener-
gie und mitberatend an den Ausschuss für Recht und Ver-
braucherschutz, den Ausschuss für Arbeit und Soziales,
den Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur, den
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung sowie an den Ausschuss Digitale Agenda .
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung an die Aus-
schüsse? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist die Überweisung mit den Stimmen der Koaliti-
on und Gegenstimmen der Opposition abgelehnt worden .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 18/6643 mit dem Titel „Industrie 4 .0 und
Smart Services – Wirtschafts-, arbeits-, bildungs- und
forschungspolitische Maßnahmen für die Digitalisierung
und intelligente Vernetzung von Produktions- und Wert-
schöpfungsketten“ in der Sache. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? –
Das ist nicht der Fall . Dann ist der Antrag mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen worden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 31 a und 31 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung von Korruption im Gesundheits-
wesen
Drucksache 18/6446
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ka-
thrin Vogler, Sabine Zimmermann ,
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Korruption im Gesundheitswesen effektiv be-
kämpfen
Drucksache 18/5452
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zü-
gig zu wechseln . – Ich eröffne die Aussprache . Als ers-
ter Redner in der Debatte hat für die Bundesregierung
der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange das
Wort .
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Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Korruption im Gesundheits-wesen beeinträchtigt den wirtschaftlichen Wettbewerb,verteuert medizinische Leistungen und untergräbt dasVertrauen von Patientinnen und Patienten in die Integritätheilberuflicher Entscheidungen. Wegen der erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung des Gesund-heitswesens ist korrupten Praktiken in diesem Bereichdeshalb auch mit Mitteln des Strafrechts entschieden ent-gegenzutreten .
Damit schützen wir nicht zuletzt den ganz überwiegen-den Teil der ehrlichen Heilberufsangehörigen, die sichtäglich für das Wohl der Patientinnen und Patienten ein-setzen, und das ist gut und richtig so .Nachdem der Bundesgerichtshof im Jahr 2012 fest-gestellt hat, dass das geltende Korruptionsstrafrechtweder auf niedergelassene noch für sonst selbstständigTätige im Gesundheitswesen anwendbar ist, waren wirzum Handeln aufgerufen . Anders als die letzte Bundes-regierung sehen wir Handlungsbedarf im gesamten Ge-sundheitswesen und unterscheiden nicht zwischen Kas-sen- und Privatärzten . Da Korruption zudem nicht nurauf ärztliche Entscheidungen abzielt, soll die Regelungfür alle Angehörigen eines Heilberufs mit einer staatlichgeregelten Ausbildung gelten .Der Gesetzentwurf sieht die Einführung der Straf-tatbestände der Bestechlichkeit und Bestechung imGesundheitswesen in den §§ 299 a und 299 b unseresStrafgesetzbuches vor . Sie verbieten Angehörigen vonHeilberufen, Vorteile als Gegenleistung dafür zu fordern,sich versprechen zu lassen oder anzunehmen, dass sie beider Verordnung oder der Abgabe von Arznei-, Heil- oderHilfsmitteln oder von Medizinprodukten oder bei der Zu-führung von Patienten oder Untersuchungsmaterial einenJens Koeppen
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anderen im Wettbewerb in unlauterer Weise bevorzugen .Die Regelungen lehnen sich insoweit an den Tatbestandder Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichenVerkehr an .Der Gesetzentwurf trägt aber zugleich den Beson-derheiten des Gesundheitswesens Rechnung . So sollenHeilberufsangehörige beispielsweise dann, wenn sie Me-dizinprodukte auf eigene Rechnung beziehen, grundsätz-lich eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen dürfen,solange die Produkte nicht zur Weitergabe an den Patien-ten bestimmt sind . Außerdem haben wir klargestellt, dassdas, was berufs- und sozialrechtlich zulässig ist, auch inZukunft straflos bleiben wird. Das gilt besonders für die vielen Formen der beruflichen Zusammenarbeit, die zum Wohle der Patientinnen und Patienten gesundheitspoli-tisch von uns allen gewollt sind und deshalb nicht unterKorruptionsverdacht gestellt werden sollen .
Meine Damen und Herren, nach meiner Wahrneh-mung ist es mit dem vorgelegten Gesetzentwurf gelun-gen, das strafwürdige Verhalten klar zu umgrenzen . Dasmag nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen sein, dasswir die verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen vonAnfang an aktiv bei der Entstehung unseres Gesetzent-wurfes eingebunden haben . Deshalb bitte ich Sie, verehr-te Kolleginnen und Kollegen, um Ihre Unterstützung beiden anstehenden Beratungen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Kathrin
Vogler von der Fraktion Die Linke das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! DassKorruption im Gesundheitswesen bekämpft werdenmuss, darin sind sich heute alle einig hier im Haus, vonder Linken bis zur CSU, und das ist schon ein erheblicherFortschritt gegenüber der letzten Wahlperiode .
Korruption verursacht finanzielle Schäden in Milli-ardenhöhe . Sie ist eine Gefahr für die Patientinnen undPatienten und für die Finanzierung unseres Gesundheits-wesens . Unterschiedliche Schätzungen gehen davonaus, dass durch Korruption zwischen 5 Milliarden und17 Milliarden Euro pro Jahr verloren gehen . Dieses Geldfehlt uns an anderer Stelle, zum Beispiel bei den Kran-kenhäusern oder bei der Versorgung im ländlichen Raum .Aber es geht nicht nur ums Geld . Wenn täglich Tau-sende von Pharmaberatern durch die Arztpraxen ziehen,um mit allen möglichen Tricks neue, teure Medikamentein den Markt zu drücken, dann hat das auch Risiken fürdie Gesundheit der Patientinnen und Patienten . Wenn ichals Patientin nicht weiß, ob die Frau Doktor ein Mittelverschreibt, weil es mir guttut oder weil sie dafür voneiner Firma bezahlt wird, dann nimmt auch das Vertrauenin die Medizin insgesamt Schaden .Genau hier, Herr Lange, hat der Gesetzentwurf derBundesregierung leider einen blinden Fleck . Sie wollenvor allem den Wettbewerb im Gesundheitswesen und diefinanzielle Stabilität der Krankenkassen schützen, und dabei ist Ihnen die Patientenperspektive leider weitge-hend abhandengekommen .
Der Bundesrat hat zum Beispiel vorgeschlagen, Beste-chung und Bestechlichkeit auch dann zu bestrafen, wennzwar kein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist, abereine erhebliche Gefahr für die Gesundheit eines Men-schen . Diesen sehr guten Vorschlag hat die Bundesregie-rung abgelehnt, und das kann ich, ehrlich gesagt, über-haupt nicht nachvollziehen .
Meine Fraktion schlägt Ihnen im vorliegenden Antragvor, die Strafbarkeit auf Vorteilsgewährung und Vorteils-annahme allgemein auszuweiten . Für Nichtjuristen: Dashätte den entscheidenden Vorteil, dass eben nicht nach-gewiesen werden müsste, dass eine Zuwendung an eineÄrztin diese ganz konkret dazu veranlasst hat, genau dasMedikament dieser Firma zu verschreiben . Damit könnteman auch das Phänomen der sogenannten Landschafts-pflege in den Griff bekommen. Damit hätten wir im Gesundheitsbereich ähnlich hohe Antikorruptionsregelnwie bei den Beamtinnen und Beamten . In diese Richtunghat in der letzten Wahlperiode auch die SPD noch ge-dacht . Genau diese Forderung wird auch von MEZIS, derInitiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte erhoben;wir sollten ihnen hier folgen .
Ein großes Problem, das Sie mit Ihrem Gesetzentwurfüberhaupt nicht angehen, sind die sogenannten Anwen-dungsbeobachtungen . Kurz beschrieben handelt es sichdabei um Vereinbarungen zwischen der Industrie undÄrztinnen und Ärzten, wonach Ärzte Patienten auf einneues Arzneimittel umstellen und dafür von den Herstel-lerfirmen vergütet werden. Diese neuen Medikamente sind häufig viel teurer und häufig leider auch weniger sicher als die bewährten alten .
Wie das konkret funktioniert und welche Risiken das fürdie Patienten mit sich bringt, das schildert Roland Holtzin seinem Doku-Roman Pharmakrieg am Beispiel einesfiktiven Medikaments mit drastischen Nebenwirkungen. Er zeigt ganz detailliert, wie verheerend sich der Miss-brauch der sogenannten Anwendungsbeobachtungen aufdie Sicherheit von Patientinnen und Patienten auswirkenkann . Die Antikorruptionsinitiative Transparency Inter-national hat genau diese Anwendungsbeobachtungen ineiner Studie untersucht und kommt zu dem Ergebnis,Parl. Staatssekretär Christian Lange
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dass es sich dabei nicht um seriöse Forschung handelt,sondern schlicht um verschleierte Korruption, und for-dert deshalb ein gesetzliches Verbot, was wir als Linkeunterstützen . Aber leider haben Sie dazu nichts vorgelegt .Inzwischen hat sich die Branche weitere Umgehungs-möglichkeiten gesucht, die wir dringend unterbindenmüssen . Schmiergelder können auch weiterhin als über-höhte Honorare etwa für Vorträge oder Gutachtertätig-keiten gezahlt werden; daran wird Ihr Gesetz leider auchnichts ändern . Das ist sehr bedauerlich .
Die eingeschränkte Sichtweise auf das Problem kommtin dem Gesetzentwurf leider auch zum Vorschein, wennes um die Frage geht, wer überhaupt Anzeige erstattendarf . Die Staatsanwaltschaft darf nämlich nur dann tätigwerden, wenn die Bestechung von einer Ärztekammer,einem Berufsverband, einer Krankenkasse oder einembenachteiligten Wettbewerber angezeigt wird .
Nun ist es aber doch so, dass es häufig Beschäftigte sind, die das Unrechtsverhalten ans Tageslicht bringen . DieLinke fordert deswegen, diese Whistleblower zu schüt-zen, damit sie nicht aus Angst vor Regressforderungenoder Jobverlust von einer Anzeige abgehalten werden .
Auch Patientinnen und Patienten, die von korruptivemVerhalten erfahren, sollen selbst nicht Anzeige erstattendürfen. Das finden wir unzureichend, und wir hoffen, dass Sie da noch nachbessern .
Insgesamt denke ich, dass in Ihrem Gesetzentwurfdurchaus noch eine Menge Luft nach oben ist . Das wol-len wir Linke nutzen . Ich hoffe im Interesse der Patien-tinnen und Patienten, der ehrlichen Medizinerinnen undMediziner sowie eines solidarischen Gesundheitswesensauf gute Besserung .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Jan-Marco
Luczak von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eines ist klar: Korruption ist kein Kavaliersde-likt, sondern verursacht sehr hohe wirtschaftliche Schä-den; denn wo korruptive Verhaltensweisen herrschen,da werden Ressourcen verschwendet, da werden falscheAnreize gesetzt, und schließlich kommt es zu Fehlalloka-tionen . Das führt dann dazu, dass nicht mehr die Qualität,die Leistung und der Preis entscheiden, sondern die Höhedes korruptiven Anreizes . Damit bleibt der faire Wettbe-werb, eines der Grundprinzipien der sozialen Marktwirt-schaft, auf der Strecke . Deswegen gehört die Bekämp-fung der Korruption zu den zentralen wirtschaftlichen,politischen und gesellschaftlichen Aufgaben, denen derGesetzgeber nachkommen muss . Wir setzen mit unseremGesetzentwurf das klare Signal, dass Korruption im Ge-sundheitswesen sanktionswürdig ist .
Dieses Signal ist notwendig, nicht etwa wegen derMasse an Fällen, die es gibt, sondern weil der Gesund-heitsbereich einen hohen Stellenwert innerhalb der Ge-sellschaft und innerhalb unserer Wirtschaftsordnung hatund weil es sich um einen hochsensiblen Bereich han-delt . Volkswirtschaftlich betrachtet, werden in der Ge-sundheitswirtschaft in Deutschland etwa 300 MilliardenEuro im Jahr umgesetzt . Die Folge von Korruption ist,dass sich medizinische Leistungen verteuern . Das gehtzulasten der Patienten und zulasten der Solidargemein-schaft . Mir ist aber ganz wichtig, zu sagen: Korruptionhat nicht nur negative wirtschaftliche Auswirkungen . Diegravierendste Folge von Korruption ist, dass ein Vertrau-ensverlust der Patienten in die Integrität heilberuflicher Entscheidungen damit einhergeht .Wir von der Koalition haben ein klares Ziel . Wir wol-len einen verbindlichen Rechtsrahmen für einen fairenWettbewerb schaffen, der das Vertrauensverhältnis zwi-schen Ärzten und Patienten schützt . Für die Union istimmer klar gewesen: Niemand soll ein Medikament nurdeswegen verschrieben bekommen, weil ein Arzt oderein anderer in einem Heilberuf Tätiger einen Vorteil da-raus zieht . Das darf nicht sein . Entscheidend muss diemedizinische Notwendigkeit sein .
Wir haben gehört, was Anlass unseres Gesetzgebungs-verfahrens war; Staatssekretär Lange hat dazu schon aus-geführt . In einem Urteil des Bundesgerichtshofes ausdem Jahre 2012 wurde im Kern offenbar, dass es Schutz-lücken im Gesundheitswesen gibt, die wir im Rahmender Bekämpfung von Korruption angehen müssen . Ärztesind eben keine Amtsträger, und es sind auch keine Be-auftragten der gesetzlichen Krankenkassen . Auch greifenhier Tatbestände wie Betrug und Untreue in aller Regelnicht . Die sich auftuenden Schutzlücken wollen wir mitdiesem Gesetzentwurf schließen .Für uns ist an dieser Stelle ein Punkt ganz wichtig:Wir wollen kein Sonderstrafrecht für Ärzte schaffen;denn damit würde das falsche Signal ausgesendet, dassoffensichtlich Regelungsbedarf besteht, weil alle Ärztevermeintlich korrupt sind . Das ist ausdrücklich nicht derFall . Daher haben wir gesagt: Nicht nur für die Ärzte sol-len die neuen strafrechtlichen Sanktionen gelten, sondernfür Angehörige aller – und nicht nur der akademischen –Heilberufe . All diejenigen, die im Gesundheitsbereicharbeiten und eine staatliche Prüfung im Gesundheitswe-sen abgelegt haben, werden von diesem Gesetz, dessenEntwurf wir beraten, zukünftig erfasst .Kathrin Vogler
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Es sind zwei Schutzzwecke, die wir mit diesem Ge-setz verfolgen . Das ist zum einen der Schutz des lauterenWettbewerbs, und das ist zum anderen der Schutz desVertrauens der Patienten in die heilberufliche Unabhän-gigkeit . Deswegen haben wir hier zwei Tatbestandsal-ternativen ausgewählt . Für uns ist bei der Ausgestaltungdieser Alternativen wichtig gewesen, dass wir ganz klarund deutlich sagen: Wir wollen, dass Kooperationen imGesundheitswesen auch zukünftig möglich sind, weildas wichtig ist für Anreize in Forschung, Innovation undFortentwicklung . Da braucht man eine enge Kooperationzwischen der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie . Dasist notwendig zum Wohl der Patienten . Das kann und darfmit diesem Gesetz nicht verhindert werden, meine Da-men und Herren .
Wir brauchen eine klare Abgrenzung, was strafbar istund was nicht . Da bewegen wir uns in einem schwie-rigen Bereich . Wir müssen das verfassungsrechtlicheBestimmtheitsgebot beachten, also möglichst klar sa-gen, was sanktionswürdig und strafbar ist . Gleichzeitigbrauchen wir natürlich eine abstrakt-generelle Regelung,die es ermöglicht, auch jetzt noch unbekannte, aber ausunserer Sicht sanktionswürdige Verhaltensweisen zu er-fassen . In der Entwicklung vom Referentenentwurf zumKabinettsentwurf haben wir die Bedenken, die es dazuin der Praxis gibt, aufgenommen und versucht, das kla-rer zu fassen . So haben wir im Tatbestand ausdrücklichklargestellt, dass es bei Verstößen gegen berufsrechtlichePflichten um solche Pflichten geht, mit denen die heil-berufliche Unabhängigkeit geschützt wird, und nicht um andere berufsrechtliche Pflichten, also etwa Regelungen dazu, wie groß das Praxisschild sein darf . Letztere habenmit der heilberuflichen Unabhängigkeit nichts zu tun. Deswegen fallen Verstöße gegen solche Pflichten nicht in den Bereich der Strafbarkeit .Wir haben in der Begründung klargestellt, dass wirKooperationen im Gesundheitswesen wollen . Das gilt fürdie Kooperationsmodelle, die etwa im SGB V ausdrück-lich vorgesehen sind; aber das gilt zum Beispiel auch fürdie Anwendungsbeobachtung, die Frau Kollegin Voglerhier gerade so sehr gegeißelt hat . Das sind notwendigeKooperationsformen, um festzustellen, ob neue Medika-mente einen zusätzlichen Nutzen haben . Natürlich sol-len und müssen sie gegebenenfalls vergütet werden, aberangemessen, und das darf nicht zulasten der Patientengehen; aber sie sind notwendig, um an dieser Stelle fürInnovation und Fortschritt zu sorgen .
Weil die Praxis hier ganz entscheidend ist, habenwir auch gesagt: Wir müssen im SGB V eine Regelungschaffen, mit der wir einen Erfahrungsaustausch hin-bekommen zwischen den Leistungsträgern im Gesund-heitswesen und denen, die möglicherweise korrupte Ver-haltensweisen nachher verfolgen müssen, nämlich denStaatsanwaltschaften .Insofern haben wir einen Dreiklang: Wir haben ei-nen Tatbestand konkreter und enger gefasst . Wir habenin der Begründung deutlich gemacht, was zulässig undwas nicht zulässig ist . Außerdem werden wir dafür sor-gen, dass in der Praxis auch zukünftig die Gefahr vonstaatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nicht über Gebührdroht .Weil hier Bedenken vonseiten der Ärzteschaft undder anderen Heilberufe bestehen, ist es wichtig, nocheinmal zu betonen: Staatsanwaltschaftliche Ermittlun-gen sind von vielen Voraussetzungen abhängig . Es reichtnicht aus, gegen eine bestimmte berufsrechtliche Pflicht zu verstoßen . Vielmehr muss immer eine Verknüpfungvon Vorteil und Gegenleistung bestehen . Das ist die so-genannte Unrechtsvereinbarung; das ist der immanenteKernbestandteil einer jeden Korruptionsstrafbarkeit . Ichhabe großes Vertrauen in unsere Gerichte, auch in unsereStaatsanwälte, dass sie mit dem Instrumentarium, das wirihnen hier an die Hand geben, verantwortungsvoll umge-hen werden .Letzter Punkt, den ich hier gern noch ansprechenmöchte: das Bestimmtheitsgebot . Das ist ein Punkt, denwir uns verfassungsrechtlich genau anschauen müssen .Das werden wir im parlamentarischen Verfahren tun .Wir müssen ganz klar sagen, bei welchen berufsrechtli-chen Pflichten ein Verstoß zur Strafbarkeit führen kann; das müssen die Normadressaten wissen . Da müssen wir,glaube ich, aufpassen, dass die unterschiedlichen berufs-rechtlichen Regelungen, die es in den einzelnen Länderngibt, nicht zu einer unterschiedlichen Strafbarkeit führen .Das müssen wir uns im Gesetzgebungsverfahren nochgenau anschauen . Ich glaube, da sind wir auf einem gu-ten Weg .Ich könnte mir noch vorstellen, in Bezug auf denSchutzzweck des Gesetzes als besonders schweren Fallauch eine Gesundheitsbeschädigung in den Blick zu neh-men; dazu hat die Kollegin von den Linken etwas gesagt .Unter dem Strich ist für uns ganz wichtig: Wir wollenuns nur auf die schwarzen Schafe konzentrieren . Nur diehaben es verdient, verfolgt zu werden . Damit sind wirmit diesem Gesetzentwurf auf einem guten Weg . Deswe-gen darf ich Sie um Ihre Zustimmung bitten .Danke schön .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Sie ermah-nen, in der Zeit zu bleiben . Der Kollege hat jetzt um übereine Minute überzogen . Wenn wir das zusammenzählen,sind wir bei acht Minuten zusätzlich – sogar noch einbisschen darüber . Ich habe einfach die Bitte, wirklich inder Zeit zu bleiben . Wir liegen bereits sehr weit – übereine Stunde, eine Stunde und zehn Minuten – zurück,und im Anschluss gibt es noch eine Debattenrunde .Als nächste Rednerin hat Maria Klein-Schmeink vonder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Heute ist in der Tat ein guter Tag, weil wir zumDr. Jan-Marco Luczak
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fünften Mal über die Korruption im Gesundheitswesenreden – erstmalig auf Grundlage eines Gesetzentwur-fes – und alle Fraktionen erkennen lassen, dass sie ihnund damit auch das Anliegen zumindest im Grundsatzunterstützen . Das ist ein weitreichender Fortschritt, denich von unserer Seite aus begrüße .
Warum begrüße ich diesen Schritt? Als wir im Jahr2012 das Urteil des Bundesgerichtshofes entgegenneh-men mussten, in dem es hieß: „Nein, wir können einen be-sonderen Fall der Einflussnahme bzw. der Bestechung – die nachweislich stattgefunden hatte; 18 000 Euro warenfür die Verschreibung eines bestimmten Präparates alsZuwendung an Ärzte geflossen – auf Grundlage unserer derzeitigen Rechtsgebung bzw . Rechtsprechung nichtverfolgen“, war deutlich: Wir haben eine Rechtslücke, eine Handlungslücke . Die wird mit diesem Gesetz ge-schlossen, und das ist richtig und gut so .
Ich begrüße auch ausdrücklich, dass die CDU an die-ser Stelle Lernfortschritte gemacht hat . Wenn Sie in diealten Protokolle der Debatten sehen, werden Sie sehen,dass da immer nur von „Unterstellungen“ und „Verleum-dung der Ärzteschaft“ die Rede war und eben nicht da-rüber gesprochen wurde, wie dem berechtigten Anliegender Patientinnen und Patienten entsprochen werden kann .Ich glaube, da sind wir einen entscheidenden Schritt wei-ter .
Das ist auch Ausdruck dessen, wo wir als Gesetzge-ber wirklich gefragt sind . Es geht um ein extrem hohesGut, um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt undPatient . Das ist kein beliebiges, sondern ein besondersschutzwürdiges Verhältnis; denn wir müssen uns als Pa-tientin bzw . als Patient darauf verlassen können, dass dieBehandlungsempfehlungen und Diagnosen zum Woh-le des Patienten sind und nicht zum Wohle des eigenenPortemonnaies . Das muss sichergestellt sein . Dieses be-sondere Verhältnis müssen wir als Gesetzgeber auch inbesonderer Weise schützen .
Ich glaube, kein Mensch in der Bevölkerung kannnachvollziehen, dass wir im Strafrecht einen weitreichen-den Antikorruptionsparagrafen haben, aber ausgerechnetdieses besondere Verhältnis außen vor lassen . Auch inso-weit ist es ein Akt des gesunden Rechtsempfindens und der Akzeptanz von Rechtsgebung, wenn wir diese Lückejetzt tatsächlich schließen .Wir werden wahrscheinlich im weiteren Verfahrenschauen müssen, ob wir da nachschärfen und die zulässi-ge Zusammenarbeit vielleicht noch deutlicher formulie-ren müssen, damit hinreichend klar ist, was in Zukunftstrafbar ist, was mit den Mitteln des Strafrechts geahn-det wird . Da müssen wir vielleicht noch einmal genauerhinschauen . In den Gutachten und Stellungnahmen hates bereits sehr hilfreiche Hinweise gegeben . Dem kannman nachgehen. Ich finde, dass zum Beispiel der Deut-sche Anwaltverein einen nicht unlogischen Vorschlag ge-macht hat . Er hat vorgeschlagen, dass, wenn es Zweifelbezüglich der Zulässigkeit bei der Zusammenarbeit gibt,im Vorfeld von den Sozialrechtsträgern eine Genehmi-gung eingeholt werden sollte, womit Sicherheit herge-stellt werden kann . Damit könnte an der Stelle auch einAusschluss von Strafbarkeit festgestellt werden . DiesenVorschlag sollte man unter Umständen berücksichtigen .
Wir haben als Grüne aber auch immer deutlich ge-macht: Es kann nicht nur um das Strafrecht gehen . Wirmüssen im Vorfeld andere wichtige Schritte tun, umTransparenz herzustellen und insgesamt ein Verhaltenherbeizuführen, das diejenigen Ärzte und Leistungser-bringer im Gesundheitswesen schützt, die sich korrektverhalten . Ein wichtiger Punkt wäre beispielsweise, inBezug auf die Zuwendungen von Pharmaindustrieunter-nehmen und anderen Unternehmen an die Leistungser-bringer mehr Transparenz herzustellen . Wir möchten unsgerne der Gesetzgebung in den USA anschließen undnach dem Vorbild des Sunshine Act deutlich machen:Jede Zuwendung über 100 Euro muss gemeldet werdenund ist damit nachvollziehbar und einsehbar . Damit habeich Klarheit: Welche Zuwendungen sind geflossen? Je-der weiß also um irgendwelche ökonomischen Verflech-tungen und kann sich als Patient auch ein eigenes Bildmachen . Das, glaube ich, ist ein ganz wichtiges Element,das wir zusätzlich und ergänzend angehen sollten .
Weiterhin brauchen wir einen wirksamen Whistleblo-wer-Schutz . Auch diese Debatte haben wir hier im Parla-ment mehrfach geführt . Da müssten wir weiterkommen .Ein weiterer Punkt sind die Anwendungsbeobachtungen .Es geht nicht darum, diese unter Strafe zu stellen, son-dern darum, einen rationalen Umgang mit den Anwen-dungsbeobachtungen zu finden. Sie sollen anders als jetzt ein Instrument sein, mit dem man die Folgewirkungenvon Medizinprodukten oder Medikamenten tatsächlichnachvollziehen kann, und nicht Scheinverfahren, mitdenen man unter der Hand Zuwendungen möglich ma-chen will . Dazu gehört, einen strukturierten Umgang mitden Anwendungsbeobachtungen im SGB V festzulegen .Auch das wäre eine sehr sinnvolle Ergänzung dieser Ge-setzgebung im Bereich der Korruptionsbekämpfung .Danke schön .
Als nächste Rednerin hat Dr . Silke Launert von derCDU/CSU-Fraktion das Wort .
Maria Klein-Schmeink
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Pati-
entinnen! Liebe Patienten! Stellen Sie sich einmal vor,
Sie gehen mit einer schweren Erkältung in die Apothe-
ke, um sich beraten zu lassen. Dort empfiehlt Ihnen der
Apotheker ein bestimmtes Medikament, und zwar nur
deswegen, weil er von dem Pharmaunternehmen, das das
Medikament vertreibt, Prämienzahlungen erhält . Stellen
Sie sich vor, Sie benötigen orthopädische Schuheinlagen
und Ihr Arzt schickt Sie zu einem bestimmten Sanitäts-
haus, weil ihm eine Reise versprochen wurde, wenn er
nur ausreichend viele Patienten vorbeischickt . Und nun
stellen Sie sich vor, dass dieses Verhalten in Deutsch-
land strafrechtlich nicht geahndet wird . Das glauben Sie
nicht? Da irren Sie sich .
2012 hat der Bundesgerichtshof – es wurde heute schon
mehrfach angesprochen – festgestellt, dass das deutsche
Strafrecht nicht ausreichend engmaschig gestrickt ist, um
solche Taten zu verfolgen . Tatsächlich ist in Korruptions-
fällen für die Staatsanwälte schwer zu greifen, wer nicht
als Beauftragter handelt, sondern als Freiberufler und
damit allein seinem Gewissen unterworfen ist . Im kon-
kreten Fall, der schon geschildert wurde, ging es darum,
dass eine Pharmareferentin in 16 Fällen Kassenärzten
Schecks in einem Gesamtwert von 18 000 Euro überge-
ben hatte . Der Übergabe der Schecks hatte ein als „Ver-
ordnungsmanagement“ bezeichnetes Prämiensystem des
Pharmaunternehmens zugrunde gelegen .
Dieser Fall ist beispielhaft für die Gefahren, die in un-
serem Gesundheitswesen drohen . Dass es diese Gefah-
ren gibt, ist kein Wunder . Schließlich handelt es sich hier
um ein Geschäft, das 300 Milliarden Euro im Jahr um-
fasst . Natürlich regt das die kriminelle Energie an, erst
recht, wenn strafrechtliche Regelungslücken bestehen .
In diesem Fall geht das zulasten der Patienten und zu-
lasten des Gemeinwesens . Deshalb wollen wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf diesen Missstand beseitigen
und entsprechend dem Koalitionsvertrag die neuen Straf-
tatbestände der Bestechlichkeit und Bestechung im Ge-
sundheitswesen im Strafrecht verankern .
Bereits in der letzten Legislaturperiode gab es einen
Gesetzentwurf, der allerdings kurz vor dem Ziel aufge-
halten worden ist . Nun, zwei Jahre später, haben wir mei-
ner Ansicht nach einen konsequenteren Gesetzentwurf,
der die Straftatbestände nicht im Sozialgesetzbuch vor-
sieht, sondern im Strafgesetzbuch . Da gehören sie auch
hin, insbesondere in Anbetracht der erheblichen sozialen
und wirtschaftlichen Bedeutung des Gesundheitswesens .
Korruption im Gesundheitswesen – es wurde schon
mehrfach angesprochen – bedroht das Vertrauen in die
Integrität der heilberuflichen Entscheidungen, und das in
einem Bereich, der so wichtig ist und in dem es um unse-
re Gesundheit geht, ja sogar um Leben und Tod . Da muss
sichergestellt werden, dass die Entscheidungen frei sind
von der Einflussnahme Dritter.
Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen sind erheb-
lich . Durch unlauter agierende Teilnehmer wird der Wett-
bewerb gestört . Wenn nicht die Qualität der Leistung ent-
scheidend ist, sondern die Qualität der Prämienzahlung,
dann brauchen wir uns natürlich nicht zu wundern, dass
alles aus den Fugen gerät und sich Gewinn und Verlust
nicht an marktwirtschaftlichen Kriterien orientieren .
Insofern müssen wir dem entschieden entgegentreten .
Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf . Der
Kreis der potenziellen Täter ist weit gefasst . Er umfasst
Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Physio- und Psychothera-
peuten, Logopäden und Krankenpfleger. Auf der anderen
Seite: So groß der Täterkreis auch ist, so wenig wollen
wir natürlich einen ganzen Berufsstand unter General-
verdacht stellen . Strafbar soll sich nur machen, wer eine
Unrechtsvereinbarung anstrebt . Das heißt, erforderlich
ist eine inhaltliche Verknüpfung zwischen Vorteil und
Gegenleistung – wie bei allen anderen Korruptionstat-
beständen auch. Die berufliche Zusammenarbeit der
Beteiligten im Gesundheitswesen soll durch das Gesetz
keineswegs unterbunden werden; sie ist nach wie vor ge-
wünscht .
Wie bei den anderen Korruptionstatbeständen auch, gibt
es Geringwertigkeits- und Bagatellgrenzen . Kooperati-
onsvereinbarungen sind natürlich nach wie vor möglich .
Auch die sogenannten Anwendungsbeobachtungen, die
schon angesprochen und erklärt wurden, sind weiterhin
möglich .
Ich denke, mit dem vorliegenden Entwurf ist uns der
Spagat zwischen der notwendigen strafrechtlichen Sank-
tionierung auf der einen Seite und der in der Praxis erfor-
derlichen Zulässigkeit gesundheits- und forschungspoli-
tisch gewünschter Kooperationen auf der anderen Seite
gelungen .
Liebe Patientinnen und Patienten, Sie sehen, wir tun
etwas für Ihr Vertrauen in das Gesundheitswesen . Sie
können auch in Zukunft bei Risiken und Nebenwirkun-
gen guten Gewissens Ihren Arzt oder Apotheker fragen .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Edgar
Franke von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich freue mich sehr, dass wir heute das Gesetzzur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesenberaten können . Ich freue mich auch deshalb sehr, weilsich gerade die Gesundheitspolitiker der SPD seit sechsJahren für ein handwerklich gutes Gesetz starkgemachthaben . Herr Staatssekretär, dieses Gesetz ist handwerk-lich wirklich gut gemacht .
2010, als wir den ersten Antrag der SPD mit dem da-mals programmatischen Titel „Korruption im Gesund-
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heitswesen wirksam bekämpfen“ beraten haben – Frau Maria Klein-Schmeink kann sich noch erinnern –,
waren die anderen Fraktionen, auch Ihre, durchaus kri-tisch . Aber wir haben gesagt: Es kann nicht sein, dassein Arzt aufgrund finanzieller Zuwendungen bestimmte Medikamente verschreibt, ohne dass dies Folgen hat . Ichglaube, das war richtig . Gerade bei Krebsbehandlungen,dann, wenn es um Leben und Tod geht, dürfen keineMedikamente aufgrund von Schmiergeldzahlungen ver-schrieben werden – Medikamente, die vielleicht sogarschlechter wirken und teurer sind .Wir haben damals gesagt: Der Patient muss immersicher sein, dass nur medizinische und nicht monetäreGründe für eine Therapie maßgebend sind . Ich glaube,das ist wichtig und richtig, meine sehr verehrten Damenund Herren .
Unser Antrag wurde damals mit der Begründung ab-gelehnt – beispielsweise auch von den Grünen –,
dass keine Regelungslücke bestehe . Der Bundesgerichts-hof hat aber damals der SPD recht gegeben und hat denGesetzgeber damals sogar unter Bezugnahme auf unse-ren Antrag, den Antrag der SPD, aufgefordert, tätig zuwerden . Die organisierte Ärzteschaft – ich sehe geradeHerrn Henke –, zumindest die Bundesärztekammer, auchHerr Montgomery, hat sich der Argumentation der SPDangeschlossen . Daran sieht man schon: Wir haben rechtgehabt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Gesetzent-wurf schaffen wir ein relatives Antragsdelikt . Das heißt,ohne Strafantrag oder ohne besonderes öffentliches Inte-resse kann ein noch so übereifriger Staatsanwalt – auchein Staatsanwalt aus Hannover – nicht allein loslegen .Die Leistungsträger haben da ein bisschen Angst; aberich glaube, ihre Angst ist unbegründet .Dr . Luczak hat es schon gesagt: Zusammenarbeit aufsozialrechtlicher Grundlage oder auch Bonuszahlungensind nicht von den strafrechtlichen Vorschriften des § 299StGB erfasst . Auch weil die Krankenkassen dabei sind,geschieht das ja nicht im Verborgenen . Im Übrigen – dashaben Sie gesagt – müsste ja eine Unrechtsvereinbarungvorliegen, das heißt eine Verknüpfung von Vorteil undGegenleistung . Deswegen brauchen die Leistungsträger,von denen mich viele angerufen haben, keine Angst zuhaben . Weil ohne Unrechtsvereinbarung nichts passiert,ist diese Angst vollkommen unbegründet . Auch deswe-gen ist dies ein guter Gesetzentwurf, Herr Staatssekretär .Im Zuge der Diskussionen – auch das wurde ange-sprochen – hat sich der eine oder andere Leistungsträgeran uns gewandt . Hörgeräteakustiker, Orthopädieschuh-machermeister oder Augenoptiker haben gesagt, dass esmanchmal üblich sein soll, dass es manchmal günstigist, ein bisschen nachzuhelfen, damit Patienten zu ihnenkommen, dass man die Ärzte diesbezüglich ein bisschenbetreuen muss . Auch das war zwar berufsrechtlich zusanktionieren, hatte aber keine Folgen . Auch deshalbist es wichtig, dass wir eine klare strafrechtliche Normhaben .Zum Schluss will ich noch etwas zu der Kritik sagen,es gebe ein Sonderstrafrecht für Ärzte, für bestimmteBerufsverbände . Das wurde immer wieder gesagt . Aberauch korruptives Verhalten von Richtern ist mit Strafebedroht, und keiner kommt wegen dieser Vorschrift aufdie Idee, Juristen unter Generalverdacht zu stellen . Des-wegen ist diese Argumentation absoluter Blödsinn; dasmuss ich hier wirklich einmal sagen, liebe Kolleginnenund Kollegen .
Wir schließen vielmehr – damit komme ich zumSchluss – eine Strafbarkeitslücke . Keine Berufsgrup-pe wird unter Generalverdacht gestellt, nicht Ärzte undauch nicht sonstige Leistungserbringer . Das ist ein gu-ter Gesetzentwurf, auch wenn heute Freitag, der 13 ., ist;wir beraten ja heute nur . Es gewährleistet den Patienten-schutz, stärkt das Vertrauen – auch das wurde gesagt – indie Unabhängigkeit heilberuflicher Entscheidungen und schützt vor allen Dingen den fairen Wettbewerb . Dasist – ich sage es noch einmal – ein guter Gesetzentwurf .Das haben wir 2010 schon gesagt .
Wir hätten ihn vielleicht schon eher haben können . Wirhätten ihn vielleicht schon in der letzten Legislaturperi-ode haben können . Aber wenn man recht hat, hat manrecht, und die SPD hatte dieses Mal wirklich recht .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dietrich
Monstadt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wiedie meisten von Ihnen wissen, befassen wir uns mit demThema „Korruption im Gesundheitswesen“ sehr diffe-renziert und ausführlich bereits seit der vergangenen Le-gislaturperiode, und zwar – lassen Sie mich das gleichzu Beginn meiner Rede ganz ausdrücklich und deutlichsagen – völlig zu Recht .Damals bereits wurde ein strafrechtlicher Ansatz insGespräch gebracht . Es ist kein Geheimnis, dass ich dieserDr. Edgar Franke
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Lösung seinerzeit durchaus skeptisch gegenüberstand .Wir waren der Meinung, dass berufsrechtliche und so-zialrechtliche Regelungen ausreichen, um das Problemin den Griff zu bekommen, und das haben wir dann auchumgesetzt .
Frau Klein-Schmeink, zur Wahrheit gehört, dass Sie dasim weiteren parlamentarischen Verfahren aufgehaltenhaben . So weit, so gut .
Meine Damen und Herren, wir haben heute nicht nureinen anderen Koalitionsvertrag, sondern wir müssenauch feststellen, dass es in Einzelfällen Fehlverhaltengibt, das sich durch das reine Berufs- und Wettbewerbs-recht sowie das Heilmittelwerbegesetz nicht abstellenlässt . Damals wie heute sage ich als Gesundheitspoliti-ker: Wir sollten dringend der Versuchung widerstehen –der Kollege Dr . Franke hat darauf hingewiesen –, so zutun, als gebe es im Gesundheitswesen Korruption undFehlverhalten größeren Umfangs oder als könnte diesgar ungeahndet stattfinden. Dies wäre nicht nur unred-lich, sondern auch eine echte Gefahr, zum Beispiel fürdas besondere Vertrauensverhältnis zwischen den Ärz-ten und Patienten in unserem Land . Ja, es gibt schwarzeSchafe, wie in anderen Bereichen auch . Der vorliegendeGesetzentwurf wird einen Beitrag dazu leisten, wirksamgegenzusteuern; dies haben meine Vorredner hinreichendausgeführt .Gleichzeitig sollten wir aber darauf achten, nicht alleAngehörigen unserer Heilberufe unter Generalverdachtzu stellen . Die allermeisten Ärzte, Psychotherapeuten,Krankenpfleger usw. machen Tag für Tag einen guten Job im Sinne der Patientinnen und Patienten .
All diese Akteure machen sich jeden Tag Gedanken,wie man die medizinische Versorgung weiter optimierenkann, um den Patientinnen und Patienten noch besser zuhelfen .Als Gesundheitspolitiker aus Mecklenburg-Vorpom-mern, einem der großen Flächenländer, kann ich Ihnenberichten, dass gerade zu solchen Verbesserungen sehroft auch notwendige und gewollte Kooperationen gehö-ren . Diese werden zukünftig noch größere Bedeutungerlangen . Beispielhaft möchte ich Kooperationen imRahmen des Patientenanspruchs auf ein Versorgungs-management nach § 11 Absatz 4 SGB V oder im Rah-men besonderer Versorgung nach § 140 a SGB V nen-nen . Hier soll und muss ein breiter und bestmöglicherBehandlungsansatz umgesetzt werden . Deshalb ist esfür mich besonders wichtig, dass gewollte und gebotenesoziale und berufsrechtliche Kooperationen ohne weiterhinzutretende Umstände nicht strafrechtlich sanktioniertwerden . Wir müssen sicherstellen, dass dies auch künf-tig nicht der Fall ist . Alles andere würde die Patientinnenund Patienten in hohem Maße benachteiligen, wenn nichtsogar ihnen schaden .Ich bin mir sicher, dass wir uns in diesem Punkt einigsind . Aber meines Erachtens ist der vorliegende Gesetz-entwurf in diesem Punkt für viele Betroffene nicht ein-deutig genug . Herr Staatssekretär Lange, von daher binich nicht ganz Ihrer Auffassung . Vor allem Leistungs-erbringer, die zumeist keinen juristischen Hintergrundhaben, können durch einfaches Lesen nicht zweifelsfreiverstehen, was sie dürfen und was nicht . Dies würde innicht wenigen Fällen dazu führen, dass legale und ge-wollte Kooperationen aufgrund der Unsicherheiten auf-seiten der Leistungserbringer gar nicht erst aufgenom-men werden . Das kann nicht in unserem Interesse sein .Wir müssen die Kompetenzen und aktuellen Belas-tungen unserer Staatsanwaltschaften im Blick behalten .Wir sprechen hier über Vertragskonstellationen, die mandurchaus als komplex und schwierig bezeichnen kann .Deshalb ist es besonders wichtig, dass die rechtlichenVorgaben klar sind . Keinesfalls darf es durch Ausle-gungsprobleme einer mit der Problematik nicht ver-trauten Staatsanwaltschaft zu einem unbegründeten An-fangsverdacht kommen . Kommt es in solchen Fällen zuErmittlungsmaßnahmen, zum Beispiel zu Durchsuchun-gen, dann hat das gravierende Nachteile für die Betroffe-nen . In dem sehr sensiblen Gesundheitsbereich kann unddarf dies nur Ultima Ratio sein . Das bloße Vorhanden-sein eines Kooperationsvertrages darf nicht ausreichen,um den Anfangsverdacht einer Vorteilsgewährung bzw .Vorteilsnahme zu begründen .
Wir müssen im anstehenden Gesetzgebungsverfahrennicht nur über die klarere Abgrenzung von Korruptionund Kooperation nachdenken, sondern wir müssen denLeistungserbringern auch aufzeigen, wie sie selbst diesabgrenzen können . Eine Pönalisierung notwendiger Ko-operationsformen wie Praxisnetzen und ambulanter spe-zialfachärztlicher Versorgung oder integrierter Versor-gungsformen darf keinesfalls behindert oder verhindertwerden .Ich bin mir sicher, dass wir diese und andere Aspekteim weiteren Verfahren in aller Sachlichkeit besprechenund dann zu einer ausgewogenen sowie sachorientiertenLösung kommen werden . In diesem Sinne freue ich michauf eine konstruktive Beratung .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Dirk Wiese von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist von immenser Wichtigkeit, dass Patien-ten vollstes Vertrauen in die Unabhängigkeit der ärztli-chen Entscheidungen haben . Patienten müssen sich aufDietrich Monstadt
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ihren Arzt verlassen können . Manchmal ist es bei Ärztenwie bei uns Juristen: zwei Ärzte, drei Meinungen . Aberwichtig ist, dass diese interessenfrei und nicht beeinflusst sind . Es ist wichtig für das Vertrauensverhältnis, dass diePatientinnen und Patienten wissen, dass sie sich auf ihrenArzt verlassen können .
Dass das nicht immer der Fall ist, hat uns der bekannteBGH-Fall aus dem Jahr 2012 gezeigt; der eine oder an-dere das hier schon angeführt . Die Schlussfolgerungendaraus sind bekannt . Der BGH schloss eine Strafbarkeitaus, da es sich bei dem niedergelassenen Arzt nicht umeinen Amtsträger im Sinne des StGB handelte, dies aberzwingende Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach gel-tendem Recht gewesen ist . Dieses höchstrichterliche Ur-teil, das eine bestehende Regelungslücke aufgezeigt hat,gehen wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf an .In der letzten Legislaturperiode hatte das leider nichtfunktioniert . Wir bessern jetzt an dieser Stelle nach . Be-dauerlicherweise – der Staatssekretär hat es ausgeführt –war in der letzten Legislaturperiode nur geplant, eineKorruptionsbekämpfung im Sozialrecht, im SGB V, zuregeln, was dann aber nur für Kassenärzte gegolten hätte .Das kann nicht sein . Darum ist es jetzt richtig, dass dieRegelung für sämtliche Ärzte gilt . Dies ist auch erst aufDrängen der Sozialdemokratischen Partei passiert . Meinganz besonderer Dank gilt hier meinem Kollegen EdgarFranke .Wir gehen jetzt die Bekämpfung der Korruption imGesundheitswesen an . Wir hatten diesen Punkt in denKoalitionsvertrag aufgenommen . Der vorliegende Ge-setzentwurf wird die entsprechenden Regelungslückenschließen und – das ist mir besonders wichtig –: Dadurchwird die große Zahl der redlich handelnden Ärzte in un-serem Land ebenfalls geschützt; denn es ist nicht so, dassdie Mehrheit der Ärzte schwarze Schafe sind . Das istnicht der Fall .
Es gibt allerdings eine Vielzahl von anderen Fällenvon unlauteren Methoden im Gesundheitswesen . Es istbekannt, dass im Pflegebereich bestimmte Produkte oft nur gekauft werden, weil die Hersteller Provision zahlen,oder dass manche Krankenhäuser für die Überweisungvon Patienten sogenannte Kopfpauschalen an Ärzte aus-zahlen . Nach einer Studie der Universität Halle-Witten-berg werden diese Pauschalen sogar von nahezu fast jedervierten Klinik gezahlt . Dieselbe Studie förderte übrigensauch zutage, dass zwei Drittel der nichtärztlichen Leis-tungserbringer, zum Beispiel Optiker oder Logopäden,niedergelassenen Ärzten gelegentlich oder häufig wirt-schaftliche Vorteile für Zuweisungen gewähren . Dies istzu bedenken . Ich denke, in diesem Hohen Haus bestehtmittlerweile Einigkeit, dass diesen unlauteren Verfahrenunbedingt Einhalt geboten werden muss .Was mich nach zwei Jahren Mitgliedschaft im Deut-schen Bundestag heute etwas skeptisch macht – vielleichtmüssen wir uns alles noch einmal genauer anschauen –,ist, dass Frau Keul in einer rechtspolitischen Debatte zumersten Mal nichts kritisiert hat . Aber vielleicht haben wiretwas übersehen, oder die Grünen freuen sich einmal,dass wir etwas Gutes vorgelegt haben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der gesamtwirt-schaftliche Schaden durch Korruption im Gesundheits-wesen ist immens . Die Schäden betragen über 10 Milli-arden Euro . Ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf vonBundesjustizminister Heiko Maas gehen wir einen rich-tigen Weg . Ich freue mich auf die Ausschussberatungenund auf die Anhörung .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Debatte .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/6446 und 18/5452 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen . In den Aus-
schüssen können die Erwartungen ja dann allerseits voll
erfüllt werden .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einstieg in die Weiterentwicklung der Gewer-
besteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer –
Freie Berufe in die Gewerbesteuerpflicht ein-
beziehen
Drucksachen 18/3838, 18/6396
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das auch
so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . – Ich bitte die Kollegin-
nen und Kollegen, sich zügig zu setzen . – Als erster Red-
ner in der Debatte hat Graf von und zu Lerchenfeld das
Wort, und er wird das jetzt auch gleich ergreifen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Zum ichweiß nicht wievielten Mal beschäftigen wir uns damit,dass die Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftsteu-er umgewidmet werden soll .
Dirk Wiese
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– Wir hier zum zweiten Mal . – Ich habe mit Freudennoch einmal das Protokoll vom 5 . Februar gelesen, wowir schon alles gesagt haben . In Anbetracht der vorge-schrittenen Zeit könnte man eigentlich darauf verweisen .Ich denke aber, ein paar Erklärungen sollte man dochmachen .Es geht hier darum, dass in Ihrem Antrag gefordertwird, eine Gemeindewirtschaftsteuer einzuführen, dasheißt, alle, die Einkünfte erzielen, mit Gewerbesteuer zubelasten . Nun ist das ein sehr verführerischer Vorschlag,aber ich gebe zu bedenken, dass hier mehrere Aspekte zubeachten sind .Einer davon ist – das sollten wir uns überlegen –, dassnatürlich die Gewerbesteuer bei der Einkommensteuerabzugsfähig ist und infolgedessen eine Verteilung vomBund hin zu den Kommunen entstehen würde, obwohlder Bund in den letzten Jahren und auch im laufendenJahr enorme Zahlungen an die Kommunen gegeben hat .
Wir haben 4,5 Milliarden Euro vorgegeben . Bis zu20 Milliarden Euro werden insgesamt von 2012 bis 2020an die Kommunen gegeben werden . Wenn man jetzt dieFlüchtlingssituation anschaut, sieht man: Auch hier en-gagiert sich der Bund deutlich für Kommunen .Natürlich haben Kommunen vielfältige Aufgaben .Wenn ich an die freiwillige Feuerwehr von Frauenfelddenke, die ich im Namen meines Kollegen hier sehr herz-lich grüße, dann weiß ich, dass bayerische Kommunen sogut ausgestattet sind, dass sie auch die Feuerwehren gutausstatten .
Ich hoffe, dass sie alle neue Fahrzeuge haben und immerzum Einsatz bereit sind .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Antragwird von uns abgelehnt werden, auch deshalb, weil unserKoalitionsvertrag keine Änderung bei der Gewerbesteuervorsieht .Die unionsgeführte Bundesregierung hat bereits in derletzten Legislaturperiode versucht, die Gewerbesteuer zureformieren
und unter anderem die Hinzurechnungen abzuschaffen .Würden wir eine Gemeindewirtschaftsteuer einführen,dann müssten wir uns natürlich Gedanken darüber ma-chen, ob die Hinzurechnungen weiter in dem Umfangerhalten bleiben können . Denn dadurch würde das Ganzeeine Substanzsteuer – aus einer reinen Ertragsteuer wür-de eine Substanzsteuer –, und das kann so nicht sein .Die Erweiterung der Gewerbesteuer auf alle Berufebirgt auch die ganz große Gefahr, dass in wirtschaftlichbesonders schweren Zeiten die Gewerbesteuerzahlungenkrisenverschärfend wirken würden; denn die gewerbe-steuerlichen Hinzurechnungselemente sind ertragsunab-hängig und führen dazu, dass auch in Zeiten von VerlustGewerbesteuer zu zahlen ist .
Im Übrigen kann man nicht immer nur von guten Kon-junkturdaten ausgehen, sondern es gibt auch schlechteKonjunkturdaten .Wir bemühen uns, mit einer Politik, die sich besondersum die Wirtschaft, auch um die der Kommunen, küm-mert, wirtschaftsfreundlich zu sein, damit in den Kom-munen auch entsprechende Erträge generiert werden,und zwar bei allen Arten von Unternehmen, sodass denKommunen genügend Geld zufließt.Die Situation der Kommunen hat sich in den letztenJahren deutlich verbessert . Die Gewerbesteuereinnah-men sprudeln . Es sind mittlerweile 33,3 Milliarden Euro,wenn sie auch durchaus unterschiedlich verteilt sind .
Ich nehme an, dass die Verteilung ähnlich wie bei den an-deren Ertragsteuern ist: dass Bayern, wie üblich, wiederan der Spitze ist .
Norddeutschland hat natürlich ein Problem damit . Aberdas liegt unter anderem daran, dass man in diesen Län-dern in den letzten Jahren immer wieder deutlich überseine Verhältnisse gelebt und Schulden gemacht hat, wasder kommenden Generation gegenüber unverantwortlichist . Deswegen sollten wir nicht Steuern erhöhen, sondernvernünftig sparen und die Haushalte der öffentlichenHand so sanieren, wie wir es in Bayern gemacht haben .Ich bitte Sie alle, sich ein Beispiel an uns zu nehmen .
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir lehnen den Antrag ab .Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit . – Ich habemeine Redezeit nicht ganz in Anspruch genommen, ver-ehrte Frau Präsidentin .
Die bekomme ich dann das nächste Mal bitte gutge-schrieben,
wenn es etwas länger gedauert hat .Vielen herzlichen Dank .
Philipp Graf Lerchenfeld
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Gern geschehen . Wenn man die Punkte und Anliegen
in der Sache vorgetragen hat, ist es gut, wenn man auch
mit einer etwas kürzeren Redezeit auskommt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur
nächsten Rednerin . Das ist Susanna Karawanskij von der
Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Mein Vorredner hat es gerade angespro-chen: Die Frage der Unterbringung und Versorgung vonFlüchtlingen ist zurzeit tatsächlich das größte Thema,über das in unseren Städten und Gemeinden diskutiertwird . Es treibt vor allen Dingen viele Bürgermeisterund Landräte und natürlich auch die Kommunalpoliti-kerinnen und -politiker um . Da ist es nur richtig, dassder Bund hier verstärkt Verantwortung übernimmt unddie Kommunen auch finanziell kräftig unterstützt wer-den . Es ist aber genauso wichtig, dass die Länder dieentsprechenden Gelder an die Kommunen weiterleiten .Wir brauchen Soforthilfen für die Kommunen . Da istschon einiges getan worden; das erkennen wir an . Aberwir brauchen vor allen Dingen weiterhin Investitions-programme . Meines Erachtens ist es schon in Ordnung,wenn man bei langfristigen Investitionen die Belastungauf verschiedene Generationen überträgt und nicht allesgleich aus der Portokasse zahlt .Wir Linke haben schon in der Vergangenheit immerwieder kritisiert, dass die Gelder für die kommunale Fa-milie, für die kommunale Ebene nicht reichen . Wir habenauch Vorschläge eingebracht . Es ist natürlich wahr, dassdie Schere zwischen armen und reichen Kommunen aus-einandergeht und dass es da Unterschiede gibt . Natür-lich stehen einige Kommunen ganz gut da . Aber es gibtnatürlich auch einen Haufen verschuldeter Kommunen,die dann in einer Art Teufelskreis sind . Das Resultat sindletztendlich Substanzverzehr und Verfall .Man muss sich einmal anschauen, auf welche Größen-ordnung sich der kommunale Investitionsstau beziffert .Mehrere Studien gehen davon aus, dass der Investitions-stau ein Volumen von 130 Milliarden Euro hat und diegesamte kommunale Verschuldung 135 Milliarden Eurobeträgt . Das sind gigantische Zahlen . Jede zweite Kom-mune bzw . jede zweite größere Stadt – das muss mansich einmal vorstellen – befindet sich in Haushaltssiche-rungskonzepten . So geht die Schere zwischen armen undreichen Kommunen tatsächlich auseinander .
Der Punkt ist doch, dass ein Großteil unserer Kommunenchronisch unterfinanziert ist.
Das ist einfach ein strukturelles Problem .Die Gewerbesteuer ist nun einmal sehr schwankungs-anfällig . Sie unterliegt den konjunkturellen Schwankun-gen sehr stark . Die Städte und Gemeinden können damitalso nicht planen . Aus diesem Grund haben wir uns alsZiel gesetzt, die Gewerbesteuer stabiler und vor allenDingen nachhaltiger zu gestalten,
was letztendlich auch den Kommunen zugutekommt; siekönnen dadurch höhere Einnahmen generieren .Unser Vorschlag lautet, die Gewerbesteuer zu einerGemeindewirtschaftsteuer mit einer breiteren Bemes-sungsgrundlage weiterzuentwickeln, sodass die Last aufmehr Schultern verteilt wird, ohne dass es unbedingt zugrößeren Mehrbelastungen kommt .Angesichts der aktuellen Situation wären stabilere undhöhere kommunale Einnahmen wünschenswert . Sie sindunverzichtbar, und ich hoffe tatsächlich, dass Sie Ihr Vo-tum hier noch einmal überdenken und den vorliegendenAntrag als einen Einstieg in die Gemeindewirtschaftsteu-er sehen, wodurch die finanzielle Situation der Kommu-nen letztendlich ein Stück weit entlastet werden würde .Dass Sie von der CDU/CSU mir jetzt zustimmen, er-warte ich gar nicht .
Ich möchte aber noch einmal für Verständnis bei IhremKoalitionspartner werben und auch noch einmal in Er-innerung bringen, wie lange schon diese Forderung imparlamentarischen Raum gestellt wird .
– Lassen Sie mich doch ausreden . Sie haben doch genugZeit, darauf zu reagieren .
Ich möchte daran erinnern: 2003 haben der damali-ge Finanzminister Hans Eichel und WirtschaftsministerWolfgang Clement bei der Gemeindefinanzreform eine Ausdehnung des Kreises der Gewerbesteuerzahler gefor-dert . Sie haben es sogar angekündigt .2010 haben Sie selber einen Antrag gestellt . Ich zi-tiere:Das Kommunalmodell sieht eine zusätzliche Ver-breitung der Bemessungsgrundlage durch einenochmalige Erweiterung der Hinzurechnungen unddurch eine Einbeziehung von Selbständigen undFreiberuflern in die Gewerbesteuerpflicht vor. Für die Angehörigen der freien Berufe führt dies zukeiner unzumutbaren Mehrbelastung, da sie ihreGewerbesteuerzahlungen grundsätzlich mit der Ein-kommensteuerschuld verrechnen können .Darum geht es letztendlich .Wir fordern zudem – Sie können weiter schimpfen,dass dies unzumutbar wäre – auch noch Freigrenzen von30 000 Euro, wodurch wir die Freiberufler trotzdem zum Teil schützen und auch keine wirtschaftliche Tätigkeitunterbinden wollen . Warum sollen sie auch nicht ein-bezogen werden? Sie nutzen das kommunale Eigentumbzw . die kommunale Infrastruktur ja genauso .
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Noch eine kleine Erinnerung: Im SPD-Wahlprogrammvon 2013 stand, dass es mit der Weiterentwicklung derGewerbesteuer einen Investitions- und Entschuldungs-pakt für die Kommunen in Deutschland geben soll .
Das grundsätzliche finanzielle Problem der Unterfi-nanzierung der Kommunen werden wir mit diesem An-trag sicherlich nicht abschließend beseitigen können;das ist uns auch bewusst . Wir bieten damit aber einenniedrigschwelligen Einstieg in eine stärkere kommunaleFinanzautonomie, und das sollte allen Fraktionen hier imHohen Hause ein dringliches Anliegen sein .Ich bitte um Ihre Zustimmung; das wäre doch einmalein Anfang .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Bernhard
Daldrup von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Karawanskij, Sie wissen, ich habe ausgespro-chen viel Verständnis für Sie . Allerdings habe ich mehrVerständnis als eine Mehrheit . Das ist eine der Schwie-rigkeiten in Bezug auf Ihren Antrag .
Ich beginne einmal so und frage: Warum sollte maneigentlich einen Antrag ablehnen, dessen Zielsetzungman dem Grunde nach befürwortet? Sie haben ja geradeauf unsere Position hingewiesen . Ich könnte es mir jetztleichtmachen und sagen: „Unsere Originalität zu kopie-ren, wäre allein schon ein hinreichender Grund“; denn wir haben es in der Vergangenheit ja selbst gefordert . Dasist schon wahr .Sie haben 2014 einen Antrag auf Ausweitung der Be-messungsgrundlagen und zugleich die Abschaffung derGewerbesteuerumlage gefordert . Den haben wir seiner-zeit gut begründet abgelehnt . Jetzt konzentrieren Sie sichauf die Einbeziehung freier Berufe .Alle mitberatenden Ausschüsse empfehlen die Ableh-nung dieses Antrages . Das hat auch ein bisschen damit zutun, dass das ein Stück weit alter Wein in neuen Schläu-chen ist; denn neu ist an diesem Antrag eigentlich nichts .Aber trotzdem ist es ja im Kern eine vernünftige Fra-gestellung, ob man Freiberufler in die Gewerbesteuer einbeziehen soll oder nicht .
Denn niemandem ist rational zu erklären, warum einZahntechniker Gewerbesteuer zahlen muss, aber einZahnarzt nicht. Die Zielsetzung, dass man Freiberufler einbezieht, ist keine sozialdemokratische Erfindung. Diese Zielsetzung verfolgen die kommunalen Spitzen-verbände, auch parteiübergreifend . Wir haben das auchgemacht .
Es ist eine Grundsatzfrage, der wir uns möglicherweiseschneller widmen würden, wenn es bei den Kommunenein aktuelles Einnahmeproblem gäbe .Die Gewerbesteuer – Herr Lerchenfeld hat bereitsdarauf hingewiesen – ist zweifelsfrei die wichtigste ori-ginäre Einnahmequelle der Gemeinden . Das Band zurlokalen Wirtschaft ist von eminenter Bedeutung . HerrLerchenfeld sagte, dass sie 2014 33 Milliarden Euro be-tragen hätte . Wenn man die Stadtstaaten einbezogen hät-te – was man in diesem Kontext eigentlich tun sollte –,wären es sogar 43 Milliarden Euro . Es ist also ganz ge-waltig . Und die Perspektiven für die Gewerbesteuer sindgut . Das heißt, es gibt ein Stück weit Planungssicherheitfür die Gemeinden, was ihre Einnahmesituation angeht .Es geht aber nicht nur um die Erhöhung der Ein-nahmen, sondern auch um Verstetigung; denn die Ver-rechnung der Gewerbesteuer für Freiberufler soll ja bis zu einem bestimmten Betrag mit der Einkommensteuererfolgen . Das ist ein vernünftiges Ziel; denn in vielenKommunen sind die Einnahmen sehr unterschiedlich,abhängig von der jeweils lokalen Situation . Insgesamthaben wir eine ausgesprochen positive Entwicklung beiden Gewerbesteuereinnahmen . Es gibt Orte, in denen dieDurchschnittszahlen erheblich überschritten werden . Esgibt aber auch Orte, in denen sie dramatisch unterschrit-ten werden . Es kommt sehr auf die Situation an . Steuer-und Strukturschwäche fallen leider oft genug zusammen .Deshalb ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlageund die Erhöhung der Zahl der Steuerpflichtigen durch-aus eine Chance, Hebesätze zu stabilisieren, manchmalsogar zu senken .Im Übrigen möchte ich noch einen anderen Aspektansprechen: Übersteigt der Hebesatz eine bestimmteSchwelle, etwa von 400 Punkten, dann ist das eine Mehr-belastung . Ein praktisches Beispiel: Ein Arzt müsste ineiner Großstadt tatsächlich deutlich mehr Geld bezahlenals beispielsweise in einer ländlichen Gemeinde mit ei-nem niedrigen Hebesatz . Das wäre sogar ein interessanterAnsatz, um ärztliche Versorgung in ländlichen Gebietenzu verbessern, wahrscheinlich sogar wirksamer als loka-le, meist unerlaubte Subventionen, die es im ländlichenRaum auch gibt .Also warum eigentlich ablehnen? Ich will drei Aspek-te nennen .Erstens . Die Kommunen haben zum gegenwärtigenZeitpunkt nicht so sehr ein Einnahme- als ein Ausgabe-problem, Stichwort „Soziallasten“. Darum kümmern wir uns in unserer Großen Koalition . Und ich meine, dass wirin der letzten Zeit nachweislich viele gute Dinge erbrachthaben .Susanna Karawanskij
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Zweitens . Steuerpolitik enthält ja insgesamt ein süßesGift – wenn ich das einmal so sagen darf –, das bei un-terschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen immerwieder herangezogen wird, mal beim Wohnungsbau, malbei energetischer Sanierung, mal bei ungerechter Vermö-gensverteilung . Während die einen die Gewerbesteuerfür unzeitgemäß halten, wollen die anderen sie stärken .Daraus ist eine Formulierung im Koalitionsvertrag ge-worden . Dort heißt es:Die Gewerbesteuer ist eine wichtige steuerlicheEinnahmequelle der Kommunen . Wir wollen, dassauf der Basis des geltenden Rechts für die kommen-den Jahre Planungssicherheit besteht .Auf gut Deutsch: Wir machen zum gegenwärtigenZeitpunkt an der Gewerbesteuer nichts . „Pacta sunt ser-vanda“ ist ein Grundsatz auch für Koalitionsverträge. Diese Vereinbarung halten wir ein . Das ist eben unserVerständnis . Es ist vielleicht auch einmal eine ganz an-genehme Erfahrung, dass in der Steuerpolitik bei derGewerbesteuer über eine ganze Wahlperiode Stabilitätherrschen soll .Der dritte Gesichtspunkt, den ich ansprechen will, istkomplizierter . Die Linken wollen mit ihrem Antrag we-niger Konjunkturanfälligkeit und eine Verstetigung derGewerbesteuer . Diese Grundüberlegung ist nicht falsch .Diesem Ziel diente auch die Unternehmensteuerreformder letzten Großen Koalition aus dem Jahre 2008 . NebenSteuererleichterungen wie der Absenkung der Körper-schaftsteuer und der Senkung der Gewerbesteuermes-szahl wurde auch eine Hinzurechnung aller gezahltenSchuldzinsen zu 25 Prozent vorgenommen . Das war eineVereinbarung . Darunter fallen auch Mieten und Pach-ten . Das ist eine wichtige Verbreiterung – wenn ich daseinmal so sagen darf – mit entsprechenden großzügigenFreibetragsregelungen . Im Kern geht es um eine Gleich-wertigkeit von Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung, also das, was wir unter Finanzierungsneutralität bei derGewerbesteuer verstehen . Den Entlastungen standenalso auch Belastungen, Hinzurechnungen gegenüber, umSteuergerechtigkeit herzustellen .Warum mache ich eigentlich zum gegenwärtigen Zeit-punkt diesen Exkurs? Seit der damaligen Zeit wehrensich Wirtschaftsverbände gegen dieses Modell der Hin-zurechnungen, wohlgemerkt, ohne die Steuererleichte-rungen, die es auch gegeben hat, rückgängig machen zuwollen .
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir ein solchesProblem in der Tourismusbranche . Vor wenigen Tagenhaben sich beispielsweise auch die Messebauer zu Wortgemeldet .In der Darstellung der Folgen der Hinzurechnungverwenden Lobbyisten in hoher Intensität irreführendeBerechnungen mit absurd hohen Steuerquoten . Einigescheinen dabei auch wirklich jedes gesunde Maß ver-loren zu haben . Kleine Reiseveranstalter werden dabeiübrigens einmal mehr für einen Protest gegen Steuerbe-lastungen instrumentalisiert, die vor allen Dingen großeUnternehmen treffen würden .Beeindruckend finde ich übrigens, dass uns in Gesprä-chen mit Lobbyisten aus der Tourismusbranche erklärtwird, bei der Steuergesetzgebung habe man gar nicht ansie gedacht, sie seien schließlich auch nicht zur Anhö-rung im Gesetzgebungsverfahren eingeladen worden . –Na ja, dann bräuchte ich ab morgen eigentlich keine Ein-kommensteuer zu zahlen . Das ist ein bemerkenswertesVerständnis darüber – wenn ich das einmal an dieserStelle so sagen darf –, wie man Betroffenheit organisie-ren kann .
Es passt jedenfalls nicht zusammen, wenn Lobbyistenvon Belastungen in Millionenhöhe durch die Gewerbe-steuer sprechen, während die Steuerverwaltung auf Zu-satzbelastungen von unter 2 Prozent hinweist .
Ein praktisches Beispiel: Wenn eine 1 000-Euro-Pau-schalreise durch die Hinzurechnung um insgesamt17,50 Euro teurer wird, dann geht davon weder das Pro-dukt noch die Branche pleite; davon bin ich fest über-zeugt .
Deswegen will ich hier gar nicht weiter über eineprosperierende Branche, die Tourismusbranche, reden,sondern ich will alle Beteiligten zum jetzigen Zeitpunktauffordern: Setzen Sie sich dafür ein, dass das, was wirim Koalitionsvertrag vereinbart haben, eingehalten wird,nämlich Rechtssicherheit beim Bestand der Gewerbe-steuer . Wer die Hinzurechnungen zur Disposition stellt,legt die Axt an die Gewerbesteuer . Das wollen wir aufgar keinen Fall .Was können wir jetzt also machen? Ich glaube, wirals diejenigen, die auch Vertreter von Kommunen sind,sollten gemeinsam keine zusätzlichen Anträge stellen,sondern wir sollten den Schulterschluss mit den kommu-nalen Spitzenverbänden herstellen und ein Abrücken vonden Hinzurechnungen verhindern, weil das einen Damm-bruch bedeuten würde .Ich bitte an dieser Stelle auch die Mitglieder der Lin-ken ausdrücklich, diese Diskussion in Ihrer Fraktionzu führen . Leider sind auch Vertreter Ihrer Fraktion imTourismusausschuss vor der Argumentation dieser Lob-bygruppen nicht gefeit . Ganz im Gegenteil: Sie habensie sich zu eigen gemacht . Das ist natürlich eine etwasschwierige Situation .
– Diese habe ich im Moment alleine auch nicht; das istwahr . Aber deswegen kann man trotzdem sagen, was Sa-che ist, lieber Axel Troost .Deswegen will ich sagen: Bevor es zu Erweiterungendes derzeit geltenden Gewerbesteuerrechts kommt, soll-ten Sie in dieser Frage die eigene Haltung klären . WennBernhard Daldrup
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Sie die Bemessungsgrundlage verbreitern und weitereBerufsgruppen in die Gewerbesteuerpflicht einbeziehen, dann müssen Sie an anderer Stelle, meine ich jedenfalls,Kurs halten . Deswegen können wir Ihrem Antrag an die-ser Stelle nicht folgen .
Wir appellieren an alle, die Rechtssicherheit bei der Ge-werbesteuer nicht zu gefährden und sich auch an dieseVerabredung des Koalitionsvertrages zu halten .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Britta
Haßelmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren Zuhörerinnenund Zuhörer auf der Besuchertribüne! In der Tat redenwir heute zum wiederholten Mal über die Frage der Wei-terentwicklung der Gewerbesteuer . Aber das ist ganz nor-mal; denn ein Antrag geht nach dem normalen Verfahrenin die Fachausschüsse – diese tagen nicht öffentlich –,und danach kommt der Antrag wieder ins Parlament, umhier dann wieder öffentlich abschließend diskutiert zuwerden .Ich sage das als Erklärung für Sie . Von daher ist dieseDebatte kein ermüdender und lahmer Vorgang, sondernetwas ganz Normales . Um die ausgetauschten Argumen-te vorzutragen, finden die Debatten öffentlich statt, da bisher die Initiativen der Grünen zur Öffentlichkeit vonAusschusssitzungen in diesem Haus leider keine Mehr-heit gefunden haben .
Nun aber zur Sache . Ich glaube, dass es richtig undwichtig ist, über die Weiterentwicklung der Gewerbe-steuer und auch über die Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuer zu sprechen, zu diskutieren undhier entsprechende Vorschläge zu machen . Ich bin ganzfroh, dass ihr von den Linken auf das verzichtet habt, waswir untereinander bisher immer kritisch diskutiert haben,nämlich die Gewerbesteuerumlage. Dieses Stichwort fin-det sich in der aktuellen Antragsfassung nicht . Von daherkann ich für unsere Fraktion sagen, dass wir das Anlie-gen unterstützen, über die Frage nachzudenken, wie dieEinnahmen aus der Gewerbesteuer für die Städte und Ge-meinden verstetigt werden können, sodass sie konstanterund dauerhaft werden . Dabei geht es um zwei Elemente,nämlich zum einen um die Hinzurechnungen bei der Ge-werbesteuer und zum anderen um die Einbeziehung derFreiberufler. Einen solchen Vorschlag können und wollen wir unterstützen, und das werden wir durch die Zustim-mung zum Antrag auch machen .
Bernhard Daldrup hat zu Recht darauf hingewiesen,dass in Bezug auf die Hinzurechnungen Schluss seinsollte mit dem Phantomargument, dass das ein ganzfurchtbarer Eingriff mit negativen Folgen wäre . Er hattedas Dreifache meiner Redezeit; deshalb will ich das nichtwiederholen .Er hat vorhin auf die Frage des Eigen- und Fremdka-pitals und das Verhältnis zueinander Bezug genommen .Ich finde, statt der Verteufelung des Instruments der Hin-zurechnungen wäre mehr Sachlichkeit im Umgang mitden Argumenten geboten . Ich glaube, man kann das sogestalten, dass es sinnvoll, richtig und nicht schädlich ist .Daran sollten wir alle mitwirken .
Von daher ist die Antragsinitiative an dieser Stelle zuunterstützen . Denn wir haben es mit großen regionalenDisparitäten und sehr unterschiedlichen Entwicklungenin der kommunalen Landschaft zu tun . Es gibt Kom-munen, denen es total gut geht . Sie können aus eigenerKraft viel gestalten und haben konstante Gewerbesteue-reinnahmen . Andere Kommunen sind in einer absolutenNotsituation .Ich will zum Schluss meiner Rede noch darauf hinwei-sen, dass die Möglichkeiten des Ausgleichs der regiona-len Unterschiede bzw . die Verhinderung der Entwicklunghin zu einer Zweiklassengesellschaft der Kommunen, diewir seit Jahren wahrnehmen, durch die Gewerbesteuernur ganz marginal sind . Ein viel größerer Anknüpfungs-punkt ist die dauerhafte Entlastung der sozialen Kosten .
Das sollte uns immer gegenwärtig sein . Auch wenn wirwie heute aufgrund des Antrags über eine solche Fragediskutieren, ist das der Hauptanknüpfungspunkt . Denndie Entwicklung der sozialen Kosten macht ganz deut-lich, dass hier der Anknüpfungspunkt ist, um Ungleich-heiten und Armut in Städten und Gemeinden ausgleichenzu können. Dabei haben wir als Bund eine Verpflichtung über die Grundsicherung im Alter hinaus, zum Beispielbeim Teilhabegesetz, bei der Eingliederungshilfe undganz aktuell bei der Unterstützung der Kommunen beiBetreuung, Begleitung und Erstaufnahme von Geflüch-teten und der riesigen Aufgabe der Integration, die voruns liegt .Dass die sozialen Kosten laut Finanzbericht allein für2014 um 5,2 Prozent gestiegen sind und mittlerweile bei49 Milliarden Euro liegen, macht deutlich, dass das einBereich ist, in dem es mehr Unterstützung für die Kom-munen auch durch Bundesleistungen geben muss, wennes um soziale Pflichtaufgaben geht. Das sollten wir, auch Bernhard Daldrup
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wenn wir heute schwerpunktmäßig über die Gewerbe-steuer diskutieren, nicht vergessen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in der Debatte hat
Markus Koob von der CDU/CSU das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn viele von uns in einigen Wochen mehr oder we-niger text- und tonsicher vor dem Weihnachtsbaum be-sinnliche Weihnachtslieder singen, wird ein Klassikersicherlich nicht fehlen: Alle Jahre wieder
Mit Blick auf die heutige Debatte könnten wir diesesLied aber auch heute schon anstimmen . Denn wir führenauch diese Debatte jedes Jahr wieder .Zur vorweggenommenen Besinnlichkeit gehört, dasswir alle die gleiche Zielsetzung verfolgen, die auch gutund wichtig ist: die Stabilisierung der Finanzen von Städ-ten und Gemeinden . Aber diese Bundesregierung unddiese Koalition arbeiten längst mit einem Strauß unter-schiedlicher Maßnahmen auf dieses Ziel hin . Der Kol-lege Lerchenfeld hat in der gebotenen Ausführlichkeitbereits viele der unterschiedlichen Maßnahmen erläutert .Die reichen von der Übernahme der Kosten für dieGrundsicherung im Alter und bei der Erwerbsminderungbis hin zu der kürzlich beschlossenen Übernahme vonKosten im Zusammenhang mit der Asyl- und Flücht-lingssituation in Deutschland .
Wir helfen den Kommunen . Das machen wir, weil wirstarke Kommunen wollen, das machen wir, weil wir sta-bile Finanzen in den Kommunen wollen, und das machenwir, weil wir mit der Stärkung der Infrastruktur mehr Le-bensqualität in den Kommunen wollen .
Diese Ziele haben wir durch konkrete Maßnahmenauch zu unseren gemacht, obwohl nach der Kompetenz-verteilung unserer Verfassung die Länder primär zustän-dig für die Kommunen sind und auch bleiben müssen .Aber der Bund hilft . Wir helfen den Kommunen, weilwir ein verlässlicher Partner der Kommunen sind, ob-wohl das nicht unsere primäre Pflicht ist. Wir bekräftigen auch an dieser Stelle gerne, dass die kommunalfreund-liche Politik dieser Bundesregierung von uns aus vollerÜberzeugung getragen wird .
Deswegen habe ich wohlwollend zur Kenntnis ge-nommen, dass Sie die von uns gesetzten Ziele in IhremAntrag als durchaus erstrebenswert definieren. Es kommt nicht alle Tage vor, dass uns selbst die Linken beschei-nigen, eine richtige Zielsetzung mit unserer Politik zuverfolgen .
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Einig-keit und Besinnlichkeit gibt es auf den zweiten Blickdann doch wieder nicht, und wir haben auch durchausunterschiedliche Ansichten, mit welchen Mitteln wir die-se Ziele erreichen wollen . Um es vorwegzunehmen: Ichglaube, es wird Sie nicht wirklich überraschen, dass icham Ende der Rede empfehlen werde, Ihren Antrag abzu-lehnen . Dafür gibt es zahlreiche Gründe .
Mit diesem Antrag wird suggeriert, dass sich Anwälte,Ärzte, Ingenieure oder Architekten und viele Freiberufler in unserem Land außerhalb der Steuerordnung bewegenwürden .
Nichts anderes lässt es vermuten, wenn der Tenor IhresAntrags sinngemäß lautet: Die Freiberufler nutzen die kommunale Infrastruktur und sollten sich endlich an ih-rer Finanzierung beteiligen .
Wir wollen hier einige Sachen klarstellen . Die freienBerufe tragen natürlich ihren Teil zur Finanzierung derkommunalen Infrastruktur bei . Die Grundsätze ihrerBesteuerung sind im Einkommensteuergesetz niederge-schrieben .
Ein Teil der Einkommensteuer – es sind 15 Prozent –wird den Kommunen direkt zugeführt . Jetzt werden Siesagen: Da ist noch Luft nach oben . – Als Kommunalpo-litiker – ich bin Stadtverordneter in meiner HeimatstadtOberursel – sehe ich das durchaus ähnlich . Aber das istheute nicht unser Thema,
sondern die Auferlegung der Gewerbesteuerpflicht für Freiberufler, und die halte ich für falsch.
Die Einkommensteuer, die auch für Freiberufler gilt, ist eine beachtliche Komponente von Gemeindehaushal-ten . Außerdem: Der kommunale Anteil an der Einkom-Britta Haßelmann
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mensteuer wird zusätzlich durch Bundesmittel verstärkt,die den Kommunen und deren Infrastruktur zugutekom-men . Der Bund beteiligt sich durch kluge Programmeund Fördermaßnahmen an der Unterstützung der Kom-munen, vor allem der strukturschwachen Kommunen,zum Beispiel durch das Bund-Länder-Programm „Diesoziale Stadt“, in dem es um städtebauliche Aufwertung von benachteiligten Städten geht .
Eine sehr finanzschwache Kommune in meinem Nachbarwahlkreis nimmt mit großer Begeisterung andiesem Programm teil und hat so trotz klammer Kassendie Möglichkeit, erheblich in die kommunale Infrastruk-tur zu investieren . Das zeigt: Der Bund wirkt hier frei-willig daran mit, dass auch finanzschwache Kommunen mitgenommen werden und nicht auf der Strecke bleiben,und das ist auch gut so .
Ohne Auswirkungen auf die Arbeitsbelastung vonFinanzbeamten in den Steuerbehörden und von steuer-erklärenden Freiberuflern würde es nicht gehen, wenn wir Ihre Vorschläge umsetzen würden; denn nach IhremEntwurf sollen Freiberufler sowohl einkommen- als auch gewerbesteuerpflichtig sein und ihre unterschiedlichen Steuerschulden miteinander verrechnen .
Denken Sie doch einmal an den Verwaltungsaufwand .Mit welchen Instrumenten die kommunale Finanz-kraft gestärkt wird, wird im Rahmen der Neuordnungder Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu klären sein . Auseigener Erfahrung vor Ort warne ich uns alle davor, nachvermeintlich einfachen Lösungen zu suchen . Dazu zähltauch, dass wir uns davor hüten sollten, die Gewerbesteu-er entgegen der Realität vor Ort zu glorifizieren. Die Ge-werbesteuer ist eine sehr konjunkturanfällige und damitkeine verlässliche Steuer .
Darauf hat schon die sogenannte Troeger-Kommission inVorbereitung der letzten großen Gemeindefinanzreform aufmerksam gemacht .Es gibt sicherlich viele weitere Anekdoten von Kolle-ginnen und Kollegen, die auch in der Kommunalpolitikaktiv sind und die Ihnen berichten könnten, was bei Tur-bulenzen in der Gewerbesteuer so alles passieren kann .Allein in meiner Heimatstadt riss erst kürzlich eine Ge-werbesteuerrückzahlung in Höhe von 37 Millionen Euroein großes Loch in den kommunalen Ergebnishaushalt .
Für eine mittelgroße Stadt ist das verdammt viel Geld .Daher: Ja, die Finanzkraft und die Infrastruktur vorOrt müssen gestärkt werden, aber ob die Ausweitung derGewerbesteuer hierbei das geeignete Mittel ist – da wür-de ich doch ein großes Fragezeichen setzen . Die CDU/CSU-Fraktion bleibt ein verlässlicher Partner der Kom-munen, und sie wird sich im Rahmen der Neuordnung derBund-Länder-Finanzbeziehungen für einen zufrieden-stellenden, aber vor allem für einen stabilen und nachhal-tigen Kompromiss starkmachen . Die Menschen vor Ortkönnen sicher sein, dass wir am kommunalfreundlichenKurs dieser Bundesregierung festhalten
und dass wir diesen weiterhin zu einer wichtigen Grund-lage unserer Arbeit machen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlus-
sempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einstieg in die Weiter-
entwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirt-
schaftsteuer – Freie Berufe in die Gewerbesteuerpflicht
einbeziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/6396, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3838 abzuleh-
nen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese
Beschlussempfehlung angenommen worden mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Dienstag, den 24 . November 2015, 10 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .