Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Kollegin-nen und Kollegen! Bevor wir in unsere heutige Sitzungeintreten, weise ich Sie auf die interfraktionelle Verein-barung hin, den Gesetzentwurf zur Neuordnung desEnergieverbrauchskennzeichnungsrechts auf Druck-sache 17/8427 dem Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung nachträglich zur Mitberatung zuüberweisen. Hat jemand dagegen schwerwiegende Be-denken? – Das ist nicht der Fall. Dann beschließen wirdas so.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchszum besseren Schutz der Verbraucherinnenund Verbraucher vor Kostenfallen im elektro-nischen Geschäftsverkehr– Drucksache 17/7745 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/8805 –Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder
Stephan ThomaeHalina WawzyniakIngrid HönlingerHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch dazu stelleich Einvernehmen fest. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir beschließen heute ein Gesetz, das den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern wirklich nützt und das ih-nen hilft. Viele sind in den letzten Monaten Opfer vonsogenannten Kosten- bzw. Abofallen im Internet gewor-den; davon sollen 5 Millionen Bürgerinnen und Bürgerbetroffen sein.
Wir haben erkannt, dass die derzeit bestehendenSchutzmechanismen einfach nicht ausreichen, wenn esdarum geht, zu verhindern, dass Verträge unter falschenVoraussetzungen oder wegen eines Irrtums abgeschlos-sen werden. Die Möglichkeiten von Widerruf oder An-fechtung wegen arglistiger Täuschung reichen alleinnicht aus, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zuschützen.Deshalb beschließen wir heute im Bundestag – ichhoffe mit großer Mehrheit – ein Gesetz, das die Verbrau-cherinnen und Verbraucher stärkt. Dieses Gesetz be-schließen wir so zügig, wie es uns angesichts der Gesetz-gebung auf europäischer Ebene möglich war. Wirmussten zunächst die EU-Verbraucherrechterichtlinieabwarten. Diese ist im Oktober 2011 im EuropäischenRat beschlossen worden. Sofort danach ist dieser Ge-setzentwurf von uns eingebracht worden.
Nun zum Inhalt des Gesetzentwurfs. Sachverständigeund Praktiker haben uns aufgefordert, eine einfache,klare, verständliche und technikneutrale Regelung vor-zulegen. Genau dazu enthält der vorliegende Gesetzent-wurf unmissverständliche, klarstellende Regelungen:Erstens. Unternehmer müssen Verbraucherinnen undVerbraucher im unmittelbaren Zusammenhang mit derBestellung im Internet über die wesentlichen Merkmaledes Produktes, über den Preis, weitere Kosten sowie beiDauerschuldverhältnissen, also Abonnements, über dieMindestlaufzeitzeit des Vertrags informieren. Das alles
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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muss klar, verständlich, in hervorgehobener Weise undunmittelbar bevor der Verbraucher seine Erklärung ab-gibt, dass er etwas bestellen und kaufen will, erfolgen.Das darf nicht an versteckter Stelle irgendwo auf demBildschirm erscheinen; das reicht nicht aus.Zweitens. Unternehmer müssen deshalb ihre Online-shops so gestalten, dass Verbraucher bei ihrer Bestellungausdrücklich bestätigen, dass sie sich zu einer Zahlungverpflichten. Die Schaltfläche für die Bestellung amComputer, der Bestellbutton, muss unmissverständlichund gut lesbar auf diese Zahlungspflicht hinweisen. EineSchaltfläche mit der Aufschrift „Kostenpflichtig bestel-len“ macht jedem Verbraucher sofort klar, auf was ersich einlässt, was die Rechtsfolge seiner Bestellung ist.
Diese Pflicht gilt für alle Vorgänge der Onlinebestel-lung von Waren und Dienstleistungen. Ausnahmen undSchlupflöcher, die zur Verunsicherung der Verbrauche-rinnen und Verbraucher führen könnten, gibt es nicht.Die Pflicht gilt technikneutral für Käufe per Computer,Smartphone oder Tablet.Drittens. Erfüllt der Unternehmer diese Pflicht zureindeutigen Beschriftung nicht, kommt – das ist ganzentscheidend – ein entgeltpflichtiger Vertrag mit einemVerbraucher gar nicht erst zustande. Ohne einen solcheneindeutig beschrifteten Button gibt es eine klare, eindeu-tige und, wie ich finde, auch angemessene Rechtsfolge:Der Verbraucher schuldet keine Zahlung. Die Unterneh-mer können diese gesetzlichen Vorgaben zur Beschrif-tung der Bestellschaltfläche gut erfüllen; das geht. Na-türlich ist das mit zusätzlichem Aufwand verbunden;aber der ist eindeutig vertretbar. Meine Damen und Her-ren, das Risiko, dass Verträge wegen falscher Beschrif-tung des Bestellbuttons ungewollt nicht zustande kom-men, ist deshalb hoffentlich ganz gering; wir haben diegesetzliche Regelung entsprechend ausgestaltet.
Wir schaffen also mehr Transparenz und mehr Sicher-heit für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Das istein wichtiger Schritt zur Stärkung des Verbrauchers,aber nicht der einzige, den wir als Bundesregierung vor-haben: Wir werden noch im Frühjahr Regelungen vorle-gen, mit denen wir Konsequenzen aus der unerlaubtenTelefonwerbung ziehen; damit haben wir uns in diesemHause auch in vergangenen Legislaturperioden oft be-fasst. Wir werden auch Regelungen zu unseriösen Inkas-sodienstleistungen und zu überzogenen Abmahnungenim wettbewerbsrechtlichen und urheberrechtlichen Be-reich vorlegen. Wir unternehmen jetzt also einen ersten,wichtigen, großen Schritt zur Stärkung des Verbrau-chers, und es werden weitere folgen.Herzlichen Dank.
Marianne Schieder hat nun das Wort für die SPD-
Fraktion.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Frei nach Klaus Lage – „… und es hat zoom ge-macht“ – schreibt der Verbraucherzentrale Bundesver-band in einer Stellungnahme zur öffentlichen Anhörungzum Gesetzentwurf: „Und es hat ‚klick‘ gemacht …“Genau so ist es: Tausendmal ist nichts passiert, aber miteinem kurzen Klick auf einer unseriösen Internetseitefallen unzählige Verbraucherinnen und Verbraucher aufbetrügerische Abofallen im Internet herein. Die Händereiben sich dann auch dubiose Inkassofirmen, die häufigmit diesen kriminellen, betrügerischen Abohändlern un-ter einer Decke stecken. Im Dezember letzten Jahres hatder Verbraucherzentrale Bundesverband eine Untersu-chung veröffentlicht, die genau dies belegt: 5,4 Millio-nen Menschen, das sind 11 Prozent aller deutschen Inter-netnutzer, sind auf eine Abofalle hereingefallen.Zum vierten Mal diskutieren wir nun über diesesThema hier in diesem Haus. Aber immerhin geht jetztendlich etwas voran. Hätten Sie aber, liebe Kolleginnenund Kollegen aus den Reihen der Union und der FDP,unserem Gesetzentwurf vor über einem Jahr zugestimmtund ihn nicht abgelehnt, könnten wir schon erheblichweiter sein.
Vielen Menschen in unserem Land wären dann viel Är-ger und viele Ausgaben erspart geblieben.Nun beschließen wir endlich den Gesetzentwurf derBundesregierung – einen Gesetzentwurf, der die Forde-rungen der SPD aufgreift; deshalb werden wir ihm zu-stimmen. Vollkommen unerklärlich ist es uns aber, wa-rum Sie diese Gelegenheit nicht genutzt haben, um denunseriösen Inkassobüros das Handwerk zu legen.
Es ist wirklich sehr schade, dass Sie diese Chance, fürmehr und umfassenderen Verbraucherschutz zu sorgen,vertan haben.Noch ein Wort zu den Interessenvertretern. Da beklagtdoch tatsächlich der Verband der Anbieter von Telekom-munikations- und Mehrwertdiensten – kurz VATM –, dieim Gesetzentwurf vorgesehene Umsetzungsfrist von dreiMonaten nach Inkrafttreten des Gesetzes sei zu knapp.Man brauche eine Schonfrist von zwei Jahren oder zu-mindest von einem Jahr. Meine Damen und Herren vomVATM, diese Schonfrist hatten Sie doch schon. Es mussdoch in den letzten zwei Jahren auch bei Ihnen ange-kommen sein, was allen klar ist, die sich jemals mit die-ser Thematik beschäftigt haben: dass es längst an derZeit ist, hier eine gesetzliche Regelung zu schaffen.
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Marianne Schieder
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Äußerst ärgerlich aber, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von Union und FDP, ist es, dass Sie mit Ihrem Ge-setzentwurf im Omnibusverfahren nun auch das Woh-nungseigentumsgesetz ändern wollen.
Sie wollen die Verlängerung der Frist für den Ausschlussder Nichtzulassungsbeschwerde um mehr als zwei Jahre,nämlich vom Enddatum 1. Juli 2012 auf das Enddatum31. Dezember 2014 ausweiten. Gemäß § 62 Abs. 2 Woh-nungseigentumsgesetz ist die Nichtzulassungsbe-schwerde nach § 543 Abs. 1 Nr. 2 und § 544 der ZPO –in Wohnungseigentumssachen nach § 43 Nr. 1 bis 4Wohnungseigentumsgesetz – nicht statthaft, soweit dieanzufechtende Entscheidung vor dem 1. Juli 2012 ver-kündet wurde. Sinn und Zweck von § 62 Abs. 2 Woh-nungseigentumsgesetz war es, einer Überlastung desBundesgerichtshofs vorzubeugen. Sie konnten weder imBerichterstattergespräch noch im Rechtsausschuss über-zeugend darlegen, warum Sie diese Beschränkung desRechtswegs um weitere zwei Jahre verlängern wollen.Diese ebenfalls geplante Gesetzesänderung hat mit demeigentlichen Gesetzesvorhaben, nämlich dem verbesser-ten Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern vorKostenfallen im Internet, gar nichts zu tun. Daher habenwir im Rechtsausschuss unsere Kritik am Verfahren ansich, aber auch an der Fristverlängerung als solcher deut-lich zum Ausdruck gebracht und die geplante Änderungdes Wohnungseigentumsgesetzes abgelehnt.Der längst überfällige und von uns lange geforderteSchutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor denKostenfallen im Internet ist uns aber so wichtig, dass wirdennoch, wenn auch mit Bauchschmerzen im Hinblickauf die Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes, zu-stimmen werden. Wir meinen, die Verbraucherinnen undVerbraucher in diesem Land haben es verdient, dass jetztendlich gehandelt wird.Vielen Dank.
Marco Wanderwitz ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem heute zu verabschiedenden Gesetz setzen wir einweiteres wichtiges rechts- und verbraucherpolitischesVorhaben der christlich-liberalen Koalition um. Wir stel-len damit auch unter Beweis, dass wir die neuen Heraus-forderungen der digitalen Welt annehmen und mitmaßgeschneiderten rechtlichen Regelungen für mehrRechtssicherheit bei den Verbraucherinnen und Verbrau-chern sorgen.Kostenfallen sind für viele Millionen Menschen inunserem Land – das haben wir schon in der ersten Le-sung besprochen – ein großes Übel geworden. DieMinisterin und Frau Kollegin Schieder haben schon da-rauf hingewiesen, was sich hinter dem Begriff Kosten-fallen so alles verbirgt. In wenigen Worten: im Internetangebotene Dienstleistungen zumeist, von denen manannimmt und, so wie die Internetseiten gestaltet sind, an-nehmen muss, dass sie kostenfrei sind; diese Dienstleis-tungen werden oft als gratis beworben. Aus dem Klein-gedruckten geht dann allerdings hervor, dass man sichbeim Kauf dieser Dienstleistungen eine Forderung ein-handelt.Viele von uns kennen solche Fälle aus eigenem Erle-ben, aus dem Familien- oder Bekanntenkreis. Aus Ärgerüber sich selbst und über die eingetretene Situation, ausUngewissheit und natürlich aus der Scheu, wegen einermeist nicht sehr hohen, aber dennoch beachtlichen For-derung – häufig handelt es sich um ungefähr 100 Euro –zum Anwalt zu gehen, zahlen am Ende viele.Eine aktuelle Infas-Studie belegt, dass bereits über5 Millionen Menschen in unserem Land in Abofallen ge-raten sind. Jeder Zehnte zahlt sofort und jeder Fünfte, so-bald er eine Mahnung oder Drohung bekommt. Ange-sichts dieser Zahlen bekommen wir schnell ein Gefühldafür, wie groß dieses Problem ist, wie sehr dieser Marktim negativen Sinne prosperiert.Durch die ständig wiederholte und auch heute wiedervorgetragene Untätigkeitsschelte seitens der Oppositionwird nichts besser.
Wir haben bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, dasswir in diesem Bereich etwas tun wollen.
Wir haben frühzeitig darauf hingewiesen, dass wir eineRegelung auf europäischer Ebene brauchen. Die Kosten-fallen sind ein europäisches Problem, und es macht da-her nur Sinn, gemeinsam mit unseren Nachbarländerneine Lösung zu finden.Wir haben also nicht nichts gemacht, sondern wir ha-ben auf die kürzlich verabschiedete EU-Richtlinie, dieMinisterin Leutheusser-Schnarrenberger angesprochenhat, Einfluss genommen.
Die Ministerinnen Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger,die heute anwesend sind, haben an der Erstellung derEU-Richtlinie maßgeblich mitgewirkt. Die Schaltflä-chenlösung, die jetzt implementiert worden ist, wurdevon Deutschland vorangetrieben.Es ist sinnvoll, dass wir uns darauf geeinigt haben,dass wir auf den Erlass der EU-Richtlinie warten, bevorwir auf nationaler Ebene eine Regelung einführen, diewir wenige Monate später revidieren müssen. Den seriö-sen Anbietern sind einmalig höhere Bürokratiekostenzuzumuten; aber es ihnen nicht zuzumuten, drei Monatespäter noch einmal für diese Kosten aufkommen zu müs-
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sen, nur weil man einen Schnellschuss gemacht hat; daswäre nicht sinnvoll gewesen. Deshalb haben die Bundes-regierung und die Koalitionsfraktionen parallel zur Er-stellung der EU-Richtlinie den vorliegenden Gesetzent-wurf erarbeitet, damit er zeitnah nach Verabschiedungdieser Richtlinie eingebracht werden kann.Die europarechtlich zulässige, partielle und zeitlichvorgezogene Umsetzung einer vollharmonisierten Richt-linie müssen wir innerhalb von weniger als zwei Jahren– bis zum 13. Dezember 2013 – vollziehen. Die Tatsa-che, dass wir so schnell arbeiten, zeigt, wie wichtig unsdieses Thema ist.
Dem vorliegenden Gesetzentwurf liegt die sogenannteSchaltflächenlösung zugrunde: Ein Vertrag kommt nurzustande, wenn am Ende einer Bestellung im Interneteine finale Schaltfläche aufpoppt, in der mit der Formu-lierung „Zahlungspflichtig bestellen“ oder einer ähnlichunmissverständlichen Formulierung klargestellt ist: Hierentstehen dem Verbraucher Kosten.Das Unternehmen muss die Bestellsituation im elek-tronischen Geschäftsverkehr so gestalten, wie es außer-halb des elektronischen Geschäftsverkehrs zu sein hat.Der Verbraucher muss durch Anklicken ausdrücklich be-stätigen, dass er erkannt hat, dass Kosten auf ihn zukom-men. Ebenso wichtig ist, dass der Verbraucher unmittel-bar vor Abgabe der Bestellung durch den Unternehmerüber wesentliche Merkmale des Produkts sowie überMindestlaufzeit und entstehende Kosten – Gesamtpreis,Liefer- und Versandkosten – informiert wird. StichwortAbofallen: Es ist oft so, dass dem Verbraucher suggeriertwird, dass er einmalig eine Dienstleistung erwirbt; dabeihandelt es sich um ein über Jahre laufendes Abo. All dasmuss oberhalb der Schaltfläche „Bestellbutton“ in her-vorgehobener Weise abgebildet sein.Die rechtlichen Konsequenzen hat die Frau Ministe-rin schon angesprochen. Die neue Regelung ist ein gro-ßer Gewinn für die Verbraucherinnen und Verbraucher,denn die Verbraucher müssen nicht mehr selber die nöti-gen Schritte einleiten – das haben wir in der Anhörungdiskutiert –; vielmehr sieht die Regelung vor: Wenn dieGestaltungspflichten nicht erfüllt sind, dann kommt vonvornherein kein Vertrag zustande. Der Verbraucher mussalso nicht vom Vertrag zurücktreten. Wer als Anbieterseine Informationspflichten nicht erfüllt, dem drohenAbmahnungen und Schadenersatzansprüche. Das Ganzeist also ein scharfes Schwert.Im parlamentarischen Verfahren, insbesondere bei derExpertenanhörung im Rechtsausschuss, die ich als sehrfruchtbar empfand, wurden vonseiten der Wissenschaft-ler und der Richterschaft verschiedene Modifizierungs-vorschläge angeregt und praxisnah diskutiert.In dem Berichterstattergespräch am Montag habe ichden Eindruck gewonnen, dass wir uns relativ einig sind.Vorgestern legten die Grünen aber einen Entschließungs-antrag vor, wodurch dieser Eindruck nachträglich ge-trübt wurde. Ich will ein paar Sätze zu den Details diesesEntschließungsantrags sagen.Sie fordern eine ausdrückliche gesetzliche Normie-rung. Sie fordern, dass die Unternehmer einen rechtsgül-tig zustande gekommenen Vertrag nachzuweisen haben.Sie fordern also ausdrücklich eine Beweislastregel. Dasist zum einen unnötig, zum anderen unüblich, ganz ein-fach deshalb, weil sich die Beweislastverteilung aus derFormulierung der Vorschrift ergibt. Will der Unterneh-mer einen vertraglichen Zahlungsanspruch geltend ma-chen, muss er entsprechend den allgemeinen zivilrechtli-chen Regelungen den Beweis erbringen; der Gläubigermuss also die den Anspruch begründenden Tatsachendarlegen.Weiterhin fordern Sie wissenschaftliche und rechtli-che Prüfungen bezüglich der Musterschaltfläche; das ha-ben wir in der Anhörung besprochen. Ich gebe offen zu –auch ich habe eine Frage gestellt, die in diese Richtungzielt –: Charmant wäre das. Gleichwohl passt diese For-derung überhaupt nicht zu Ihrer Forderung nach Tech-nikneutralität. Denn selbst wenn es gelänge, eine Mus-terschaltfläche für den klassischen PC zu entwickeln, istes schlechterdings nicht denkbar, diese zum Beispiel aufeinem Tablet oder einer Spielekonsole in derselben Formdarzustellen. Deswegen glauben wir, dass die Forderungnach einer Musterschaltfläche, so wünschenswert sie ist,schlicht nicht umsetzbar ist. Außerdem ist sie, wie ge-sagt, mit Ihrer Forderung nach Technikneutralität nichtin Einklang zu bringen.Zum Thema Technikneutralität hat die Ministerinschon etwas gesagt. Ich will noch einmal betonen – dassteht auch in der Begründung des Gesetzentwurfs –, dasseine Technik bzw. ein Endgerät ausdrücklich nicht er-wähnt wurde. Insofern ist diese Regelung technikneutral.Dementsprechend sind weitere Formulierungen über-flüssig.Ich halte Ihren gesamten Entschließungsantrag fürüberflüssig. Mir ist klar, dass er nicht von den Rechts-politikerinnen und Rechtspolitikern der Grünen kommt.Wir werden ihn ablehnen.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mirwichtig ist – Frau Schieder hat ihn bereits erwähnt –:Hinsichtlich der unseriösen Inkassounternehmen müssenwir etwas unternehmen.
– Ja, da müssen wir etwas tun. – Allerdings gibt es nichtnur unseriöse Inkassounternehmen, sondern auch seriöseInkassounternehmen. Das sollten wir an dieser Stelleauch sagen.
– Nein, sie verschwinden nicht in der Masse. Es gibteine ganze Menge seriöser Inkassounternehmen; es gibtauch eine ganze Menge Menschen in diesem Land, dieSchulden haben und sie nicht bezahlen. Gleichwohlmüssen wir hinsichtlich der unseriösen Inkassounterneh-
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men etwas unternehmen. Die Koalition wird in Kürze et-was dazu vorlegen.
Wir werden also sehr bald darüber verhandeln können.
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Abofallen im Internet sind ein großes Problem.Deswegen haben wir in den vergangenen Jahren hierschon mehrfach darüber diskutiert. Was scheinbar gratisangeboten wird, wird schnell, durch ein paar Maus-klicks, zu einem teuren Abo. Will man sich beispiels-weise gratis einen Songtext herunterladen, ist man nachwenigen Mausklicks ein teures Jahresabonnement fürein Horoskop eingegangen. Deswegen ist es völlig uner-lässlich, dass die Bundesregierung handelt, dass derBundestag handelt, dass dieser Abzocke im Internet end-lich ein Riegel vorgeschoben wird.
Die Möglichkeiten, versteckte Kostenfallen im Inter-net unterzubringen, sind sehr vielfältig. Einige unseriöseUnternehmen haben sehr viel Kreativität entwickelt –leider an der falschen Stelle. Dabei geht es, wie gesagt,um Songtexte, um Kochrezepte, um Psychotests oder umHoroskope. Hier ist man vor Abzocke im Internet in derTat nicht sicher.Diese perfide Abzocke im Internet findet seit vielenJahren statt. Sie schädigt Millionen Verbraucherinnenund Verbraucher. 5,5 Millionen Menschen sind nachSchätzungen der Verbraucherzentralen davon betroffen.Es wird höchste Zeit, dass diese Abzocke im Internetendlich beendet wird.
Ich habe schon gesagt, dass wir hier seit Jahren überdieses Thema diskutieren. Schon vor anderthalb Jahrenist an dieser Stelle über einen Gesetzentwurf der SPDdiskutiert worden. Dieser Gesetzentwurf wurde von derKoalition abgelehnt. Die Linke hat dieses Thema bereitsin der letzten Legislaturperiode eingebracht. Deswegenkomme ich nicht darum herum, mich zu fragen, warumes so lange gedauert hat, bis die Bundesregierung dies-bezüglich eine Regelung vorgeschlagen hat.
Ich frage erneut: Was ist in der Koalition los?
Ministerin Aigner lässt seit Jahren kein Mikrofon aus,um etwas zu diesem Thema zu sagen; gehandelt hat siegleichwohl nicht. Die Justizministerin sagte vorhin, dasThema sei seit einigen Monaten bekannt. Immerhin hatsie jetzt gehandelt. Ich sage: Durch diese Zeitverzöge-rung liegt der Schaden für die Verbraucherinnen undVerbraucher im mehrstelligen Millionenbereich. Daswäre nicht nötig gewesen.
Auch das Argument, man müsse eine europäische Re-gelung abwarten, ist aus meiner Sicht nicht zielführend.Anträge und Gesetzentwürfe lagen vor, um zumindestdas zu regeln, was auf nationaler Ebene möglich gewe-sen wäre – es gibt keinen Grund, warum man dies nichtgetan hat –; dies wäre im Interesse der Verbraucherinnenund Verbraucher gewesen.Das Schneckentempo der Bundesregierung in dieserFrage ist der Entwicklung im digitalen Zeitalter einfachnicht angemessen. Das Internet entwickelt sich in Licht-geschwindigkeit, und die Bundesregierung sattelt diePferde, um hinterherzukommen. So funktioniert dasnicht. Das muss in Zukunft schneller gehen.
Hinzu kommt: An einigen Stellen lässt der Gesetzent-wurf der Bundesregierung die Klarheit vermissen, diewir uns gewünscht hätten und die aus meiner Sicht auchnötig gewesen wäre. Die Empfehlungen der Expertenwurden an einigen Stellen nicht ausreichend berücksich-tigt. Das wird auch in dem vorliegenden Entschließungs-antrag kritisiert, dem wir als Linke zustimmen werden.Ich nenne einige Beispiele. Abzocke im Internet undunseriöses Inkasso gehören zusammen.
Aus einer ursprünglichen Forderung von 20,84 Eurowird mithilfe unseriöser Inkassounternehmen schnelleine Forderung von 1 200 Euro. Die Verbraucherzentra-len haben in einer Auswertung festgestellt, dass nur1 Prozent dieser Forderungen berechtigt war. Wir habenschon bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes überdieses Thema diskutiert. Auch die Vertreterinnen undVertreter der Koalition haben das Problem nach eigenenAussagen erkannt. Deswegen frage ich mich: Warumwurde die Gelegenheit nicht genutzt, um dieses Problemgesetzlich auszuräumen? Auch hier ist die Bundesregie-rung in der Pflicht. Durch Untätigkeit werden Verbrau-cherinnen und Verbraucher geschädigt. Bei dem Themaunseriöses Inkasso muss schnellstmöglich gehandeltwerden.
Der zweite Kritikpunkt, den ich anbringen möchte– auch dies hat schon eine Rolle gespielt –, betrifft dieAusgestaltung der Schaltflächen. Um Verbraucherinnenund Verbraucher ausreichend vor Kosten warnen zu kön-nen, sollte nach unserer Auffassung nicht nur eindeutigdarüber informiert werden, dass sie zahlen müssen, son-dern auch darüber, wie viel sie zahlen müssen. Diese
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Schaltfläche müsste immer separat betätigt werden. Dasist beispielsweise in Frankreich schon so üblich. Deswe-gen sind Kostenfallen im Internet dort kein Thema. Beiuns hingegen geht es bei 20 bis 30 Prozent der Be-schwerden, die Verbraucherinnen und Verbraucher andie Verbraucherzentralen richten, um dieses Problem.Auch das zeigt, dass man auf nationaler Ebene deutlichmehr hätte tun können.
Die Forderung nach einer Musterschaltfläche, damit Un-ternehmen die Schaltflächen nicht bis zur Unkenntlich-keit kaschieren können, ist unerlässlich. Wir schließenuns dieser Forderung an.
Eine weitere Forderung in dem Entschließungsantragist – auch diese Auffassung teilen wir – die nach der Be-weislastumkehr. Es muss eindeutig geregelt sein, dass esdie Pflicht der Unternehmen ist, die Rechtmäßigkeit derVerträge zu beweisen, und dass nicht die Verbraucherin-nen und die Verbraucher, die durch die vielen Regelun-gen im Internet ohnehin schon überfordert sind, nach-weisen müssen, dass sie im Recht sind.Gegen Ende meiner Rede komme ich zur bereits er-wähnten Technikneutralität. Die Zeiten, in denen mandas Internet zu Hause oder am Arbeitsplatz an großengrauen Computern nutzte, sind vorbei. Immer mehr nut-zen auch Smartphones und iPads – sie sind unsere stän-digen Begleiter –, um im Internet zu surfen. Untersu-chungen zeigen, dass über ein Drittel der Bevölkerungvon unterwegs auf das Internet zugreift. Es ist also nichtauszuschließen, dass man zum Beispiel bei der Internet-nutzung, während man in der U-Bahn ist, in eine Abo-falle tappt. Angesichts dessen muss sichergestellt wer-den, dass diese Internetbuttons auch für Smartphonesgelten. Das ist eigentlich selbstverständlich.
Ich komme zum Schluss. Die Vorschläge der Bundes-regierung sind an zu vielen Stellen nicht präzise genug,um die Verbraucherinnen und Verbraucher vor Abzockeim Internet zu schützen. Auf der Zielgeraden kamendann noch völlig sachfremde Themen hinzu. Was dieNeuregelung des Wohnungseigentumsgesetzes mit Ab-zocke im Internet zu tun hat, das kann mir kein Menscherklären. Auch für das Omnibusverfahren haben wirkein Verständnis.
Moderne und effektive Verbraucherpolitik muss prä-ziser sein. Sie muss sich auf die Seite der Verbraucherin-nen und Verbraucher stellen.
Sie darf nicht davor zurückschrecken, Herr Kollege, sichauch mit Unternehmen anzulegen.
Vor allen Dingen muss sie schneller sein.Vielen Dank.
Ingrid Hönlinger ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In-ternet und Verbraucherschutz ist ein Thema, das vieleMenschen betrifft. In den Verbraucherzentralen sindFälle der Internetabzocke seit fünf Jahren der Spitzenrei-ter in der Beschwerdestatistik. Tausende von Beschwer-den gehen hier jährlich ein. Unzählige Verbraucher füh-len sich schutzlos gegenüber unseriösen Unternehmern,die die Kostenpflichtigkeit ihrer Angebote im Internetverschleiern.Verbraucherschutz und Internet, das ist ein echtesMassenphänomen, ein Phänomen, das auch eine erhebli-che Belastung der Gerichte zur Folge hat. Heute stim-men wir über einen Gesetzentwurf ab, der Verbrauchervor genau diesen unseriösen Praktiken schützen soll. Wirsetzen damit in Deutschland eine EU-Richtlinie um. Er-freulich ist, dass wir die Frist zur Umsetzung der Richtli-nie nicht abwarten, sondern es schon jetzt machen.
Das verhindert, dass noch mehr Verbraucher Opfer vonInternetfallen werden. Allerdings haben wir diesesThema am 2. Dezember 2010 schon einmal debattiert.Mehr als ein Jahr hat es gedauert, bis wir jetzt über denGesetzentwurf abstimmen können. Weniger erfreulichist, dass wir nicht früher handeln konnten.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Im Inter-net ist die Zeit zwischen optischem Reiz und Kaufklickextrem kurz. In einem Lebensmittelgeschäft zum Bei-spiel ist das ganz anders. Da können Sie auch einmaleine Dose Mango in die Hand nehmen, schauen, wie vielZucker drin ist, und die Dose bei Nichtgefallen wiederins Regal stellen. Das muss in ähnlicher Form auch imInternet möglich sein.
Wir sind der Meinung, dass die Umsetzung der soge-nannten Buttonlösung für Vertragsabschlüsse im Interneteinen richtigen Schritt darstellt. Wenn der Button zu se-hen ist, sind dem Nutzer und der Nutzerin das Produktund der Gesamtpreis klar. Er und sie wissen dann: Jetztwird es ernst, jetzt tippt der Verkäufer die Rechnung ein,jetzt kostet es Cash. Die Buttonlösung ist ein Verbrau-cherschutzinstrument, für das wir Grüne uns seit langemeinsetzen. Wir werden dem Gesetzentwurf, der die But-
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Ingrid Hönlinger
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tonlösung vorsieht, zustimmen, weil wir damit den Ver-braucherschutz im Internet stärken.
Aus verbraucherpolitischer Sicht hätten wir uns abermehr von der Bundesregierung gewünscht.
Es geht hier um einen Gesetzentwurf, der einzig und al-lein die Stärkung des Verbraucherschutzes zum Ziel hat.Deshalb sollten wir den Verbraucherinnen und Verbrau-chern alle Möglichkeiten an die Hand geben, ihre Rechtezu erkennen und durchzusetzen.
Unser Ziel ist es, den Verbraucherinnen und Verbrau-chern im Internet ein Instrument an die Hand zu geben,das ihnen klar und deutlich ihre Rechte vor Augen führt.Dazu gehört Folgendes:Erstens. Die EU-Richtlinie gibt vor, dass der Unter-nehmer die Beweislast dafür trägt, dass er seine Informa-tionspflichten im Internet erfüllt hat. Nach den Regelun-gen der Zivilprozessordnung ist klar: Wer eineGeldforderung einklagt – das ist im Regelfall der Unter-nehmer –, trägt die Beweislast dafür, dass der Vertrag imInternet wirksam zustande gekommen ist. Für den juris-tischen Laien ergibt sich das aus der vorgeschlagenenRegelung aber nicht auf den ersten Blick. Deshalb isthier aus unserer Sicht eine Klarstellung erforderlich.
Zweitens. Technische Entwicklungen sind schnellle-big; das wissen wir alle. Wir müssen deshalb ein Augedarauf haben, dass Internetanbieter neuere Entwicklun-gen nicht dazu nutzen können, ihre Pflichten zu umge-hen. Auch eine Musterschaltfläche erscheint uns sinn-voll. Wir meinen, dass wir die Verbraucherinnen undVerbraucher damit noch besser vor unseriösen Anbie-tern, die ganz bewusst nach Umgehungsmöglichkeitensuchen, schützen können.
Drittens. Wir treffen jetzt Regelungen, um unseriöseInternetangebote zu verhindern. Es wäre sinnvoll gewe-sen, dies mit Regelungen zu unseriösen Inkassomaßnah-men zu verbinden. Häufig ist es doch so: Auch wenn derKlick im Internet nicht zu einem Vertragsabschlussführt, gibt es manche Internetanbieter, die ihre vermeint-liche Forderung Inkassounternehmen zum Einzug über-geben. Diese senden Mahnungen an die Verbraucher.Die Verbraucher fühlen sich eingeschüchtert und zahlen.Hier brauchen wir dringend eine gesetzliche Regelung,die unseriösem Inkassogebahren Einhalt gebietet.
Mit der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf stim-men wir nicht nur über die Buttonlösung in Bezug aufVertragsabschlüsse im Internet ab, sondern zusätzlichauch über eine Änderung im Wohnungseigentumsgesetz.2007 wurden die Verfahren in Wohnungseigentums-sachen der Zivilprozessordnung unterstellt und aus derFreiwilligen Gerichtsbarkeit herausgenommen. Die Zi-vilprozessordnung sieht verschiedene Rechtsmittel vor,darunter auch die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bun-desgerichtshof. Um eine Überlastung des BGH zuvermeiden, wurde die Nichtzulassungsbeschwerde inWohnungseigentumssachen für eine Übergangsfrist aus-geschlossen. Diese Frist würde am 1. Juli dieses Jahresenden.Jetzt soll die Frist bis zum 31. Dezember 2014 umzweieinhalb Jahren verlängert werden.
Das sind zweieinhalb Jahre, in denen sich die Beteiligtenin Wohnungseigentumssachen nicht an den Bundesge-richtshof wenden können. Ein Rechtsmittel, das die Zi-vilprozessordnung für diese Fälle vorsieht, wird ihnenper Gesetz verweigert.
Wir Grünen haben 2007 klar zum Ausdruck gebracht,dass Wohnungseigentumssachen besser in der Freiwilli-gen Gerichtsbarkeit aufgehoben wären. Nun sind sie inder ZPO geregelt. Das war der Wille des Gesetzgebers.Jetzt müssen wir auch die Konsequenzen daraus tragen.Eine Konsequenz ist, dass die Rechtsmittel, die die ZPObietet, jedem zur Verfügung stehen. Ausnahmen bedür-fen einer triftigen Begründung.
Die Koalition bezieht sich in ihrem Änderungsantragauf Erfahrungen aus den Jahren 2008 bis 2010. Sie er-klärt, dass es nicht gelungen ist, eine zuverlässige Pro-gnose darüber aufzustellen, wie viele der Fälle in Woh-nungseigentumssachen der Nichtzulassungsbeschwerdezugänglich wären. Diese Erklärung genügt uns nicht.Inzwischen liegt das Jahr 2011 hinter uns. Vier Jahremüssten genügen, um eine klare Prognose zu erstellen.Der Zugang zum Recht muss für alle Rechtsstreitigkei-ten gleichermaßen eröffnet sein. Das beinhaltet auch denZugang zur höchstrichterlichen Rechtsprechung.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für dieCDU/CSU-Fraktion.
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19382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Internet ist aus unserem Leben nicht mehrwegzudenken. 55 Millionen Bundesbürger haben heuteregelmäßigen Zugang zum Internet. Viele Menschenvertrauen den Informationen aus dem Netz. Heute wirdauf Wikipedia verwiesen, um die Glaubwürdigkeit einerInformation zu unterstreichen. Im Brockhaus nachzuse-hen, ist komplett out.Menschen breiten ihr ganz privates Leben im Netzaus, und Menschen mit gleichen Interessen finden sichim Netz. Sie tauschen sich aus, befreunden sich oder ma-chen Geschäfte miteinander. Es wird spioniert, herunter-geladen und gespeichert, und illegal erworbene Datenwerden vervielfältigt und für den eigenen Gebrauch ge-nutzt.Dennoch vertrauen die meisten Menschen dem Inter-net. 74 Prozent der Smartphone-Benutzer haben sich voreinem Einkauf schon einmal mobil über das gewünschteProdukt informiert. 85 Prozent aller deutschen Internet-nutzer haben Erfahrungen mit Onlinekäufen. Viele nut-zen den Onlinehandel vor allem, weil er für sie so un-kompliziert ist, sagt der law-blog-Gründer Udo Vetter.Die größte Gruppe der Internetnutzer bilden dabei jungeVerbraucher. Und: Mehr Männer als Frauen kaufen perInternet ein.Aber: 32 Prozent davon haben schon einmal schlechteErfahrungen gemacht. Jeder zehnte Deutsche soll schoneinmal in eine Internetfalle getappt sein. Da wundert esnicht, dass 93 Prozent aller Befragten eine sichere Be-zahlung und eine sichere Rechnungslegung für beson-ders wichtig halten. Sicherheit und Vertrauen sind ge-nauso Grundlage des Internethandels wie jedesherkömmlichen Handels.Die Möglichkeiten, im Internet Geschäfte zu machen,sind unglaublich schnell gewachsen. Das Wissen um dieGefahren, die damit einhergehen, wächst hingegen viellangsamer. Wir Internetnutzer befinden uns in einemLernprozess: Wie schütze ich meine persönlichen Da-ten? Wie kann ich feststellen, ob das, was ich lese, auchwahr und richtig ist und ich keinem Betrug aufsitze?Die Antworten darauf sind naturgemäß nicht ganzeinfach. An erster Stelle ist der Nutzer gefragt. Er musssich eigenständig informieren, bilden und auseinander-setzen. Er muss für sein eigenes Handeln Verantwortungübernehmen, egal ob er den Vertrag im Internet ab-schließt oder seine Unterschrift unter ein Papier setzt.Aber wir wollen ihn dabei nicht alleinlassen. Wir wollengute Information und Aufklärung ermöglichen, und wirwollen das Vertrauen der Verbraucher in Internetge-schäfte erhalten, ja besser noch: Wir wollen es stärken.Da, wo Missbrauch getrieben wurde, schieben wir inZukunft einen Riegel vor, und das europaweit. Einzellö-sungen auf Länderebene sind beim Internet zum Schei-tern verurteilt. Deswegen herzlichen Dank an unsereMinisterin Ilse Aigner.
Ilse Aigner ist es gelungen, die deutschen Standards inganz Europa umzusetzen. Frau Aigner, Sie haben einentollen Job gemacht. Große Anerkennung und vielenDank dafür!
Wo waren die Schlupflöcher für unseriöse Machen-schaften? Wo liegen die Schwerpunkte des Betrugs? Daswissen wir sehr genau. Allein bei den Verbraucherzen-tralen gehen bundesweit monatlich rund 22 000 Be-schwerden ein. Dabei geht es bei weitem nicht nur umBereiche wie Horoskope oder Gewinnspiele. Nein, diekriminelle Energie bezieht sich auf ganz unterschiedli-che Nutzergruppen. So werden zum Beispiel Kinder mitSeiten zur Hausaufgabenhilfe oder mit Malvorlagen an-gelockt. Jugendliche tappen bei berufswahl.de oder Mo-vie Tests, bei fuehrerschein.de oder einem IQ-Test in dieAbofalle.Suchen Sie auf der falschen Seite nach einem Vorna-men, wollen Sie auf eine Datenbank zur Ahnenfor-schung zugreifen oder vielleicht Kontakt zu Ihren Nach-barn per Internet herstellen, dann kann Sie das leicht200 Euro kosten. 192 Euro verlieren Sie auf der Seite ei-nes Routenplaners oder einer Mitfahrerzentrale. Ab-schließend noch ein Beispiel insbesondere für die Kolle-gen: wahlinfo2009.de, angelehnt an den uns allenbekannten Wahl-O-Mat, arbeitete ebenfalls unseriös.Die Aufzählung zeigt: Das Phänomen ist weit ver-breitet. Dabei ist das Schema immer das Gleiche. DerNutzer liest etwas, lädt etwas herunter, bestellt etwas,immer in dem Glauben, dies sei kostenlos oder billiger,als später auf der Rechnung steht.Warum? Der Hinweis auf den Preis ist versteckt:kleingeschrieben, ganz am Ende der Seiten und nur überUmwege zu finden. Der einzige Sinn einer solchen Seitebesteht darin, den Nutzer zu täuschen und ihn zu bewe-gen, eine von ihm eigentlich so nicht gewollte kosten-pflichtige Bestellung aufzugeben. Das ist unseriös, aberleider sehr erfolgreich.Dabei muss der Kunde, wie schon gesagt wurde, insolchen Fällen gar nicht zahlen. Aber wer weiß dasschon? Viele Kunden fürchten den Schriftwechsel, dieArbeit und den Ärger und zahlen lieber sofort. Daraufspekuliert der Anbieter. Aber damit ist jetzt Schluss.Zukünftig gilt: Ein Vertrag kommt nur zustande,wenn der Kunde am Ende auf eine Schaltfläche mit fol-genden Informationen klickt: „Zahlungspflichtig be-stellt“ oder mit einer entsprechenden anderen eindeuti-gen Formulierung, mit Angaben zum Preis, denGesamtlieferkosten und zur Vertragslaufzeit. Das ist eineeinfache und klare Lösung.Der Kunde kann also in Zukunft sicher sein, dass ernur zahlen muss, was er auch vorher aktiv bestätigt unddamit bestellt hat. Er muss keine Angst mehr haben, dasser irgendwo auf den vielen Seiten einen Hinweis überse-hen hat, dass Kosten dazukommen, weil irgendwo einHaken gesetzt war, den er hätte löschen müssen, oder
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19383
Mechthild Heil
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dass ihm ein Jahresvertrag untergeschoben wurde, ob-wohl er nur einmalig etwas bestellen wollte. Die Sicher-heit für den Kunden steigt, und die Missbrauchsmöglich-keiten sinken.Die Bestätigung des Kaufs über diese gesonderteSchaltfläche wird bald zum normalen Vertragsabschlussim Internet gehören; man wird sie sich bald nicht mehrwegdenken können. Taucht die Schaltfläche nicht auf,weiß der Kunde: Hier ist etwas nicht in Ordnung; ichlasse besser die Finger davon.Die Opposition fordert nun, eine Musterschaltflächegesetzlich vorzugeben. Aber das ist in der Praxis leidernicht durchführbar.Erstens. Die Darstellungsmöglichkeiten auf einemSmartphone sind komplett andere als auf einem PC.Zweitens. Die Bestellungen sind auch ganz unter-schiedlich. Kaufen Sie im Internet ein Buch, wird es fürden Anbieter ganz einfach sein, Preis und Lieferkostenauf einer kleinen Schaltfläche auf einen Blick anzuzei-gen. Bestellen Sie aber zum Beispiel eine Küche mit al-len Einzelteilen, benötigen Sie naturgemäß eine größereZusammenstellung, die vielleicht sogar eines Weiterblät-terns, eines Scrollens bedarf.Drittens. Ich schließe eine Musterfläche schließlichdeshalb aus, weil sie technisch nicht neutral ist. Wirkönnten damit technische Entwicklungen sowie den Ge-staltungswillen der Wirtschaft beschränken. Deswegenbin ich an dieser Stelle ganz klar aufseiten der Wirt-schaft.Ich habe andererseits kein Verständnis für Teile derWirtschaft, die eine längere Übergangszeit zur Umset-zung der Maßnahme einfordern. Seriöse Anbieter verste-cken ihre Kosten nicht,
und seriöse Anbieter haben nicht eine Vielzahl von Vor-einstellungen programmiert – also Häkchen in Kästchengesetzt –, die der Kunde gar nicht bemerkt, die den Kun-den aber viel Geld kosten.Ja, so manche gesetzliche Maßnahme ist eine Grat-wanderung zwischen mehr Schutz und mehr Bürokratie.Mit diesem Gesetz gelingt uns ein sehr vernünftigerAusgleich zwischen Aufwand und Nutzen für dieDiensteanbieter. Wir sind uns allerdings auch dessen be-wusst, dass wir mit diesem Gesetz nicht jede kriminelleEnergie im Internethandel werden verhindern können.Die nächste Generation der Kostenfallen wird kommen.Aber das uns bekannte Schlupfloch schließen wir heute.
Ein weiteres Schlupfloch werden wir mit dem Gesetz-entwurf zur Inkassopraxis schließen.Wir brauchen in Zukunft zwei Dinge, um den unse-riösen Anbietern das Handwerk zu legen: aufmerksameund informierte Kunden und eine Politik, die schnell undzielgenau gesetzlich einschreitet.
Frau Kollegin.
Beides ist uns in der Vergangenheit sehr gut gelungen,
beides werden wir auch in der Zukunft engagiert betrei-
ben. Wir beschließen heute dieses Gesetz. Das ist ein gu-
ter Tag für den Verbraucherschutz.
Vielen Dank.
Die Kollegin Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer auf denTribünen! Dass dies ein guter Tag für die Verbraucherin-nen und Verbraucher ist, ist klar. Doch hätten wir das al-les schon sehr viel früher haben können, Frau Kollegin.
Wie Benjamin Franklin schon sagte: Zeit ist Geld.Das gilt leider auch für die deutschen Verbraucherinnenund Verbraucher. Denn bereits seit 15 Monaten könnten– ich spreche im Konjunktiv – die Internetnutzerinnenund -nutzer durch den Gesetzentwurf der SPD vor Kos-tenfallen im Internet geschützt sein.
Wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher inzwi-schen tatsächlich auf die Internetabzocker hereingefallensind, werden wir wohl nie erfahren. Eine Untersuchungdes Sozialforschungsinstituts infas sprach im Sommer2011 von 5,4 Millionen deutschen Internetnutzern, dieauf eine Abofalle im Internet hereingefallen waren. Das,Frau Verbraucherschutzministerin, sind immerhin 11 Pro-zent aller deutschen Internetnutzerinnen und -nutzer.Dem Einsatz der Verbraucherzentralen verdanken wir,dass der Schaden nicht noch größer ist. Bundesweit,schätzen die Verbraucherzentralen, gibt es 22 000 Be-schwerden pro Monat. Bei Rechnungen von durch-schnittlich knapp 100 Euro pro Jahr – und in der Regelhandelt es sich um Zweijahresverträge – konnten dieVerbraucherzentralen von Januar 2011 bis Ende Februar2012 damit einen geschätzten Schaden von etwa 66 Mil-lionen Euro verhindern. Lassen Sie sich diese Zahl ein-mal auf der Zunge zergehen.Zeit ist Geld. Das gilt überall dort, wo die Bundesre-gierung viel redet, aber nichts tut. Ankündigungen stattTaten: Das finden wir bei den überhöhten Gebühren fürPfändungsschutzkonten, bei dem Recht auf ein Giro-konto für jedermann oder bei den überhöhten Gebührenfür das Geldabheben an Bankautomaten. Ich könntediese Liste fortführen.
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19384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Elvira Drobinski-Weiß
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Die Verbraucherpolitik ist der Koalition offensichtlichso unwichtig, dass heute Morgen statt 90 Minuten nur60 Minuten Debattenzeit angesetzt sind. Sie befürchtenwohl, dass wir Ihnen noch mehr verbraucherpolitischeVersäumnisse unter die Nase reiben könnten. Das wärekein Problem.So haben Sie heute zum Beispiel eine Chance ver-passt, das Inkassounwesen zu reformieren.
Das ist schon mehrfach von Frau Schieder und auch vonanderen Kollegen angesprochen worden. Die Inkassopro-blematik hängt direkt mit dem Kostenfallentrick zusam-men. Manche haben daraus ein gemeinsames, perfidesGeschäftsmodell entwickelt. Deshalb hat der Bundesratim Gesetzgebungsverfahren dazu Vorschläge auf denTisch gelegt. Warum haben Sie diese eigentlich nicht auf-genommen? Sollen wir wieder erst mindestens 15 Mo-nate ins Land gehen lassen, bis die Koalition tätig wird?Wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben Vor-schläge gemacht. Wir fordern beispielsweise eine De-ckelung der Gebühren, wir fordern mehr Sanktionsmög-lichkeiten gegen die schwarzen Schafe unter denInkassounternehmen. Auch der Kollege von der CDUhat das kurz angesprochen, aber es wird ja nichts vorge-legt.
Die Aufsichtsbehörden müssen bei Verstößen auch Buß-gelder verhängen können. Wir wollen, dass die Inkas-sounternehmen die Verbraucher informieren müssen, umwelche Forderung es konkret geht.
– Dann tun Sie das doch, Herr Kollege. – Vor allem plä-diere ich dafür, ein sozialdemokratisches Modell aus derÄra von Willy Brandt auf diesen Bereich anzuwenden.
Wie bei der Kontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedin-gungen oder im Gesetz gegen den unlauteren Wettbe-werb sollten wir den Verbraucherzentralen die Möglich-keit geben, unseriöse Inkassounternehmen abzumahnenund notfalls zu verklagen.
Ich schlage hier also einen Marktwächter für die Inkas-sobranche vor. Den einzelnen Verbraucher sollten wirnicht allein lassen. Die Verbraucherzentralen sollen alsMarktwächter die Beschwerden der Verbraucher undVerbraucherinnen über Inkassounternehmen erfassen,berechtigte Beschwerden an die Überwachungsbehördenweitergeben und Inkassounternehmen abmahnen und aufUnterlassung bestimmter Geschäftsgebaren verklagenkönnen. Wie im Gesetz gegen den unlauteren Wettbe-werb muss auch geprüft werden, ob und wie dabei er-zielte Gewinne abgeschöpft werden können.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,ich hoffe, Sie legen uns bald – auch darauf gab es jetztleider keine Antwort – Vorschläge zur Reform des Inkas-sowesens vor.
– Darauf warte ich, Herr Kollege. – Denn, wie gesagt,Zeit ist Geld. Sonst müsste unser Fazit über die Arbeitvon Schwarz-Gelb lauten: Es ist leicht gesagt, aber lang-sam getan.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Erik Schweickert für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute istein guter Tag für die Verbraucherinnen und Verbraucher;denn heute beenden wir die Abzocke im Internet. Wirmachen die Kosten im Internet transparent und die Kos-tenfallen dicht. Den Kolleginnen und Kollegen der SPDsage ich: Sie tun so, als ob es Abzocke im Internet erstgäbe, seit wir an der Regierung sind. Ich frage, was Sievorher getan haben.
Wenn ich mir den Entschließungsantrag der Grünenanschaue, Frau Hönlinger, dann stelle ich fest, dass Sieselbst schreiben, dass die Verbraucherrechterichtlinie dieGrundlage der heute zu beschließenden Regelung ist. Ichfrage Sie: Wann wurde die denn vom Europäischen Par-lament beschlossen? Es war am 23. Juni 2011.
Wir haben unseren Gesetzentwurf sofort vorgelegt. Esist gerade einmal ein Dreivierteljahr vergangen. Wir ha-ben sofort gehandelt; heute wird der Gesetzentwurf inzweiter und dritter Beratung behandelt.
Wir haben den Gesetzentwurf zu diesem Punkt sogarvorgezogen, um die Abzocke bald zu beenden;
denn die Verbraucherrechterichtlinie ist komplex, undihre Umsetzung dauert lange. Wir haben den Punkt mitden Kostenfallen im Internet vorgezogen, weil wir wuss-ten, dass hier der Schuh drückt. Die Lücke wird heutegeschlossen.Der bisherige Rechtsrahmen hat sich als nicht ausrei-chend erwiesen. Die Abzocker sind auf immer neue Ge-schäftsideen gekommen. Es wurde schon gesagt, dass5,5 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher ir-
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Dr. Erik Schweickert
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gendwann schon einmal in eine Abofalle getappt sind.Diese Zahl ist nicht unbeträchtlich. Wir verpflichten nundie Unternehmen, den Verbraucher klar und verständlichund in hervorgehobener Weise vor Abgabe einer Bestel-lung ausdrücklich darauf hinzuweisen, wenn etwas kos-tenpflichtig ist.
Das heißt, es geht nicht mehr, dass man die Kosten-pflicht in ellenlangen AGBs versteckt oder man vorherzehn Semester Jura studiert haben muss, um bei der Sa-che durchzublicken. Also: Ellenlange, unverständlicheAGBs gehören der Vergangenheit an. Im Bereich derKostenpflichtigkeit haben wir einfache und klare Rege-lungen eingeführt; dadurch wird sofort deutlich, wennman sich im Internet zu einer Zahlung verpflichtet.In Ihrem Entschließungsantrag sprechen Sie zweiweitere Punkte an, nämlich die Regelung der Beweislastund das Thema der Musterschaltfläche.Der Erwähnung der Beweislast des Unternehmens imGesetz bedarf es schon deshalb nicht, da es heute so-wieso schon gängige Praxis ist, dass der Unternehmerbeweisen muss, dass er einen Anspruch auf sein Geldhat. Dahinter steht der allgemeine Rechtsgrundsatz, dassderjenige, der eine Tatsache behauptet, diese auch nach-weisen muss. Deswegen ist es obsolet, so etwas in dasGesetz hineinzuschreiben.Jetzt kommen wir einmal zu der von Ihnen erhobenenForderung, eine Musterschaltfläche im Gesetz festzu-schreiben. Das ist für mich reine Kosmetik. Lassen Siees sich einmal an einem einfachen Beispiel zeigen.Schauen wir doch einmal auf die Homepage der Grünen.Im „Grünen Shop“ kann man ein paar Spielereien erwer-ben. Inhalte sind zwar nicht dabei, da geht man lieber zurFDP,
aber ein paar lustige Give-aways sind da doch zu haben,zum Beispiel eine grüne Badeente. Für 3,49 Euro kannman sie mit einem einfachen Klick kaufen. Hier soll jetztnach unseren Vorstellungen ein Kasten kommen, in demsteht: „zahlungspflichtig bestellen“.
Seien wir doch einmal ehrlich: Es macht doch keinenUnterschied, ob bei den Grünen nun ein grüner Buttonauftaucht und bei der SPD ein roter. Ich könnte mir aberIhr Geschrei vorstellen, wenn wir ins Gesetz hineinge-schrieben hätten: Der Kasten muss schwarz-gelb sein. Eswäre spannend gewesen, zu erfahren, wie groß dann derAufschrei gewesen wäre.
Meine Damen und Herren, das überlassen wir technik-neutral den Anbietern, wie sie es darstellen. Die Smart-phones sind unterschiedlich.Ich habe in einer früheren Rede schon einmal aufge-zeigt, wie hoch die Schadstoffbelastung von Quietsche-enten – keine grünen, sondern gelbe – ist. Was findet manaber auf Ihrer Homepage? Grüne Quietscheentchen. –Aber das ist ein anderes Thema.Meine Damen und Herren, heute ist ein guter Tag fürdie Verbraucherinnen und Verbraucher. Wer eine wirk-lich gute Webseite besuchen will, der sollte sowieso aufwww.abzockerstopper.de gehen.
Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Rebmann für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In der heutigen Debatte wurden ja schonKlaus Lage und Benjamin Franklin zitiert. Ich könntejetzt als Mannheimer auch aus der Mannheimer Urauf-führung von Schillers Räubern zitieren. Nur, die warenhalt damals noch nicht im Internet unterwegs.
Aber Schiller hat ja recht, wenn er bei Wallensteins La-ger sagt: „Es geht nicht zu mit rechten Dingen!“ Dennwer meint, dass nur unachtsame Internetnutzer in dieKostenfallen geraten, der irrt sich. Es kann praktisch je-den treffen. Das Prinzip der Betrüger im Netz ist denk-bar einfach und leider auch wirksam.Es ist noch nicht lange her, dass ein guter Freund vonmir völlig arglos einen Gutschein für ein kostenlosesMusik-Download eingelöst hat und sich dann monate-lang mit Mahnschreiben und unseriösen Inkassounter-nehmen zum angeblich abgeschlossenen Jahresabo he-rumschlagen musste. Wir alle kennen ja solche Beispielezur Genüge.Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger wissen garnicht, dass es wegen irreführender Gestaltung der Inter-netseiten oft gar nicht zu einem wirksamen Vertrag ge-kommen ist; sie glauben, zahlen zu müssen, und scheuenden Streit mit den Inkassounternehmen.Auf die Zahl der Nutzer, die in solche Abofallen gera-ten sind, wurde ja schon mehrfach hingewiesen. Der da-durch entstandene Schaden überschreitet bei weitem60 bis 70 Millionen Euro im Jahr, ohne die Dunkelziffermiteinzurechnen. Natürlich ist das ein lukratives Ge-schäft für unseriöse Unternehmen, wenn ihr Geschäfts-modell darauf basiert, auf diese Weise Geld zu verdie-nen.Wir als SPD haben deshalb bereits 2010 einen Ge-setzentwurf zu diesem Thema vorgelegt, um genau die-sem Treiben einen Riegel vorzuschieben.
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19386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Stefan Rebmann
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Wenn man mit diesem Wissen den vorliegenden Gesetz-entwurf liest, dann kommt man nicht umhin, zu sagen:Das hätten wir schon wesentlich früher haben können.Den Betroffenen wäre damit viel Geld und noch mehrÄrger erspart geblieben.
Allen Fraktionen war doch schon 2010 klar, dass derrechtliche Schutz der Verbraucher im Internet bei wei-tem nicht ausreicht. Nur, daraus auch Schlussfolgerun-gen zu ziehen und Handlungen abzuleiten, dazu hatte dieKoalition offensichtlich keinen Mut.Bei Schillers Räubern geht es um das Verhältnis vonRecht und Freiheit. Zur vertanen Chance, unserem An-trag schon damals zuzustimmen, sage ich Ihnen mitSchiller: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdor-ben, was Adlerflug geworden wäre.“
Man warte lieber eine Einigung auf europäischerEbene ab, hieß es damals. Dafür gab es aus unserer Sichtkeinen hinreichenden Grund. Die Menschen warten bisheute auf eine Lösung, die es in anderen EU-Mitglied-staaten, zum Beispiel in Frankreich, schon längst gibt.Heute nun können wir endlich über einen Entwurfentscheiden,
der sich übrigens wie auch die inzwischen vorliegendeEU-Richtlinie inhaltlich nur marginal von unserem da-maligen Antrag unterscheidet.Internetanbieter müssen endlich deutlich und unmiss-verständlich über den Preis einer Ware oder einerDienstleistung informieren. Und noch wichtiger: DerVerbraucher muss bei der Bestellung ausdrücklich erklä-ren, dass er den Preis zur Kenntnis genommen hat bzw.dass er über einen Button unmissverständlich auf dieZahlungspflicht hingewiesen worden ist.So weit, so gut. Aber dass Sie, liebe Kolleginnen undKollegen der Koalition, die breite Zustimmung zu die-sem Thema ausnutzen, um kurzfristig eine Änderung desWohnungseigentumsgesetzes mit durchzuwinken, ist,finde ich, nicht in Ordnung.
Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten überwiegt das Wohl der Verbraucher. Die Verbrau-cher brauchen den Schutz des Gesetzes vor Kostenfallenim Internet. Deshalb sagen wir Ja zu diesem Gesetz, undich sage Ihnen mit Schiller: „Denn das Auge des Geset-zes wacht.“Herzlichen Dank.
Zum Abschluss dieses Tagesordnungspunktes erhält
der Kollege Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Genau heute vor einer Wo-che hat der US-Präsident Barack Obama seine neueStrategie zur Verbesserung des Datenschutzrechts im In-ternet vorgestellt. Kernziel dieser Strategie ist die Wie-derherstellung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bür-ger in das Internet und in den elektronischenGeschäftsverkehr.Es handelt sich bei dieser Vorstellung der Strategievon Barack Obama jedoch nur um ein Weißbuch, das imweiteren Verlauf erst noch in Gesetzesform gegossenwerden muss. Wir sind hier schon weiter fortgeschritten.Die christlich-liberale Koalition handelt, und wir verab-schieden heute endgültig das Gesetz zur Verbesserungund zur Steigerung des Vertrauens der Bürgerinnen undBürger in das Internet und in den elektronischen Ge-schäftsverkehr.
Es ist schon erwähnt worden: 90 Prozent der deut-schen Internetnutzer nutzen das Internet insbesonderezum Kauf von Produkten und zum Bestellen von Dienst-leistungen. Was besorgniserregend ist, ist, dass 73 Pro-zent von ihnen in den letzten Jahren negative Erfahrun-gen damit gemacht haben. Ich glaube, es geht nicht umeine Dämonisierung des Internets. Das Internet bietetvielfältige Chancen und ungeahnte Möglichkeiten, dienoch vor 20 Jahren undenkbar waren, aber es birgt auchgewisse Risiken in sich, und diese Risiken manifestierensich zusehends insbesondere darin, dass es unseriöseAnbieter gibt, die in den letzten Jahr immer mehr ihr Un-wesen getrieben haben und hunderttausendfach, ja mil-lionenfach Ärger in Deutschland hervorgerufen haben.Ich möchte mir nicht einmal annähernd vorstellen,wie oft sich – wahrscheinlich hunderttausendfach – Bür-gerinnen und Bürger geärgert haben, als sie Mahnungen,Zahlungsaufforderungen und Schreiben von Rechtsan-wälten und Inkassounternehmen erhalten haben. Mit Si-cherheit haben viele darauf reagiert, indem sie gezahlthaben, obwohl sie rechtlich dazu nicht verpflichtet ge-wesen wären,Die Studie von infas aus dem August des letzten Jah-res, nach der schon 8,4 Millionen Bundesbürger Opfervon Internetbetrug geworden sind, ist schon erwähntworden. Der überwiegende Teil von ihnen, nämlich5,4 Millionen Bürger, sind Opfer von Kosten- und Abo-fallen im Internet geworden.Was an dieser Studie sehr interessant ist, ist, dass eskeine signifikanten Unterschiede gibt, was das Alter,was das Geschlecht und auch was das Einkommen der
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Stephan Mayer
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Betroffenen anbelangt. Jeden kann es treffen, und keinerist davor gefeit. Es ist auch nicht so, dass es nur wenigeschwarze Schafe gibt, die sich in diesem Bereich tum-meln. Es hat sich mittlerweile betrüblicherweise eineganze Abofallenindustrie in Deutschland entwickelt. Imkollusiven Zusammenwirken von Internetunternehmen,Rechtsanwälten und Inkassounternehmen sind Millionenvon Bundesbürgern geschädigt worden. Jeder hat esschon am eigenen Leib erlebt. Es gibt Internetshopsei-ten, die trickreich und sehr irreführend gestaltet sind.Aufgrund des häufig unklar, irritierend und überra-schend gestalteten Bestellprozesses sind diesen Shopsleider schon Millionen von Bundesbürgern auf den Leimgegangen. Diese Abo- und Kostenfallen im Internet be-treffen das Bestellen sowohl von Produkten als auch vonDienstleistungen. Das Angebot reicht von Haustieren,Kochrezepten, Hilfen bei der Berufswahl, Routenpla-nern, Grußkarten und Gedichten bis hin zu Gewinnspie-len und Wohnungsannoncen.Wir, die christlich-liberale Koalition, handeln mit die-sem Gesetzentwurf, der heute in zweiter und dritter Le-sung behandelt wird, effektiv und gehen massiv gegendiesen rapide zunehmenden Internetbetrug vor. Wir alschristlich-liberale Koalition sind handlungsfähig.
Wir machen klare Vorgaben, was die Ausgestaltung derInternetseiten anbelangt. Die Schaltflächen müssen ins-besondere hinsichtlich des Bestellprozesses transparent,klar und eindeutig sein. Wichtig ist uns, dass schon aufder Schaltfläche klar erkennbar ist, dass damit eine Zah-lungsverpflichtung verbunden ist. Deshalb fassen wir§ 312 g des Bürgerlichen Gesetzbuches neu.Damit ist natürlich unweigerlich ein Mehraufwandfür die Unternehmen verbunden; das möchte ich nichtunerwähnt lassen. Aber ich bin der festen Überzeugung,dass dieser Mehraufwand, der auf etwas mehr als41 Millionen Euro geschätzt wird, in der Abwägung mitdem exorbitant hohen Schaden, der in der Vergangenheitverursacht wurde, und vor allem mit dem Schadenspo-tenzial, das mit dem Missbrauch im Internet verbundenist, durchaus vertretbar ist.Ich möchte auch noch Stellung beziehen zu der imAusschuss beantragten Entschließung mit der Forderungzur Beweislast. Meines Erachtens ist es überflüssig, hiereine Neuregelung vorzunehmen, weil es im BGB gän-gige Praxis ist, dass derjenige, der eine Forderung durch-setzen will, die Rechtmäßigkeit dieser Forderung bewei-sen muss. Es bedarf also keiner nochmaligen Festlegung,dass der Anbieter im Internet das rechtswirksame Zu-standekommen des Kauf- oder Dienstleistungsvertragesbeweisen muss. Deswegen ist diese Forderung abzuleh-nen.Nach dem heutigen Tag gilt es, viele Internetseitenumzugestalten. Wie wir vom Kollegen Dr. Schweickertgehört haben, gilt dies auch für die Internetseite der Grü-nen. Ich bin gespannt, ab wann die Schaltfläche für dieBestellung der Quietscheente rechtskonform ausgestaltetist. Aber selbst wenn sie rechtskonform ausgestaltet istund den Vorgaben in § 312 g BGB entspricht – ich gehedavon aus, dass die Grünen, rechtstreu wie sie sind, ihrenInternetshop sehr schnell neu konfigurieren werden –,
befürchte ich, dass die Kosten doch weitaus höher als3,50 Euro für diese Ente sein werden. Denn wer bei denGrünen zugreift, muss leider Gottes langfristig mehr be-rappen als diese 3,50 Euro.
Das muss man dazusagen.Mit diesem Gesetzeswerk, das in diesem Hause mitAusnahme der Linkspartei große Zustimmung findenwird, beweisen wir, dass die christlich-liberale Koalitioninsbesondere in der Rechtspolitik in der Lage ist, effek-tiv und schnell zu handeln, wenn sich ein Problem offen-kundig und signifikant zeigt.
Wir setzen die zugrunde liegende EU-Richtlinie jetztschnell und zügig in deutsches Recht um. Damit bewei-sen wir einmal mehr, dass die christlich-liberale Koali-tion handlungsfähig ist
und dass wir effektiv ans Werk gehen, wenn sich Pro-bleme ergeben. Wenn sich Missstände in unserer Gesell-schaft und auch in unserer Wirtschaft zeigen,
dann erwarten die Bürgerinnen und Bürger, dass wirschnell und effektiv handeln.Ihre Argumentation „Das hätte doch alles schonlängst passieren müssen“ ist meines Erachtens sehr dürf-tig und durchsichtig. Mehr haben Sie nicht zu bieten.
Wir hingegen haben sehr viel zu bieten. In diesem Sinnebedanke ich mich für die Unterstützung und werbe umZustimmung in diesem Hause.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Bürgerlichen Gesetzbuches zum besserenSchutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Kos-
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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tenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr. Wir wol-len einmal abwarten, ob im Sinne des KollegenRebmann diese Beschlussfassung den Schneckengangzum Adlerflug transformiert.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf der Drucksache 17/8805, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7745 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf mitbreiter Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion Die Linkein zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derGesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit angenommen.Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8806 auf. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsan-trag ist mehrheitlich abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenChristine Lambrecht, Burkhard Lischka, Dr. EvaHögl, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder SPD eingebrachten Entwurfs eines Straf-rechtsänderungsgesetzes – Bekämpfung derAbgeordnetenbestechung– Drucksache 17/8613 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungInnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginChristine Lambrecht für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Im Jahr 2003 hat die BundesrepublikDeutschland die UN-Konvention zur Bekämpfung vonKorruption unterzeichnet, wie ich finde: völlig zu Recht.Es muss unser aller Anliegen sein, Korruption da, wo sieauftritt, weltweit zu bekämpfen.
Peinlich ist allerdings, dass nach dieser Unterzeich-nung nichts weiter passiert ist. Nötig wäre gewesen,diese Konvention auch in innerdeutsches Recht umzu-setzen, sprich einen Straftatbestand zu schaffen, der dieKorruption, die Bestechung, die Bestechlichkeit von Ab-geordneten erfasst. Warum wäre die Umsetzung dieserKonvention notwendig gewesen? Weil wir im deutschenRecht bisher lediglich das Thema des sogenannten Stim-menkaufs gesetzlich geregelt haben! Dies ist ein ganzenger Tatbestand, der nur das Abstimmungsverhalten er-fasst und deswegen ein stumpfes Schwert ist und derKonvention, so wie sie vorliegt, bei weitem nicht ge-nügt.Deswegen unterbreiten wir Ihnen heute einen Lö-sungsvorschlag für ein nicht einfaches Thema, nämlichdie Auflösung des Spannungsfeldes zwischen dem, waszu Recht als Abgeordnetenbestechung, als Bestechung,als Korruption benannt werden muss, und dem, was zumparlamentarischen Verhalten gehört. Wir haben es unsmit unserem Entwurf nicht leicht gemacht. Wir habenviele Argumente, die in der Diskussion seit vielen Jahrengenannt werden, gegeneinander abgewogen. Ich will un-seren Vorschlag kurz begründen; denn ich kann damitauf viele Kritikpunkte eingehen.Wir schlagen vor, Abgeordnetenbestechung in Zu-kunft ganz klar zu beschreiben als einen Vorgang, beidem ein Abgeordneter einen Vorteil für sich oder einenDritten dafür bekommt, dass er einen Auftrag oder eineWeisung in entsprechendes parlamentarisches Verhaltenumsetzt. Dies ist ein ganz klar definierter Tatbestand.Warum ist er so klar und so eng beschrieben? Weil wirwollen, dass die Kritikpunkte, die aufgekommen sind– nämlich dass dann in Zukunft parlamentarisches Ver-halten, also die Aufgabe des Abgeordneten, sich für dieInteressen derjenigen einzusetzen, für die er sich berufenfühlt, nicht mehr möglich wäre –, ausgeräumt werden,haben wir diesen Tatbestand eng beschrieben. Ich willdazu einige Beispiele nennen.Ich bekomme vom Weinbauernverband den Auftragoder die Weisung, eine Initiative zur Abschaffung derSektsteuer zu ergreifen, was ich dann in meiner Fraktionund im parlamentarischen Verfahren durchsetze. Wennich dafür dann eine mehrwöchige Urlaubsreise als Vor-teil erhalte, würde das genau den von uns definiertenStraftatbestand erfüllen, wie ich finde: völlig zu Recht.Das wäre ein klarer Fall von Bestechung und Bestech-lichkeit.
Nun wird eingewandt, dies widerspreche dem freienMandat. – Ja, zu Recht haben wir als Abgeordnete dieMöglichkeit, nach Art. 38 des Grundgesetzes das freieMandat auszuüben. Das ist das Wesen, der Inhalt dessen,was wir als Abgeordnete tun. Aber im Ernst: Niemandkann behaupten, dass der Vorgang, den ich eben be-schrieben habe, nämlich einen Vorteil dafür zu bekom-men, dass ich als Abgeordnete einen Auftrag oder eineWeisung befolge, auch nur im Geringsten etwas mit demfreien Mandat zu tun hat. Deswegen sollten wir eineklare Definition vornehmen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19389
Christine Lambrecht
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Es wird des Weiteren kritisiert, dass der Vorteilsbe-griff nicht eng genug gefasst sei und dass dann unterUmständen Staatsanwälte ungerechtfertigte Ermittlungs-maßnahmen einleiten könnten. Aber wir haben aus-drücklich geschrieben, dass parlamentsübliches Verhal-ten nicht als Vorteilsnahme zu verstehen ist. Dazu gehörtbeispielsweise das Abendessen beim ParlamentarischenAbend. Selbstverständlich erwartet niemand, dass in Zu-kunft ein Abgeordneter mit der Brotdose zum Parlamen-tarischen Abend geht, weil er Angst hat, dass es ihm alsVorteilsnahme ausgelegt wird, wenn er sich am Buffetbedient. Wir wollen das im Gesetz genau regeln, um ent-sprechende Sorgen auszuräumen.Ich habe wahrscheinlich ein bisschen mehr Vertrauenin die deutschen Staatsanwälte – ich habe einige Erfah-rungen im 1. Ausschuss gemacht –, darin, dass sie in denentsprechenden Angelegenheiten mit Augenmaß vorge-hen und nicht wegen jedes Essens oder jedes geschenk-ten Bleistifts Ermittlungen einleiten.
Es gibt auch den Kritikpunkt, wir setzten die UN-Konvention nicht um, weil sonst bei uns mit Ermittlun-gen zu rechnen sei; in Bananenrepubliken sei das mög-lich, weil dort die Staatsanwälte sowieso nicht gegenAbgeordnete ermitteln. Sie sollten sich aber anschauen,welche Länder diese Konvention bisher nicht umgesetzthaben. Das sind zum Beispiel der Sudan, Somalia unddie Bundesrepublik. Aber Staaten wie Norwegen, Frank-reich, Großbritannien und die USA haben diese Konven-tion umgesetzt. Bei diesen Ländern handelt es sich mit-nichten um Bananenrepubliken.
Wir sollten jetzt die Chance ergreifen und nach neunJahren endlich für eine Umsetzung sorgen, um uns nichtlänger dem Vorwurf auszusetzen, dass wir Korruptionbei anderen kritisieren, uns aber, wenn es um uns geht,auf einmal nicht in der Lage sehen, ein entsprechendesGesetz in Kraft zu setzen. Das ist peinlich. Das sollte ge-löst werden.
Ich merke, dass es ein bisschen Bewegung auch inden Reihen der Koalition gibt. Es hat mich sehr erfreut,dass der Bundestagspräsident, Herr Lammert, ein klaresBekenntnis in dieser Fragestellung abgegeben und da-rauf hingewiesen hat, dass wir dringend eine gesetzlicheRegelung brauchen.
Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann entsprechendie Vorstellungen des Bundestagspräsidenten ziemlichgenau dem, was wir klar definiert und hinreichend be-stimmt formuliert haben.
– Ich kann gerne die entsprechenden Stellen zitieren. –Ich freue mich auf jeden Fall auf die Auseinanderset-zung.Es ist richtig, dass wir in dieser Frage miteinanderdiskutieren. Hören Sie aber auf, eine Totalverweige-rungshaltung einzunehmen! Wir sollten uns auf den Wegmachen und endlich klare Regelungen – auch für uns –schaffen, damit der Verdacht, dass wir nur für uns Aus-nahmen schaffen wollen, ausgeräumt wird. Es wird Zeit.Deswegen fordere ich Sie auf: Machen Sie mit! Ein ent-sprechender Vorschlag liegt auf dem Tisch.Vielen Dank.
Frau Kollegin Lambrecht, ich freue mich ebenfalls
auf die Auseinandersetzung. Aber Sie verstehen sicher-
lich, dass ich von diesem Stuhl aus mich mit dieser
knappen Bemerkung begnüge.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Voßhoff für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren heute im Zusammenhang mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf der SPD zum, glaube ich, dritten Malin diesem Jahr in diesem Hause über das Thema Abge-ordnetenbestechung. Hintergrund der Diskussion sind– das ist von der Kollegin Lambrecht zur Einführung be-reits gesagt worden – die Antikorruptionsübereinkom-men der Vereinten Nationen und des Europarates. Dassdiese Abkommen seinerzeit von der von SPD und Grü-nen getragenen Bundesregierung für Deutschland unter-zeichnet, aber bislang nicht ratifiziert wurden, ist ein un-befriedigender Zustand. Wohl wahr!
Worin besteht aber der unbefriedigende Zustand? Ist esdie bisher fehlende Ratifizierung,
oder ist es nicht vielmehr das Dilemma, dass die Unter-zeichnung – wie der Vorsitzende des Rechtsausschussesund Kollege Siegfried Kauder es einmal beschrieben hat –schon ein Webfehler war,
weil uns die sich daraus ergebende Notwendigkeit derRatifizierung vielleicht vor eine unlösbare Aufgabestellt,
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19390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Andrea Astrid Voßhoff
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weil uns dadurch vorgegeben wird, unter Umständen dasMandat mit der Amtsträgereigenschaft gleichzusetzen,was für uns nicht umsetzbar ist?
Ich darf mir erlauben, an dieser Stelle einmal grund-sätzlich etwas zu dem Thema anzumerken; denn wir ha-ben heute viele Zuhörer. Aus der bisher fehlenden Ratifi-zierung darf nun nicht geschlussfolgert werden – auchwenn dies immer wieder getan wird –, dass wir inDeutschland mit der Korruptionsbekämpfung bei Abge-ordneten gegenüber manch anderen Staaten hoffnungs-los ins Hintertreffen geraten,
die ein solches Übereinkommen, wie auch immer, ratifi-ziert haben. Aus diplomatischer Rücksichtnahme willich hier gar keine nennen. Wenn uns aber diejenigen, dieständig die Ratifikation fordern, wirklich einreden wol-len, dass wir in Deutschland ohne eine solche Ratifika-tion in der Korruptionsbekämpfung bei Abgeordnetendiesen Staaten hinterherhinken, dann weise ich das zu-rück.
Ich habe gerade von einer vielleicht unlösbaren Auf-gabe gesprochen. Die Tatsache, dass wir heute bereitsden dritten Versuch einer gesetzlichen Regelung zumThema Abgeordnetenbestechung vorliegen haben, zeigtwohl das grundsätzliche Problem: Wie kann das Ganzegeregelt werden?Die beiden Gesetzentwürfe, die von den Linken undden Grünen vorgelegt worden sind, sind aus gutenGründen abzulehnen. Darüber haben wir häufig genugdiskutiert. Der heute von der SPD vorliegende Entwurfbegegnet ebenfalls erheblichen Bedenken. Die Materieist nun einmal strafrechtlich außerordentlich kompliziertund verfassungsrechtlich vielschichtig. PopulistischeSchnellschüsse wie die beiden Gesetzentwürfe der Grü-nen und der Linken sind schon deshalb grundsätzlichverfehlt.
Auch die Stellungnahme des Anwaltvereins, der jaunverdächtig ist, den Abgeordneten nach dem Munde zureden, hat in einem, man kann fast sagen, Totalverrissder Gesetzentwürfe der Linken und der Grünen darge-legt, dass diese Entwürfe eben nicht geeignet sind, diegrundsätzliche Schwierigkeit einer über den bisherigenTatbestand des § 108 e StGB – darin geht es nur um denStimmenkauf – hinausgehenden Erfassung als korruptbezeichneter Verhaltensweisen zu überwinden und sieunter Wahrung verfassungsrechtlicher Vorgaben unterStrafe zu stellen.
Ich befürchte, dass eine Bewertung des SPD-Entwurfsnicht wesentlich besser ausfallen würde.Überhaupt fragt man sich – Frau Kollegin, Sie hattenvorhin die Daten genannt; darüber wurde bereits häufi-ger diskutiert, und das darf man auch wieder tun –,warum die Oppositionsfraktionen, die seinerzeit Re-gierungsfraktionen waren, denn damals nach der Unter-zeichnung nicht gehandelt haben.
Sie hatten nach der Unterzeichnung der UN-Konven-tion zwei Jahre Zeit, und beim Europaratsabkommenvon 1999 waren es immerhin sechs Jahre. Was haben Siegemacht? Nichts. Wir haben an dieser Stelle häufig ge-nug die Worte Ihres damaligen rechtspolitischen Spre-chers Stünker zitiert – das könnte ich mir heute eigent-lich ersparen –, der im September 2008 das rot-grüneScheitern hier im Plenum ausreichend kommentiert hat,indem er sagte:Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wirdurften sie– gemeint waren Ihre Vorschläge –nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünenblockiert haben. … Das war eine Regelung, diedem Kollegen Beck zu weit und dem KollegenStröbele nicht weit genug ging.
Frau Voßhoff, darf die Kollegin Lambrecht Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Voßhoff, Sie haben ja angesprochen,dass auch in der rot-grünen Regierungszeit kein Vor-schlag unterbreitet wurde. Das ist richtig. Ich erlaube mirin diesem Zusammenhang aber noch einmal, an die zeit-lichen Abläufe zu erinnern, und möchte Sie bitten, mirdas entsprechend zu bestätigen.2003 gab es diese Konvention; das ist richtig. UnterRot-Grün haben wir uns dann relativ zügig an die Arbeitgemacht. Sie haben beschrieben, dass es in der damali-gen Koalition nicht ganz einfach war, zueinanderzukom-men, weil es sich eben um keine einfache Regelungs-materie handelt. Wir hatten uns aber trotzdemdarangemacht. Es gab unterschiedliche Entwürfe. Diekonnten dann allerdings nicht mehr eingebracht werden,weil 2005 vorgezogene Neuwahlen angesetzt waren. Da-nach gab es eine Große Koalition, in der die SPD diesesThema weiterhin auf die Tagesordnung gebracht hat.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19391
Christine Lambrecht
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Vom Koalitionspartner CDU/CSU kam aber damals dieklare Ansage: In dieser Fragestellung werden wir aufkeinen Fall etwas auf den Weg bringen wollen. – Auf-grund der Koalitionsvereinbarung, dass Gesetze ebennur gemeinsam eingebracht werden dürfen, mussten wirdann darauf verzichten, dieses Thema weiterhin zu ver-folgen.Deswegen bitte ich, doch zur Kenntnis zu nehmen,dass es in der Großen Koalition nicht die SPD war, dieuntätig war – genauso wenig wie in der rot-grünen Re-gierungszeit –, sondern dass es in der Großen Koalitiongerade Ihre Fraktion war, die in dieser Frage ganz kon-kret geblockt hat.
Frau Kollegin Lambrecht, ich habe nicht von der Zeitder Großen Koalition gesprochen.
– Ja, das ist doch in Ordnung; dazu stehe ich auch.
Wir können das auch gerne diskutieren. Das ist nicht derPunkt. – Wir haben über die Zeit von 2003 bis 2005 ge-sprochen. Da hat bekanntermaßen Rot-Grün regiert. Ja,Gott sei Dank ist das vorzeitig beendet worden. Nichts-destotrotz hätte es Zeit gegeben.
Das beweist das Zitat des Kollegen Stünker doch eindeutig.
Meine Damen und Herren, es gab übrigens auch Zei-ten, in denen das Thema zwischen Opposition und Re-gierung sehr ausgewogen beraten wurde,
nämlich bei der Schaffung des § 108 e im Jahre 1993,bei der das Thema Abgeordnetenbestechung sehr wohlauch Gegenstand war – logisch! – und man zu dem Er-gebnis gekommen ist, das Sie heute hier kritisieren. DieKollegen haben sich damals sehr abgewogen mit demBestimmtheitsgrundsatz befasst.
In den Begründungen der damaligen Gesetzentwürfenicht nur von CDU/CSU und FDP, sondern auch von derSPD heißt es – ich darf zitieren –:Der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung kannnicht dem der Beamten- und Richterbestechungnachgebildet werden.
… Bei der Ausübung von Stimmrechten im Parla-ment spielen oft auch politische Gesichtspunkteund Rücksichtnahmen eine Rolle. Es ist nicht zubeanstanden, wenn bei der Stimmabgabe politischeZwecke mitverfolgt werden, die den eigenen Inte-ressen des Stimmberechtigten entgegenkommen.
Bei zahlreichen Abgeordneten ist die Zugehörigkeitzu einer gesellschaftlichen Gruppe von wesentli-cher Bedeutung für ihre Aufstellung als Kandidat.Von dem Abgeordneten erwartet die gesellschaftli-che Gruppe dann auch, daß er sich für ihre Belangeeinsetzt. …Die Tätigkeit der Abgeordneten reicht über das ei-gentliche parlamentarische Wirken hinaus in dasallgemeine politische Geschehen, wo scharf ab-grenzbare Verhaltensvorschriften fehlen.Liebe Kollegen von der SPD, Ihre damaligen Er-kenntnisse hätten Sie vielleicht auch heute berücksichti-gen sollen.
Sie betonen in der Begründung Ihres heute vorliegen-den Entwurfs zu Recht, dass es darum gehen müsse, dieAbgrenzung zwischen erlaubtem Tun und strafbewehr-tem Verhalten in der Hand des Gesetzgebers zu belassen,nicht in die Hände der Staatsanwaltschaften und Ge-richte zu geben. Diesem eigenen Anspruch werden Siedann aber nicht gerecht. In § 108 e Abs. 3 StGB in dervon Ihnen vorgeschlagenen Fassung versuchen Sie mehrschlecht als recht, mit Negativbeispielen, also mit einerBeschreibung dessen, was nicht strafbar sein soll, ir-gendeine Form der Abgrenzung hinzubekommen. Im Er-gebnis überlassen Sie es dann in verfassungsrechtlichbedenklicher Weise eben doch der jeweiligen Auslegungder Staatsanwaltschaft, was parlamentarischen Gepflo-genheiten entspricht und was nicht.
Ebenso ungeeignet ist Ihr Versuch der Definition derstrafbaren Vorteilsannahme, wie er auf Seite 3 Ihres Ent-wurfs in der Begründung sinngemäß zu lesen ist: EineStrafbarkeit der Vorteilsnahme soll dann nicht der Fallsein, wenn der Mandatsträger gemäß seiner innerenÜberzeugung handelt,
die Vorteilsgewährung das Verhalten des Mandatsträgersalso nicht beeinflusst hat. Meine Damen und Herren vonder SPD, Ihr Vorschlag läuft auf eine Gesinnungsprü-fung und Gewissensrechtfertigung eines Abgeordnetengegenüber einem Staatsanwalt hinaus
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19392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Andrea Astrid Voßhoff
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und konterkariert geradezu die verfassungsrechtlicheStellung des freien und nur seinem Gewissen unterwor-fenen Abgeordneten.
Ich sage das auch in Richtung unserer Zuhörer heute:Wir sollten uns in dieser Debatte auch einmal in Erinne-rung rufen, was die verfassungsgemäße Aufgabe vonAbgeordneten ist. Bei der Suche nach einer Antwortgeht es nicht um das Selbstverständnis jeder einzelnenPerson, sondern auch um Fragen des Parlamentarismusund der verfassungsrechtlichen Stellung, Aufgabe undVerantwortung von uns Abgeordneten nach Art. 38 GG.Ich finde, ein Blick in die Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts vom 4. Juli 2007 fördert da sehr Erhel-lendes und Eindrucksvolles zutage – ich darf zitieren –:Dem von Art. 38 Abs. 1 GG gewährleisteten freienMandat des Abgeordneten entspricht es, dass dieAbgeordneten über die Art und Weise der Aus-übung des Mandats grundsätzlich frei und in aus-schließlicher Verantwortlichkeit gegenüber demWähler entscheiden.
… Dafür bedarf es keiner rechtsförmigen Kriterien;die wertende Beurteilung soll vielmehr gerade deröffentlichen Diskussion und letztlich dem Wähleranheim gegeben werden.Noch viel treffender besagt das Urteil unter Rand-nummer 262:Wer freie Abgeordnete will, muss auch ein Min-destmaß an Vertrauen aufbringen, dass die vomVolk Gewählten ganz überwiegend mit Umsichtund verantwortlich mit ihrer Freiheit umgehen.
Das Prinzip der Freiheit verlangt, dass nur derMissbrauch gezielt und konsequent bekämpft wird,aber nicht, dass aus dem abweichenden VerhaltenWeniger zuerst ein Ambiente des Misstrauens ge-schürt und sodann eine lückenlose Kontrolle auchder redlich Arbeitenden verlangt wird.Ich denke, meine Damen und Herren, dem ist eigent-lich nichts mehr hinzuzufügen,
was die Stellung von Abgeordneten betrifft.Keiner von uns, keiner, der hier gegen Ihren Gesetz-entwurf redet, ist für Korruption; das ist überhaupt keineFrage.
Aber wenn entsprechende gesetzliche Regelungen dazuführen würden, dass gerade in Fällen von Wahlkämpfendurch falsche Anzeigen die Staatsanwaltschaft verpflich-tet wird, zu ermitteln,
dann wird dies zu einem politischen Instrument. Das istfür uns nicht tragbar.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Sharma das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worüberreden wir heute? Wir reden über Vertrauen: Vertrauen indie Politik, Vertrauen in Politiker und Vertrauen in dieparlamentarische Demokratie ganz allgemein. Konkretreden wir über einen Gesetzentwurf zur Änderung desStrafgesetzbuches und eines Straftatbestandes, der dieAbgeordnetenbestechung regeln soll. Abgeordnetenbe-stechung ist heute im Grunde nicht geregelt. Es ist nurdas Verbot des Stimmenkaufs geregelt.Wie soll man sich Stimmenkauf vorstellen? Es istklar, dass so etwas in der Praxis kaum Anwendung fin-det; denn wenn jemand wirklich vorhat, die Stimme ei-nes Abgeordneten zu kaufen, werden da in der Regelkeine Verträge schriftlich verfasst und unterschrieben.
Insofern ist es klar, dass dieses Gesetz, so wie wir esjetzt haben, im Grunde ein Placebogesetz ist, bei dem esdringenden Änderungsbedarf gibt.
Nichtsdestotrotz und ohne dass man hier überall im-mer gleich Böswilligkeit und kriminelles Handeln unter-stellen muss, ist es wohl unumstritten, dass Abgeordnetein Korruptionsgeflechte eingebunden sind. Das ist keineFormulierung, die von mir stammt; das ist eine Formu-lierung, die aus einer Bundesratsinitiative des LandesNordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2002 stammt. Sie warschon damals richtig. Diese Bundesratsinitiative ist– wie so viele Initiativen, die in diesem Bereich entwi-ckelt worden sind – im Ausschuss verschwunden undnicht weiter behandelt worden. Aber der Ansatz warrichtig. Das ist jetzt fast zehn Jahre her.Blicken wir einmal von Nordrhein-Westfalen etwasweiter nach Norden und in die Gegenwart: nach Sylt.Dort gab es im vergangenen Jahr ein Treffen auf Einla-dung der Glücksspiellobby mit Spitzenpolitikern vonCDU und FDP, um dort gemeinsam darüber zu reden,
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Raju Sharma
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wie man die Weichen für eine Liberalisierung desGlücksspielmarktes stellen könne.
– So ist es. Richtig, das ist auch „Sylt-Sause“ genanntworden. – Die Weichen sind auch gestellt worden; denndieses Treffen fand interessanterweise am gleichen Tagstatt, an dem die Entscheidung in der Staatskanzlei ge-troffen worden ist, hier als Land Schleswig-Holstein ei-nen Sonderweg zu gehen.Ich würde jetzt nicht definitiv sagen können – undman kann es auch nicht beweisen –, dass das eine dieLeistung und das andere die Gegenleistung gewesen ist.Aber zumindest ein Geschmäckle hat es mit Sicherheit.Wir als Politiker haben hier die Verantwortung.
– Wir reden über Straftaten, Herr Kollege Kauder; wirreden aber auch darüber, wie wir Vertrauen in die Politikschaffen wollen. Es gibt aufgrund solcher Vorgehens-und Verhaltensweisen Misstrauen bei den Bürgerinnenund Bürgern. Wenn wir diesem Misstrauen begegnenwollen, können wir uns nicht hinstellen und sagen: „Wirsind erhaben über dieses Misstrauen, weil wir Politikersind“, sondern wir müssen es aufnehmen.
Herr Kollege Sharma, würden Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Grosse-Brömer gestatten?
Ja, gern.
Herr Kollege Sharma, vielen Dank, dass Sie die Zwi-
schenfrage zulassen. – Ich will auf Ihr Beispiel zurück-
kommen. Ich weiß nicht, wie Sie dieses Treffen bewertet
hätten, wenn es unter den gleichen Voraussetzungen
nicht auf Sylt, sondern in Berlin
stattgefunden hätte. Vielleicht ist es, gerade weil es auf
Sylt stattgefunden hat, plötzlich eine Sause. Das Schöne
ist, dass Sie offenkundig darüber Bescheid wissen – wie
alle anderen auch –, weil natürlich von einer sehr auf-
merksamen Presse sehr ausführlich beschrieben wurde,
was dort alles stattgefunden hat – eine Sache, die in
Deutschland offenbar funktioniert.
Sind Sie nach Ihrer eigenen Schilderung der Auffas-
sung, dass wir dieses Problem künftig dadurch lösen,
dass ein Staatsanwalt in Regelfällen bei betroffenen
Politikern nach einer relativ schnell gestellten Anzeige
bewertet, ob das jetzt eine parlamentarische Gepflogen-
heit ist und ob es auch deshalb strafbar ist, weil so ein
Treffen auf Sylt stattgefunden hat und nicht in Berlin im
Jakob-Kaiser-Haus? Entspricht es Ihrer Vorstellung von
effizienter Bestrafung und besserer Überwachung von
Abgeordnetenbestechlichkeit und soll es so sein, dass
ein Staatsanwalt dann künftig bewerten muss, ob ein
Treffen auf Sylt oder ein Treffen in Berlin den parlamen-
tarischen Gepflogenheiten entspricht oder nicht? Ist das
effizient – auch im Hinblick auf Ihre Aufgabe als Abge-
ordneter?
Herr Kollege Grosse-Brömer, lassen Sie mich zweiAspekte ansprechen. Zunächst eine Bemerkung zu Sylt.Sylt ist eine wunderschöne Insel in Schleswig-Holstein,wo man wunderbar Ferien machen kann und wo sich be-kanntermaßen nicht nur Filmproduzenten und Bundes-präsidenten treffen und Urlaub machen, sondern wo sichinsgesamt die Schönen, Reichen und Mächtigen treffen.Wenn man Sylt kennt, dann kann man das auch nach-vollziehen. Also: nichts gegen Sylt. Aber wenn dort, wosich die Schönen, Reichen und Mächtigen treffen, aufEinladung der Glücksspiellobby eine Veranstaltung statt-findet, bei der es genau um dieses Thema geht – man re-det in schönem Ambiente über Blackjack und Lotto –,dann hat das einen gewissen Beigeschmack.
– Vergessen Sie Blackjack. Das soll der Staatsanwalt ausmeiner Sicht nicht entscheiden. Ich halte den Vorschlagder SPD an dieser Stelle für zu unkonkret; darauf werdeich später eingehen. Wir brauchen konkretere Regelun-gen, mit denen nicht nur die Staatsanwaltschaft etwasanfangen kann, sondern auch die Betroffenen selbst. Esmuss klare Spielregeln geben, damit auch die Bürgerin-nen und Bürger wissen, was erlaubt ist und was nicht.
Das Treffen auf Sylt – wir können es Sylt-Sause nen-nen oder auch nicht – ist keine Ausnahme; Ähnliches er-leben wir in unserer tagtäglichen Praxis. Es gibt viele an-dere Beispiele, die ein Geschmäckle haben. Wenn einBundestagsabgeordneter, der beispielsweise für den Be-reich Gesundheit zuständig ist, regelmäßig Vorträge beider Pharmalobby hält, für die er ein Honorar zwischen1 000 und 3 500 Euro bekommt – das ist transparent; daskann man aufgrund der Veröffentlichungspflichten nach-vollziehen –, dann würde ich nicht unbedingt unterstel-len, dass das Honorar für diese Vorträge unangemessenist, aber trotzdem stellt sich die Frage, ob sich nicht ingewisser Art und Weise Dankbarkeitsverhältnisse undVerpflichtungen entwickeln,
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19394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Raju Sharma
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allein dadurch, dass man regelmäßig Geld bekommt.
– Ich komme gleich zum Thema Strafbarkeit und werdeIhnen einen ganz konkreten Vorschlag machen.
– Genau das ist ja das Problem. Auch da stellen sich Fra-gen. Das alles erzeugt Misstrauen bei den Bürgerinnenund Bürgern, und diesem Misstrauen müssen wir begeg-nen; denn Vertrauen ist der wichtigste Wert in der Poli-tik. Dieses Vertrauen müssen wir stärken.
Eingangs wurde bereits erwähnt, dass es schon seitlangem Handlungsbedarf gibt. Ein Gesetzentwurf istüberfällig. Die rot-grüne Regierung hat 2003 vieles ge-macht, was wir als Linke überhaupt nicht gut finden. DieAgenda 2010 ist nur ein Beispiel.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich willausdrücklich loben, dass die SPD-geführte Bundesregie-rung unter Gerhard Schröder im Jahr 2003 die UN-Kon-vention gegen Korruption unterzeichnet hat. Das warrichtig gut; das haben Sie gut gemacht. Das Problem ist– das ist schon gesagt worden –, dass es danach erst ein-mal für lange Zeit einen Stillstand gab.Im Moment haben wir die Situation, dass CDU, CSUund FDP die Ratifizierung und Umsetzung weitererRichtlinien verhindern. Das finde ich bemerkenswert.Erst am Montag haben wir über das Hilfspaket für Grie-chenland abgestimmt. Nun sagt der Fraktionsvorsitzendeder FDP, Herr Brüderle, den Griechen, sie sollen Maßhalten, sie sollen die Korruption bekämpfen und sichinsgesamt am deutschen Michel orientieren. Dabei ha-ben die Griechen, wie viele andere Staaten auch, im Ge-gensatz zu Deutschland einen erweiterten Straftatbe-stand, der die Abgeordnetenkorruption in umfassendererWeise unter Strafe stellt.
– Überlegen Sie sich gut, ob es richtig ist, über einenMitgliedstaat der Europäischen Union im DeutschenBundestag so hämisch zu lachen. Sie wollen Europäersein? Ich finde, das ist Häme, das ist deutsche Groß-mannssucht.
Die Griechen haben entsprechende Richtlinien, genausowie die Finnen, die Franzosen und andere. Sie könnensich überall in Europa und in der Welt umgucken – eswurde schon gesagt –: Deutschland steht auf einer Ebenemit dem Sudan.Zur CDU/CSU. Sie sind eigentlich die Fraktion vonLaw and Order, die jeden Kiffer und jeden Falschparkermit drakonischen Strafen versehen will. Jetzt schauenSie auf einmal weg, man hört, weitere Maßnahmen seiennicht nötig; denn es geht um die eigene Sache, es gehtum eigene Privilegien. An die will man nicht herange-hen. Das sind doppelte Standards, das ist doppelbödig,und das ist nicht in Ordnung.
Indem Sie seit Jahren verweigern, diesen Straftatbestandeinzuführen, betreiben Sie mindestens Arbeitsverweige-rung. In einem anderen Zusammenhang wäre es Straf-vereitelung im Amt.
Die verschiedenen Initiativen sind schon angespro-chen worden. In dieser Wahlperiode waren die Linkendie Ersten: Wir haben im Jahr 2010 einen Gesetzentwurfvorgelegt. Die Grünen folgten im Jahr 2011, die SPD indiesem Jahr, im Jahr 2012. Wenn wir in diesem Tempoweitermachen, legt die FDP vielleicht im Jahr 2014 ei-nen Gesetzentwurf vor, vielleicht, weil dann die Wahlpe-riode zu Ende ist. Alles andere weiß man auch nicht.
Das dauert alles viel zu lange. Wir müssen schnellervorangehen. Deswegen ist die Initiative gut. Die Tolerie-rung politischer Korruption, wie sie jetzt gehandhabtwird, schwächt den Kampf gegen Korruption insgesamt.
Zum Gesetzentwurf der SPD. Ich habe ihn wirklichsorgfältig durchgelesen. Die erste Seite finde ich ganzprima. Ich habe da ganz viele Haken angebracht. Allesrichtig: die Problembeschreibung, grundsätzlich die Lö-sung, auch die Alternativen sind richtig beschrieben, undzu den Kosten brauche ich nichts zu sagen.Das Problem aber ist die Formulierung – das ist hierschon gesagt worden –, dass Zuwendungen, die „parla-mentarischen Gepflogenheiten“ entsprechen, ausgenom-men werden sollen. Das ist sehr allgemein formuliert;das sage ich auch als Jurist. Wenn ich so eine Formulie-rung lese, gehen bei mir die Alarmglocken an. Das wirdnoch näher ausgeführt. Hier heißt es, dass die Bewirtungbei Informationsgesprächen und Festveranstaltungen inOrdnung sein soll, dass das, was üblich ist, in Ordnungsein soll. Die Teilnahme an sportlichen und kulturellenVeranstaltungen soll in Ordnung sein, auch der unent-geltliche Transport zu einer Veranstaltung und die Über-nahme der Übernachtungskosten. Das Gleiche gilt fürInformationsreisen. Das sind genau die Beispiele, die Sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19395
Raju Sharma
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in den Korruptionsrichtlinien der Landesregierungen fin-den.
Die Landesregierungen untersagen all das ihren Beam-ten und Angestellten.
– Darauf komme ich gleich zu sprechen. – All das wirdBeamten und Angestellten untersagt. Bei Abgeordnetensoll das alles möglich sein.
Dann sind das alles parlamentarische Gepflogenheiten.Auf diese Beispiele setzen Sie noch eines drauf, in-dem Sie auf die „allgemeine Lebenserfahrung“ abheben.Meine allgemeine Lebenserfahrung sagt mir etwas, wasich hier nicht aussprechen möchte. Ich befürchte, dassviele Bürgerinnen und Bürger das genauso sehen. Wirkönnen nicht die allgemeine Lebenserfahrung zum Maß-stab für das Handeln machen und die Beurteilung dessenin die Hände eines Staatsanwalts oder einer Staatsanwäl-tin legen.
Das Problem ist, dass hier der Versuch unternommenwird, Politikern Privilegien einzuräumen. Sie haben völ-lig recht: Beamte sind keine Abgeordneten, und manmuss sie anders behandeln als Parlamentarier.
Der Grundsatz ist aber der gleiche – diesen Grundsatzfinden Sie in den Korruptionsrichtlinien und den ent-sprechenden Erlassen –: Die Annahme von Aufmerk-samkeiten kann ein Einfallstor für Korruption sein. Demmüssen wir begegnen, weil genau das Misstrauen aus-löst.Ich nehme einmal ein ganz konkretes Beispiel: Wennmeine Katze wegläuft und ein Polizeibeamter so freund-lich ist, sie mir nach seinem Feierabend nach Hause zubringen, sodass ich überglücklich bin, darf ich ihm keineFlasche Wein geben. Ich darf sie ihm zwar anbieten, aberer muss dieses Dankeschön abschlagen. Bei Politikernwäre das überhaupt kein Problem, und bei diesen bleibtes auch nicht bei einer Flasche Wein.
Ich will Ihnen sagen, was wir brauchen: Wir brauchenklare Regeln, um dem begegnen zu können. Eine klareRegel wäre zum Beispiel eine Bagatell- oder Erheblich-keitsgrenze.
Ich sage Ihnen auch: Ich würde diese Grenze ziemlichniedrig ansetzen. Ich würde sie bei 10 Euro ansetzen.Für 10 Euro kann man sich durchaus von HerrnMaschmeyer, wenn man das möchte, auf einen Kaffeeeinladen lassen. Für 10 Euro ist sogar ein Stück Kuchendrin. Wenn Sie aber ein Abendessen oder schöne Wein-runden haben möchten, dann müssen Sie die selbst be-zahlen. Das ist zumutbar. Wir bekommen anständigeDiäten, und wir erhalten Aufwandsentschädigungen.Das ist alles möglich. Wir können das selbst bezahlen.Ich möchte nicht, dass bei den Bürgerinnen und Bürgernder Eindruck entsteht, der Bundestag sei eine Schnor-rerbude. Das ist er nämlich nicht.
Ich komme zum Schluss. Es ist sinnvoll, Abgeordne-tenkorruption unter Strafe zu stellen. Sinnvoll ist es, keinSonderrecht für Abgeordnete und Parlamentarier zuschaffen. Bezüglich der Details sind wir immer zu Ge-sprächen bereit. Statt dieses Placebogesetzes brauchenwir endlich eine bittere Pille für korrupte Abgeordnete.Das müssen wir schaffen.Vielen Dank.
Jörg van Essen ist der nächste Redner für die FDP-
Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe zu denen ge-hört, die im Jahre 1993 zusammen mit dem KollegenHans de With von der SPD den Versuch unternommenhaben, die Situation, die wir damals vorgefunden haben– seit dem Jahr 1953, in dem eine entsprechende Bestim-mung aufgehoben worden ist, hatten wir überhaupt keineStrafbarkeit –, sorgfältig zu analysieren, auch im Rah-men von Anhörungen.Nachdem wir uns die verschiedenen Fragestellungensehr sorgfältig angeschaut hatten, waren wir gemeinsamzu dem Vorschlag gekommen, die jetzige Vorschrift be-züglich des Stimmenkaufs – § 108 e StGB – in denDeutschen Bundestag einzubringen. Das ist damals auchmit den Stimmen der SPD verabschiedet worden. Auchdie SPD hat damals – zu Recht, wie ich finde – gesagt,dass alle Versuche, auch anderes Verhalten strafrechtlichzu fassen, in die Irre führen.
Ich bin der Auffassung, dass das weiterhin gilt.Interessant ist im Übrigen, dass hier immer als Not-wendigkeit angeführt wird, dass es internationale Ab-kommen gibt – es gibt sie –, dass aber nie als Notwen-digkeit angeführt wird, dass wir irgendeinen Fall haben,der eigentlich bestraft gehört.
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19396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Jörg van Essen
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Ich bin sehr froh, dass das so ist. Ich finde, dass daszeigt, was unsere wichtigste Aufgabe ist. Unsere vor-nehmste Aufgabe ist nämlich, unsere Amtsverhältnisseso zu gestalten, dass es nach Möglichkeit keine Beste-chung im Bundestag und auch überhaupt keinen Anreizdafür gibt.
Deshalb möchte ich damit anfangen und nicht mit demStrafrecht, wie man es vielleicht von einem Oberstaats-anwalt wie mir erwarten könnte.
Der erste Punkt bei der Verhinderung von Korruption,der mir ganz wichtig ist, ist: Ein Parlament darf nicht zuklein werden. In einem kleinen Parlament bestimmtpraktisch der einzelne Berichterstatter, was verabschie-det wird; dies macht ihn anfällig für Angebote. In einemParlament wie unserem, in dem schon in den Fraktionenbreit diskutiert wird, merken die Kollegen sehr schnell,wenn ein Kollege, dessen Meinung man in aller Regelkennt, plötzlich andere Auffassungen vertritt. Die Kolle-gen werden dann überrascht nachfragen und dafür sor-gen, dass die Argumente, wenn es keine guten sind, niedas Licht des Deutschen Bundestages erblicken. Das istaktive Vorbeugung gegen Korruption.Der zweite Punkt, der mir ganz wichtig ist – auch dasspielt kaum eine Rolle in der Diskussion –, ist, dass wirAbgeordnete brauchen, die nicht von der Politik abhän-gig sind,
die einen Beruf haben, in den sie zurückkehren können.Wer beispielsweise Rechtsanwalt ist und nach der Zeit inder Politik wieder als Rechtsanwalt tätig werden kann,wer wie ich Beamter ist und eine Garantie hat, in denBeruf zurückkehren zu können, der wird sich ganz an-ders verhalten als jemand, der nicht über einen solchenBeruf verfügt und deshalb große Sorgen hat, was ausihm wird. So jemand wird eher Gefälligkeiten umsetzenals jemand, der vor seiner Zeit im Deutschen Bundestageinen Beruf ausgeübt hat, in den er zurückkehren kann,und der daher selbstbewusster ist.
Deshalb – das ist der nächste Aspekt, den ich gerneansprechen möchte – brauchen wir Verhaltensregeln, dieTransparenz schaffen. Ich glaube, dass wir da gut voran-gekommen sind.
Ich gestehe zu – ich schaue den Kollegen Beck an –,dass ich da und dort kritisch war.
Aber ich muss sagen: Manches, das ich kritisch gesehenhabe, hat sich inzwischen bewährt. Transparenz führt na-türlich auch dazu, dass weniger Korruption stattfindenkann. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Vor-beugung von Korruption im Deutschen Bundestag.Ich glaube, dass das bei uns bisher sehr gut funktio-niert hat. Wenn ich mich recht entsinne, dann hat es bis-her nur zwei Fälle von wirklichem Stimmenkauf gege-ben; das wäre strafbar gewesen. Das war das Kaufen vonStimmen durch die Stasi der DDR bei einem Votum1972.
– Ja, Herr Kollege.
Darf der Kollege Montag Ihnen eine Zwischenfrage
stellen?
Bitte.
Herr Kollege Montag, bitte schön.
Danke schön, Kollege van Essen, ich hatte auf die Er-
laubnis des Präsidenten gewartet. – Sie führen, wie ich
finde, völlig zu Recht aus, dass wir im Deutschen Bun-
destag seit vielen Jahren zum Glück überhaupt keinen
Fall von Bestechung oder Bestechlichkeit kennen und
dass es in der Vergangenheit nur sehr wenige Fälle gege-
ben hat. Würden Sie mir zustimmen, dass dieser Blick-
winkel auf den Deutschen Bundestag bei dieser Debatte
über die Strafbarkeit viel zu eng ist?
Denn die internationalen Verträge, die wir eingegangen
sind, und die Gesetzentwürfe, die hierzu in der Vergan-
genheit und auch jetzt vorgelegt worden sind, umfassen
alle Abgeordneten der Kommunen, der Bezirke, der
Länder und des Bundes. Für die Zehntausenden von
Kolleginnen und Kollegen auf allen diesen Ebenen ist
das Bild schon ein bisschen anders, Herr Kollege van
Essen.
Vielen Dank. – Sie haben jetzt einen Punkt angespro-chen, auf den ich ohnehin gekommen wäre. Dafür binich Ihnen ganz dankbar; denn so spare ich Redezeit.Was, glaube ich, sehr hilft – das ist der erste Teil mei-ner Antwort –, ist unsere offene Immunitätsregelung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19397
Jörg van Essen
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Bei uns weiß jeder Abgeordnete: Wenn er etwas pek-ziert, dann findet sofort Strafverfolgung statt. Bei unswird nicht so verfahren wie in Frankreich, wo ganz langeImmunität herrscht und irgendwann, ganz spät, Strafver-folgung stattfindet.Da Sie praktizierender Rechtsanwalt sind – auch ichkomme aus dem Bereich der Justiz –, wissen Sie: Je spä-ter eine Verhandlung stattfindet, desto günstiger ist diesfür den Beschuldigten bzw. den Angeklagten, weil sichdie Zeugen dann schlechter erinnern können. Deshalbträgt unsere offene Immunitätsregelung mit dazu bei,dass solch strafwürdiges Verhalten bei uns seltener vor-kommt als in anderen Ländern.
Was Sie zu Recht angesprochen haben – Herr Kol-lege, ich möchte weiter auf Ihre Frage antworten –,
ist die Situation insbesondere in den Kommunalparla-menten. Dort gab es entsprechende Vorgänge; das ist un-bestreitbar. Ich weise allerdings darauf hin, dass derBundesgerichtshof in einer Entscheidung deutlich ge-macht hat, dass die Vorschrift des § 108 e StGB viel wei-ter auszulegen ist, dass sie als Unternehmensdelikt aus-gestaltet ist und dass die Strafbarkeit deshalb schon sehrfrüh beginnt.Sie, Frau Kollegin Lambrecht, haben in dieser De-batte wieder die Behauptung aufgestellt, dass das Ganzeins Leere läuft.
Wer sich die Entscheidung des Bundesgerichtshofes an-schaut, stellt fest: Der BGH hat sehr deutlich gemacht,
dass das Gericht dies übersehen hat und unsere Entschei-dung, den § 108 e StGB als Unternehmensdelikt aus-zugestalten, auch die Möglichkeit eröffnet, ein solchesVerhalten, beispielsweise in Kommunalparlamenten,strafrechtlich zu erfassen.
Von daher bin ich der Auffassung, dass wir eine ganzeMenge unternommen haben, um unser Parlament nachMöglichkeit von Korruption frei zu halten.
Es hat hier immer wieder eine Rolle gespielt, welcheinternationalen Vereinbarungen von den verschiedenenBundesregierungen, insbesondere von der rot-grünenBundesregierung, abgeschlossen worden sind. Daran er-innere ich mich sehr gut. Die rot-grüne Bundesregierungist von allen damals im Bundestag vertretenen Fraktio-nen – von der SPD als stärkster Fraktion, von der CDU/CSU, von den Grünen und von der FDP – gebeten wor-den, die Konvention nicht zu unterzeichnen.
– Das war so.
Ich war bei den Gesprächen mit der Bundesregierungselbst dabei.
Die Bundesregierung ist selbstverständlich von allenFraktionen gebeten worden, die Konvention nicht zu un-terzeichnen.Was war der Grund dafür, dass alle Fraktionen diesgefordert haben? Der Grund war sehr nachvollziehbar.Es war nämlich beabsichtigt, in dieser internationalenKonvention alle Amtsträger
einschließlich der Abgeordneten gleichzubehandeln.Das ist angesichts unseres nationalen Rechts nicht umzu-setzen.
Ich habe deutlich gemacht: Ich bin von der Ausbil-dung her Jurist und von Beruf Oberstaatsanwalt – unddamit Beamter. Somit war vollkommen klar: Wenn ichbei Ermittlungen ein Gespräch geführt habe, habe ichkein Geschenk angenommen; das ist für Beamte einganz klarer Pflichtenkreis. Aber als Abgeordneter giltfür mich Art. 38 des Grundgesetzes. Wenn man zumBeispiel – es sind ja schon einige Beispiele angeführtworden – einen Betrieb besichtigt, etwa einen Bäckerei-betrieb, dann bekommt man danach in aller Regel einGastgeschenk.
Es ist auch eine Frage der Höflichkeit, dieses dann anzu-nehmen.
– Woher wissen Sie denn, dass die Unrechtsvereinba-rung fehlt?
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19398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Jörg van Essen
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Das wäre nämlich der nächste Satz gewesen, den ich sa-gen wollte: Damit wird häufig der Wunsch verbunden,
dass man sich für die Interessen des Betriebes, die ge-rade vorgestellt und in aller Regel gut begründet wordensind, einsetzt.
Das macht deutlich, dass wir hier in einer ganz schwieri-gen Situation sind.Die Kollegin Lambrecht hat die Erwartung geäußert,dass die Staatsanwälte all das, was die SPD formulierthat, nicht so eng sehen würden.
Das ist doch schier unfassbar! Wir befinden uns hier imBereich des Strafrechts.
Und hier gilt das Bestimmtheitsgebot. Es kann nichtsein, dass Sie irgendwelche Hoffnungen gegenüber denStrafverfolgern äußern,
sondern es muss doch ganz klar definiert sein, was straf-bar ist und was nicht.
– Dass Sie es nicht gemacht haben, hat Ihnen der Kol-lege Raju Sharma ja schon vorgeführt. Sie normieren et-was in dem einen Paragrafen, und im nächsten Absatzführen Sie aus, was alles nicht strafbar sein soll. Das istdoch schier unfassbar.
Herr Kollege van Essen, darf auch der Kollege
Ströbele eine Zwischenfrage stellen?
Beim Kollegen Ströbele tue ich mich immer ganz
schwer, aber bitte sehr.
Warum eigentlich, Herr Kollege van Essen?
Sie können sich denken, dass Oberstaatsanwälte mit
Ihnen Probleme haben.
Sind Sie hier als Abgeordneter oder als Oberstaatsan-
walt?
Herr Kollege van Essen, nehmen Sie zur Kenntnis,
dass in unseren Gesetzentwurf eine Vorschrift aus dem
Strafgesetzbuch, die seit Jahrzehnten geltendes Recht ist,
nämlich die Verwerflichkeitsklausel im Nötigungspara-
grafen, deshalb aufgenommen worden ist, um klar und
deutlich zu machen, dass es nach allgemeiner Meinung
– hier muss der Staatsanwalt gar nicht großzügig sein –
nicht verwerflich ist, wenn Sie in der Bäckerei ein Bröt-
chen annehmen. Deshalb kommt hier Strafbarkeit gar
nicht in Betracht.
Dieser Tatbestand im Nötigungsparagrafen hat sich
– in Anführungsstrichen – weitgehend bewährt. Sie kön-
nen doch nicht sagen, das sei zu allgemein. Das ist vom
Bundesverfassungsgericht immer wieder abgesegnet und
dort aufgenommen worden.
Es ist so, ja. Sie führen ja selber aus, dass das sehr all-gemein ist.
Wir haben die Diskussion hierzu ja schon mehrfach ge-führt. Es sei insbesondere darauf hingewiesen, dass sichauch der Deutsche Anwaltverein dazu geäußert hat unddass wir daher eine breite Unterstützung dafür haben,dass der Vorschlag, den Sie gemacht haben – das gilt ins-besondere für die Verwendung des Begriffs „verwerf-lich“ –, nicht zielführend ist.
Deshalb muss ich Ihnen sagen, dass wir diesen Wegnicht gehen werden. Ich bin im Übrigen dankbar, dassauch die SPD diesen Weg nicht gegangen ist, weil siegenau gemerkt hat, dass die Kritik, die an dieser Formu-lierung erhoben worden ist, zutrifft.
Ich finde es allerdings richtig, dass die SPD mit ihrerVorschrift deutlich gemacht hat, dass für Abgeordneteeine andere Regelung als für Beamte gefunden werdenmuss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19399
Jörg van Essen
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Damit unterscheidet sich die SPD ganz deutlich von denLinken. Ich glaube, dass das der Weg sein muss, wennman zu einer Lösung kommen will.Ich kann jedem nur empfehlen – damit will ich meineAusführungen schließen –, einen wirklich bemerkens-werten Aufsatz zu lesen, den nicht eine Abgeordnete,sondern eine Strafverteidigerin, Regina Michalke, in derFestschrift für Professor Hamm geschrieben hat. Dorthat sie sich mit all diesen Argumenten ganz außerordent-lich gut auseinandergesetzt. Das ist nicht nur für Juristenverständlich, das können auch Historiker, gelernte So-zialwissenschaftler oder andere sehr gut lesen.Wenn Sie den Artikel gelesen haben, wissen Sie, wa-rum wir uns so schwer damit tun. Eine wirklich befriedi-gende Abgrenzung – auf der einen Seite die Freiheit desMandats und auf der anderen Seite die Anforderungen,die wir an Beamte stellen – und strafrechtliche Lösungfinden wir hier nicht. Deshalb sollten wir, wie ich finde,unseren Schwerpunkt weiter auf einen Weg legen, mitdem wir sehr viel Erfolg hatten, nämlich darauf, durchPrävention zu verhindern, dass es überhaupt zu entspre-chenden Handlungen von Kolleginnen und Kollegen desDeutschen Bundestages kommt.Eine Bemerkung ganz zum Schluss: Es liegt ein neuerVorschlag auf dem Tisch. Dies ist ein neuer Ansatz. Des-halb ist es ganz selbstverständlich, dass wir uns in denparlamentarischen Beratungen mit diesem Vorschlag derSPD auseinandersetzen und dass wir gucken, was mög-lich und was nicht möglich ist. Das ist ganz selbstver-ständlich und gehört auch mit zu einer parlamentari-schen Debatte.Vielen Dank.
Jerzy Montag hat nun das Wort für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zu Ihnensage ich heute: Willkommen an Bord! Seit 2005 be-schäftige ich mich im Deutschen Bundestag mit der Ab-geordnetenbestechung.
Wir haben darüber schon sehr viele Debatten geführt. Inall diesen Debatten haben Sie immer gesagt, dass etwasgetan werden muss. Es hat zwar sehr lange gedauert,aber jetzt sind Sie dabei. Das freut uns.
Ich will zuallererst etwas zu dem sagen, was uns hof-fentlich eint. Korruption ist ein Verhalten, das in derKommune, im Land, in Europa und im globalen Ausmaßwirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe verursacht.Korruption zersetzt die Moral. Sie eliminiert Grundsätzeethischen Verhaltens und fördert Gier und Egoismus.Korruption zerstört demokratische und rechtsstaatlicheStrukturen. Sie vernichtet die Bindung der Bürokratie anRecht und Gesetz.Korruption folgt dem Gesetz des Dschungels. Des-halb muss sie bekämpft werden, national und internatio-nal. Das geschieht mit Verhaltenskodizes, durch Schu-lungen und Ausbildung und auch auf gesetzlichemWege. Auf internationaler Ebene geschieht es durch dieEingehung internationaler Verträge. Das ist im Grund-satz die Position der jetzigen Bundesregierung, und daswar die Position der früheren Bundesregierungen. Heutegeht es darum, was wir jetzt machen müssen. Deshalbwill ich mich nicht über die Vergangenheit, ob 1999,2003 oder wann auch immer, äußern. Wir reden über dieSituation 2012 und über die Zukunft.Uns liegt das Strafrechtsübereinkommen über Kor-ruption des Europarats vor. Deutschland ist Gründungs-mitglied des Europarats. Wir haben dieses Abkommenmit ausgearbeitet. Wir gehören zu den Erstunterzeich-nern. Im Rahmen des Europarats ist das Abkommen seitzehn Jahren in Kraft. 43 der 47 Mitgliedstaaten des Eu-roparats haben es ratifiziert. Wir gehören zu den letztenStaaten, die es noch nicht ratifiziert haben. Das ist eineSchande.
Auch die Konvention der Vereinten Nationen gegenKorruption, die seit 2005 in Kraft ist, liegt uns vor. Auchdaran hat Deutschland im Rahmen der UNO konstruktivmitgearbeitet. 160 Staaten haben sie ratifiziert. Nicht un-terschrieben haben Nordkorea, Somalia und der Tschad,nicht ratifiziert haben Saudi-Arabien, Sudan, Syrien,Myanmar und Deutschland. Das ist ebenfalls eineSchande.
Beide Verträge fordern von uns, dass wir bestechlicheund bestochene Mitglieder inländischer öffentlich-recht-licher Vertretungskörperschaften, die Gesetzgebungsbe-fugnisse ausüben – das sind Abgeordnete –, unter Strafestellen. So der Europarat.Die Vereinten Nationen definieren Personen, diedurch Wahl ein Amt im Bereich der Gesetzgebung aus-üben. Das sind Abgeordnete.Worum es nicht geht, ist eine Gleichsetzung mitAmtsträgern. Es geht auch in diesen völkerrechtlichenVerträgen nicht um die Gleichsetzung. Es gibt eine Dif-ferenzierung. Diese kann aber nicht bedeuten, dass es beiAmtsträgern keine Bestechung geben darf, dass dies je-doch für Abgeordnete nicht gelten soll. Eine solche Dif-ferenzierung zwischen Amtsträgern und freien Abgeord-neten wollen Sie doch sicherlich nicht. Das können Sienicht verlangen, meine Damen und Herren von derUnion und der FDP.
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19400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Jerzy Montag
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Ich will an dieser Stelle nur am Rande auf einen Völ-kerrechtsvertrag von 1997 hinweisen, Herr Kollege vanEssen, nämlich das OECD-Übereinkommen über dieBekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträgerim internationalen Geschäftsverkehr. Dieses völker-rechtliche Abkommen hat die damalige schwarz-gelbeRegierung verhandelt und unterschrieben. In dieser völ-kerrechtlichen Vereinbarung wird gefordert, eine Straf-barkeit einzuführen für – Zitat – „eine Person, die in ei-nem anderen Staat durch … Wahl ein Amt im Bereichder Gesetzgebung … innehat“. Diese Formulierung istidentisch mit denjenigen aus den Völkerrechtsverträgenvon 1999 und 2003.Berichterstatter waren Herr Kollege Geis und Sie,Herr van Essen. Als der Straftatbestand der Bestechungausländischer Abgeordneter im Sommer 1998 eingeführtworden ist, gab es hier eine Debatte. Ich habe gestern dieProtokolle nachgelesen. In dieser Debatte hat lediglichder Kollege van Essen ganz kurz dazu Stellung genom-men. Sie haben diese Strafvorschrift in dem neuen Ge-setz ausdrücklich begrüßt.Deswegen ist es unglaubwürdig und auch ein biss-chen heuchlerisch,
wenn Sie jetzt so tun, als wenn erst unter Rot-Grün einefalsche völkerrechtliche Richtung bei der Bekämpfunginternationaler Kriminalität eingeschlagen worden wäre.
Es wurde nur den bewährten Spuren gefolgt, die Sie be-reits gezogen hatten. Nur weigern Sie sich heute, dieKonsequenzen daraus zu ziehen.
In der Debatte im letzten Jahr haben Kolleginnen undKollegen von der Union behauptet, die Rechtsprechungdes Bundesgerichtshofs würde eine Ungleichbehandlungvon Amtsträgern und Abgeordneten fordern, und zwar inder Richtung, dass Abgeordnete von Strafbarkeit freizu-sprechen seien.
Sie haben die BGH-Rechtsprechung für sich rekla-miert. Nun will ich Ihnen einmal einen Auszug aus derWuppertal-Entscheidung des Bundesgerichtshofs imWortlaut vorlesen – Zitat –:Die enge gesetzliche Regelung der Strafbarkeit desStimmenkaufs… führt nach dem ausdrücklichen Willen des Ge-setzgebers dazu, weite Teile von als strafwürdigempfundenen Manipulationen im Zusammenhangmit Wahlen und Abstimmungen in Volksvertretun-gen … straflos zu stellen. Der Senat sieht hier ge-setzgeberischen Handlungsbedarf …
– Nein, in Bezug auf Mandatsträger – ohne eine Be-schränkung auf kommunale. Aber selbst diesbezüglichhandeln Sie ja nicht.Deutlicher kann die Rechtsprechung in der Bundesre-publik Deutschland nicht sein. Der Auftrag liegt auf demTisch, und wir müssen ihn endlich erfüllen.
Im Übrigen sieht auch das Grundgesetz nicht vor,dass bestochene und bestechliche Abgeordnete vonStrafe freigestellt werden. So ist die Freiheit des Man-dats in Art. 38 Grundgesetz nun wirklich nicht zu verste-hen.
Wir diskutieren fünf Gesetzentwürfe, zwei von derLinken, zwei von uns und einen von der SPD. Bei allenhaben Union und FDP immer behauptet, die Entwürfeseien zu ungenau, zu unpräzise, zu schwammig. DieUnion hat mit diesem Argument allerdings noch nie aufein Strafgesetz verzichtet.
Den Bürgern muten Sie auch manchmal ungenaue, un-präzise und schwammige Formulierungen zu.
Für sich reklamieren Sie allerdings eine Sonderbehand-lung. Das ist unglaubwürdig, und das geht nicht.
Wenn Sie wirklich der Meinung sind, unsere Gesetz-entwürfe seien nicht ausreichend, dann legen Sie endlichselbst einen vor, über den wir diskutieren können.
Insbesondere der Vorwurf, in den Gesetzentwürfen,insbesondere in dem der Grünen, würden unbestimmteRechtsbegriffe verwendet, ist ein geradezu lächerlichesArgument. Das Strafgesetzbuch strotzt vor unbestimm-ten Rechtsbegriffen.
Diese muten Sie den Bürgerinnen und Bürgern alle zu,weil wir eine funktionierende, objektive und unabhän-gige Justiz haben, die in der Lage ist, auch unbestimmte
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19401
Jerzy Montag
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Rechtsbegriffe im Strafrecht nach dem Bestimmtheits-grundsatz auszudeuten.
Das gilt in gleicher Art und Weise auch für die Aufgabe,der wir uns jetzt zu stellen haben.Die Zeit reicht nicht, um noch einige kritische Wortezum Gesetzentwurf der SPD zu sagen. Das werden wirin den Beratungen tun. Ich will schließen, indem ichsage – da greife ich sehr gerne Ihre Schlussbemerkung,Herr Kollege van Essen, auf –: Jenseits der Positionie-rungen in der ersten Lesung müssen wir – das ist poli-tisch evident – zu einer Lösung kommen, die es uns er-möglicht, in der internationalen Korruptionsbekämpfungnicht lächerlich dazustehen. Deswegen müssen wir ge-meinsam eine Lösung finden. Ich hoffe, dass Ihr Beitragund die Tatsache, dass auch die SPD jetzt dabei ist, einAnlass sind, dass wir uns interfraktionell zu Gesprächenzusammenfinden und an der bestmöglichen Lösung ar-beiten.Danke schön.
Das Wort hat nun Wolfgang Götzer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Als sich der Deutsche Bundestag 1993 mit der Frage be-schäftigte, wie der Tatbestand der Abgeordnetenbeste-chung gesetzlich geregelt werden könnte und sollte, kamman nach intensiven Beratungen und einer Sachverstän-digenanhörung zu dem Ergebnis, eine Erweiterung desTatbestands der Abgeordnetenbestechung über denStimmenkauf hinaus abzulehnen. Ich möchte jedemempfehlen – das wurde heute schon von meinen Vorred-nern zitiert –, die Begründung der Gesetzentwürfe derCDU/CSU und der FDP einerseits und der SPD anderer-seits dazu noch einmal genau zu studieren.Die Begründungen ebenso wie die vorgeschlagenenGesetzesänderungen sind in den Gesetzentwürfen derCDU/CSU und FDP und der SPD identisch. Das ist einhöchst seltener und umso bemerkenswerterer Vorgang.
– Die SPD war vorangegangen. – Die Grünen haben ih-ren Gesetzentwurf dann zurückgezogen, sodass es zu ei-ner überwältigenden Mehrheit für den § 108 e StGB, wieer jetzt gültig ist, gekommen ist.Ich darf einige wenige Sätze aus der identischen Be-gründung beider Gesetzentwürfe zitieren:Bei der Art des Aufgabenbereichs der Abgeordne-ten ist es jedoch nicht möglich, solche andersarti-gen Handlungen, die Gegenstand einer Bestechungsein könnten, begrifflich in einem klar abgegrenz-ten Tatbestand zu erfassen. …Eine hinreichend klare Abgrenzung läßt sich auchnicht dadurch erreichen, daß – wie verschiedentlichvorgeschlagen – dem Tatbestand Merkmale wie „inverwerflicher Weise“, „in pflichtwidriger Weise“oder– jetzt kommt der Ausdruck, der auch im SPD-Entwurfvorkommt –„den Gepflogenheiten eines ehrenhaften Abgeord-neten unangemessen“ beigefügt werden …Auch die Aufnahme einer der Bestimmung des§ 240 Abs. 2 StGB entsprechenden Rechtswidrig-keitsklausel ist nicht zu befürworten.Das ist aus der Begründung der Gesetzentwürfe. Ichkann beim besten Willen nicht erkennen, dass sich andieser Sach- und Rechtslage irgendetwas grundlegendgeändert hat.
Über mehr als zehn Jahre war diese Regelung, die da-mals, wie gesagt, mit überwältigender Mehrheit be-schlossen wurde, auch nicht umstritten. Seit einigen Jah-ren wird das Thema nun wieder verstärkt behandelt undbeschäftigt den Bundestag allmählich jährlich, teils mitneuen, teils mit aufgewärmten Gesetzentwürfen. Dabeisind die Argumente doch hinlänglich ausgetauscht.Was ist der Grund dafür, dass das Thema der Abge-ordnetenbestechung seit einigen Jahren wieder verstärktthematisiert wird? Sind etwa einschlägige Vorkomm-nisse, Fälle oder gar eine Häufung derselben in den letz-ten Jahren aufgetreten? Das Beispiel des KollegenSharma ist nun wahrlich nicht geeignet, eine solche Ver-schärfung zu begründen.
Im Bundestag hat es nach meiner Erinnerung in den letz-ten Jahren nichts dergleichen gegeben, was Anlass zu ei-ner Verschärfung des Straftatbestandes der Abgeordne-tenbestechung geben würde.Nun berufen sich die Befürworter einer solchen Ver-schärfung – das haben wir heute wieder gehört – man-gels tatsächlicher Erfordernisse gerne auf internationaleÜbereinkommen, insbesondere der VN und des Europa-rats, gegen Korruption, die von der damaligen rot-grü-nen Bundesregierung unterzeichnet worden sind, wor-über insbesondere die Abgeordneten der SPD damalsalles andere als begeistert waren.Auch der aktuelle Gesetzentwurf der SPD kritisiert– wir haben es heute wieder gehört –, dass Deutschlandzu den wenigen Vertragsstaaten gehört, die bis heute ins-besondere das VN-Übereinkommen nicht in nationalesRecht umgesetzt haben. Warum hat der Deutsche Bun-
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19402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Dr. Wolfgang Götzer
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destag diesem Abkommen bis heute nicht zugestimmt?Der entscheidende Punkt – ich sage es noch einmal –,der gegen eine Ratifizierung dieser Abkommen damalswie heute spricht, ist: Beide Abkommen stellen Abge-ordnete ausdrücklich mit Amtsträgern gleich.
Eine solche Gleichstellung ist aber nicht nur sachwidrig,sie ist auch mit unserem Verfassungsverständnis nichtvereinbar.
Darüber sind sich – das ergibt sich auch aus den Debat-tenbeiträgen des letzten Jahres – jedenfalls die Fraktio-nen der demokratischen Parteien in diesem Hause einig.Weitere Ausführungen dazu möchte ich mir deshalb andieser Stelle ersparen.Obwohl der damaligen rot-grünen Bundesregierungder grundlegende Unterschied zwischen Amtsträgernund Abgeordneten klar war, hat sie seinerzeit bei der Zu-stimmung zu den beiden internationalen Abkommen kei-nen entsprechenden Vorbehalt erklärt – was sie hätte ma-chen können.Gerne versucht man auch heute wieder die Forderungnach Ratifizierung des VN-Abkommens damit zu unter-mauern, dass inzwischen, wie ich glaube, 158 Staatendiese vollzogen hätten und außer Deutschland nur nochLänder wie Syrien, Saudi-Arabien oder Nordkorea nichtdabei seien.
Das überzeugt mich aber nun am allerwenigsten.Schauen wir uns doch einmal umgekehrt an, welcheLänder diese Abkommen ratifiziert haben: Pakistan,Afghanistan,
Iran, China,
Russland, Kuba,
Libyen unter Gaddafi usw. Ich glaube, da erübrigt sichjeder Kommentar.
Die Forderung nach Verschärfung des Tatbestands derAbgeordnetenbestechung wird auch heute wieder wie imSPD-Gesetzentwurf darauf gestützt, dass eine Recht-sprechung des BGH eine solche Verschärfung angeblicherforderlich mache. Dazu möchte ich klar sagen: Dasangeführte Urteil aus dem Jahr 2006 bezieht sich aus-drücklich auf kommunale Mandatsträger. Deren Rechts-stellung ist eine andere als die von Landtags- und Bun-destagsabgeordneten.
Damit möchte ich zusammenfassend feststellen: Daes in den letzten Jahren im Bereich des Deutschen Bun-destages keine Vorkommnisse gab, die eine Verschär-fung der Strafvorschrift der Abgeordnetenbestechung er-forderlich erscheinen lassen,
da des Weiteren schwerwiegende Gründe gegen eine Ra-tifizierung der einschlägigen internationalen Abkommensprechen und da sich keine Handlungsverpflichtung aushöchstrichterlicher Rechtsprechung herleiten lässt, gibtes, verehrte Kolleginnen und Kollegen, keinen Rege-lungsbedarf.
Umso fragwürdiger und hinterfragungswürdiger istes, dass dieses Thema immer wieder hochgespielt wird;denn dadurch wird – entgegen der Realität – der Ein-druck erweckt, Korruption bei Parlamentariern sei eingroßes Problem.
Damit stellt man die Abgeordneten in Gesamtheit unterGeneralverdacht.
Das ist durch nichts gerechtfertigt.
Leider leistet dem auch der SPD-Gesetzentwurf in seinerBegründung Vorschub.Die Gefahr, dass Abgeordnete unberechtigt öffentli-chen Anschuldigungen und damit Vorverurteilungenausgesetzt werden,
würde im Übrigen noch verstärkt, wenn der Tatbestanddes § 108 e StGB mit unscharfen Formulierungen undunbestimmten Rechtsbegriffen angereichert würde, wiesie bislang alle Änderungsvorschläge enthalten.
Alle bisher bekannten Formulierungsvorschläge werdenden Anforderungen des Bestimmtheitsgebots desArt. 103 Grundgesetz nicht gerecht.
– Sie kennen doch die Schlussfolgerung meiner Argu-mentation, werte Kollegin: weil es nicht möglich ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19403
Dr. Wolfgang Götzer
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Ich beziehe mich dabei auf die damals einvernehmlichauch von SPD und Grünen übernommene Begründungvon 1993: Weil es nicht möglich ist, das, was Sie regelnwollen, juristisch in einen sauberen, klar abgrenzbarenTatbestand zu fassen.
Ich sage noch einmal: Keiner der vorgelegten Vor-schläge genügt den Anforderungen des Bestimmtheits-gebots in Art. 103 Grundgesetz. Das gilt auch für denjetzt eingebrachten Gesetzentwurf der SPD. Da ist zumBeispiel von „parlamentarischen Gepflogenheiten“ dieRede. Ja, wer bestimmt denn im Fall des Falles, was da-runter zu verstehen ist?
Sollen das die Staatsanwaltschaften machen?Auch die Begründung des SPD-Entwurfes, verehrteKollegin Lambrecht, spricht im Übrigen die grundsätzli-che Schwierigkeit an, bei diesem Thema überhaupt zueiner hinreichend klaren Formulierung zu kommen. Siesprechen zwar die Schwierigkeiten an, scheitern aber anihnen.Meine Damen und Herren, die wirksamsten Mittel ge-gen Korruption sind öffentliche Kontrolle und parlamen-tarische Transparenz.
Das ist gerade in einer Demokratie mit einer kritischenMedienöffentlichkeit effektiver als jede Strafdrohung.
Dass die Kontrolle durch die Öffentlichkeit funktioniert,kann niemand bezweifeln. Und was die Transparenz an-geht, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Durch die Ver-schärfung unserer Verhaltensregeln haben wir gezeigt,dass es uns ernst damit ist.Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbin immer optimistisch, und deswegen bin ich heute inder Hoffnung in die Debatte gegangen, dass sich die Ko-alitionsfraktionen nicht länger verschließen, sondernendlich erkennen, dass wir dringend eine Regelung brau-chen, um Abgeordnetenbestechung unter Strafe zu stel-len.Denn die Stimmen hatten sich gemehrt. Die Staatsse-kretärin im Bundesjustizministerium hat bereits vor zweiJahren angekündigt, die Bundesregierung setze alles da-ran, die UN-Konvention zur Bekämpfung von Korrup-tion umzusetzen. Unabhängig davon, dass wir es nichtals eine Aufgabe der Bundesregierung ansehen, fand ichdas sehr ambitioniert formuliert.Auch unser Bundestagspräsident, der heute schon einpaar Mal erwähnt wurde, hat sich mehrfach sehr deutlichdazu geäußert, dass er ebenfalls dafür sei. Jüngst hatauch Ex-Finanzminister Theo Waigel – das hat michsehr überrascht, aber auch gefreut – an Sie appelliert undoffensichtlich sogar die bayerische Justizministerin auf-gefordert, einen Entwurf vorzulegen und endlich tätig zuwerden.Ich bin heute also in der Hoffnung in die Debatte ge-gangen, dass sich bei Ihnen endlich etwas bewegt, undda wir einen exzellenten Vorschlag für die Strafbarkeitder Abgeordnetenbestechung gemacht haben, hatte ichgehofft, dass Sie sich zumindest dieser Debatte nichtweiter grundsätzlich verschließen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, es besteht Handlungsbedarf. Ich will – das istschon erwähnt worden – zur UN-Konvention noch einessagen: Mich hat es einigermaßen erstaunt, Frau Voßhoff,dass Sie heute in die Debatte eingeworfen haben, es seiein Fehler gewesen, diese Konvention zu unterzeichnen.Ich denke, wir sind uns hier in diesem Haus einig, dassinternationale Vereinbarungen eingehalten werden unddass wir sie nicht dem politischen Tagesgeschäft und deraktuellen Meinung unterwerfen.
Wir sind uns in diesem Haus sicherlich auch einig, liebeKolleginnen und Kollegen, dass uns die Tatsache, dassStaaten, bei denen wir uns wundern, dass sie einzelneKonventionen unterzeichnet haben, die Übereinkommenauch umgesetzt haben, nicht daran hindern darf, unsereinternational eingegangenen Verpflichtungen zu erfül-len.
Jetzt stellen wir uns bitte einmal die Botschaft vor, dievon diesem Haus ausgehen würde, wenn wir sagen wür-den: Wir bekräftigen hier, dass wir uns nicht an diese sowichtige Konvention halten. – Das kann ich mir über-haupt nicht vorstellen, und deswegen schließe ich an dasan, was schon gesagt wurde: Es ist peinlich, dass wir zuden wenigen Staaten gehören, die noch nicht unterzeich-net haben. – Auch Bundestagspräsident Lammert hat ge-sagt, dass wir uns damit nicht nur statistisch, sondernauch politisch in einer schwierigen Gesellschaft befin-den.
– Das haben Sie ihm ja schon an die Hand gelegt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um das Ver-trauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik. Wirwissen ganz genau, dass das Vertrauen der Bürgerinnen
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Dr. Eva Högl
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und Bürger in die Integrität der Volksvertreterinnen undVolksvertreter auch von dieser Frage abhängt und dasses nicht besonders groß ist. Dazu, Herr Kollege vanEssen, brauchen wir keinen Fall von Abgeordnetenbe-stechung. Schließlich sind wir alle froh und dankbar,dass wir es nicht massenhaft mit solchen Fällen zu tunhaben.
Vielmehr setzt uns schon die Tatsache, dass Sie sichverschließen, gemeinsam eine sinnvolle, praktikable Re-gelung zu finden, dem unberechtigten, unnötigen undabsolut vermeidbaren Verdacht aus, wir hätten irgend-etwas zu verbergen. Dieses Signal müssen wir ganz drin-gend verhindern.
Allein der Verdacht reicht aus, das Vertrauen in uns undunsere Politik zu beschädigen oder zu reduzieren.Meine Damen und Herren, das deutliche Signal„Nein, wir sind nicht bestechlich!“ muss von uns, mussvom Deutschen Bundestag ausgehen. Es ist unsere Auf-gabe, das Vertrauen herzustellen.
Ich stelle bei der Debatte fest, dass unser Gesetzent-wurf überhaupt nicht gelesen worden ist. Denn da wirdetwas „hineingeheimnist“, was da überhaupt nicht drin-steht. Deswegen will ich noch einmal ganz deutlich sa-gen, dass die Unrechtsvereinbarung der entscheidendePunkt ist. Wir füllen den Begriff vom freien Mandat desAbgeordneten – nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grund-gesetzes sind wir nicht an Aufträge und Weisungen ge-bunden und nur unserem Gewissen unterworfen – mitdieser Regelung in unserem Gesetzentwurf aus. Wirwollen eben nicht, dass Abgeordnete an Aufträge undWeisungen gebunden sind.Natürlich haben wir um den Vorteilsbegriff gerungen.Das ist ein ganz schwieriger Punkt; wir wissen das. Aberwir alle wollen nicht unter Verdacht geraten, wenn wiran einem parlamentarischen Abend teilnehmen. Damöchte ich einmal die Frage stellen, was Sie auf einemparlamentarischen Abend machen, Herr KollegeSharma. Entscheidend ist, dass wir nach dem Besuch ei-nes parlamentarischen Abends oder nach der Teilnahmean einem Abendessen eben nicht Aufträge erhalten oderWeisungen entgegennehmen.Das ist der entscheidende Gesichtspunkt in unseremGesetzentwurf. Wir formulieren den Sachverhalt sehrkonkret. Die Aufnahme des Abs. 3 in § 108 e StGB, wiewir sie in unserem Gesetzentwurf vorsehen, ist dahersehr wichtig. Ich bitte darum, das genau nachzulesen.Durch den Verweis auf die parlamentarischenGepflogenheiten soll der Vorteilsbegriff eingegrenztwerden. Wir sagen, dass alles, was den parlamentari-schen Gepflogenheiten unterliegt, vom Vorteilsbegriffnicht umfasst wird. Das ist eine ganz wichtige Eingren-zung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Selbstverständlich.
Danke schön, Herr Präsident. Danke sehr, Frau Kolle-
gin Högl. – Sie haben gerade gesagt, Ihr Gesetzentwurf
sei im Hohen Hause offensichtlich nicht gelesen worden.
Ich für meinen Teil möchte das zurückweisen.
Ihnen habe ich das auch nicht unterstellt.
– Nein.
Ich habe ihn intensiv gelesen. Sie haben in diesem
Abs. 3 – das ist von Ihnen sicherlich gut gemeint – be-
schrieben, was eine Ausnahme in Bezug auf den Vor-
teilsbegriff ist. Ein Vorteil ist zwar immer noch ein Vor-
teil, aber kein Vorteil im Sinne des Gesetzes, wenn er
den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht.
Ich möchte Sie fragen, wie Sie sich das in der Praxis
vorgestellt haben. Soll es ein geschlossener Begriff sein?
Das würde bedeuten, dass sich die Justiz beim zuständi-
gen Parlament der Gemeinde XY erkundigt, was dort die
Gepflogenheiten sind, wenn sie einen entsprechenden
Fall auf dem Tisch hat. Wenn die Wildwuchsgepflogen-
heiten dieses Parlaments so sind, wie sie sind, dann ist
die Strafbarkeit offen. Oder soll es ein offener Begriff
sein? Das würde bedeuten, dass die Staatsanwaltschaft
und damit die Justiz bestimmen, was parlamentarische
Gepflogenheiten sind. Beide Varianten halte ich für un-
möglich. Können Sie uns erklären, was Sie genau mei-
nen?
Selbstverständlich. Ich möchte aber zunächst voraus-schicken, dass ich großes Vertrauen in unsere Staatsan-waltschaften, in unsere Richterinnen und Richter und indie Justiz allgemein habe.
Das spiegelt sich in diesem Gesetzentwurf wider. MitBlick auf Ihre Frage möchte ich auch sagen, dass ich esbedenklich finde, dass schon die Bejahung eines An-fangsverdachts manchmal politische Karrieren verhin-dern kann. Deswegen tun wir uns so schwer bei der Kon-kretisierung dieses Vorteilsbegriffs.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19405
Dr. Eva Högl
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Ich kann mir vorstellen, dass wir in der weiteren Be-ratung den Begriff „parlamentarische Gepflogenheiten“weiter konkretisieren. Es gibt schon einen Kanon dessen– dieser Punkt ist heute schon angesprochen worden –,was wir unter parlamentarischen Gepflogenheiten ver-stehen. Ich nenne beispielsweise die Einladung zu einemEssen und die Teilnahme an einer Veranstaltung mit In-teressenvertreterinnern und Interessenvertretern.Ich möchte aber so weit wie möglich konkretisieren,was parlamentarische Gepflogenheiten sind. Ich kannmir vorstellen – darüber müssen wir uns noch einmal un-terhalten; das gilt auch für meine Fraktion –, dass wir ei-nen Katalog erstellen, der entsprechende Hinweise ent-hält. Wir müssen uns, wie gesagt, Gedanken darübermachen, was wir unter parlamentarischen Gepflogenhei-ten verstehen. Ich möchte diesen Begriff nicht so unbe-stimmt wie möglich lassen, sondern ihn so weit wiemöglich konkretisieren; denn ich halte die Konkretisie-rung für den entscheidenden Gesichtspunkt in unseremGesetzentwurf.In der Vergangenheit gab es immer schon Debattendarüber, wie man den Vorteilsbegriff eingrenzen kann.Ich sage es noch einmal: Ich bin optimistisch, dass wirauf Basis unseres Vorschlages, den ich für sehr praktika-bel und sehr gut durchdacht halte – logischerweise; wirhaben uns sehr viele Gedanken darüber gemacht –, zu ei-ner gemeinsamen Haltung kommen und den richtigenWeg finden.Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass wir un-sere Vorschläge zum Thema, was man gegen Abgeord-netenbestechung tun kann, in einem Paket mit anderenMaßnahmen sehen. Das Stichwort „Transparenz und Of-fenheit im Deutschen Bundestag“ ist schon gefallen. Wirhaben auch Vorschläge auf den Tisch gelegt, was die Be-schäftigung von Externen in der Bundesverwaltung undwas das Lobbyregister angeht. Ich bitte sehr darum, dasswir uns gemeinsam diese Vorschläge ansehen. Es wäreein starkes Signal des Deutschen Bundestages, wenn wiruns selbst verpflichten würden, mehr Transparenz wal-ten zu lassen. Damit würden wir uns nicht mehr grundlo-sen Verdächtigungen aussetzen, sondern wir würden et-was dafür tun, dass das Vertrauen in uns und unserePolitik gestärkt wird. Unser Gesetzentwurf dient dazu,die Korruption zu bekämpfen und gegen diesen General-verdacht anzugehen. Deswegen bitte ich – hier greife ichdas auf, was Sie, Herr Kollege van Essen, gesagt haben –darum, dass wir in die Diskussion eintreten und dass wiruns gemeinsam bemühen und allen Sachverstand zusam-mennehmen, um eine gute Regelung zu finden. Wir kön-nen nicht ohne Regel bleiben, sondern wir müssen dieAbgeordnetenbestechung unter Strafe stellen. Wir habenHandlungsbedarf. Ich hoffe, dass diese Debatte dasheute auch gezeigt hat. Wir haben einen guten Vorschlagvorgelegt. Schließen Sie sich dem an! Kommen Sie indie Diskussion mit uns!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirbeschäftigen uns in dieser Legislaturperiode nunmehrmit dem dritten Gesetzentwurf zur Regelung der Abge-ordnetenbestechung. Nach mehr als einer Stunde De-batte zu diesem Gesetzentwurf der SPD heute im Ple-num des Bundestages gibt es wahrscheinlich kaum einArgument, das nicht schon in irgendeiner Form ange-sprochen worden ist.Alle vorgelegten Entwürfe nehmen Bezug auf die bei-den internationalen Übereinkommen gegen Korruption,nämlich die UN-Konvention vom 30. Oktober 2003 unddas Strafrechtsübereinkommen des Europarates überKorruption vom 27. Januar 1999. Deutschland hat beideÜbereinkommen bisher noch nicht ratifiziert.In der Begründung des SPD-Entwurfes heißt es, dasses ein peinlicher Umstand sei, dass wir das UN-Überein-kommen bisher noch nicht in nationales Recht umgesetzthaben.
Das mag man so sehen. Es ist hier im Plenum bei denvorausgegangenen Debatten ebenso wie bei der heutigenDebatte stets eingewandt worden, dass dieser Vorganguns nicht erst in dieser Wahlperiode betrifft. Insofernhandelt es sich, wenn überhaupt, um eine fortwirkendePeinlichkeit, die auch andere politische Konstellationenbetrifft.
In meiner letzten Rede dazu habe ich schon sehr ausführ-lich aus einem Plenarprotokoll des Jahres 2008 zitiert;das könnte ich hier heute bei Bedarf gerne wiederholen.Aber ich glaube, es ist allen noch präsent.Lassen Sie mich eines vorab klarstellen: Für Deutsch-land und für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion istdie Bekämpfung von Korruption ein wichtiges Anliegen.Wir meinen, dass es dabei nicht nur um formelle Rege-lungen gehen darf. Dessen sollten wir uns bei der ganzenDiskussion stets bewusst sein, insbesondere wenn wirauf die 158 Staaten schauen, die die genannten Konven-tionen schon ratifiziert und/oder umgesetzt haben. Hierkann man sich das eine oder andere Land anschauen;Kollege Götzer hat Libyen unter Gaddafi genannt.
– Dazu komme ich gleich auch noch. Hören Sie erst ein-mal beide Sätze an. Ich habe „eines“ gesagt. Darauf folgtmeistens noch ein „Zweites“.
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19406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Ansgar Heveling
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Erstens. Es gibt Länder wie Libyen unter Gaddafi: Damuss man sehen, dass die Buchstaben eines Gesetzeszwar Recht schaffen mögen, es aber etwas anderes ist,wie man Recht lebt. Dies ist auch eine Frage des gesell-schaftlichen Gesamtumganges. Das mag für das eineoder andere Land zutreffen. Das ist der eine Punkt.Zweitens. Dann gibt es noch einige andere Länder. Zudenen gehören Frankreich, aber auch die USA,
die rechtssystematische Unterschiede zu uns haben. DieUnterscheidung zwischen Amtsträgereigenschaft undMandatsträgereigenschaft in der Form, wie wir sie ha-ben, kennen sie eben nicht. Insofern darf man das nichtüber einen Kamm scheren.
Man muss, wenn man auf die anderen Länder schaut,sehr differenziert hinsehen.Sie scheren das insofern über einen Kamm, als Sie aufdie Peinlichkeit hinweisen, dass eine Konvention nichtumgesetzt wurde. Es lohnt sich schon, dort genauer hin-zuschauen.
Es muss natürlich auch darauf hingewiesen werden,dass Deutschland schon jetzt über ein sehr hohes straf-rechtliches Schutzniveau bei der Bekämpfung von Kor-ruption verfügt.
Für Abgeordnete ist der Stimmenkauf und der -ver-kauf in § 108 e des Strafgesetzbuches strafrechtlich ge-regelt. Für Amtsträger gibt es die §§ 331 ff. des Strafge-setzbuches. Es ist daher sehr genau hinzuschauen unddie Frage zu stellen, ob es überhaupt eine Lücke gibt, diejetzt geschlossen werden muss.Schauen wir uns ganz genau an, was in den letztenJahren beim Thema Abgeordnetenbestechung passiertist. Sämtliche Gesetzesinitiativen scheiterten doch stets
daran, dass es nicht wirklich gelang, den Bereich des ei-gentlich strafbaren Verhaltens des Abgeordneten genauzu bestimmen.
Das gelingt auch dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktionnicht. Ich möchte unterstellen, dass dieser Gesetzentwurfgenauso wie andere Gesetzentwürfe – das habe ichschon in meinen vorherigen Reden ausgeführt – von demguten Willen getragen ist, eine Regelung zu finden.
Aber gerade der geänderte § 108 e Abs. 3 des Strafge-setzbuches zeigt, dass auch Sie versuchen, durch eineNegativabgrenzung für mehr Klarheit zu sorgen. Aberdas misslingt; denn die Formulierungen sind zu unbe-stimmt. So heißt es in der Begründung Ihres Gesetzent-wurfs:Um die im parlamentarischen Verkehr üblichenVerhaltensweisen aus der Strafbarkeit auszuklam-mern, nimmt der Gesetzentwurf Zuwendungen, dieparlamentarischen Gepflogenheiten entsprechen,explizit aus dem Vorteilsbegriff heraus.Genau daran krankt der Gesetzentwurf. Wie kann mandiesen Begriff ausfüllen, und wie kann das politisch Er-laubte vom strafrechtlich Verbotenen abgegrenzt wer-den? In der Konsequenz würde das Staatsanwälten undStrafrichtern eine kaum einzugrenzende und eine kaumzu kontrollierende Einflussnahme auf das parlamentari-sche System eröffnen. Deswegen kann ich nur festhal-ten: Was erlaubt ist und was nicht, ist im Gesetzentwurfzu unbestimmt dargestellt. Es wird eine praktisch kaumeinzugrenzende Grauzone geschaffen.Was aber könnte für klare Bestimmungen herangezo-gen werden? Ist es die Geschäftsordnung des DeutschenBundestages, die die Abgeordneten schon jetzt in eini-gen Bereichen zu Transparenz verpflichtet und gemäßder Angaben zum Teil veröffentlicht werden müssen undzum Teil auch nicht? Trägt der Rückgriff auf die Verhal-tensregeln für Abgeordnete in irgendeiner Form dazubei, parlamentarisch übliches Verhalten und die entspre-chenden Gepflogenheiten klar einzugrenzen? Was machteine politisch übliche und sozial adäquate Verhaltens-weise überhaupt aus? Ist eine Bewirtung erlaubt, und,wenn ja, in welchem Umfang, oder wäre das schon einesolche Vorteilsnahme? Vielleicht ist dabei auch dieFrage entscheidend, wo eine Bewirtung stattfindet, ob inBerlin oder auf Sylt. Müsste dann jede Einladung von ei-nem Interessenvertreter oder ein Treffen mit einem sol-chen offengelegt werden?
Wenn nicht, liegt es dann zum Beispiel in der Hand desjeweiligen politischen Gegners, zu entscheiden, was so-zial adäquat ist und ob der Staatsanwalt eingeschaltetwird?
Kurzum: Damit wären Tür und Tor für ungerechtfertigteErmittlungsverfahren geöffnet,
die möglicherweise zu Wahlzwecken oder zur Ausschal-tung des politischen Gegners eingeleitet werden bzw.– das ist der entscheidende Punkt – eingeleitet werdenmüssten. Denn die Staatsanwaltschaft müsste – so siehtes Ihr Gesetzentwurf vor – in Fällen, in denen ein sol-cher Anschein besteht, Ermittlungen aufnehmen. Somit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19407
Ansgar Heveling
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muss die Staatsanwaltschaft bestimmen, was den politi-schen Gepflogenheiten entspricht. Was bleibt aber übrig,wenn es zu einem Ermittlungsverfahren kommt?
Da ist ein Abgeordneter, gegen den ein Ermittlungsver-fahren geführt wurde, und es kommt nicht mehr daraufan, ob es zu Recht oder zu Unrecht geführt wurde. Daszeigt: Auch der SPD gelingt es in ihrem Gesetzentwurfnicht, mehr Klarheit zu schaffen.Insgesamt muss man festhalten, dass die Kernpro-bleme in zwei Bereichen bestehen. Zum einen gibt esdas Problem bei der Unterscheidung zwischen der Man-datsträgereigenschaft und der Amtsträgereigenschaft.
Zum anderen gibt es daraus folgend das Problem, denBereich des politisch Erlaubten klar zu umreißen. In deninternationalen Übereinkommen zur Bekämpfung derKorruption ist generell nur von Amtsträgern die Rede.Dies mag für andere Rechtssysteme passen, nicht aberfür unser Rechtssystem, das deutlich zwischen Mandats-und Amtsträger unterscheidet.
Wie ich bereits am 8. April 2011 zum Gesetzentwurfder Linken ausgeführt habe, haben Amtsträger anders alsAbgeordnete einen ganz klar umrissenen Pflichten- undAufgabenkreis.
Um nur einige Abgrenzungskriterien zu nennen: Sie sindweisungsgebunden und treffen und vollziehen im Rah-men von Diensthandlungen Einzelentscheidungen, dienicht an den Amtsträger gebunden und damit nicht per-sonengebunden sind. Demgegenüber bedeutet das freieMandat, das in Art. 38 grundgesetzlich verankert ist,dass der gewählte Abgeordnete sein Mandat im Parla-ment frei ausübt und dafür nur seinem Gewissen unter-worfen und an keine Aufträge und Weisungen gebundenist.
Das ist im Übrigen auch vom Bundesgerichtshof so be-stätigt worden.
Natürlich vertreten Abgeordnete in ihrer Mandatsaus-übung Interessen, und das müssen sie sogar.
Aus diesen Interessen formt sich dann im parlamentari-schen Prozess das allgemeingültige Recht. Interessenge-leitetes Handeln und Öffentlichkeit sind dabei zweieinander bedingende und sich gegenseitig ausbalancie-rende Elemente politischen Handelns.Ich vertraue – das darf ich abschließend sagen – aufdie in Deutschland meines Erachtens schon sehr gutfunktionierenden Instrumente: auf das Gewissen einesjeden Mandatsträgers, die strafrechtlichen Sanktionen,die Transparenz durch Verhaltensregeln für Abgeordneteund durch eine aktive Zivilgesellschaft, darauf, dass diepolitischen Folgen von Fehlverhalten klar diskutiert wer-den,
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
– darauf, dass wir eine funktionierende Beobachtung
und Kontrolle durch die Öffentlichkeit, insbesondere
durch die Medien, haben und dass es eine funktionie-
rende gegenseitige Kontrolle durch die unterschiedli-
chen politischen Institutionen und Fraktionen gibt. Zum
Schluss: Ich vertraue natürlich den Wählerinnen und
Wählern, dass sie unser Verhalten schon richtig beurtei-
len können.
Wir werden uns einer weiteren Diskussion nicht ver-
schließen
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
– und haben dazu in der Ausschussberatung ausrei-
chend Gelegenheit.
Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen von Union und FDP, ich habeIhnen jetzt über eine Stunde sehr aufmerksam zugehörtund all Ihre Argumente, die Sie gegen eine Regelung zurBekämpfung der Abgeordnetenbestechung hier ins Feldgeführt haben, vernommen: die Besonderheiten des par-lamentarischen Betriebs, die manches Mal schwierigeAbgrenzung zwischen einer zulässigen politischen Ein-flussnahme und einer unzulässigen Bestechung, die Ge-fahr, dass der Ruf eines Abgeordneten durch eine Straf-anzeige beschädigt wird, dass er ein Mandat verliert und,und, und.
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19408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Burkhard Lischka
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Ich frage mich allerdings: Ist das nur hier in Deutsch-land so, oder warum haben gleichwohl mehr als150 Staaten weltweit – fast alle europäischen Länder,fast alle Demokratien dieser Welt – eine Regelung zurAbgeordnetenbestechung hinbekommen?
Nur wir in Deutschland diskutieren seit über neun Jahrenund kriegen überhaupt nichts auf die Reihe. Woran liegtdas eigentlich? Das ist doch die Kernfrage. Darauf habenSie in dieser Debatte überhaupt keine Antwort gegeben.Das macht sie so bedrückend und so peinlich.
All die Argumente, die Sie hier vortragen, geltendoch nicht nur für uns hier in Deutschland, sondern fürjede Demokratie weltweit. Natürlich haben das Parla-ment und der einzelne Parlamentarier eine besondereRolle, die es zu schützen gilt. Natürlich ist es manchesMal schwierig, die zulässige Einflussnahme von der un-zulässigen Bestechung abzugrenzen. Aber dass dieseAbgrenzung unmöglich wäre, so wie Sie behaupten,wird doch durch alle Demokratien mit entsprechendenRegelungen widerlegt, und zwar schon seit Jahren undJahrzehnten. Das ist doch der springende Punkt.
Deshalb drängt sich der Verdacht auf, dass es sich umSchutzbehauptungen handelt. Viele von denen, die unszugehört haben, werden sagen: Das ist eine Art Selbst-privilegierung, der Sie hier das Wort reden. Darüberkönnen wir nur den Kopf schütteln. – Im Ausland stößtdas mittlerweile auch auf Unverständnis, wie wir allewissen.Nein, meine Damen und Herren, bei dieser Debattegeht es um eine gefährliche und beunruhigende – ichfinde sogar: eine fast unfassbare – Strafbarkeitslücke.Jede Demokratie lebt doch zunächst einmal von demVertrauen der Bürgerinnen und Bürger darauf, dass wirParlamentarier Vertreter des ganzen Volkes sind und unsnicht in die Abhängigkeit zu irgendwelchen Geldgebernbegeben, dass die Auseinandersetzungen hier im Parla-ment mit Argumenten geführt werden und nicht durchdie Bestechung einzelner Abgeordneter beeinflusst wer-den.Andere Länder haben das offensichtlich verstanden.Es ist eben ein strafwürdiges Unrecht, wenn sich einVolksvertreter, der dem Gemeinwohl verpflichtet ist,schmieren lässt. Es ist ein Skandal, wenn das in Deutsch-land nach wie vor noch weitestgehend straflos ist.
Das schadet der Demokratie, und das schadet der politi-schen Kultur in unserem Land. Es schadet mittlerweileauch dem Ansehen der Republik. Dafür tragen Schwarzund Gelb mit ihrer beharrlichen Verweigerungsstrategiedie Verantwortung.
Ich darf einmal ein Fazit der heutigen Debatte ziehen.Ich glaube, Sie haben bis heute eines nicht verstanden:Die Bestechung eines Abgeordneten ist der wohlschwerste Angriff auf ein Parlament und auf die Funk-tionsweise einer Demokratie, den man sich überhauptvorstellen kann. Gerade wir Parlamentarier haben dieAufgabe und die Pflicht, unsere Demokratie vor solchenAngriffen zu schützen. Eine Rechtsordnung, die es un-terlässt, ihre Rechtserzeuger vor solchen Angriffen zu si-chern, verliert auf Dauer an Legitimation. Es schadet üb-rigens uns allen, wenn wir uns als unfähig erweisen,unsere Demokratie in diesem wichtigen Punkt zu vertei-digen.
Unser Gesetzentwurf, den wir von der SPD hier ein-gebracht haben, zeigt, dass wir es mit der Korruptionsbe-kämpfung ernst meinen, und zwar auch dann, wenn esum unsere eigene Zunft geht. Dieser Gesetzentwurfzeigt, dass wir unsere eigenen Angelegenheiten transpa-rent regeln können. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wirdas Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsereVolksvertretungen stärken wollen. Dieser Gesetzentwurfzeigt schließlich auch, dass wir uns nicht damit abfindenwollen, dass wir international betrachtet inzwischen dierote Laterne haben, wenn es darum geht, den Kernbe-reich politischer Entscheidungsprozesse zu schützen.Ihre Reaktion zeigt mir nur eines: Sie von Union undFDP sind nicht willens und in der Lage, etwas zu regeln,was international inzwischen zum Standard gehört, näm-lich parlamentarische Entscheidungsprozesse vor Kor-ruption zu schützen. Dass wir uns damit internationalbetrachtet inzwischen in der Glaubwürdigkeitsfalle be-finden, das ist Ihnen offensichtlich vollkommen egal. Siewollen keine Regelung; Sie denken nicht einmal ernst-haft über eine Lösung nach. Deshalb sage ich Ihnen: Siekönnen diesen Gesetzentwurf ablehnen und sich dannweiter im Nichtstun üben; aber spätestens 2013, unterder neuen rot-grünen Bundesregierung, werden wir dasregeln, und zwar sofort und ohne Wenn und Aber.
Das Wort hat nun Siegfried Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.
Siegfried Kauder (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wer-den auch beim fünften Mal scheitern, wenn wir über eineLösung beim Thema Abgeordnetenbestechung diskutie-ren. Viermal hat es nicht geklappt; beim fünften Malwird es wieder nicht klappen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19409
Siegfried Kauder
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wenn man immer versucht, die Abgeordnetenbestechungan einen Straftatbestand anzudocken, der schlicht undergreifend nicht auf das parlamentarische Verhaltenpasst.
Man kann es nicht schöner sagen als der Bundesge-richtshof, 5. Senat, in einer Entscheidung vom 9. Mai2006, Randziffer 29, wo es heißt:Amtsausübung ist etwas anderes als Mandatsaus-übung.
Derjenige, der eine Amtspflicht wahrnimmt, ist bei sei-ner Entscheidung ersetzbar; er ist gebunden an Vor-schriften, an die wir nicht gebunden sein wollen und dür-fen.
Der Abgeordnete ist frei und muss eine freie Entschei-dung treffen können.
Meine lieben Kollegen, was mich am meisten irritiert,ist der Umstand, dass ich wieder einen Begriff vorfinde,den der Kollege Ströbele einmal beim Verfassungsge-richt erwähnt hat. Sie alle fühlen sich „normativ unfrei“,weil es Verträge gibt, an die Sie sich gebunden fühlen,die Sie umsetzen wollen. Sie müssen doch überlegen:Welchen Sachverhalt wollen Sie regeln? Oder wollenSie nur einem Vertrag, den eine Regierung unterschrie-ben hat, nachfolgen?
Wir sind das Parlament und entscheiden, was wir zu tunhaben; wir lassen uns nicht an die Entscheidung einerRegierung binden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Gerne.
Danke schön, Herr Kollege Kauder. – Sie haben wiein Ihren früheren Reden so auch jetzt auf die Differenz,auf den Unterschied zwischen einem Amtsträger und ei-nem frei gewählten Abgeordneten abgestellt. Ich gebeIhnen völlig recht: Das ist etwas ganz anderes. Die Frageist – ich stelle sie Ihnen –: Was ist das Wesen des Unter-schieds? Insbesondere in unserer Debatte stellt sich dieFrage: Ist der Unterschied zwischen dem Mandatsträgerund dem Amtsträger derjenige, dass der Amtsträgernicht bestochen werden darf, während der freie Abge-ordnete bestochen werden darf? Wenn dies das Wesendes Unterschieds wäre, dann wären Sie, Herr KollegeKauder, auf einem Irrweg.
Wenn das aber der Unterschied nicht ist, dann könnenwir selbstverständlich auf eine dem Mandat gemäße Artund Weise die Strafbarkeit der Bestechung einführen.
Siegfried Kauder (CDU/CSU):Herr Kollege Montag, Sie sind Strafrechtler wie ichauch. Sie wissen genau, was die Voraussetzungen füreine Bestechung oder eine Bestechlichkeit, für die Vor-teilsannahme oder das Anbieten einer Leistung sind.Nicht einmal diese Differenzierungen macht dieser Ge-setzentwurf. Was eigentlich unter Strafe gestellt werdensoll, ist keine Bestechung, weil wir keine pflichtwidrigeDiensthandlung vornehmen können; es wäre allenfallseine Vorteilsannahme.
Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Schon die Be-grifflichkeiten stimmen nicht.Wir nehmen keine Dienstpflichten wahr. Wir entschei-den. Wir sind auch nicht objektiv, wir können subjektivsein, wir dürfen Interessen von Bürgern verfolgen – alsoein grundlegender Unterschied. Solange Sie das Verhal-ten, das Sie inkriminieren wollen, an den Strafvorschrif-ten zu Bestechung und Bestechlichkeit festmachen, wer-den Sie scheitern, weil es dazu nicht passt.
Die SPD bläst einen riesengroßen Luftballon auf,stellt den Abgeordneten, obwohl es nicht passt, erst ein-mal dem Dienstverpflichteten gleich,
um dann am Ende wieder den Ballon zu zerstören undsich ins Knie zu schießen, indem man sagt: Wenn derAbgeordnete diese Handlung auch vorgenommen unddie Entscheidung ohne das Geschenk getroffen hätte,dann soll es nicht strafbar sein. – Über die innere Tat-seite kann sich der Abgeordnete wieder aus der Verant-wortung ziehen. Der Vorschlag, den Sie machen, bringthinten und vorne nichts, weil er nicht zu einer Strafbar-keit führen wird.
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19410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Siegfried Kauder
(C)
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Dann tun Sie etwas, von dem Sie selbst wissen, dassSie es nicht verantworten können, weil es nicht geht:Was den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht,soll nicht strafbar sein. Sie vergessen dabei eines: Siewollen nicht nur den Abgeordneten bestrafen, nicht nurden bestrafen, der nimmt, sondern auch den, der gibt.Wir wissen vielleicht, was eine parlamentarische Ge-pflogenheit ist, aber der, der einen parlamentarischenAbend ausrichtet, weiß nicht, was die parlamentarischenGepflogenheiten sind.
Den müssen wir nachher fragen. Und nicht Sie fragenihn, sondern der Staatsanwalt fragt. Da wundert michdas Verhalten der Linken etwas, die zu Recht darüberklagen, ohne Genehmigung des Parlaments würden sievom Verfassungsschutz bespitzelt. Sie werden es in Zu-kunft, wenn Sie diesen Straftatbestand einführen, nichtnur mit dem Verfassungsschutz zu tun haben, der Ihnenauf die Finger schaut, sondern auch mit dem Staatsan-walt, der nach einem parlamentarischen Abend zu Ihnenins Büro kommt, sich die Tür öffnen lässt und schaut,wie viele Flaschen Wein Sie darin stehen haben. WennSie das wollen, können Sie den Straftatbestand verab-schieden.
Er wird nicht das erreichen, was Sie erreichen wollen.
Wir müssen ganz woanders anfangen. Wenn Sie einbestimmtes Verhalten von Abgeordneten nicht habenwollen, müssen Sie das über die Verhaltensregeln ma-chen und nicht über Straftatbestände.
Wir wollen nicht, dass der Staatsanwalt uns zu parla-mentarischen Abenden begleitet. Wer dieses Gesetz be-fürwortet, schadet dem Parlamentarismus, und er de-montiert den Abgeordneten im deutschen Parlament.
Sie haben es doch selbst gesagt, Herr KollegeSharma: Natürlich darf man zu parlamentarischen Aben-den gehen, aber nicht nach Sylt. – Ich habe ganz bewusstgefragt: Wie karg muss die Veranstaltung sein, zu derwir gehen? Müssen wir vorher anrufen und fragen, wasdie Location und das Brötchen kosten und ob man einoder zwei Brötchen essen darf?
Das ist doch absoluter Unsinn. Das funktioniert nichtund ist eines Parlaments nicht würdig.Deswegen sage ich Ihnen eines: Wir brauchen keinestrafrechtliche Regelung. Der Kollege van Essen hat eszu Recht ausgeführt. Es gibt im Staat eine Gewalt, diesehr genau weiß und schaut, was ein Abgeordneter tut.Das ist die Bevölkerung, die Öffentlichkeit und diePresse.
Wir brauchen keine Regelungen, die für das Parla-ment nicht passen und die auch eines Parlamentes un-würdig sind. Deswegen lassen Sie diese Diskussion bittesein, sie führt nicht weiter.
Sie nützt niemandem, sie dient niemandem, sie schadetnur. Ich empfehle Ihnen, solche Debatten nicht zu füh-ren,
sondern darüber nachzudenken, was wir tatsächlich ineinem Parlament brauchen:
selbstbewusste Parlamentarier, die sich nicht von Regie-rungen und nicht von der öffentlichen Meinung gängelnund sich nicht von parlamentarischen Abenden beein-drucken lassen. Es kann doch nicht sein, dass ein Parla-mentarier im Nachhinein sagen kann, er hätte die Ent-scheidung auch so getroffen, deswegen sei das Geschenkdafür nicht kausal. – Da begeben Sie sich in eine Falle.Sie schießen sich selbst mit Ihrem Gesetzentwurf ab. Erist in sich nicht schlüssig, nicht nachvollziehbar. Deswe-gen kann ich nur empfehlen, dem nicht zuzustimmen.Hören Sie mit der Debatte auf!
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Christian Lange für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Im Spiegel vom 21. Mai 2007 war folgende Be-gebenheit zu lesen – ich zitiere –:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19411
Christian Lange
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Die Gäste im Kanzleramt waren höflich, aber deut-lich. Eine Gruppe afrikanischer Bischöfe und Kar-dinäle war Anfang Mai zu Angela Merkel gereist,um über die Lage auf dem Schwarzen Kontinent zusprechen. Ausführlich referierte der kongolesischeErzbischof …, dass Armut meist mit schlechter Re-gierungsführung und Korruption einhergehe. Dannerinnerte der Afrikaner die Gastgeberin schnörkel-los an ihre Verantwortung: „Auch Deutschland“,sagte der Erzbischof, „hat die UNO-Konvention ge-gen Korruption noch nicht ratifiziert“. Merkelschwieg.Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, er-sparen Sie Ihrer Kanzlerin, ersparen Sie Deutschlandsolche Peinlichkeiten.
Wenn Ihnen schon Ihre Kanzlerin egal ist, dann haltenSie sich wenigstens an das, was der niedersächsischeJustizminister Bernd Busemann am 30. Juli 2008 zu Pro-tokoll gab. Der Justizminister forderte, die UN-Konven-tion gegen Korruption endlich vonseiten des Bundesta-ges zu ratifizieren und zu verabschieden. – Hören Sie aufIhre Länder! Vielleicht hilft das weiter.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,wenn Ihnen die Meinung der Länder egal ist, dann hörenSie doch wenigstens auf die Vertreterinnen und Vertreterder Wirtschaft. Ihr Parteifreund von der CSU, TheoWaigel, Berater von Siemens,
hat Ihnen einen Formulierungsvorschlag an die Hand ge-geben, wie man es regeln kann. Dann, bitte schön: HörenSie doch auf Theo Waigel, hören Sie auf die Wirtschaft,und tun Sie endlich etwas!
Schließlich lassen Sie mich auf zwei Gegenargumenteeingehen. Auf Ihr Gegenargument, das auf eine angebli-che Verbeamtung von Abgeordneten abstellt, möchte ichmit den Worten des Geschäftsführers von TransparencyInternational, Christian Humborg, antworten. Er sagtedazu – ich zitiere –:Für eine Ratifizierung der Konvention wird keineGleichstellung von Beamten und Parlamentariernverlangt.
Er führt weiter aus: In einigen Ländern sei das so umge-setzt worden, aber die Regelungen zur Abgeordnetenbe-stechung könnten auch unabhängig davon verschärftwerden. – Genau das tut die SPD-Bundestagsfraktion inihrem Gesetzentwurf.
Das beredtste Beispiel dafür ist die Begründung – auchdie Begründung gehört zu einem Gesetzentwurf –, in derwir Abs. 3, um den es hier geht – parlamentarische Ge-pflogenheiten –, auslegen. Wir geben darin Staatsanwalt-schaften und Justiz eine Richtschnur mit auf den Weg,etwa: Auf der einen Seite das DGB-Sommerfest und un-ser Eintreten für den Mindestlohn und auf der anderenSeite die Spielautomatenwirtschaft und der Las-Vegas-Ausflug – das eine ist möglich, das andere ist rechtswid-rig.
Ihr zweites Gegenargument bezieht sich auf den Be-stimmtheitsgrundsatz. Wir knüpfen an die Aussagen desArt. 38 Grundgesetz an, der besagt, dass Vertreter desVolkes nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sind.So steht es im Grundgesetz, und so steht es in unseremGesetzentwurf. Er ist daher hinreichend bestimmt. ImÜbrigen haben wir ausgebildete Juristen, die dies ent-sprechend auslegen können.Wenn alles das nicht hilft, will ich den Bundestags-präsidenten anführen. Auch er hat Sie von CDU/CSUund FDP aufgefordert, endlich zum Abschluss zu kom-men. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie schon unseremVorschlag nicht folgen wollen, wenn Sie dem Vorschlagder Grünen nicht folgen wollen und wenn Sie dem Vor-schlag der Linken nicht folgen wollen, dann bringen Siedoch bitte einen eigenen Vorschlag ein! Blockieren Sienicht weiterhin! Die Wahrheit ist doch: Sie wollen nicht,und das ist traurig, traurig für die internationale Reputa-tion und insbesondere für uns Abgeordnete.Abgeordnete sind nicht bestechlich,
sie wollen nicht bestechlich sein, und deswegen wird esZeit, dass wir endlich eine Regelung finden.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/8613 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlichnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbauder kalten Progression– Drucksache 17/8683 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
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19412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-minister der Finanzen Wolfgang Schäuble das Wort.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die kalte Progression in der Lohn- und Einkommensbe-steuerung, die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurfbekämpfen wollen, entsteht durch die Wirkungsweise ei-nes Lohn- und Einkommensteuertarifs, der Leistungsfä-higere prozentual höher besteuert. Dieses Prinzip istGrundlage unseres Einkommensteuerrechts und weitge-hend unbestritten. Es gibt zwar gelegentlich andere Vor-schläge, weil das in Zweifel gezogen wird. Ich findeaber, es hat sich über Jahrzehnte bewährt, dass wir alsGrundlage der Einkommensbesteuerung ein progressi-ves Steuersystem haben, das heißt bei höheren Einkom-men einen höheren Steuersatz.Im Zusammenwirken mit der Geldentwertung ent-steht hier aber der Effekt der kalten Progression. Wennjemand bei einer unterstellten Preissteigerungsrate von2 Prozent mehr Lohn oder Einkommen erhält, dann zahlter eben nicht 2 Prozent mehr Lohn- oder Einkommen-steuer, sondern einen etwas höheren Prozentsatz. DieDifferenz ist die kalte Progression. Auf lange Sicht führtdas zu einer starken Verschiebung, zu einer höherenSteuerbelastung, die vom Gesetzgeber so nicht entschie-den ist. Da Einnahmen und Ausgaben, die den Steuer-zahler betreffen, vom Gesetzgeber entschieden werdenmüssen – im Zusammenhang mit den Ausgaben erinnernwir wieder und wieder an die Budgetverantwortung desParlaments – ist die kalte Steuerprogression, da sie nichtvom Gesetzgeber vorgesehen ist, ein eigentlich gesetzes-widriger Zustand. Deswegen schaffen wir mit diesemGesetzentwurf Abhilfe.
Mit einer solchen Entscheidung geben wir zugleichdas klare Signal, dass wir dauerhaft auf Stabilität setzenund nicht daran interessiert sind, weder als Regierungnoch als Parlament, durch Geldentwertung, durch Infla-tion, quasi Windfall Profits, nicht vom Gesetzgeber be-schlossene Steuermehreinnahmen, zu haben. Nein, dieBekämpfung, die dauerhafte Absage an die kalte Steuer-progression ist ein glaubwürdiges Signal, dass Regie-rung und Parlament an dauerhafter Preis- und Geld-wertstabilität interessiert sind. Auch unter diesemGesichtspunkt bitte ich um Unterstützung für diesen Ge-setzentwurf.
Unser Vorschlag zielt darauf, die ohnedies verfas-sungsgerichtlich gebotene Anpassung des steuerlichenGrundfreibetrags an das steuerfreie Existenzminimumzu nutzen, im gesamten Verlauf des Lohn- und Einkom-mensteuertarifs progressive Wirkungen, die ausschließ-lich aus diesem Zusammenwirken resultieren, zuvermeiden. Deswegen schlagen wir vor, den Grundfrei-betrag zu erhöhen. Ich will hinzufügen: Der steuerfreieGrundfreibetrag liegt im Jahr 2012 knapp 1 Prozent überdem steuerfreien Existenzminimum; das sind 9 Euro.Das ist also knapp. Das heißt, dass für 2013/2014 Hand-lungsbedarf besteht; denn niemand wird riskierenwollen, dass wir aufgrund eines nicht mehr verfassungs-gemäßen steuerlichen Grundfreibetrags eine verfas-sungsrechtlich nicht einwandfreie Grundlage unseresSteuersystems haben. Die Anhebung des Grundfreibe-trags in zwei Stufen, 2013 und 2014, um insgesamt4,4 Prozent – gleich 350 Euro – ist verfassungsrechtlichgeboten und kann deswegen eigentlich nicht bestrittenwerden.
Wenn man diesen Schritt unternimmt und vermeidenwill, dass der Eingangssteuersatz steigt – wenn man wei-ter nichts täte, als nur den Grundfreibetrag zu erhöhen,würde der Einkommensteuersatz steigen; das wird nie-mand wollen –, ist es zwangsläufig geboten, den Steuer-tarif entsprechend zu schieben. Wenn man die kalte Pro-gression bekämpfen will, muss man den Grenzsteuersatzkonstant lassen. Deswegen muss man die prozentualeAnhebung des Grundfreibetrags auf den Tarifverlaufübertragen. Das genau ist Inhalt dieses Gesetzentwurfs.Das ist konsequent und sachlich richtig zur Bekämpfungder kalten Steuerprogression.
Eigentlich sind das keine Steuerentlastungen, sondernes ist der Verzicht auf vom Gesetzgeber nicht beschlos-sene Steuererhöhungen. Wer sich dagegen ausspricht,plädiert für Steuererhöhungen, die der Gesetzgeber sonicht beschlossen hat. Gelegentlich wird gesagt, daswürde nur einer Tasse Kaffee pro Monat entsprechen. Esist im Vergleich erstaunlich, wie groß die Erregung beisteigenden Belastungen ist. Hier reden wir immerhinvon monatlichen Steuerentlastungen zwischen 15 und25 Euro für Ledige; für Verheiratete ist der Betrag dop-pelt so hoch. Das ist nicht viel; aber wer sagt, das sei garnichts, hat keine Vorstellung von der Lebenswirklichkeitder Arbeitnehmer in unserem Lande.
Wir haben lange darüber diskutiert. Wir wollen nicht,dass die kalte Progression durch einen automatisch wir-kenden Mechanismus beseitigt wird, weil sich dadurchdas Problem der Scala mobile ergibt und weil wir grund-sätzlich gegen jede Indizierung sind; jede Indizierungfördert tendenziell die Inflation. Daher haben wir unsentschieden, es diskretionär zu machen. Wir legen jetztfür die Jahre 2013 und 2014 einen Vorschlag für die An-hebung des Grundfreibetrags, orientiert an der voraus-sichtlichen Entwicklung des steuerfrei zu stellendenExistenzminimums, vor. Hierzu sehen wir eine Überprü-fung im Zwei-Jahres-Rhythmus vor. Der Tarifverlaufsoll, falls notwendig, entsprechend angepasst werden.Durch diskretionäre Entscheidungen wollen wir dauer-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19413
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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haft sicherstellen, dass kalte Steuerprogression nicht ent-steht.Ich will im Übrigen, weil es eine Debatte darübergibt, ob das notwendig sei, hinzufügen: Wir haben densteuerlichen Grundfreibetrag zwischen 1998 und 2009,wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sechsmal ange-hoben. Das ist also nicht ungewöhnlich. Diejenigen, diesich dagegen aussprechen, sollten sich dies genau über-legen, da dies in einem auffälligen Widerspruch zu frü-heren Entscheidungen steht. Wir haben den Grundfreibe-trag seit 1998 sechsmal angehoben, und oft waren damitMaßnahmen verbunden, mit denen eine Erhöhung desEingangssteuersatzes vermieden wurde. Im Übrigen ha-ben wir auch durch andere Steuerentscheidungen immerwieder die kalte Progression bekämpft.Jetzt haben wir einen systematisch richtigen Ansatz:Anhebung des Grundfreibetrags, Verschiebung im Tarif-verlauf um denselben Prozentsatz und alle zwei Jahreeine Überprüfung mit den entsprechenden Konsequen-zen. Ich glaube, dass das die richtigen Maßnahmen sind.Das Gesamtausfallvolumen durch beide Stufen der An-hebung des Grundfreibetrags beläuft sich, wenn es vollwirksam wird, auf 6 Milliarden Euro. Da Bund, Länderund Gemeinden am Aufkommen von Lohn- und Ein-kommensteuer partizipieren, müssen Bund, Länder undGemeinden auf nicht vom Gesetzgeber gewollte Steuer-erhöhungen entsprechend ihrem Anteil am Gesamtsteu-eraufkommen verzichten. Darüber kann kein Zweifel be-stehen.Gleichwohl hat die Bundesregierung im Gesetzent-wurf vorgeschlagen, den Ländern in den ersten Jahrenfür den Teil der Auswirkungen, der aufgrund der propor-tionalen und der prozentualen Verschiebung entsteht, einStück weit entgegenzukommen. Diese Ausnahme ist derbesonderen Situation der Länder- und der Kommunal-finanzen geschuldet. Aber grundsätzlich müssen alle Ge-bietskörperschaften akzeptieren, dass sie nicht dauerhaftSteuermehreinnahmen erhalten, die vom Gesetzgebernicht beschlossen sind. Deswegen erwarte ich, dass derBundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen wird, falls derDeutsche Bundestag ihn beschließen wird, worum ichbitte.
Es geht darum, das Prinzip der leistungsgerechten Be-steuerung – das prägt unser progressives Steuersystem –mit der Verteidigung der Geldwertstabilität in eine ver-nünftige Übereinstimmung zu bringen. Ich bitte Sie umIhre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Das Wort hat nun Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Lieber Herr Bundesfinanzminister, Sie führen indieser Frage eine Ablenkungsdiskussion.
Die Steuerpolitik der schwarz-gelben Koalition in denletzten zweieinhalb Jahren war zum Erbarmen. Sie wol-len nun von dem ablenken, was wir erlebt haben, wasSie der Öffentlichkeit geboten haben.
Deshalb haben Sie sich etwas einfallen lassen, und dashaben Sie gerade zusammengefasst vorgetragen.Über Jahre hinweg, vor allem im Bundestagswahl-kampf 2009, haben alle drei Koalitionsparteien, nichtnur die FDP, den Menschen massive Steuersenkungenversprochen. Schon 2009 war das nichts anderes als eineWählertäuschung.
Das Versprechen massiver Steuersenkungen waren derWahlkampfschlager und die Legitimation von Schwarz-Gelb.
Ihre Steuersenkungsversprechen gehörten zur Entste-hungsgeschichte von Schwarz-Gelb.
Wie viel – oder besser, Herr Kollege: wie wenig – davonübrig geblieben ist, sieht man an dem Gesetzentwurf,den wir hier und heute beraten.
Sie biegen sich die Dinge zurecht. Der Täuschung ausdem Jahre 2009 folgt der politische Pfusch, den Sie mitdem vorliegenden Gesetzentwurf abliefern.
Natürlich haben Frau Merkel und Herr Schäuble be-reits vor der letzten Bundestagswahl gewusst, dass inden öffentlichen Kassen auf absehbare Zeit kein Geld fürSteuersenkungen ist. Nur: Sie haben das im Wahlkampfverschwiegen oder den Bürgern sogar das Gegenteil er-zählt. Vornehm ausgedrückt: Sie waren unehrlich.Schwarz-Gelb basierte von Anfang an auf massiverWählertäuschung. Diese Wählertäuschung gehört zurEntstehungsgeschichte von Schwarz-Gelb, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie für die laufendeLegislaturperiode Steuersenkungen in einer Größenord-nung von insgesamt 24 Milliarden Euro versprochen.Seitdem der Koalitionsvertrag unterschrieben ist – wir
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19414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Joachim Poß
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haben die Geschichte in den Medien verfolgen können –,überlegt der durchaus trickreiche BundesfinanzministerSchäuble, wie er im Hinblick auf die angekündigtenSteuersenkungen eine Minimallösung konstruiert, diea) von der FDP – und auch von der CSU – geschlucktwird und die es b) der Opposition möglichst schwermacht, sie abzulehnen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Krestel von der FDP-Fraktion?
Natürlich.
Sehr geehrter Herr Kollege Poß, davon abgesehen,
dass ich, wie wahrscheinlich die Mehrheit der hier anwe-
senden Kollegen, Ihren Ausführungen zur Steuerpolitik
der Bundesregierung nicht ganz folgen kann
– ich sprach von der Mehrheit –, möchte ich Ihnen eine
Frage stellen. Wenn Sie das ehrliche Bemühen dieser
Koalition, die Besteuerung in diesem Land einfacher,
niedriger und gerechter zu gestalten, in Abrede stellen,
wie erklären Sie uns dann, dass Ihre Partei im Jahre 2005
mit dem Slogan „Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer!“
in den Wahlkampf gegangen ist und die Umsatzsteuer
unmittelbar nach der Wahl, als Sie Regierungsverant-
wortung hatten, von 16 auf 19 Prozent erhöht hat? Ich
bitte Sie, diese Frage zu beantworten.
Lieber Kollege, ich glaube, dass die deutsche Bevöl-kerung im Gegensatz zu Ihnen nachvollziehen kann, wasich gesagt habe. Umfragen kamen zu dem Ergebnis, dassmindestens zwei Drittel der Befragten, wenn nicht mehr,angesichts des Theaters, das Sie in der Steuerpolitik auf-geführt haben – nicht nur im Hinblick auf die Hotelier-steuer, sondern auch im Hinblick auf die Diskussionüber Steuersenkungen –, nur mit dem Kopf geschüttelthaben. Von daher sehe ich mich durchaus auf der Seiteder Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, wenn auchnicht dieses Parlaments.Der andere Aspekt, den Sie angesprochen haben,macht deutlich, dass es in den Parteien unterschiedlicheAuffassungen gibt. Dieser Umstand hat zu Beginn derRegierungszeit der Großen Koalition zu dem Ergebnisgeführt, das Sie geschildert haben. Eine Parallele zu demVorgang, den ich erwähnt habe, besteht aber nicht. Hierging es darum, dass von Ihrer Seite – insbesondere vonder FDP, aber auch von der CDU und der CSU – der Be-völkerung suggeriert wurde, wir könnten die Steuernsenken. Teilweise war von Steuersenkungen in einerGrößenordnung von über 30 Milliarden Euro die Rede.
Das muss man sich einmal vorstellen! Jetzt sehen wir,womit wir es zu tun haben.Herr Kollege Schäuble hat versucht, zu retten, was zuretten ist. Er hat die Stichworte Grundfreibetrag undkalte Progression angesprochen.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist alles, was vondem jahrelangen Steuersenkungsgerede von CDU, CSUund FDP übrig geblieben ist. Am Anfang klang es ja wieein Weltrettungsprogramm; daran wird man in diesemParlament doch erinnern dürfen. Sie wollen das verges-sen machen.
Weil Sie das wissen, reden Sie nicht mehr von „Steuer-entlastung“. Stattdessen sprechen Sie in diesem Gesetz-entwurf von der Vermeidung „nicht gewollter Steuerbe-lastungen“.
Merken Sie nicht, wie lächerlich Sie sich mit diesen ver-balen Verrenkungen machen?Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbst für IhreMinientlastung ist kein Geld in den öffentlichen Kassen.Schon ohne die Zusatzbelastung von gut 2 MilliardenEuro, die dieses Gesetz allein die Länder und Kommu-nen jährlich kosten würde, wissen viele Länder und Ge-meinden nicht, wie sie die Schuldenbremse einhaltenkönnen. Das ist doch die Realität. Schauen Sie sich ein-mal in Ihren Gemeinden und in Ihren Ländern um! Dannwissen Sie Bescheid.Der Schuldenstand Deutschlands liegt im Übrigennoch immer 20 Prozentpunkte über dem, was die Euro-päische Währungsunion maximal zulässt.
Die 6 Milliarden Euro, die die Umsetzung dieses Gesetz-entwurfs kosten würde, sind mit keinem Euro gegen-finanziert. Die öffentliche Verschuldung erhöht sich umden vollen Umfang. Zur Begründung entwerfen Sie eineneue Philosophie, über die auch unter juristischenAspekten noch zu reden sein wird.Bisher hat das Bundesverfassungsgericht zum Grund-freibetrag immer gesagt, die Anpassung müsse nachVorlage des Existenzminimumberichts erfolgen. Da hatder Gesetzgeber noch Spielraum. Das wird in der Dar-stellung von Herrn Schäuble in ein ganz anderes Lichtgetaucht. Darüber wird noch zu reden sein. Sie habenkeinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung vorgelegt, wasaber notwendig wäre. Wie passt das zusammen, HerrSchäuble? Sie spielen zusammen mit Frau Merkel in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19415
Joachim Poß
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Europa den fiskalischen Zuchtmeister, und hier zu Hausewollen Sie Steuersenkungen auf Pump.
Im Übrigen: Kein Sozialdemokrat verweigert sich ei-ner notwendigen Anhebung des Grundfreibetrags.
Wer etwas anderes sagt, sagt schlicht die Unwahrheit.Bis heute liegt aber keine ordentliche und nachvollzieh-bare Berechnung der Bundesregierung dafür vor,
wann und um welchen Betrag der Grundfreibetrag er-höht werden muss. Die von Ihnen genannten Zahlenwurden gegriffen.
In guter Übung wird die Höhe des notwendigenGrundfreibetrags alle zwei Jahre in den sogenanntenExistenzminimumberichten der Bundesregierung fortge-schrieben. Der nächste Bericht, der neunte, steht plan-mäßig 2013 ins Haus. Legen Sie den Neunten Existenz-minimumbericht mit einer vernünftigen und auchsachgerechten Berechnung von Existenzminimum undGrundfreibetrag vor! Dann werden wir sehen, wann undum welchen Betrag Anhebungen notwendig sind, unddie werden wir dann auch mittragen.
Diese „Prognoseabschätzungen“ haben allein das Ziel,Legitimationen für Steuerentlastungen zu fingieren. Dasist Teil dieser Ablenkungs- und Täuschungsaktion, diewir hier erleben.
Angesichts der aufgelaufenen öffentlichen Verschuldungund auch der Schuldenbremse, die einzuhalten ist, brau-chen wir selbst für zwingende Erhöhungen des Grund-freibetrags eine solide Gegenfinanzierung.Zum Phänomen der kalten Progression, dem zweitenStichwort, ist zu sagen, dass die Regierung trotz vielerNachfragen meiner Kolleginnen und Kollegen aus demFinanzausschuss bis heute keine überzeugenden Berech-nungen vorgelegt hat. Im Übrigen sind sich alle Exper-ten einig: Dank der vielen von SPD-Bundesfinanzminis-tern zu verantwortenden Einkommensteuersenkungen inallen Einkommensbereichen seit 1998 spielte die kalteProgression in unserer Regierungszeit keine Rolle.In Herrn Schäubles Rede klang fast klassenkämpfe-risch die Frage an, ob man den Menschen nicht etwasgönnen wolle.
Die Auseinandersetzung darüber, wie eine gerechteSteuerpolitik aussieht, die auch die Hochleistungsfähi-gen in diesem Land durch höhere Spitzensteuersätze undeine angemessene Vermögensteuer stärker in die Mitver-antwortung für das Gemeinwesen bringt,
werden wir in den nächsten Wochen und Monaten füh-ren.
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerGesetzentwurf ist offensichtlich so ausgereift und soklug und präzise justiert, dass der Kollege Poß es ver-mieden hat, sich dezidiert mit ihm auseinanderzusetzen.
Das wahre Ablenkungsmanöver war die Rede von HerrnPoß, in der er Nebenkriegsschauplätze aufgemacht hat.
Es ist nicht wahr, dass dieser Gesetzentwurf das ein-zige Steuergesetz ist, das diese Koalition in dieser Legis-laturperiode auf den Weg gebracht hat.
Wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz undvieles andere, auch zur Steuervereinfachung, auf denWeg gebracht. Jetzt gehen wir das Thema der kalten Pro-gression gezielt in einem Punkt an, den auch Sie, wie Sieden Menschen in Ihrem Wahlprogramm noch verspro-chen haben, unterstützen wollten.Der Bundesfinanzminister hat zu Recht darauf hinge-wiesen, dass es nicht darum geht, vorhandene Steuern zusenken. Es geht vielmehr darum, auf nicht gewollteSteuererhöhungen zu verzichten. Insofern muss manauch keine Vorschläge zur Gegenfinanzierung vorlegen.Damit fallen alle Ihre Gegenargumente, die Sie auchüber die Länder im Bundesrat vorbringen, wie ein Kar-tenhaus in sich zusammen.
Von der Kritik bleibt also nichts übrig.Wir haben uns gezielt die unteren und mittleren Ein-kommen vorgenommen, weil wir wollen, dass die Auf-
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Dr. Volker Wissing
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schwungsdividende endlich auch bei den Beziehern vonunteren und mittleren Einkommen ankommen soll. Wa-rum ist die SPD ausgerechnet dagegen? Diese Frage hät-ten Sie der Öffentlichkeit in Ihrer Rede beantwortensollen, Herr Kollege Poß. Warum unterstützt die Sozial-demokratie nicht den Schutz der unteren und mittlerenEinkommen vor ungewollten Steuererhöhungen?
Wenn man abstrakt die Frage stellt, warum man diesenGesetzentwurf braucht, dann könnte man sagen: „DieArbeit ist die Quelle allen Reichtums und aller Kultur“.Dieses Zitat stammt aus dem Gothaer Programm von1875. Die SPD hat sich offensichtlich weitgehend vondiesen Prinzipien entfernt.
Was machen Sie heute? Sie kämpfen mit einer nichtnachvollziehbaren Begründung gegen einen Ausgleichfür reale Einkommensverluste durch die Inflation.
Der Bundesfinanzminister sagte zu Recht, dass derDeutsche Bundestag die inflationsbedingten Steuererhö-hungen nie wollte und sie auch nie beschlossen hat.Wenn Sie zur Vermeidung ungewollter Steuererhöhun-gen Nein sagen, dann sagen Sie Ja zu diesen Steuererhö-hungen.
Dann sind Sie eine Steuererhöhungspartei, was die unte-ren und mittleren Einkommen angeht. Damit müssen Siesich auseinandersetzen.
Das passt zu dem, was Sie sonst der Öffentlichkeit zubieten haben. Das ganze linke Parteienspektrum überbie-tet sich inzwischen an Vorschlägen dazu, wie man dieSteuern in Deutschland weiter erhöhen kann.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Paus?
Ja, bitte.
Herr Wissing, Sie haben gesagt, Sie wollten die Bür-
gerinnen und Bürger vor Inflation schützen. Abgesehen
davon, dass dafür die Europäische Zentralbank zustän-
dig ist, frage ich Sie: Können Sie mir sagen – darüber
gibt der Gesetzentwurf leider keine Auskunft –, wie Sie
die Entwicklung der Inflation in den Jahren 2013 bis
2016 einschätzen? Können Sie mir zumindest die Aus-
sage des Bundesfinanzministeriums im Finanzausschuss
bestätigen, dass vor allen Dingen diejenigen mit höheren
Einkommensteuerzahlungen zu rechnen haben, die in
den nächsten Jahren höhere Boni bekommen werden,
und dass die Tarifsteigerungen jedenfalls kein Grund für
die höhere Inflationsrate sein werden?
Frau Kollegin, die Inflationsbekämpfung ist in der TatAufgabe der Europäischen Zentralbank. Aber wir habendarüber hinaus einen wichtigen Beitrag zu leisten, indemwir uns bei der Stabilisierung unserer Währung im Rah-men der Bekämpfung der Staatsverschuldungskrise en-gagieren. Es ist nicht Gegenstand dieser Debatte, was dieBundesregierung in einem großen Kraftakt, auch mitUnterstützung der Opposition, diesbezüglich auf denWeg bringen konnte. Ich bin sicher, dass es uns gelingenwird, einen Inflationsanstieg zu vermeiden.Gleichwohl sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass wirauch ohne Inflationsanstieg eine kontinuierliche Infla-tion haben, die zu einem ungewollten Anstieg der Steu-erbelastung führt. Es ist inzwischen so, dass eine Lohn-erhöhung in bestimmten Einkommensgruppen nur zueinem ganz geringen Teil bei den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern ankommt.
Ich finde es etwas kalt, dass Sie das überhaupt nicht be-rührt, dass Sie darüber einfach hinweggehen und sagen:Ich mache mir keine Gedanken darüber, wie bei unterenEinkommen eine Überstunde besteuert wird.
Sie sollten sich einmal etwas intensiver mit diesem Ge-setzentwurf auseinandersetzen. Sie sollten sich außer-dem einmal die Frage stellen, ob Ihre Verweigerungshal-tung den Beziehern unterer und mittlerer Einkommen inDeutschland tatsächlich zuzumuten ist.
Ich glaube, dass Sie am Ende Ihre Meinung revidierenmüssen, denn es ist eine Gerechtigkeitsfrage, die kalteProgression zu bekämpfen.
Ich komme auf die angesprochenen Steuererhöhungs-vorschläge zurück. Sie wollen mit Ihrem Nein zu diesemGesetzentwurf eine Steuererhöhung für untere und mitt-lere Einkommen. Gleichzeitig sagen Sie – das ist inzwi-
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Dr. Volker Wissing
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schen ein Überbietungswettkampf –, der Spitzensteuer-satz müsse auf 45 Prozent, 49 Prozent
oder, wie zuletzt von den Linken gefordert, 75 Prozentsteigen.
Das entspricht dem Vorschlag Ihres sozialdemokrati-schen Freundes Hollande, der Präsident der Französi-schen Republik werden möchte. Irgendwann hat manden Eindruck, dass die Sozialdemokraten das Steuer-recht als Strafrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer verstehen.
Das ist es aber nicht, weil es einen Zusammenhang zwi-schen Arbeit bzw. der Steuerbelastung von Arbeit unddem Sozialstaat gibt. Das Bewusstsein dafür ist Ihnenoffenbar abhandengekommen.Soziale Leistungen des Staates fallen nicht vom Him-mel, sondern müssen erwirtschaftet werden. Es gilt derGrundsatz: Geht es den Beschäftigten und der Wirtschaftgut, dann geht es auch dem Sozialstaat gut. Das wolltenSie uns nie glauben, und deswegen haben wir es Ihnenbewiesen. Wir haben wachstumsorientiert konsolidiert.Wir haben durch kluge Steuerpolitik – von der Vermei-dung von Steuererhöhungen zu Beginn dieser Legisla-turperiode bis hin zu diesem Gesetzentwurf – für die ma-ximale Entfaltung von Wachstumskräften in unseremLand gesorgt. Jetzt sind die Sozialkassen voll, und dieArbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosig-keit, ist niedrig. Den Beweis, dass unsere Politik richtigist, haben wir erbracht. Jetzt setzen wir sie fort und ladenSie ein, umzukehren, Ihre Verweigerungshaltung aufzu-geben und endlich den richtigen Kurs für unser Land zuunterstützen.
Geben Sie Ihre Scheinkämpfe auf, und unterstützen Siediesen Gesetzentwurf, der endlich einen Paradigmen-wechsel im Einkommensteuerrecht einleitet und mit derkontinuierlichen Überprüfung der kalten Progressionmehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer schafft. Wir wollen, dass sie an den Erfolgen derWirtschaft teilhaben.Wir freuen uns, dass die Einkommen der Beschäftig-ten gestiegen sind. Jetzt muss man dafür sorgen, dassdiejenigen, die sich in der Vergangenheit zurückgehaltenhaben und jetzt Lohnsteigerungen erwarten, diese auchbehalten können, indem sie gerecht besteuert werden. Esdarf jetzt nicht ausgerechnet bei den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern im unteren und mittleren Einkom-mensbereich zugegriffen werden.Ich lade Sie ein, Ihre Verweigerungshaltung aufzuge-ben und diesen Gesetzentwurf zu unterstützen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Wissing, das war eine vergiftete Einladung. Siekönnen doch nicht ernsthaft meinen, dass wir uns an Ih-rer vermurksten Steuerpolitik beteiligen. Das ist wirklicheine Zumutung.
Nach zweieinhalb Jahren kommen Sie endlich ausdem Knick und legen etwas vor, scheinbar den großenWurf. Die Koalition will jetzt endlich die kalte Progres-sion bekämpfen. Dazu kann ich nur sagen: Gut, dass Sieendlich ausgeschlafen haben. Ich darf Sie daran erin-nern: Wir haben in der letzten Legislaturperiode einenAntrag vorgelegt und haben Sie aufgefordert, etwas ge-gen die kalte Progression, die ein Teilproblem darstellt,zu tun. Wir haben in unserem Antrag verschiedene Mög-lichkeiten aufgezeigt: Man könnte einen Inflationsfaktorin den Tarif einbauen, oder man könnte eine kontinuier-liche Anpassung im Grundfreibetrag gestalten. Es gibtverschiedene Möglichkeiten.
Das hat Sie damals nicht sonderlich interessiert. Sie ha-ben den Antrag abgelehnt. Jetzt kommt Ihr großer Wurf.Aber wir unterscheiden uns erheblich in der Einord-nung. Sie betrachten Ihren Gesetzentwurf zum Abbauder kalten Progression als die Lösung des Problems derSteuergerechtigkeit. Dem ist mitnichten so. Bei uns wardiese Aufforderung in unserem Vorschlag zur Reformder Einkommensteuer eingebettet. Da liegt das Problem;denn die kalte Progression resultiert aus der Kombina-tion von Lohnsteigerung, Inflation und konkretem Tarif-verlauf.Nun sind wir uns alle einig, dass wir mit dem progres-siven Einkommensteuertarif dem Grundprinzip des deut-schen Steuerrechts Rechnung tragen, die Besteuerungnach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vorzuneh-men. Allerdings – es war Herr Waigel, der das damalseingeführt hat – haben wir keine durchgehend linear-progressive Gestaltung, sondern wir haben einen soge-nannten Steuerbauch. Das führt dazu, dass Bezieher vonunteren und mittleren Einkommen durch den Tarifver-lauf überproportional belastet werden. Das ist das Pro-blem. Solange Sie dieses Problem nicht angehen, habenSie bei der Kombination einer Lohnsteigerung in Höheder Inflationsrate mit diesem Tarifverlauf den Effekt,dass sich die überproportionale Belastung verstärkt.
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Dr. Barbara Höll
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Deshalb sagen wir: Wir müssen das Grundproblemanpacken. Wir brauchen einen neuen Einkommensteuer-tarif. Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht: Anhebungdes Grundfreibetrags auf 9 300 Euro und Anhebung desSpitzensteuersatzes auf 53 Prozent, der ab 65 000 Eurogreifen soll. Um keine Verwirrung aufkommen zu las-sen: Dieser Tarif führt zu einer Entlastung bis zu einemzu versteuernden Jahreseinkommen von 70 000 Euro.Das ist ein wirklich gerechter Vorschlag.
Diejenigen, die über 70 000 Euro verdienen, können wirsehr wohl belasten, weil sie tatsächlich eine wesentlichhöhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben. Das istdas Grundproblem, und das müssen wir angehen.
Solange Sie dies nicht tun, können Sie hier und da einbisschen herumdoktern, aber Sie lösen das Problemnicht.Eine solche Reform können wir uns auch leisten. Sieist finanzierbar, weil es sich um eine Kombination vonEntlastung und Belastung handelt; denn wir heben denSpitzensteuersatz an, gestalten aber den Tarifverlaufdurchgehend linear-progressiv. Das würde zur Über-sichtlichkeit beitragen; denn es ist klar, dass sich letzt-endlich mit jeder Lohnerhöhung die Progression mini-mal, aber durchgehend gleichmäßig erhöht. Eine solcheProgression ist sozial gerecht. Deshalb müssen wir dafürkämpfen.
Es gibt ein zweites Problem. Herr Wissing, Sie tönenhier groß über die Arbeit usw. Wer hat denn in Deutsch-land in großer Gemeinsamkeit seit dem Jahr 2000 daraufhingewirkt, dass Menschen nicht mehr ordentlich fürihre Arbeit bezahlt werden? Wir haben in Deutschlanddie Situation, dass das Arbeitsvolumen de facto nicht ge-stiegen ist. Es hat sich lediglich auf mehr Schultern ver-teilt, aber nicht bei gleichbleibender Bezahlung; viel-mehr wurden Mini- und Midijobs installiert, wodurcheine wahnsinnige Lohndrückerei erfolgt ist. Wir habenin Deutschland Tausende Menschen, die Vollzeit arbei-ten, aber von ihrem Lohn nicht leben können. Wir müs-sen hier das Problem auch mit einem Mindestlohn ange-hen.
Wir brauchen hier in Deutschland massive Lohnsteige-rungen, die nicht nur die Inflation ausgleichen, sondernüber der Inflationsrate liegen müssen.
Das sind die dringenden Probleme.
Wir unterstützen die Anhebung des Grundfreibetrags.Herr Schäuble, Sie haben eben gesagt, die einfache Ver-schiebung des Tarifs sei die endgültige Absage an diekalte Progression. Das verstehe ich nicht ganz. Es ist janicht eine laufende Verschiebung.
Endgültig kann das nicht sein. Das ist jetzt eine Maß-nahme. Aber das Problem als solches ist nicht gelöst.
Dafür brauchen wir einen anderen Tarifverlauf. Wennwir einen solchen Einkommensteuertarif beschließenwürden, wie wir ihn vorschlagen, erst dann hätten wireine wirkliche Entlastung im unteren und mittleren Ein-kommensbereich. Das, was Sie vorschlagen, ist eineMini-Entlastung.
Sie hantieren ja auch im Gesetzentwurf nicht mit ab-soluten Zahlen, sondern nur mit relativen Zahlen. Abso-lut und relativ sind – Frau Paus hat in ihrer Zwischen-frage darauf hingewiesen – eben doch zwei verschiedeneSachen. Wenn ich einer Verkäuferin sage: „Du wirst re-lativ viel mehr entlastet“, kommt dabei absolut nur eineEntlastung von monatlich vielleicht 5 Euro heraus. Wennich aber demjenigen, der ein Einkommen in Höhe vonvielleicht 1 Million Euro hat, sage: „Es tut mir leid, duhast relativ eine wesentlich geringere Entlastung“, be-kommt er dann 500 Euro oder wie viel auch immer – daskann ich jetzt nicht genau sagen –; das ist doch absolutbedeutend mehr.
Diese Frage steht dahinter.
Deshalb können wir Ihre Argumentation in diesemPunkt nicht teilen. Wir können das auch nicht voll unter-stützen. So geht es nämlich nicht. Wir brauchen dieganze politische Kraft für die Einführung eines neuenEinkommensteuertarifs, der sozial gerecht ist, der finan-zierbar ist
und der damit tatsächlich wieder eine Rückkehr zumPrinzip der Besteuerung nach der tatsächlichen wirt-schaftlichen Leistungsfähigkeit darstellt.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMinister Schäuble, es ist schon sehr erstaunlich, wie maneinen ganz normalen ökonomischen Fachbegriff zu demgesellschaftspolitischen Problem schlechthin aufblasenkann. Kommen wir noch einmal konkret zu dem von Ih-nen vorgelegten Gesetzentwurf. In Ihrem Gesetzentwurfselbst wird festgestellt, dass es dieses riesengroße gesell-schaftliche Problem zumindest in den letzten zehn Jah-ren überhaupt nicht gegeben hat. Außerdem – daraufwurde schon von Herrn Poß hingewiesen – bekämpfenSie so ein Problem, von dem Sie heute überhaupt nochnicht wissen, in welcher Form es eintreten wird.Es wird da in der Tat etwas geben. Voraussichtlich imnächsten Jahr steht eine Anpassung beim Existenzmini-mum an.
Ja, wir werden auch eine Preissteigerung größer null ha-ben. Auch das ist so weit richtig. Aber in Ihrem Gesetzsagen Sie ganz konkret, dass die kalte Progression imJahr 2017 6,6 Milliarden Euro betragen wird, also in fünfJahren. Sehr geehrter Herr Schäuble,
da müssen Sie als Bundesfinanzminister mir doch zu-stimmen, dass das ökonomischer Humbug ist.
Ihnen ging es einzig und allein um ein wohlklingen-des Etikett für Ihre Ministeuersenkung.
Deswegen müssen Sie das auch mit riesengroßem Ge-töse hier immer wieder vortragen. Entsprechend don-nernd ist Ihre Wortwahl. Aber dass Sie sich hier so inRage reden, ist, wie wir finden, an Bigotterie nicht zuüberbieten.
Ich jedenfalls habe nicht vergessen und Hunderttausendevon Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern auchnicht, wie Sie tatsächlich mit der Existenzsicherung vonMenschen in diesem Land umgehen.Es war im Februar 2010, als das Bundesverfassungs-gericht den Hartz-IV-Satz für verfassungswidrig erklärthat. Es hat über ein Jahr gebraucht, bis Sie diesen korri-giert haben.
Sie haben ihn auch nicht rückwirkend korrigiert, sondernbei jedem Hartz-IV-Empfänger und bei jeder Hartz-IV-Empfängerin satte 55 Euro eingespart, indem Sie dasVerfassungsgerichtsurteil erst später umgesetzt haben.So halten Sie es mit den sozialen Grundrechten in die-sem Land. Ich finde, wer so etwas tut, der hat wirklichjegliches moralische Recht verwirkt, so zu debattieren.
– Das Bundesverfassungsgerichtsurteil war im Februar2010, Herr Lindner; das wissen Sie. Sie wissen auch,
wie lange Sie gebraucht haben, um auszurechnen, dassder Ausgleich nur 5 Euro beträgt. Aber selbst diese5 Euro haben Sie den Hartz-IV-Empfängerinnen und-Empfängern im Jahr 2010 Monat für Monat nicht ge-gönnt.
– Ja, genau.Kommen wir jetzt zum materiellen Kern Ihres Geset-zes.
Sie sagen: Der Aufschwung soll bei denjenigen, die ar-beiten, also den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernim unteren und mittleren Bereich, endlich ankommen.Ich greife damit das auf, was Sie, Herr Wissing, eben ge-sagt haben.
Sie versuchen, den Leuten zu verkaufen, dass das insbe-sondere etwas für die unteren und mittleren Einkommenbringt.
Schauen wir uns einmal Ihr Gesetz an und rechnen.Dann stellen wir fest: Bei einem Bruttolohn von 1 200Euro sollen sie nach dem Gesetz im Jahre 2013 ganze2 Euro und im Jahre 2014 ganze 5 Euro mehr im Monatbekommen. Eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmermit einem Bruttolohn von 3 000 Euro wird mit 5 Euround im Jahr darauf mit 15 Euro pro Monat entlastet.Aber wo fängt es an, sich langsam zu lohnen? Natür-lich wie immer bei den höheren Einkommen. Bei6 000 Euro brutto im Monat fängt man an, es tatsächlich
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Lisa Paus
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zu spüren. Dann sind es 30 Euro im Monat, also360 Euro im Jahr 2014.
Schaut man sich an, wem die geplanten Steuerentlas-tungen von Schwarz-Gelb tatsächlich nützen, dann mussman erneut feststellen: Insbesondere die oberen Einkom-men werden entlastet.
Wenn man sich die Verteilungswirkungen insgesamt an-schaut, dann sieht man: Die unteren 20 Prozent, von de-nen Sie immer sagen, dass Sie sie entlasten wollen, be-kommen nach Ihrem Gesetz keinen einzigen Euro mehr.
Aber die obersten 10 Prozent bekommen 30 Prozent derinsgesamt 6,6 Milliarden Euro.
So geht Steuerpolitik bei Schwarz-Gelb. So sieht dieGerechtigkeit bei Schwarz-Gelb aus: Wer hat, dem wirdgegeben.
Auch mit diesem Gesetz schaffen Sie es nicht, das zu än-dern.
– Ich kann Ihnen die Zahlen geben. Wir haben es ausge-rechnet.
Und wem wird es genommen? Den öffentlichenHaushalten wird es genommen, und das bedeutet für dieLänder und Kommunen eine Lücke von 2,25 MilliardenEuro. Allein im Land Berlin, aus dem ich komme, wür-den auf diesem Wege jährlich 120 Millionen Euro in derKasse landen. Zum Vergleich: Die Konsolidierungshilfe,die der Bund großzügig an das Land Berlin zahlt, liegtbei 80 Millionen Euro. Es ist also direkt wieder eine Lü-cke von 40 Millionen Euro. Auch Nordrhein-Westfalenist mit einer halben Milliarden Euro dabei.Was wird die Folge sein? Berlin und die anderenStädte und Kommunen werden wieder einmal an denGebühren schrauben müssen. Ob Kita, Abfall, Wasser,Nahverkehr, Schwimmbäder oder Kultur – das bleibt inder Tat ihnen überlassen.
Betroffen sein werden immer die Bezieher von unterenoder mittleren Einkommen, weil sie nämlich auf die öf-fentliche Infrastruktur angewiesen sind und weil sie
von den sozialen Staffelungen nur selten profitieren kön-nen.Wenn Sie also ernsthaft insbesondere Arbeitnehmermit kleineren und mittleren Einkommen entlasten wollen– es stehen ja noch Verhandlungen an –, dann lade ichSie herzlich ein, genau das zu tun und unseren grünenTarif zu Ihrer Gesetzesinitiative zu machen.
Durch unsere Anhebung des Grundfreibetrages auf8 500 Euro statt wie bei Ihnen im weiteren Verlauf auf8 354 Euro entlasten wir die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer mit einem Bruttolohn von 1 200 bis 3 500Euro stärker als Sie von der Koalition.
Darüber hinaus ist unser Vorschlag bereits im Jahr 2012vollständig umsetzbar, und wir erzielen durch die ge-samte Einkommensteuertarifreform samt Erhöhung desSpitzensteuersatzes auf 49 Prozent nicht Mindereinnah-men von 6 Milliarden Euro, sondern Mehreinnahmenvon 2,5 Milliarden Euro
und verbessern damit auch noch die staatliche Hand-lungsfähigkeit und damit die Möglichkeit der Versor-gung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort.
Meine Damen und Herren von der Koalition, so wirdein Schuh draus. Schlagen Sie darauf ein, und wir be-kommen eine vernünftige Reform, den Abbau der kaltenProgression und eine tatsächliche Entlastung der unterenund mittleren Einkommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19421
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschlandein kompliziertes Steuersystem, und es gibt nicht immerZustimmung zu diesem Steuersystem. Es gibt zu einemBereich des Steuersystems große Zustimmung, nämlichdazu, dass wir einen großen Teil der Bevölkerung vonder Lohn- und Einkommensteuer freistellen – das sindfast 40 Prozent – und dass diejenigen, die ein gutes bzw.ein hohes Einkommen haben, entsprechend höher belas-tet werden.Das nennen wir Progression nach der Leistungsfähig-keit. Das heißt, jemand, der ein hohes Einkommen hat,wird mit 45 Prozent Lohnsteuer oder Einkommensteuerbelastet. Dazu kommen der Solidaritätszuschlag und dieKirchensteuer, und so erreicht man fast 50 Prozent.
Hier gibt es eine hohe Übereinstimmung darin, dassdie Leistungsfähigen für die anderen mitzahlen, undheute ist es so, dass die oberen 10 Prozent der Leistungs-fähigen 55 Prozent der gesamten Lohn- bzw. Einkom-mensteuer zahlen.Was die Bevölkerung aber nicht akzeptiert, ist, dassman nicht automatisch 3 Prozent mehr in der Tasche hat,wenn man eine Gehaltserhöhung von 3 Prozent be-kommt. Aufgrund unseres Steuertarifs müssen für jedenEuro, der mehr verdient wird, mehr Steuern gezahlt wer-den. Das nennen wir kalte Progression. Nicht nur dieBürgerinnen und Bürger, sondern auch wir von der Ko-alition akzeptieren das nicht.
Pro Jahr nimmt der Staat – also Bund, Länder und Ge-meinden – durch diese kalte Progression etwa 3 Milliar-den Euro mehr ein. Sie wurde nicht gesetzlich festgelegt;sie kommt nur durch die die Inflation ausgleichendenGehaltserhöhungen zustande. Das heißt, mit jedem Eurozusätzlich zahlt man automatisch mehr Steuern. MittlereEinkommen in Höhe von 2 000 bis 3 000 Euro brutto imMonat zahlen nach der Grundtabelle auf jeden zusätzli-chen Euro 30 Prozent Steuern. Das heißt, für jeden Euro,den die Bezieher solcher Einkommen zusätzlich verdie-nen, werden, wenn man die 20 Prozent Sozialabgabenhinzunimmt, 50 Prozent abgezogen. Das kann auf Dauernicht akzeptiert werden, und wir wollen das auch nichtakzeptieren. Im Koalitionsvertrag haben wir festgehal-ten, was wir nach der Wahl tun werden. Jetzt tun wir,was wir gesagt haben.
Wir haben schon öfter über den Einkommensteuerta-rif diskutiert. In der Großen Koalition haben wir damalsim Rahmen des Konjunkturpaketes II eine Tarifanpas-sung vorgenommen.
Wir haben 2010 zu Beginn der christlich-liberalen Ko-alition die Familien mit 5 Milliarden Euro unterstützt,weil es sich um Leistungsträger der Gesellschaft handelt.
Außerdem haben wir Gesetze im unternehmerischen Be-reich sozusagen entschärft, damit die Wirtschaft wiederSchwung aufnimmt und die Konjunktur gestärkt wird.Diesen Effekt können wir heute erleben. Denn im Zeit-raum von 2010 bis 2013 gibt es Steuermehreinnahmen inHöhe von 83 Milliarden Euro für Bund, Länder und Ge-meinden. Davon wollen wir den Bürgern jetzt 6 Milliar-den Euro zurückgeben.
Sie alle wissen, dass im Spätherbst der neue Existenz-minimumbericht erscheint. Das heißt, wir werden beimGrundfreibetrag ohnehin eine Anpassung vornehmen.Aber wir wollen auch den Tarif anpassen. Da muss ichinsbesondere die Kolleginnen und Kollegen der SPD fra-gen: Wo sind Sie eigentlich angelangt, dass Sie untereund mittlere Einkommen nicht mehr entlasten wollen?
Ich verstehe ja, dass Sie nicht allem zustimmen. Aberhier geht es um 6 Milliarden Euro, die als Einnahmen fürBund, Länder und Gemeinden nicht eingeplant waren.Der Finanzminister hat allen, also auch Ihnen, angebo-ten, die Kosten für die Veränderungen des Tarifverlaufszu übernehmen. Das ist nichts anderes als eine Kosten-übernahme des Bundes. Dennoch lehnen Sie eine Sen-kung der Steuern für untere und mittlere Einkommen ab.Sie haben deutlich gemacht, dass es nach Ihrer Über-zeugung einen höheren Spitzensteuersatz geben müsste.Der Spitzensteuersatz in Höhe von 42 Prozent wirdschon bei einem Jahreseinkommen von 53 000 Euro er-reicht. Plus Solidaritätszuschlag ergibt sich eine Steuer-belastung von fast 47 Prozent. Wer zusätzlich noch dieReichensteuer zahlen muss, liegt bei fast 50 ProzentSteuern.Sie sollten einmal deutlich sagen, dass Sie auch beiJahreseinkommen ab 53 000 Euro brutto über eine Steuer-belastung von 47 Prozent hinausgehen wollen. Zusätz-lich zu den Sozialabgaben müssten die Betroffenen dannüber 50 Prozent Steuern zahlen.
Von der Linkspartei rede ich in diesem Zusammenhanggar nicht erst. Sie wollen möglicherweise wie Hollandein Frankreich in Richtung 75 Prozent gehen.Sie müssen aber wissen: Wenn Sie den Spitzensteuer-satz – wir nennen ihn die Reichensteuer – um einen Pro-zentpunkt anheben, dann fließen in die Kassen vonBund, Ländern und Gemeinden 300 Millionen Euro zu-sätzlich. Auf den Bund entfallen dabei 128 MillionenEuro. Das ist exakt 1 Promille unseres Sozialhaushaltes.Sie werden erleben, dass dann die mittelständische Wirt-schaft, die familiengeprägt ist, und die Personenunter-nehmen, die Einkommensteuer zahlen, Investitionen zu-rückfahren.
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19422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Klaus-Peter Flosbach
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Heute erleben wir einen Aufschwung in Deutschland.Damit liegen wir weltweit an der Spitze. Wir habendurch unsere Maßnahmen im Jahre 2010 und auch imZeitraum bis heute unsere Wirtschaft gestärkt. Wir erle-ben einen Boom, weil wir darauf geachtet haben, die Un-ternehmen stark zu machen und die Familienbetriebe beider Erbschaftsteuer zu entlasten, damit auch die nächsteGeneration Arbeitsplätze in Deutschland schafft.
Wir haben immer an den Ausgleich zwischen kleinerenund größeren Einkommen, zwischen Privatpersonen undUnternehmen gedacht. Das haben die Gesetze des Jahres2010 geschaffen. Wir haben übrigens auch kleine undmittlere Unternehmen entlastet, indem wir zum Beispieldie Istbesteuerung verändert haben, damit kleine undmittlere Unternehmen mehr Liquidität bekommen, umdamit Arbeitsplätze zu schaffen.Herr Poß, Sie haben von Verschuldung gesprochen.Man kann aber keine Steuersenkung vornehmen, weildie Verschuldung so hoch ist. Sie sind lange genug da-bei. Sehen Sie sich einmal die Jahre von 1998 bis 2005an. Sie haben in jedem Jahr mehr Schulden aufgenom-men als wir im Jahr 2011.
Da gab es keine Krise.Wir haben eine Schuldenbremse eingeführt. Wir ha-ben beim Haushalt des Bundesministers gesehen: Wirhaben eine Neuverschuldung in Höhe von 48 MilliardenEuro geplant. Wir sind bei 17 Milliarden Euro angelangt.Wir sind der stabile Faktor in Deutschland.Wir sind bei der ersten Lesung dieses Gesetzes. Esgeht darum, Motivation nicht nur für Unternehmen, fürLeistungsträger, für Hochverdiener zu schaffen, sondernes geht insbesondere darum, Motivation bei Arbeitneh-mern mit unterem oder mittlerem Einkommen zu schaf-fen. Motivation ist der Kernbereich für die Leistungsfä-higkeit dieser Gesellschaft. Deswegen kann ich nursagen: Unterstützen Sie die Bundesregierung. Unterstüt-zen Sie die Koalitionsparteien, dass zu viel gezahlteSteuern von unteren und mittleren Einkommen zurück-gefahren werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Nicolette Kressl für die SPD-Frak-
tion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt hat, so isteinem heute aufgefallen, dass aufseiten der FDP eineganz ungewohnte Mischung aus Nervosität und Aggres-sion vorhanden war. Daraus kann ich nur schließen, dassdieser Gesetzentwurf wieder für das symptomatisch ist,was die Koalition in den letzten Jahren im Steuerbereichanzupacken versucht hat, was nie gelungen ist.Auch dieser Gesetzentwurf ist davon geprägt, weil eretwas vorgibt, was er nicht ist. Sie haben am Anfang garnicht gewusst, was Sie vorhaben.
Wenn man sich einmal die Historie anschaut, dann stelltman fest: Aus der ganz großen Steuerentlastung ist einewitzige Melange entstanden. Wenn man die Presse ver-folgt hat, dann weiß man, dass es einen großen Konfliktgab. Wir haben Finanzminister Schäuble noch dabei un-terstützt, als er gesagt hat: Wir haben für die 24 Milliar-den Euro kein Entlastungspotenzial. Dann wurde dieHöhe der Entlastung immer kleiner. Inzwischen habenSie sich entschieden, zu sagen, das, was erst eine abge-schmolzene Entlastung war und jetzt etwas wird, was niegeplant war, sei verfassungsnotwendig.Was sagen Sie denn jetzt? Sie sagen: Wir bräuchtenjetzt die Erhöhung des Existenzminimums. Sie verges-sen dabei völlig, dass es eigentlich ein geregeltes Verfah-ren gibt, wie wir uns gemeinsam immer auf eine Erhö-hung des Grundfreibetrages geeinigt haben, um dasExistenzminimum eines erwachsenen Menschen steuer-frei zu stellen.Ich finde aber, Sie sollten zugeben: Wenn Sie dieWerte einfach so greifen, ohne auf die Berechnungen zuwarten, dann ist es eine politische Entscheidung, die da-raus folgt, dass Sie die Melange, die ich beschriebenhabe, irgendwie zufriedenstellen müssen. Es wäre einnormales Verfahren, zu sagen: Wir sehen uns die Zahlenan. Übrigens, Herr Volk, das hat mit Inflation nichts zutun. Die Berechnungen des Existenzminimumsberichtsergeben sich nicht einfach aus einer Hochrechnung derInflation, sondern kommen in einem wissenschaftlichgeregelten Verfahren zustande. Wir haben immer gesagt:Wenn die Zahlen vorliegen, sind wir bereit – das ist eineverfassungsrechtliche Vorgabe –, dies mitzutragen. AberSie verbrämen sozusagen diese verfassungsrechtlicheNotwendigkeit mit einer – aus Ihrer Sicht, nicht aus un-serer Sicht – viel zu klein geratenen Steuerentlastung.Dann kommt so ein – ich weiß nicht, was – Mix heraus.
Sie ziehen mit Ihrem Gesetzentwurf keine konse-quente Linie und setzen keine klaren Prioritäten. Siekönnen sich zwischen Steuerentlastung und dem Not-wendigen nicht entscheiden. Für uns Sozialdemokratenhätten Sie Mut bewiesen, wenn Sie Prioritäten gesetzthätten.Unsere Prioritäten sind: Der Schuldenabbau ist not-wendig, weil er dem Sicherheitsbedürfnis der Menschenentspricht. Das ist die erste Priorität.
Die zweite Priorität ist: Wir wollen eine Sicherheits-reserve für schwierige Zeiten schaffen. Ich finde es wit-zig, zu sehen, dass Sie inzwischen so tun, als ob es aus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19423
Nicolette Kressl
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schließlich einen Zusammenhang zwischen derÜberwindung der Krise und Ihrem Wachstumsbeschleu-nigungsgesetz gäbe. Zu Beginn dieser Legislaturperiodewaren Sie noch ehrlich und haben zugegeben, dass dasauf die Krisenpakete zurückzuführen ist, die wir gemein-sam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht ha-ben. Inzwischen geht es ausschließlich um das Wachs-tumsbeschleunigungsgesetz.
Das finde ich lustig. Entweder ist das Ausdruck von Ge-dächtnisverlust, oder es ist Strategie. Aber das lassen wirIhnen natürlich nicht durchgehen.Weil wir damals dem Schuldenabbau Vorrang gege-ben haben, hatten wir Geld, um Ausgaben im Zusam-menhang mit der Krisenbekämpfung – ich erwähne alsBeispiel nur die Kurzarbeiterregelung – zu decken.
Das machen Sie im Moment nicht. Das hat bei Ihnenkeine Priorität.Die dritte Priorität ist: Da wir auf die Chancengerech-tigkeit in unserem Staat achten müssen, setzen wir Mittelvorrangig für Bildung und Betreuung ein.Wenn diese Prioritäten beachtet sind, können wir überSteuerentlastungen reden. Die Menschen wissen das in-zwischen auch; Herr Poß hat das schon angesprochen.Laut Umfragen können sich die Menschen eine Steuer-entlastung sehr gut vorstellen, aber nur, wenn die Rei-henfolge der von mir eben beschriebenen Prioritäten ein-gehalten wird. Eine solche Prioritätensetzung lassen Sieaber vermissen.
Ich möchte eine letzte Anmerkung machen. Ich findeIhre Volte fast schon waghalsig, vielleicht in Zukunft ei-nen automatischen Ausgleich für die kalte Progressionzu schaffen. Wir sind uns sicherlich einig, dass es einensolchen Automatismus in den letzten Jahren nicht gab.Sie tun so, als ob es sich nicht um eine politische Ent-scheidung handelte, sondern als ob es schon geradezuverfassungswidrig wäre, die Steuereinnahmen aufgrundder kalten Progression einzubehalten. An dieser Stellefinde ich Ihre Argumentation nicht logisch; denn wenndem so wäre, dann dürften Sie nicht alle zwei Jahre eineÜberprüfung der Wirkung der kalten Progression vor-nehmen, sondern dann müssten Sie einen Automatismuseinbauen. Sonst passt das alles nicht.
Sie versuchen, das zu verbrämen, durchdenken esaber nicht logisch. Wir wünschten uns mehr Mut, Priori-täten zu setzen. Sie sollten nicht so viel verpacken undMaßnahmen auf den Weg bringen, die Sie so gar nichtgeplant haben. Dann könnten wir gemeinsam reden.Aber so handelt es sich nicht um eine Grundlage, auf derwir vernünftig und sachlich miteinander diskutieren kön-nen.
Das Wort hat nun Daniel Volk für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Frau Kollegin Kressl, es ist schon erstaunlich, dassSie hier eine Prioritätenliste der SPD vorgetragen haben,
die Sie in den Bundesländern, in denen Sie Regierungs-verantwortung tragen,
granatenmäßig verraten haben. Erklären Sie uns docheinmal, warum die Staatsverschuldung in Nordrhein-Westfalen nach der Regierungsübernahme durch IhrePartei so in die Höhe geschnellt ist. Sie machen eine ver-antwortungslose Haushaltspolitik in den Bundesländernund setzen sie mit einer verantwortungslosen Finanz-politik im Bund fort.
Die steuerpolitischen Vorschläge von SPD, Grünenund Linken in den letzten Monaten sehen massive Steuer-erhöhungen vor. Das Einzige, was Ihnen in der Steuer-politik einfällt, ist Steuererhöhung. Deswegen ist nach-vollziehbar, dass Sie bei der Frage des Abbaus der kaltenProgression so herumwüten. Es geht Ihnen schlicht da-rum, dass die Menschen in diesem Land mehr Steuernzahlen müssen, als sie überhaupt zahlen sollten.
Dementsprechend kommt es Ihnen vollkommen zu-pass, dass eine automatische Steuererhöhung über dasVehikel der kalten Progression in unseren Steuergeset-zen angelegt ist. Sie wüten, weil wir als christlich-libe-rale Koalition unserer Verantwortung nachkommen, ei-nen gerechten Ausgleich zu schaffen zwischen derSteuerpflicht der einzelnen Bürger zur Finanzierung dernotwendigen Staatsausgaben auf der einen Seite unddem Belassen eines genügend hohen Anteils des Ein-kommens bei den Bürgern auf der anderen Seite. Kurz:Wir wollen hier einen gerechten Ausgleich zwischenStaat und Privat.Sie wollen immer nur die Steuern erhöhen. Aber dannsagen Sie doch auch, dass Sie die Steuern erhöhen wol-len. Machen Sie es nicht so wie im Jahr 2005. Da habenSie noch vor der Wahl gesagt: Mit uns gibt es keine Um-satzsteuererhöhung. Kaum waren Sie in der Regierungs-
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19424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Dr. Daniel Volk
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verantwortung, haben Sie die Umsatzsteuer von 16 Pro-zent auf 19 Prozent angehoben. Sagen Sie heute endlichdeutlich, dass Sie für Steuererhöhungen sind.
Dann können wir gerne eine ehrliche politische Aus-einandersetzung über dieses Thema führen. Es ist jedochnicht fair, Nebelkerzen zu werfen, so wie Sie es hier indieser Debatte gemacht haben. Das ist nicht in Ordnung.Sagen Sie offen und ehrlich, dass Sie die Steuern erhö-hen wollen.Im Übrigen möchte ich noch auf eines hinweisen: Na-türlich können wir den nächsten Existenzminimumbe-richt abwarten. Sie können aber nicht die Augen davorverschließen, dass wir vor einer höheren Inflation ste-hen. Vor diesem Hintergrund ist es doch absolut nach-vollziehbar, dass die Tarifparteien die Tarifverhandlun-gen in diesem Jahr mit Forderungen nach relativ hohenLohnsteigerungen beginnen. Wir als christlich-liberaleKoalition werden dafür sorgen, dass die vollkommengerechtfertigten Forderungen nach inflationsbedingtenLohnsteigerungen bei den Leuten ankommen.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mitdem Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Pro-gression wollen wir eine im System des linear-progressi-ven Einkommensteuertarifs begründete Ungerechtigkeitbeseitigen. Uns geht es um die Beseitigung einer Unge-rechtigkeit und nicht um eine Steuersenkung. Es gehtauch nicht um Steuergeschenke, die wir im Übrigen so-wieso nicht verteilen können; denn das würde ja bedeu-ten, dass wir etwas haben, was wir verschenken können.Wir Politiker sind jedoch nicht Eigentümer des Geldesder Bürgerinnen und Bürger, das aus den Steuereinnah-men stammt, sondern wir sind die Treuhänder für diesesGeld. Deswegen können wir gar nichts verschenken.
Dank der Progression im Einkommensteuerrechtmuss derjenige, der mehr verdient, nicht nur absolut inEuro und Cent, sondern auch prozentual eine höhereSteuer auf sein Einkommen zahlen. In Deutschland ha-ben wir, wie Kollege Flosbach schon vorhin richtig dar-gestellt hat, einen Spitzensteuersatz einschließlich Soliund Kirchensteuer von knapp 50 Prozent. Das führtdazu, dass das obere Drittel der Einkommensteuerzahlerknapp 80 Prozent des gesamten Einkommensteuerauf-kommens trägt. Das ist gut so. Es entspricht dem Ge-rechtigkeitsempfinden einer breiten Mehrheit in diesemLand.
Dennoch krankt unser Einkommensteuersystem ander Ungerechtigkeit der kalten Progression. Die kalteProgression bedeutet eine jährliche heimliche Steuer-erhöhung um mehrere Milliarden Euro. Die Bürger zah-len höhere Steuern, obwohl die reale Kaufkraft des Ein-kommens nicht gestiegen ist. Eigentlich ist es eineSelbstverständlichkeit, dass wir hier eine Korrektur vor-nehmen und dafür sorgen, dass sich der Staat an den be-scheidenen Einkommen nicht noch zusätzlich bereichert.
Das erreichen wir durch die hier vorgeschlagene stu-fenweise Anhebung des Grundfreibetrages und eine sichdaraus zwingend ergebende Anpassung des nachfol-genden Tarifverlaufs. Hinzu kommt die regelmäßigeÜberprüfung, alle zwei Jahre. Beim steuerfreien Exis-tenzminimum folgen wir den voraussichtlichen verfas-sungsrechtlichen Vorgaben.Sie von der Opposition blockieren das hier. Ich willdoch mal sehen, wie lange Sie sich noch gegen die ver-fassungsrechtlich vorgegebene Nichtbesteuerung desExistenzminimums stellen wollen. Es ist schon ein biss-chen bizarr: Die SPD, die selbsternannte Schutzmachtder kleinen Leute, die Arbeitnehmerpartei,
stellt sich hier in der Debatte gegen die Schaffung vonSteuergerechtigkeit.Ich muss es wiederholen: Wir machen keine Steuerge-schenke, sondern verschonen gerade die kleinen undmittleren Einkommen von einer Steuererhöhung. Insbe-sondere die unteren und die mittleren Einkommen wer-den bei dieser Maßnahme prozentual stärker begünstigt.Natürlich gebietet es die Ehrlichkeit, zu sagen, dass dieBezieher ganz kleiner Einkommen nichts davon haben;denn die ganz kleinen Einkommen sind schon steuerfrei,die Bezieher zahlen keine oder kaum Steuern und sind inder Regel nur mit Sozialversicherungskosten belastet.Aber die Bezieher mittlerer Einkommen, die Facharbei-ter, die breite Masse, die in diesem Land den Karrenzieht – auf sie entfällt der größte Teil der Einnahmen ausder Einkommensteuer – sind von den Effekten der kaltenProgression betroffen.Ehrlich gesagt, kann ich das Argument, wir könntenuns die Beseitigung dieser schleichenden Steuererhö-hung nicht leisten, nicht mehr hören. Schauen Sie sichdie Entwicklung bei den Steuereinnahmen an. Wir sindbei der Haushaltskonsolidierung dank unserem Finanz-minister wunderbar im Plan. Die Maßnahmen stehen imEinklang mit der Schuldenbremse. Deutschland, werteKolleginnen und Kollegen, ist das einzige Land in derEuro-Zone, bei dem die Ratingagenturen ohne MakelTriple A bestätigen. Wenn wir uns diese Maßnahme, die-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19425
Olav Gutting
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ses Stück Gerechtigkeit bei der Einkommensteuer, nichtleisten können, wer dann!
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,Ihre Blockade mithilfe des Bundesrates ist eine Attackeauf den Geldbeutel der kleinen Leute, die viel arbeitenund wenig heimbringen.
Gerade jetzt, in den nächsten Wochen und Monaten, indenen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nachÜberwindung der schweren Wirtschaftskrise in vielenBetrieben völlig zu Recht eine spürbare Lohnerhöhungerhalten werden, gerade in dieser Situation müssen wireine Perspektive des Ausstiegs aus der kalten Progres-sion schaffen. Die Lohnerhöhungen der nächsten Mo-nate gehören den Bürgerinnen und Bürgern und nichtdem Staat. Treten Sie beiseite! Machen Sie Platz fürmehr Steuergerechtigkeit!
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8683 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Herbert Behrens, Heidrun Bluhm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Pendlerpauschale in sozial gerechtes Pendler-
geld umwandeln und erhöhen
– Drucksache 17/5818 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Ulrich Maurer, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Preiserhöhungswelle an den Tankstellen stop-
pen – Gesetzliche Benzinpreiskontrolle einfüh-
ren
– Drucksache 17/8786 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner dem Kollegen Klaus Ernst von der Fraktion
Die Linke das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit Januar2004 sind die Kraftstoffpreise um satte 53 Prozent ge-stiegen. Das müsste auch Ihnen von der FDP aufgefallensein.
Allein zwischen dem 20. Dezember 2011 und Fe-bruar 2012 – also in zwei Monaten – hat sich der Preisfür Superbenzin um 10,5 Prozent erhöht. An den Tank-stellen findet eine Abzocke statt. Wenn man heute tankt,hat man den Eindruck, man habe die Beteiligung an ei-nem Ölkonzern erworben. Ich habe den Eindruck, dasswir hier im Bundestag im Interesse der Bürgerinnen undBürger des Landes eingreifen müssen.
Ursache für diese Situation ist zum einen die unge-hemmte Spekulation an den Rohstoffmärkten und zumanderen die Tatsache, dass wir in der BundesrepublikDeutschland im Bereich der Rohstoffe, bei Benzin undbei Öl, keinen Wettbewerb haben.Ich zitiere Herrn Andreas Mundt, den Präsidenten desBundeskartellamtes, der gegenüber der Rheinischen Postam 23. Februar 2012 gesagt hat:Der Markt wird von fünf großen Mineralölkonzer-nen gemeinsam beherrscht, die sich gegenseitig we-nig Wettbewerb machen.Das Ergebnis sind diese Preise. Das Ergebnis ist vorallem eine Abzocke bei den Menschen, die tanken müs-sen. Das ist nicht mehr akzeptabel.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass wir alsAbgeordnete einschreiten und nicht zuschauen. Wir sindnicht gewählt, um zu beobachten, sondern um zu han-deln.
Deshalb haben wir in unserem ersten Antrag gefordert,dass die Benzinpreise künftig überwacht werden.
Das sollte in der Weise passieren, dass Benzinpreise an-gemeldet werden müssen und dass ihnen zugestimmtwerden muss.
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19426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Klaus Ernst
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– Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungs-koalition, empfehle ich, das in ihren Wahlkreisen zu dis-kutieren. Die Menschen vor Ort sehen das nämlich deut-lich anders als Sie, die Sie hier absolut unqualifizierteZwischenrufe machen. Das möchte ich Ihnen auch ein-mal sagen.
– Ihr fordert doch dauernd: Mehr Netto vom Brutto! Waswollt ihr denn eigentlich? Ihr betreibt doch, um es ein-mal deutlich zu sagen, Volksverdummung in höchsterVollendung, wenn ihr nicht für unseren Ansatz seid.
Dann kommen wir zum nächsten Antrag, der sich mitgenau diesem Thema beschäftigt: Wir wollen, dass ins-besondere Berufspendler von der bereits erfolgten Abzo-ckerei wenigstens zum Teil entlastet werden. Zurzeitmüssen Beschäftigte für ihren Weg zur Arbeit immermehr zahlen; vom Einkommen bleibt immer weniger üb-rig. Ich habe das einmal ausgerechnet. Eine ungelernteArbeitnehmerin, die bei Bosch in Bamberg arbeitet – ichnenne sie einmal Angela Fleißig –, verdient in Lohn-gruppe 2 circa 2 400 Euro brutto. Sie muss flexibel zurArbeit kommen, weil sie auf Schichtarbeit angewiesenist. Sie gehört der Steuerklasse I an und verdient somitnetto 1 550 Euro. Wenn sie von Weißenbrunn nach Bam-berg zur Arbeit fährt, sind das, einfache Strecke, 62 Ki-lometer. Bei einem Standardauto mit einem Verbrauchvon 6,4 Litern auf 100 Kilometer bedeutet das,
dass sie – der Benzinpreis lag im Januar 2004 bei1,06 Euro; inzwischen, im März 2012, liegt er bei1,65 Euro – Kosten von 265 Euro zu tragen hat; im Ja-nuar 2004 hätten die Kosten noch bei 170 Euro gelegen.Für diese Mitarbeiterin von Bosch – ich weiß, dass Siedas nicht interessiert, weil es nicht Ihre Klientel ist –
bedeutet das, dass sie rund 17 Prozent ihres Einkom-mens für Benzin ausgeben muss. Das ist unzumutbar!
Bei einer Pendlerpauschale von 30 Cent werden aktuellrund 110 Euro im Monat erstattet. Das ist nicht einmaldie Hälfte ihrer Benzinkosten. Deshalb fordern wir Fol-gendes:Erstens. Wir müssen die Pendlerpauschale in einPendlergeld umwandeln, damit nicht nur die, die vomAuto abhängig sind, sondern auch diejenigen, die öffent-liche Verkehrsmittel benutzen – –
– Herr Präsident, ich glaube, da gibt es den Wunsch nacheiner Zwischenfrage.
Ja. Der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage
stellen. – Wie ich sehe, nehmen Sie seine Zwischenfrage
gern entgegen.
Herr Kollege Hinsken, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Ernst, ich verhehle nicht, dass ich der
Erhöhung einer Pendlerpauschale sehr viel abgewinnen
kann.
Weil Sie ein so ausgeklügeltes Beispiel gebracht ha-
ben, möchte ich Sie fragen, was das Ganze bei der Be-
nutzung eines Porsche kosten würde; das würde mich in-
teressieren. Sie als aktiver Porschefahrer werden doch
wissen, welche Kosten ein Porsche im Gegensatz zu
kleineren Autos, die von Arbeitnehmern überwiegend
genutzt werden, verursacht.
Das ist der Unterschied:
Wir selbst fahren vielleicht ein größeres Auto; aber wir
kümmern uns trotzdem um die kleinen Leute. Bei Ihnen
bleibt es beim größeren Auto.
Herr Ernst, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme sofort zum Schluss. – Ich möchte nochkurz unsere Vorschläge nennen:Erstens. Die Umwandlung der Pendlerpauschale inein Pendlergeld, damit alle etwas davon haben. Zwei-tens. Erhöhung der Kilometerpauschale von 30 auf45 Cent. Drittens. Das Pendlergeld wird unabhängigvom gewählten Verkehrsmittel gezahlt.Wie die Grünen sind wir dafür, dass der öffentlicheNahverkehr ausgebaut wird. Aber solange das nochnicht der Fall ist, kann man von den Arbeitnehmernnicht verlangen, dass sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fah-ren, weil sie sich das Benzin nicht mehr leisten können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19427
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Das Wort hat der Kollege Olav Gutting von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr KollegeErnst, ich will zunächst klarstellen: Ich persönlich teiledas, was eben in Zwischenrufen geäußert wurde, nicht.Ich finde es gut und schön, dass Sie einen Porsche 911fahren; das gönne ich Ihnen von Herzen. Ich finde, dasmacht Sie sympathisch.
Die Linken wollen mit ihren Anträgen auf der Welleder Empörung über die hohen Spritpreise surfen. Washaben sie gemacht? Sie haben flugs ihren alten Antragzum Pendlergeld wieder ausgegraben.Wir alle ärgern uns über die hohen Benzin- und Die-selpreise an den Tankstellen. Ich muss mich korrigieren:Einige ärgern sich nicht. Die Grünen fordern sogar nochhöhere Preise.
Für die Grünen können die Preise gar nicht hoch genugsteigen. Wir aber glauben, dass bezahlbare Energie undbezahlbarer Treibstoff eine wichtige Basis für unsereVolkswirtschaft sind; denn von dieser Volkswirtschaftleben wir alle. Es kann uns deshalb nicht egal sein, dassdie Benzin- und Dieselpreise an den Tankstellen immerweiter in die Höhe schießen.Man muss der Öffentlichkeit klarmachen, dass dieEnergiesteuer auf die Treibstoffe seit der letzten Steuer-erhöhung 2003 unter Rot-Grün nicht mehr erhöht wurde.Seit 2003 ist die Energiesteuer auf Benzin und Dieselunverändert geblieben.
Es ist auch nicht so, dass der Fiskus, von dem kleinenAnteil der Mehrwertsteuer einmal abgesehen, bei stei-genden Preisen immer mehr einnimmt. Der Steueranteilam Kraftstoff ist mit 65,6 Cent pro Liter immer gleich,völlig egal, ob der Liter 1 Euro, 1,50 Euro oder 2 Eurokostet. Das wissen leider die wenigsten, wenn sie an derTankstelle wegen der hohen Benzinpreise auf den Staatschimpfen. Der jeweilige Steueranteil am Liter Benzinist in den letzten Jahren aufgrund der steigenden Preisesogar zurückgegangen. Die Mineralölwirtschaft will dieSchuld an den teuren Preisen der Politik und dem Staatzuschieben. Ich kann da nur sagen: Das sind schlicht Ne-belkerzen.Die aktuellen Steigerungen sind nur zum Teil den ge-stiegenen Rohölpreisen geschuldet. Es ist die Preispoli-tik der fünf großen Mineralölkonzerne, die den Markt inDeutschland in einem Oligopol beherrschen.
Das Bundeskartellamt hat festgestellt, dass Absprachenzwischen den Konzernen nicht nachgewiesen werdenkönnen. Vielleicht bedarf es dieser Absprachen auchnicht; denn sie verstehen sich anscheinend blind.Ich halte es für wichtig, dass wir intensiv nach Mög-lichkeiten suchen, wie man den Wettbewerb unter denKonzernen und unter den Tankstellen stärker befördernkann. Das Patentrezept der Linken lautet wie immer:zerschlagen und verstaatlichen. Das wird in diesem Fallaber nicht funktionieren; denn mit der Entflechtung ist esnicht so einfach; schließlich handelt es sich um multina-tionale Konzerne, und multinationale Konzerne kannman durch ein deutsches Entflechtungsgesetz eben nichtentflechten. Der Ansatz muss ein anderer sein.Die Forderung nach Erhöhung der Pendlerpauschaleoder nach Einführung eines Pendlergeldes, wie es jetztdie Linke wieder verlangt, ist der übliche Reflex auf denAnstieg der Treibstoffpreise an den Tankstellen. Ichkann jeden verstehen, der sagt: Da muss sich doch jetztendlich etwas ändern. Aber eine Anhebung der 30-Cent-Grenze ist aus meiner Sicht unter haushalterischen Ge-sichtspunkten schlicht nicht darstellbar.In der vorangegangenen Debatte hat die linke Seitedieses Hauses immer wieder betont, dass es keine Mehr-ausgaben geben darf, dass wir keine Steuererleichterun-gen vornehmen dürfen. Eine Anhebung der Pendlerpau-schale auf die von Ihnen vorgesehenen 45 Cent würdebei einer überschlägigen Berechnung statt bisher 3 bis4 Milliarden Euro 7 Milliarden Euro kosten, also über3 Milliarden Euro mehr als bisher. Wie immer machendie Linken keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung.Damit dokumentieren sie erneut, dass ihre Fraktion we-der die Notwendigkeit eines Konsolidierungskurses an-erkennt noch die Systematik des Steuerrechts verstandenhat.
Mit populistischen Anträgen nach dem Motto: „Solldoch die nachfolgende Generation dafür bezahlen“, kön-nen wir hier nicht arbeiten. Für die Unionsfraktion jeden-falls hat die Haushaltskonsolidierung weiterhin Priorität.Wir haben verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten.Wir müssen die Schuldenbremse einhalten. Wir werdenuns daran halten.Sie schlagen vor – das haben Sie vorhin dargestellt –,das Pendlergeld selbst bei einer nicht vorhandenen Steu-erschuld direkt auszubezahlen. Ich muss sagen: Ich haltedas für steuersystematischen Unsinn. Das ist wie Frei-bier für alle. Eigentlich ist es nicht einmal das; denn be-troffen sind letztendlich nur die Pendler. Was machenSie denn mit der Rentnerin oder dem Studenten,
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19428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Olav Gutting
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(B)
die ja ebenfalls unter den hohen Benzin- und Dieselprei-sen leiden, da sie auf ihr Auto angewiesen sind? EineÄnderung der Pendlerpauschale nützt dieser Gruppeüberhaupt nichts.
Die Entfernungspauschale ist im Übrigen eine ver-kehrsmittelunabhängige Pauschale. Das heißt, derjenige,der mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, erhält sie genausowie derjenige, der mit dem Auto fährt, und wie derje-nige, der mit der Bahn fährt. Selbst derjenige, der zu Fußzur Arbeit geht, hat Anspruch auf die Entfernungspau-schale.
Herr Gutting, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Gerne.
Bitte schön, Herr Ernst.
Ich würde gerne Ihren Einwand aufgreifen, dass ein
Pendlergeld einer Rentnerin, einem Rentner oder einem
Nichterwerbstätigen, der kein Pendler ist, nicht zugute-
kommt: Das ist schon nach der jetzigen Regelung so.
Würden Sie mir recht geben, dass Menschen mit nied-
rigerem Einkommen von der Erhöhung der Benzinpreise
prozentual, gemessen an ihrem Einkommen, in stärke-
rem Maße betroffen sind? Würden Sie mir recht geben,
dass sie steigende Benzinpreise schlechter verkraften
können als Personen mit einem höherem Einkommen
und dass es deshalb eine sinnvolle Lösung wäre, unab-
hängig vom Einkommen denselben Betrag zu gewähren?
Dazu müsste man die Entfernungspauschale in ein Pend-
lergeld umwandeln, und die Höhe des Betrages dürfte
nicht abhängig sein vom Steueraufkommen desjenigen,
den man entlasten will. Durch die Umsetzung unseres
Vorschlages würden insbesondere die Bezieher kleiner
Einkommen entlastet werden. Das muss doch Sinn der
Sache sein.
Lieber Kollege Ernst, Sinn der Sache muss sein, dasswir mehr Wettbewerb unter den Tankstellen und mehrWettbewerb unter den Ölkonzernen bekommen, sodasswir einen funktionierenden Markt haben und die Preisenicht mehr so unsinnig steigen wie in den letzten Wo-chen und Monaten.
Sie haben richtigerweise dargestellt, dass eine Verän-derung der Bemessungsgrundlage aufgrund der linearenProgression in unserem Steuersystem bei denjenigen, diehöhere Steuern bezahlen, zu einer größeren Entlastungführt. Logischerweise führt sie umgekehrt bei denjeni-gen, die weniger Steuern zahlen, zu einer geringerenEntlastung. Deswegen sollten Sie aber nicht das gesamteEinkommensteuersystem auf den Kopf stellen. Die Pro-gression ist nun einmal keine Einbahnstraße. Unser An-satz ist ein anderer.Wir haben noch vor ungefähr zehn Minuten über dasThema „kalte Progression“ gesprochen. Bei diesemThema haben Sie sich verweigert, obwohl wir eine Re-gelung gefunden haben, durch die gerade die Bezieherniedriger Einkommen prozentual stärker entlastet wer-den. Ich kann nur sagen – das ist unser Ansatz –: Wirmüssen schauen, dass Benzin und Diesel für alle bezahl-bar bleiben und nicht nur für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer.Steuersystematisch ist und bleibt Ihr Vorschlag unsin-nig. Es macht keinen Sinn, die Progression zu befürwor-ten, wenn dadurch die höheren Einkommen stärker be-lastet werden, und sie abzulehnen, wenn es um dieEntlastung geht.
– Sie bejammern immer wieder, dass diejenigen, diekeine oder wenig Steuern zahlen, von der Entfernungs-pauschale nichts haben. Das ist immer das gleiche Spiel.Bei den Einkommen soll die Progression gelten; aber beider Entlastung wollen Sie davon nichts wissen.Ich kann nur wiederholen: Solange wir einen progres-siven Steuertarif haben, der seine Rechtfertigung geradein der sozialen Gerechtigkeit hat – derjenige, der mehrverdient, zahlt nicht nur nominal, sondern auch prozen-tual mehr Steuern –, wirken Abzugsbeträge und Freibe-träge zwangsläufig so, dass die absolute Entlastung beieinem höheren Einkommen höher ist. Jeder zusätzlichverdiente Euro ist progressionssteigernd. Das heißt,durch die Progression werden, wie schon gesagt, dieBesserverdiener stärker belastet; das ist absolut richtig.Ein größerer Anteil ihres Einkommens wird besteuert.Ich will mich wiederholen: Die Progression in der Ein-kommensteuer ist keine Einbahnstraße.Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht in sei-nem Urteil zur Entfernungspauschale, in dem es uns vor-gegeben hat, sie wieder einzuführen, den Grundsatz derFolgerichtigkeit herausgestellt. Zur Folgerichtigkeit ge-hört, dass Belastungen und Entlastungen bei einer Ein-kommensgruppe die gleiche Größenordnung haben.Wir haben – das will ich hier klarstellen – die Nöteder Pendler im Blick. Natürlich gibt es das Problem, dasSie geschildert haben; wir wollen uns dem überhauptnicht verschließen. Wir haben in der Regierungskoali-tion in den letzten Jahren viel für die Entlastung der Bür-gerinnen und Bürger getan: Mit dem Bürgerentlastungs-gesetz und mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetzhaben wir
– wir zusammen mit Ihnen; später haben wir es zusam-men mit der FDP fortentwickelt – die Arbeitnehmerin-
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Olav Gutting
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nen und Arbeitnehmer um 24 Milliarden Euro entlastet.Es wäre schön, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, wenn Sie einmal dazu stehen würden.
Jetzt wollen wir, die Koalition, die kalte Progressionabbauen – möglich ist dies nur, wenn die Damen undHerren von SPD und Grünen ihre Blockadehaltung imBundesrat aufgeben – und damit die Bezieher kleinerund mittlerer Einkommen zusätzlich entlasten. Ichmeine, diese steuerpolitischen Maßnahmen sind jetztnotwendig. Dadurch werden die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in diesem Land, auch die mit geringenEinkommen, entlastet.Ich kann nur sagen: Sie sind mit Ihren heutigen An-trägen zu kurz gesprungen und führen mit der Forderungnach Einführung eines Pendlergelds den linear-progres-siven Steuertarif geradezu ad absurdum.
Deswegen werden wir die beiden vorliegenden Anträgeablehnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gutting, ich habe nicht so ganz verstanden, warum
man nur dadurch, dass man Porsche fährt, sympathischer
wird. Ich finde, das trifft oft nicht zu; dies nur als An-
merkung.
Lassen Sie uns zum Thema kommen. Eine fachliche
Auseinandersetzung mit der Struktur der Pendlerpau-
schale kann grundsätzlich kein Tabu sein; ich glaube,
das muss man deutlich sagen. Aber, Herr Kollege Ernst,
bei Ihnen war nicht ein Hauch von Fachlichkeit zu spü-
ren.
Das war purer Populismus.
Zum Thema Populismus muss man ergänzen: Herr
Gutting, das, was Sie beschrieben haben, sehen wir teil-
weise durchaus auch so. Es wäre vielleicht sinnvoll, dies
einigen Kollegen Ihrer Koalitionsfraktionen zu erklären;
denn der Populismus, der in Bayern um sich greift,
scheint nicht an Parteigrenzen haltzumachen.
Ich habe gelesen, dass Frau Kramp-Karrenbauer aus
dem Saarland gefordert hat, wegen der hohen Benzin-
preise die Benzinsteuer zu senken. Sie haben gerade sehr
schön erklärt, was das für ein Blödsinn ist; ist sage dazu
gleich noch etwas. Es gibt einige CSU-Kollegen, die
sich ähnlich geäußert und vorgeschlagen haben, die
Pendlerpauschale zu erhöhen; auch Herr Hinsken hat das
getan. Sie haben deutlich gemacht, dass das nicht geht.
Ich finde, wenn Sie die Situation beschreiben, dann soll-
ten Sie hinsichtlich der Aussagen in Ihren eigenen Rei-
hen für Klarheit sorgen. In Zeiten des Internets lässt sich
nämlich sehr leicht nachvollziehen, wer sich dem Popu-
lismus – er scheint ja sehr stark auf Bayern konzentriert
zu sein – hingibt.
– Ich habe ja nichts gegen Bayern gesagt. Ich habe nur
gesagt: Dort scheint der Populismus ein bisschen kon-
zentriert zu sein.
Die entscheidende Frage lautet: Sollten wir auf die
steigenden Spritpreise mit steuerlichen Maßnahmen re-
agieren?
Frau Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ja, trotz Porsche bzw. egal ob mit oder ohne Porsche.
Bitte schön, Herr Ernst.
Ich denke, dass Bayern eine weniger wichtige Rollespielt. Weil Sie allerdings das Wort Populismus erwähnthaben, möchte ich Sie fragen: Halten Sie es für falschbzw. für ein Problem, dass sich die Leute, die an derTankstelle langsam ihre Geldbörsen festhalten müssen,gegen die hohen Benzinpreise zur Wehr setzen wollen?Halten Sie es wirklich für Populismus, wenn eine Parteidie Ängste und Sorgen der Bürger, dass ihnen von ihremGeld immer weniger übrig bleibt, aufgreift?
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Klaus Ernst
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Ist es nicht vielmehr die Aufgabe von Abgeordneten, dieBürger ernst zu nehmen und zu sagen: „Wir müssen et-was unternehmen und dürfen nicht nur zugucken und la-mentieren“? Müssen wir nicht wirklich etwas tun, umdie Situation der Bürger zu verbessern?
Lieber Herr Kollege Ernst, hätten Sie nicht schon imKopf Ihre Pseudofrage vorbereitet, sondern meinemletzten Satz zugehört, dann hätten Sie gemerkt, dass ichgerade Ihren Vorschlag aufgegriffen und die Frage for-muliert habe: Ist die Steuerpolitik das richtige Mittel, umgegen steigende Benzinpreise vorzugehen?
Diesen Gedanken habe ich gerade aufgegriffen. Aber Siemussten ja schon Ihre Frage vorbereiten, um hier im Ple-num wieder einmal eifrig Ihren Populismus unter Be-weis zu stellen.
– Hören Sie mir bitte weiter zu. Herr Ernst, Sie habeneine Zwischenfrage gestellt. Sie müssen hier aber nichtin der Gegend herumbrüllen. Das macht keinen Sinn. Ichfinde, wir sollten uns ordentlich verständigen.
– Jetzt haben Sie sich schon wieder gesetzt. Ich soll aufIhre Frage offensichtlich nicht mehr antworten. Sie wis-sen ja selbst, dass das keine ordentliche Frage war.
– Nein, belassen wir es dabei.
Ich würde jetzt gerne meine Überlegung fortsetzen:Ist es wirklich sinnvoll, im Rahmen der Steuerpolitik aufdie gestiegenen Benzinpreise zu reagieren? Die Vorstel-lung, auf diese Art und Weise zu handeln, ist völlig ab-strus. Denn wir wissen, was passieren wird: Sowohl derVorschlag von Frau Kramp-Karrenbauer als auch eineErhöhung der Pendlerpauschale würde dazu führen, dassman den Konzernen den Weg eröffnen würde, mit ihrenPreisen nachzuziehen.
Wir wissen, dass das sofort passieren würde. In der Ver-gangenheit haben wir im Zuge von Mehrwertsteuer-senkungen erlebt, dass die entstehenden Gewinne beiden Unternehmen verblieben sind.
Was Sie vorschlagen, klingt gut, würde aber vorne undhinten nicht funktionieren.
Bei den Preisen gibt es ein ständiges Auf und Ab.Dass die Preise gestiegen sind, fällt auf, wenn solcheAnträge wie der der Linken eingebracht werden. Ichhätte gerne erlebt, dass Sie in den letzten Monaten, indenen die Preise gesunken sind, gesagt hätten: Auch da-rauf sollte man im Rahmen der Steuerpolitik reagieren.
Sie sagen, dass Sie das Auf und Ab bei den Preisen aus-gleichen wollen.
Sie kapieren aber nicht, dass Sie dadurch nur die Ge-winne der großen Konzerne erhöhen würden. Das ist dervöllig falsche Weg.Es ist richtig – hier sind sich alle einig –, dass wir unsim Rahmen der Ordnungspolitik, zum Beispiel mit Blickauf Preisabsprachen, verstärkt darum kümmern müssen,dass die Politik der Konzerne unter die Lupe genommenwird. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Preisabsprachenentgegenzuwirken, sollte man sie ergreifen. Das halteich für richtig.
Im Rahmen der Steuerpolitik auf solche Vorkommnissezu reagieren, ist aber falsch.Nächster Punkt. Zur fachlichen Sicht würde gehören,dass Sie uns sagen, was die Umsetzung Ihrer Vorschlägekostet. Herr Gutting hat, glaube ich, nur die Kosten fürdie Umwandlung in ein Pendlergeld beschrieben. Durchdie Negativsteuer, die in dem Antrag steht, wird das ins-gesamt nämlich teurer. Das, was in dem Antrag der Lin-ken steht, kostet jährlich 11,7 Milliarden Euro. Der Hö-hepunkt ist, dass Ihre Angaben sich lediglich auf einenEinstieg in ein Pendlergeld beziehen.Man muss deutlich machen: Auch dieses Geld mussirgendwo herkommen. Erzählen Sie mir jetzt nicht zumsiebten Mal, Sie würden das Geld aus der Erhöhung desSpitzensteuersatzes dafür verwenden. Das haben Sienämlich schon für die Abflachung des Waigel-Buckels,die 25 Milliarden Euro kostet, ausgegeben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19431
Nicolette Kressl
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Sie „hauen“ fast 12 Milliarden Euro jährlich heraus.Ein Teil dieses Geldes führt zu zunehmenden Gewinnenbei den Konzernen. Dies lassen Sie sich über die Ein-kommensteuer von den Bürgerinnen und Bürgern bezah-len. Das ist doch völlig abstrus! Das ist der Beweis fürPopulismus – nichts anderes.
Deshalb, glaube ich, sollten wir überlegen, in welcherForm wir hier in die Preisabsprachen eingreifen können.
– Herr Hinsken, Sie wollen offensichtlich keine Zwi-schenfrage stellen. Auf so unqualifizierte Zwischenrufemuss ich nicht reagieren. – Ich glaube, es macht Sinn,sich die ordnungspolitischen Fragen anzugucken. DerHerr Hinsken kann sich ja mit dem Herrn Gutting da-rüber unterhalten, wie er zur Höhe der Pendlerpauschalesteht.Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Daniel Volk von
der FDP-Fraktion.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren! Herr Kollege Klaus Ernst vonder Linksfraktion, Ihr doch sehr großes Engagement imHinblick auf die Reduzierung von Benzinkosten undÄhnliches führe ich bei Ihnen im Wesentlichen auf einegewisse Selbstbefangenheit zurück. Ich glaube, Sie ha-ben ein erhebliches Eigeninteresse an der ganzen Sache.
Insofern kann ich nachvollziehen, dass Sie hier mit ganzoffensichtlich untauglichen Mitteln auf die aktuelle Si-tuation reagieren wollen;
denn die Zeiten staatlicher Preisfestsetzung sind seit22 Jahren vorbei.
Ich kann auch nur davor warnen, zu glauben, dass wirmit staatlichen Preisfestsetzungen eine Besserung errei-chen werden.
Sie haben in einem Teil Deutschlands einen 40-jährigenFlächenversuch unternommen, mit staatlicher Preisfest-setzung für die dort wohnenden Bürger etwas Bessereszu erreichen.
Das Ergebnis war, dass Sie eine Mangelwirtschaft hattenund dass Sie eben nicht eine Besserung der Situation derMenschen erreicht haben.
Insofern kann ich Ihnen wirklich nur empfehlen: BleibenSie bei den Regeln der sozialen Marktwirtschaft. Dasbringt am Ende die besten Ergebnisse.
Im Hinblick auf die aktuellen Benzinpreise möchteich deutlich sagen, dass die Bundesregierung hier deutli-che, aber marktwirtschaftliche Schritte einleitet, um ei-ner möglichen Monopol- oder Oligopolbildung, also derBeherrschung des Marktes durch nur einen oder wenigeAnbieter, entgegenzuwirken.Ich glaube schon, dass es auch wichtig ist, zu erwäh-nen, dass es in Deutschland neben den Tankstellen derÖlkonzerne auch viele freie Tankstellen gibt, die in Kon-kurrenz zu denen der Ölkonzerne stehen und durch denWettbewerb verhindern, dass der Benzinpreis durch dieDecke schießt. Ich glaube, dass wir diesen Wettbewerbsteigern sollten und dass durch diesen Wettbewerb eherals durch staatliche Preisfestsetzungen ein angemessenerPreis zu erreichen ist.
Die christlich-liberale Koalition und die Bundesregie-rung werden alles daransetzen, diesen Wettbewerb wei-terhin zu fördern.
Man muss eben darauf achten, dass die freien Tankstel-len den Sprit nicht zu einem höheren Preis als die Ölkon-zerne von den Raffinerien kaufen müssen, und wir müs-sen für den Wettbewerb dafür sorgen, dass für die freienTankstellen die gleichen Bedingungen wie für die Tank-stellen der Ölkonzerne herrschen. Aus diesem Wettbe-werb werden sich dann angemessene Preise entwickeln.Im Übrigen weise ich zu dem zweiten Teil Ihres An-trags zum Pendlergeld in aller Ruhe darauf hin, dass esnicht nur steuersystematischer Unsinn ist, das Nettoprin-zip aufzugeben;
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19432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
(C)
(B)
Unsinn ist auch, dass derjenige, der eine weitere Entfer-nung zu seinem Arbeitsplatz zurücklegt, dafür auch nochGeld vom Staat bekommen soll. Ich glaube, dass Sie da-mit einen Fehlanreiz setzen, der sicherlich nicht vertret-bar sein wird.
Denn Sie schaffen dadurch den Fehlanreiz, dass dieMenschen noch mehr Energie, nämlich Sprit, verbrau-chen, als unbedingt notwendig ist. Ich glaube, das ist inZeiten, in denen wir Energieeinsparungen vornehmenmüssen, ein völlig falsches Signal.
Insofern kann ich nur empfehlen, dass wir weiter beiden marktwirtschaftlichen Regelungen bleiben, denKräften eines wettbewerblichen Systems vertrauen undnicht zu staatlichen Preisfestsetzungen zurückkehren.Denn das ist sicherlich nicht der richtige Weg.
Wollen Sie eine Frage des Kollegen Mücke zulassen?
Ich erlaube sehr gerne eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Mücke.
Herr Kollege Dr. Volk, ich habe mit großer Aufmerk-
samkeit das Programm der Linkspartei gelesen.
Darin gibt es ein Kapitel mit der Überschrift „Mobilität
für alle – ökologische Verkehrswende“. In diesem Pro-
gramm wird eine höhere Mineralölsteuer gefordert. Was
halten Sie davon? Glauben Sie, dass die Forderung der
Linksfraktion in diesem Zusammenhang glaubwürdig
ist?
Herr Kollege Volk, der Kollege Gambke von den
Grünen möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Dann
könnten Sie sie im Zusammenhang beantworten.
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Volk, ich kann Ihnen eine Frage nicht
ersparen. Am 2. April 2010 gab es eine dpa-Meldung:
Aufgrund der damals sehr hohen Spritpreise hat die FDP
die Senkung der Mehrwertsteuer für Sprit vorgeschla-
gen. Können Sie hier erklären, dass die FDP eine Sen-
kung der Mehrwertsteuer aus heutiger Sicht für falsch
hält? Wie verhalten Sie sich dann im Verhältnis zu dem,
was Sie zu Beginn der Legislaturperiode mit der Mehr-
wertsteuer im Hotelgewerbe gemacht haben?
Meine beiden Herren Kollegen haben jetzt einen sehrgroßen Bogen gespannt. Zunächst darf ich darauf hin-weisen, dass es immer richtig ist, eine steuerliche Belas-tung der Bürger regelmäßig zu überprüfen.
Vor dem Hintergrund ist die von Ihnen zitierte Aussagevom 2. April 2010 völlig richtig, Herr Kollege Gambke.Diese Aussage ist auch heute noch aktuell.Im Hinblick auf die inhaltlichen Vorstellungen derLinksfraktion, auf der einen Seite die Mineralölsteuer zuerhöhen und auf der anderen Seite jetzt gegen die hohenBenzinpreise vorgehen zu wollen, haben Sie, Herr Kol-lege Mücke, völlig richtig auf die Widersprüchlichkeithingewiesen. Ich kann leider Gottes diesen Widerspruchnicht auflösen.
Es ist aber bei vielen Forderungen der Linksfraktion so,dass man die Widersprüche nicht auflösen kann.
Abschließend weise ich darauf hin, dass wir die Pend-lerpauschale wie jede Pauschale im Steuerrecht sehrwohl überprüfen und gegebenenfalls an die konkretenPreise anpassen müssen. Jede Pauschale im Steuerrechterfordert eine Gratwanderung hinsichtlich der Frage, obsie zu hoch oder zu niedrig ist. Insofern muss eine Pau-schale, insbesondere auch die Pendlerpauschale, hin-sichtlich ihrer Höhe überprüft werden. Das, was dieLinksfraktion vorgelegt hat, ist aber nicht der richtigeWeg. Denn das führt zu staatlicher Preisfestsetzung undzu Fehlanreizen. Deswegen können wir diesen Wegschlicht nicht unterstützen.
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Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Lisa Paus vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Volk, ich freue mich, dass die FDP zumindest bei
diesem Thema wieder ein bisschen auf dem Boden der
Tatsachen angekommen ist. Am Anfang der Woche war
das noch nicht so. Wir haben alle mitbekommen, dass
die Spritpreise auf Rekordniveau sind. Da muss man nur
einen Augenblick lang warten, und die ersten Populisten
kommen aus den Reihen geschossen. Auf der einen Seite
ist das Herr Ernst; das war klar. Auf der anderen Seite
mussten wir am Wochenende Aussagen und Forderun-
gen von Herrn Döring, immerhin Generalsekretär der
FDP und Mitglied des Verkehrsausschusses, vernehmen.
– Nein, er hat das schon konkretisiert. Es ging auch um
die Erhöhung der Pendlerpauschale.
Das ist genau das Gleiche, was Herr Ernst jetzt einfor-
dert.
Wir sind uns aber grosso modo einig, dass diese Vor-
schläge nicht tragen, dass es Schnellschüsse sind, dass
sie definitiv nicht von großer Weitsicht und vor allen
Dingen von völligem ökonomischen Unverstand geprägt
sind.
Es ist falsch, die Pendlerpauschale zu erhöhen. Wenn
überhaupt, Herr Ernst, dann gehört sie abgeschafft.
– Wenn überhaupt, dann wollen wir sie abschaffen.
– Wir haben aktuell festgelegt, dass man dieses Fass jetzt
nicht aufmachen sollte, weil es verschiedenste Probleme
damit gibt.
Dazu komme ich jetzt.
Herr Ernst, Ihr Antrag hat zumindest ein Gutes: Sie
streichen darin noch einmal schön heraus, wie ungerecht
die Pendlerpauschale ist. Diese Kritik teilen wir. Es ist
so, dass Menschen mit kleinem Einkommen weniger
von dieser Subvention bekommen als reiche Leute. Dazu
kommt, dass alle Menschen, die nahe an ihrem Arbeits-
platz wohnen, den Arbeitsweg für die Pendler subventio-
nieren.
Die Kritik teilen wir; da haben wir etwas gemeinsam.
Ihr Lösungsvorschlag trägt aus unserer Sicht aber nicht.
Frau Kressl hat die zentrale Argumentation eben schon
vorgetragen. Ich sage es noch einmal in meinen Worten.
Das Problem sind die hohen Spritpreise, die es zum
Luxus werden lassen, mobil zu sein. Der Benzinpreis
sinkt aber nicht, wenn man die Pendlerpauschale erhöht,
wenn man das Pendeln noch stärker subventioniert als
bisher.
Das Einzige, was man erreicht, sind zusätzliche Fehlan-
reize zur Zersiedelung. Man könnte die Pendlerpau-
schale auch Zersiedelungsprämie nennen.
Das Einzige, was geschieht, ist, dass wir Steuergelder
nutzen, um regelmäßig Geld nach Russland, Großbritan-
nien, Norwegen, Kasachstan und überall dorthin, wo das
Öl sprudelt, zu überweisen. Das ändert an den Ölpreisen
gar nichts. Im Gegenteil: Es treibt die Preissteigerung
noch weiter an.
Frau Kollegin Paus, der Kollege Mücke hat das drin-
gende Bedürfnis, erneut eine Zwischenfrage zu stellen,
obwohl wir eigentlich alle auf das Wochenende warten.
Trotzdem ist es Ihre Entscheidung, ob er eine Frage stel-
len darf oder nicht. Wollen Sie die Frage zulassen?
Ich bin etwas irritiert, weil Sie die Uhr gar nicht an-
halten. Habe ich nur noch 36 Sekunden?
Ja. Ich habe die Uhr jetzt angehalten, damit Sie ent-
scheiden können, ob Sie die Zwischenfrage zulassen
oder nicht. Ich bin Ihnen schon sehr entgegengekom-
men.
Sie haben die Uhr sehr spät angehalten.
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19434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
(C)
(B)
Nein, die Uhr wird gestoppt, wenn die Zwischenfrage
zugelassen ist. Ich habe sie jetzt sogar schon vorher ge-
stoppt.
Jetzt können Sie sich entscheiden. Wollen Sie die
Zwischenfrage zulassen oder nicht?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Paus, Sie haben gerade ausgeführt,
dass aus Ihrer Sicht eine Luxusentwicklung bei den Mi-
neralölpreisen festzustellen ist. Wie stehen Sie dazu,
dass Ihr Kollege Dr. Anton Hofreiter, seines Zeichens
Vorsitzender des Verkehrsausschusses,
geäußert hat, dass die Benzinpreise noch viel zu niedrig
sind und noch weiter angehoben werden müssten?
Wie verträgt sich das mit Ihrer Auffassung, dass der An-
stieg der Benzinpreise offensichtlich dazu führt, dass
Benzin zum Luxusgut wird?
Als Erstes können wir festhalten, dass Toni Hofreiter
ein sehr guter Mann ist.
Als Zweites können wir festhalten, dass Herr
Hofreiter mit Sicherheit auf das hinweisen wollte, was
wir alle sehen, wenn wir Zeitung lesen, dass es schlicht-
weg ein Faktum ist, dass die Benzinpreise steigen und
dass der Preis für 1 Barrel Öl steigen wird. Der Preis
steigt jetzt, und er wird auch in den nächsten Jahren wei-
ter steigen. Wir Grüne weisen darauf hin, dass dem so
ist. Die Ölpreise werden weiter steigen, weil Öl endlich
ist. Wir brauchen eine Strategie, die weg vom Öl führt.
Wir brauchen keine Subventionierung des falschen We-
ges,
nicht nur weil dabei CO2 ausgestoßen wird, sondern weil
das ein Weg ist, der schlichtweg in die Sackgasse führt.
– Herr Volk, Sie haben mir schon eine ganze Minute ge-
klaut. Das machen wir jetzt nicht noch weiter.
Auch wir Grüne wissen, dass es in unserem Land
Menschen gibt, die nicht in der Stadt wohnen und darauf
angewiesen sind, ein Auto zu benutzen, weil der öffentli-
che Personennahverkehr nicht gut ausgebaut ist. Wir
brauchen aber keine weitere Subventionierung, sondern
eine offensive Strategie zur Entwicklung sparsamerer
Autos. Das ist das wirksamste Mittel gegen zu hohe
Fahrtkosten, und vor allem ist das ein auf Dauer wirksa-
mes Mittel.
Eine Beispielrechnung zum Schluss: Die Erhöhung
der Pendlerpauschale von 30 auf 40 Cent würde einer
Pendlerin mit normalem Gehalt 200 Euro pro Jahr mehr
bringen, wenn ihre Arbeitsstelle 30 Kilometer von ihrem
Zuhause entfernt ist. Steigt sie aber bei einem Spritpreis
von 1,50 Euro auf ein Auto um, das statt 8 Litern nur
6 Liter verbraucht, dann spart sie jedes Jahr das Dop-
pelte, nämlich 400 Euro.
Diese Ersparnis fiele dann auch anderen Steuerzahlerin-
nen und Steuerzahlern nicht zur Last, wie es bei der
Pendlerpauschale der Fall wäre.
Dieses Beispiel zeigt die enormen Sparpotenziale, die
es gibt. Wir alle wissen, dass es schon Autos gibt, die nur
3 Liter auf 100 Kilometer verbrauchen. In diese Rich-
tung muss es weitergehen, unserem Geldbeutel und dem
Klima zuliebe. Dieses Ziel unterstützen wir gerne auch
mit vernünftigen Förderprogrammen, etwa solchen für
mehr Elektromobilität.
Ich lade Sie herzlich ein, bei der nächsten Gelegenheit
daran mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5818 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b: Abstim-mung über den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/8786 mit dem Titel „Preiserhöhungs-welle an den Tankstellen stoppen – Gesetzliche Benzin-preiskontrolle einführen“. Wer stimmt für diesen An-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19435
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerAntrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke mitden Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Absatz 2 der Ge-
schäftsordnung zu dem Antrag der AbgeordnetenKatja Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGemeinsames elterliches Sorgerecht für nichtmiteinander verheiratete Eltern– Drucksachen 17/3219, 17/8555 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Stephan Thomae von der FDP-Frak-tion das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten übereinen Bericht des Rechtsausschusses über den Antragder Grünen zum elterlichen Sorgerecht. Es liegen nun-mehr zwei Anträge zu dem Themenkomplex des Sorge-rechts für nichtehelich geborene Kinder vor, einer vonden Grünen und einer von der SPD. Nun zeigen aberbeide Anträge aus den Reihen der Opposition, wie manes besser nicht machen sollte. Diese Anträge befeuerndie Diskussion, sie bereichern sie bisweilen auch,
aber Regierungsentwürfe werden in der Regel zum Ge-setz. In Anbetracht der Bedeutung der Sache ist es ange-messen, dass die Gedanken zu diesem Themenkomplexreifen, bevor sie in einen Gesetzentwurf münden, derdann auch beschlossen wird.
Schauen wir uns zunächst einmal den Antrag derSPD-Fraktion an.
Dort heißt es, dass dann, wenn sich die Eltern einesnichtehelichen Kindes nicht über das gemeinsame elter-liche Sorgerecht verständigen können, von Amts wegendas Jugendamt aktiv wird. Dies setzt dann den Elterneine Frist, sich zu äußern. Nun ist es aber manchmal derFall, dass die Zeit für eine solche Entscheidung nochnicht reif ist, dass sich Eltern noch einmal Gedanken da-rüber machen wollen, welche Regelung sie gemeinsamtreffen wollen, dass sie sich Zeit lassen wollen, weil sichvielleicht auch das Verhältnis der Eltern zueinander än-dert. Dann ist es auch angemessen, dass zunächst einmaleine gewisse Zeit verstreicht, bis eine Entscheidung fällt.Stattdessen sieht der Antrag der SPD vor, dass, wennsich die Eltern nicht innerhalb einer gesetzten Frist ver-ständigen, das Jugendamt einen Antrag beim Familien-gericht stellt. Wir halten das für ganz und gar unnötigund auch unsachgemäß; denn es ist zunächst einmal Sa-che der Eltern, sich Gedanken zu machen. Wenn dasKindeswohl gefährdet ist, dann ist es nach § 1666 BGBSache des Staates, hier tätig zu werden. Dann ist derStaat gefragt. Ich sehe aber keine Notwendigkeit, dassder Staat den Eltern ein Verfahren aufzwingt, das die El-tern nicht wollen und das für die Wahrung des Kindes-wohls auch nicht erforderlich ist.
So weit zum Antrag der SPD.Der Antrag der Grünen, über den wir heute an dieserStelle beraten, liegt mir von der Diktion und der Rich-tung her – das sage ich offen – etwas näher,
aber auch hier sehe ich drei Probleme, die es zu beachtengilt.Das erste Problem ist, dass gemäß dem Antrag derGrünen eine achtwöchige Schonfrist ab Entbindung grei-fen soll und diese – jetzt kommt der entsprechende Punkt –Frist in ihrem Ablauf gehemmt ist, wenn die Mutter eineentsprechende Mitteilung macht. Da liegt das Problem.Wenn die Mutter es nun versäumt, eine entsprechendeMitteilung zu machen – das wird gerade in solchen Fäl-len sein, in denen die Mutter mit besonders vielen Sor-gen beladen ist, vielleicht weil es sich um eine Mehr-lingsgeburt handelt, sich die Mutter auf keineAngehörigen stützen kann oder die Geburt Komplikatio-nen bereitet hat –, greift diese Ablaufhemmung nicht, diedie Mutter schützen soll. Gerade dann, wenn die Mutteram meisten schutzbedürftig ist, kann dieser Schutz aus-fallen. Das ist ein entscheidendes Manko des Antragsder Grünen.
Das zweite Problem besteht darin, dass das Jugend-amt dem Antrag des Vaters auf gemeinschaftliche Sorgedann stattgibt, wenn, so wörtlich, „dem Jugendamt keineErkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlge-fährdung … vorliegen“. Das Problem besteht darin, dassdiese Formulierung zwei unbestimmte Rechtsbegriffeenthält: einmal den Begriff der Kindeswohlgefährdung,also wann das Kindeswohl gefährdet ist, und zum ande-ren, wann diese Gefährdung offensichtlich ist. Solcheunbestimmten Rechtsbegriffe zu klären, ist in solchenFällen des Kindschaftsrechtes nicht Aufgabe der Verwal-tungsbehörden, sondern der Gerichte. Deswegen solltennicht Jugendämter über diese Frage entscheiden, son-dern die Gerichte.
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19436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Stephan Thomae
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Ein weiteres Problem hierbei ist die Quelle der Er-kenntnis. Die Jugendämter müssten ja selber Anhörun-gen durchführen und Sachverständige hören, um dieseFragen zu klären.
Es müsste eigene Ermittlungen anstellen. Aber das istnicht Sache der Jugendämter, die in Sorgerechtsverfah-ren vor Gericht ja Beteiligte sind, sondern es ist eben Sa-che der Gerichte.
Das ist das zweite Problem.Das dritte Problem im Antrag der Grünen ist,
dass die Mutter ebenfalls das gemeinsame Sorgerechtbeantragen kann. So weit, so gut. Nun heißt es aber wei-ter, dass das Jugendamt die gemeinsame Sorge dann aus-spricht, wenn der Vater innerhalb von acht Wochen zu-stimmt. Das heißt e contrario, also im Umkehrschluss:Stimmt er nicht innerhalb von acht Wochen zu, alsobraucht er länger, etwa zehn oder zwölf Wochen, um zu-zustimmen, dann kann das Gericht wegen Fristablaufsdiesem Antrag nicht stattgeben. Da frage ich mich: Wasist eigentlich der Sinn des Ganzen? Warum sollte das Ju-gendamt die gemeinsame Sorge verweigern, wenn derVater zwar etwas länger braucht, aber nach einer gewis-sen Zeit doch sagt, dass er die gemeinschaftliche Sorgefür das Kind ausüben will? Das ergibt keinen Sinn.
So sehen wir als Fazit: Es gibt viele Vorschläge – da-für bedanken wir uns –,
aber sie haben eben viele Haken.
Deswegen denke ich, dass die Regelung der gemeinsa-men Sorge bei der Koalition besser aufgehoben ist.
Ich kündige Ihnen an: Nachdem wir uns mit dieser An-gelegenheit von großer Bedeutung intensiv beschäftigt– eine solche Sache muss ja auch reifen – und sie ausdis-kutiert haben,
werden wir in Kürze in die Zielgerade einbiegen. LassenSie sich überraschen!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Lischka von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Thomae, jetzt haben Sie uns über mehrere Minutenerklärt, welche Probleme die vorliegenden Anträge mög-licherweise beinhalten. Wissen Sie, was das Hauptpro-blem ist? Das Hauptproblem ist, dass Sie bis heute nichtsvorgelegt haben.Inzwischen liegen die beiden Entscheidungen desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und desBundesverfassungsgerichts über zwei Jahre zurück.Schwarz-Gelb hat in diesen gut zwei Jahren mehrfacheine Neuregelung angekündigt,
nämlich für den Herbst 2010 und für das erste Halbjahr2011. Jetzt sind wir im März 2012.
Passiert ist trotz dieser Ankündigungen überhauptnichts, und das ist ein Armutszeugnis für diese Bundes-regierung und ein Beleg dafür, dass Sie in der Rechts-politik gar nichts zustande bekommen haben, meine Da-men und Herren.
Das ist ärgerlich, weil inzwischen mehr als 60 Prozentder ostdeutschen und ein Viertel der westdeutschen Kin-der nichtehelich geboren werden. Insofern ist das Ganzeauch kein Randthema, sondern brennt Hunderttausendenbetroffenen Vätern, Müttern und Kindern unter den Nä-geln.Die Politik hat die Aufgabe, Herr Thomae, dieseMenschen nicht weiter zu vertrösten, sondern endlicheine praktikable Lösung auf den Weg zu bringen.
Ich gebe gerne zu: Das ist eine nicht ganz einfache Auf-gabe, meine Damen und Herren, und das hängt insbeson-dere mit zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten zusam-men.Erstens. Die Debatte über die künftige Ausgestaltungdes Sorgerechts wird sehr emotional und sehr leiden-schaftlich geführt. Das kann auch nicht weiter verwun-dern, weil sich hinter diesem Thema ganz unterschiedli-che Fallkonstellationen verbergen, angefangen bei denEltern, die auch ohne Trauschein ein Leben lang zusam-menbleiben und sich gemeinsam um ihre Kinder küm-mern, bis hin zu den flüchtigen Bekanntschaften, bei de-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19437
Burkhard Lischka
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nen der Vater schon lange vor der Geburt verschwundenist und keinen Kontakt zum Kind hat.Ein zweiter Aspekt: Jede noch so gut gemeinte ge-setzliche Regelung ist letztendlich darauf angewiesen,dass die Eltern sie vor Ort in der Praxis jeden Tag ge-meinsam umsetzen. Wenn das nicht geschieht, läuft jedeRegelung ins Leere, und Notleidende sind dann vor allenDingen die betroffenen Kinder.Wir erleben jetzt seit über zwei Jahren eine Debattedarüber – das ist zumindest mein Gefühl –, die uns kei-nen Millimeter vorangebracht hat. Im Gegenteil: Ichhabe das Gefühl, dass die Akteure unversöhnlich in denSchützengräben verharren.Die einen fordern, dass der Vater vor Gericht ziehenmuss, um eine gemeinsame Sorge zu erreichen.
Die anderen fordern, dass die Mutter vor Gericht klagenmuss, wenn sie eine praktikable Sorgeregelung habenwill, wenn der Vater nicht greifbar ist, keinen Unterhaltzahlt oder keinen Kontakt zu dem Kind hat. Jeder zeigtauf den anderen. Der eine ruft: Warum muss eigentlichbei deinem Modell der Vater vor Gericht ziehen? – Derandere ruft: Warum muss das bei dir eigentlich die Mut-ter machen?Diese Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen,bringt uns nicht weiter. Sie hat uns in eine Sackgasse ge-führt, und aus dieser Sackgasse müssen wir raus, undzwar schnellstmöglich.
Insofern bin ich mir sicher, dass eine NeuregelungBrücken zwischen diesen unversöhnlichen Positionenbauen muss – Brücken bauen im Sinne der Kinder. DennKinder lieben beide Elternteile. Aber Eltern können die-ses Bedürfnis ihrer Kinder nur erfüllen, wenn sie berück-sichtigen: Sie müssen Vernunft walten lassen. Siemüssen miteinander kooperieren, und sie dürfen ihrePaarkonflikte nicht auf dem Rücken der Kinder austra-gen. Das ist das Einzige, was in der Praxis funktioniert.Und weil wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-kraten das wissen, schlagen wir dreierlei vor:Erstens. Wir wollen es Eltern so einfach wie möglichmachen, eine gemeinsame Sorge zu erklären, und zwargleich bei dem ersten Gang, den alle nach einer Geburtvor sich haben. Beim Standesamt sollen sie die Möglich-keit haben, eine gemeinsame Sorgeerklärung abzugeben.Zweitens. Wenn die Eltern dieses nicht tun, dann wol-len wir sie nicht sofort in gerichtliche Auseinanderset-zungen schicken. Denn das fördert nicht die Gemein-samkeit, sondern nur den Streit zwischen den Eltern. Wirwollen stattdessen die Eltern mithilfe des Jugendamtesunterstützen, zu einer einvernehmlichen Regelung zukommen. Das stärkt übrigens die Eigenverantwortungder Eltern, und das vermeidet gerichtliche Auseinander-setzungen.Drittens. In den dann noch verbliebenen Konfliktfäl-len, in denen die Auseinandersetzungen der Eltern sostark sind, dass sie trotz aller Unterstützung partout nichtzu einer Regelung kommen können, wollen wir in derTat, dass das Jugendamt das Verfahren dann von Amtswegen an das Familiengericht weitergibt, mit einem An-trag auf Entscheidung zur elterlichen Sorge, ohne dassVater oder Mutter einen Antrag stellen muss. Vater undMutter werden so nicht in die missliche Situation ge-bracht, gegen den jeweils anderen Elternteil zu klagen.Ich glaube, dieser Vorschlag kann verhärtete Fronten tat-sächlich aufbrechen und den Weg nach vorne weisen.Wir werden in Kürze die Möglichkeit haben, überdiesen Vorschlag der SPD-Fraktion im Deutschen Bun-destag zu debattieren. Angesichts der zweieinhalb Jahrewährenden Zeit des Wartens möchte ich Sie herzlich bit-ten: Nutzen Sie diese Chance und lassen Sie uns gemein-sam diesen Weg nach vorne gehen! Das ist im Sinne derbetroffenen Eltern und vor allen Dingen im Sinne der be-troffenen Kinder.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist heute unstrittig, dass die Väter von Kindern aus Be-ziehungen ohne Trauschein beim elterlichen Sorgerechtbenachteiligt worden sind. Die bisherige Rechtslageträgt nicht nur den vielfältigen Lebensmodellen nichtausreichend Rechnung. Sie entspricht auch nicht ausrei-chend dem Zweck des Sorgerechts, nämlich das Wohldes nichtehelichen Kindes zu schützen.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unddas Bundesverfassungsgericht haben das zu Recht mo-niert. Beide rügen, dass ein nichtehelicher Vater ohneZustimmung der Mutter generell von der Sorgetragungfür sein Kind ausgeschlossen ist und das auch nicht ge-richtlich überprüfen lassen kann. Das ist der Ausgangs-punkt unserer Überlegungen.Die Koalition hat sich intensiv damit befasst, diesenunbefriedigenden Zustand zu korrigieren. Maßstab unse-rer Überlegungen ist immer das Kindeswohl. Es kommtalso nicht allein auf den Elternwillen an. Allerdings wirddie gemeinsame elterliche Sorge regelmäßig auch demKindeswohl entsprechen. Die Entwicklung des Kindeswird im Idealfall durch beide Elternteile geprägt. Das istunser Leitbild auch in diesem Gesetzgebungsprozess:Ein Kind braucht Mutter und Vater.Es ist daher zu begrüßen, wenn Väter vielfach ganzselbstverständlich dazu bereit sind und sich mit Nach-druck darum bemühen, Verantwortung für ihr Kind zu
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19438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Thomas Silberhorn
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übernehmen und ihr elterliches Sorgerecht wahrzuneh-men.
Klar ist aber auch, dass die Mutter als Gebärende undErnährende gerade für Kinder im Säuglingsalter dieengste Bezugsperson ist und ihr daher eine naturgege-bene Sonderstellung zukommt.Ein Großteil der nicht verheirateten Eltern, genau62 Prozent, gibt nach einer Studie des Bundesjustiz-ministeriums bereits kurz vor oder nach dem Geburtster-min eine Erklärung zur gemeinsamen Sorge ab. Das un-terstreicht, dass die gemeinsame elterliche Sorge auchbei Unverheirateten der Regelfall ist und dem Kindes-wohl am ehesten entspricht.Es gibt aber auch mehr als nur vereinzelte Fälle, indenen unverheiratete Eltern nicht zu einer gemeinsamenWahrnehmung ihrer Elternverantwortung bereit oder inder Lage sind. Für die Fälle, in denen sich die Eltern zukeiner gemeinsamen Sorgerechtserklärung durchringenkönnen und die oftmals durch erhebliche Konflikte zwi-schen den Eltern gekennzeichnet sind, muss eine Neure-gelung zum Wohl des Kindes erreicht werden. Das istdas Feld, in dem wir uns streiten.Es gibt grundsätzlich zwei Maximalpositionen, wenndie Mutter mit einer gemeinsamen elterlichen Sorgenicht einverstanden ist. Einerseits kann der Vater auf denKlageweg verwiesen werden. Andererseits kann dasSorgerecht kraft Gesetzes beiden Eltern zugewiesenwerden, ohne dass es eines Antrags oder einer Sorge-rechtserklärung bedarf.Die Rechtspolitik kann aber – auch das hat die Studie,die im Auftrag des Bundesjustizministeriums erstelltworden ist, ergeben – an der tatsächlichen Lebenssitua-tion von Kindern und Eltern nicht vorbeigehen. Ich willdas anhand von zwei Fallkonstellationen kurz erläutern.Nehmen Sie die Situation, dass eine Frau Opfer einerVergewaltigung wurde, dadurch schwanger wird undsich dafür entscheidet, dieses Kind auszutragen. Kannman dieser Frau wirklich zumuten, dass sie ihre elterli-che Sorge kraft Gesetzes nur gemeinsam mit dem Verge-waltiger ausüben kann und sich das alleinige Sorgerechterst vor Gericht erstreiten muss?
Wir sind uns sicher einig – ich merke das an Ihren Re-aktionen –, dass das keiner von uns will.Oder sollen Väter, die ihre Vaterrolle nicht annehmen– sei es, weil das Kind aus einer flüchtigen Beziehungoder aus einer ungeplanten Schwangerschaft stammt –,automatisch ein Sorgerecht für dieses Kind erhalten?
Ich meine, es sprechen gute Gründe dafür, das Sorge-recht zunächst allein der Mutter zuzusprechen. Das siehtdas Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als zulässigan. Der Vater muss aber dann die Möglichkeit haben,auch ohne den Willen oder gegen den Willen der Mutter,sein Recht auf elterliche Sorge zu erhalten. Dazu brau-chen wir zügige und unkomplizierte Verfahren. Ich haltees für ein notwendiges Korrelat zur Privilegierung derMutter mit einem anfänglich alleinigen Sorgerecht derMutter, dass dem Vater ein Weg eröffnet wird, sein Sor-gerecht schnell und einfach geltend zu machen.Die Vorschläge, die die Opposition eingebracht hat,sind schon ausführlich gewürdigt worden.Zur SPD. Sie schlagen vor, die Rolle des Jugendamteszu stärken. Es soll eine eigene Bewertung vornehmenund den Fall dann dem Familiengericht vorlegen. DieserLösungsansatz beinhaltet aber eine Entscheidung überdie Köpfe der Betroffenen hinweg.
Die eigenständige Vorlage durch das Jugendamt an dasFamiliengericht ohne weitere Einbeziehung oder An-tragstellung eines Elternteils lehnen wir ab. Solche Au-tomatismen sind eher kontraproduktiv und sicherlichnicht geeignet, mehr Rechtsfrieden zu stiften.Ähnliche Automatismen sieht der Antrag der Grünenvor. Hier wird automatisch dann die gemeinsame Sorgeerteilt, wenn der Vater einen entsprechenden Antragbeim Jugendamt stellt, die Mutter innerhalb einer Erklä-rungsfrist nicht widerspricht und dem Jugendamt keineErkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlge-fährdung durch den Vater vorliegen. Die Erteilung deselterlichen Sorgerechts durch das Jugendamt kraft Ver-waltungsakt halten wir für eine absurde Idee. Wir lehnensie ab.
Ich glaube, dass wir Abstand nehmen müssen von sol-chen automatisierten Verfahren. Wir brauchen Verfah-renswege, die eine Aussicht auf eine Beilegung der Aus-einandersetzung haben, die den Interessen der Mutterund des Vaters gleichermaßen gerecht wird.Für uns als Union ist es besonders wichtig, dass dasSchweigen der Mutter nicht als Zustimmung gewertetwird. Wir halten das in diesem Rechtsbereich für nichtangebracht. Gerade in den ersten Wochen und Monatennach der Geburt eines Kindes ist die Mutter oft psy-chisch und physisch stark beansprucht. Ich glaube, es istein wichtiges Anliegen, dass in dieser Situation ihrSchweigen nicht einfach als Zustimmung zur Zuerken-nung des gemeinsamen Sorgerechts gewertet wird.Wir wollen auch verhindern, dass es ein Hin und Herbei der Erteilung des Sorgerechts gibt, dass zunächst au-tomatisch kraft Gesetzes ein gemeinsames Sorgerechtetabliert wird, die Mutter dann Widerspruch einlegenkann und der Vater dies wieder rückgängig machenkann. Eine mehrfache Erteilung und Entziehung des Sor-gerechts birgt die Gefahr der Rechtsunsicherheit und be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19439
Thomas Silberhorn
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schwört weitere Konflikte unter den Eltern herauf. UnserAnsatzpunkt ist eher ein Mittelweg.
– Ich spreche hier als Mitglied der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion.
Wir sind in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren.Wir diskutieren aufgrund Ihrer Anträge ganz offen, wiewir uns in diesem Bereich bewegen.
Dass Ihre Vorschläge nicht zureichend sind, die aufge-worfenen Probleme zu lösen, ist übereinstimmend deut-lich geworden.
Im Übrigen, wenn ich das zu Ihrem Zuruf sagen darf:Wenn wir uns darüber einig sind, dass das Leitbild darinbesteht, dass Vater und Mutter für ihre Kinder gemein-sam die elterliche Sorge tragen, dann wäre das Wesentli-che schon konsentiert. Wir streiten uns dann im Kernüber Verfahrensfragen, vom Jugendamt bis zum Fami-liengericht, Antragstellungen hin oder her, Fristen undÄhnliches, sodass wir sagen können: Wir sind auf einemguten Weg.
Wir müssen aber jetzt eine solche Lösung finden, dienicht die Verfahrensfragen und Zweifel aufwirft, die Siein Ihren eigenen Anträgen zum Ausdruck bringen.Natürlich muss zunächst eine gemeinsame Sorge-rechtserklärung der Regelfall sein. Das ist der Weg, derKonflikten am ehesten vorbeugen kann. Es muss imBlick gehalten werden, das Wohl des Kindes dadurch zufördern, dass gemeinsame Sorgerechtserklärungen er-möglicht werden. Wenn aber die Mutter widersprichtoder zu dieser Frage schweigt, dann sollte dem Vater einAntragsrecht zur Prüfung durch das Familiengericht ein-geräumt werden. Nach meiner Auffassung sollte das ineiner angemessenen, eher kurzen Frist geschehen, weilich einen zügigen Verfahrensablauf als Korrelat zur Pri-vilegierung der Mutter durch das anfänglich alleinigeSorgerecht betrachte.
Wir sollten uns außerdem – dieser Aspekt ist noch garnicht angesprochen worden – um eine Verfahrensbe-schleunigung vor den Familiengerichten bemühen; dennwenn letztlich vor Gericht entschieden wird, dann ist denEltern und insbesondere den Vätern nicht gedient, wennunbefriedigend lange Wartezeiten bis zu einer Sorge-rechtsentscheidung entstehen. Auch darauf sollten wirunser Augenmerk richten.
Für uns ist zudem wichtig, den materiell-rechtlichenPrüfungsmaßstab zu verändern. Dieser Aspekt kommt inIhren Überlegungen, meine Damen und Herren von derOpposition, überhaupt nicht zum Tragen. Wir wollen,dass vor Gericht nicht mehr begründet werden muss, wa-rum die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohlentspricht. Wir wollen das als Regelfall und als unserLeitbild ansehen.
Deswegen sind wir der Auffassung, dass die gerichtli-che Prüfung künftig darauf konzentriert werden kann, obGründe des Kindeswohls einer gemeinsamen elterlichenSorge entgegenstehen; das ist etwas ganz anderes. DerMutter sollte natürlich in diesem Verfahrensstadiumnoch einmal die Gelegenheit zur Stellungnahme gegebenwerden. Aber es macht schon einen Unterschied, ob mansich vor Gericht darüber streiten muss, ob die gemein-same elterliche Sorge dem Kindeswohl entspricht, oderob man als Regelfall davon ausgeht, dass es dem Kin-deswohl entspricht, und nur darlegen muss, ob etwas ge-gen die gemeinsame elterliche Sorge spricht.
Über diesen materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstabmüssen wir ebenfalls diskutieren. Ich denke, die Ände-rung des Prüfungsmaßstabs untermauert noch einmal un-ser Leitbild, dass die gemeinsame elterliche Sorge imRegelfall dem Kindeswohl entspricht.Wie Sie sehen, sind die Fragen der elterlichen Sorgekomplex und kompliziert. Wir müssen mit Fingerspit-zengefühl zu einer Lösung kommen, die zuallererst demKindeswohl entspricht und gleichzeitig den unterschied-lichen Interessen von Vätern und Müttern ausreichendRechnung trägt.
Wir werden vielleicht nicht alle Betroffenen zufrieden-stellen können. Was uns aber gelingen kann und wird– davon bin ich fest überzeugt –, ist eine faire und trans-parente Regelung, die dazu dient, das bestehende Un-gleichgewicht wieder in Balance zu bringen. Unser Zielmuss sein, dass die gemeinsame elterliche Sorge als Re-gel- und Erfolgsmodell noch stärker verankert wird. Dasliegt im Interesse unserer Kinder.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von derFraktion Die Linke.
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19440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen heute eine Geschäftsordnungsdebatte. Was sich
hier abspielt, ist den Bürgerinnen und Bürgern außerhalb
des Bundestages kaum zu vermitteln. Zuerst werden
über viele Jahre hinweg die Elternrechte nicht verheira-
teter Väter verletzt, indem sie ohne Zustimmung der
Mütter generell von der Sorgetragung für ihre Kinder
ausgeschlossen werden. Diese Väter konnten noch nicht
einmal gerichtlich überprüfen lassen, ob es aus Gründen
des Kindeswohls angezeigt ist, ein gemeinsames Sorge-
recht einzuräumen oder ihnen sogar die Alleinsorge für
ihre Kinder zu übertragen.
2009 rügt dann der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte dies als Verletzung der Europäischen Men-
schenrechtskonvention. Schließlich entscheidet das Bun-
desverfassungsgericht im Juli 2010, dass nicht
verheiratete Väter das Recht haben, das gemeinsame
Sorgerecht vor Gericht zu erwirken, ohne dass die Mut-
ter dies verweigern kann. Weil das Bundesverfassungs-
gericht offensichtlich Erfahrung mit der Geschwindig-
keit bei der Umsetzung seiner Entscheidungen durch den
Gesetzgeber hat, ordnete es ein Übergangsverfahren an.
Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung des Sorgerechts
hat das Familiengericht auf Antrag eines Vaters beiden
Elternteilen die Sorge für das Kind zu übertragen, wenn
dies nicht dem Kindeswohl entgegensteht.
Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
von vor fast zwei Jahren sind wir Parlamentarier aufge-
fordert, die Frage des gemeinsamen Sorgerechts in die-
sem Sinne neu zu regeln. Dass die Bundesregierung da-
für keinen eigenen Lösungsansatz vorlegt, ist schon
seltsam genug. Zum einen hat das Bundesverfassungsge-
richt in den Gründen so klare und eindeutige Vorgaben
gemacht, dass es selbst für Nichtjuristen möglich sein
sollte, einen entsprechenden Gesetzestext oder Antrag
zu formulieren. Zum anderen interessiert die Frage der
Neuregelung der gemeinsamen elterlichen Sorge sehr
viele Menschen in diesem Land; der Kollege Lischka hat
die Zahlen schon genannt. Es sind nicht nur die Rechte
der betroffenen Väter herzustellen, sondern damit hän-
gen auch Rechte der Kinder zusammen, zum Beispiel
hinsichtlich ihrer Beziehungen zu Großeltern und ande-
ren Verwandten.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits vor
mehr als einem Jahr einen Lösungsvorschlag unterbrei-
tet, wie aus ihrer Sicht eine verfassungskonforme Rege-
lung aussehen könnte, die den sich ändernden Familien-
formen in unserem Land Rechnung trägt. Was aber
passiert in den zuständigen Ausschüssen? Der federfüh-
rende Rechtsausschuss geht geschlagene neun Monate
mit dem Antrag schwanger – es geht ja auch um das Sor-
gerecht –, bevor er ihn das erste Mal überhaupt auf seine
Tagesordnung setzt. Da kann man sich gut vorstellen,
mit welcher Dringlichkeit das Votum des mitberatenden
Familienausschusses angefordert worden ist.
Andererseits – das muss man an dieser Stelle auch sa-
gen – hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen selbst be-
antragt, die weiteren Beratungen zu vertagen. Sich dann
nach wochenlangem Warten hinzustellen und nach dem
Stand der Beratungen zu fragen, ist schon ein bisschen
seltsam.
Ich finde, Ihr Umgang mit einem so sensiblen und emo-
tional besetzten Thema ist ein Armutszeugnis für die
parlamentarische Arbeit.
Inzwischen liegen auch Anträge der SPD zum Sorge-
recht vor. Meine Fraktion wird nächste Woche einen An-
trag zur Neuregelung des Sorgerechts ins Parlament ein-
bringen,
der dann möglicherweise die von allen geforderte Brü-
cke zwischen den einzelnen Anträgen schlägt, damit wir
zügig zu einer Neuregelung kommen. Ich hoffe, dass die
heutige Debatte dazu beiträgt, die Beratungen der An-
träge noch vor der Sommerpause zu ermöglichen und die
beste Lösung für die betroffenen Kinder und Eltern zu
finden. Denn es ist unsere Aufgabe, für die Probleme der
Menschen in diesem Land zügig Lösungen zu finden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdiskutieren heute im Bundestag, aufgrund unseres Ge-schäftsordnungsantrags, zu unserem Antrag „Gemeinsa-mes elterliches Sorgerecht für nicht miteinander verhei-ratete Eltern“. Leider ist diese Debatte mehr alsnotwendig.Wir erinnern uns: Vor zwei Jahren hat der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dassdie deutsche Regelung zum Sorgerecht für unverheira-tete Väter eine ungerechtfertigte Benachteiligung gegen-über Müttern und verheirateten Vätern darstellt. Kurzdanach hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt,dass die betreffenden familienrechtlichen Normen dasElternrecht aus Art. 6 Grundgesetz verletzen. Das Bun-desverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber, also uns,die Neuregelung des Sorgerechts aufgegeben und bis da-hin eine Übergangsregelung verfügt.Vor über einem Jahr, im Januar 2011, haben wir hierbereits über unseren Antrag zur Neuregelung des Sorge-rechts diskutiert. Damals waren sich alle Fraktionen ei-nig, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtszügig umgesetzt werden müssen. In der Debatte sagte
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012 19441
Ingrid Hönlinger
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zum Beispiel Frau Granold von der CDU, dass in Kürzeein eigener Gesetzentwurf vorgelegt werden könne.
Im Februar 2011 war zu hören, dass sich die Koalitionnach intensiven Gesprächen und Diskussionen auf einenKompromissvorschlag der Bundesjustizministerin eini-gen konnte. Heute schreiben wir den 2. März 2012, undFakt ist: Ein solches Gesetz gibt es nach wie vor nicht.Die mehrfachen Ankündigungen, auch im Rechtsaus-schuss, haben sich als leere Sprechblasen entpuppt. Dieschwarz-gelbe Regierung schafft es, dass eine Verurtei-lung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshoffür Menschenrechte wie eine Nebensache behandeltwird, und das nicht zum ersten Mal.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, ich fordere Sie auf, endlich tätig zu werden und fürdie vielen betroffenen Kinder und Väter eine Regelungzu schaffen. Denn eine Gesetzeslage, die gegen dasGrundgesetz verstößt, muss so schnell wie möglich be-seitigt werden.
Sie können sich nicht länger auf der Übergangslösungdes Bundesverfassungsgerichts ausruhen. Wenn die heu-tige Debatte dazu beiträgt, dass wir seitens der Regie-rungskoalition und seitens der Linken Anträge und Ge-setzentwürfe vorgelegt bekommen,
über die wir hier diskutieren können, dann hätte sich dieDebatte am heutigen Freitagnachmittag tatsächlich ge-lohnt.
Wir Grünen meinen jedenfalls, dass der derzeitigeZustand nicht befriedigend ist; denn alle Kinder habenein Recht darauf, dass beide Eltern für sie Verantwor-tung übernehmen. Das gilt unabhängig davon, ob dieseEltern verheiratet sind oder nicht. Dieses Recht drücktsich auch und gerade im Sorgerecht aus, meine Damenund Herren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, diese Thematik betrifft eine Vielzahl von Ein-zelschicksalen. Darunter leiden nicht nur die benachtei-ligten Väter, sondern auch die Kinder und in letzterKonsequenz auch die Mütter. Wenn Sie sich unseren An-trag zu diesem Thema genau anschauen, dann werdenSie sehen: Er bietet eine gute Grundlage für eine ausge-wogene und gerechte Lösung in der Sorgerechtsfrage.Deshalb wiederhole ich meine Aufforderung: HandelnSie schnell und in diesem Sinne! Dann haben Sie unsereUnterstützung.Vielen Dank.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun das Wort die Kollegin Caren Marks von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heu-tige Debatte um das elterliche Sorgerecht nicht miteinan-der verheirateter Eltern macht eines ganz deutlich: Es istdefinitiv an der Zeit, dass die Bundesjustizministerinendlich ein Gesetz vorlegt, um den Auftrag des Bundes-verfassungsgerichts umzusetzen,
und zwar so umzusetzen, dass sich darin die heutige Le-benswirklichkeit aller Eltern und Kinder widerspiegelt.Denn diese Wirklichkeit ist durch eine Zunahme derZahl nicht miteinander verheirateter Eltern geprägt. AlleEltern, egal ob mit oder ohne Trauschein, haben eine ge-meinsame Verantwortung für die Erziehung und Ent-wicklung ihrer Kinder. Der dazugehörende rechtlicheRahmen muss durch uns, den Gesetzgeber, festgelegtwerden.Wir alle wissen aber auch: Das Ziel der gemeinsamenSorge wird in der Realität nicht immer erreicht. Es gibtnatürlich die sogenannten Konfliktfälle, in denen sichbeispielsweise Väter nicht kümmern oder aber Mütterdies nicht zulassen. An dieser Stelle finde ich den Lö-sungsvorschlag der Grünen nicht richtig, da dieser einegemeinsame Sorge erschwert, weil ein Elternteil einenAntrag stellen oder Widerspruch einlegen muss, wenndie gemeinsame Sorge nicht gewünscht ist. Wir, dieSPD-Bundestagsfraktion, haben ein eigenes Modell ent-wickelt, das wir zu einem anderen Zeitpunkt ausführlichhier im Plenum debattieren werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher fällt die Sor-gerechtsverantwortung in Deutschland bei Unverheirate-ten kraft Gesetzes automatisch der Mutter zu. Väter kön-nen sich dieser Verantwortung schon durch dieNichtabgabe der Sorgeerklärung ohne Weiteres entzie-hen. Wir denken, das muss sich ändern.
Eine gemeinsame Sorge stärkt die Partnerschaftlich-keit von Müttern und Vätern. Sie ist auch ein Beitrag zumehr Gleichstellung. Vor allem aber stärkt es die Kinder,wenn Eltern die gemeinsame Sorge haben und dieseauch wirklich wahrnehmen. So ist nach einer Scheidungdem Kindeswohl in der Regel am besten gedient, wenn
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19442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. März 2012
Caren Marks
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beide Elternteile das Sorgerecht weiter gemeinsam undeinvernehmlich ausüben. Davon machen die meisten El-tern Gebrauch. Die entsprechende Regelung der Kind-schaftsrechtsreform von 1998 gilt – ich denke, unbestrit-ten – als ein wirklicher Erfolg. Denn häufig führt dieAusübung der gemeinsamen Sorge zu stabilen Bezie-hungen zwischen Kindern und dem getrennt lebendenElternteil – das ist heute meistens noch der Vater – sowiezu regelmäßigeren Unterhaltszahlungen.Bei der notwendigen Neuregelung dürfen wir als Ge-setzgeber nicht zuerst die Eltern im Blick haben, sondernmüssen das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen.Schließlich sind die Kinder bei dieser Regelung die ei-gentlich Betroffenen. Bisher erfahren uneheliche Kinderimmer noch Diskriminierungen in unserer Gesellschaft,wie eben auch beim Thema Sorgerecht. Die Ausrichtungam Kindeswohl darf nicht erst durch Entscheidungenvon Gerichten Bedeutung erlangen, sondern sollte dasAnliegen der Eltern, aber auch des Gesetzgebers sein.Darum ist es Zeit, dass Schwarz-Gelb hier endlich han-delt. Wir freuen uns jedenfalls, wenn es wirklich endlichdazu kommt – Sie haben es angedeutet –, dass Schwarz-Gelb etwas vorlegt. Ich denke, die Eltern, aber vor allemdie Kinder in unserem Land haben es verdient.Als letzte Rednerin in dieser Sitzungswoche wünscheich meinen Kolleginnen und Kollegen ein gutes Wo-chenende, wahrscheinlich mit vielen Wahlkreisterminen.Ich mache heute sozusagen das Licht aus. Ich wünscheIhnen alles Gute.
Ich schließe die Aussprache.
Da wir keine Abstimmung vorzunehmen haben, sind
wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 7. März 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.