Gesamtes Protokol
Grüß Gott, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-zung ist eröffnet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: die Einführung des Pflicht-pfandes auf Getränkeverpackungen.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Re-aktorsicherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habeheute das Kabinett über die Erfahrungen bei der Ein-führung des Pflichtpfandes auf Einwegverpackungen un-terrichtet. Wie Sie wissen, ist die rechtliche Grundlagehierfür die Verpackungsverordnung. Die Verpackungs-verordnung sieht bereits seit Anfang der 90er-Jahre einPfand vor. Die Erhebung eines solchen Pfandes war nurso lange ausgesetzt, wie der Anteil der Getränke in Mehr-wegverpackungen 72 Prozent nicht unterschreitet. DieseQuote wurde im Jahr 1997 das erste Mal unterschritten.Nach den letzten Zahlen, den Zahlen des dritten Quartals2002, liegt die Mehrwegquote mittlerweile bei 53 Pro-zent, also fast 20 Prozentpunkte unter dem gesetzlich Vor-gesehenen. Das ist der Hintergrund.Als die Unterschreitung absehbar war, hat die Bundes-regierung mit Zustimmung dieses Hauses vorgesehen, dieVerpackungsverordnung etwas zu vereinfachen. Das istbekanntermaßen am Widerstand des Bundesrates – übri-gens über alle politischen Familien hinweg; das war nichtauf eine Seite beschränkt – gescheitert. Die Bundesregie-rung hat dann am 20. März 2002 erklärt, die Pfandpflichtauszulösen, und zwar zum 1. Januar dieses Jahres. Die In-dustrie hatte für den Aufbau eines entsprechenden Rück-nahmesystems also neun Monate Zeit.Diese Zeit ist leider nicht genutzt worden. Stattdessenist der Bundesumweltminister wegen der Verpackungs-verordnung mit einer kaum vergleichbaren Klagewelleüberzogen worden. Im Ergebnis hat sich eine Rechtsvor-schrift allerdings selten als so gerichtsfest erwiesen wiedie Verpackungsverordnung. Ich habe Respekt vor denVätern dieser Verordnung. Es gab über 100 Prozesse. Inallen hat die Verpackungsverordnung Bestand gehabt.Das hat dazu geführt, dass wir am 20. Dezember, alsoauf den letzten Drücker, mit weiten Teilen der Industrie,auch mit den Teilen, die bisher anderer Auffassung gewe-sen sind, übereingekommen sind und diese Verpackungs-verordnung in Kraft treten konnte. Wir haben uns damiteinverstanden erklärt, dass wir, wenn die Industrie esschafft, in nunmehr neun Monaten ein bundesweitesRücknahmesystem aufzubauen und umzusetzen, die Er-hebung des Pfandes auf das Verhältnis Verkäufer/Käuferbeschränken, nicht aber auf die Abfüller ausweiten. DieLänder – diese sind dafür zuständig – tolerieren eine Be-schränkung der Rückgabemöglichkeit auf den Ort, andem die Verpackung erworben wurde.Aufgrund dieser Vorgaben können wir heute sagen,dass das von vielen beschworene Chaos ausgeblieben ist.Testkäufe der Umweltverbände – dies geht aber auch ausden Berichten der zuständigen Landesbehörden hervor –ergaben im Großen und Ganzen, dass die Einführung desPfandes gelungen ist. Die Reaktionen waren unterschied-lich. Manche bezweifelten ja die Lenkungswirkung desPfandes. Wir haben feststellen können, dass sie in man-chen Bereichen sehr stark zugeschlagen hat. So habenmanche Discounter Einwegverpackungen fast vollständigausgelistet.Inzwischen können wir sagen, dass es eine positive Re-sonanz gibt. Viele Menschen in diesem Lande – Umfragenergaben, dass es fast drei Viertel der Bevölkerung sind –stimmen der Erhebung des Pfandes zu. Auch Unterneh-men, die bis zuletzt der Auffassung gewesen sind, dassdies nicht der richtige Weg sei, und die den Bundesum-weltminister noch im Dezember verklagt haben, betreibenheute Werbung mit knallhart kalkulierten Mehrwegarti-keln. Diese wurden von einem Unternehmen namens Me-tro hergestellt, welches mich, wie gesagt, vor kurzemnoch verklagen wollte.Wir haben es also erreicht, dass das Mehrwegsystemauch in diesen Bereichen gestützt wird. Insofern können
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Bundesminister Jürgen Trittinwir hier eine positive Bilanz ziehen. Als Konsequenz die-ser positiven Bilanz habe ich vorgeschlagen, dass diesesHaus – es bedarf auch der Zustimmung des Bundestages– gemeinsam mit den Bundesländern eine Novelle derVerpackungsverordnung angehen sollte, die 1998 ent-standene Unlogiken in dieser Verpackungsverordnung be-seitigt. Ich denke etwa daran, dass alkoholhaltige Cola-Getränke in Dosen nicht bepfandet werden, währendCola-Getränke in Dosen bepfandet werden, und dass Kaf-fee in Dosen nicht bepfandet wird, während Mineralwas-ser mit Kohlensäure in Dosen bepfandet wird. Es ist wich-tig, solche Unlogiken zu beseitigen und der Industrie fürden Aufbau des Rücknahmesystems gleichzeitig einenfesten Rahmen zu geben. Dies muss auch dadurch ge-schehen, dass wir den Getränkekarton aus der Pfand-pflicht generell herausnehmen, da er ökologisch vorteil-haft ist. Dies müssen wir angehen.Ich habe die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Nie-dersachsen und Nordrhein-Westfalen – sozusagen stell-vertretend für die jeweiligen politischen Familien imBundesrat – gebeten, uns gegenüber bis Mitte Februar zuerklären, ob sie bereit sind, auf der Basis solcher Eck-punkte einer Novelle der Verpackungsverordnung zuzu-stimmen. Diese könnten wir dann im Frühjahr hier verab-schieden, sodass dies synchron mit der Einführung desbundesweiten Rücknahmesystems geschehen würde.Ich würde mich freuen, wenn auch der Deutsche Bun-destag diesen Versuch einer konsensualen und pragmati-schen Vereinfachung der Verpackungsverordnung mitge-hen könnte.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. – Ich bitte, zunächst Fra-
gen zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben
berichtet wurde. Das Wort hat der Kollege Werner
Wittlich.
Sehr geehrter Herr Minister, die Pläne der Bundesre-
gierung für eine kurzfristige Novellierung der Verpackungs-
verordnung enthalten eine Reihe von Unstimmigkeiten.
Beispielsweise sollen Flaschen mit alkoholfreiem Trau-
bensaft pfandpflichtig werden, während dies bei Flaschen
mit Wein, der ja bekanntlich vergorener Traubensaft ist,
nicht der Fall ist. Wie will die Bundesregierung vor die-
sem Hintergrund eine weitere Verwirrung in der Bevölke-
rung verhindern?
Frau Präsidentin, darf ich all meine Fragen jetzt stel-
len? Ich habe fünf Fragen zu der Thematik formuliert.
Ich glaube, das ist ein wenig viel. Ich denke, der Herr
Minister wird nach zwei Fragen antworten.
Ich hoffe, dass ich die anderen Fragen nachher noch
nachschieben darf. – Herr Minister, nach den Plänen der
Bundesregierung soll die bisher vorgeschriebene Mehr-
wegquote entfallen. Für die Wirtschaft fehlt damit eigent-
lich der Anreiz, durch eine Steigerung des Absatzes von
Mehrwegverpackungen langfristig wieder eine Freistel-
lung von dieser Pfandpflicht zu erreichen. Wie wollen Sie
verhindern, dass diese von der Verpackungsverordnung an-
gestrebte Lenkungswirkung endgültig zunichte gemacht
wird?
Bitte schön, Herr Minister.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Wir haben mit den Eckpunkten, die ich mit HerrnSchnappauf, Herrn Müller, Herrn Jüttner und Frau Höhnbesprochen habe, erst einmal ein grundsätzlich anderesHerangehen gewählt. Wir haben bisher die Situation, dassin der Verpackungsverordnung definiert ist, welche Ver-packungen pfandpflichtig sind. Damit ergibt sich immerdann, wenn sich jemand eine neue Verpackung ausdenkt,eine neue Unlogik.Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden. Wirhaben gesagt: Im Prinzip ist jede Einwegverpackung, weilausweislich der diversen Ökobilanzen ökologisch nach-teilig, pfandpflichtig. Nur wenn für diese Verpackung derNachweis erbracht wird, dass sie mit der Mehrwegver-packung gleichwertig ist, wird sie von der Pfandpflichtausgenommen. Das ist eine Umkehrung des Ansatzes undauch ein Unterschied zu der Novelle von 2001, mit derweiterhin zu arbeiten ich – das muss ich ehrlich sagen –niemanden zumuten möchte. Wir müssen einen Konsenserreichen.Nach unseren Vorstellungen kommen wir zu der Über-legung, den Schlauchbeutel – das war schon Ergebnis derÖkobilanz unter Frau Merkel – und den Getränkekarton –das ist das Ergebnis der Ökobilanz, die wir durchgeführthaben – von der Pfandpflicht auszunehmen. Sie sind heute,wenn sie denn über das Duale System Deutschland zurück-genommen werden, hinsichtlich der ökologischen Vorteil-haftigkeit mit der Mehrwegverpackung vergleichbar.Ich bin mir nicht sicher, Herr Kollege, ob der Verbrau-cher nicht zwischen Wein und Traubensaft unterscheidenkann. Meine Erfahrung ist, dass er das relativ gut kann.Auch in der evangelischen Kirche wird beim Abendmahldarauf genau geachtet.
– Da kenne ich mich nicht so aus.Wir haben den Wein aus verschiedenen Gründen aus-genommen: Erstens. Wir haben hier nur in kleinsten Seg-menten – sie sind statistisch kaum messbar – Alternativenim Mehrwegbereich. Die wenigsten Menschen greifenzum Beispiel zu Weißwein aus Italien in Pfandflaschen,wie ich es gelegentlich tue, weil mein Händler an ein sol-ches System angeschlossen ist. Zweitens. Es gibt ganzandere Lagerzeiten. Drittens. Wir sind bei Wein und Spi-rituosen an einem Punkt, wo wir kaum eine Substitu-ierung durch Mehrwegverpackungen vornehmen können.
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Was wir mit dieser Regelung auch beabsichtigen, ist,dass Getränke, die überwiegend Alkohol enthalten, nichtpfandpflichtig sind. Mixgetränke aber sollen von derPfandpflicht ausdrücklich erfasst werden. Den Unsinn,dass heute eine Dose Cola bepfandet wird, wohingegendie Dose Cola mit Whisky von der Pfandpflicht ausge-nommen ist, würden wir an dieser Stelle beenden.Eine weitere Ausnahme sind die diätetischen Lebens-mittel im Sinne des § 1 der Verordnung über diätetischeLebensmittel. Sie waren bisher schon nicht pfandpflichtig.Ich glaube, dass diese Regelungen sehr überschaubarund für den Verbraucher zu handhaben sind.Ihre zweite Frage bezog sich auf den Verzicht derQuote. Wir haben auf ausdrücklichen Wunsch des Kolle-gen Schnappauf, unterstützt vom Kollegen Müller, in un-seren Eckpunkten festgehalten, dass wir ein Ziel definie-ren wollen. Das Ziel soll sein, zu einem bestimmtenZeitpunkt 80 Prozent der Getränke, die in Deutschlandverkauft werden, in ökologisch vorteilhaften Verpackun-gen anzubieten. Damit das kontrolliert wird, soll der Ge-setzgeber verpflichtet sein, diesen Anteil der ökologischvorteilhaften Verpackungen jährlich festzustellen und im„Bundesanzeiger“ zu veröffentlichen. Dabei soll auch derAnteil der Mehrwegverpackungen unter den ökologischvorteilhaften Verpackungen festgestellt werden. Dies warin dem Gespräch breiter Konsens.Das, was wir nicht machen – das unterscheidet uns –,ist, dass wir an diese Feststellung eine unmittelbareRechtsfolge knüpfen. Denn was hieße das? Stellen Siesich vor, wir würden unser gemeinsames Ziel erreichen:Die Pfandpflicht würde zu den festgelegten 80 Prozentführen und dann wegfallen. Dann würden die Unterneh-men, die zurzeit relativ viel Geld in Rücknahmeautomateninvestieren, diese abschaffen mit dem möglichen Ergeb-nis, dass die Quote erneut absinkt und wir die Pfandpflichtnach kurzer Zeit wieder einführen müssten. Dies ist aus-drücklich nicht im Sinne der Wirtschaft, die ein entspre-chendes Rücknahmesystem aufbaut.Der Konsens ist, auf eine Quote mit Rechtsfolgen zuverzichten und stattdessen in der Verpackungsverordnungein Ziel festzuschreiben und sicherzustellen, dass die Er-gebnisse jährlich begutachtet und veröffentlicht werden,sodass wir daraus alle gemeinsam gegebenenfalls die po-litischen Konsequenzen ziehen können.
Herr Kollege Wittlich, ich möchte Ihnen lieber später
noch einmal das Wort erteilen. Sie dürfen Ihre Fragen
zwar noch stellen, aber im Sinne der Ausgewogenheit
sollten auch Vertreter der anderen Fraktionen zu Wort
kommen.
Die nächste Frage kommt von der Kollegin Ulrike
Mehl.
Der Pfandpflicht liegen in erster Linie ökologische
Fragen zugrunde. Das ist auch gut so. Aber damit einher
gehen auch noch andere, nämlich ökonomische Fragen
und Arbeitsplatzfragen. Deswegen bitte ich Sie, Herr
Minister, noch einmal etwas zu den Gründen zu sagen,
weshalb sich damals der Bayerische Landtag mit seiner
Mehrheit – die schließlich nicht Rot-Grün ist – ausdrück-
lich für eine Pfandpflicht ausgesprochen hat.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Abgeordnete, Ihre Frage kann ich nicht aus eige-
ner Anschauung beantworten. Das könnte der Kollege
Göppel, der zu dieser Zeit Mitglied des Bayerischen
Landtags war, sicherlich besser. Wenn ich es richtig in Er-
innerung habe, hat er dazu beigetragen, dass der Landtag
damals zu dieser Entscheidung gekommen ist, die mich
sehr gefreut hat. Ich hätte nie geglaubt, dass ich als Grü-
ner, der von der Küste kommt – manche nennen das ja
„Fischkopf“ –,
einmal im Bayerischen Landtag eine Mehrheit gegen die
eigene Landesregierung erhalten würde. Aber das war
tatsächlich der Fall.
Hintergrund dafür ist neben den ökologischen Gründen
die spezifische Struktur insbesondere der bayerischen
Brauereiunternehmen. Wir haben es dort mit einer Viel-
zahl kleiner und mittelständischer Unternehmen zu tun, die
ihre Konsumenten in der Regel ortsnah, ohne lange Trans-
portwege, erreichen und die aufgrund des Vordringens
großer Brauereien, die dies im Wesentlichen über das Ein-
wegsystem – weil nur dessen Logistik dies erlaubte – orga-
nisiert haben, akut unter ökonomischen Druck geraten sind.
Seinerzeit wurden seitens der mittelständischen Braue-
reien und des Getränkefachhandels Befürchtungen laut,
dass in diesen Betrieben durch das Vordringen des Ein-
wegsystems insbesondere im Biervertrieb und dabei vor
allem über Dosen mittelfristig 250 000 Arbeitsplätze in
Gefahr gerieten. Das war meines Wissens der ökonomi-
sche Hintergrund der Haltung des Bayerischen Landtags.
Herr Kollege Wittlich, jetzt haben Sie das Wort zu ei-
ner oder vielleicht zwei Fragen.
Herr Minister, Sie haben es eben schon kurz angespro-chen: Der Novellierungsentwurf der Bundesregierungenthält ausschließlich eine Pfandbefreiung von Getränke-kartons und Schlauchbeuteln. Ich möchte das Gesagtenicht wiederholen. Mir geht es um Folgendes: Erfolgt indem Fall, dass eine Verpackung, die derzeit noch nichtökologisch vorteilhaft ist, durch Gutachten oder Öko-bilanzen belegt zur ökologisch vorteilhaften Verpackungwird, die Befreiung automatisch oder muss die Ver-packungsverordnung jedes Mal wieder verändert werden,was ich nicht gutheißen würde?Ich stelle noch eine weitere Frage, Frau Präsidentin. –Mit der Ausweitung der Pfandpflicht auf kohlensäurefreieGetränke drohen erhebliche Einnahmeausfälle bei derBundesminister Jürgen Trittin
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WernerWittlichWertstofferfassung des Dualen Systems. Glauben Sienicht, dass damit die Fortsetzung der haushaltsnahen Wert-stoffsammlung insbesondere bei der bei den Verbrauchernetablierten Altglassammlung akut gefährdet wird, und wiewollen Sie diese Gefährdung verhindern?Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Herr Wittlich, erlauben Sie, dass ich die zweite Fragezuerst beantworte. Wir gehen davon aus, dass die Ent-wicklung so verläuft, dass, wenn wir nicht zu einer No-vellierung kommen, aufgrund der Marktentwicklungauch die nicht kohlensäurehaltigen Getränke in die Pfand-pflicht hineinrutschen. Das würde unter anderem dazuführen, dass nicht nur Einwegglas, sondern auch der Kar-ton bepfandet würde. Mit der Privilegierung des Kartons– meines Wissens werden fast 80 Prozent der Fruchtsäfteim Karton und nur ein sehr kleiner Anteil im Glas ver-packt – sorgen wir dafür, dass dem Dualen System untermStrich ein stabiles Aufkommen gesichert wird. Geradeweil der nicht bepfandete Getränkekarton im Dualen Sys-tem landet, gehe ich davon aus, dass es eine Verschiebungvon Einwegglas zum Getränkekarton geben wird, sodassunsere Novelle, wenn man alles zusammennimmt, demDualen System eher nutzen wird. Näheres werde ich denVerbandsvertretern und dem Geschäftsführer, der Ihnenauch nicht ganz unbekannt ist, in dieser Woche erläuternkönnen.Zur ersten Frage: Wir haben bewusst auf einen Auto-matismus verzichtet; ich sehe für ihn auch keinen Anlass.Als in Frau Merkels Verantwortung festgestellt wurde,dass der Schlauchbeutel der Milchmehrwegflaschegleichwertig sei, ist die Verpackungsverordnung umge-hend geändert worden. Als wir festgestellt haben, dassder Getränkekarton aufgrund der hohen Rücknahme-quote und der hohen Qualität der Verwertung durch dasDuale System Deutschlands der Mehrwegflasche ökolo-gisch vergleichbar sei, haben wir sofort eine Novellie-rung eingeleitet. Dass sie damals keine Mehrheit gefun-den hat, hatte sicherlich andere Gründe. Ich will ja nichtnachtarocken; aber ich muss denjenigen, die damals da-gegen waren, unterstellen, dass sie dafür andere Gründehatten.Ich bin übrigens auch aus Respekt vor diesem Hausegegen einen Automatismus. Bei einem Automatismusüberließen Sie es der Exekutive oder gar einem Wissen-schaftlergremium, etwas zu entscheiden, was nach meinerAuffassung eine originär politische Entscheidung ist, diewir alle, die wir gewählt worden sind, zu treffen haben.Natürlich können Sie in einer Ökobilanz – das ist ein for-malisiertes Verfahren nach internationalen Standards –feststellen, wie es mit der Gewässerbelastung und derLuftbelastung und anderen Einzelfaktoren aussieht. Wis-senschaftlich neutral können Sie aber nicht beantworten,wie Sie die einzelnen Faktoren gewichten und welcheKonsequenzen Sie daraus zu ziehen haben. Daher wärendas Parlament und der Bundesrat nach meiner Auffassunggut beraten, wenn sie diese Entscheidung nicht einfachder Verwaltung überließen.
Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Antje Vogel-Sperl.
Herr Minister, der hessische Umweltminister Dietzelwirft Ihnen vor, erst jetzt zu einer Novellierung der Pfand-pflicht bereit zu sein. Ich zitiere wörtlich aus seiner Presse-mitteilung vom vergangenen Freitag:Die Hinweise, dass der Bund einer Novellierung derPfandpflicht nicht mehr entgegenstehen will, sindein eindeutiges Eingeständnis von Herrn Trittin, dassdie Pfandpflicht voreilig zum 1. Januar 2003 einge-führt worden ist.
Wie beurteilen Sie diese Äußerung von Herrn Dietzel?Können Sie die Länder aufführen, die im Jahre 2001 imBundesrat gegen Ihren Novellierungsvorschlag gestimmthaben, und war das Land Hessen dabei?
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine vollständige Auf-listung hinbekomme. Es haben auch nicht alle dagegengestimmt. Da es sich um eine zustimmungspflichtige Ver-ordnung handelte, brauchten wir die aktive Zustimmungder Mehrheit des Bundesrates. Uns fehlte unter anderemdie aktive Zustimmung der Länder Hessen, Bayern undBaden-Württemberg.
– Und von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz unddem Saarland. Sie sehen, ich genüge dem Anspruch derAusgewogenheit.Sicher ist jedenfalls, dass Hessen zu denen gehörte, diezu diesem Zeitpunkt die Novellierung als nicht notwendigansahen. Daher nehme ich die Äußerung des KollegenDietzel als das, was sie ist: als das Eingeständnis, dassauch er einen gewissen Novellierungsbedarf sieht. Wennwir jetzt gemeinsam zu dem Ergebnis kommen sollten,dass wir die Verpackungsverordnung novellieren, würdees mich freuen. Rückmeldungen der A-Seite wie der B-Seite des Bundesrates sind für Mitte Februar zugesagt. Ichhoffe, dass dann auch das Land Hessen zu denen gehörenwird, die einer Novellierung zustimmen. Ich kann mir al-lerdings vorstellen, dass zu diesem Zeitpunkt ein andererals Herr Dietzel in Hessen dafür Verantwortung tragenwird.
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Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Birgit
Homburger.
Herr Minister, Sie haben uns die Eckpunkte des Kabi-
netts vorgestellt. Seit Sommer 2000 gibt es eine Öko-
bilanz, wonach die Tetrapaks in ökologischer Hinsicht
den Mehrwegverpackungen gleichwertig sind. Im Som-
mer 2000 hat die FDP-Bundestagsfraktion dies sofort
zum Anlass genommen, einen Antrag in den Deutschen
Bundestag einzubringen, in dem wir das formuliert haben,
was Sie dieser Tage vorgestellt haben, nämlich nicht mehr
zwischen Einweg- und Mehrwegverpackungen, sondern
zwischen ökologisch sinnvollen und ökologisch nicht
sinnvollen Verpackungen zu unterscheiden. Wie erklären
Sie sich, dass die rot-grüne Koalition diesen Antrag der
FDP-Fraktion im Jahr 2001 sowohl im Umweltausschuss
als auch im Deutschen Bundestag abgelehnt hat?
Eine weitere Frage, die ich an Sie richten möchte, ist:
Wir haben festgestellt, dass Sie in der Weihnachtspause
einen sehr mutigen Schritt gemacht haben, indem Sie
Ihren Schnauzbart geopfert haben. Im Übrigen finde ich,
dass Ihnen das sehr gut steht. Ich möchte Sie fragen, ob
Sie den mutigen Beginn des neuen Jahres nicht fortsetzen
und sich auch von dem ökologisch und ökonomisch kon-
traproduktiven Mittel des Zwangspfands verabschieden
und stattdessen ein Lizenzmodell einführen wollen, das
wesentlich weniger aufwendig wäre. Das ist unser Vor-
schlag als Alternative zum Pfand.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin, ich danke für Ihr freundliches Kompli-
ment. Ich weiß nicht, ob die Frage, wie sich welche Frak-
tion in welchem Ausschuss verhalten hat, an die Regie-
rung zu richten ist. Lassen Sie mich deswegen an dieser
Stelle auf Folgendes hinweisen: Die Novelle der Ver-
packungsverordnung, die 2000 im Bundesrat und 2001 im
Bundestag eingebracht wurde, wurde von den Ländern
Baden-Württemberg und, wenn ich mich richtig erinnere,
Hessen explizit abgelehnt. In beiden Bundesländern ist
die FDPan der Regierung beteiligt. Auch Rheinland-Pfalz
– es gibt ja einen bekannten FDP-Abgeordneten mit ent-
sprechenden Connections nach Rheinland-Pfalz – hat
nicht zugestimmt. Ich glaube, dass wir alle gut beraten
sind, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass es damals eine
Auseinandersetzung darüber gegeben hat, ob die Ein-
führung eines Pfands überhaupt verhindert werden kann.
Das war der Grund, warum Länder wie Baden-Württem-
berg, Hessen und Rheinland-Pfalz mit tatkräftiger Unter-
stützung der FDP gegen die Einführung eines Pfands ge-
stimmt haben. Diese Frage ist heute erledigt. Ich hoffe
angesichts des Pragmatismus dieser Länder und der Rea-
lität des Pfands, zu einer einfachen und unbürokratischen
Lösung zu kommen.
Zu den Alternativen, die es zum Pfand gibt – von Ab-
gaben bis hin zu Lizenzsystemen und Ähnlichem –, muss
ich nach zweieinhalb Jahren Diskussion, die es vor 2001
mit allen Beteiligten gegeben hat, eines feststellen, wie
immer man das auch bewerten will: Bei der Beantwortung
der Frage, was durchsetzungsfähig ist, ist am Ende das
alte Instrument, nämlich das Pfand, der Verpackungsver-
ordnung, die während der Zeit der CDU/CSU-FDP-Re-
gierung unter Klaus Töpfer 1998 novelliert worden ist,
übrig geblieben. Mit dem Pfand wird den ökologischen
Mehrkosten der Einwegverpackungen durch eine Belas-
tung der Verursacher entgegengesteuert, also derjenigen,
die solche Verpackungen in den Verkehr bringen. Das ist
das, was ich aus zweieinhalb Jahren Diskussion über das
richtige Instrument als Konsequenz ziehe, wissend, dass
einige andere Alternativen befürworten. Aber ich bin zu
dem Ergebnis gekommen, dass sich die Vertreter der Al-
ternativen so sehr gegenseitig blockiert haben, dass sich
der Vormarsch der Einwegverpackungen ungehindert
vollziehen konnte; denn deren Anteil an den Getränke-
verpackungen macht inzwischen fast 47 Prozent aus.
Die nächste Frage stellt der Kollege Horst Kubatschka.
Die Einwegverpackungen haben zur Verschandelungunserer Städte und Landschaften beigetragen, weil bei-spielsweise überall Bierdosen herumgelegen haben. Diejetzige Lösung ist für den Verbraucher sicherlich nicht op-timal; denn die Industrie hat bis zum Schluss geglaubt,ohne ein Gesetz auszukommen. Wie lange wird es nachIhrer Einschätzung dauern, bis es zu einem Fondssystemkommt, sodass der Zugreisende auf dem Bahnhof in Mün-chen eine Bierdose kaufen und sie in Nürnberg abgebenkann? Ein solches Fondssystem wäre eine Lösung, die füralle das Optimale wäre.Die zweite Frage. Für die kleinen Brauereien geht esum die Existenz: Sie haben sich auf die Gesetzgebung derCDU/CSU-FDP-Regierung, von Herrn Töpfer, verlassen,die darauf hinausläuft, dass auch Mehrwegflaschen imEinsatz bleiben. Weil diese sich aus Kostengründen keinezweite Abfüllanlage erlauben konnten, hatten sie sichseinerzeit für Mehrweg und für die Umwelt entschieden.War es von daher nicht doch ein Zeichen von politischerVerlässlichkeit, dass wir das jetzt durchgezogen haben?Nur noch eine Anmerkung: Bevor ich ein Bier aus derDose saufe, durste ich lieber.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Angesichts derjenigen, die das für sich persönlich an-ders entscheiden, sollte aber sichergestellt sein – daraufhaben Sie zu Recht hingewiesen –, dass die Weißblech-respektive Aludose dann auch tatsächlich wieder in derVerwertung und nicht in der Landschaft landet. Das Pfanddient ja dazu, das sicherzustellen. Das ist der Vorteil desPfandes.
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Bundesminister Jürgen TrittinDie Industrie hat sich bereit erklärt, ein solches Rück-nahmesystem spätestens zum 1. Oktober zur Verfügungzu stellen. Im Hinblick darauf appelliere ich an alle Be-teiligten, daran mitzuwirken, dass es jetzt relativ schnellzu einer Novelle der Verpackungsverordnung kommt;denn wir müssen die Novellierung mit dem Aufbau desRücknahmesystems natürlich halbwegs synchron halten.Deswegen wünsche ich mir, dass eine Novelle der Ver-packungsverordnung im Frühjahr durch beide Häuser,durch Bundestag und Bundesrat, gebracht wird. – Das zuIhrer ersten Frage.Wie war gleich Ihre zweite Frage?
– Ach so, die Frage der Verlässlichkeit. Natürlich hat dieDebatte um das Pfand nicht nur eine ökologische Kom-ponente – Ressourceneinsparung, Verkürzung von We-gen, Klimaschutz, Recycling und all das –, sondern selbst-verständlich auch eine wettbewerbsrechtliche Seite. EineFrage, die da immer bestanden hat, lautet: Können sichkleine und mittelständische Unternehmen auf das gesetzteRecht verlassen oder wird dieses im Interesse großer undstarker Wettbewerber im Zweifelsfall deren Bedürfnissenangepasst?Diese Frage ist damit mit entschieden worden. Das istaber nicht Sinn und Ziel der Verpackungsverordnung,sondern, wenn Sie so wollen, ein Nebeneffekt. Nichts-destotrotz ist dies, glaube ich, für viele bayerische Fami-lienbetriebe von zentraler Bedeutung gewesen.
Die nächste Frage hat die Kollegin Gudrun Kopp.
Herr Minister, wie beurteilen Sie die derzeitige Markt-
situation der Entsorgungswirtschaft mit Blick auf Wett-
bewerbsfragen?
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Im Grunde sind das zwei Fragen. Was die Getränke-
verpackungen angeht, so wissen wir heute noch nicht, wie
sich das entwickelt. Ich rate allen dazu, das im Jahr 2003
genau zu beobachten. Eine solch starke Lenkungswir-
kung, wie sie die Einführung des Pfandes jetzt erreicht
hat, wird es bei Verwirklichung eines Rücknahmesystems
sicherlich nicht geben. Ich erwarte eher eine Entwicklung
wie in Schweden, nämlich ein schrittweises Wiederan-
steigen der Mehrwegquote, und nicht solche Sprünge, wie
wir sie zurzeit erleben und die einige, auch auf der Ver-
werterseite, in Probleme bringen.
Nun zu der anderen Frage. Wir sehen mit großer Sorge
– ich sage bewusst: wir; das gilt für das Wirtschaftsminis-
terium wie für das Umweltministerium –, dass es beim
Bundeskartellamt eine Auslegung von Kartellrecht geben
könnte – das ist noch nicht entschieden; da ist man noch
im Gespräch –, nach der Rücknahmesysteme in der Selbst-
verantwortung der Wirtschaft, die naturgemäß einen ge-
wissen Kartellcharakter haben müssen – wenn man alles
bei jedem zurückgeben kann, muss es Absprachen geben –,
aus kartellrechtlichen Gründen nicht möglich wären.
Wenn diese Sorge zu Recht bestehen sollte, dann – da sind
sich, glaube ich, Bundeswirtschaftsministerium und Um-
weltministerium einig – müssen wir die gesetzlichen Vo-
raussetzungen so ändern, dass sie doch möglich werden.
Niemand kann ein Interesse daran haben – gleichgül-
tig, ob es sich um Altautos, um Getränkeverpackungen,
um Elektronikschrott, um Batterien oder Ähnliches han-
delt –, dass wir das, was wir erreicht haben, nämlich Ent-
sorgungssysteme in der Verantwortung der Wirtschaft, in
die Sphäre des Staates zurückführen. Das wäre sicherlich
völlig falsch. Eine Reverstaatlichung von Umweltpolitik
an dieser Stelle kann niemand wollen, aus wettbewerb-
lichen, aber auch aus ökologischen Gründen.
Herr Kollege Wittlich, haben Sie noch eine Frage?
– Dann hat die Kollegin Homburger das Wort. Frau
Homburger, bitte.
Herr Minister, ich bin ganz froh, dass Sie eben bei derBeantwortung der Frage der Kollegin Kopp klargestellthaben, dass die Entwicklung, die sich in den letzten zweiWochen vollzogen hat, sicherlich nicht anhalten wird.Diese Entwicklung ist der Tatsache geschuldet, dass imAugenblick keine Rücknahmesysteme etabliert sind.Sie sprechen allerdings noch immer in den alten Kate-gorien. Wir stimmen darin überein – das haben wir geradeerfreulicherweise festgestellt –, dass wir die Trennlinienicht mehr zwischen Einweg und Mehrweg ziehen kön-nen; vielmehr müssen wir sie zwischen ökologisch sinn-vollen und ökologisch nicht sinnvollen Verpackungenziehen, und zwar analog dem, was in Ökobilanzen festge-stellt wurde. Angesichts dessen finde ich es nicht in Ord-nung, dass Sie hier sagen: Ja, aber die Entwicklung hatdazu geführt, dass wir jetzt 47 Prozent Einweg haben. –Das ist nicht relevant.Wollen Sie nicht endlich einmal zur Kenntnis nehmen,dass die von der alten Koalition erlassene Verpackungs-verordnung bewirkt hat, dass aufgrund technischer Ent-wicklungen und einer gewissen Dynamik heute circa80 Prozent der Getränke in ökologisch sinnvolle Ver-packungen abgefüllt werden? Auch Sie selbst haben imHinblick auf die Eckpunkte von diesen 80 Prozent ge-sprochen. Wenn man wissenschaftliche Erkenntnisse um-setzen will, dann muss auch die politische Argumentationstringent sein. Wollen Sie nicht auch das endlich einmalzur Kenntnis nehmen?Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Abgeordnete, wenn ich Sie da – mit allem Respekt –korrigieren darf: Nach der Verpackungsverordnung, die
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Klaus Töpfer zu verantworten hat, und auch nach der Ver-änderung, die 1998 stattgefunden hatte – sie hat zu einerdrastischen Komplizierung der Verordnung geführt, weilman plötzlich nach unterschiedlichen Getränkearten undnicht mehr nach Verpackungen differenziert hat –, war esso, dass wir eine Mehrwegquote von 72 Prozent vorgese-hen haben. Wenn, wie von mir vorgeschlagen, die Ge-tränkekartonquote hinzugerechnet würde – der Anteil derGetränkekartons am Getränkemarkt liegt bei ungefähr8 Prozent –, dann läge die Quote von ökologisch vorteil-haften Verpackungen bei 80 Prozent.Die Mehrwegquote ist mittlerweile auf 53 Prozent ab-gesunken. Rechnet man acht Prozentpunkte hinzu, dannkommt man auf 61 Prozent. Damit sind wir ungefähr20 Prozentpunkte von dem entfernt, was wir mit der No-velle der Verpackungsverordnung angestrebt haben. DenKorridor zwischen den nur 61 Prozent – wenn manSchlauchbeutel, Kartons und Mehrweg zusammennimmt,dann kommt man auf ungefähr diesen Wert – und den an-gestrebten 80 Prozent ökologisch vorteilhafter Ver-packungen, die Klaus Töpfer einmal gewollt hat, zuschließen ist unser Ziel. In diesem Sinne betätige ich michgerne als derjenige, der dafür sorgt, dass das Wirklichkeitwird, wofür sich Klaus Töpfer einmal eingesetzt hat. Dasist mein Anliegen. Ich hoffe auf eine breite Unterstützungin diesem Hause und im Bundesrat.
Da mir zum Thema der heutigen Kabinettssitzung
keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, beende ich die
Behandlung dieses Themenbereichs.
Gibt es darüber hinaus Fragen an die Bundesregie-
rung? - Das ist nicht der Fall.
Die Regierungsbefragung ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 15/286 –
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung der Fragen steht Frau Parlamentari-
sche Staatssekretärin Marieluise Beck zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, fraktionslos, auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die negative Evaluierung
ihrer Aktionsprogramme gegen Rechtsextremismus durch eine
von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie
– vergleiche „Berliner Zeitung“ vom 4. Januar 2003 – und welche
Schlussfolgerungen zieht sie für die Fortführung dieser Pro-
gramme?
Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration:
Frau Kollegin Dr. Lötzsch, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Die im von der Friedrich-Ebert-Stiftung in
Auftrag gegebenen Gutachten „Bürgernetzwerke gegen
Rechts“ enthaltenen Aussagen sind deutlich überspitzt
medial verbreitet worden. Die mediale Darstellung hat
den Eindruck erweckt, dass es tatsächlich eine breit ange-
legte und fast vernichtende Kritik an diesen Programmen
geben würde. Wenn Sie sich allerdings das Gutachten
selbst anschauen, stellen Sie fest, dass das Gutachten
keine Grundlage für diese Kritik bietet.
Zunächst einmal zu der Anlage des Gutachtens. Es ist
ein sekundär-analytisches Gutachten, das heißt, die Da-
tenbasis besteht aus stichpunktartigen Befragungen und
der Auswertung von Informationsmedien wie dem Inter-
net. Insofern hat sich sicherlich auch eine gewisse sub-
jektive Tendenz eingeschlichen. Die Zielsetzung dieses
Gutachtens ist es, zu überprüfen, wie weit sich solche Pro-
gramme überhaupt in die Stärkung bürgerschaftlichen
und zivilbürgerlichen Engagements einfügen. Da gibt es
in der Tat Verbesserungsvorschläge bezüglich der Umset-
zung dieser Programme. Die Programme selbst werden
deutlich lobend hervorgehoben. Insbesondere das Pro-
gramm „Civitas“ wird als ein neuer Weg bezeichnet, mit
dem Rechtsextremismus sinnvoll begegnet werden kann;
vor allen Dingen deshalb, weil Rechtsextremismus nicht
nur als Jugendproblem, sondern als ein Problem begrif-
fen wird, das in allen Generationen der Gesellschaft vi-
rulent ist, besonders in der mittleren und der älteren Ge-
neration, die ja doch sehr stark meinungsbildend ist.
Insofern wären wir gut beraten, wenn wir, auch vonsei-
ten der Politik, sehr differenziert die Ergebnisse dieses
Gutachtens beurteilen.
Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank auch fürdie Antwort. – Ich habe ehrlich gesagt die Aussagen in denmir vorliegenden Medien nicht rein negativ aufgefasst,sondern dahin gehend, dass sie auf bestimmte Problemehinweisen wollen. Ein Problem – da würde ich gernenachfragen, ob Sie diese Auffassung teilen – ist, dass derKonzeption dieser Programme zwar häufig ein sehr guterAnsatz und auch gute Ideen zugrunde liegen, aber es docheigentlich besser wäre, statt relativ kurzfristiger Pro-gramme eine kontinuierliche Jugendarbeit in der ganzenRepublik zu finanzieren.Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-linge und Integration:Dieser Gegensatz, den Sie in Ihrer Frage unterstellen,ist politisch nicht nachzuvollziehen. Die Förderung derJugendarbeit liegt im Aufgabenbereich der Länder undder Kommunen. Dass es zusätzlich vonseiten des Bundeseine gewisse Anregungskompetenz und auch die Notwen-digkeit gibt, modellhaft in den Ländern zu agieren, stehtdazu nicht im Widerspruch, sondern stellt im Gegenteil ei-nen ergänzenden Ansatz dar. Es liegt allerdings in der Na-tur der Sache, dass dem Bund in diesen Bereichen nur eineBundesminister Jürgen Trittin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Parl. Staatssekretärin Marieluise BeckAnregungskompetenz zukommt und dass die Modelle,die er in Kraft setzt, immer nur über einen befristeten Zeit-raum finanziert werden. Da stellt sich dann die Frage, wieweit hier Verknüpfungen mit den Angeboten stattfinden,die in den Kommunen und Ländern selbst entwickelt wor-den sind. Dass hier eine Verschränkung stattfinden muss,um wirklich zivilgesellschaftliches Engagement in allerBreite und auch auf Dauer wirksam werden zu lassen, istsicherlich keine Frage.
Sie haben noch eine Frage, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Beck, Sie hatten
in Ihrer ersten Antwort schon angesprochen – das ist ja
auch Gegenstand dieser Auswertung –, dass vor allen Din-
gen die ältere und die mittlere Generation meinungsbildend
ist. Die Programme sprechen aber vor allem Jugendliche
an. Haben Sie auf der Grundlage Ihrer Erfahrungen und
auch der Studie Überlegungen angestellt, welche spezifi-
sche Ansprache möglich ist, um auch die meinungsbil-
dende mittlere und ältere Generation besser zu erreichen,
als es bisher der Fall war?
Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration:
Ich teile Ihre Einschätzung, dass wir nach wie vor auf
der Suche nach Ansätzen sein müssen, mit denen gerade
die Teile der Bevölkerung erreicht werden, die sich einer
politischen Auseinandersetzung zunächst einmal entzie-
hen. Das gilt teilweise für die mittlere und ältere Genera-
tion und auch, wie in diesem Gutachten angemerkt wird,
für Hauptschüler und Realschüler, die deutlich schwieri-
ger zu erreichen sind als Gymnasiasten. Dass sich diese
Programme sehr stark an der Jugend orientieren, hat etwas
damit zu tun, dass die Strukturen, über die Jugendliche er-
reicht werden können, deutlich besser ausgebildet sind,
zum Beispiel durch die Schulstrukturen oder Jugendhaus-
strukturen. Es ist deutlich schwieriger, Netzwerke ausfin-
dig zu machen, über die man die älteren Menschen errei-
chen kann. Aber ich weiß gerade aus der Zusammenarbeit
mit den Ausländerbeauftragten vor Ort, dass zunehmend
über Ansätze nachgedacht wird, die Menschen über her-
kömmliche Vereinsstrukturen anzusprechen. Zum Bei-
spiel die örtliche Feuerwehr, deren Struktur in der Regel
das gesamte Spektrum der Bevölkerung widerspiegelt,
wird als Ansatzpunkt für die zivilgesellschaftliche Ver-
breiterung der Demokratie genutzt.
Ich schließe diesen Geschäftsbereich und bedanke
mich bei der Frau Staatssekretärin Marieluise Beck.
Ich rufe den Bereich des Bundeskanzlers und des Bun-
deskanzleramtes auf. Zur Beantwortung steht Herr Staats-
sekretär Béla Anda bereit.
Ich rufe Frage 2 der Abgeordneten Dorothee Mantel auf:
Wie hat sich seit dem Start des Deutschland-Portals
– www.deutschland.de – im September 2002 dessen Nutzerzahl
entwickelt und welcher Anteil der Nutzer greift vom Ausland auf
das Portal zu?
B
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, das Deutschland-Portal wurde am
17. September 2002 durch Bundespräsident Johannes Rau
gestartet. Von diesem Zeitpunkt an bis Ende des Jah-
res 2002 wurden insgesamt 1165 000 Besucher, so ge-
nannte Visits, des Deutschland-Portals registriert. Das
sind im Monatsdurchschnitt circa 330 000 Besucherinnen
und Besucher. Die aktuelle Monatsstatistik weist nach
Abklingen des Starteffektes eine steigende Tendenz aus.
Im November 2002 waren es circa 195 000 Besuche, im
Dezember 2002 circa 215 000. Der Anteil der Nutzerin-
nen und Nutzer, die vom Ausland auf das Deutschland-
Portal zugreifen, liegt insgesamt bei circa 32 Prozent.
Ihre Zusatzfrage bitte, Frau Kollegin.
Das Deutschland-Portal soll als Marketinginstrument
für Deutschland genutzt werden. Deswegen ist meine
Frage, welche Maßnahmen geplant sind – ich denke, es
sind welche geplant –, um die Zahl der ausländischen Nut-
zer zu vergrößern. Eigentlich soll ja mit diesem Portal
Deutschland repräsentiert werden; auf der Startseite kann
man zwischen fünf oder sechs Sprachen wählen.
B
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, erlauben Sie mir den Hinweis, dass
das Portal mit seinen gegenwärtig 1104 Verweisen auf
deutsche Informationsportale im Internet schon heute
eine für Deutschland sehr repräsentative Sammlung be-
deutet. Sie wird weiter ausgebaut werden. Natürlich wird
in dem dafür vorgesehenen Prozess auch der Anteil ande-
rer Websites und Usergruppen darin einfließen.
Frau Kollegin, Sie haben die Möglichkeit einer zwei-
ten Zusatzfrage.
Ihre Antwort auf eine Kleine Anfrage im Juli 2002 lau-
tete, dass bis Juli 2002 1,7 Millionen DM für das Inter-
netportal ausgegeben wurden. Mich interessiert, wie viel
Geld darüber hinaus dafür ausgegeben worden ist und ob
das in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen steht.
B
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, das Gesamtvolumen des Vertrags,der mit dem Betreiber, der ARGE deutschland.de, ge-
1380
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1381
schlossen wurde, beträgt bei vierjähriger Laufzeit1 747 110 Euro. Ich sollte hinzufügen, dass sich aufgrundnotwendiger Veränderungen, die auch durch neue gesetz-liche Forderungen, beispielsweise Regelungen zur Bar-rierefreiheit, notwendig wurden, dieses oben genannteVertragsvolumen um circa weitere 155 500 Euro erhöht.Die bisherigen Kosten des Deutschland-Portals für2001 und 2002 liegen bei circa 1,7 Millionen DM. Dassind umgerechnet 869 196 Euro. Dieses Geld ist in der Tatsehr gut angelegt. Das dokumentieren die zahlreichen Zu-griffe aus dem In- und Ausland.
Wir kommen zur Frage 3 der Abgeordneten Dorothee
Mantel:
Bietet das Deutschland-Portal nach Auffassung der Bundes-
regierung bereits heute eine repräsentative Sammlung wesentli-
cher Verweise auf deutsche Informationsangebote im Internet,
und wenn nein, bis wann soll das Deutschland-Portal entspre-
chend ausgebaut sein?
B
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, das Deutschland-Portal soll den
Nutzerinnen und Nutzern aus dem In- und Ausland erste
Informationsmöglichkeiten über Deutschland, übersicht-
lich aufbereitet, zur Verfügung stellen. Schon heute bietet
das Portal mit insgesamt 1 104 Verweisen auf deutsche
Informationsportale im Internet eine für Deutschland sehr
repräsentative Sammlung.
Im Endausbau, spätestens bis zum Ende der Vertrags-
laufzeit im Jahre 2005, werden es circa 2 000 Links sein.
Das soll durch Linkbewerbungen über das Portal selbst
erreicht werden. Seit dem Onlinestart sind 907 Bewer-
bungen eingegangen.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Trifft es zu, dass die Verweise, die aufgenommen wer-
den, nicht vom Betreiber selbst aktiv gesucht werden,
sondern dass man sich dafür bewerben muss? Ich habe
gestern Abend festgestellt, dass es genau neun Links für
den Bereich Tourismus gibt, wobei ein Link auf die be-
sonderen Möglichkeiten der FKK-Kultur in Deutschland
verweist. Meines Erachtens sind neun Links im Touris-
musbereich für Deutschland zu wenig.
B
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will nicht bewerten, wer nach welchen Links sucht.
Ich möchte nur allgemein sagen: Wenn Sie sich mit den
dort aufgeführten Links intensiv auseinander setzen – das
haben Sie getan –, dann können Sie feststellen, dass man
von dort beispielsweise zur Homepage des Freistaats
Bayern und zu Untergruppen mit weiteren Links kommen
kann. Das Thema Tourismus ist bei den jeweiligen Län-
dern in guten Händen. So ist dieses Portal zu verstehen.
Es ist wahr, dass der Betreiber des Deutschland-Por-
tals, die ARGE deutschland.de, die aus der Ponton-Lab
GmbH und der T-Systems GmbH besteht, für die Auf-
nahme von Links Qualitätskriterien aufgestellt hat, wie
zum Beispiel das Kriterium, dass die Seiten von extremis-
tischen, rassistischen, gewaltverherrlichenden oder auch
pornographischen Inhalten frei sein müssen. Sie müssen
außerdem aktuell und seriös sein sowie einen auf
Deutschland bezogenen hohen Informationsgehalt auf-
weisen. Das ist Grundlage für die Auswahl bzw. für die
Zulassung der Links, die bisher von der Betreibergesell-
schaft vorgenommen wird.
Zudem gibt es die Möglichkeit der Rückfrage beim
Auftraggeber, dem Presse- und Informationsamt der Bun-
desregierung. Außerdem besteht die Möglichkeit, sich
selbst aktiv um die Aufnahme zu bewerben. Bis Ende Ja-
nuar wird ein Beirat eingesetzt werden, der in Streitfällen
oder in besonderen Fällen über die Aufnahme oder die
Auswahl zu entscheiden haben wird.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Danke schön. – Um auf die erste Zusatzfrage zurück-
zukommen: Ist nach Ansicht der Bundesregierung die
Vorgehensweise, wie hier Informationen verlinkt werden,
ausreichend, um – ich zitiere jetzt einmal die Startseite –
„eine Sammlung wesentlicher Verweise auf deutsche In-
formationsangebote im Internet“ zu bieten?
B
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, das ist so. Aber nichts ist so gut, dass es nicht ver-
bessert werden könnte. Ich hatte schon erwähnt, wie viele
Weblinks dort existieren, und gesagt, dass das Angebot bis
auf 2 000 Links ausgebaut werden soll. Wenn es weitere
Bewerber gibt – ich bin sicher, es wird sie geben –, dann
steht ihnen eine Aufnahme in dieses System nach den Re-
geln, die ich skizziert habe, offen.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereiches desBundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Vielen Dank,Herr Staatssekretär Anda, für die Beantwortung der Fragen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriumsfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf. Zur Beant-wortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin IrisGleicke bereit.Ich komme damit zur Frage 4 des AbgeordnetenEduard Lintner:Beabsichtigt die Bundesregierung gegenzusteuern, falls, be-dingt durch das neue Angebotskonzept und die neue Tarifgestaltungder Deutschen Bahn AG, DB AG, viele Pendler und Spontanrei-sende entgegen dem verkehrspolitischen Ziel der BundesregierungStaatssekretär Béla Anda
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner„Mehr Verkehr auf die Schiene“ auf das Auto umsteigen sollten,und wenn ja, wie?I
Herr Abgeordneter Lintner, das Angebotskonzept und
die Tarifgestaltung im Schienenpersonenfernverkehr lie-
gen in der unternehmerischen Verantwortung der Deut-
schen Bahn AG. Die Bundesregierung geht davon aus,
dass die Deutsche Bahn AG die Erfahrungen mit dem
neuen Angebotskonzept und dem neuen Preissystem bei
ihren künftigen Entscheidungen in diesem Bereich
berücksichtigen wird.
Über die Akzeptanz des neuen Angebotskonzepts ent-
scheiden die Kunden. Das Unternehmen wird insofern
seine Preisgestaltung regelmäßig entlang der Kundenori-
entierung zu überprüfen haben.
Ihre Zusatzfrage bitte, Herr Kollege.
Frau Kollegin, was macht denn das Bundesverkehrsmi-
nisterium, falls dieses Tarifsystem wichtigen verkehrspoli-
tischen Zielsetzungen widerspricht oder schadet? Es wäre
ja denkbar, dass sich die Pendlerströme wieder auf das Auto
verlagern. Oder denken Sie an das Kuriosum, dass eine Fa-
milie mit mehr als drei Kindern für das vierte Kind wieder
zahlen muss. Die Großfamilie also, die besonders umsorgt
werden sollte, ist Leidtragende dieses neuen Systems.
I
Herr Kollege Lintner, ich sage es noch einmal: Das Un-
ternehmen Deutsche Bahn AG ist ein privatisiertes Unter-
nehmen. Wir haben keinen Einfluss auf das Tarifsystem.
Der Bund bzw. die Bundesregierung kann nur in die
Schiene investieren. Das tut er auch. 1998 haben wir im
Hinblick auf die Schieneninfrastruktur ein Investitions-
niveau von damals wenig mehr als 5 Milliarden DM vor-
gefunden. Wir haben in diesem Bereich einen Aufwuchs
auf jetzt 4,5 Milliarden Euro vorgenommen. Investitionen
in Schienenwege sind eine ganz wichtige Voraussetzung,
um vernünftige Angebote zu schaffen. Natürlich müssen
wir auch Aufsicht über einen diskriminierungsfreien Zu-
gang anderer Wettbewerber führen.
Frau Staatssekretärin, glauben Sie nicht, dass es sich
die Bundesregierung ein bisschen zu leicht macht? Denn
sie ist ja immerhin alleiniger Eigentümer des ganzen
Bahnunternehmens und als solcher hätte sie natürlich
auch Einfluss beispielsweise auf die Tarifgestaltung.
I
Herr Abgeordneter Lintner, in der Tat ist der Bund al-
leiniger Eigentümer. Bei der DB AG handelt es sich aber
um ein Unternehmen, das einen Börsengang vorbereitet.
Aus wirtschaftspolitischen Debatten wissen Sie, dass sich
der Bund auch bei anderen privatisierten und wirtschaft-
lich arbeitenden Unternehmen nicht in die Preisgestaltung
einmischt.
Wir kommen zur Frage 5 des Abgeordneten Eduard
Lintner:
Wie beurteilt die Bundesregierung vor allem in wettbewerbs-
rechtlicher und verkehrspolitischer Hinsicht das Verhalten der DB
AG gegenüber ihrem Konkurrenten Connex, dessen Fahrplanda-
ten nicht in das Kursbuch der DB AG aufzunehmen, insbesondere
auch im Hinblick auf die Koalitionsvereinbarung von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen vom 16. Oktober 2002, in der „der einfa-
che Zugang zu Fahrplandaten für alle Wettbewerber“ gefordert
wird?
I
Herr Abgeordneter Lintner, auch die Bundesregierung
betrachtet den diskriminierungsfreien Zugang zur Eisen-
bahninfrastruktur und den einfachen Kundenzugang zu
Fahrplandaten als wesentliche Voraussetzung für einen
fairen Wettbewerb auf der Schiene. Zunächst bleibt aber
der Abschluss des in dieser Angelegenheit laufenden
Rechtsverfahrens abzuwarten.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Empfindet die Bundesregierung nicht die Verpflichtung,
das Prinzip eines fairen Wettbewerbs auch im Schienen-
bereich durchzusetzen?
I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist richtig: Die Bundesregierung will den diskrimi-
nierungsfreien Wettbewerb auf der Schiene weiter ver-
bessern und hat deshalb im vergangenen Jahr die Wettbe-
werbsaufsicht durch das Eisenbahn-Bundesamt gestärkt,
das nun bei Verstößen auch von Amts wegen eingreifen
kann.
Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie die gestrige„Welt“ gelesen haben.
Dort wurde die deutliche Kritik einer Bundesministerinam Verhalten der Bahn zitiert. Dies verträgt sich nicht sorecht mit den Antworten, die Sie jetzt gegeben haben.Wären Sie bereit, Frau Künast in dieser Sache Nachhilfe-unterricht zu geben?
1382
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1383
I
Es geht hier nicht um Nachhilfeunterricht, sondern da-
rum, dass wir gemäß unseres Koalitionsvertrages selbst-
verständlich erstens einen diskriminierungsfreien Zugang
für Wettbewerber auf der Schiene ermöglichen und zwei-
tens den Kunden die Fahrplandaten aller Wettbewerber,
die auf diesem Markt operieren, zur Verfügung stellen
wollen. Deshalb hat die Bundesregierung das Projekt
„Delfi“ finanziell gefördert, mit dem deutschlandweit
flächendeckende Verbindungsinformationen zur Verfü-
gung gestellt werden sollen. Das wird, wie Sie, Herr Kol-
lege Lintner, sicherlich wissen, demnächst eingeführt.
Wir kommen damit zur Frage 6 des Abgeordneten Dirk
Wieso wird in der Antwort der Parlamentarischen Staatssekre-
tärin beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen, Angelika Mertens, vom 17. Dezember 2002 auf meine
schriftliche Frage in Bundestagsdrucksache 15/288 seitens der
Bundesregierung der familienpolitische Aspekt außer Acht gelas-
sen, der in der Vergangenheit etwa in Gestalt des Wuermeling-
Passes für kinderreiche Familien zum Ausdruck kam?
I
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Fischer, die Antwort
lässt den familienpolitischen Aspekt nicht außer Acht,
sondern verweist auf die Angebote für die Familien im Ta-
rifsystem der Deutschen Bahn AG.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, ich nehme auf die Beantwortung
oder die Nichtbeantwortung meiner Anfrage vom De-
zember Bezug, die in meiner vorliegenden Frage erwähnt
wird. Dort hat die Bundesregierung erklärt, dass sie nicht
durch eine steuerfinanzierte Subventionierung einer er-
gänzenden Maßnahme für Familien in die Tarifgestaltung
der DB eingreifen wolle. – Das will ja niemand. Aber ich
frage Sie, warum diese Bundesregierung – im Gegensatz
zu früheren – nicht insoweit familienpolitische Leistun-
gen nach dem Bestellerprinzip bei dem Unternehmen ein-
kauft. Das ist früher für den Wuermeling-Pass in einer Di-
mension von 50 Millionen DM pro Jahr geschehen.
Warum haben Sie diese andere familienpolitische Wei-
chenstellung vorgenommen?
I
Das hat mit einer familienpolitischen Weichenstellung
nichts zu tun, Herr Kollege Fischer. Ich verweise Sie noch
einmal darauf, dass das Unternehmen Bahn privatisiert
worden ist – wir haben es gemeinsam privatisiert – und
dass die Bahn für ihre Preisgestaltung die Verantwortung
übernehmen muss. Wir gehen davon aus, dass die Bahn
selbstverständlich auch Angebote für Familien macht.
Das hat sie getan. Das ist in der Antwort der Frau Kolle-
gin Mertens, die Sie genannt haben, auch angesprochen
worden. Dort ist Ihnen gesagt worden, welche Möglich-
keiten es für Familien gibt, Rabatte zu nutzen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, das, was Sie ausgeführt haben,
hindert natürlich keinen Besteller, auch nicht die Bundes-
regierung, bei dem Unternehmen entsprechende Leistun-
gen einzukaufen und zu bezahlen. Stimmen Sie mir zu,
dass die Bundesregierung diese Möglichkeit hat? Und:
Sind Sie nicht in Sorge darüber, dass die Bundesregierung
heute in dieser Frage eine völlig diffuse Linie offenbart,
da Sie von dem Prinzip der Nichteinmischung ausgehen,
aber die Kollegin Künast als Verbraucherministerin – wie
eben schon erwähnt – sagt, das neue Preissystem der Bahn
stürze im Augenblick viele Kunden in die Verwirrung?
I
Herr Abgeordneter Fischer, wenn von der BahnAG ein
Tarif verlangt wird, aus dessen Anwendung ihr wirt-
schaftliche Nachteile erwachsen, hat sie nach EU-Ge-
meinschaftsrecht Anspruch auf einen finanziellen Aus-
gleich dieser Nachteile. Ich verweise Sie noch einmal auf
den folgenden Teil der Antwort, die Ihnen zugegangen ist:
Die Bundesregierung wird nicht durch steuerfinanzierte
Subventionen einer ergänzenden Maßnahme für Familien
in die Tarifgestaltung der Bahn AG eingreifen.
Die nächste Zusatzfrage kommt von dem Kollegen
Lintner.
Halten Sie es
denn für vertretbar – um noch einmal das konkrete Bei-
spiel zu erwähnen –, dass Familien mit bis zu drei Kindern
eine durchaus lobenswerte Vergünstigung in Anspruch
nehmen können, dass aber ab dem vierten Kind wieder
voll bezahlt werden muss?
I
Herr Abgeordneter Lintner, es gibt auch noch andereTarife. Ich bin deshalb darauf noch nicht eingegangen,weil das eigentlich Inhalt der Frage 7 des KollegenFischer ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Fa-milien im Preissystem der Bahn entlastet werden. ZumBeispiel fahren Kinder bis einschließlich fünf Jahren
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Parl. Staatssekretärin Iris Gleickekostenlos und Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahrenfahren dann kostenlos, wenn sie in Begleitung ihrer Elternsind.Sie haben angesprochen, dass der angebotene Fahr-schein, auf dem die Kinder eingetragen werden müssen,nur für höchstens fünf Personen ausgestellt werden kann.Es gibt aber andere Möglichkeiten, beispielsweise dieBahn-Card. Wenn ein Elternteil eine Bahn-Card kauft,können für den Partner wie auch für alle weiteren Kinderbis 17 Jahre weitere Bahn-Cards erworben werden, dieden Jugendlichen sogar die Möglichkeit bieten, allein un-terwegs zu sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin, gehe ich jetzt recht in der An-
nahme, dass das schon die Beantwortung der Frage 7 war,
oder wollen Sie sie eigens beantworten?
I
Ich werde sie noch beantworten.
Ich rufe jetzt die Frage 7 des Abgeordneten Fischer auf:
Welchen familienpolitischen Handlungsbedarf sieht die Bun-
desregierung vor diesem Hintergrund, insbesondere angesichts
der Tatsache, dass beim neuen Preissystem der DB AG nur drei
Kinder berücksichtigt werden und ab dem vierten Kind wieder der
volle Kinderfahrpreis zu zahlen ist?
I
Ich beantworte die Frage deshalb eigens, damit der
Kollege Fischer auch die Möglichkeit zu Nachfragen er-
hält.
Herr Abgeordneter Fischer, es ist nicht richtig, dass
grundsätzlich ab dem vierten Kind wieder der volle Fahr-
preis zu zahlen ist. Nach dem neuen Preissystem fahren
Kinder unabhängig von ihrer Anzahl bis einschließlich
fünf Jahren unentgeltlich. Kinder im Alter von sechs bis
einschließlich 14 Jahren fahren in Begleitung zumindest
eines eigenen Eltern- oder Großelternteils oder deren Le-
benspartner unentgeltlich, wenn von diesen eine Fahr-
karte zum Normal- oder Plan & Spar-Preis erworben und
die Zahl der Kinder vor Fahrtantritt in die Fahrkarte ein-
getragen wurde. Eine Fahrkarte kann dabei für maximal
fünf Personen ausgestellt werden.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, wenn Ihre Aussage zutreffend
ist, muss es dann nicht von einer Familie als Tragik emp-
funden werden, wenn ein Kind sieben Jahre alt wird
und/oder sie mehr als drei Kinder hat? Das heißt, dass von
der DB AG mit Zustimmung ihres Alleineigentümers, der
Bundesregierung, und ihres Aufsichtsrates akzeptiert
wird, dass die kinderreiche Familie bei drei Kindern auf-
zuhören hat. Die Konsequenz daraus ist: Je näher der
Bundespräsident als Patenonkel rückt, desto teurer wird
der Tarif für die Kinder bei der DB AG.
Ich möchte Ihnen ein Berechnungsbeispiel der Fahrt
Köln–Blaubeuren und zurück nennen. Die Fahrt kostet bis
zum dritten Kind pro Kind 23 Euro und für das vierte,
fünfte, sechste und jedes weitere Kind kostet die Fahrt
38 Euro. Halten Sie das für familienpolitisch vertretbar?
I
Herr Abgeordneter Fischer, ich mache Sie noch einmal
darauf aufmerksam, dass die Zahlung für das vierte Kind
erst dann infrage kommt, wenn beide Elternteile mit ihren
Kindern unterwegs sind. Wenn nur einer mit ihnen unter-
wegs ist, ist auch das vierte Kind noch frei.
Dennoch weise ich Sie darauf hin, dass nicht der Bund
das Tarifsystem der Bahn zu gestalten hat, sondern dass
das die Bahn als Unternehmen selbstverständlich selbst
macht. Die Rolle des Bundes beschränkt sich dabei auf die
Genehmigung und die damit verbundenen Beförderungs-
bedingungen im Schienenpersonenfernverkehr. Es geht
also um die Prüfung, ob der beantragte Tarif mit Recht
und Gesetz in Einklang steht. Eine andere Möglichkeit ha-
ben wir nicht.
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, würden Sie mir zustimmen, dass
in Ihrer Antwort auf die Frage vom Dezember die Behaup-
tung, Kinder in den jeweiligen Altersgruppen führen un-
entgeltlich, schlicht und ergreifend nicht zutreffend ist, weil
sie nur eingeschränkt für drei Kinder gilt? Wollen Sie aus
Ihren soeben gemachten Ausführungen für die Eltern in
Deutschland die Empfehlung herleiten, sich bei Wochen-
end- oder Urlaubsreisen zu entscheiden, ob Mutter oder Va-
ter – möglichst aber nicht beide – diese mit antreten soll?
I
Herr Abgeordneter Fischer, ich habe Sie auf weitereMöglichkeiten der Vergünstigung von Fahrpeisen hinge-wiesen. Ich hatte die Bahn-Card, die eine Fahrpreisredu-zierung möglich macht, bereits angesprochen.Ich würde jedem, der in Deutschland mit der Bahn rei-sen möchte, selbstverständlich empfehlen, den Serviceder Bahn zu nutzen und sich angemessen darüber beratenzu lassen, welcher Tarif für die jeweilige Reise der güns-tigste ist.Die Bahn hat uns mitgeteilt, dass die Familien, die Sieangesprochen haben, die Bahn bisher nur in geringemMaße nutzen. Trotzdem arbeitet die Bahn an einer Lö-
1384
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1385
sung, die es auch diesen Familien erlaubt, alle Kinder mit-zunehmen. Dies ist der Informationsstand von heute.
Ich habe eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lintner.
Frau Staatssekretärin, muss ich jetzt Ihrer Antwort ent-
nehmen, dass die Bundesregierung nicht bereit ist, dahin
gehend auf die Bahn einzuwirken, dass dieser Unsinn
endlich korrigiert wird?
I
Ich habe Ihnen schon gesagt, dass wir uns nicht in das
operative Geschäft der Bahn AG einmischen werden.
Gleichwohl sind wir selbstverständlich über Fragen, die
in der Öffentlichkeit Kritik hervorrufen, immer wieder im
Gespräch. Ich will auch darauf hinweisen, dass die Bahn
durchaus ein eigenes Interesse daran hat, diese Nutzerin-
nen und Nutzer zunehmend für sich zu gewinnen, um ent-
sprechend Gewinn zu erwirtschaften.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen. Frau Staatssekretärin, vielen Dank für die Beant-
wortung der Fragen.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Parla-
mentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper bereit.
Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Roland Gewalt
auf:
In welcher Weise reduzieren sich die Einsatzmöglichkeiten der
Berliner Reiterstaffel nach der Übernahme durch den Bundes-
grenzschutz, BGS?
F
Herr Abgeordneter Gewalt, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Das Einsatzspektrum der Reiterstaffel und
deren Einsatzmöglichkeiten haben sich nach deren Über-
nahme durch den BGS nicht reduziert, sondern – das Ge-
genteil ist der Fall – erweitert. Entsprechend den gesetzli-
chen Bestimmungen wird die Reiterstaffel beispielsweise
an den Flughäfen in Tegel und Schönefeld zur Überwa-
chung und Aufklärung innerhalb des Flughafengeländes,
im Aufgabenbereich der Luftsicherheit, zur anlassbe-
zogenen Bestreifung schwer zugänglicher Gelände-
abschnitte an der Ostgrenze, also im Bereich grenzpo-
lizeilicher Aufgaben, zur Streckenüberwachung und
Aufklärung im bahnpolizeilichen Zuständigkeitsbereich
sowie zur Unterstützung der Objektschutzmaßnahmen
unter anderem am Bundeskanzleramt und am Auswärti-
gen Amt, also im Aufgabenbereich Schutz von Bundesor-
ganen, eingesetzt. Sie ist damit also schwerpunktmäßig
im originären Aufgabenbereich des Bundesgrenzschutzes
eingesetzt.
Darüber hinaus unterstützt die Reiterstaffel gemäß
Art. 35 Abs. 2 des Grundgesetzes und § 11 des Bundes-
grenzschutzgesetzes nach Anforderung die Berliner Poli-
zei. Überdies ist ein Einsatz der Reiterstaffel im Rahmen
der Sicherheitskooperation zwischen dem Bundesminis-
terium des Innern und der Senatsverwaltung für Inneres
des Landes Berlin vom 30. Juni 1999 möglich.
Ihre Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, können Sie nachvollziehen, dass
die Bürgerinnen und Bürger in der Hauptstadt dies ein we-
nig anders sehen, die die Reiterstaffel eben nicht mehr im
täglichen Streifendienst in den Straßen und Forsten, son-
dern nur noch zu besonderen Anlässen und nicht einmal
mehr bei Sportveranstaltungen sehen?
F
Herr Abgeordneter Gewalt, ich habe Ihnen die Ein-
satzfelder der Reiterstaffel hier in Berlin nach Übernahme
durch den Bundesgrenzschutz aufgelistet. Ich denke, dass
die Verwendung in diesen Bereichen – ich habe sie Ihnen
skizziert – sinnvoll und insofern auch die Übernahme die-
ser Reiterstaffel durch den Bundesgrenzschutz gerecht-
fertigt ist.
Bitte schön, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es denn nicht effektiver und
damit zugleich auch möglich gewesen, den täglichen Poli-
zeidienst der Reiterstaffel weiterhin zu gewährleisten, der
nach dem BGS-Gesetz nicht vorgesehen ist – dies müssen
Sie mir zugestehen –, dem Land Berlin einen Zuschuss für
die Berliner Polizeireiterstaffel zu geben, statt selbst eine
Reiterstaffel mit den gleichen Kosten aufzustellen?
F
Nein.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Koschyk.
Herr Staatssekretär, die Aufgaben, die Sie jetzt für diein den Bundesgrenzschutz integrierte ehemalige BerlinerDirk Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Hartmut KoschykReiterstaffel beschrieben haben, sind doch Aufgaben, dieeigentlich nicht BGS-genuin sind. Dies sind Aufgaben,die der BGS auch zur Unterstützung der Hauptstadtsi-cherheit leistet. Aber, Herr Staatssekretär, wäre denn derBundesminister des Innern von sich aus, wenn sich dieseFrage der Übernahme der Reiterstaffel nicht gestellt hätte,auf die Idee gekommen, zur Unterstützung der Leistungder Hauptstadtsicherheit eine BGS-Reiterstaffel zu grün-den?F
Herr Kollege Koschyk, auf welche Ideen der Bun-
desinnenminister kommt, kann ich Ihnen nicht im Einzel-
nen sagen. Auf Ihre Frage, was die Übernahme der Rei-
terstaffel anbelangt, kann ich Ihnen antworten, dass diese
im Rahmen des Bundesgrenzschutzgesetzes erfolgt ist.
Ich habe hier ganz bewusst die orginären Aufgabenfelder
im Bundesgrenzschutzgesetz deutlich gemacht und habe
sie in Verbindung mit den Einsatzfeldern dieser Rei-
terstaffel gebracht. Dies habe ich an vier Punkten deutlich
gemacht. Ich denke, das beschreibt die Aufgaben richtig.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Clemens
Binninger.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Einsatzmöglichkei-
ten der Reiterstaffel beschrieben und dabei den Flughafen
und den Bahnhof genannt. Auch nach 20 Jahren aktivem
Polizeidienst fällt mir kein praktisches Beispiel hierzu
ein. Was wollen Sie denn mit den Pferden auf der Lande-
bahn oder auf den Gleisen machen? Könnten Sie das prä-
zisieren?
F
Ich würde das dahin gehend präzisieren: Wir laden Sie
als ehemaligen Polizeibeamten ein, die Reiterstaffel in
ihren verschiedensten Einsatzgebieten zu begleiten. Wenn
Sie reiten können, können Sie sich sogar vom Sattel aus
ein Bild machen. Wenn das nicht überzeugend gewesen
sein sollte, können Sie nachfragen.
Wir kommen zu Frage 9 des Abgeordneten Roland
Gewalt:
Sind dem Bundesministerium des Innern Pläne des nordrhein-
westfälischen Innenministers, Dr. Fritz Behrens, bekannt, die Rei-
terstaffel seines Bundeslandes abzuschaffen, und ist auch hier die
Bundesregierung bereit, die berittene Polizei in den BGS zu über-
nehmen?
F
Herr Kollege Gewalt, das Bundesministerium des In-
nern kennt die Pläne nur aus Pressepublikationen. Die
Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Reiterstaffel der
Polizei in Nordrhein-Westfalen in den Bundesgrenz-
schutz zu übernehmen.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Wie wollen
Sie, da Sie die Berliner Reiterstaffel übernommen haben,
berittene Polizei beim BGS bundesweit einsetzen, ohne
die Kosten in die Höhe zu treiben? Ich denke zum Beispiel
an Transportkosten oder an Unterbringungskosten. Bisher
sind, soweit ich das verstanden habe, nur die Kosten in
Ansatz gebracht worden, die bis jetzt für die Berliner Rei-
terstaffel entstanden sind.
Herr Kollege Gewalt, würden Sie bitte stehen bleiben?
F
Wir haben nach der Übernahme der Berliner Rei-
terstaffel in den Bundesgrenzschutz, wo wir ein vernünf-
tiges Aufgabengebiet für sie gefunden haben und wo sie
effektiv und effizient eingesetzt werden kann, nicht die
Absicht, irgendetwas zu tun, was darüber hinausgeht. Das
gilt – damit komme ich auf Ihre Frage – insbesondere für
die Überlegungen in Nordrhein-Westfalen. Es besteht
nicht die Absicht, dass wir deren Reiterstaffel überneh-
men.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben nicht beantwortet, wie
Sie sich die Einsätze berittener Polizei des BGS außerhalb
des Landes Berlin vorstellen; denn das planen Sie offen-
sichtlich. Unterbringung und Transport kosten Geld. Ich
habe dafür weder im Haushalt noch an einer anderen
Stelle Kostenansätze gesehen.
Herr Kollege Gewalt, Sie müssen wieder stehen blei-
ben. Es ist eine Gepflogenheit in diesem Hause, dass man
bei der Beantwortung der Fragen stehen bleibt.
F
Lieber Herr Gewalt, vielleicht habe ich mich nicht ver-ständlich genug ausgedrückt. Ich habe gerade beschrie-ben, für welche Aufgaben und auf welcher gesetzlichenGrundlage die Reiterstaffel in Berlin im Bereich des Bun-desgrenzschutzes eingesetzt wird. Darüber hinaus beab-
1386
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1387
sichtigen wir in keiner Weise, weitere Reiterstaffeln inirgendeiner Form anzuheuern und zu übernehmen. Des-wegen ist Ihre Frage dahin gehend zu beantworten: Das,was die Übernahme der Reiterstaffel in Berlin ausmacht,ist im Haushalt sowohl von den Personalkosten als auchvon den Sachkosten her erfasst und abgedeckt.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Philipp.
Herr Staatssekretär, Sie haben, wenn ich das richtig
verstanden habe, eben ausgeführt, dass Sie für die Rei-
terstaffel aus Berlin ein vernünftiges und effektives Auf-
gabengebiet gefunden hätten. Schließen Sie aus, dass Sie
auch für die Reiterstaffel NRW ein vernünftiges und ef-
fektives Aufgabengebiet finden täten, wenn Sie sich über
die Presseinformationen hinaus kundig machten und sich
damit die von Herrn Kollegen Gewalt angedeutete Trans-
portfrage erledigen würde?
F
Liebe Frau Kollegin Philipp, ich kann mir nicht vor-
stellen, dass wir darüber hinaus Aufgaben für Reiterstaf-
feln beim Bundesgrenzschutz „finden täten würden“.
Dies würden wir aus dem einfachen Grunde nicht, weil
aus der Aufgabenbeschreibung deutlich hervorgeht, dass
es eine sehr spezifische und auf die Region Berlin bezo-
gene Aufgabe ist. Deswegen beantwortet sich die Frage
von allein.
Wir kommen zur Frage 10 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk:
Wie ist der Beschluss der Innenministerkonferenz vom 7. De-
zember 2001 betreffend das Gefährdungspotenzial von Kleinflug-
zeugen von der Bundesregierung umgesetzt worden?
F
Herr Kollege Koschyk, ich muss Ihnen ein wenig län-ger antworten.Die Bereiche der allgemeinen Luftfahrt, also der Pri-vatflieger, sowie der gewerblichen Luftfahrt mit kleinerenMaschinen wurden nach dem 11. September 2001 umfas-send überprüft, um auch hier eine Erhöhung der Sicher-heitsmaßnahmen zu erreichen. So wurden unmittelbarnach dem 11. September 2001 durch das insoweit zustän-dige Ministerium BMVBWkonkrete Maßnahmen zur Er-höhung der Sicherheit auf Kleinflughäfen gegenüber denLändern und dem Verband der Allgemeinen Luftfahrt ge-troffen und insbesondere die Betreiber von Kleinflug-häfen und die ansässigen Verkehrssportklubs zu erhöhterAufmerksamkeit, zu verstärkten Kontrollen des Gelän-des, zur Sicherung der Anlagen, zur besseren Sicherungder Flugzeuge und zur Herausgabe von Schlüsseln undFlugzeugen nur an bekannte und vertrauenswürdige Per-sonen angehalten.Zur Prüfung der Frage der Durchführbarkeit der Si-cherheitsmaßnahmen gemäß § 29 c des Luftfahrtgesetzes– es betrifft die Durchsuchung von Personen und dieGepäckkontrollen – auch in den Bereichen der allgemei-nen Luftfahrt auf den deutschen Verkehrsflughäfen, auf de-nen eine physische Trennung zwischen der so genannten all-gemeinen Luftfahrt und dem Verkehrsflughafen besteht,wurde durch das Bundesministerium des Innern im Dezem-ber 2001 eine Abfrage bei den BGS-Präsidien und den Lan-desluftfahrtbehörden vorgenommen. Diese Abfrage ergab,dass die Durchführung von Gepäck- und Passagierkontrol-len auch im Bereich der allgemeinen Luftfahrt teilweise zuerheblichen personellen und infrastrukturellen Aufwendun-gen führen würde und mit dieser Maßnahme letztlich nurein verhältnismäßig geringer Sicherheitsgewinn erzieltwerden könnte, da auf den über 500 Flugplätzen der allge-meinen Luftfahrt außerhalb der aktuell 36Verkehrsflughä-fen dieser Sicherheitsstandard nicht besteht. Konkret be-deutet dies, dass weiterhin nicht kontrollierte Personen aufeinem dieser Kleinflugplätze oder im benachbarten Aus-land starten, ungehindert auch im so genannten GAT-Be-reich eines Verkehrsflughafens landen und dort auf bereitskontrollierte Fluggäste treffen können.Daher ist es erforderlich, für den gesamten Bereich derallgemeinen Luftfahrt ein einheitliches Konzept anzustre-ben. Es ist ganz wichtig, festzuhalten, dass dies insbeson-dere unter der Einbeziehung der am 19. Januar 2003 inKraft tretenden EU-Luftsicherheitsverordnung geschehenmuss. Diese EU-Verordnung enthält neben detailliertenVorschriften für die Durchführung einheitlicher Sicher-heitsmaßnahmen an den großen Flughäfen in Art. 4 Abs. 3auch Vorschriften über die Absicherung kleiner Lande-plätze. Diese sind ortsabhängig auf die jeweilige Risiko-situation des entsprechenden Kleinflugplatzes bzw. derjeweiligen Flugzeuge zu beziehen, was nur durch die ört-lichen Behörden erfolgen kann.Im Vorgriff auf diese EU-Verordnung wurde deshalbden Landesluftfahrtbehörden durch das hierfür zuständigeBundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen in Abstimmung mit dem BMI mit Schreiben vom26. November 2002 ein Maßnahmenkatalog vorgegeben,aus dem diese angemessene Sicherheitsmaßnahmen aufder Basis einer ortsbezogenen Risikobewertung durch diezuständigen Landespolizeibehörden für die einzelnenKleinflugplätze auswählen und anordnen sollen.Die künftigen Maßnahmen beinhalten unter anderemdie Möglichkeit zur Einrichtung technischer Wegfahr-sperren, die Bestreifung des Flugplatzgeländes, die Ein-zäunung der Flugplätze, die Verpflichtung zur Vorlagevon Personalausweisen für alle mitfliegenden Personen,die namentliche Dokumenation der mitfliegenden Perso-nen in einem Bordbuch sowie die physische Kontrollevon Fluggästen und des von diesen mitgeführten Gepäckssowohl für den Rundflugbetrieb als auch für Charterflüge.Nach § 29 d des Luftverkehrsgesetzes werden alle Per-sonen der bundeseinheitlichen Zuverlässigkeitsprüfungunterzogen, die in beruflichem Zusammenhang in denParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf KörperSicherheitsbereichen der Verkehrsflughäfen tätig sind.Das schließt das sonstige Personal der Flughäfen, derLuftfahrtunternehmen und der Flugsicherung ein, soweitdieses Personal aufgrund seiner Tätigkeit die Möglichkeithat, die Sicherheit des Luftverkehrs zu beeinträchtigen.Privatpiloten, Flugschüler und Ähnliche sind davonnur dann umfasst, wenn keine räumliche Trennung zwi-schen Verkehrsflughafen und allgemeiner Luftfahrt vor-liegt. Eine Erweiterung des Personenkreises und die dafürnotwendige Gesetzesänderung werden derzeit geprüft.Alle Piloten werden jedoch bereits jetzt bei der Erteilungder Fluglizenz einer Zuverlässigkeitsprüfung nach § 4 desLuftfahrtgesetzes unterzogen, die eine Bundeszentral-registerabfrage und weitere behördliche Abfragen auslöst.
Ihre Zusatzfrage auf diese erschöpfende Antwort.
Frau Präsidentin, die Antwort des Herrn Staatsse-
kretärs war zwar lang, aber nicht erschöpfend. Herr
Staatssekretär, Sie haben sehr ausführlich dargelegt, was
die Umsetzung der EU-Richtlinie bedeutet. Wenn ich Sie
richtig verstanden habe, steht Deutschland – das ent-
nehme ich dem letzten Teil Ihrer Antwort – dabei erst am
Anfang. Ich aber habe gefragt, was der Bundesminister
des Innern unternommen hat, um den Beschluss der IMK
vom Dezember 2001 umzusetzen.
Von den Innenministern der Länder sind, wie ich finde,
eine ganze Zahl von aus Gründen der Sicherheit nach-
vollziehbaren Anregungen gemacht worden. Ich will nur
einen Punkt herausgreifen, der von der EU-Richtlinie, die
Sie gerade genannt haben, überhaupt nicht berührt wird.
Es geht um die Erfassung von nicht in Deutschland regis-
trierten und zugelassenen Luftfahrzeugen, die aber in
Deutschland betrieben werden. Das ist aus meiner Sicht
eine ganz empfindliche Sicherheitslücke.
Deshalb, Herr Staatssekretär, darf ich noch einmal zum
Kern meiner Frage zurückkommen. Mich interessiert
nicht so sehr, wie die Bundesregierung eine EU-Richtlinie
umsetzt, sondern wie die Bundesregierung einen Beschluss
der IMK vom Dezember 2001 bis zum Januar 2003 um-
gesetzt hat.
F
Lieber Herr Koschyk, im ersten Teil meiner Antwort
habe ich versucht, auf Ihre Frage nach Konsequenzen auf
den 11. September einzugehen. Zudem hat sich die IMK
mit diesen Fragestellungen beschäftigt. Sie wissen, dass
diese Fragen letztendlich nicht vom Bund, sondern immer
nur von den Ländern beantwortet werden können. Dies ist
zum Teil auch durch das zuständige Ministerium sehr
konkret geschehen. Sie wissen, dass für das Luftfahrt-
gesetz in erster Linie nicht das Bundesinnenministerium,
sondern das BMVBW zuständig ist.
– Sie weiß, dass der Staatssekretär aus dem Bundesinnen-
ministerium die Fragen erschöpfend beantwortet.
Herr Koschyk, ich glaube, wir haben uns verstanden.
Ich habe ganz bewusst die Fragestellungen mit den Ar-
beiten zu der EU-Richtlinie in Zusammenhang gebracht,
weil es wichtig ist, dass wir über unsere nationalen Ver-
einbarungen hinaus in Europa zu gemeinsamen Verein-
barungen und Standards kommen, die beispielsweise
auch die von Ihnen angesprochene Frage umfassen, näm-
lich vom Ausland lizenzierte Kleinflugzeuge, die hier in
Deutschland betrieben werden.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Was hat die Bundesregierung getan? Meine Frage habe
ich sehr bewusst formuliert: „Wie ist der Beschluss der
Innenministerkonferenz vom 7. Dezember 2001 ... von der
Bundesregierung umgesetzt worden?“ Dass das nicht der
Bundesinnenminister allein tun kann, ist mir schon klar.
Ich weiß, dass dies gesamtverantwortliches Handeln einer
Bundesregierung erfordert. Ich möchte wissen, wie die
konkrete Forderung der IMK, nämlich die Erfassung von
nicht in Deutschland registrierten und zugelassenen Luft-
fahrzeugen, die aber in Deutschland betrieben werden und
die die Innenminister der Länder damals – das sieht si-
cherlich jeder, der sich nach dem Frankfurter Luftzwi-
schenfall mit entsprechenden Szenarien befasst, genauso –
als erhebliches Gefährdungspotenzial eingeschätzt haben,
umgesetzt werden soll. Ich habe den Eindruck, Herr
Staatssekretär, dass dieser Sachverhalt von der EU-Richt-
linie, die Sie sehr ausführlich zitiert haben, nicht erfasst
wird.
F
Herr Koschyk, ich meine, dass dieser Sachverhalt beiden Maßnahmen, die nach dem 11. September veranlasstworden sind, erfasst worden ist, beispielsweise was diebessere Sicherung von Kleinflugzeugen bzw. von Flug-zeugen insgesamt oder auch die Frage, an wen Schlüsselherausgegeben und wem Flugzeuge zur Verfügung ge-stellt werden dürfen, anbelangt. Die Frage der Vertrau-enswürdigkeit dieser Personen war ein spezieller Punkt,der von der IMK angesprochen worden ist und den die zu-ständigen Landesbehörden umzusetzen versucht haben.Denn bei der von Ihnen angesprochenen Frage geht es imWesentlichen darum, wer diese Flugzeuge eigentlichfliegt, ob es sich dabei um vertrauenswürdige Personenhandelt. Insofern bin ich der Auffassung, dass diesesThema mitberücksichtigt worden ist. Inwieweit das vonErfolg gekrönt ist, kann ich derzeit nicht feststellen, aberich bin sicher, dass dieses Thema auch über diesen Taghinaus im Blickfeld bleibt.
1388
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1389
Wir kommen zur Frage 11 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk:
Welche Sicherheitslücken – rechtlicher und tatsächlicher Art –
sind durch die Frankfurter Flugzeugentführung vom 5. Januar 2003
offen gelegt worden und welche Maßnahmen wird die Bundes-
regierung ergreifen, um diese Sicherheitslücken zu schließen?
F
Herr Kollege Koschyk, das Szenario dieses Falles
gibt Anlass, das Maßnahmenkonzept und die zugrunde
liegenden Rechtsbestimmungen gemeinsam mit dem
BMVBW und den Ländern zu überprüfen und gegebe-
nenfalls zu ergänzen. Eine entsprechende Sitzung aller
Beteiligten wird – das ist ganz aktuell – am 23. Ja-
nuar 2003 stattfinden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, es ist zwar begrüßenswert, dass
nach diesem Zwischenfall Sitzungen stattfinden, aber es
gibt schließlich einen öffentlichen Diskurs zwischen zwei
maßgeblichen Mitgliedern dieser Bundesregierung. Des-
halb erwarte ich, dass Sie in der Fragestunde des Parla-
ments dazu Stellung nehmen, statt lediglich die Abgeord-
neten des Bundestags auf die Möglichkeit hinzuweisen,
die Zeitungen zu lesen bzw. die Berichterstattung in den
Medien zu verfolgen.
In der Bundesregierung scheint es einen Dissens da-
rüber zu geben, ob ein mögliches Eingreifen der Bun-
desluftwaffe in einem solchen Fall durch das Grundge-
setz in seiner gegenwärtigen Fassung gedeckt ist. Dazu
würde mich die Meinung der Bundesregierung interes-
sieren.
F
Herr Kollege Koschyk, ich meine nicht, dass es einen
Dissens in der Bundesregierung gibt, vielmehr gibt es
eine Diskussion bzw. einen Diskurs. Dazu gab es ver-
schiedene Äußerungen. Da das Bundesinnenministerium
sozusagen auch das Verfassungsministerium ist, sind wir
zurzeit dabei, gemeinsam mit den anderen Beteiligten
diesen Sachverhalt zu prüfen. Anschließend werden wir
dementsprechend eine Position der Bundesregierung for-
mulieren.
Ich halte es im Übrigen nicht für tragisch, wenn es in
dieser Frage einen Diskurs gibt. Wo kämen wir denn hin,
wenn dies nicht erlaubt wäre?
Ich weise darauf hin, dass Sie noch eine Frage haben,
Herr Kollege Koschyk. Bitte.
Danke, Frau Vizepräsidentin. – Herr Staatssekretär,
ich glaube, dass die konkrete Gefährdungssituation, die
bei dem Frankfurter Luftzwischenfall deutlich geworden
ist, eine schnelle Entscheidung der Bundesregierung er-
fordert. Bei diesem Vorgang war die Zusammenarbeit
gut. Der Herr Bundesinnenminister hat heute im Innen-
ausschuss bestätigt, dass die Zusammenarbeit zwischen
dem hessischen Innenministerium, der hessischen
Landesregierung, dem Bundesministerium des Innern
wie auch dem Bundesverteidigungsministerium sehr gut
war. Gleichwohl bleibt, wenn man diesen Fall durch-
spielt, die Frage, ob alle möglicherweise notwendig ge-
wordenen Handlungsoptionen vom Grundgesetz abge-
deckt gewesen sind. Ich meine schon, dass es in einer
solchen Situation wichtig ist, sehr schnell zur Beseiti-
gung rechtlicher Grauzonen zu kommen. Teilen Sie diese
Auffassung?
F
Herr Kollege Koschyk, ich kenne bei diesem Vorfall
den Ablauf vom Start bis zur Landung. In der Tat ist hin-
sichtlich der Zusammenarbeit überhaupt keine Beschwerde
zu führen. Was in diesem Falle miteinander vereinbart
worden ist und wie gemeinsam gehandelt worden ist, ist
durch das Grundgesetz voll und ganz abgedeckt. Das ist
nicht das Problem. Sie gehen in Ihrer Frage nun einen
Schritt weiter. Ich habe bereits etwas zum aktuellen Dis-
kussionsstand gesagt. Ich gehe davon aus, dass die Bun-
desregierung eine deutliche Position beziehen wird, wenn
die Arbeitsgruppen sich mit diesem Thema beschäftigt ha-
ben werden. Diese Vorgehensweise ist sicherlich als an-
gemessen zu bezeichnen.
Mir liegen jetzt noch drei weitere Wortmeldungen für
Zusatzfragen vor. Die erste wird vom Kollegen Christian
Schmidt gestellt.
Herr Staatssekretär, da wir uns in einem Hause befin-den, das von einer Kuppel gekrönt ist, auf die sich vieleunserer Mitbürger nach dem 11. September 2001 aus derAngst heraus nicht mehr hinaufgewagt haben, dass ver-gleichbare schreckliche Vorfälle auch in unserem Landgeschehen könnten, ist die Frage nach einer rechtlichenBewertung des so genannten Air-Policing nicht neu. Des-wegen meine Frage: Halten Sie die Behandlung diesesThemas durch die Bundesregierung angesichts der Tat-sache für angemessen, dass zwischen September 2001und dem 23. Januar 2003 erst ein kleines Flugzeug denFrankfurter Luftraum durchfliegen muss, damit sich dieBundesregierung mit dieser Frage befasst? Halten Sie esfür verantwortbar, die Soldaten der Luftwaffe, die eineschwierige Aufgabe haben und unter Umständen über Todund Leben entscheiden müssen, in dieser Frage in einemRaum relativer Rechtsunsicherheit zu belassen? Was ge-denkt die Bundesregierung dagegen zu tun?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
F
Ob es eine rechtliche Unsicherheit gibt, bezweifle ich.
Das ist aber nicht entscheidend. Vielmehr kommt es da-
rauf an, dass die Bundesregierung insbesondere nach dem
11. September in ihrer Reaktion auf die terroristischen
Anschläge wichtige Maßnahmen ergriffen hat. Die Bun-
desregierung hat sich auch in den europäischen und inter-
nationalen Prozess eingeklinkt, sodass in dieser Angele-
genheit der Bundesregierung keine Vorwürfe zu machen
sind. Über die Frage einer rechtlichen Erörterung werden
wir zu gegebener Zeit entscheiden.
Die nächste Frage stellt der Kollege Clemens
Binninger.
Herr Staatssekretär, im vorliegenden Fall lag der glück-
liche Umstand vor, dass der Attentäter sehr lange geflogen
ist und sein Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt hat. Für die
Sicherheitsbehörden entstand so eine recht lange Vorlauf-
zeit. Werden Sie bei den Maßnahmen, die Sie Anfang Fe-
bruar besprechen wollen, auch die Situation berücksichti-
gen, dass nach dem Start eines Flugzeuges das Attentat
zielgerichtet ausgeführt wird, sodass nur eine Viertelstunde
bleibt, und welche Maßnahmen werden Sie treffen, wenn
Sie das Szenario auf Atomkraftwerke ausdehnen?
F
Lieber Herr Kollege Binninger, man kann sich verschie-
dene Szenarien vorstellen. Dazu muss man eines deutlich
sagen: Nicht jedes Risiko ist beherrschbar.
– Auch nicht jedes Szenario. Anderenfalls wäre es am
11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika
nicht zu terroristischen Anschlägen gekommen.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Dirk Niebel.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, dass in
der Vergangenheit allein schon in Ermangelung von
Kampfflugzeugen bei den Polizeien des Bundes und der
Länder die Luftraumsicherung in Deutschland von der
Luftwaffe durchgeführt worden ist und dass es entspre-
chende Anweisungen gibt, wie dabei zu verfahren ist?
Können Sie mir weiterhin zustimmen, dass die Ausbil-
dung der Soldaten der Bundeswehr gänzlich anders ist als
die der Polizeien des Bundes und der Länder, sodass Sol-
daten aufgrund ihrer Ausbildung in aller Regel als Hilfs-
polizisten nicht hinreichend geeignet sind, um die Sicher-
heit zu erhöhen?
F
Ich könnte Ihre Ausführungen bestätigen.
Ich glaube, man muss auch in dieser Diskussion wohl-
weislich zwischen einem konkreten Fall wie beispiels-
weise dem in Frankfurt und der Frage des Verhältnisses
von innerer und äußerer Sicherheit, wer also bei welchen
Szenarien im Bereich der inneren Sicherheit eingesetzt
werden soll, unterscheiden. Aber Ihre Ausführungen be-
schreiben den Zustand richtig. Ich muss sie nicht kom-
mentieren.
Wir kommen zur Frage 12 der Kollegin Petra Pau:
Wie viele antisemitische Straftaten wurden im vierten Quartal
2002 in der Bundesrepublik Deutschland begangen und wie viele
Opfer dieser Straftaten gab es?
F
Frau Kollegin Pau, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Im vierten Quartal 2002 – nach diesem fragen Sie – wur-
den insgesamt 201 antisemitische Straftaten gemeldet, die
dem Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminali-
tät – rechts“ zugeordnet wurden. Darunter waren 44 Pro-
pagandadelikte und acht Gewaltdelikte. Bei Letzteren
handelt es sich um fünf Körperverletzungen, zwei Brand-
stiftungen und ein Widerstandsdelikt. Im vierten Quartal
2002 wurden fünf Personen verletzt. Todesfälle waren
nicht zu verzeichnen.
Ihre Zusatzfrage.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. – Lässt sich
bei der Auswertung der von Ihnen vorgetragenen Zah-
len ein Schwerpunkt in einem bestimmten Bundesland
oder in einer bestimmten Region der Bundesrepublik
erkennen?
F
Frau Kollegin Pau, ich muss noch Folgendes hinzufü-gen: Die von mir gerade genannten Fallzahlen sind vor-läufig. Die statistische Erhebungsweise sieht vor, dass biszum 31. Januar des folgenden Jahres noch nachgemeldetwerden kann, wenn das erwünscht ist. Die Zahlen basie-ren ja auf den Meldungen der Länder. Sie werden alsonicht eigens von unserem Haus oder vom Bund erhoben.Zur Frage, wo es Schwerpunkte gibt: Die mir vorlie-gende Auflistung der Fallzahlen, aus der hervorgeht, inwelchen Bundesländern welche Delikte zu verzeichnensind, lässt nach meiner Interpretation nur schwerlich ir-gendwelche Schwerpunkte erkennen. Es gibt natürlich
1390
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1391
unterschiedliche Größenordnungen. Ich schlage vor, Ih-nen diese Liste zu geben.
Es gibt keine weiteren Zusatzfragen. Damit schließe
ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des In-
nern. Vielen Dank, Herr Staatsekretär Körper für die Be-
antwortung der Fragen.
Die Frage 13 der Kollegin Hannelore Roedel und die
Fragen 14 und 15 des Kollegen Peter Weiß aus dem Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen wer-
den schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Zur Beantwor-
tung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Rezzo
Schlauch zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 16 des Abgeordneten Erich
Fritz:
Treffen Pressemeldungen – ich verweise auf den „Tagesspiegel“
vom 17. Dezember 2002 – zu, dass deutsche Unternehmen bis
2001 Kooperationen mit dem Irak im Rüstungs- und Forschungs-
bereich unterhalten haben und die Bundesregierung seit 1999 über
die Zusammenarbeit mit einem deutschen Mikroelektronikunter-
nehmen informiert war?
R
Herr Kollege Fritz, die Bundesregierung beantwortet
Ihre Frage wie folgt: Seit dem Irakembargo von 1990 fan-
den genehmigte Exporte in den Irak nur mehr in Form von
humanitären Lieferungen in begrenztem Umfang und
Gütern statt, die im Rahmen des seit 1996 bestehenden
Oil-for-Food-Programms geliefert wurden. Der Export
dieser Güter erfolgte und erfolgt immer mit Genehmigung
des VN-Sanktionssausschusses. In dem in den Pressemel-
dungen konkret genannten Fall eines deutschen Mikro-
elektronikunternehmens lagen entsprechende Genehmi-
gungen sowohl des VN-Sanktionsausschusses als auch
des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle
vor. Dabei unterstelle ich, dass trotz der sehr allgemeinen
Angaben der Fall von den zuständigen Behörden korrekt
identifiziert worden ist.
Die zuständigen deutschen Behörden werden die der
Bundesregierung vorliegenden Teile der irakischen Er-
klärung weiterhin darauf prüfen, ob sich daraus neue Hin-
weise auf möglicherweise illegale Ausfuhren deutscher
Unternehmen ergeben. Nach dem bisherigen Stand ist
dies nicht der Fall.
Bloße Angaben von Firmennamen im Zusammenhang
mit Waren lassen Fragen zum genauen Einkaufsweg und
zum Lieferzeitpunkt offen. Sie sind daher für sich noch
kein ausreichender Anhaltspunkt dafür, dass der genannte
Hersteller auch der Ausführer in den Irak gewesen ist.
Deutlich wird das an dem aktuellen Beispiel des Prozes-
ses, der vor dem Landgericht in Mannheim läuft und der
aus der Presse bekannt ist.
Ihre Zusatzfrage, Herr Kollege, bitte.
Sie haben davon gesprochen, dass nach den vorliegen-
den Listen die Prüfung durch die Bundesregierung wei-
tergeht. Mich interessiert, wer konkret überprüft. Ist das
das Ministerium oder sind das die nachgeordneten Behör-
den, die üblicherweise mit solchen Dingen beschäftigt
sind? Wann wird diese Prüfung nach Ihrer Einschätzung
abgeschlossen sein?
R
Klar ist, dass die Angaben VS-vertraulich sind und
zunächst einmal auch vertraulich behandelt werden. Ich
bin nicht sicher, ob die nachgeordneten Behörden allein
prüfen oder ob das Haus mit beteiligt ist. Die Antwort
werde ich Ihnen gern nachreichen. Klar ist, dass das sehr
umfangreiches Material ist. Sobald neue Schlüsse gezo-
gen und Antworten gegeben werden können, können die
selbstverständlich abgefragt werden.
Eine weitere Zusatzfrage? – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 17 des Abgeordneten Erich G.
Fritz auf:
Welche Erkenntnisse über die Zusammenarbeit deutscher Un-
ternehmen mit dem Irak liegen der Bundesregierung tatsächlich
vor und gab es darunter Erkenntnisse über Zusammenarbeit mit
Folgen für die Produktion von Massenvernichtungswaffen?
R
Herr Kollege Fritz, die Beteiligung deutscher Unter-
nehmen an Zulieferungen zu irakischen Rüstungspro-
grammen war bereits mehrfach Gegenstand der Bericht-
erstattung durch die Bundesregierungen. Im Jahr 1991 ist
dem Deutschen Bundestag ein umfassender, vertraulich
eingestufter Bericht über legale und illegale Waffen-
exporte in den Irak und die Aufrüstung des Irak durch Fir-
men in der Bundesrepublik Deutschland übermittelt wor-
den. Eine verkürzte Fassung wurde unter Verzicht auf die
Angabe von Firmennamen als Bundestagsdrucksache
veröffentlicht. Diese Berichte sind durch schriftliche Un-
terrichtungen an den Ausschuss für Wirtschaft des Deut-
schen Bundestages 1997 und zuletzt 1998 nach der je-
weiligen Erkenntnislage fortgeschrieben worden. Darin
wurde auch auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und
gerichtliche Verurteilungen eingegangen.
Soweit sich neue Erkenntnisse über illegale Exporte er-
geben, wird die Bundesregierung in Zusammenwirken
mit den zuständigen Behörden die entsprechenden
Schritte zur Einleitung von Maßnahmen zur Strafverfol-
gung unternehmen.
Ihre Zusatzfrage, Herr Kollege, bitte.Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
durch die Dienste hat es sehr früh Hinweise darauf gege-
ben – das ist dann auch in den Medien verbreitet worden –,
dass bei bestimmten Zulieferungen, wenn auch nicht spe-
ziell für die Wiederherstellung der Produktionsmöglich-
keiten des Irak für Massenvernichtungswaffen, aber
zumindest im Dual-Use-Bereich, der Verdacht der Betei-
ligung deutscher Unternehmen besteht. Das hat die Bun-
desregierung sicherlich dazu veranlasst, dem nachzuge-
hen.
Haben Sie aus dem, was damals sowohl in Großbritan-
nien als auch in der Bundesrepublik in der Presse veröf-
fentlicht worden ist, neue Erkenntnisse über beteiligte
Unternehmen und Exportwege gewonnen, die Sie bereits
mitteilen können?
R
Ich kann Ihnen jetzt keine neuen Erkenntnisse mittei-
len. Ich habe Ihnen gesagt, dass das derzeit in der Prüfung
ist, insbesondere unter Berücksichtigung des Materials
der irakischen Erklärung. Auf jeden Fall kann versichert
werden, dass die Ausfuhrgenehmigungen – es geht also
um legale Ausfuhren –, auch bezüglich möglicher Dual-
Use-Güter, sehr sorgfältig erteilt worden sind. In dem von
Ihnen angesprochenen Beispiel ist die Ausfuhr unter der
Überschrift „humanitäre Lieferungen, medizintechnische
Lieferungen“ von beiden Gremien genehmigt worden und
dann auch so erfolgt. Weitere Erkenntnisse über legale
Exporte, aber auch über illegale Exporte von Dual-Use-
Gütern haben wir nicht. Mehr kann ich Ihnen dazu jetzt
nicht sagen.
Wenn die Prüfung abgeschlossen ist – das wird mit Si-
cherheit noch einige Zeit dauern; denn unserem Hause
bzw. den nachgeordneten Behörden liegt derzeit, soweit
ich weiß, nur eine Zusammenfassung vor –, bin ich gern
bereit, die entsprechenden Informationen weiterzugeben.
Sie können noch eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatssekretär, unabhängig davon, ob sich heraus-
stellt, dass auch illegale Wege beschritten worden sind,
sind neben deutschen Unternehmen Firmen aus einer
Reihe anderer Länder in dieser Liste aufgeführt. Haben
Sie Erkenntnisse darüber, ob Exporte aus diesen Ländern
Beiträge für Anlagen zur Herstellung von Massenver-
nichtungswaffen enthalten haben?
R
Solche Erkenntnisse liegen mir persönlich nicht vor.
Ich bin aber gerne bereit, nachzufragen, ob diese Er-
kenntnisse vorhanden sind, und sie Ihnen, wenn sie vor-
handen sind, nachzureichen.
Wir kommen zur Frage 18 des Abgeordneten Klaus
Hofbauer:
Welche Auswirkungen auf die Umsätze der Tankstellen in den
deutschen Grenzregionen zur Tschechischen Republik und zu Po-
len sieht die Bundesregierung durch den Anstieg der Kraftstoff-
preise aufgrund der weiteren Erhöhung der Mineralölsteuer zu
Jahresbeginn 2003 – Ökosteuer – vor dem Hintergrund der damit
größer werdenden Preisdifferenz zu diesen östlichen Nachbarlän-
dern?
R
Herr Kollege Hofbauer, die Bundesregierung beant-
wortet Ihre Frage wie folgt: Bereits seit längerem existiert
ein deutliches Preisgefälle bei Kraftstoffen zwischen
Deutschland auf der einen, Polen und der Tschechischen
Republik auf der anderen Seite. Die Erhebung der letzten
Stufe der Ökosteuer zu Anfang dieses Jahres ändert struk-
turell nichts an dieser Tatsache. Die bislang bestehenden
Preisdifferenzen zur Tschechischen Republik haben sich
bisher nicht verändert. Zu Polen gab es Veränderungen in
der Währungsparität zugunsten des Euro.
Wie sich die Preisentwicklung zukünftig gestalten
wird, lässt sich nach den wenigen Tagen seit Einführung
der fünften Stufe der Ökosteuer noch nicht mit Sicherheit
einschätzen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass
sich die Wettbewerbsbedingungen deutscher Tankstellen
in diesen Grenzgebieten nicht wesentlich verändern wer-
den.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, in den Grenzregionen ist ein regel-
rechter Tanktourismus entstanden. Man kann den Men-
schen angesichts eines Gefälles von 25 Cent und mehr
nicht verübeln, dass sie 20 oder 30 Kilometer entfernt in
einem Nachbarland tanken. Das schadet unseren Steuer-
einnahmen ganz erheblich. 80 Prozent des Benzinpreises
zahlt man für Steuern. Es geht daher nicht nur um durch
die Ökosteuer verursachte Verluste.
Immer mehr Menschen in diesen Grenzregionen tan-
ken im Nachbarland, seitdem die Ökosteuer eingeführt
worden ist. Immer mehr Tankstellen in den Grenzregio-
nen gehen aufgrund dieser Situation Pleite. Was empfeh-
len Sie den Tankstellenbetreibern? Wie gelingt es uns
trotzdem, diese mittelständischen Tankstellen zu erhal-
ten? In einigen Kommunen und kleinen Städten auf deut-
scher Seite gibt es bereits überhaupt keine Tankstelle
mehr.
R
Herr Kollege Hofbauer, diese Unterschiede sind mirbekannt. Es gab sie in verschiedenen Grenzregionen be-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1393
reits vor Einführung der Ökosteuer. Es steht außer Zwei-fel, dass die Differenzen mit Erhebung der Ökosteuergrößer geworden sind. Das ist selbstverständlich zuzuge-stehen. Auf der anderen Seite war es, wie Sie wissen, derpolitische Wille dieser Bundesregierung, die Ökosteuer indieser Form einzuführen. Es ist natürlich auch klar, dassfür Grenzregionen keinerlei Ausnahmen gelten können.Deshalb ist die einzige Möglichkeit – auch da engagiertsich die Bundesregierung auf der europäischen Ebene –,zu einer Harmonisierung auch der Besteuerung von Kraft-stoffen zu kommen. Seit 1997 wird darüber diskutiert, obeine entsprechende Richtlinie verabschiedet werden soll.Diesbezüglich wird sich die Bundesregierung auch weiterengagieren.
Wenn ich meine zweite Frage stellen dürfte?
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie nehmen das alles einfach in
Kauf. Sie reden sich unter Bezugnahme auf die Harmoni-
sierung der Steuern heraus. Es ist meiner Auffassung nach
unverantwortlich, dass wir im Grunde genommen da-
durch, dass wir die so genannte Ökosteuer nach oben trei-
ben, mittelständische Unternehmen kaputtmachen. Das
Ziel der Ökosteuer war, ist und soll sein, dass weniger
Energie verbraucht wird. Auch Sie sagen, die Ökosteuer
habe bereits eine Verringerung des Energieverbrauchs mit
sich gebracht.
Ich stelle die These auf – und möchte Sie fragen, ob Sie
mir da zustimmen –, dass die Verringerung des Energie-
verbrauchs ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass
Autofahrer aus den Grenzregionen aufgrund dieser Steuer
in das Nachbarland fahren, und dass dadurch, dass bei uns
in Deutschland weniger Benzin verkauft wird – und im
Endeffekt auch weniger Steuern eingenommen werden –,
der Energieverbrauch überhaupt nicht zurückgegangen
ist. Können Sie diese Auffassung teilen?
R
Diese Auffassung teile ich nicht, weil sie auf einer Spe-
kulation beruht, die durch nichts belegt ist, und zwar des-
halb, weil der Kraftstoffverbrauch in einem Umfang
zurückgegangen ist, der weit über die möglichen Auswir-
kungen eines Tanktourismus, den wir ja seit Jahrzehnten
kennen, hinausgeht. Ich kann mich noch erinnern, dass
man zu meiner Studentenzeit Mitte der 60er-Jahre in der
Schweiz getankt hat. Dieser Tanktourismus ist keine Er-
scheinung, die im Zusammenhang mit der Ökosteuer neu
entstanden wäre. Ich glaube, den hat es immer gegeben,
und es kann sein, dass durch die jetzige größere Differenz
dieser ein Stück weit angestiegen ist. Ich halte es aber für
vollkommen überzogen, zu meinen, dass der gesamte ge-
wünschte Rückgang des Kraftstoffverbrauchs sozusagen
auf das Tankverhalten der Bevölkerung in Grenzregionen
unseres Landes zurückzuführen sei.
Ich habe eine Zusatzfrage des Kollegen Rose.
Herr Staatssekretär, ich möchte das fortführen, was der
Kollege Hofbauer gesagt hat; dabei geht es jetzt nicht
mehr nur um Tschechien und Polen, sondern, da ich selbst
in dieser Grenzregion lebe, auch um die gesamte 800 Ki-
lometer lange Grenze zu Österreich. Wir haben dort das
gleiche Problem. Würden Sie mir zustimmen, dass man
das nicht so herunterspielen kann, als handele es sich da-
bei nur um ein ganz kleines? Würden Sie mir auch zu-
stimmen – das haben Sie ja schon gesagt –, dass es in der
Konsequenz der politische Wille ist, die Tankstellenbe-
treiber in Grenzregionen wirtschaftlich kaputtzumachen?
R
Nein, da stimme ich Ihnen nicht zu.
Wir kommen zur Frage 19 des Abgeordneten Klaus
Hofbauer:
Rechnet die Bundesregierung nach der weiteren Erhöhung der
Mineralölsteuer mit einer Zunahme des Tankpendelns in die
Tschechische Republik und nach Polen und, wenn ja, welche Steu-
erausfälle werden daraus resultieren?
R
Herr Hofbauer, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Die Veränderung beim Tankpendeln hängt unter anderem
von der weiteren, dauerhaften Entwicklung der Preisdif-
ferenz ab. Jeder Liter mehr oder weniger verkaufter Kraft-
stoff schlägt mit 65,45 Cent, und zwar beim Benzin, bzw.
beim Diesel mit 47,04 Cent Mehr- bzw. Mindereinnah-
men bei der Mineralölsteuer zu Buche. Wie sich der Tank-
tourismus und damit der Saldo aus Steuermehreinnahmen
und möglichen Steuermindereinnahmen entwickeln wird,
kann nach den wenigen vorliegenden Erfahrungen nach
Erhöhung der Mineralölsteuer zum 1. Januar 2003 noch
nicht eingeschätzt werden.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, in Ihrem Hausezu veranlassen, dass diese Thematik genauer untersuchtwird, um die Auswirkungen zu erkunden?Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch
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Klaus HofbauerMeine zweite Frage: Was macht die Bundesregierung,auch im Hinblick auf die EU-Osterweiterung, um eineHarmonisierung der Steuern zu erreichen? Dass der jet-zige Zustand unbefriedigend ist, ist, wie ich glaube, jedemklar.R
Herr Kollege Hofbauer, soweit keine überzogenen
bürokratischen Aufwendungen im Rahmen statistischer
Erhebungen hierzu notwendig sind, wird unser Haus diese
Entwicklung selbstverständlich im Auge behalten und
auch evaluieren.
Ansonsten geht es – das habe ich vorhin darzulegen ver-
sucht – natürlich darum, und zwar, wie Sie wissen, nicht
nur in diesem Bereich, sondern auch in anderen Berei-
chen, zu einer Harmonisierung der Steuersysteme und der
Steuerrahmen auf EU-Ebene zu kommen. Aber das – da-
mit verrate ich Ihnen wahrscheinlich kein Geheimnis – ist
ein sehr schwieriges Geschäft und ein langer und oft stei-
niger Weg.
Herr Kollege Rose, bitte schön.
Vorhin gab es zwei verschiedene Aussagen. Auf der ei-
nen Seite haben Sie gesagt, dass es politischer Wille sei,
dass die durch die Einführung der Ökosteuer entstehen-
den Konsequenzen in Kauf genommen würden. Auf der
anderen Seite haben Sie ausgeführt, dass es nicht politi-
scher Wille sei, dass deshalb jemand in den grenznahen
Regionen seine Existenz verliere. Aufgrund dessen
möchte ich Sie noch einmal genau fragen – wenn Sie da-
rauf jetzt nicht antworten können, können Sie es mir auch
schriftlich nachreichen –: Wie haben Sie über die Euro-
päische Union konkret dafür gesorgt, dass den Tankstel-
lenbetreibern im Grenzland geholfen wird?
R
Das habe ich nicht behauptet, Herr Kollege, sondern ich
habe gesagt, dass sich die Bundesregierung im Rahmen
der Diskussion der EU zu der seit 1997 auf dem Tisch lie-
genden Richtlinie bezüglich der Harmonisierung der Sys-
tematik bei der Besteuerung von Kraftstoffen dafür einge-
setzt hat, dass man zu einer solchen Harmonisierung
gelangt, was wiederum die Konsequenz hätte, dass die
Grenzregionen von Preisunterschieden nicht so betroffen
wären wie heute. Aber ich habe nicht gesagt – das ist auch
nicht geplant –, dass betroffenen Tankstellen in dieser Re-
gion über die EU unmittelbar oder mittelbar geholfen wird.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Fritz.
Her
Stimmen Sie zu, dass die Bundes-
regierung die Pleite einer Vielzahl von Tankstellenpächtern
an den Außengrenzen billigend in Kauf nimmt?
R
Nein, dem stimme ich nicht zu; das habe ich vorhin
schon beantwortet.
Damit kommen wir zur Frage 20 der Kollegin Pau:
Wie hat sich die Ausfuhr von Rüstungsgütern aus der Bundes-
republik Deutschland – einschließlich der Kooperationspro-
gramme der EU und der NATO – in den letzten acht Jahren ent-
wickelt?
R
Frau Kollegin Pau, die Gesamtwerte der jährlichen
Ausfuhren von Kriegswaffen haben in den Jahren 1995
bis 2001 sehr geschwankt. Sie sind aber, insbesondere
seit 1999, stark zurückgegangen. So wurden 1995 noch
Kriegswaffen im Wert von 1,982 Milliarden DM ausge-
führt; 2001 waren es – um in derselben Währung zu blei-
ben – Kriegswaffen im Wert von 0,718 Milliarden DM.
Ausführliche Angaben zur Rüstungsexportstatistik wer-
den von der Bundesregierung im jährlichen Rüstungs-
exportbericht veröffentlicht.
Der Dritte Rüstungsexportbericht mit den Zahlen für
2001 wurde im Dezember letzten Jahres vom Bundes-
kabinett verabschiedet und dem Bundestag zugeleitet.
Statistische Werte für das Jahr 2002 liegen noch nicht vor.
In diesen Berichten finden sich die Werte für die Aus-
fuhren von Kriegswaffen. Für sonstige Rüstungsgüter lie-
gen nur die Werte der erteilten Ausfuhrgenehmigungen
vor; hier werden die Ausfuhren selbst statistisch nicht er-
fasst.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zusatzfrage, Kollegin Pau? – Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. – Besagter Be-
richt ist mir heute tatsächlich als Drucksache zugegangen.
Eine erste Durchsicht veranlasst mich zu der Frage, wie
Sie die dort zitierten Sonderfaktoren, welche die Er-
höhung der Zahl der Ausfuhrgenehmigungen für sonstige
Rüstungsgüter ermöglichen, qualifizieren würden.
R
In manchen Jahren wurden Genehmigungen auf derGrundlage von Sonderfaktoren erteilt. Sie betrafen Liefe-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1395
rungen, die besonders hohe Volumina aufwiesen, wie bei-spielsweise die Lieferung von zwei U-Booten an Israel.Das muss politisch bewertet werden. Aus unserer Sicht istan diesen Genehmigungen nichts zu kritisieren.
Gibt es weitere Fragen? – Das ist nicht der Fall. Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Matthias Berninger zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 21 der Kollegin Julia Klöckner auf:
Wie steht die Bundesregierung zum Aufbau einer nationalen
Mehrgefahrenversicherung für die Landwirtschaft und welche
staatliche Unterstützung hält sie für den Aufbau für erforderlich?
Ma
Frau Klöckner, für die Bundesregierung beantworte
ich Ihre Frage wie folgt: Wir haben uns vonseiten des Ver-
braucherschutzministeriums intensiv mit der Thematik
der Mehrgefahrenversicherung beschäftigt. Wir haben
auch die vorliegenden Vorschläge zur Einführung einer
Mehrgefahrenversicherung für die Landwirtschaft, die in
Zusammenarbeit mit Versicherungsunternehmen ent-
wickelt worden sind, geprüft. Wir sind dabei auf folgende
Probleme gestoßen.
Zum einen können wir nicht sämtliche landwirtschaftli-
chen Betriebe verpflichten, bei einer solchen Mehrgefah-
renversicherung mitzumachen, sodass sich in der Regel nur
diejenigen einem solchen System anschließen, die von Ri-
siken eher bedroht sind als andere. Dies bewirkt – zum an-
deren –, dass diese Versicherung erst dann attraktiv wird,
wenn sich der Staat finanziell stark daran beteiligt. Hierzu
gibt es für die EU und in Deutschland bis heute keine
Rechtsgrundlage. Man muss also davon ausgehen, dass die
Einführung einer solchen Versicherung mit erheblichen fi-
nanziellen Lasten für den Bund verbunden wäre.
Wenn man jetzt noch die Mehrgefahrenversicherung
auf Schadensereignisse wie das Hochwasser vom vergan-
genen Sommer bzw. Herbst ausdehnt, muss man mit noch
höheren finanziellen Belastungen für den Staat rechnen.
Darüber hinaus werden die Betriebe, die in den betrof-
fenen Regionen nicht an einer solchen Versicherung
partizipieren, auf den Staat zukommen und ihn um Hilfe
bitten. Auch diese Hilfe muss man kostenmäßig hinzu-
rechnen. Unter dem Strich bedeutet also die Einführung
einer Mehrgefahrenversicherung eine erhebliche Belas-
tung für den Bund.
Dabei bin ich noch nicht auf die Frage eingegangen,
die uns natürlich auch beschäftigt hat, nämlich mit wel-
cher Begründung der Steuerzahler eine Mehrgefahrenver-
sicherung für die Landwirtschaft subventionieren soll,
während beispielsweise im Tourismus- und im Baube-
reich an die Subventionierung einer solchen Versicherung
niemand denkt.
Zusatzfrage? – Bitte schön, Frau Kollegin Klöckner.
Es gibt erste Vorstöße des Landes Sachsen. Im Rahmen
der Grünen Woche wird morgen Staatsminister Flath zu
einem entsprechenden Gespräch einladen.
Die Frage an Sie. Sachsen sieht eine Mischfinanzie-
rung vor. Kann man Ihrer Meinung nach einen Weg fin-
den, um durch die Einführung einer Versicherung abseh-
bare Schäden a priori besser abfangen zu können, anstatt
a posteriori Gelder für die Geschädigten mühsam zusam-
menzutragen?
Ma
Zunächst einmal muss man sehen, dass ein Teil derRisiken bereits dadurch abgesichert ist, dass der Getreide-bauer Prämien in Höhe von etwa einem Viertel seinerEinnahmen – unabhängig von der Erntehöhe – erhält.Zum anderen ist es so, dass in der Vergangenheit bei be-sonders schweren Schadensereignissen, etwa bei Trocken-heit oder Hochwasser, der Steuerzahler eingegriffen hatund eine Solidarität mit den betroffenen landwirtschaft-lichen Betrieben in den Fällen, die für die Betriebe exis-tenzbedrohend waren, politisch durchsetzbar war.Die Vorschläge aus Sachsen beinhalten in der Tat, dasses zu einer Mischfinanzierung kommt. Unter anderemwird vorgeschlagen, dass dazu Mittel aus Brüssel, so ge-nannte Modulationsmittel, mobilisiert werden können.Wir haben das natürlich geprüft und prüfen das auch wei-terhin, sehen aber auch hier Schwierigkeiten.Eine Schwierigkeit besteht darin, dass wir, wenn wirso etwas auf europäischer Ebene regeln, auch in solchenRegionen, in denen es bisher keine Mehrgefahrenversi-cherung gibt oder in denen es zwar eine Mehrgefahren-versicherung gibt, aber in der Regel weit mehr Schadens-ereignisse, zum Beispiel durch Trockenheit, eintreten, einsolches Vorgehen in Form der Mischfinanzierung ermög-lichen müssen. Sie wissen, Deutschland ist ein erheb-licher Nettozahler. Unter dem Strich würden wir auf dieseWeise die landwirtschaftlichen Einkommen in unserenNachbarländern absichern und neben den deutschen Kos-ten auch noch erhebliche auf europäischer Ebene haben.Das muss man bei solchen Erwägungen mit berücksich-tigen.Die Kommission wird Vorschläge zur so genanntenModulation machen. Zurzeit ist absehbar, dass diese Vor-schläge vom Umfang und vom Zeitpunkt her nicht soausreichend und günstig sind, dass wir im Sinne der säch-sischen Vorstellungen sofort in ein solches System ein-steigen können.Summa summarum ist klar: Der Staat muss sich er-heblich beteiligen. Ohne Berücksichtigung von Sonder-schäden, zum Beispiel der Flutkatastrophe, können Siemit einer Größenordnung von 250Millionen Euro rechnen,Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch
Metadaten/Kopzeile:
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Parl. Staatssekretär Matthias Berningerdie der Steuerzahler in ein System stecken würde, bei demrund 25 Prozent der Beiträge der Bauern für Verwal-tungskosten ausgegeben werden müssten. Das ist eine soerhebliche Summe, dass man sehr genau darüber nach-denken sollte, ob ein solcher Vorschlag machbar und halt-bar ist und ob er gut begründbar allein auf den landwirt-schaftlichen Sektor beschränkt werden kann.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Meine zweite Zusatzfrage: Es geht mir neben dem Vor-
schlag von Sachsen um weitere Beispiele. Ich habe ein-
mal nachgesehen, wie man in Österreich vorgeht. Dort
scheint eine Mischfinanzierung ganz gut zu funktionie-
ren. Der Bund und das Land übernehmen jeweils 25 Pro-
zent und die Bauern 50 Prozent der Finanzierung. Man
müsste natürlich genauer betrachten, wie das in absoluten
Zahlen aussieht.
Haben Sie Einblicke in andere Länder? Können Sie sa-
gen, ob zum Beispiel Österreich in dieser Angelegenheit
ein Vorbild für uns sein kann?
Ma
Natürlich habe ich bei der gründlichen Analyse der Po-
sition unseres Hauses Einblicke in die in anderen Ländern
bestehende Mehrgefahrenversicherung gewinnen kön-
nen. Die Spanier beispielsweise haben ein ähnliches Sys-
tem. Sie haben es soeben selber gesagt: Das sind Systeme,
die auf nationalstaatlicher Ebene finanziert werden, das
heißt nicht von Brüssel kofinanziert sind.
Der sächsische Vorschlag enthält aber eine Variante,
bei der man sehr stark auf eine Brüsseler Kofinanzierung
setzt, wodurch ein beträchtlicher Teil der Kosten außer-
halb unseres Haushaltes beglichen wird. Das sieht auf den
ersten Blick gut aus. Da wir dieses System aber auf andere
Länder übertragen müssten, käme das den deutschen
Steuerzahler sehr teuer zu stehen.
Man kann einzelne Aspekte verschiedener Agrarversi-
cherungssysteme schlecht miteinander vergleichen. Es
gibt, wie gesagt, in manchen Ländern Mehrgefahrenver-
sicherungen und in anderen Ländern eine solche Absiche-
rung wie bei uns, nämlich dass man bei Krisen den Steuer-
zahler heranzieht, womit man mehr Flexibilität hat. Denn
wir können – ich will es noch einmal sagen – die Land-
wirte nicht verpflichten, eine solche Versicherung abzu-
schließen. Wir werden, wenn in einer Region ein Krise
eintritt und nur ein Drittel der Landwirte eine solche Ver-
sicherung hat, immer vor der Frage stehen, wie wir mit
den übrigen zwei Dritteln umgehen. Man könnte sagen:
Das ist deren Pech. Aufgrund meiner Erfahrungen weiß
ich aber, dass, wenn es konkret wird, die betroffenen Re-
gionen auf allen Ebenen Bitten formulieren werden, auch
den nicht versicherten Betrieben zu helfen.
Summa summarum muss man sagen: Die Sache wird
für alle Beteiligten sehr teuer.
Eine ergänzende Frage des Kollegen Hans-Michael
Goldmann.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen eben die grundsätzli-
che Position Ihres Hauses an. Wenn die Rahmenbedingun-
gen, also eine Mischfinanzierung, Modulationsmittel und
eine entsprechende Beteiligung, gegeben wären, sagen Sie
dann: „Wir wollen uns auf den Weg machen, um eine
Mehrgefahrenversicherung für den Bereich der Agrarwirt-
schaft auf die Beine zu stellen“, oder halten Sie eher an der
meiner Meinung nach richtigeren Position fest und sagen:
„Das muss in der Verantwortung des Einzelnen bleiben“?
Denn Sie hatten ja ausgeführt, dass ein solches Vorgehen
auch Ausweitungen zum Beispiel auf die Bauwirtschaft,
den Tourismus und ähnliche Bereiche haben würde.
Ma
Ich habe darauf hingewiesen, dass für uns eine Misch-
finanzierung mit europäischen Mitteln nicht in Betracht
kommt. Denn die Konsequenz daraus ist, dass wir uns
auch in anderen Ländern erheblich beteiligen müssten.
Das scheint mir unter dem Gesichtspunkt, dass die Bun-
desregierung ihre Nettozahlungen verringern und nicht
erhöhen möchte, nicht sinnvoll zu sein.
Im Großen und Ganzen glaube ich, dass man, falls die
Länder gemeinsam mit den Landwirten Vorschläge ent-
wickeln, die dann auch tragbar sind, darüber sprechen
kann, ob etwa im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
oder anderer Möglichkeiten geholfen werden kann. Wir
verschließen hier unsere Augen nicht völlig. Wir sind aber
nicht bereit, ein System einzuführen, bei dem auf den
Bund das Gros der Kosten zukommt, das dann aber nicht
die komplette Landwirtschaft abdeckt, sondern nur einen
Teil der Betriebe, womit für die Allgemeinheit im Scha-
densfall wieder neue Probleme auftauchen.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Vorschläge,
die uns bisher vorliegen, lassen unser Ministerium zu der
Position kommen, dass man solche Systeme ablehnen
sollte. Selbst wenn wir die entsprechenden rechtlichen
Möglichkeiten hätten, wäre es ein ziemlicher ordnungs-
politischer Sündenfall, wenn wir alle Betriebe rechtlich
verpflichten würden, an solchen kollektiven Sicherungs-
systemen teilzunehmen.
Wir kommen nun zur Frage 22 der Kollegin Klöckner:
Ist die Bundesregierung bereit, den Aufbau einer Mehrgefah-
renversicherung für die Landwirtschaft finanziell zu unterstützen
und, wenn ja, in welcher Höhe?
Ma
Ich beantworte Ihre Frage auch mit einem Ausdruckdes Bedauerns, weil ich einen Teil der Antwort jetzt schonHerrn Goldmann gesagt habe.
1396
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1397
Die Bundesregierung ist nach dem, was bisher an Vor-schlägen vorliegt, nicht bereit, die großen finanziellen Be-lastungen zu übernehmen. Sie weist insbesondere daraufhin, dass die Kostenkalkulationen für solche Versiche-rungsmodelle den normalen Schadensfall, das heißt nor-male Ernteausfälle infolge unterschiedlicher Vegetations-bedingungen, über die Jahre ausgleichen würden. EineAbsicherung der großen Krisen, die ja die Hauptsorgender Landwirte darstellen, wäre noch einmal erheblich teu-rer. Vor diesem Hintergrund stehen wir den bisher ge-machten Vorschlägen auf der Basis der heutigen Informa-tionen skeptisch gegenüber.
Zusatzfrage? – Kollegin Klöckner.
Sie erwähnten, dass Versicherer auf Sie zugekommen
sind bzw. dass – wenn ich es richtig verstanden habe –
Versicherer in diese Diskussion aktiv eingestiegen sind.
Können Sie näher erläutern, wie deren Vorschläge ausge-
sehen haben? Handelt es sich dabei um die Vorschläge,
die Sie schon skizziert haben oder gibt es noch weitere,
mit denen man vielleicht doch arbeiten könnte?
Ma
Grundlage der Diskussion war ein Vorschlag aus dem
Jahr 2001, in dessen Berechnung auch Versicherer invol-
viert waren. Wir als Ministerium haben intensiv geprüft,
ob solche Vorschläge realisierbar sind. Sie rechnen sich
für die Beteiligten, sowohl für die Versicherungswirt-
schaft als auch für die landwirtschaftlichen Betriebe, un-
ter zwei Bedingungen: Bedingung Nummer eins ist, dass
der Bund dafür sorgt, dass die Sache finanziell so attrak-
tiv wird, dass möglichst viele Landwirte in den Regionen
motiviert werden mitzumachen. Bedingung Nummer
zwei ist, dass sich der Bund über die Absenkung der Prä-
mien hinaus erheblich finanziell an der Absicherung des
Risikos beteiligt. Das würde dann zu den relativ hohen
Summen führen, die insbesondere auf den Bundeshaus-
halt zukämen.
Nun kommen wir zur Frage 23 des Kollegen Goldmann:
Liegen der Bundesregierung Hinweise oder Warnungen vor,
dass nicht nur mit Pilzen verunreinigter Weizen aus der Ukraine
nach Kanada exportiert worden ist, sondern ebenfalls nach
Deutschland gelangen konnte, vergleiche „Ernährungsdienst“
vom 8. Januar 2003?
Ma
Herr Kollege Goldmann, bei dem in der Zeitschrift
„Ernährungsdienst“ vom 8. Januar 2003 erwähnten Fall
handelt es sich um einen Verstoß gegen die kanadischen
Einfuhrvorschriften zum Schutz der Pflanzengesundheit
und zugleich um einen Betrugsfall. Bei dem von Kanada
festgestellten Pilzbefall handelt es sich um die Pflanzen-
krankheiten Weizenstängelbrand und Zwergsteinbrand
des Weizens. Ich erspare es mir, die entsprechenden latei-
nischen Namen zu nennen, und danke für Ihr Verständnis.
Die beiden Pilzkrankheiten kommen in der EU und in
Deutschland im Weizen vor, in Kanada jedoch nicht oder
nur in bestimmten Gebieten. Kanada hat daher – das geht
mit den entsprechenden WTO-Regeln konform – beson-
dere phytosanitäre Einfuhrvorschriften zum Schutz seiner
landwirtschaftlichen Erzeugung, auf die man sich in die-
sem Fall auch beruft. Eine Gefährdung der menschlichen
Gesundheit durch diese Pilze besteht nicht unmittelbar und
ist auch nicht der Grund für den kanadischen Einfuhrstopp.
Zusatzfrage, Herr Kollege Goldmann? – Bitte.
Herr Staatssekretär, kann man also davon ausgehen,
dass das Getreide nicht nur nach Kanada exportiert wurde,
sondern auch nach Deutschland gekommen ist?
Ma
Herr Abgeordneter, ich verfüge nicht über Erkennt-
nisse darüber, aus welcher Region dieses Getreide gelie-
fert worden ist. Es verhält sich aber so, dass die Pilze, die
in dem Getreide gefunden wurden, das nach Kanada ex-
portiert worden ist, durchaus auch bei Getreide, etwa
Roggen oder Weizen, das in Mitteleuropa produziert
wurde, gefunden werden können. Insofern handelt es sich
hierbei nicht um ein phytosanitäres Problem, bei dem ein
besonderes Eingreifen unserer Behörden angezeigt wäre,
im Gegenteil: Würden wir unsererseits einen solchen Fall
zum Anlass nehmen, um unseren Markt vor entsprechen-
den Lieferungen abzuschotten, verstießen wir gegen die
einschlägigen Regeln der WTO. Das kann ja nicht im
Sinne der auch von Ihnen erhobenen Forderung nach ei-
nem freien Welthandel sein.
Eine weitere Zusatzfrage? – Bitte.
Herr Staatssekretär, haben Sie das Getreide, das aus der
Ukraine gekommen ist und das in Deutschland auf dem
Markt ist, auf Pilzbefall untersucht und, wenn ja, welche
Konsequenzen haben Sie daraus abgeleitet?
Ma
Zunächst einmal muss man über den Pilzbefall sagen,dass er sich erheblich auswirkt und vor allem in derParl. Staatssekretär Matthias Berninger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Parl. Staatssekretär Matthias BerningerVergangenheit dann zu Krankheiten geführt hat, wennman unbehandeltes Getreide im Folgejahr wieder ausge-sät hat. Deswegen sind die meisten Landwirte dazu über-gegangen, ihr Getreide vor der Aussaat zu behandeln. EinSchaden entsteht also vor allem bei der Aussaat dieses Ge-treides.Darüber, inwieweit Lieferungen erheblich belastet wa-ren, als mangelhaft dargestellt und von den Abnehmernnur zu günstigeren Preisen erstanden wurden, liegen mirkeine Erkenntnisse vor.Im Übrigen: Nicht ich habe mich auf den Weg ge-macht, sondern es ist Aufgabe der Länderbehörden, ent-sprechende Einfuhren genauer zu kontrollieren. Näheresmöchte ich in der Antwort auf Ihre zweite Frage aus-führen.
Wir kommen zur Frage 24 des Kollegen Goldmann:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen bzw.
wird sie noch ergreifen, um sicherzustellen, dass mit Pilzen ver-
unreinigter Weizen aus der Ukraine nicht nach Deutschland ge-
langen kann?
Ma
Die Bundesregierung hat sich unverzüglich mit der
Canadian Food Inspection Agency in Verbindung gesetzt
und hat Informationen über die Beanstandungen bekom-
men. Es ist so, wie ich Ihnen gerade dargestellt habe: Wir
haben im WTO-Rahmen keine Möglichkeit, Einfuhr-
beschränkungen vorzunehmen. Deutschland sieht hierin
auch keine Bedrohung seiner landwirtschaftlichen Pro-
duktionen über das Gesagte hinaus.
Die Länder sind für solche Einfuhrkontrollen zustän-
dig. Es wird zurzeit auf europäischer Ebene über eine
Veränderung der Vorschriften hinsichtlich der Kontrolle
bei pflanzlichen Einfuhren nachgedacht. Wir in Deutsch-
land sind einen Schritt weiter: In den nächsten Tagen
wird vom BVL eine allgemeine Verwaltungsvorschrift
vorgelegt, die die Tätigkeit der Kontrollbehörden der
Länder harmonisieren soll, um sicherzustellen, dass wir
auch bei pflanzlichen Produkten, die in die EU eingeführt
werden, vernünftige Proben von Stichproben erhalten.
Dazu werden in den nächsten Tagen Vorschläge vorlie-
gen.
Solche phytosanitären Probleme sind darin enthalten.
Es kann neben diesem Pilzbefall auch noch zu anderen
Erkrankungen des Getreides kommen, die für die mensch-
liche Gesundheit problematischer sind. Wir haben von
deutscher Seite aus die EU-Kommission schon mehrfach
darauf hingewiesen, dass wir diese Mykotoxine, die ein
erhebliches Gesundheitsgefährdungspotenzial haben, von-
seiten der EU mit stärkerem Gewicht beachtet sehen wol-
len. Langsam, aber sicher bewegt sich der Koloss.
Zusatzfrage, Kollege Goldmann.
Herr Staatssekretär, Sie haben zu Recht ausgeführt,
dass das in erster Linie Ländersache ist. Haben Sie mit
den Ländern Kontakt aufgenommen, um den deutschen
Markt vor solchen Produkten zu schützen, oder kann man
sagen, dass in Kanada ein größerer Schutz der Verbrau-
cher oder der Aussaatbetriebe besteht als in Deutschland?
Ma
Nein, das kann man absolut nicht sagen. Die phytosa-
nitären Regelungen sehen vor, dass Länder, zum Teil auch
Kontinente ermächtigt sind, die Einfuhr bestimmter
belasteter pflanzlicher und tierischer Produkte zu verbie-
ten, um zu vermeiden, dass sich in einem Land oder auf
einem Kontinent eine bestimmte Tier- oder Pflanzen-
krankheit breit macht. Das gilt selbst dann, wenn die ent-
sprechende Krankheit oder der entsprechende Pilzbefall
für die menschliche Gesundheit keine Beeinträchtigung
darstellen.
Vor diesem Hintergrund hat Kanada die Möglichkeit
einzugreifen, weil es eine solche Krankheit im eigenen
Lande nicht gibt. Wir haben diese Möglichkeit nicht, weil
die gleiche Krankheit bei uns vorkommt und früher, als
man das Saatgut nicht ausreichend vorbehandelt hatte, so-
gar in großem Ausmaß vorgekommen ist.
Es gibt andere sanitäre Vorschriften der Europäischen
Union, nach denen wir bestimmte Importe verweigern
können. Dritte Länder können sich, weil sie das Problem
im eigenen Land – ähnlich wie in diesem Fall die EU –
haben, nicht auf solche Vorschriften berufen. Das sind
höchst spezifische Regelungen, um die im WTO-Maßstab
beim SPS-Abkommen, das sanitäre und phytosanitäre
Fragen des Welthandels klärt, hart gerungen wird.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums der Verteidigung. Zur Beantwortung der Fragen
steht der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow
zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 25 des Kollegen Werner Kuhn:
Sind der Bundesregierung die planungsrechtlichen Bedenken
betroffener Gemeinden gegen das bis Januar 2002 durchgeführte
Anhörungsverfahren über die künftige Nutzung des Truppen-
übungsplatzes Wittstock bekannt und, wenn ja, welche Aus-
wirkungen hat diese Kenntnis auf die im Koalitionsvertrag der
Regierungsparteien vereinbarte kurzfristige Überprüfung der mi-
litärischen Planung am Standort Kyritz-Ruppiner Heide durch die
Bundesregierung?
W
Danke, Herr Präsident.Lieber Herr Kollege Kuhn, die von Ihnen in Ihrer Frageerwähnten Bedenken der betroffenen Gemeinden gegendas aufgrund der Entscheidung des Bundesverwaltungs-
1398
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1399
gerichts vom 14. Dezember 2000 durchgeführte Anhö-rungsverfahren zur geplanten militärischen Nutzung desTruppenübungsplatzes Wittstock sind der Bundesregie-rung bekannt. Die Gemeinden haben im Rahmen desdurchgeführten Anhörungsverfahrens Bedenken gegendieses Verfahren als solches und wegen entgegenstehen-der gemeindlicher Planungen erhoben.Die Verfahrensbedenken werden nach Rechtsauffas-sung der Bundesregierung nicht geteilt und üben somitkeinen Einfluss auf die in der Koalitionsvereinbarungvereinbarte Überprüfung der militärischen Planungen fürden Truppenübungsplatz Wittstock aus.Die wegen widerstreitender kommunaler Planungenerhobenen Einwände der betroffenen Gemeinden werdensowohl bei der im Koalitionsvertrag vereinbarten Über-prüfung als auch im Entscheidungsprozess des An-hörungsverfahrens umfassend geprüft, um durch eine aus-gewogene Würdigung aller Interessen eine abschließendeEntscheidung der Bundesregierung sorgfältig vorzube-reiten.
Zusatzfrage, Kollege Kuhn.
Herr Staatssekretär, auf welcher rechtlichen Grundlage
basiert das Anhörungsverfahren und wie erklärt sich die
Bundesregierung, dass in diesem Verfahren ein erheb-
licher Unmut der Belegenheitsgemeinden wegen der
nicht entsprechend ausgefertigten Anhörungsunterlagen
entstanden ist und dass hier vonseiten der nordbranden-
burgischen Städte und Gemeinden sowie des Landkreises
erhebliche Kritik gekommen ist?
W
Die Rechtsgrundlage bilden die bisherigen rechtlichen
Abläufe und die Verpflichtung durch das Gericht, das An-
hörungsverfahren durchzuführen. Die auch anwaltschaft-
lich vorgebrachten Bedenken, dass das diesbezügliche
Anhörungsverfahren unter schwerwiegenden Verfahrens-
mängeln leide, werden von uns nicht geteilt. Die Rechts-
einschätzung des Bundesministers der Verteidigung ist
eine andere. Deswegen wurde auch dem rechtsanwalt-
schaftlich vorgebrachten Antrag nicht entsprochen.
Wir wissen um die Kontroverse, die es darum seit län-
gerem gibt. Sie haben mir heute entsprechende Unter-
schriften überreicht.
Auf der Grundlage des Ergebnisses der Anhörung wer-
den wir – wie bereits dargetan – eine Verwaltungsent-
scheidung zu Art und Umfang der beabsichtigten militä-
rischen Nutzung nicht nur vorbereiten, sondern auch
treffen.
Weitere Zusatzfrage?
Jawohl. – Herr Staatssekretär, Ihnen ist bekannt, dass
der Ausschuss für Angelegenheiten der Neuen Länder im
Einvernehmen mit dem Verteidigungsausschuss eine öf-
fentliche Sitzung in Form einer Anhörung zu dem Thema
wirtschaftliche Auswirkungen nicht nur auf die Region
Kyritz-Ruppiner Heide, sondern auch auf die Region der
Mecklenburgischen Seenplatte durchgeführt hat. Inwie-
weit hat Ihr Ministerium die Ergebnisse dieses An-
hörungsverfahrens mit in das laufende Verfahren einbe-
zogen?
W
Wir haben Ihnen in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender
des Ausschusses für Angelegenheiten der Neuen Län-
der zu dem besagten Anhörungsverfahren bereits im
April 2002 einen ausführlichen Sachstandsbericht zu-
gesandt und haben zu dem hieraus resultierenden Wirt-
schaftsfaktor im Zusammenhang mit der militärischen
Nutzung Auskünfte gegeben. Diese Ausführungen mit
den entsprechenden Inhalten zur wirtschaftlichen Ent-
wicklung der Kyritz-Ruppiner Heide und der Mecklen-
burgischen Seenplatte sind natürlich entsprechend beur-
teilt worden.
Wir haben feststellen können, dass die Region durch
die militärische Nutzung, die wir auch heute hier in der
Fragestunde miteinander erörtern, nicht benachteiligt
worden ist und dass sie dadurch auch nicht gelitten hat.
Auch die Übernachtungszahlen sind nicht zurückgegan-
gen. Vielmehr können wir davon sprechen, dass die mi-
litärische und auch wirtschaftliche sowie insbesondere
fremdenverkehrsmäßige und der Förderung der Gesund-
heit vieler Menschen dienende Nutzung dieser Regionen,
dieser attraktiven Landschaft miteinander vereinbar ist.
Nun kommen wir zur Frage 26 des Kollegen Kuhn:
Wie schätzt die Bundesregierung den durch eine ihren ur-
sprünglichen Vorstellungen entsprechende militärische Nutzung
des Truppenübungsplatzes Wittstock entstehenden
wirtschaftlichen Nachteil für die betroffenen Regionen Mecklen-
burg-Vorpommerns und Brandenburgs ein und wie hoch beziffert
sie demgegenüber die sich aus dieser Nutzung ihrer Ansicht nach
ergebenden wirtschaftlichen Vorteile für die gesamte Region?
W
Herr Kollege, im Einklang mit der Auffassung desbrandenburgischen Ministeriums für Wirtschaft, das sichaufgrund der strukturschwachen Region um Wittstock mitNachdruck für die vom Bundesministerium der Verteidi-gung vorgestellten Pläne ausgesprochen hat und zudemdort in den kommenden Jahren keine vergleichbarenstrukturverbessernden Projekte erwartet, sieht die Bun-desregierung auch im Zusammenhang mit dem, was ichgerade gesagt habe, durch die beabsichtigte militärischeNutzung keine Nachteile für den Tourismus oder andereWirtschaftszweige im regionalen Bereich des Truppen-übungsplatzes.Parl. StaatssekretärWalter Kolbow
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Parl. StaatssekretärWalter KolbowDem Bundesministerium der Verteidigung ist keineRegion bekannt, in der Tourismus oder andere Wirt-schaftszweige aufgrund von militärischen Tiefflügennachweislich Schaden genommen haben. Persönlich kannich das angesichts meiner Erfahrungen unterstreichen, dieich in vorangegangenen Legislaturperioden gewonnenhabe, als ich Vorsitzender eines Unterausschusses desVerteidigungsausschusses war, der sich insbesondere mitden Auswirkungen von Tieffluglärm in bestimmten Re-gionen unseres Landes beschäftigt hat.Eine vergleichende Betrachtung von Flugbetriebszah-len der Luftwaffe und Tourismuszahlen des StatistischenBundesamtes lässt keine direkte Abhängigkeit der Ent-wicklung von Übernachtungszahlen vom Umfang der Tief-flugbelastung erkennen. So ist zum Beispiel im LandkreisOstprignitz-Ruppin in Brandenburg die Zahl der Gästeüber-nachtungen gestiegen, während auf dem Truppenübungs-platz Wittstock militärischer Flugbetrieb durchgeführtwurde. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass durchdie ausreichenden Entfernungen zu den touristischen Zen-tren der Region militärische Nutzung und Tourismus inEinklang gebracht werden können.Bei den durch die Realisierung der militärischen Nut-zung zu erwartenden wirtschaftlichen Vorteilen für dieRegion geht die Bundesregierung von den nachfolgendenZahlen aus: Investitionen von circa 62 Millionen Euro fürnotwendige Infrastrukturmaßnahmen, ein Sanierungsvo-lumen von circa 51 Millionen Euro bei der Altlastenbe-seitigung, ein Kostenvolumen von circa 128 MillionenEuro für die Munitionsräumung, Beschäftigung vondurchschnittlich 400 Arbeitskräften für einen Zeitraumvon zehn bis 15 Jahren im Rahmen von Munitionsräu-mung und Altlastenbeseitigung, des Weiteren eine dauer-hafte Anstellung von circa 150 Zivilbeschäftigten bei derBundeswehr und schließlich ein Zuwachs an jährlicherWirtschaftskraft von circa 10 Millionen Euro durch denBetrieb von Truppenübungsplatz und Garnison.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kuhn.
Herr Staatssekretär, Sie haben die wirtschaftliche Ent-
wicklung der Region trotz der militärischen Belastungen
gerade in ein sehr positives Licht gestellt. Sind Sie mit mir
dennoch der Auffassung, dass die Planungsunsicherheit
und das schwebende Verfahren zur Indienststellung des
Luft-Boden-Schießplatzes in Wittstock – davon wären die
Mecklenburgische Seenplatte und Kyritz-Ruppiner Heide
betroffen – dort eine Auswirkung auf zukünftige Investi-
tionen im Bereich Tourismus haben werden und die Re-
gion in eine Benachteiligung gerät, da sich in Zeiten einer
Rezession potenzielle Kapitalanleger natürlich andere
Standorte aussuchen werden?
W
Herr Kollege Kuhn, alle Beteiligten haben natürlich
Anspruch auf eine sorgfältige Durchführung bei dieser,
wie wir alle miteinander wissen, nicht einfachen Gemen-
gelage. Wir haben hier nach bestem Wissen und Gewissen
auf der Basis von rechtlichen Festlegungen gehandelt. Ich
kann Ihnen versichern, dass wir unverzüglich zu einer
Verwaltungsentscheidung kommen wollen.
Darauf zielt meine Nachfrage, Herr Staatssekretär:
Welche Vorstellungen haben Sie über den zeitlichen Ab-
lauf des Planfeststellungsverfahrens für den Luft-Boden-
Schießplatz?
W
Ich sagte unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes
Verzögern. Wir werden diese Entscheidung nach den
letztlich noch vorzunehmenden Abwägungsentscheidun-
gen so schnell wie möglich treffen. Ich denke, wir werden
im ersten Halbjahr zu einem Ergebnis kommen können.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde, da die Fra-
gen 27, 28 und 29 schriftlich beantwortet werden sollen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu ihren ver-
schlechterten Prognosen für das Wirtschafts-
wachstum in Deutschland im Jahr 2003 und der
daraus geforderten Erhöhung der Neuver-
schuldung für den Bundeshaushalt
Diese Aktuelle Stunde hat die FDP beantragt.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort für den Antragsteller der Kollege Rainer Brüderle
von der FDP-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Ende des letzten und An-fang dieses Jahres haben wir eine Diskussion der grün-ro-ten Bundesregierung über Steuerfragen und Steuererhö-hungen erlebt. Der Bundeskanzler hat dafür den Begriffder Kakophonie gewählt. Ich nenne das KakophonieTeil 1.Seit der letzten Woche erleben wir Kakophonie Teil 2.Der Stimmenwirrwarr, der bei den Wachstumsprognosenvernehmbar ist, schreit geradezu nach einem weiterenMachtwort des Bundeskanzlers. Zuerst erklärt HerrEichel, die Wachstumsprognose werde reduziert. Das de-mentiert Herr Clement dann – aus welchen Gründen auchimmer. Danach rudert Herr Eichel zurück.
Kurze Zeit später deutet Herr Clement schließlich an, dasses in Deutschland doch nur ein Miniwachstum von etwa1 Prozent geben wird. Ich weiß nicht, was beide Minister
1400
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geritten hat. Solche Machtspielchen zu betreiben hat miteiner seriösen Wirtschafts- und Finanzpolitik überhauptnichts zu tun.
Offiziell hat sich immer noch kein Regierungsvertreterzu konkreten Wachstumszahlen geäußert. Die Zahlen derWirtschaftsforschungsinstitute liegen vor. Sie sollen aberlieber mundtot gemacht werden. Man droht mit dem Ent-zug der staatlichen Zuschüsse, weil Ihnen die Prognosender Wirtschaftsforschungsinstitute nicht passen. Das isteine Realitätsverweigerung.
Die Fachleute sagen, dass wir das dritte Jahr hinterei-nander erleben werden, in dem das Wachstum unter derMarke von 1 Prozent liegen wird. Die Wirtschaft stagniert,die Haushaltslöcher werden tiefer und die Arbeitslosigkeitwird größer. In dieser Situation reagiert Grün-Rot mit ei-ner Hinhaltetaktik. Sie fangen das neue Parlamentsjahr soan, wie Sie das alte Jahr beendet haben.
Sie verschweigen der Öffentlichkeit wichtige Informatio-nen.
Stattdessen veranstalten Sie Kakophonie Teil 3. Jetztgeht es um die Neuverschuldung. Herr Eichel will keineneuen Schulden, während es für Herrn Clement durchausetwas mehr sein kann. Herr Schröder will keine neuenSchulden, Herr Müntefering ist dafür. Frau Scheel tritt fürkeine neuen Schulden ein. Frau Sager ist in dieser Fragesehr offen. Trotzdem soll das Maastricht-Kriterium ein-gehalten werden. Wahrscheinlich arbeiten Sie insgeheimlängst an der Mehrwertsteuererhöhung.
Der Vorsitzende Ihrer größten Koalitionsfraktion, derDGB-Chef Sommer, hat die Katze aus dem Sack gelas-sen: Er fordert eine Mehrwertsteuererhöhung von 2 Pro-zent. Die Pläne liegen wohl in der Schublade. Vor derLandtagswahl wird sie natürlich verschlossen gehalten.Welche Begründung auch immer gewählt wird, die Wahr-scheinlichkeit, dass Sie damit kommen werden, ist groß.Wenn im Irak das Schlimmste passiert, wird sie amSchluss noch als Kriegsteuer deklariert.
Wir haben hier einen Teufelskreis: immer höhere Ar-beitslosigkeit, steigende Steuern, steigende Sozialabga-ben und gleichzeitig steigende Staatsschulden. Wir brau-chen eine wachstumsfördernde Politik. Das Land leidet anzu wenig Wachstum.
Die Massenarbeitslosigkeit kostet jedes Jahr über 70 Mil-liarden Euro. Wir werden nur mit mehr Wirtschafts-wachstum wieder mehr Steuern einnehmen und mehr Be-schäftigung erreichen können. Das ist die entscheidendeMaßnahme, um voranzukommen.
Herr Eichel hat sich vor kurzem auf Karl Schiller be-rufen. Ich darf daran erinnern, dass Karl Schiller ein So-zialdemokrat war. Manche wissen es vielleicht nichtmehr. Man hat die Störung des gesamtwirtschaftlichenGleichgewichts ausgerufen. Ich hoffe, das war nicht nurein billiger Trick, um einen verfassungswidrigen Haushaltzu vermeiden.Grün-Rot hat also festgestellt, dass wir uns in einerkeynesianischen Situation mit Unterbeschäftigung undfaktischem Nullwachstum befinden. Für eine solchekeynesianische Situation hat Karl Schiller damals denArt. 115 des Grundgesetzes und das Stabilitäts- undWachstumsgesetz gestaltet. Sie machen aber nicht einmalKeynes oder Karl Schiller. Schauen Sie doch einmal insStabilitäts- und Wachstumsgesetz hinein! Karl Schillerwusste noch, dass bei der Störung eines gesamtwirt-schaftlichen Gleichgewichts Steuersenkungen angezeigtsind. Aufgrund des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzeskönnen Sie ohne eine Gesetzesänderung unverzüglichsteuerliche Entlastungen vornehmen, um die Wirtschaft inGang zu bringen, anstatt Steuern zu erhöhen und diesdreisterweise noch als Abbau von Steuerprivilegien zukostümieren. Faktisch sind das, was Sie machen, Steuer-erhöhungen.
Wahrscheinlich ist das Nettogehalt eines Facharbeitersin Ihrer Denke schon ein Steuerprivileg.
Ökonomisch gesehen entziehen Sie mit Ihren Maßnah-men unseren Bürgern und Unternehmen in einer Situa-tion, in der wir an einer Nachfrageschwäche im Konsum-und im Investitionssektor leiden, 17 Milliarden Euro imJahr. Der gesamte wirtschaftswissenschaftliche Sachver-stand bescheinigt Ihnen, dass das, was Sie machen, völligfalsch ist. Sie beschimpfen die Sachverständigen, weil sienicht Ihrer Meinung sind. Sie bedrohen sie mit Entzug derZuschüsse, weil Ihnen deren Meinung nicht passt.Jetzt kommt die niedersächsische Wunderwaffe, HerrGabriel. Herr Gabriel hat noch vor kurzem die Wieder-einführung der Vermögensteuer gefordert, obwohl diesedurch Erhöhung der Grunderwerbsteuer von 2 auf3,5 Prozent voll kompensiert wurde. Zusätzlich fordert erdie Erhöhung der Erbschaftsteuer.
Plötzlich sind die Umfrageergebnisse in Niedersachsenschlecht. Daher fordert Herr Gabriel jetzt Steuersenkun-gen, nämlich die nächste Stufe der Steuerreform vorzu-ziehen, weil er spürt, dass die Wahl für ihn sonst sehrschlecht ausgehen wird. Damit ist Kakophonie Teil 4 he-raufbeschworen.Nun hat er etwas Neues entdeckt: Die Flutkosten sindniedriger ausgefallen als veranschlagt. Es sind 2,5 bis3,5 Milliarden Euro übrig, die man dafür nicht braucht,Rainer Brüderle
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Rainer Brüderleobwohl diese Summe ursprünglich geschätzt wurde. Wes-halb geben Sie denn den Bürgern ihr Geld nicht zurück?Wenn Sie Herrn Gabriels Vorschlag aufgreifen, bedeutetdas eine Entlastung der Lohn- und Einkommensteuer von5 Prozent. Das können Sie mit dem Stabilitäts- undWachstumsgesetz sofort machen, damit das Vertrauen indie Wirtschaft wächst und die Leute die Angst vor demVerlust ihres Arbeitsplatzes verlieren.
Herr Kollege Brüderle, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz, Herr Präsident.
Diese Maßnahme bringt die Möglichkeit, zu konsu-
mieren und zu investieren.
Sie müssen endlich handeln. Wenn Sie uns nicht glau-
ben, dann glauben Sie vielleicht Karl Schiller. Er war gar
kein so schlechter Wirtschaftsminister.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister WolfgangClement.Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Brüderle, Ihrem letzten Satz stimme ichzu und will ihn sogar noch unterstreichen: Karl Schillerwar nicht nur kein schlechter, sondern ein hervorragenderWirtschaftsminister. Alles andere, was Sie gesagt haben,ist allerdings in Zweifel zu ziehen.
– Das ist milde formuliert, ja.Wenn Sie Begriffe wie Seriosität, Kakophonie – dieserBegriff scheint Ihnen besonders auf der Zunge zu liegen –
oder Kostümierung verwenden – ein Begriff, der Ihnen alsRheinland-Pfälzer natürlich nahe liegt –, dann frage ichSie: Wie soll ich den Debattenbeitrag einer Fraktion be-zeichnen, der sich auf Fakten bezieht, die es noch gar nichtgibt? Was Sie hier aufführen, ist wirklich eine virtuelleVeranstaltung. An dieser Veranstaltung mit der dazu pas-senden Kostümierung beteilige ich mich gerne. Aber esmuss klar sein, dass dies eine virtuelle Veranstaltung ist.Sie haben mit zwei Dingen gerechnet. Erstens. Sie be-ziehen sich auf verschlechterte Prognosen der Bundesre-gierung. Diese gibt es nicht bzw. noch nicht.
Die Bundesregierung wird sich am 29. Januar in ihremJahreswirtschaftsbericht dazu äußern. Wenn schon Be-griffe wie Seriosität hier genannt werden, dann muss esdoch möglich sein, auf Prozesse und deren Ergebnissehinzuweisen, die dann seriös beurteilt werden müssen.Das ist derzeit jedenfalls nicht möglich.Zweitens. Sie haben die Hoffnung gehabt, hier werdeeine Verschuldungsdiskussion erster Güte entbrennen.Nachdem gestern der Kanzler – Sie haben auf das Kanz-lerwort gewartet, ich übrigens auch – und auch der Fi-nanzminister ihr Wort gesprochen haben, ist die Grund-lage für die Debatte eigentlich entfallen. Sie hätten sagenmüssen: Warten wir bis zum 29. Januar und diskutierendann seriös weiter. Das wollen Sie nicht. Aber Ihre Redewird die Welt nicht verändern.
Ich habe nicht die Absicht, mich an diesen Grau-in-Grau-Diskussionen zu beteiligen. Dies gilt auch für denWettlauf um Prognosen, die immer mehr nach unten zei-gen müssen. Wir werden die Diskussion über Prognosen,die Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind und in weltwirt-schaftlich unsicheren Situationen wie jetzt besondersschwierig aufzustellen sind, in aller Ruhe führen.Wir werden uns damit aber nicht aufhalten. Entschei-dend ist, dass in der Bundesrepublik Deutschland mehrWachstum – ich meine mehr Wachstum als zurzeit und alswir auch im Jahr 2003 erreichen werden – stattfindet. Esmuss ein beschäftigungswirksames Wachstum sein, wasgleichzeitig zu einer Verbesserung der Situation am Ar-beitsmarkt führt. Das ist das Ziel der Bundesregierung.Das tun wir, indem wir mit unserer Politik das Wachs-tum zu fördern versuchen.
So und nicht anders bringt man auch den Haushalt in Ord-nung. Es gilt im Grunde genommen das, was der frühereamerikanische Präsident Clinton bewiesen hat, nämlichdass Staatsverschuldung und Haushaltsdefizit langfristignur über ein stärkeres Wirtschaftswachstum abgebaut wer-den können. Ohne ein solches stärkeres Wirtschaftswachs-tum – dieses Wachstum muss Beschäftigungswirksamkeitfrüher entwickeln, als das bisher in Deutschland der Fallist – werden alle Einsparbemühungen auf die Dauer nichtausreichen oder sogar kontraproduktiv wirken.Deshalb ist es das wichtigste Ziel sowohl der Wirt-schafts- als auch der Finanzpolitik, die Wirtschaft wiedermittelfristig auf einen stärkeren Wachstumspfad zu brin-gen. Dazu bedarf es auch des Abbaus des strukturellenStaatsdefizits. In diesem Prozess befinden wir uns zurzeit.In diesem Prozess setzen wir auf die Kraft der deutschenVolkswirtschaft. Sie zeigt diese Kraft in den Exporterfol-gen, die die deutsche Volkswirtschaft unverändert auf-weist, im Prozess der Europäischen Währungsunion, inden wir mehr einbringen als jede andere Volkswirtschaft,und im Aufbau Ost, bei dem wir in Deutschland eine ge-meinsame Leistung erbringen, die anderen Volkswirt-schaften nicht abverlangt wird. Das ist die Kraft, die diedeutsche Volkswirtschaft hat.
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Dennoch heißt dies unter veränderten weltwirtschaftli-chen Bedingungen – mit neuen und verstärkten Unsicher-heiten angesichts eines drohenden Irakkonflikts –, dasswir mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften die Re-formen bzw. die Veränderung der Strukturen angehenmüssen. Das ist die Politik, die wir vollziehen. Das tun wirunter dem Stichwort „Hartz-Konzept umsetzen“, was vonanderen – zu Recht – sehr viel stärker anerkannt wird alsvon Ihnen, Herr Kollege Brüderle. Deshalb starten wir– das ist heute geschehen – die Initiative „Pro Mittel-stand“. Ich freue mich sehr, dass wir ein Programm aufden Weg bringen, mit dem wir Unternehmensgründungenin Deutschland fördern und die mittelständische Wirt-schaft insgesamt stärken können.
Dazu können wir auch dadurch beitragen, dass wir bei-spielsweise mit dem Aufbau einer öffentlich-rechtlichenMittelstandsbank die Hausbanken in die Lage versetzenund sie dabei unterstützen, gegenüber den kleinen undmittleren Unternehmen bei der Kreditgewährung zur Bil-dung von Eigenkapital offener zu sein, als dies zurzeit derFall ist.
Bei aller Bereitschaft, über die Situation und das, wasdie Politik tun muss, zu diskutieren, müssen wir uns da-rüber klar sein – das werde ich immer wiederholen –, dassauch andere Bereiche in der Bundesrepublik Deutschland,nicht zuletzt der Bankensektor, reformbedürftig sind.
Wenn wir über ein erhebliches Handicap sprechen, mitdem die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutsch-land zurzeit zu kämpfen haben, gehört das sicherlich dazu.Ich habe auch schon an anderer Stelle öffentlich erklärt:Wenn ich frühmorgens – meistens ist es morgens – imFernsehen Herrn Walter von der Deutschen Bank höre, derder Politik Ratschläge gibt, frage ich mich, warum er nichtdem Vorstand seines Unternehmens und den Vorständender anderen Banken die richtigen Ratschläge erteilt hat. Dawäre es auch am Platze, gelegentlich Rat zu geben.
Wir müssen erreichen, dass alle in Deutschland beidem mitwirken, was vor uns liegt. Es handelt es sich umeinen umfassenden Modernisierungsprozess, an dem sichalle beteiligen müssen. Auch in der Wirtschaft bzw. in denUnternehmen gibt es einen erheblichen Erneuerungs- undModernisierungsbedarf.Wir wollen und müssen unsere Spitzenposition halten.Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich – unbestreit-bar jedenfalls von allen, die sie von außen und nicht in-nerhalb der parteipolitischen Auseinandersetzung be-trachten – in einer Spitzenposition. Es kommt darauf an,diese Spitzenposition zu stärken und zu stabilisieren. Dasist für das Wachstum wichtig und für die Finanzpolitik ge-nauso wie für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitikvon ausschlaggebender Bedeutung.Lassen Sie mich eines hinzufügen: Die Prognosen– Sie können sie allerorten nachlesen – werden sicherlichAussagen enthalten, dass den Erwartungen der Wissen-schaft zufolge die Zahl der Arbeitslosen im nächsten Jahrüber 4 Millionen liegen wird. Ich möchte mich mit diesenErwartungen der Sachverständigen nicht abfinden.
Vielmehr möchte ich das mobilisieren, was möglich ist,auch im Sinne dessen, was Herr Hartz zu Recht gesagthat: dass wir unter dem Begriff „Profis der Nation“ – oderunter welchem Begriff auch immer – diejenigen, die inDeutschland Mitverantwortung tragen oder sich mitver-antwortlich fühlen, zur Mitwirkung bewegen, um eineausreichende Zahl von Ausbildungs- und Arbeitsplätzenzu mobilisieren. Darum geht es, wenn wir über Politiksprechen. Wenn wir die Sachverständigen für uns arbeitenließen und deren Aussagen für Fakten nähmen, könntenwir uns schließlich abmelden. Das kann ich nicht emp-fehlen. Vielmehr setzen wir die Fakten; jedenfalls könnenwir die Fakten beeinflussen.
– Wir werden dies tun. Sie sind herzlich dazu eingeladen,Frau Kollegin. Sie können gerne mitgehen, wenn wir unsvor Ort über die Jobcenter um Ausbildungsplätzebemühen. Sie sind jederzeit dazu eingeladen.Was mir vorschwebt – Sie mögen das für blauäugighalten –, ist, dass wir zur Bekämpfung der Arbeitslosig-keit in Deutschland eine ähnliche soziale Bewegung ha-ben werden, wie es sie im Umweltsektor bereits gibt.
Sie haben uns die Schulden vorgehalten. Herr KollegeEichel wird gleich zum Schuldenstand Stellung nehmen:zu den 620 Milliarden Euro, die wir von Ihnen übernom-men haben – daran waren Sie als FDP ja auch beteiligt;das nur zur Erinnerung –, und den 50 Milliarden, die wirin den letzten vier Jahren zu verantworten hatten. Wir sindauf einem Pfad, auf dem wir einen Vergleich mit Ihnenund Ihrer Arbeit nicht scheuen müssen.
Darin können sich unsere Diskussionen und Bemühun-gen aber nicht erschöpfen. Wir brauchen eine soziale Be-wegung, die das Thema Arbeitslosigkeit endlich so auf-greift, wie es aufgenommen werden muss. Wenn wir mitdem, was wir tagtäglich sagen, Recht haben, und diestatsächlich das wichtigste Thema ist – die Bürgerinnenund Bürger sagen dies auch –, dann werden wir mit die-sem Thema offensichtlich anders umgehen müssen, alswir in den letzten 15 Jahren mit ihm umgegangen sind.Das ist die Kernantwort.
Bundesminister Wolfgang Clement
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Bundesminister Wolfgang ClementWir werden Bewegung ins Land bringen müssen. Dazuhaben wir die ersten Hartz-Gesetze auf den Weg gebracht.Diese Veränderungen sind aber erst der Beginn eines Pro-zesses. Wir werden in Gang setzen, was zur Förderung desMittelstandes benötigt wird. Wir brauchen in Deutschlandeine neue Unternehmensstruktur.
– Frau Kollegin Wöhrl, das ist so; das wissen Sie auch.Die Unternehmensstruktur in Deutschland ist, was Unter-nehmensgründungen und Selbstständigenquote angeht,im Vergleich mit fast allen anderen europäischen Volks-wirtschaften langweilig. Diese Situation müssen und wol-len wir ändern; dazu haben wir Initiativen auf den Weg ge-bracht. Weitere werden folgen.Dann freue ich mich auf die Diskussion über die Fak-ten, Herr Kollege Brüderle. Wir brauchen uns nicht imKostüm – diese Zeit kommt erst noch – und nicht virtuellzu zeigen. „Fakten, Fakten, Fakten“, schreibt ein Maga-zin, von dem ich hoffe, dass es sich öfter daran haltenwird.– Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Austermann
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das neueJahr fängt an, wie das alte aufgehört hat: Chaos auf derRegierungsbank, Durcheinanderreden, Geschwätz undMaßnahmen, die die Wirtschaftskraft des Landes beein-trächtigen und ihr nicht nützen. Der Wirtschaftsministerredet wie jemand, der weiß, wie es geht. Aber er tut dasGegenteil dessen, was zu tun ist.Ich nehme ein ganz konkretes Beispiel. Es wird einProgramm zur Förderung des Mittelstandes angekündigt,das ein Volumen von etwa 50 Millionen Euro hat. Dem-gegenüber wird die Wirtschaft, werden Bürger und Be-triebe in den nächsten vier Jahren mit zusätzlichen Belas-tungen in Höhe von etwa 100 Milliarden Euro überzogen.Ein großer Teil der Belastungen besteht aus Steuererhö-hungen, die Sie vorgesehen haben.Ein Papier, das im Kanzleramt erarbeitet wurde, endetmit folgenden Worten:Die Bundesregierung wird mit ihrer makroökono-misch konsistenten Wirtschaftspolitik die Wachs-tumskräfte wieder entfesseln und knüpft dabei anihre erfolgreiche Politik der Zeit nach Lafontaine an,
die durch exogene Schocks im Jahre 2001 und denharten Wahlkampf 2002 unterbrochen wurde.
– Ich weiß auch nicht. – Etwas weiter vorne heißt es indem Papier:Es ist die Aufgabe, Vertrauen zu schaffen. Es mussder Bundesregierung gelingen, dass die MenschenVertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politikzurückgewinnen.Das enthält die Feststellung, dass die Bürger und Betriebezurzeit kein Vertrauen haben. Angesichts dessen reicht esauch nicht aus, wenn der Wirtschafts- und Arbeitsministerden Gute-Laune-Bär macht, zumal dies in einem gewis-sen Kontrast zu seinem Gesichtsausdruck steht, wenn erhier vorne redet.
Es ist die Frage, ob die konkreten Maßnahmen, die inDeutschland von der Regierung getroffen worden sindund getroffen werden, dazu beitragen, wieder wirtschaft-liches Vertrauen zu schaffen und Investitionen zu gene-rieren. Es gibt – Sie haben es angesprochen – eine hoheSparquote. Es ist Geld vorhanden, auch für den Konsum.Auch die Firmen sind durchaus in der Lage, zu investie-ren. Aber sie tun es nicht, weil sie nicht wissen, welcheKeule am nächsten Tag von der Regierung geschwungenwird. Herr Clement, Sie sind auch ein Keulenschwinger;
denn bisher haben Sie sich in vielen Dingen versucht, aberSie haben nicht dazu beigetragen, weitere Steuererhöhun-gen zu verhindern.In dem Papier aus dem Kanzleramt heißt es:Dabei lautet die gewaltige Herausforderung, gleich-zeitig Abgaben- und Steuersenkungen mit Haus-haltskonsolidierung und mehr Investitionen in Zu-kunftsbereiche zu verbinden.Warum machen Sie dann das Gegenteil? Warum erhöhenSie pausenlos die Steuern und Abgaben? Warum belastenSie die Menschen immer mehr?Der Bundesfinanzminister freut sich nun über ein an-geblich gutes Ergebnis im letzten Jahr. Er hat seine Pro-gnose von vor vier Wochen korrigiert. Herr Eichel ist fürdie höchste Verschuldung der letzten vier Jahre verant-wortlich. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass in denletzten vier Jahren unter Ihrer Regierung 70 MilliardenEuro mehr an Steuern eingenommen worden sind, dannist, glaube ich, klar, wo das eigentliche Problem liegt.Die Arbeitslosenzahlen steigen. Was sagt HerrClement? – Er behauptet, die Arbeitslosenzahlen sinken.Der Gute-Laune-Bär hat gesprochen. Herr Clement, Siehaben außerdem gesagt, dass Sie an der Prognose von1,5 Prozent Wachstum in diesem Jahr festhalten wollten.Der Gute-Laune-Bär hat gesprochen. Die Realität siehtganz anders aus. Das Bundeskanzleramt hat den Entwurfdes Jahreswirtschaftsberichts dem Ministerium zurückge-schickt, weil dort, glaube ich, ein Wirtschaftswachstumvon 0,6 Prozent in diesem Jahr unterstellt worden ist. Daswar also nicht die böse Opposition, sondern es waren die
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1405
Fachleute aus dem Ministerium. Die Grundsatzabteilung– man weiß im Moment nicht genau, wo sie sitzt; wahr-scheinlich auf der Straße – hat auf jeden Fall den besserenBlick für die Realität.Was bedeutet das für die Einnahmen des Staates unddie Entwicklung der Arbeitslosenzahl? Der Bundeskanz-ler hat gestern gesagt – da hat wieder der Gute-Laune-Bärgesprochen –: Ein um 1 Prozentpunkt geringeres Wirt-schaftswachstum bedeutet Einnahmeeinbußen von 1 Mil-liarde Euro. So etwas hat in den letzten zehn Jahren nochnicht einmal jemand von der Koalition vertreten; denn dasist so falsch wie nur irgendetwas. Wenn die Entwicklungso weitergeht – Sie tun bislang nichts, um in die Entwick-lung korrigierend einzugreifen –, werden Ihnen Einnah-men in zweistelliger Milliardenhöhe fehlen. Die 18,9 Mil-liarden Euro glauben Sie doch selber nicht. Hier findetnach dem ersten Wahlbetrug vor der Bundestagswahl ge-rade der zweite Wahlbetrug vor den Landtagswahlen inNiedersachsen und Hessen statt.
Möglicherweise wird die Veröffentlichung des Jahres-wirtschaftsberichts auch verschoben, weil die Wahrheitvor dem entscheidenden Termin, an dem die Bürger zurWahlurne gerufen werden, nicht passt. Ich sage Ihnennoch einmal: Wir werden es nicht zulassen, dass Sie stän-dig falsche Prognosen abgeben und Maßnahmen treffen,die die Bürger belasten, ihnen die Investitionsfreude neh-men und dazu beitragen, dass die Lage schlechter wird,aber gleichzeitig den Eindruck vermitteln, es laufe allesgut und man wolle so weitermachen. Nein, Sie müssen sobald als möglich eine Kurskorrektur vornehmen. Sonstmüssen wir Sie über den Bundesrat zur Vernunft bringen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Hermenau vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!Beginnen wir doch mit dem Schaffen von Vertrauen beiden Kollegen von der CDU/CSU. Sie haben geradeHerrn Austermann sprechen lassen, der im Allgemeinendafür bekannt ist, schwierige Dinge vorauszusagen. Dastut er nun schon seit vier Jahren. Im letzten Jahr hat erzufällig einmal Recht gehabt. Das hält er schon für einenErfolg.
Lassen wir einmal Herrn Ministerpräsidenten Milbradtzu Wort kommen. Er, der lange Zeit Finanzprofessor undFinanzminister in Sachsen gewesen ist und der nun seit ei-niger Zeit Ministerpräsident in Sachsen ist, hat sich zurheutigen Debatte schriftlich geäußert, da er nicht hier seinkann. Er stellt Folgendes fest: Die Länder sollen denSparkurs der Bundesregierung unterstützen.
– Genau, hört, hört! – Er stellt des Weiteren fest: Es müs-sen Sanktionen in den nationalen Stabilitätspakt einge-baut werden, wenn die Länder den Schuldenspielraumüberschreiten. Sachsen hat es mit seinem Budget ge-schafft, die Kriterien des nationalen Stabilitätspakts ein-zuhalten und die 3-Prozent-Latte nicht zu reißen. Dasmüssen auch andere Länder schaffen.
Wenn das so ist, dann haben Sie im Bundesrat eine be-sondere Verantwortung. Wir werden uns gerne ansehen,wie Sie diese wahrnehmen werden. Sie wollen zum Bei-spiel den vorgenommenen Abbau bestimmter Steuerver-günstigungen zurücknehmen, weil Sie der Meinung sind,dass dies eine zu große Belastung zum Beispiel für dieDienstwagenbesitzer sei. Das ist im Prinzip der alte Gra-ben, in dem Sie sich immer tummeln. Die üblichen Ver-dächtigen haben sich wieder zu Wort gemeldet. HerrSommer von der Gewerkschaft schlägt beispielsweiseeine Mehrwertsteuererhöhung vor. Reformunwillen undReformvermeidungsstrategien gibt es aufseiten der Ge-werkschaften genauso wie aufseiten der Wirtschaftslob-byverbände.Ein Lobbyverband wie der andere will die Reform ver-hindern.
Sie gehen diesen auf den Leim und nehmen Ihre nationaleVerantwortung nicht wahr. Sie tönen so herum, weil Siedenken, dass Sie hier Ihr Lehrbuchwissen anwenden kön-nen. Sie zitieren aber nur den halben Keynes. Sie machenVorschläge zum antizyklischen Verhalten und haben of-fenbar vergessen, dass Sie, als Sie regiert haben, den ers-ten Halbsatz von Keynes nie eingehalten haben. Keyneshat gesagt: Man soll in guten Zeiten etwas zur Seite legen,damit man in schlechten Zeiten, in der Krise, antizyklischagieren und etwas hineinbuttern kann.
Ich würde mich gern so verhalten. Das geht aber nicht,weil über Jahrzehnte hinweg nicht antizyklisch, nicht ent-sprechend Keynes agiert und etwas weggelegt worden ist,was man in Krisenzeiten einspeisen kann.
Das strukturelle Defizit, das wir haben, ist als Kollektiv-leistung über Jahrzehnte aufgebaut worden und jetzt willkeiner den Dreck wegräumen. So sieht es aus!
Gucken Sie sich einmal an, was zum Beispiel im Bereichder Ausrüstungsinvestitionen gelaufen ist! Die Wirtschafts-forschungsinstitute wollen versuchen, ihren Ruf, der rui-niert ist, weil sie im letzten Jahr in allen Bereichen so gran-dios daneben gelegen haben, wiederherzustellen. Auch dieAusrüstungsinvestitionen haben die Institute um ein Viel-faches höher geschätzt, als sie tatsächlich eingetreten sind.Dietrich Austermann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Antje HermenauWoran liegt das? Das liegt auch daran, dass Leute von Ih-nen versucht haben, die Hoffnung zu wecken, Rot-Grünwerde abgewählt. Sie haben gesagt: Haltet euch mit denAusrüstungsinvestitionen zurück! Dafür müsst ihr jetztkein Geld ausgeben. Wenn wir wieder regieren, brauchtihr nicht mehr zu sparen und könnt wieder aus dem Vollenschöpfen. – Was wir dem Herrn Sommer nicht durchge-hen lassen, nämlich die Strukturreformen zu verschieben,lassen wir auch Ihnen nicht durchgehen, wenn Sie dieWirtschaftsverbände bedienen wollen. Wir dürfen nichtwieder in die alten Gräben zurückgehen.
Bei einer volkswirtschaftlichen Güterabwägung ist esdoch offensichtlich, dass es vernünftig ist, eine verläss-liche Finanzpolitik fortzuführen, die man seit Jahren ver-folgt hat.
Wenn es aufgrund besonderer Umstände – zum struktu-rellen Problem ist noch ein konjunkturelles Problem ge-kommen – einmal einen Ausreißer gegeben hat, dann mussman das zur Kenntnis nehmen, darf aber nicht so tun, alsob das ein Kurswechsel gewesen wäre. Wir werden ver-suchen, das weiter in den Griff zu bekommen. Sie müssensich entscheiden, ob Sie sich an dem Prozess beteiligenwollen. Der Bundesrat ist die erste Hürde. Sie können an-dere Vorschläge machen. Wir hören uns die gern an. Wennsie vernünftig sind, werden sie auch bestimmt aufgenom-men. Die Endsumme muss aber stimmen. Da ist Ihre Ver-antwortung mit gefragt. Wir werden sehen, was Sie außerall den Androhungen und Ankündigungen auf den Tischlegen. Das Vertrauen und die Stimmung im Lande
haben auch etwas mit Ihrem Verhalten als Opposition zutun. Das müssen Sie sich anrechnen lassen, ob Ihnen dasgefällt oder nicht. Wir werden Sie an Ihren Taten und nichtan Ihrem Geschwätz messen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele von
der FDP-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! „Kaum versprochen – schongebrochen“,
das ist die Devise, mit der die rot-grüne Bundesregierungnach der Wahl den Kurs der Volksverdummung in unse-rem Land vor der Wahl fortgesetzt hat. Es hat noch keineBundesregierung gegeben, in der ein amtierender Finanz-minister vor der Wahl die Situation unseres Landes schön-geredet hat – Zitate: Wir werden das Defizitkriterium ein-halten; wir werden die Neuverschuldung senken; wirwerden 2,5 Prozent Wachstum haben –, nach der Wahleinräumen musste, dass alles, was er vor der Wahl erklärthat, falsch war, und als amtierender Finanzminister alserste Amtshandlung einen Kassensturz vornehmenmusste. Herr Minister Eichel, wozu haben Sie denn IhreTausende von Mitarbeitern im Finanzministerium, wenndie nicht rechnen können und Ihnen vorher angeblichkomplett falsche Zahlen vorgelegt haben?
Dieses Verfahren, das vor der Bundestagswahl Mittelder Politik von Rot-Grün war, wird Anfang dieses Jahresnahtlos fortgesetzt. Es glaubt doch kein Mensch, dass beiniedrigerem Wachstum und steigender Arbeitslosigkeitauf Rekordhöhe der Zuschuss der Bundesanstalt für Arbeitvon fast 6 Milliarden Euro auf null gesenkt werden kann.Bundeswirtschaftsminister Clement sagte vorgestern,bei dieser Situation könne man ein bisschen höhere Neu-verschuldung in Kauf nehmen. Zeitgleich schloss auchder Sprecher von Bundesfinanzminister Hans Eichel einehöhere Neuverschuldung in diesem Jahr nicht mehr aus.Nachdem diese Aussage öffentlich verrissen wurde, er-klärten einen Tag später, gestern, 19 Tage vor den Land-tagswahlen in Niedersachsen und Hessen, der Bundes-kanzler und der Bundesfinanzminister, dass eine höhereNeuverschuldung in diesem Jahr auf keinen Fall stattfin-den werde. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb am selbenTag zu Recht – Zitat –:Nach aller Erfahrung darf man jetzt keine Äußerungenmehr wörtlich nehmen von wichtigen Politikern ...Es ist doch völlig klar, dass das Wort von BundeskanzlerSchröder und Bundesfinanzminister Eichel vom gestrigenTag in wenigen Wochen schon keinen Pfifferling mehrwert sein wird. Ein neues Täuschungsmanöver von Rot-Grün bahnt sich an. Zum Glück durchschauen die Wählerdieses Täuschungsmanöver; denn noch einmal werden siesich von vollmundigen Versprechungen nicht hinter dieFichte führen lassen.
– Danke. Das warten wir ab.
Zeitgleich mit dieser Aktuellen Stunde des DeutschenBundestages findet oben, im Sitzungssaal der SPD-Frak-tion, eine öffentliche Anhörung des Finanzausschussesüber das so genannte Steuervergünstigungsabbaugesetzstatt. Durch dieses Gesetz sollen die Bürger zusätzlich mit17 000 Millionen Euro im Jahr belastet werden.
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– Ich verweise auf das Entstehungsjahr, Herr Finanzmi-nister. Ich habe die entsprechenden Unterlagen dabei.Wenn Sie sie nicht kennen, dann gebe ich sie Ihnen gerne.Was Sie vorhaben, ist ein Anschlag auf die Wirtschaftunseres Landes. Der einhellige Tenor der Äußerungen derSachverständigen dort oben war die Aufforderung, diesesGesetz am besten sofort zurückzuziehen, damit es nichtnoch weiteren Schaden in unserem Lande anrichtet; denndieses Gesetz ist die Ursache dafür, dass überhaupt keineVerlässlichkeit, überhaupt keine Planbarkeit da ist unddass es sich überhaupt nicht lohnt, zu investieren und fürdie Zukunft dieses Landes, also Deutschlands, zu arbei-ten. Das sind die Rahmenbedingungen, die Sie momentansetzen. Diese Rahmenbedingungen sind total daneben;denn nur mit immer mehr Steuern wird keine Konjunkturbeflügelt und werden auch keine Arbeitslosen von derStraße geholt.
Gestern wurde bejubelt, dass die Neuverschuldungnicht ganz ausgeschöpft worden ist. Man muss daran er-innern, dass Sie, Herr Minister Eichel, die Neuverschul-dung erst im Dezember im Nachtragshaushalt um13,5 Milliarden Euro auf 34,6 Milliarden Euro erhöht ha-ben. Nun freut man sich darüber – das tun auch wir –, dassdiese Erhöhung nicht ganz in Anspruch genommenwurde. Man hat aber verschwiegen, dass die Neuver-schuldung um über 10 Milliarden höher war, als es denWählern vor der Bundestagswahl gesagt wurde.
Das sind die Fakten, Herr Finanzminister. Ich freue mich,dass Sie gleich sprechen, weil Sie dann zu den FaktenStellung nehmen können.Tatsache ist: In den letzten vier Jahren, unter Rot-Grün,unter Finanzminister Lafontaine und unter FinanzministerEichel hat die Neuverschuldung des Bundes um insge-samt 105Milliarden Euro zugenommen. Im Jahr 1999 hatsie um 26,1 Milliarden Euro, im Jahr 2000 um 23,8 Mil-liarden Euro, im Jahr 2001 um 22,8 Milliarden Euro undim vergangenen Jahr um 32,3 Milliarden Euro zugenom-men. Das sind die Fakten, Herr Finanzminister!Zeitgleich erleben wir einen Ministerpräsidenten inNiedersachsen, der total nervös ist. Er beschäftigt sich inder Endphase seiner Regierungszeit mit dem Steuerrecht,in der Hoffnung, dass auch ihm das Schicksal widerfährt,das in der Vergangenheit abgewählten SPD-Ministerprä-sidenten widerfahren ist, nämlich ins Bundeskabinett ein-zuziehen und möglicherweise sogar Finanzminister zuwerden, also Ihren Stuhl einzunehmen.
Herr Kollege Thiele, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Zum einen wird von ihm erklärt: Wir brauchen die Ver-
mögensteuer. Dann wird gesagt: Nein, wir brauchen sie
doch nicht; mit einer niedrigen Zinsabgeltungsteuer be-
kommen wir genauso viel Geld. Dann sagt Herr Gabriel:
Die Verschiebung der Steuerreform zur Finanzierung der
Folgen der Flutkatastrophe muss zurückgenommen wer-
den. Jetzt erklärt er: Ab dem 1. Juli sollen die Bürger über
das Einkommensteuerrecht entlastet werden. – Das ist
technisch überhaupt nicht machbar. Das ist grober Unfug.
Das zeigt auch, wie blank die Nerven bei der SPD liegen.
Das wird bis zum Wahltag so bleiben und vermutlich wird
es auch danach so sein, weil es in Niedersachsen einen
Regierungswechsel geben wird.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Hans Eichel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Diese Debatte ist schon verwunderlich. Man machthier nicht nur Prognosen, sondern auch prognostiziertePrognosen. Das ist das, was Sie auf die Tagesordnung ge-setzt haben.
Daran erkennt man den ganzen Wahrheitsgehalt IhrerBeiträge in dieser Debatte.Wie schwierig Prognosen sind, das haben wir erlebt.Lieber Herr Austermann, hätten Sie sich doch wenigstens14 Tage vor Ende des Jahres nicht noch an eine Prognosegewagt. Sie haben sich um 8 Milliarden Euro verschätzt.8 Milliarden Euro ist ein absoluter Rekord bei derFehlaufstellung einer Prognose für den Zeitraum von un-gefähr 14 Tagen.
Ihre Schätzung hier am 19. Dezember lag bei 40 Mil-liarden Euro. Es sind knapp 32 Milliarden Euro, genau31,8 Milliarden Euro, geworden. Im Vergleich dazu wa-ren die Steuerschätzer toll, die sich sieben Wochen vor-her nämlich nur um 1,3 Milliarden Euro verschätzt ha-ben. Diese 1,3 Milliarden Euro verbuche ich auf derHabenseite. Ein Jahr davor haben sich die Steuerschätzerum 3 Milliarden vertan, ebenfalls sieben Wochen vorher.Da sieht man einmal, was von Ihren Prognosen zu haltenist.
Deswegen, meine Damen und Herren, bleibt es dabei: Soschlimm wie Sie hat sich überhaupt noch niemand ver-schätzt.Wir erstellen dreimal im Jahr eine Prognose:
Carl-Ludwig Thiele
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Bundesminister Hans Eichelerstens zum Jahreswirtschaftsbericht unter Federführungdes Wirtschaftsministers pünktlich zum 29. Januar, zwei-tens zur Mai-Steuerschätzung und drittens zur November-Steuerschätzung. Diese gelten jeweils bis zur nächstenPrognose. In der Zwischenzeit beobachten wir die Lageund veröffentlichen alle Zahlen. Bei dem Risiko von Fehl-einschätzungen, das anhand Ihrer Schätzung ja drastischdeutlich geworden ist, erstellen wir zwischendurch keineneuen Prognosen. Dabei wird es auch bleiben. So war esfrüher und so bleibt es auch.Nun sind wir bei dem Diskussionspunkt des heutigenTages: Im Herbst, als wir zur November-Steuerschätzung1,5 Prozent Wirtschaftswachstum prognostiziert haben,lagen wir damit am unteren Ende des Prognosespektrums.Im Moment liegen die Prognosen der Institute – KollegeClement hat sich ja dazu auch schon geäußert – zwischen0,6 und 1,1 Prozent. Die der internationalen Organisatio-nen liegen übrigens überwiegend höher: Die EU-Kom-mission prognostiziert 1,4, die OECD kurz vor Weih-nachten 1,5, der IWF – ich sage: noch – 1,75. Das mussman aber, bitte schön, werten. Dazu wird die Bundes-regierung Ende des Monats unter Federführung des Wirt-schaftsministers ihre Prognose aufstellen, und die wirdsich, wie Kollege Clement erklärt hat, natürlich unter ge-nauer Beobachtung der Lage, irgendwo dazwischen be-wegen.Ich sage dazu, meine Damen und Herren, um den Blicknun auf die Frage, was das für die Staatsverschuldung be-deutet, zu lenken: Wir haben den Haushalt unter Zugrunde-legung einer Prognose von 1,5 Prozent aufgestellt; dabeihaben wir große Anstrengungen unternommen, um in die-sem Jahr das Drei-Prozent-Kriterium zu unterschreiten.Es ist ja spannend, einmal von Ihnen zu hören, ob die Er-reichung dieses Ziels, wie es übrigens auch die Länderund Herr Kollege Milbradt, der sich dazu sehr positiv ineinem Interview geäußert hat, mittragen – das will ichausdrücklich unterstreichen –, auch Ihre Position ist.Denn wenn wir alles daran setzen wollen, dieses Jahr wie-der unter 3 Prozent zu kommen, müssen wir eine Reihevon Maßnahmen ergreifen.
– Genau das tun wir; so schnell wie dieses Mal sind bis-her selten Gesetze gemacht worden. –
So sehen wir zum Beispiel in der Tat für die Bundesanstaltfür Arbeit – das ist eine riesige Herausforderung und hängteng mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes zusammen –keinen Zuschuss vor. Die Verabredung zwischen HerrnKollegen Clement und mir lautet: Dabei bleibt es auch.
Das ist eine harte Arbeit; dies gilt auch für andere Struktur-reformen, zum Beispiel im Gesundheitswesen und bezüg-lich der Entbürokratisierung, die wir dieses Jahr bewältigenmüssen und die insbesondere durch Sofortmaßnahmen derKollegin Schmidt eingeleitet wurden. Das musste sein,auch wenn Sie nicht alles mitgetragen haben.In den Zusammenhang gehört natürlich auch – denndie Frage der Gesamtverschuldung betrifft ja nicht nurden Bundeshaushalt, sondern auch die Länder- und Kom-munalhaushalte sowie die sozialen Sicherungssysteme –,dass alle an einem Strang ziehen. Wir haben ein in sichschlüssiges Konzept auf den Tisch gelegt, zu dem auch– das ist der kleinste Teil in diesem Jahr – das Gesetz zumAbbau von Steuervergünstigungen gehört. Da haben sichnun alle Lobbyisten zu Wort gemeldet. Das kann ich auchverstehen. Die Frage ist ja nur, ob man so etwas hinnimmt.Ich halte ausdrücklich fest – wir werden das ja nächsteWoche im Ecofin behandeln und haben dazu jetzt denVorbericht –, dass die Kommission ganz klar sagt, dassalle Maßnahmen, die die Koalition vorgelegt hat, samtund sonders beschlossen werden müssen, bzw. wenigs-tens solche mit gleicher Wirkung. Sie können sich danicht herausstehlen und sagen, Sie machten das nicht mit.Spätestens dort, wo Sie zur Mehrheitsbildung gebrauchtwerden, nämlich im Bundesrat, tragen Sie Mitverantwor-tung – es gibt ja die Finanzautonomie der Länder – undmüssen Sie Ihren Beitrag leisten. Sie müssen dann erklä-ren, wie Sie damit umgehen wollen. Wenn Sie etwas nichtmitmachen wollen, müssen Sie erklären, was Sie stattdes-sen machen wollen. Aus dieser Situation kommen Sieüberhaupt nicht heraus. Täuschen Sie sich da mal nicht.Sie können vielleicht den Versuch unternehmen, sich po-litisch über den 2. Februar zu retten. Unser Konzept liegtauf dem Tisch. Sie stehen doch vor der Frage, was Sie ei-gentlich wollen.
Wenn Sie nur ohne jegliche Verantwortung Oppositions-arbeit machen müssten – das meine ich gar nicht nega-tiv –, müssten Sie das nicht beantworten. Im Bundesrat,meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen Sie dasaber beantworten.Ich finde es übrigens in diesem Zusammenhang hochspannend, was in Hessen geschieht: Obwohl der Bundes-haushalt durch geringere Steuereinnahmen auf der Ein-nahmeseite und aufgrund der Situation auf dem Arbeits-markt auf der Ausgabenseite getroffen ist, die Länder abernur auf der Einnahmeseite Einbußen hinnehmen müssen,haben wir ein um 50 Prozent erhöhtes Defizit – natürlichist das keine Freude; wer sagt denn so etwas auch? –,während es die Hessen glatt geschafft haben, ihr Defizitum 130 Prozent zu erhöhen. Das muss mir einmal jemanderklären, wie so etwas geht.
Angesichts des hessischen Haushaltes des Jahres 2003ist es bemerkenswert, was Sie hier alles ablehnen. Er ver-zeichnet auf der Einnahmeseite ein Plus von 140 Mil-lionen Euro wegen Steuerrechtsänderungen. Auf die Frage,wo dieses Plus herkomme, sagt der hessische Finanzminis-ter, das sei durch die Körperschaftsteuerreform begründet.
Das gesamte Steuervergünstigungsabbaugesetz bringt fürHessen in diesem Jahr 122 Millionen Euro. Es kann also
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nicht sein, dass allein durch die Körperschaftsteuerreform140 Millionen Euro eingenommen werden!
Fast dasselbe kann man im Saarland beobachten; dortwurden ähnliche Summen veranschlagt. Wie passt das ei-gentlich mit Ihrer Aussage zusammen, dass Sie dem allennicht zustimmen wollen?
Was wollen Sie denn stattdessen machen? Die 140 Mil-lionen Euro Einnahmen aufgrund von Steuerrechtsän-derungen im hessischen Haushalt müssen Sie einmal er-klären.So unredlich ist Ihre Debatte.
Sie wissen auch, dass Sie zwar im Bundestag so tönenkönnen, dass Sie in Wirklichkeit aber nicht umhinkom-men, Ihre Verantwortung wahrzunehmen.
Führen Sie die Menschen nicht so hinters Licht!Die letzte Bemerkung, meine Damen und Herren. Esbleibt dabei: Wenn sich die Korrekturprognose in demUmfeld bewegt, das man jetzt erkennen kann, dann brau-chen wir keine Diskussion über eine Erhöhung der Neu-verschuldung. Dann geht es um Größenordnungen, die ineinem Haushalt von 250 Milliarden Euro beherrschbarsein müssen. Deswegen werden Sie uns von einem nichtabbringen: Der Konsolidierungskurs – darin sind wir völ-lig einig – wird konsequent weitergefahren. Es wäre einÜbel, unseren Kindern und Enkelkindern riesige Schul-denberge zu hinterlassen.
Entscheidend ist aber auch, dass die Schulden – auchdarüber herrscht völlige Einigkeit zwischen Herrn Kolle-gen Clement, mir und allen anderen in der Regierung –konjunkturell eingepasst werden müssen, dass man nichtin einer Schwächephase wie im vergangenen Jahr zusätz-liche Einsparungen vornimmt. Das haben übrigens auchweder die Stabilitätswächter in Brüssel noch jemand vonder Europäischen Zentralbank verlangt. Es bedeutet aber,dass wir uns, wenn wir einen neuen Haushalt aufstellen,der Situation neu stellen müssen.Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach michnicht nass“ kann man hier nicht vorgehen. Dass zwar beiden Arbeitslosenhilfeempfängern Mittel gestrichen wer-den sollen – was wir tun und was wir auch vertreten kön-nen, weil es notwendig ist –, aber alle anderen, auch dieBezieher höherer Einkommen, keinen Beitrag leistenmüssen, das können Sie den Leuten ja bis zum 2. Februarerzählen. Aber sie werden es Ihnen nicht glauben. Dasweiß ich aus den Versammlungen, die ich besucht habe.
Es ist auch schlicht nicht die Wahrheit, meine Damen undHerren.Kehren Sie endlich zu einer realen Debatte zurück,nicht über prognostizierte Prognosen, sondern vor allem,Herr Kollege Brüderle – Ihre Partei ist ja in ein paar Lan-desregierungen vertreten –, über das, was Sie dort an Ver-antwortung wahrnehmen wollen – wenn Sie sie wirklichwahrnehmen wollen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Merz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Vielleicht können wir in der Kürze der zur Verfügungstehenden Zeit doch einmal auf den eigentlichen Auslöserdieser Aktuellen Stunde zurückkommen. Auslöser ist nichtdas Fehlverhalten der Opposition, meine Damen und Her-ren von der Regierung und Frau Hermenau, sondern Aus-löser sind die Äußerungen verschiedener Mitglieder derBundesregierung in den letzten Tagen,
insbesondere die Äußerungen von Herrn Bundeswirt-schaftsminister Clement, der zum einen, wohl unter demDruck der Wirklichkeit, seine eigene Wachstumspro-gnose, die er noch zu Beginn des Jahres mit 1,5 Prozentangegeben hat, jetzt nach unten revidiert hat. Zum ande-ren haben Sie, Herr Clement, am vergangenen Sonntag-abend in einem Halbsatz die gesamte Politik Ihres Kolle-gen Eichel bezüglich Einsparungen im Bundeshaushaltzur Seite gewischt und dem staunenden deutschen Volkerklärt, ein bisschen mehr Neuverschuldung könne esschon sein.
Das sind die Auslöser dieser Aktuellen Stunde!
Herr Clement, zur Arbeitsmarktpolitik werde ichgleich etwas sagen. Lassen Sie mich an dieser Stelle aberzunächst mit zwei Märchen, die auch in dieser AktuellenStunde wieder verbreitet werden, einmal kurz aufräumen;deshalb erst zu Ihnen, Herr Eichel.Erstens. Sie stellen sich hier hin und behaupten allenErnstes, dass Sie auf dem Weg wären, die Politik derHaushaltskonsolidierung und der Einsparungen fortzuset-zen.
Bundesminister Hans Eichel
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Friedrich MerzIch erlaube mir zu sagen: Wenn Sie während Ihrer Redeeinen Lügendetektor getragen hätten, dann wären selbstbei einem Gerät einfachster Bauart sämtliche Sicherungendurchgebrannt.
Was Sie sagen, ist doch unglaublich.Ich trage aus Ihrem letzten Monatsbericht vor, HerrEichel. Sie haben im Jahre 2002 eine über 10 Milliar-den Euro höhere Neuverschuldung hinterlassen, als Sieam Anfang des Jahres ursprünglich geplant hatten. Ges-tern haben Sie auf einer Pressekonferenz gesagt, es seiendoch 2,8 Milliarden Euro weniger gewesen.
Von den über 31 Milliarden Euro Neuverschuldung, dieSie im letzten Jahr zu verantworten haben, ist nicht dieRede gewesen. Sie haben wieder einmal versucht, die Öf-fentlichkeit über die tatsächliche Lage der Staatsfinanzenin Deutschland zu täuschen.
Zweitens. In Ihrem Monatsbericht vom Dezember2002 sind die entscheidenden Zahlen enthalten. Sie wer-den im nächsten Jahr eine Gesamtverschuldung des Bun-des von über 800 Milliarden Euro zu verantworten haben.Die Staatsverschuldung in Deutschland galoppiert unterIhrer Verantwortung weiter nach oben. Eine Verschuldungallein des Bundes in Höhe von 800 Milliarden Euro be-deutet, dass Sie nicht nur das 3-Prozent-Kriterium desMaastricht-Vertrages in diesem Jahr verletzen werden.Sie haben es schon im letzten Jahr verletzt, obwohl Siedas bis zum Sommer des letzten Jahres bestritten haben.Sie geben in diesem Monatsbericht zu, dass Sie noch einweiteres Kriterium, nämlich jenes, das den Gesamtschul-denstand betrifft, verletzen werden. Der Gesamtschulden-stand der Bundesrepublik Deutschland wird unter IhrerVerantwortung im Jahr 2003 deutlich über der erlaubtenGrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes lie-gen. Das ist Ihre Finanzpolitik, von der Sie hier immernoch behaupten, sie sei seriös.
Herr Clement, wir sind uns einig darüber, dass eine Po-litik für mehr Wachstum und Beschäftigung einsetzenmüsste. Das eigentliche Problem unserer Volkswirtschaftist doch eine lang anhaltende, strukturell begründeteWachstums- und Beschäftigungskrise. Bitte hören Sieauf, zu glauben, dass mit kleinen Mittelstandsprogram-men diese Probleme nun gelöst werden könnten. Diestrukturellen Probleme sind nicht gelöst. In Ihren Nach-barn auf der Regierungsbank, Herrn Eichel, haben wir alleHoffnung verloren. Aber mit Ihnen verbinden wir noch ei-nen Rest von Hoffnung.Solange diese Bundesregierung nicht versteht, dass esvor dem Hintergrund einer geradezu dramatischen de-mographischen Entwicklung in Deutschland eine sichgegenseitig verschärfende Wechselwirkung von immerhöheren Steuern, von immer höheren Sozialversiche-rungsbeiträgen, von immer höherer Verschuldung undvon immer höherer Arbeitslosigkeit gibt, und solange Siediese Gesamtzusammenhänge nicht nur nicht verstehen,sondern auch aktiv leugnen, kann es einem nur eiskalt denRücken herunterlaufen, wenn man Vertreter der Bundes-regierung in diesen Tagen über Wirtschaft und Beschäf-tigung reden hört.
Herr Eichel, meine Schlussbemerkung beschäftigt sichmit der Scheinalternative, vor die Sie uns, wie auch ge-rade eben, immer wieder stellen. Es geht aber nicht um dieAlternative „mehr Verschuldung oder höhere Steuern“.Damit wollen Sie uns die für Ihre Maßnahmen notwen-dige Zustimmung im Bundesrat abpressen.Es gibt eine andere Alternative. Der richtige Wegsind grundlegende Reformen des Arbeitsmarktes, diedie EU-Kommission, die OECD und andere Organisa-tionen – bis jetzt allerdings ergebnislos – von Ihnen ver-langen. Wir haben Ihnen konkrete Vorschläge gemacht:betriebliche Bündnisse für Arbeit, grundlegende Refor-men der Krankenversicherung und der Rentenversiche-rung.
Sie haben aufgrund der ungelösten Probleme bei derRente in Ihren Haushalt mittlerweile einen Zuschuss von77 Milliarden Euro für die Rentenversicherung einge-stellt. Wenn Sie immer nur meinen, über höhere Abgaben,höhere Steuern, höhere Verschuldung und höhere Arbeits-losigkeit aus der Abwärtsspirale herauszukommen, dannist das eine große Täuschung. Im günstigsten Fall ist eseine Selbsttäuschung; im schlimmsten Fall ist es eineTäuschung der deutschen Öffentlichkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrgeehrter Herr Kollege Merz, ich bin von Ihrer Rede einbisschen enttäuscht. Neulich hatte ich zum ersten Mal dasGefühl, dass Sie für beide Oppositionsfraktionen etwasRichtiges sagten, als Sie davon sprachen, es gebe Zeitenmit geringem Wachstum, in denen man Steuersenkungenund weitere Geschenke nicht versprechen kann. Da habeich gedacht: Vielleicht lernt die Opposition endlich dazu.Aber heute sehe ich wieder, dass Herr Austermann, HerrBrüderle, Herr Thiele und Sie die Situation permanentschlechtreden, sodass ich mich wirklich frage: Ist derStandort Deutschland bzw. unsere Wirtschaft, auch wennwir ein sehr bescheidenes Wachstum haben, so schlecht?Sind wir wirklich nur handlungsfähig, wenn wir einWachstum von mehr als 2 Prozent haben? Sie sehen dasoffenbar so.
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Wir hingegen sagen sehr klar: Der Standort Deutschlanddarf nicht schlechtgeredet werden. Wir haben eine sehrgute Volkswirtschaft; Minister Clement hat es vorhin ge-sagt. Wir haben die riesigen Lasten der Vereinigung ge-wuppt. Das weitere Abtragen der Schulden, die damit ver-bunden sind, müssen wir in den nächsten Jahren leisten.Das ist eine Priorität, die unser Land in allen Schichtenund auf allen Staatsetagen in der einen oder anderen Formgetragen hat und weiter trägt.Ihnen aber fällt nichts anderes ein, als ständig schlecht-zureden.
Das kann es doch wirklich nicht sein. Darauf hinzuweisenhalte ich an allererster Stelle für wichtig. Sie reden denMenschen ein: Wenn Sie an der Regierung wären, könn-ten Sie gewissermaßen den goldenen Hahn aufdrehen undGeschenke verteilen.
An dieser Stelle lügen Sie – Sie, die uns vorwerfen, diesgetan zu haben, und die deswegen einen Lügenunter-suchungsausschuss einrichten – der Öffentlichkeit vor,Sie könnten bei den jetzigen WachstumsbedingungenSteuersenkungen durchführen,
gleichzeitig Staatsgeschenke verteilen und den Schulden-abbau betreiben. So argumentieren Sie seit Jahr und Tag.
Über den Redebeitrag des Kollegen Merz bin ich des-wegen so enttäuscht.
Denn ich hatte gehofft, endlich würden Sie die Tür öffnenund nachdenklich im Hinblick darauf werden, dass wirgemeinsam der Gesellschaft gegenüber verantwortlichsind und ihr sagen, wie man mit Zeiten knapperen Wachs-tums umgeht.
Um nicht mehr und nicht weniger geht es. Diese Aufgabegehen wir mit Ruhe und Konzentration an.Vieles ist dazu zwar schon gesagt worden. Aber diewesentlichen Dinge werde ich noch einmal ansprechen– denn Sie begreifen sie sonst offenbar nicht –:Erster Punkt. In diesen Zeiten muss das Sparen undKonsolidieren weitergehen.
Denn sonst würden die Schulden und die Zinslasten wei-ter anwachsen. Das wäre für die Wirtschaft kontrapro-duktiv. Von daher sparen und konsolidieren wir weiter,und zwar ganz wesentlich im konsumtiven Bereich. DieBereiche, in denen es darum geht, Investitionen zu stimu-lieren, sparen wir dabei aus. Das ist gut und richtig. Daswerden wir auch weiterhin tun; das haben wir Ihnen schongesagt.
Zweiter Punkt. Nicht Sie, sondern wir haben mit denStrukturreformen begonnen. Denn wir wissen, dass dieLohnnebenkosten bzw. die sozialen Sicherungssystemeein ganz zentraler Punkt sind, um sowohl von den staat-lichen Finanzproblemen herunterzukommen als auch derWirtschaft und der Beschäftigung wieder Impulse zu ge-ben. Von daher ist es nicht richtig, wenn Sie sagen, wir tä-ten hier nichts. Der Lohnnebenkostenabbau ist für uns einzentraler Punkt.Der dritte Punkt betrifft neue Impulse für den Mittel-stand. Wir – nicht Sie – geben sie. Rot-Grün handelt.Jetzt nenne ich einen Punkt, den Bürokratieabbau, vondem ich meine, dass wir hier mehr tun sollten. Es ist wich-tig, weitere Impulse zu geben. Etwas enttäuscht – dasmuss ich schon sagen – bin ich von dem, was die Ge-werkschaften ausgehandelt haben. Denn das belastet unsin neuer Weise sehr.Bei meinem fünften Punkt handelt es sich um einedeutliche Aufforderung an die Banken, die Zinssenkun-gen nicht einfach zu verfrühstücken. Auch das ist einwichtiger Punkt.
Nicht nur wir als Politiker haben Verantwortung, sondernauch die unterschiedlichen wirtschaftlichen Kräfte. Dazugehören die Banken als Allererste.Letzter Punkt. Wir sprechen nicht nur abstrakt überWachstum, sondern geben dem Wachstum eine Richtung.
Die ökologische Innovation ist ein ganz wichtiger Im-puls. Wenn ich mit Baupolitikern spreche, heißt es im-mer: Mehr Neubau! Auf der anderen Seite sollen wirden Abriss des Leerstands im Osten finanzieren. Eskann doch nicht sein, dass wir Wachstum um seinerselbst willen fördern, egal ob es einen Bedarf gibt odernicht. Wir müssen dem eine inhaltliche Richtung geben,die den gesellschaftlichen Notwendigkeiten entspricht.Ein ganz zentraler Punkt ist dabei die ökologische In-novation.In diesem Sinne wird Rot-Grün die inhaltliche Struk-turierung und Innovation der weiteren Wirtschaftsent-wicklung aktiv vorantreiben. Sie von der Opposition soll-ten das nicht ständig mies machen, sondern ein Stück weitdavon lernen.
Franziska Eichstädt-Bohlig
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Ich glaube, es ist inzwischen überall angekommen – liebeKolleginnen und Kollegen von SPD und den Grünen,wenn Sie ehrlich sind, geben Sie zu: auch bei Ihnen –: Esliegt ein Bundeshaushalt vor, der dieses Mal schon vor derzweiten und dritten Lesung Makulatur ist.
Es ist richtig, dass diese Aktuelle Stunde von der FDPbeantragt worden ist. Denn wir helfen Ihnen, meine Da-men und Herren von der Koalition, dabei, mit einemNachtragshaushalt aus diesem Schlamassel herauszu-kommen. Das sollte nicht zu spät geschehen.
Ich frage mich schon, ob ich es noch erlebe, dass Sieeine Initiative einbringen, die auf einer soliden Grundlagebasiert. Ich möchte dazu nur die Einleitung zum Haus-haltsgesetz zitieren. Dort schreiben Sie:Auf der Grundlage der sich abzeichnenden– hören Sie gut zu –Aufwärtsentwicklung setzt die Bundesregierung mitdem Bundeshaushalt 2003 diesen Konsolidierungs-kurs um.Da frage ich mich schon: Wie ist denn die Realität? Wierealitätsfremd sind Sie denn hier eigentlich? Von welchemAufschwung reden Sie denn? Von dem vom letzten Jahrmit 0,2 Prozent oder vielleicht von dem mit 0,6 Prozent,der in diesem Jahr erwartet wird? Das ist kein Auf-schwung, das ist keine Aufwärtsentwicklung; das ist Sta-gnation, in der wir uns zurzeit befinden.
Wenn wir sehen, dass Sie Ihrem Haushalt 1,5 ProzentWachstum zugrunde gelegt haben – wo wir alle doch wis-sen, dass das nicht einzuhalten sein wird –, wenn wir se-hen, dass Sie keinen Bundeszuschuss für die Bundesan-stalt für Arbeit einkalkuliert haben – letztes Jahr betrugdieser Bundeszuschuss noch 5,6 Milliarden Euro –,
und wenn man ferner sieht, dass Sie bei Ihrem Haushaltnoch die ursprünglichen Hartz-Konzepte zugrunde gelegthaben – sie sind ja so nicht verabschiedet worden –, wis-sen wir, dass alles, was uns vorgelegt worden ist, Maku-latur ist.
Von welchem Konsolidierungskurs reden Sie denn, HerrEichel? Es ist angesprochen worden: Im letzten Jahr gabes mit über 31 Milliarden Euro die dritthöchste Neuver-schuldung seit Bestehen der Bundesrepublik Deutsch-land.
Das ist kein Weg in die Konsolidierung; das ist ein Weg inden Schuldenstaat heute
und zu mehr Steuern und zu einem noch stärkeren Steuer-staat morgen.
Wir müssen schauen, dass wir da wieder herauskom-men und nicht noch tiefer hineingeraten. Da frage ichmich schon: Wo bleibt denn die Generationengerechtig-keit,
von der Sie landauf, landab immer reden? Sie reden zwarvon der Gerechtigkeit, aber Sie handeln nicht entspre-chend. Es ist offensichtlich, dass Reden und Handeln beiIhnen zwei total unterschiedliche Dinge sind.
Sie sollten nicht glauben, dass die Leute draußen imLande so dumm sind, dass sie das nicht langsam erkennenkönnten.Jetzt heißt es schon: Es ist wahrscheinlich nicht einzu-halten und nahezu ausgeschlossen, dass wir bis zum Jahr2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen können –so Ihr Sprecher, Herr Eichel. Man kann sagen, dass einesauf jeden Fall ausgeschlossen ist, nämlich dass es in un-serem Land unter Ihrer Regierung zukünftig aufwärts ge-hen wird. Das ist ganz sicher.Jetzt kommt Clements Mittelstandsoffensive.
Wir wissen: Wahlen stehen an; Reformeifer ist gefragt;Elan ist gefragt. Es wird ein Papier vorgelegt. Ich glaubeschon, dass ich auch im Namen des Mittelstandes rede,wenn ich sage, dass wir uns freuen, dass wenigstens derName „Mittelstand“ in Ihrer Rhetorik wieder vorkommt.Denn von diesem Namen hat man ja bei Ihnen schon ewiglange nichts gehört. Aber damit hat es sich auch schon. Sielegen ein Papier mit wunderschönen Überschriften undvielen Worthülsen, aber ohne Inhalt vor.Meine Damen und Herren, Sie wollen den Mittelstandum 35 bis 60 Millionen Euro entlasten. Wir haben aber al-lein in diesem Jahr eine Mehrbelastung in Höhe von über12 Milliarden Euro; davon entfallen allein 9,1 Milliardenauf die Sozialversicherungsbeiträge. Wir wissen, dass derMittelstand sehr stark von den Lohnnebenkosten abhän-gig ist und dass gerade er sehr unter der Erhöhung der So-zialversicherungsbeiträge leidet.Ferner reden Sie von höheren Investitionen. Das ist al-les schön und gut; dafür sind wir alle. Sie weisen zwar inIhrem Haushalt einen ein wenig höheren Betrag für Inves-titionen aus, wenn man aber genau nachforscht, ist darindie Flutopferhilfe mit 2,5 Milliarden Euro enthalten.Rechnet man diese heraus, kommt man zu dem Ergebnis,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1413
dass 700 Millionen Euro weniger für öffentliche Investi-tionen ausgegeben werden als letztes Jahr. Dabei gab esschon im letzten Jahr die niedrigste Investitionsquote seitBestehen der Bundesrepublik Deutschland.
Jetzt kommen Sie mit einer Sonderministeuer, von deraber über 90 Prozent der kleinen und mittelständischenUnternehmen nicht profitieren können.
Frau Kollegin Wöhrl, kommen Sie bitte zum Schluss.
Damit werden Sie es nicht schaffen, den privaten Kon-
sum und die Binnenkonjunktur anzuregen.
Wenn Sie schon nicht unsere Vorschläge übernehmen
wollen, vielleicht weil CDU/CSU draufsteht, dann über-
nehmen Sie wenigstens die 20 Vorschläge Ihres eigenen
Sachverständigenrates.
Aber bitte handeln Sie endlich, damit es wirklich nach
vorn geht.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Kröning von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der Debatte zum Nachtragshaushalt 2002habe ich es bereits gesagt: Ziel der Beratungen, die derHaushaltsausschuss am 20. Februar und der Bundestagvom 18. bis 21. März abschließen werden, ist ein ver-fassungs- und maastrichtkonformer Haushalt. Das heißtzum einen: Art. 115 GG wird eingehalten, am bestennicht nur durch eine rechtlich hinreichende, sonderndurch eine ökonomisch zukunftsweisende Investitions-quote.Frau Kollegin Wöhrl, vielleicht sollten Sie sich alsWirtschaftspolitikerin einmal in den Niederungen desSachverstandes bewegen
und nachprüfen, wie die Investitionsquote im Vergleich zuden Vorjahren ist.
Zum anderen heißt die Vorgabe, die wir uns gesetzt ha-ben: Einhaltung der Stabilitätskriterien des Vertrages vonMaastricht.Zur Erinnerung: Erstens. Die Kriterien zielen auf eineBegrenzung des Defizits auf maximal 3 Prozent und da-rauf, den Schuldenstand zurückzuführen – Tendenz: unter60 Prozent –; das gerät ab und zu aus den Augen. Wir soll-ten nicht vergessen, dass dieses Haushaltsregime strengerist als die Finanzverfassung des Grundgesetzes, und zwarzu Recht; denn wir sind längst ein europäischer Wirt-schafts- und Währungsraum.Zweitens. Die Stabilitätskriterien sind nicht mit demStabilitäts- und Wachstumspakt, der leicht in Verruf gera-ten ist, zu verwechseln. Er zeigt meiner Meinung nach,dass wir über eine Stabilitätspolitik hinaus eine Wachs-tumspolitik in Europa brauchen. Das sollte Bestreben ge-rade der deutschen Politik sein, die die führende Volks-wirtschaft in Europa vertritt.
Drittens. Es ist zu beachten, dass die Kriterien nicht nurfür die gegenwärtigen, sondern auch für die künftigenMitglieder der Europäischen Union und damit auch desWirtschafts- und Währungsraums gelten. Dies ist nachdem Beschluss von Kopenhagen an der Schwelle zurgroßen Erweiterung der Europäischen Union zu betonen,um das Vertrauen in den Euro zu erhalten.Mit anderen Worten: Wir haben allen Anlass, an denStabilitätskriterien festzuhalten. Wir müssen aber zu-gleich erkennen, dass Stabilitätspolitik nicht im Gegen-satz zur Wachstumspolitik steht, sondern ihre Vorausset-zung ist.
Nach den deutsch-französischen Initiativen zur Erwei-terung und Vertiefung der Union, die wir in der letztenZeit erfreulicherweise feststellen konnten und die in dernächsten Woche in Paris die Grundlage für die Zusam-menkunft der Parlamente bilden, würde ich mir auchIdeen der beiden führenden Staaten in der EuropäischenUnion zu einer abgestimmten Finanz- und Wirtschaftspo-litik wünschen. Richtschnur könnten die Beschlüsse vonLissabon sein, die eine Wachstumsstrategie auf eine In-novationsstrategie in Europa stützen. Den Reden in Eu-ropa müssen Taten folgen.Ich möchte eine weitere Bemerkung zum Jahreswirt-schaftsbericht und seine Auswirkungen auf den Haus-halt machen. Den Bericht wird die Bundesregierung,wie wir gehört haben, am 29. Januar vorlegen. Natürlichwird eine Korrektur der Wachstumsprognose von1,5 Prozent auf 1 Prozent, falls die Regierung dazukommen sollte, im Haushalt umzusetzen sein. Ich habedies bereits in der Debatte über den Nachtragshaushaltangekündigt.Dabei geht es nicht nur um das Soll, sondern auch umdas Ist. Daran muss man sich gewöhnen. Gerade der Jah-resabschluss 2002, den Herr Minister Eichel gestern vor-gestellt hat, zeigt, dass Haushaltsaufstellung und Haus-haltsvollzug, wenn sie auf der sicheren Seite bleiben,steuerbar sind.DagmarWöhrl
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003
Volker KröningIch erinnere daran: Europarechtlich – gerade bezüglichder Maastricht-Kriterien – kommt es nicht nur auf Pro-gramme und Pläne, also auf Sollwerte, sondern wie in derWirtschaft auf Jahresabschlüsse, das heißt Istwerte, an.Das Vertrauen der Märkte hängt davon ab, wie wachs-tumsfreundlich sich staatliches Handeln über Jahre hin-weg entwickelt und auch festigt.Was Stabilität angeht, sind wir in Europa auf gutemWege, wie die Preisstabilität zeigt. Ich würde mich freuen,wenn nicht nur die staatlichen, sondern auch die wirt-schaftlichen Akteure mitspielten. Das Verpuffen der letz-ten Zinssenkung der Europäischen Zentralbank ist ein un-gutes Signal für das Wachstum, mit dem sich auch dieSprecher der Wirtschaftsverbände einmal auseinandersetzen sollten.
Zum Schluss zur Bundesanstalt für Arbeit. – Ich hoffe,Herr Präsident, dass die Zeitangabe am Rednerpult falschist.
Ich kann mich aber kurz fassen.Was den Zuschuss zur Bundesanstalt angeht, so unter-stützen wir ausdrücklich die Verabredung zwischen demWirtschafts- und Arbeitsminister Clement und dem Fi-nanzminister Eichel, dass wir nicht zu einem Bundeszu-schuss zurückkehren; denn dies würde den Reformdruck,den wir uns auferlegt haben und den sich übrigens auchdie Bundesanstalt selber auferlegt hat, mindern statt auf-rechterhalten.Alle Annahmen zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit,die sich unterhalb oder oberhalb der Annahme bewegen,die dem Haushalt der Bundesanstalt zugrunde liegt, sindspekulativ und grundlos.
Wir werden uns an einer Diskussion über einen Bundes-zuschuss nach den Weichenstellungen beider, der Gre-mien der Bundesanstalt und des Haushaltsausschussesdes Bundestages, nicht beteiligen.Im Jahresdurchschnitt 2002 hatten wir – wir müssensagen: leider – 4 060 300Arbeitslose, wie der Abschluss-bericht der Bundesanstalt, der in dieser Woche vorgelegtworden ist, gezeigt hat.
– Ich habe ja gesagt: leider. Aber in der Prognose – –
Herr Kollege Kröning, ich habe keinen Einfluss auf die
Uhr. Sie läuft so, wie sie läuft, und Ihre Redezeit ist ab-
gelaufen.
Ich darf den Satz zu Ende führen: Dem Wirtschafts-
plan, den wir beraten und den die Regierung genehmigt
hat, liegt eine Zahl von 4 140 000 zugrunde. Ihre Anmer-
kung, dies sei Makulatur, Frau Kollegin Wöhrl, ist
schlicht Quatsch.
Ich fasse zusammen: – –
Nein, nein, Sie fassen bitte nicht mehr zusammen. Sie
sind anderthalb Minuten über der Zeit. Ich bitte Sie jetzt,
das Rednerpult zu verlassen.
Ich habe das gesagt, was ich sagen wollte.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe in meinem Medizinstudium offenbar
nicht richtig aufgepasst, denn wenn ich zur Regierungs-
bank schaue, dann muss ich feststellen, dass Autismus
entgegen meiner bisherigen Auffassung anscheinend an-
steckend ist. Das eine oder andere Merkmal habe ich bis-
her eigentlich nur bei einem Regierungsmitglied der letz-
ten Legislaturperiode bemerkt. Was ich aber heute hier
über die Situation der Unternehmen gehört habe, führt
mich dazu, zu glauben, dass Autismus ansteckend ist.
Dies ist eine neue medizinische Erkenntnis.
Verehrter Herr Clement, wenn wir uns die Situation der
Unternehmen heute ansehen, stellen wir fest, dass die
Aussage, die der Bundeskanzler gestern gemacht hat,
nämlich dass die Situation wesentlich besser sei als ange-
nommen, nicht stimmt. Es ist genau umgekehrt.
Ich habe das Glück, häufig in Unternehmen zu sein. Ich
stelle dabei fest, dass die Situation dort erheblich schlech-
ter ist.
Herr Fuchs, ich darf Sie kurz unterbrechen. HerrMinister, Sie haben das Privileg, Angehöriger der Bun-desregierung zu sein. Dies ist allerdings mit dem Nachteilverbunden, auf der Regierungsbank schweigen zu müs-sen.
Herr Kollege Fuchs, bitte fahren Sie fort.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1415
Aber ich höre Ihnen im Ausschuss gerne wieder zu,
Herr Clement.
Wir haben noch nie eine so hohe Zahl von Insolvenzen
wie im letzten Jahr gehabt und in diesem Jahr geht es wei-
ter. Wenn man heute in eine Tageszeitung schaut, dann
muss man feststellen, dass dort häufig mehr Insolvenzan-
zeigen als Todesanzeigen zu finden sind. Da kann, weil es
Gott sei Dank mehr Menschen als Unternehmen in
Deutschland gibt, doch wohl etwas nicht ganz stimmen!
Die Insolvenzanzeigen sind wahrscheinlich die einzige
Einnahmequelle, die den Zeitungsumsatz zurzeit stärkt.
Ihre Prognosen, verehrter Herr Eichel, haben eine so
kurze Halbwertszeit, dass die FDP richtig gehandelt hat,
eine Aktuelle Stunde zu beantragen. Ihre Prognosen, die
so falsch sind, dass wir uns auch heute wieder damit be-
schäftigen müssen, gibt es fast im Stundentakt.
Ich mache Ihnen einen Sparvorschlag, Herr Eichel.
Sie könnten, wie ich denke, pro Jahr 600 000 Euro sparen.
Sie haben ein Wirtschaftsgutachten anfertigen lassen, das
600 000 Euro gekostet hat. Sie aber nehmen dieses Gut-
achten, stecken es in eine Schublade, schließen diese or-
dentlich ab und schmeißen den Schlüssel in die Spree.
Kein Vorschlag – es stehen 20 konkrete Vorschläge darin –
wird umgesetzt. Die Kollegin Wöhrl hat eben zu Recht
gefragt, wo Ihre Gesetzesinitiativen dazu sind. Die würde
ich gerne einmal sehen.
Verehrte Frau Kollegin Hermenau, auch Sie scheinen
die Unternehmen gar nicht zu kennen. Glauben Sie, dass
jeder in den Unternehmen so wie Sie, wenn Sie in Berlin
herumfahren – ich habe schon gehört, dass sich viele grü-
ne Bundestagsabgeordnete beschweren, wenn sie am Flug-
hafen nicht mit einer S-Klasse abgeholt werden –, einen
Mercedes oder BMW fährt?
Nein, 80 Prozent der Firmenfahrzeuge sind Golf, Astra
etc. Wissen Sie, wozu Ihre Steuererhöhungen bei den be-
troffenen Bürgern geführt haben? – Sie haben zu einer Ge-
haltskürzung um circa 60 Euro pro Monat geführt. Ich
meine, das ist mehr als genug.
– Auch mit Schreien werden Sie es nicht richtiger machen. –
Ihre Politik führt zu einer unglaublichen Mehrbelastung
bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Betrie-
ben. Sie werden am 1. Februar bis zu 200 Euro weniger in
der Gehaltstüte haben. Sie werden es Ihnen in Hessen hof-
fentlich deutlich heimzahlen.
– Natürlich auch in Niedersachsen.
Der Finanzexperte des Kieler Instituts für Weltwirt-
schaft, Alfred Boss, hat vorausgesagt, dass die Nettoneu-
verschuldung in diesem Jahr bei 30 Milliarden Euro lie-
gen wird. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, Herr
Kollege Kröning, dass Herr Gerster gestern gesagt hat, er
gehe davon aus, dass er einen Zuschuss von mindestens
1 Milliarde Euro für die Bundesanstalt für Arbeit brau-
chen wird. Auch diese Zahl ist dramatisch.
Herr Minister Eichel, ich habe heute nur eine kurze Re-
dezeit von fünf Minuten. Ich bin nicht PISA-geschädigt
und kann ganz gut rechnen. Fünf Minuten sind insgesamt
300 Sekunden. Sie haben in diesen 300 Sekunden, die ich
hier reden durfte, 581 700 Euro mehr Neuverschuldung
gemacht; denn Sie machen pro Sekunde 1 939 Euro mehr
Neuverschuldung. Das ist Ihre Politik, die zeigt, wie
schlecht es gelaufen ist.
Herr Kollege Fuchs, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede im Deutschen Bundestag.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Faße von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die FDP müsste sich an dieser Stelle eigentlich fra-gen, was die Einberufung dieser Aktuellen Stunde derWirtschaft und den Menschen in diesem Lande eigentlichgebracht hat.
Ein Lamentieren der Opposition, ein SchlechtredenDeutschlands, das trägt nicht zur Problemlösung in un-serem Lande bei.
Ein Jammertal war es, das hier gezeichnet wurde. So istunser Land nicht.Ich sage hier ganz klar und deutlich: Bei den Punkten,bei denen Sie im Bundesrat gefordert waren, wurden Sieschwammig oder aber polemisch. Ich weise etliche derAussagen, gerade die letzten, massiv zurück. Damit kom-men Sie in unserem Lande nicht weiter.
Die Menschen wollen Lösungen für ihre Probleme; das istrichtig. Unser ehrgeiziges Ziel ist und bleibt es, die öf-fentlichen Haushalte zu konsolidieren. Hier sitzen wir alleim gleichen Boot: die Kommunen, die Länder, der Bundund die Sozialsysteme. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie,wo auch immer Sie stehen, an der Stelle Ihren Anteil da-ran leisten, dass wir diese Ziele erreichen können.
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Annette Faße
Wir alle in diesem Land – und nicht nur ein Teil – tragendie Verantwortung.Wir bringen wichtige Strukturreformen auf den Weg;
dies ist Beschlusslage. Zu jedem Punkt, den wir für rich-tig halten, sagen Sie entweder, dass es nicht ganz so ist,dass es nicht halb so ist oder dass es total schlecht ist.
Das Hartz-Konzept kritisieren Sie sehr stark. Die Mittel-standsoffensive, zu der selbst Handwerkskammern sagen,dass sie richtig ist, kritisieren Sie. Wir gehen mit ihr denrichtigen Weg.
Ich glaube, Sie sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit undSie wissen nicht, wie die Diskussionen im Lande laufen.Die Mittelstandsoffensive ist richtig. Das Gleiche gilt fürdie 2003 anstehende Reform der sozialen Sicherungssys-teme.
Ich glaube, Sie wissen nicht mehr, wie in unserem Landdiskutiert wird.Um mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen,setzen wir alles daran, die Investitionen so hoch wie mög-lich zu halten; denn Investitionen sind die unabdingbareVoraussetzung für Wirtschaftswachstum. Investitionen si-chern den Unternehmen Aufträge und schaffen und erhal-ten Arbeitsplätze. Die Investitionen in Infrastrukturmaß-nahmen besitzen dabei eine Schlüsselrolle.
Deshalb ist und bleibt der Etat des Bundesministeriumsfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der größte Inves-titionshaushalt des Bundes. Bei den Investitionen im Ver-kehrsbereich haben wir ein sehr hohes Niveau – höher alszu Ihrer Zeit – erreicht.
Wir wissen um die Bedeutung für die Arbeitsplätze unddie Wirtschaft in unserem Land.
Das betrifft die Verkehrsinvestitionen und die Investitio-nen für Stadterneuerungen. Seit 1998 stehen wir hier her-vorragend da. Meine Herren der Opposition, Sie habenlange nicht so viel Geld in die Hand genommen.
Die Investitionen bleiben trotz der angespanntenHaushaltslage und trotz der Notwendigkeit der Haushalts-konsolidierung auch im Jahre 2003 auf hohem Niveau.Einsparungen dürfen so weit wie möglich nicht im Inves-titionsbereich vorgenommen werden. Dies ist und bleibtunser Ziel. Wir halten es für richtig und wichtig, auch andieser Stelle ein Wort zu den Investitionen, die im Ostenunseres Landes auf hohem Niveau fortgeführt werden, zusagen: 60 Prozent der Investitionen gehen allein in diesenBereich.In der letzten Legislaturperiode haben wir etwas, dasSie nie hinbekommen haben, erreicht.
Es geht um die Verkehrsinfrastruktur und die Öffnungneuer Verkehrswege. Dies werden wir weiter fortsetzen.
Wir werden hier gesetzgeberisch tätig werden und die pri-vat finanzierten Betreibermodelle weiterführen; denn wirwissen, wie wichtig die Verkehrsinfrastruktur für unserLand ist. Dieses Aufbrechen einer ganz neuen Finanzie-rung ist der richtige Weg. Sie sollten hier konstruktiv mit-arbeiten und nicht versuchen, dies infrage zu stellen.
Ich wünsche mir eine Opposition, die konstruktiveVorschläge macht,
eine Opposition, die die Vorschläge, die wir gemacht ha-ben, wirklich im Detail berät. Wenn Sie dies tun, solltenSie die Hinweise und Gesetzesvorgaben von uns ernstnehmen und sie da, wo Sie in der Verantwortung stehen,auch entsprechend behandeln.
Ganz zum Schluss: Sigmar Gabriel ist ein hervorra-gender Ministerpräsident für Niedersachsen und er wirdes auch bleiben.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch vonder CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1417
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Frau Faße, wenn man Ihnen so zuhört, dannkommt man leicht auf den Gedanken, man müsste die Ak-tuelle Stunde in Märchenstunde umtaufen,
und zwar nicht nur durch das, was Sie gesagt haben, son-dern auch dadurch, wie Sie es gesagt haben.Mir kommt es so vor, als ob Sie in einem anderen Landlebten. Die Menschen merken das alles nicht, was Sie dar-gestellt haben. Der Einzelhandel hat im letzten Jahr seinschwächstes Jahr gehabt. Die Investitionsquote im letztenJahr war die niedrigste seit Bestehen der Bundesrepublik.Aus diesem Grunde müssen Sie die Zahlen verändern undbrechen Ihnen die Prognosen schneller weg, als Sie sieaufschreiben können.
Herr Eichel, ich muss mich Ihnen einmal zuwenden.Wir als Hessen kennen uns schon länger.
Ich habe mich eigentlich schon immer über den Begriff„Hans im Glück“ gewundert. Ich habe mir das so erklärt,dass Sie in der Tat Glück hatten, dass Herr Lafontaine ge-rade einen Abgang gemacht hatte und für Sie ein Platz freiwar, als die hessischen Wähler Sie wegen erwiesenerschlechter Leistungen abgewählt haben. Sie haben unsmit Ihrer rot-grünen Truppe in Hessen ein Land hinterlas-sen, das trotz bester Voraussetzungen unter den Bundes-ländern nur eine schwache Mittelposition hatte. UnterRoland Koch ist es in die Spitzenposition unter den Län-dern zurückgeführt worden.
Sie könnten sich „von Eichel“ nennen, wenn SieWachstumsquoten wie in Hessen hätten, die drei- bis fünf-mal so hoch wie der Bundesdurchschnitt sind. Das wissenSie ganz genau. Hessen hat eine Arbeitslosenquote von8,1 Prozent, der Bundesdurchschnitt liegt bei 10,1 Pro-zent. Mit solchen Zahlen würde ich schnell nach Hausegehen und aufhören, eine erfolgreiche Landesregierungzu kritisieren.Wenn man aber Bilder aus einem Märchen aufgreift,dann muss man die Geschichte bis zum Ende lesen. Siewissen ja, wie es mit dem Hans im Glück ausging. Er hatmit einem Goldklumpen angefangen. In einer ähnlichenSituation waren auch Sie. Durch das Aufblähen des Haus-halts durch Herrn Lafontaine, Ihren Vorgänger, war jedeMenge Einsparvolumen vorhanden. Sie mussten nur dieeigenen Unsinnigkeiten wieder einsammeln. Sie hatten inden ersten Jahren einen Steueraufwuchs. Sie haben dieChancen verplempert. Deshalb stehen Sie heute mit demRücken an der Wand und haben keine Pfeile mehr imKöcher, die Sie abschießen können, um Wachstum in un-serem Lande zu erzeugen. Nichts geschieht. Das Ende derFahnenstange ist erreicht.
Wann gab es das je, dass ein Minister nach der Koali-tionsvereinbarung ein so schlechtes Zeugnis bekommenhat? Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben mit ihremHerbstgutachten so lange gewartet, bis die Tinte unter derKoalitionsvereinbarung trocken war. Nachdem sie denVertrag durchgelesen haben, haben sie festgestellt, dasssie die Wachstumsprognose wegen dieser Koalitionsver-einbarung um 0,5 Prozent senken müssen. Deshalb ist dieWirtschaft bei uns am Boden. Deswegen gibt es in der Be-völkerung kein Vertrauen in diese Regierung.Es ist noch nie passiert – schauen Sie sich die demo-skopischen Werte an –, dass unmittelbar nach einer Wahldie Stimmung im Land so mies war. Normalerweise ha-ben alle zu diesem Zeitpunkt vom Wahlkampf genug.Aber die Stimmung ist zurzeit so mies, weil Sie in diesemLand eine so miese Politik machen.
Sie setzen Ihren Lug und Trug fort. Wenn Sie nicht vonHerrn Solbes dazu gedrängt worden wären, Ende Januardie Zahlen vorzulegen, dann hätten wir noch immer keineWachstumsprognose von 1 Prozent von Ihnen gehört.Wahrscheinlich würde dann weiterhin stereotyp von ei-nem Wachstum von 1,5 Prozent gesprochen. Um nocheinmal das Bild vom Hans aufzunehmen: Sie pfeifen wieein Kind im Wald, das die Wirklichkeit nicht wahrnehmenwill.Ich darf aus der „Stuttgarter Zeitung“ zitieren:Der Hü-und-Hott-Stil hat dem Ansehen der rot-grü-nen Koalition insgesamt geschadet. Wenn sichführende Sozialdemokraten zuerst für die Vermögen-steuer stark machen und dann stattdessen eine mo-derate Zinsabgeltungsteuer beschließen, verlierenPartei, Bürger und Unternehmen schnell die Orien-tierung.Sie verlieren das Vertrauen, weil sie merken, wie Sie, HerrEichel, weiterhin auf der Abschaffung des Bankgeheim-nisses beharren. Warum denn wohl? Wenn Sie eine Zins-abgeltungsteuer einführen, dann brauchen Sie das Bank-geheimnis nicht mehr abzuschaffen. Sie haben sicherlichnoch andere Pläne. Diese werden aber erst nach dem2. Februar bekannt gegeben. Sie wollen die Leute vor derWahl erneut hinters Licht führen und ihnen nicht dieWahrheit sagen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Ihr Hin und Her in der Politik ist heute bei der An-hörung im Fraktionssaal in der Luft zerrissen worden.Steuervergünstigungsabbaugesetz – welch ein Euphemis-mus für ein Gesetz, das nichts anderes als Mehrbelas-tungen für die Bürger bringt!Nehmen wir einmal an, jemand habe sich auf die Ko-alitionsvereinbarung verlassen. Er hat gelesen, dass aufFuttermittel, zum Beispiel für ein Hausschwein, in Zu-kunft 16 Prozent Mehrwertsteuer entfallen. Also wurde
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Klaus-PeterWillschdas Hausschwein geschlachtet und eine Hauskatze an-geschafft. Aber auch auf Tierfutter muss nun 16 ProzentMehrwertsteuer gezahlt werden. Die ermäßigte Mehr-wertsteuer gilt nämlich nicht mehr.Herr Eichel, Sie sollten eines wissen: In der Wirt-schafts-, Finanz- und Steuerpolitik muss man nicht nurdas Vertrauen der Bürger genießen, sondern man mussauch verlässlich sein. Sie aber sind das Gegenteil. Sievollziehen eine Pirouette nach der anderen. Keine Zahl istbelastbar. Keine Zahl, die bei Sonnenaufgang genanntwird, erlebt den Sonnenuntergang am selben Tag. Auf ei-ner solchen Grundlage ist niemand bereit zu investierenund zu konsumieren. Deshalb richten Sie unser Land zu-grunde.
Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile
ich dem Kollegen Ludwig Stiegler von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habensieben Redner der Opposition gehört. Alle suhlen sich imPessimismus wie Schwarzkittel im Sumpf und im Moor.
Es ist unglaublich, wie man ein neues Jahr so beginnenkann. In der Sprache der Börsianer handelt es sich dabeium eine richtige faule Bärenversammlung. Da lobe ichmir unsere beiden Bullen, die Kraft und Stärke für die Zu-kunft mitbringen, während Sie nur warten, dass Ihnen einHonigfass vor die Füße fällt.
– Nein, meine Damen und Herren, bei Ihnen ist die De-pression weit verbreitet.
Aber die Zukunft gehört nicht den Pessimisten, sonderndenen, die mit Tatkraft und Optimismus handeln. Deshalbwerden Sie in diesem Jahr in Ihrem Pessimismus ver-sumpfen.
Sie spekulieren auf eine Baisse, ganz nach dem Modelldes Sonthofener Programms – es müsse alles noch tiefersinken, hat Ihr Idol Franz Josef gesagt –, damit Sie mitIhren Schweinereien in den politischen Vorstellungendurchkommen. Herr Merz spricht es als Einziger ehrlichan. Die anderen reden drum herum. Herr Merz verdient zu-mindest Punkte für seine Ehrlichkeit, weil er ausspricht,dass er auf die Arbeitnehmer losgehen und Sozialabbaubetreiben will. Die anderen – heute insbesondere Frau Kol-legin Wöhrl mit ihrer neuen Frisur –
verdienen den ersten Preis für die größte Scheinheiligkeit.
Mit dieser Spekulation auf die Baissen ohne Ideen kom-men wir nicht weiter.Ein Weiteres trägt dazu bei, nämlich Ihr Hängen an denZahlen, Ihre Fixierung auf die Zahlen der Professoren undInstitute. Wer die Prognosen der vergangenen Jahre eva-luiert, wird feststellen, dass der Wetterbericht treffsiche-rer ist als die Herren Professoren in ihrem Bereich.
Der Unterschied zwischen der Wissenschaft und der Poli-tik ist folgender: Wenn die Professoren falsche Prognosenabgeben, stellen sie einen Antrag auf Förderung weitererForschungen. Wenn wir aufbauend auf deren falschenPrognosen zu falschen Ergebnissen kommen, kriegen wireinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Ichversichere Ihnen: Wer auf die Professoren baut, hat aufSand gebaut. Auch unter ihnen gibt es übrigens Zweck-pessimisten, was auch mit der Nähe zu manchen Verbän-den zu tun hat.Deshalb kommt es darauf an, dass wir handeln, stattuns in die Depression reden zu lassen. Sie versündigensich an der wirtschaftlichen Stimmung, wenn Sie sich imPessimismus suhlen und meinen, Sie müssten als Rettergerufen werden, weil das Land in Not ist. Das hat schonHerr Stoiber vergeblich versucht. Die Deutschen habengesagt: Nein danke, Edmund, saniere lieber Kirch und Co.und die Maxhütte, als dich uns anzudienen!
Dann hat Herr Merz versucht, Hans Eichel eine Staats-verschuldung in Höhe von 800 Milliarden Euro anzuhän-gen. Das ist ein starkes Stück. Schließlich sind 750 Milli-arden Euro davon die Erbschaft der schwarz-blau-gelbenKoalition. Wir zahlen pro Jahr allein mindestens 30 Mil-liarden Euro für Schulden, die Sie, Herr Brüderle, undIhre Brüder und Schwestern von der schwarzen Seite unshinterlassen haben.
Jede Minute muss für Ihre Schulden eine Summe im Werteines Einfamilienhauses aufgebracht werden, HerrBrüderle.
Wir könnten eine Konjunkturausgleichsrücklage von ei-ner riesigen Größenordnung haben, wenn Sie das Landnicht an die Wand gefahren hätten.
Der Einzige, der Schulden getilgt hat, war Hans mit sei-nem Glück, nämlich mit den UMTS-Erlösen – das ist die
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(C)
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Januar 2003 1419
Realität –, während Sie Jahr für Jahr alles verwirtschaftethaben. Deshalb sind Sie die Letzten, die daran Kritik übensollten. Wer so wie Sie im Glashaus sitzt, sollte aufpassen,dass ihm nicht das ganze „Greenhouse“ auf den Kopf fällt,sobald er nur einen Stein anfasst.
Lassen Sie uns auch das Positive sehen: In diesemLand gibt es Preisstabilität. Dieses Land hat wettbewerbs-fähige Lohnstückkosten. Dieses Land hat einen Handels-bilanzüberschuss. Dieses Land hat einen Leistungsbilanz-überschuss. Dieses Land verfügt über beträchtlicheInnovationen. Meine Damen und Herren, dieses Land hateine Bundesregierung, die handelt.
Ich erinnere etwa an das Programm „Kapital für Arbeit“.Helfen Sie doch mit, dass die Banken die Mittelständlernicht verjagen, wenn sie Anträge im Rahmen dieses Pro-grammes stellen. Heute sagen die Banken, sie tauschtenBundeskredite gegen eigene Kredite, weil sie sich selbersanieren wollen. Dasselbe gilt für die Bankzinsen:
Helft doch mit, dass die deutsche Bankenlandschaft end-lich die Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank fürInvestitionen und für die Mittelständler freigibt. Das istunser Auftrag.
Meine Damen und Herren, dieses Land ist in der Lage,seine Probleme zu lösen. Wenn Sie sich weiterhin in Pes-simismus suhlen wollen, dann lösen wir die Problemeeben allein. Dann bleiben Sie im Sumpf sitzen und wer-den irgendwann zur Moorleiche.
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 16. Januar 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.