Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Sitzung.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Zusatzpunkt 13a, zweite Beratung und Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Protokolls über die Satzung der Europäischen Investitionsbank, abzusetzen.
Weiter ist vereinbart worden, die Beschlußempfehlung und den Bericht des EG-Auschusses zum Antrag der Fraktion der SPD zu „Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesregierung" auf Drucksache 12/6335 in verbundener Beratung mit Tagesordnungspunkt 15 zu behandeln.
Sind Sie damit einverstanden? —Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs fiber den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften
— Drucksache 12/5187 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 12/6306, 12/6334 —
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Gisela Babel
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dagegen sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Kollege Jochen Feilcke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute zu
dieser Morgenstunde mit einem sehr spannenden Gesetzentwurf, dem „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften ".
Es ist uns in den Ausschußberatungen nicht gelungen, sehr viel Stimmung zu erzeugen, und ich gehe davon aus, daß mir dies auch heute morgen kaum gelingen wird. Aber mir ist gesagt worden, es sei ein sehr wichtiges Gesetz und es müsse deshalb auch im Plenum dazu gesprochen werden.
Tatsächlich habe ich bei näherer Befassung als Berichterstatter einige sehr wichtige Aspekte darin entdeckt. Der Kollege Büttner, der sich in dieser Frage für die SPD sehr engagiert, wird sicher aus seiner Sicht noch begründen, welche weitreichende, vorwärtsdrängende Bedeutung dieses Gesetz hat.
Es handelt sich also um den Schutz von Sozialdaten, die bei den Sozialversicherungsträgern gespeichert werden. Wir müssen uns darüber im klaren sein: Es sind sehr sensible Daten. In der Tat hat der Gesetzgeber sein Augenmerk darauf zu richten, wie damit umgegangen wird.
Nun haben wir in Deutschland eine gesetzliche Regelung, die über das, was in den europäischen Nachbarstaaten, in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft vorhanden ist, hinausgeht. Aber auch unsere gesetzlichen Regelungen aus dem Jahre 1980 sind heute überholt. Das geltende Recht ist durch die Entwicklung in der Rechtsprechung und durch die Neufassung des Bundesdatenschutzgesetzes, auf das im geltenden Recht im einzelnen verwiesen wird, eben nicht mehr aktuell. Es geht hier um eine Anpassung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und an die sich aus der Aktualität ergebenden Notwendigkeiten.
Das führte zu einer umfassenden Neugestaltung der Vorschriften zum Sozialdatenschutz. Es wurde ein in sich abgeschlossenes Recht geschaffen. Verweisungen auf das Bundesdatenschutzgesetz sind, soweit das überhaupt möglich war, vermieden worden. Aber es wird hier in einer Sprache gesprochen, die der des Bundesdatenschutzgesetzes sehr ähnlich ist. Deswe-
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Jochen Feilcke
gen ist es auch ein so besonders aufregendes und spannendes Gesetz. Genau das macht seinen Charme aus.
In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, daß zur Zeit in Brüssel eine EG-Richtlinie zum Datenschutz beraten wird. Es muß von deutscher Seite aus darauf geachtet werden, daß durch diese Richtlinie das bereits erreichte und durch die vorliegende Weiterentwicklung noch erhöhte Niveau des Sozialdatenschutzes in Deutschland nicht abgesenkt wird.
Im bisherigen Recht, meine Damen und Herren, sind nur die Sicherung der Datenbestände bei den Leistungsträgern, die Übermittlung der Daten sowie die Datenverarbeitung im Auftrag eines Dritten geregelt. Im jetzt vorliegenden Entwurf hingegen wird bereits die Erhebung der Daten entsprechend den Grundsätzen des Volkszählungsurteils eingeschränkt.
Außerdem wird das gesamte Spektrum der Datenverarbeitung, also z. B. auch die Speicherung, Veränderung und Nutzung der Daten, geregelt. Neu ist in diesem Entwurf auch eine Regelung zum automatisierten Abrufverfahren, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Ferner enthält der Entwurf eine Regelung über eine Verpflichtung zum Schadenersatz, die aus Gründen der Gesetzgebungskompetenz allerdings nur für bundesunmittelbare Stellen gilt.
Von besonderer Bedeutung ist sicherlich — und das ist einer der Punkte, die eine nähere Befassung durchaus rechtfertigen —, daß die Personen, über die Daten gespeichert werden, in größerem Umfang ein Auskunftsrecht gegenüber den Stellen, die diese Daten speichern, erhalten. Ausnahmen hiervon sollen nur im Fall einer Datenübermittlung an Nachrichtendienste gelten.
Der Entwurf sieht zur Verwirklichung des informationellen Selbstbestimmungsrechtes vor, daß Daten in der Regel bei den Betroffenen erhoben werden und diese darüber hinaus, falls diese Regelung aus zwingenden Gründen durchbrochen wird, über anderweitige Erhebungsmöglichkeiten informiert werden.
Der erste Durchgang im Bundesrat hat ebenso wie die Beratungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages gezeigt, daß das angestrebte Ziel des Entwurfs, die Grundsätze des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts mit den Erfordernissen der Praxis im Sozialleistungsbereich in Einklang zu bringen, erreicht worden ist.
Ich möchte ein Beispiel nennen: Das Spannungsverhältnis zwischen dem Grundsatz, daß Daten nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, zu dem sie erhoben worden sind, und der Tatsache, daß im Sozialleistungsbereich Daten wegen der sich wandelnden Lebenssachverhalte zu unterschiedlichen Zwecken verwendet werden müssen, ist im Entwurf sachgerecht aufgelöst. So ist es nach dem neuen Gesetz möglich, Daten, die ein Rentenversicherungsträger für die Durchführung einer Reha-Maßnahme erhoben hat, anschließend auch für die Gewährung einer eventuellen Erwerbsunfähigkeitsrente zu verarbeiten, wenn sich herausstellt, daß eine Rehabilitation nicht erfolgversprechend sein wird. Ich gehe davon aus, daß wir alle darin übereinstimmen: Dies macht Sinn.
Insbesondere bei Einzelfragen des Entwurfs hat es — wie auch schon bei den Vorarbeiten zu diesem Gesetzentwurf — eine sehr enge Kooperation mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten gegeben. Diese reichte bis in die letzte Sitzung des federführenden Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hinein, so daß in Übereinstimmung zwischen den Fraktionen Vorschläge des Bundesdatenschutzbeauftragten noch in letzter Minute aufgenommen wurden. Hier hat es also eine gute Kooperation gegeben. Ich glaube, das ist im Sinne der Personen, über die hier gesprochen wird und deren Daten erfaßt und geschützt werden sollen.
Ich möchte darauf hinweisen, daß bundesunmittelbare Sozialleistungsträger der Kontrolle des Bundesdatenschutzbeauftragten unterliegen. Landesunmittelbare Träger unterliegen der Kontrolle des jeweiligen Landesdatenschutzbeauftragten. Bei den Sozialleistungsbehörden gibt es außerdem, anders als in Behörden der allgemeinen Verwaltung, einen internen Datenschutzbeauftragten. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ist die entsprechende Vorschrift zwar angegriffen worden, man ist aber letztlich zu dem Ergebnis gekommen, daß diese bewährte Institution erhalten bleiben soll.
Es ist natürlich notwendig, daß nach Inkrafttreten dieses vorliegenden Gesetzes von seiten der Bundesregierung beobachtet wird, wie es funktioniert, wie es umgesetzt und gefördert werden kann. Hier wird selbstverständlich auch in Zukunft eng mit dem Datenschutzbeauftragten zusammenzuarbeiten sein.
Es ist zu erwarten, daß sich nach einer gewissen Übergangszeit — ebenso wie bei dem geltenden Recht aus dem Jahre 1980 — herausstellen wird, daß es ein praktikables Gesetz ist. Mit diesem neuen Recht werden die Sozialdaten umfassend — von ihrer Erhebung über die Verarbeitung bis zu ihrer Vernichtung — geschützt. Damit haben wir einen wichtigen Schritt getan, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der Sozialverwaltung zu stärken.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzesantrag.
Als nächster spricht der Kollege Hans Büttner.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Feilcke hat hier bereits deutlich gemacht — und auch ich werde das hier deutlich machen —, wie unterschiedlich Wahrnehmungen und vor allem Einschätzungen bezüglich eines sehr sensiblen Gesetzes sind, das wir heute hier zur letzten Abstimmung vorliegen haben.
In wenigen Tagen ist es exakt zehn Jahre her, daß das Bundesverfassungsgericht in seinem historischen Urteil zum Volkszählungsgesetz den Schutz personenbezogener Daten und den behördlichen Umgang
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17107
Hans Büttner
mit diesen Daten verfassungsrechtlich geklärt hat. Ich zitiere:
Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.
Heute, 10 Jahre danach, wollen wir im Bundestag in zweiter und dritter Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung dazu entscheiden. Dabei stellen wir fest — etwas, was wir schon bei der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfes konstatieren mußten —: Das Gesetz erfüllt die Erwartungen nicht. Das Gesetz widerspricht in weiten Teilen den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts.
— Ich komme noch dazu, Herr Feilcke. — Daher dürften wir nach der letzten Sitzung am Mittwoch heute eigentlich noch gar nicht über dieses Gesetz entscheiden.
Es trägt den Geist, den gemeinhin Kabarettisten der Datenschutzdiskussion auferlegen. Es soll die Behörden, die öffentlichen Dienststellen vor der Einsichtnahme der Bürger in ihre eigenen Daten schützen. Das ist genau die Formulierung, die man hier treffen kann.
Dabei hätten die Erfahrungen, die alle Politiker, alle Bürger dieses Landes bei der Aufarbeitung der StasiUnterlagen gemacht haben, dazu führen müssen, mehr als vorsichtig zu reagieren, wenn es um die Speicherung, Aufbewahrung und Weitergabe von Sozialdaten des einzelnen geht. Ein Mehr an Bürgerrechten, so wie es im Deckblatt des Gesetzentwurfes versprochen wird, hätte das Ergebnis der Beratungen zu diesem Sozialdatenschutzgesetz sein müssen. Herausgekommen ist genau das Gegenteil.
Der Grund für diese Entwicklung liegt einmal — ich sage das nicht nur an Sie gerichtet, sondern ich sage das an alle Länder und an viele in unserem Land gerichtet — in einer unangemessenen Mißbrauchskampagne. — Angesichts der Zeit verweise ich dazu auf meine ausführliche Stellungnahme in der ersten Lesung. — Der Grund liegt zum anderen darin, daß die F.D.P., die einstmals von sich behaupten konnte, sie trete für Individualrechte ein, inzwischen zu einer „Vereinigung der organisierten Unverbindlichkeiten" geworden ist,
wie Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung" zutreffend bemerkte. Es ist unglaublich, daß diese F.D.P. anscheinend nur noch den Schutz der Steuerhinterzieher und Geldwäscher fördert, jedoch nicht länger die individuellen Freiheitsrechte der Bürger.
Wir Sozialdemokraten werden es jedenfalls nicht zulassen, daß in diesem Staat mit den Gesundheitsdaten der Bürger Schindluder getrieben wird. Wir werden mit Nachdruck verteidigen, was uns das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 24. Juni 1993 nochmals aufgegeben hat — ich zitiere —:
Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses Recht schützt grundgesetzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter.
Der Schutz ist um so intensiver, je näher die Daten der Intimsphäre des Betroffenen stehen, die als unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung gegenüber aller staatlicher Gewalt Achtung und Schutz beanspruchen.
Ein weiterer Grund für die nachlässige grundrechtliche Behandlung dieses Gesetzentwurfes ist allerdings auch darin zu sehen, daß sich als Folge der Diskussion über die größere Wirtschaftlichkeit unseres Sozialsystems teilweise überzogene bürokratische Sammelwut gegen vernünftige, kooperativ anzuwendende Bürgerrechte durchgesetzt hat.
Allerdings bleibt auch dabei bemerkenswert, daß es die Koalitionsfraktionen nicht für nötig erachtet haben, sinnvolle Aufschlüsselungen der anonymisierten Gesundheitsdaten für eine regionale Betrachtungsweise in dieses Gesetz aufzunehmen, so wie es die Bundesländer gefordert hatten. Statt dessen hat man es letzten Mittwoch in einer Eilaktion noch ermöglicht, selbst die Speicherung des Lebertumors des Berufskraftfahrers, der Heizöl statt Dieselöl getankt hat, in den einschlägigen Dateien von Behörden, etwa der Polizei, der Strafverfolgungsbehörden und dergleichen, zu erlauben, ohne daß der Betreffende auch nur eine Chance hat, darüber jemals etwas zu erfahren.
Genau dies — Herr Feilcke, hören Sie einmal genau zu! — wird leider durch die im Rechtsausschuß gegen die Stimmen der SPD durchgeboxte Änderung in § 73 und § 80 SGB X eingeführt.
In der offiziellen Begründung heißt es in schöner Offenheit:
Hier reicht der Umfang der übermittelten Daten nach den Erfahrungen der Praxis häufig nicht aus. Nötig wären etwa Daten über strafrechtlich relevanten Mißbrauch und Betrug im Sozialbereich, aber auch über Beschäftigungszeiten, Krankheitszeiten, Arbeitsvermittlungsunfähigkeit, .. .
Das heißt: exakte Daten über Gesundheitszustand und dergleichen. Hier wird deutlich, welcher Geist den Autoren die Hand geführt hat.
Herr Büttner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Feilcke?
Bitte schön.
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Herr Kollege Büttner, könnten Sie bitte einmal erklären, warum ein Berufskraftfahrer, von dem Sie gesprochen haben, ausgerechnet einen Leberschaden haben sollte?
Herr Feilcke, ich habe nur ein Beispiel genannt, um etwas zu verdeutlichen. Der Berufskraftfahrer begeht nämlich, indem er Heizöl statt Dieselöl tankt, einen Betrug, eine Straftat von erheblicher Bedeutung. Nach Ihrem Entwurf wären zum einen die Strafverfolgungsbehörden jeglicher Art in der Lage, seine gesamten Sozialdaten zu sammeln. Zum anderen hat der Betroffene kein Recht, ohne Zustimmung dieser Behörden jemals zu erfahren, welche Daten dort über ihn gesammelt werden. Das halte ich mit der Verfassung für nicht vereinbar. Das hat Ihnen auch der Datenschutzbeauftragte bei der Beratung im Arbeits- und Sozialausschuß deutlich gemacht.
Herr Büttner, Herr Feilcke möchte noch eine weitere Zwischenfrage stellen.
Wenn Sie mir die Zeit nicht anrechnen.
Herr Kollege Büttner, der Sinn meiner Frage ist Ihnen möglicherweise verborgen geblieben. Finden Sie das Beispiel mit dem Leberschaden nicht ein bißchen weit hergeholt und nicht eventuell auch geschmacklos?
Wissen Sie, Herr Feilcke, ich habe dies ganz bewußt angeführt, weil es anders bei Ihnen nicht möglich zu sein scheint, die Sensibilität dieser Bestimmung, die Sie durchgepeitscht haben, zu verdeutlichen. Es freut mich, daß Sie wenigstens durch dieses Beispiel darauf aufmerksam geworden sind, was Sie noch in letzter Minute durchgepeitscht haben. Vielleicht führt das dazu, daß Sie das noch einmal überdenken.
Herr Büttner, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?
Aber gerne.
Herr Kollege Büttner, wir haben diese Situation im Ausschuß intensiv erörtert. Ist es nicht so, daß sich mit der Zurückhaltung dieser Daten für den betroffenen Arbeitnehmer, insbesondere bei Verfahren zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, möglicherweise erhebliche Nachteile ergeben, weil er nicht darauf zurückgreifen kann, wenn er Anträge an die Berufsgenossenschaft stellt, um sich entschädigen zu lassen?
Herr Urbaniak, Ihre spezielle Frage ist durch die Bestimmung des § 73 SGB X nicht berührt. Aber Sie haben recht: In einer ganzen Reihe weiterer Bestimmungen, die die wissenschaftliche Verarbeitung von Daten, z. B. § 100a, betreffen, ist genau diese Gefahr enthalten. Deswegen bedürfte dieses Gesetz eigentlich noch ausführlicher weiterer Beratung.
— Es ist mir schon klar, daß Sie das eventuell anders sehen.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, wir haben darauf hingewiesen, daß das verfassungsrechtliche Gebot, das sich aus diesem Urteil ergibt, daß nämlich der Betroffene ein erklärtes Auskunftsrecht haben muß, daß er wissen muß, wer was wann wo über ihn weiß, in diesem Gesetz nicht gegeben ist. Wir konnten uns mit dieser Auffassung in den Ausschußberatungen leider nur zum geringen Teil durchsetzen. Wir werden unsere Änderungsanträge deswegen auch hier in zweiter und dritter Lesung noch einmal zur Abstimmung stellen, weil wir glauben, daß Sie sich im Bundestag die Chance nicht ganz entgehen lassen, Ihre Verpflichtung gegenüber Geist und Inhalt unserer Verfassung wahrzunehmen, unsere Änderungsanträge zu akzeptieren und auf die geplante Verschlimmerung der §.§. 83, 73 und 68 zu verzichten.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch zwei Bemerkungen grundsätzlicher Art machen. Herr Feilcke hat auf die Europadiskussion hingewiesen. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Feilcke, bin ich enttäuscht darüber, daß die Bundesregierung z. B. den weitgehenden Vorschlag der EG-Kommission zum Schutz der Gesundheitsdaten und der Persönlichkeitsdaten zusammen mit England und Dänemark abgelehnt hat. Das ist keine Verbesserung des Datenschutzes, sondern eine Verschlechterung, die hier von der Bundesregierung auf europäischer Ebene betrieben wird.
— Keine Polemik, sondern Tatsache, Herr Feilcke. Wir können das später noch im Detail nachvollziehen.
Ein Zweites: Es ist sehr deutlich geworden, daß die Mehrheit des Parlaments zunehmend widerspruchslos bereit ist, sich von der Exekutive gebrauchen bzw. auch mißbrauchen zu lassen. Ich erinnere daran: Peter Conradi hat bei der Beratung des Föderalen Konsolidierungsprogramms im Sommer dieses Jahres darauf hingewiesen, daß eine Praxis im Bundestag überhandnehme, nach der die Bundesregierung ihr Verordnungsrecht zunehmend dem Gesetzgeber übertrage, um es dann hinterher jeweils wieder zurückzunehmen und Verordnungen neu zu erstellen. Dies ist in den Art. 14 und 15 dieses Gesetzentwurfs erneut geschehen, und wir im Parlament nehmen das widerspruchslos hin. So heißt es in Art. 18 des Gesetzes:
Die auf Artikel 14 und 15 beruhenden Teile der dort geänderten Rechtsverordnungen können auf Grund der jeweiligen einschlägigen Ermächtigung durch Rechtsverordnung geändert werden.
Kolleginnen und Kollegen, es ist ja sachgerecht, daß im Rahmen einer Gesetzesänderung auch Verordnungen geändert werden. Das alles ist okay. Aber dann soll die Regierung ihre dafür erforderlichen Hausauf-
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Hans Büttner
gaben machen und sie nicht ständig dem Parlament unter Mißachtung des Rechts auferlegen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zu welchen abstrusen Ergebnissen man dabei kommt, hat sich an Hand des Beispiels AOK Bonn gezeigt. Wir konnten das noch korrigieren. Aber es gibt eine Reihe weiterer ähnlicher Vorgänge.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Dieses Gesetz zum Sozialdatenschutz ist eigentlich noch nicht reif für eine Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt. Es enthält nach wie vor nach unserer und des Datenschutzbeauftragten Ansicht — ich verweise auf die §§ 68, 73, 80 — eklatante Verstöße gegen die Grundsätze des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Es schürt das Mißtrauen der Bürger gegen den Staat, es zeugt von einem unverantwortlichen Mißtrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern.
Wir Sozialdemokraten können einem solchen Gesetz unsere Zustimmung nicht geben. Wir bitten Sie, im Interesse eines demokratischen Staatswesens, das auf Vertrauen und Zusammenarbeit seiner Bürger angewiesen ist, den vorgelegten Gesetzentwurf mit uns zusammen abzulehnen, um die Chance zu nutzen, etwas Vernünftiges und Verfassungskonformes zustande zu bringen.
Die „Vereinigung der organisierten Unverbindlichkeiten", die F.D.P., hat auch bei den Beratungen zu diesem Gesetz ihre Überflüssigkeit bewiesen. Mein Appell richtet sich deshalb vor allem an die Abgeordneten der CDU-Fraktion, die sich bei den Beratungen in manchen Bereichen als einsichtig erwiesen haben: Nutzen Sie Ihre Einsicht, um mit uns für eine bürgerfreundliche Gesetzgebung zu stimmen! Lehnen Sie mit uns dieses Gesetz ab! Die Bundesregierung wird keinen Schaden erleiden, wenn dieses Gesetz heute nicht verabschiedet wird; aber die Bürger und unsere Gesellschaft können dadurch gewinnen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste spricht die Kollegin Frau Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein bißchen muß man dem Kollegen Büttner vielleicht dankbar sein, daß er dieses langweilige Thema, wie der Kollege Feilcke es ankündigte, ein Gesetz, das zwar wichtig, aber langweilig sei, nun doch so aufgemotzt hat, daß wir alle aufgewacht sind. Das heißt aber nicht, daß das, was Sie inhaltlich dazu gesagt haben, in irgendeiner Weise Substanz hätte.
Die Angriffe, die Sie gegen die F.D.P. gerichtet haben, weise ich zurück.
Das Gesetz zum Schutz der Sozialdaten wird im Bundestag beschlossen. Es geht um Vorschriften, die regeln, wie Sozialdaten erhoben werden, wie sie gespeichert werden und unter welchen Voraussetzungen sie weitergegeben werden können. Die Notwendigkeit dieses Gesetzes — wir tun gut daran, bei der vorherrschenden Regelungsdichte neue Gesetze immer darauf zu überprüfen, ob sie notwendig sind — ergibt sich aus zwei Gesichtspunkten: erstens aus dem Schutzbedürfnis des Bürgers und zweitens aus der Forderung nach straffer, effizienter staatlicher Verwaltung.
Es ist ein modernes Gesetz, weil es die technischen Möglichkeiten, Daten zu speichern und weiterzugeben, in Betracht zieht und die sich daraus ergebenden Gefährdungen für den einzelnen eindämmt. Die Tatsache, daß der Staat so viele — auch intime — Daten braucht, ergibt sich aus seiner Aufgabe, Leistungen zu gewähren: Leistungen bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit, aus der Alterssicherung. Der gewährende Staat muß diese Leistungen, ob er sie selber gewährt oder ein Sozialleistungsträger, an bestimmte Bedingungen knüpfen, deren Vorliegen der einzelne nachweisen muß. Das ist einsichtig. Aber damit, gerade in Kombination mit moderner Computertechnik, erhält der Staat ein sehr weitgehendes Wissen über den einzelnen. Also müssen zum Schutz vor Mißbrauch dem Staat durch den Gesetzgeber Schranken errichtet werden, die genau sagen, wie er mit Daten umgehen und unter welchen Umständen er Daten weitergeben soll. Die Versuchung, dies auf dem „kleinen Dienstweg" zu tun, ist natürlich vorhanden.
Wir sind aber auch daran interessiert, daß Entscheidungen in unserer Verwaltung schnell vorangetrieben werden können. Deswegen ist es sinnvoll, an Verzahnungen zu denken, etwa von Krankenkassen, der Rentenversicherung, den Rehabilitationsträgern und weiteren. Dennoch gilt der Grundsatz, daß Daten beim Betroffenen selbst und nur zu dem Zweck, der dafür festgelegt ist, erhoben werden sollen. Davon gibt es Ausnahmen; Ausnahmen sind eng auszulegen.
Hellwach wird man in dieser Problematik dann, wenn es darum geht, daß der Staat bei seiner Aufgabe, Straftäter zu verfolgen, die bereitstehenden Datenbanken von Sozialleistungsträgern anzapfen möchte. Wir denken etwa an den Fall — wir haben ihn im Ausschuß beschrieben — eines Betrügers, der regelmäßig Sozialhilfe abholt und über den die Polizei beim zuständigen Sozialamt Auskünfte einholen wollte, das Amt die Erteilung dieser Auskünfte aber verweigert hat. — Schon dies ist nach derzeitiger Lage zumindest zweifelhaft. Hier gibt es also durchaus wichtige Gründe, die Weitergabe von Sozialdaten für richtig zu halten. — Wir haben insofern Defizite bei der Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Das Gesetz sieht nunmehr Erleichterungen bei der Übermittlung von Sozialdaten vor. Die Weitergabe ist — das ist aus der Sicht der F.D.P. besonders wichtig — an die Anordnung eines Richters geknüpft. Damit ist der einzelne vor mißbräuchlicher Inanspruchnahme hinlänglich geschützt. Auch zur Mißbrauchsbekämpfung beim Bezug sozialer Leistungen selbst ist Weitergabe von Sozialdaten erlaubt.
Meine Damen und Herren, das Thema Mißbrauch hat uns hier schon des öfteren beschäftigt, und oft war
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Dr. Gisela Babel
eine effiziente Verfolgung nicht möglich, weil der Abgleich von Daten nicht erlaubt war. Dies zu ändern ist, glaube ich, in unser aller Sinn, ist sinnvoll und hilft auch, Ressourcen zu sparen.
Wie alle Gesetze, die wir beschließen, wird erst ihre Anwendung in der Praxis zeigen, ob es uns gelungen ist, einerseits dem Bürger genügend Schutz für seine Sozialdaten zu bieten, auf der anderen Seite staatliches Handeln nicht unvernünftig zu behindern.
Die Tatsache, daß der Datenschutzbeauftragte, den wir im Grunde zum Wächter der Sozialdaten des Bürgers ernannt haben, an allen Verhandlungsteilen und -schritten beteiligt war und daß er dieses Gesetz unterstützt hat, bietet für uns die Gewähr, daß wir sagen können: Hier ist eine vernünftige Lösung erreicht worden. Die F.D.P. stimmt dem Gesetz zu.
Ich bedanke mich.
Als letzte spricht zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß vorausschicken, daß ich es als eine Zumutung empfinde, heute hier über ein Gesetz endgültig und abschließend zu beraten, das uns bei einem Umfang von 80 Seiten mit Begründungsteil erst seit gestern abend vorliegt.
Gestern um 3/4 5 Uhr haben wir die Unterlagen gehabt. Da können Sie im Ausschuß nachfragen. Wir haben das, wie gesagt, gestern im Ausschuß um 3/4 5 Uhr übermittelt bekommen. Da können Sie gerne nachfragen.
Und im übrigen, Frau Kollegin, es gehört nicht zu meinem Erfahrungsschatz — leider! — der vergangenen drei Jahre, daß die Vorschläge und Intentionen der Gruppen von den Fraktionen der Regierungskoalition jemals, irgendwann ein einziges Mal in der entsprechenden Weise ernst genommen worden wären. Und Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß dieses Gesetz eine ganz andere Form bekommen hätte, wenn wir im Ausschuß bei diesen Beratungen dabei gewesen wären.
Ich möchte jetzt keine Fragen beantworten. Ich möchte nun zu meinem Text kommen.
Kürzlich hat dieses Haus ein Paket beschlossen, mit dem die Sozialleistungen für die Ärmsten der Gesellschaft um 20 Milliarden DM gekürzt werden sollen. Die Leistungsempfänger und Arbeitnehmer stellt man mit dem jetzt hier vorliegenden Gesetz unter einen Vorverdacht, sie könnten Leistungen erschwindeln. Das paßt nahtlos zu der Kampagne, die auch von der Bundesregierung unterstützt worden ist, daß angeblich ein umfangreicher Mißbrauch von Sozialleistungen die Regel ist.
Die Regierung hat allerdings bisher den Nachweis für diese Behauptung nicht erbringen können. Aber die Botschaft an die Bevölkerung ist angekommen: Nun fühlen sich zwei Drittel der Bevölkerung bedroht, und zwar nicht mehr so sehr von den Asylbewerbern, sondern jetzt vom Mißbrauch von Sozialleistungen. Wir halten diesen politisch erzeugten Trend für äußerst gefährlich.
Dabei gibt es schon nach den bestehenden Gesetzen umfangreiche Möglichkeiten, den unberechtigten Bezug von Leistungen zu verhindern. Das hat auch der Bundesbeauftragte für Datenschutz in seiner Stellungnahme an den Ausschuß klargestellt.
Noch immer gibt es auch keine verläßlichen Untersuchungen darüber, was nun teurer kommt, die Überwachungsbürokratie oder der vorhandene Mißbrauch. Das Verfahren ist hierzulande üblich: Man schreit nach immer neuen Gesetzen und Überwachungsmethoden, ohne den Nachweis zusätzlicher Sicherheit tatsächlich zu erbringen.
Auf der Strecke bleiben dabei die Bürgerrechte und insbesondere der Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Wir wollen — und ich sage es in aller Klarheit — keinen „sozialpolitischen großen Lauschangriff" auf die Sozialdaten der Bürgerinnen und Bürger.
Gegen die neue Gesetzgebung haben sich vor Monaten schon die Landesbeauftragten für Datenschutz in eindeutiger Weise gewandt. Noch immer sind gravierende Bedenken nicht ausgeräumt. In den neuen Datenaustausch sind nicht nur Krankenkassen, Rentenversicherungsträger, die Ausländerbehörden, die Sozialhilfeträger, die Stellen für Zusatzversorgungssysteme des öffentlichen Dienstes und Dutzende weitere Behörden eingebunden.
In § 72 liest man sogar:
Eine Übermittlung von Sozialdaten ist zulässig, soweit sie im Einzelfall für die rechtmäßige Erfüllung der in der Zuständigkeit der Behörden für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes, des Militärischen Abschirmdienstes und des Bundeskriminalamtes liegenden Aufgaben erforderlich ist.
Und im § 69 erhalten die Krankenkassen jetzt die Befugnis, „einem Arbeitgeber mitzuteilen, ob die Fortdauer einer Arbeitsunfähigkeit oder eine erneute Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers auf derselben Krankheit beruht". Es geht also um weit mehr als allein um Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen.
Wir wissen zwar nicht, wie viele Millionen DM schließlich durch die geplante Einrichtung der Sozialdatenbanken an unberechtigten Leistungen eingespart werden können, aber das weiß ehrlicherweise niemand hier im Hause.
Der Zynismus des Gesetzes wird vollends offensichtlich, wenn man sieht, daß man die angeblich
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17111
Christina Schenk
notwendige Überwachung gerade auf dem Gebiet nicht anzuwenden gedenkt, bei dem tatsächlich enorme Geldmengen verlorengehen. Nach seriösen Schätzungen werden jährlich etwa 50 Milliarden DM
— 50 Milliarden, ich wiederhole das — Steuern hinterzogen. Und jeder hier im Hause weiß, daß das notwendige Personal, das in Kürze das Zehnfache der eigenen Personalkosten eintreiben würde, vorsätzlich nicht eingestellt wird.
Frau Schenk, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluß.
Aus den genannten Gründen lehnt die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das vorliegende Gesetz ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialgesetzbuches über den Schutz der Sozialdaten, Drucksachen 12/5187 und 12/6306.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6324 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag?
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a bis h und die Zusatzpunkte 5 bis 12 und 15 auf:
15. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Ausblick auf die Tagung des Europäischen Rates am 10./11. Dezember 1993 in Brüssel
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Peter Kittelmann, Michael Stübgen, Dr. Renate Hellwig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Dr. Cornelia von Teichman, Georg Gallus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Vollendung des europäischen Binnenmarktes
— Drucksachen 12/4827, 12/5589 —
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu dem Entwurf eines einheitlichen Wahlverfahrens für die Mitglieder des Europäischen Parlaments
— Drucksachen 12/4703, 12/5753 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Kittelmann Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Helmut Haussmann
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
51. Bericht der Bundesregierung über die
Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften
- Drucksachen 12/4678, 12/5757 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Kittelmann Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Helmut Haussmann
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
aa) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
— Vorschlag für einen Beschluß des Rates über das vierte Rahmenprogramm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Bereich der Forschung, der technologischen Entwicklung und der Demonstration
— Vorschlag für einen Beschluß des Rates über ein Rahmenprogramm für gemeinschaftliche Maßnahmen im Bereich der Forschung und Ausbildung für die Europäische Atomgemeinschaft
bb) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu den Arbeitsdokumenten der Kommission für das Vierte gemeinschaftliche Rahmenprogramm im Bereich der Forschung und technologischen Entwicklung
— Drucksachen 12/5749 Nr. 3.59, 12/5457, 12/6213 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Martin Mayer
Bodo Seidenthal
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
17112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
f) Erste Beratung des von der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes — Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger
— Drucksache 12/6115 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
EG-Ausschuß
g) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Einsetzung eines Ausschusses des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 45 Satz 1 des Grundgesetzes
— Drucksache 12/6283 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß EG-Ausschuß Finanzausschuß
h) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Einsetzung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Artikel 45 Satz 1 des Grundgesetzes
— Drucksache 12/6036 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß EG-Ausschuß Finanzausschuß
ZP5 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips
— Drucksachen 12/4054, 12/6256 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Kittelmann Heidemarie Wieczorek-Zeul Burkhard Zurheide
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum freien Personenverkehr gemäß Artikel 8 a des EWG-Vertrags
zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum freien Personenverkehr gemäß Artikel 8 a
— Drucksachen 12/5173, 12/5534, 12/6257 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Kittelmann Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Helmut Haussmann
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Arbeitsprogramm der Kommission für 1993 bis 1994
— Drucksachen 12/5190 Nr. 2.13, 12/6258 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Kittelmann Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Helmut Haussmann
ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat und Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Gewährung einer Bürgschaft der Gemeinschaft an die Europäische Investitionsbank für etwaige Verluste aus Darlehen für Vorhaben in Albanien
— Drucksachen 12/4797 Nr. 3.2, 12/6259 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup
ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Zahlungsverkehr im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion
— Drucksachen 12/4505, 12/6260 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
ZP10 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Europäische Investitionsfonds
— Vorschlag für einen Zusatz zu dem Protokoll über die Satzung der Europäischen Investitionsbank, mit dem der Rat der Gouverneure der EIB zur Errichtung des Europäischen Investitionsfonds ermächtigt wird
— Vorschlag für einen Beschluß des Rates über die Mitgliedschaft der Gemeinschaft im Europäischen Investitionsfonds
— Drucksachen 12/4555 Nr. 2.6, 12/6261 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17113
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
— Mitteilung der Kommission zu den Interventionen der Europäischen Investitionsbank in den mittel- und osteuropäischen Ländern
— Vorschlag für einen Beschluß des Rates über eine Garantieleistung der Gemeinschaft für etwaige Verluste der Europäischen Investitionsbank aus Darlehen für Vorhaben in den mittel- und osteuropäischen Ländern
— Drucksachen 12/5662 Nr. 3.4, 12/6265 — Berichterstattung: Abgeordneter Claus Jäger
ZP12 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesregierung
— Drucksache 12/6282 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß
ZP15 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesregierung
-- Drucksachen 12/6106, 12/6335 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Kittelmann Heidemarie Wieczorek-Zeul Burkhard Zurheide
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einer Woche findet die regelmäßige halbjährliche Tagung des Europäischen Rats in Brüssel statt. Diese Tagung schließt sich an die Sondertagung vom 29. Oktober an, über die ich hier bereits am 11. November berichtet habe.
Vor wenigen Wochen, am 1. November, ist der Vertrag über die Europäische Union in Kraft getreten. Es kommt jetzt darauf an, alles zu tun, um die Möglichkeiten dieses Vertrages zu nutzen. Die Europäische Union muß ihre Handlungsfähigkeit auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Europas in allen wichtigen Sachfragen unter Beweis stellen. Das heißt, anders ausgedrückt, wir müssen alles tun, um aus der gelegentlich vorhandenen Stimmung des
Euro-Pessimismus herauszukommen und den Zug Europa auf volle Fahrt zu bringen.
Von dem Sondertreffen am 29. Oktober ist, wie ich denke, ein wichtiger Impuls ausgegangen. Wir haben die Tagung im Oktober und die Tagung jetzt im Dezember immer als eine Einheit gesehen. Wir werden alles tun — die Bundesregierung wird ihren Beitrag dazu leisten —, daß wir das, was wir uns im Oktober vorgenommen haben, jetzt im Dezember vollenden.
Ich will noch einmal darauf hinweisen — weil wir sehr vergeßlich sind —, daß die Sondertagung für uns Deutsche ein besonders herausragendes Ergebnis gebracht hat mit der Entscheidung, daß das Europäische Währungsinstitut und damit auch die künftige Europäische Zentralbank ihren Sitz in Frankfurt am Main haben werden.
Es war ebenfalls von großer Bedeutung, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Voraussetzungen und den Zeitplan für den gemeinsamen Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion klar bekräftigt haben. Jetzt sind alle Mitgliedstaaten aufgefordert, entsprechend den Bestimmungen des Vertrages eine möglichst große Annäherung unserer nationalen Volkswirtschaften durch eine konsequente Stabilitätspolitik und durch die notwendigen Veränderungen der Strukturveränderungen zu erreichen.
Wichtig ist, meine Damen und Herren — ich will das besonders hervorheben —, daß der Rat der Europäischen Union die von der französischen und der deutschen Regierung erstmals gemeinsam übermittelten nationalen Konvergenzprogramme zur Vorbereitung auf die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion besonders positiv aufgenommen hat. Ich sehe hierin nicht nur ein wichtiges wirtschafts- und finanzpolitisches, sondern vor allem auch ein europapolitisches Signal. Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung unserer beiden Länder ist es im Hinblick auf die weitere europäische Integration für alle von größtem Vorteil, wenn die beiden größten europäischen Volkswirtschaften sich einander noch weiter annähern. Das war auch das Ziel unserer Gespräche anläßlich des deutsch-französischen Treffens in diesen Tagen in Bonn.
Wir wollen damit einmal mehr unterstreichen, daß sich unsere Freundschaft und Zusammenarbeit auf alle Gebiete erstrecken und daß sich diese Veranstaltung — auch psychologisch und ökonomisch — nicht nur auf Schönwetterzeiten beschränkt. Auch und gerade bei einer schwierigen wirtschaftlichen Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist es wichtig, daß wir versuchen, gemeinsam unsere Probleme zu lösen.
Meine Damen und Herren, wer die ökonomische Situation — Fragen der Investitionen, steigende Arbeitslosigkeit — in weiten Teilen der westlichen Welt betrachtet — ich nenne die USA genauso wie
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Japan, aber auch die europäischen Länder — weiß, daß wir vor neuen und auch gewaltigen Herausforderungen im Blick auf Wachstum und Arbeitsplätze stehen. Die Ursachen dafür sind in vielen Feldern in den einzelnen Ländern unterschiedlich; der Gesamtbefund ist schon sehr ähnlich, in vielen Fällen sogar deckungsgleich.
Die Gespräche, die ich in diesen Tagen mit meinem britischen Kollegen, mit den Staats- und Regierungschefs Frankreichs und den Regierungschefs von Spanien und Belgien führen konnte, zeigen, daß überall im Prinzip die gleiche Herausforderung zu sehen ist: die Überwindung einer konjunkturellen Krise, deren eigentliche Gefährlichkeit darin besteht, daß strukturelle Umbrüche deutlich geworden sind wie selten zuvor.
Es ist erfreulich, daß wir in der Analyse weitgehend übereinstimmen. Aber für mich ist noch erfreulicher, daß wir in bezug auf die Maßnahmen, die wir national wie auch auf der Gemeinschaftsebene ergreifen müssen, weitgehend Übereinstimmung haben. Wir müssen schlicht erkennen, daß unsere Volkswirtschaften in Europa einem immer stärkeren Konkurrenzdruck vor allem aus Übersee, aus dem pazifischen Raum, aus Amerika ausgesetzt sind.
Meine Damen und Herren, ich bedauere eigentlich, daß ein so großes, wichtiges Ereignis wie die Tagung der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft vor zwei Wochen im amerikanischen Seattle bei uns so wenig Resonanz gefunden hat.
Die Länder dieses pazifischen Raums, dieser Wirtschaftsgemeinschaft, erwirtschaften etwas mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts der ganzen Welt. Es ist die erste internationale Tagung von dieser Bedeutung, an der aus Gründen der Geographie, aber sicher auch aus anderen Gründen keine Europäer teilnahmen.
Wenn wir Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze schaffen wollen, ist unser erstes Ziel, international wettbewerbsfähig zu sein. Deshalb müssen wir unser großes Potential zur Innovation, zu wirtschaftlichem Wachstum und für zukunftssichere Arbeitsplätze nutzen. Die richtigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ist — wie immer wir es anfassen — eine nationale und eine europäische Aufgabe zugleich. Daher werden die Fragen der Förderung des Wachstums, der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung im Mittelpunkt unserer Beratungen heute in acht Tagen stehen.
Gegenwärtig sind in den Staaten der Europäischen Union rund 17 Millionen Menschen — das sind rund 11 % der Erwerbsbevölkerung — arbeitslos. Trotz des zu erwartenden Konjunkturaufschwungs mit Wachstumsraten in der Größenordnung zwischen 1 bis 2 % —je nach Land — im kommenden Jahr ist ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union auf über 12 % nicht auszuschließen. Dies ist mehr als besorgniserregend, zumal da es sich in weiten Bereichen eben nicht um die Folge einer
vorübergehenden Konjunkturflaute handelt, sondern — wie ich schon sagte — die strukturellen Anpassungen bewältigt werden müssen. Alte Strukturen mit vielen Arbeitsplätzen gehen verloren, ohne daß in den einzelnen Ländern — wir wissen das aus der eigenen Erfahrung — sofort neue Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Dies zeigt jedem deutlich, daß wir jetzt — und nicht irgendwann — Impulse für ein stärkeres Wachstum, für die notwendigen Entscheidungen zu struktureller Umgestaltung brauchen, um Arbeitsplätze zu sichern und sichere Arbeitsplätze neu zu schaffen.
Bei der Sondertagung des Europäischen Rates vor wenigen Wochen, Ende Oktober, hat uns Präsident Jacques Delors einen Zwischenbericht über die Vorbereitung des Weißbuchs gegeben, das einer mittelfristigen Strategie für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung dienen soll. Der eigentliche Bericht — das will ich hier gleich mitteilen, wenn ich danach gefragt werden sollte — wird erst in den nächsten Tagen — ich vermute, erst am kommenden Montag — der Bundesregierung vorliegen.
Die Bundesregierung hat ihre Erwartungen für eine solche Strategie der Gemeinschaft zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung der Kommission bereits Anfang September mitgeteilt. Wir haben dabei auf folgende Punkte hingewiesen: Stärkung der Attraktivität des Investitionsstandortes Europa, insbesondere durch Anstrengungen zum Ausbau der Infrastruktur, zur Intensivierung von Forschung und Entwicklung sowie zur Verbesserung von Bildung und Ausbildung; Fortsetzung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik und konsequente Anwendung aller Notwendigkeiten der Haushaltskonsolidierung; mehr Flexibilität bei der Gestaltung von Arbeitszeit und Maschinenlaufzeiten, verbunden mit einer stärkeren Differenzierung der Lohnvereinbarungen nach Regionen, nach Branchen und nach Unternehmen; und schließlich Offenhaltung der Märkte, d. h. in diesen Tagen immer auch der gewünschte erfolgreiche Abschluß der laufenden GATT-Runde.
Ich gehe davon aus, daß die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch gerade zu diesen Punkten Vorschläge unterbreiten wird. Die Diskussion darüber, meine Damen und Herren, d. h. über die Chancen für Wachstum, Arbeit und Beschäftigung in Europa in den nächsten Jahren, muß dementsprechend im Mittelpunkt der Tagung des Europäischen Rats stehen.
Es ist dabei ganz besonders wichtig im Blick auf Arbeitslosigkeit und stärkeres Wachstum in Europa auch und nicht zuletzt für die Entwicklungschancen der Länder der Dritten Welt, daß wir die wenigen Tage bis zum 15. Dezember nutzen — ich will es so sagen, wie wir es vereinbart haben: Stunden wie Tage —, um zu einem positiven Abschluß bei GATT zu kommen.
Das geht nur bei Kompromißbereitschaft auf allen Seiten, auch auf beiden Seiten des Atlantiks. Ich hoffe — ich will das vorsichtig formulieren —, daß sich das
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
bestätigt, was an positiven Anzeichen in den letzten 24 Stunden über die Nachrichten lief. Ich selbst möchte mit einem Urteil abwarten, bis die Dinge tatsächlich beschlossen sind. Wir werden jedenfalls — und ich selbst — bis in die letzte Stunde alles versuchen — ich habe das in vielen Gesprächen in diesen Tagen getan —, um unseren Beitrag zu dieser Kompromißfähigkeit zu leisten.
Meine Damen und Herren, gerade wir Deutschen sollten nicht aus den Augen verlieren: Der Zusammenschluß Westeuropas hat schon bisher ganz entscheidend zu Beschäftigung, zu Wachstum und zu wirtschaftlichem Wohlstand in Deutschland beigetragen.
All jene, die die europapolitische Debatte rückwärts gerichtet führen, sollten nicht vergessen, daß Deutschland wirtschaftlich in den vergangenen Jahrzehnten von den europäischen Rahmenbedingungen, die uns EG und EFTA boten, in höchstem Maße profitiert hat.
Für uns in Deutschland bleibt der Export die tragende Säule des Bruttosozialprodukts. Jeder dritte Arbeitsplatz hängt vom Export ab. Wir erwirtschaften ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts durch Exporte.
Rund drei Viertel davon kommen von unseren europäischen Handelspartnern. 1992 exportierten wir Waren im Werte von 365 Milliarden DM in die Lander der Gemeinschaft und der EFTA. Unsere Ausfuhren in EG-Länder sind dabei etwa doppelt so stark gestiegen wie unsere Exporte in die übrige Welt, was im übrigen die durchaus berechtigte Frage aufwirft, ob wir bei den Exporten die übrige Welt zu sehr vernachlässigt haben.
Anders ausgedrückt: Europa bedeutet Millionen von Arbeitsplätzen für Deutschland. Schon aus diesen, aber nicht nur aus diesen Gründen ist die Frage der europäischen Einigung von einer existentiellen Bedeutung für unser Land.
Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Thema des Europäischen Rats wird die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips sein, dessen Verankerung wir im Vertrag von Maastricht durchgesetzt haben.
Ich weiß, dieser Begriff ist in der Öffentlichkeit schwer vermittelbar. Ich will es hier ganz verkürzt sagen: Es geht um die Bürgernähe der Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft. Es ist wahr — ich habe das auch schon von dieser Stelle gesagt, aber weil die Diskussion an diesem Punkt ja unaufhörlich weitergeht, will ich es wiederholen —, daß Sinn und Zweck mancher EG-Richtlinie nur schwer vermittelbar ist.
Manches ist dem Regulierungseifer in Brüssel zu verdanken. Manches — und das muß man fairerweise hinzufügen — ist aber auch massiven nationalen Interessen denjenigen zu verdanken, von Aktiven, die
sich im eigenen Land nicht durchsetzen konnten und den Weg über Europa gewählt haben.
Bei diesem Tun, meine Damen und Herren, sollten wir niemand ausnehmen, auch uns selbst nicht.
Wir haben im Europäischen Rat von Edinburgh vor einem Jahr die EG-Kommission beauftragt, bestehende und in Vorbereitung befindliche Rechtsakte im Lichte des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen und dem Europäischen Rat zu dieser Tagung in acht Tagen Vorschläge vorzulegen.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips eine der entscheidenden Voraussetzungen für das Verständnis der Bürger für die europäische Einigung, für Bürgernähe ist. Ich hoffe sehr — eigentlich bin ich zuversichtlich —, daß alle unsere Partner und das heißt auch die EG-Kommission die Bedeutung und die Tragweite dieses Grundsatzes für alle Bürger in Europa begreifen.
Die erneute Befassung Ende nächster Woche mit dem Thema ist deswegen nur ein erster wichtiger Schritt. Ich will hier ankündigen, daß die Bundesregierung darauf bestehen wird, daß erstens ein jährlicher Bericht von der Kommission über die jeweiligen Richtlinien des abgelaufenen Jahres vorgelegt wird und daß zweitens auch die Antragsteller in diesem Bericht ausdrücklich erwähnt werden.
Wir müssen einen Weg finden, um fair mit den Institutionen umzugehen. Ich füge gleich hinzu, weil es ja auch diese Diskussion in Europa gibt: Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bedeutet nicht, daß wir den Integrationsprozeß hemmen wollen oder gar, wie man das in Straßburg nennt, eine schleichende Renationalisierung vornehmen wollen. Darüber brauchen wir hier, glaube ich, nicht zu diskutieren; das ist nicht unser Ziel.
Es gab und gibt und darf auch in Zukunft keinen Rückzug auf überlebte nationalstaatliche Modelle des vergangenen Jahrhunderts geben.
Die großen Herausforderungen der Zukunft Europas in wirtschafts-, finanz-, energie- und umweltpolitischen Bereichen sind immer auch europäische Aufgaben und anders gar nicht mehr zu lösen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns weiterhin auch darüber unterhalten und die Chancen konsequent nutzen, die uns der Vertrag fiber die Europäische Union mit einer verstärkten Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik bietet.
Ich habe damals bei meinem Bericht über die Maastricht-Tagung schon erwähnt, daß die Bundesregierung und vor allem auch ich selbst gern im Vertrag
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
bessere Möglichkeiten für die Verstärkung der Zusammenarbeit im Bereich der Innen- und der Rechtspolitik gesehen hätten. Das war in Maastricht so nicht zu machen. Aber ich denke, wir sollten jetzt alles tun, um den gegebenen Rahmen nicht nur auszuschöpfen, sondern möglichst stark auszuweiten, um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, die Drogenmafia und das international organisierte Verbrechen in Zukunft viel stärker, viel intensiver angehen zu können.
Wir haben ja gerade einen tragischen Beweis für die Notwendigkeit solchen Handelns erlebt; ich erinnere an die Morde an zwei deutschen Grenzbeamten im D-Zug „Donau-Kurier" am 11. November.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich bin sicher: Wir können auch diese Probleme nur gemeinsam mit unseren Partnern lösen. Ich denke dabei eben nicht nur an die jetzigen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, sondern ebenso an die frühzeitige Einbeziehung von Nachbarn, beispielsweise Österreichs und der Schweiz.
Wir müssen erreichen, den Bürgern, die ja in ihrem täglichen Leben unmittelbar betroffen sind, die Gewißheit zu geben, daß die Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen nicht zu Lasten der Sicherheit gehen kann.
Die Innen- und die Justizminister werden dem Europäischen Rat in der nächsten Woche einen Aktionsplan für das weitere Vorgehen vorlegen. Hierzu gehören insbesondere der Aufbau von EUROPOL und wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenhandels und der Geldwäsche.
Ich habe die Absicht, meine Kollegen darauf hinzuweisen, daß wir, da aus meiner Sicht die Instrumente des Vertrags noch nicht ausreichen, darüber hinaus überlegen müssen, was wir konkret, nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen der amerikanischen Behörden bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität und der Drogenmafia, tun können.
Ich stelle mit einer gewissen Genugtuung fest, daß immer mehr Staats- und Regierungschefs in der Europäischen Gemeinschaft jetzt bereit sind, zu überlegen, welche raschen Maßnahmen wir ergreifen können, um die Effizienz der Verfolgung entscheidend zu verbessern. Ich halte dies auch im Blick auf die Sicherheit unserer Bürger und die öffentliche Diskussion in einer Europäischen Union ohne Binnengrenzen — das ist ein oft gehörtes Argument — für sehr bedeutsam.
Meine Damen und Herren, der Maastricht-Vertrag bezeichnet auch die Asylpolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse. Der Sondergipfel hat die Innen- und die Justizminister aufgefordert, eine abgestimmte Asylpolitik zu entwickeln. Die Asylpolitik der Mitgliedstaaten kann nur dann erfolgreich sein, wenn überall in Europa über einen Asylantrag nach weitgehend einheitlichen Kriterien auf Grund gleichwertiger Verfahren entschieden wird.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, nicht zuletzt der Krieg im früheren Jugoslawien hat die
bisherigen Grenzen der Europäischen Gemeinschaft bei Krisenvorbeugung und Krisenlösung deutlich aufgezeigt. Jetzt gibt uns der Vertrag die Möglichkeit, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die den Namen wirklich verdient. Dabei reicht es natürlich nicht aus, neue Institutionen zu schaffen. Mehr als bisher und möglichst schnell müssen wir zu gemeinsamen Positionen und Aktionen finden und sie geschlossen vertreten.
Der Bundesaußenminister und der französische Außenminister haben eine Initiative ergriffen, die sozusagen in letzter Stunde den Versuch unternimmt, den Menschen in Bosnien angesichts des bereits ausgebrochenen Winters die notwendige Hilfe zum Überleben zu geben. Der Bundesaußenminister wird nachher zu dieser Initiative noch eingehend sprechen.
Die Außenminister der Europäischen Union haben am 29. November mit den Vertretern der Konfliktparteien gesprochen, diskutiert und die Zusage erreicht, daß die Konvois in Bosnien jetzt passieren können. Dies ist ein wichtiges Zeichen dafür, daß wir unserem Ziel einer wirksamen Hilfe wenigstens ein Stück näher gekommen sind.
Meine Damen und Herren, auch ich weiß, daß bei uns in Deutschland auch diese Initiative als unzureichend bezeichnet wird. Aber ich frage jeden Kritiker, in Europa wie in Deutschland, was er seinerseits vorschlägt, was wirklich in dieser Situation helfen kann. Die Bilder, die wir Abend für Abend in den Nachrichten sehen, das entsetzliche Leiden von Kindem, von alten Leuten, von Männern und von Frauen wirken auf uns alle bedrückend und erschreckend.
Ich bitte das Hohe Haus, bei all seinen Anregungen auch zu bedenken, daß wir in dieser Diskussion nicht die besten Ratgeber sind, weil wir immer wieder in die Lage geraten, anderen Ratschläge zu geben, und auf die Frage: „Was seid ihr bereit, selbst zu tun, und was könnt ihr tun?" doch mit sehr bescheidenen Reaktionen anworten müssen.
Ich bin in völliger Übereinstimmung mit François Mitterrand, wenn er gesagt hat, er sehe keinen besseren Ansatz, solange der Westen und die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates nicht bereit sind, einschneidendere Schritte einzuleiten und mitzutragen. Hinter dieser Formulierung „einschneidendere Schritte" verbirgt sich natürlich die Forderung nach Einsatz von Soldaten, und zwar nicht von wenigen und kleinen Kontingenten, sondern letztlich bis hin zum Einsatz von Kampftruppen.
Jeder, der sich ernsthaft mit diesen Themen beschäftigt, weiß, daß auf diesem Weg leider keine Lösung zu finden ist.
Dennoch, ist es angebracht, daß wir hier, die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag, vor allem jenen Soldaten, die aus unseren befreundeten Natio-
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
nen im humanitären Einsatz dort ihren Dienst tun, unseren besonderen Respekt bekunden.
Das sind junge Leute, die ebenso wie unsere Soldaten, die bei uns unter ganz anderen Bedingungen ihren Dienst tun, Eltern haben, Mütter und Väter, Bräute, Schwestern, Freunde und die in einer extremen Lage gerade jetzt im Winter ihrer Pflicht nachkommen.
Die konsequente Umsetzung der Möglichkeiten des Maastricht-Vertrages in allen seinen Teilen wird Europa stärken. Dies gilt besonders beim Beitritt der EFTA-Staaten Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen zum 1. Januar 1995. Die Bundesregierung wird alles tun — ich denke, mit Unterstützung des ganzen Hauses —, um die notwendigen Entscheidungen zu ermöglichen.
Wir wollen, daß die Beitrittsverhandlungen bis zum 1. März 1994 abgeschlossen werden, damit das Europäische Parlament damit noch befaßt wird und die nationalen Ratifikationsverfahren einschließlich der Referenden in den Beitrittsländern rechtzeitig durchgeführt werden können.
Für uns Deutsche ist es selbstverständlich, daß wir unsere Partner in den Beitrittsländern auf diesem Weg, wo immer möglich, unterstützen.
Meine Damen und Herren, ganz Europa braucht heute mehr denn je einen sicheren und festen Anker. Dies gilt in ganz besonderem Maße auch für die Reformstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, mit denen uns Assoziierungs- und Kooperationsabkommen verbinden.
Gerade die Beziehungen zu Rußland wie auch zur Ukraine und zu Weißrußland sollen auf diese Art und Weise auf eine feste Grundlage gestellt werden. Das Partnerschaftsabkommen mit Rußland befindet sich jetzt in seiner Abschlußphase. Wir haben Präsident Jelzin unsere volle Unterstützung dabei zugesagt. Er wird in der kommenden Woche, am 9. Dezember, in Brüssel am Vorabend des Europäischen Rates zum ersten Mal mit den Staats- und Regierungschefs der Zwölf zusammentreffen.
Dabei soll in einer gemeinsamen Erklärung der bevorstehende Abschluß dieses Partnerschaftsabkommens gewürdigt werden. Wir wollen mit diesem Schritt einmal mehr und ganz deutlich den Reformprozeß in Rußland unterstützen, dies nicht zuletzt auch im Blick auf die dortigen Parlamentswahlen am 12. Dezember. Das Interesse an diesem Ereignis wird auch dadurch unterstrichen, daß Wahlbeobachter aus allen Teilen Europas, auch hier aus Deutschland, zu dieser Wahl entsandt werden.
Die Länder des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens haben für den Frieden und die Sicherheit des Kontinents größte Bedeutung. Deswegen ist für uns die Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen Osten eine ganz wichtige Aufgabe.
Ich hatte gestern anläßlich des Besuches von Ministerpräsident Rabin die Möglichkeit, ihm noch einmal unsere Unterstützung bei diesem historischen Prozeß einer Entwicklung hin zum Frieden, bei den Gesprächen und Abmachungen zwischen Israel und der PLO, zuzusichern. Ich glaube, dies ist eines der erfreulichsten Ergebnisse dieses Jahres, daß in diesem Teil der Erde — natürlich unter der Voraussetzung, daß das Abkommen am Ende auch eingehalten wird — ein wesentlicher Schritt weg von einem fortdauernden Bürgerkrieg hin zu Frieden gemacht wird.
Daß wir als Deutsche diesen Weg besonders unterstützen, will ich auch in meinem Gespräch in ein paar Tagen mit dem PLO-Vorsitzenden Yassir Arafat, wenn er Bonn besucht, zum Ausdruck bringen.
Meine Damen und Herren, am 10. und 11. Januar werden sich die Staats- und Regierungschefs des Atlantischen Bündnisses in Brüssel treffen. Dort wird einmal mehr zum Ausdruck kommen, daß für uns Europäer die Allianz die Garantie für Sicherheit und Stabilität ist und daß wir auch entschlossen für die Zukunft für die Allianz eintreten.
Europa braucht ein Amerika, das bereit ist, auch in Zukunft eine zentrale Rolle in Fragen der europäischen Sicherheit zu übernehmen, und ich denke, Amerika braucht gleichzeitig ein Europa, das ein höheres Maß an Eigenverantwortung und Pflicht übernimmt und damit einen wichtigen Teil internationaler Sicherheit gewährleistet. Wir werden dies in enger Zusammenarbeit mit unseren Partnern tun bei der Ausgestaltung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union und bei dem Vorantreiben und Ausbau der Handlungsfähigkeit der WEU.
Ich will in diesem Zusammenhang mit besonderer Genugtuung hervorheben, daß die Bundesregierung den Beschluß Spaniens, sich am Eurokorps zu beteiligen, begrüßt.
Ungeachtet aller Einwände noch vor zwei Jahren und vor einem Jahr zeigt sich, daß sich dieses Eurokorps zu einem wirklichen Erfolgsmodell entwickelt und daß es sehr wohl denkbar ist, daß wir mit anderen Partnern in Europa zu vergleichbaren Modellen kommen können.
Wir wollen, daß vom NATO-Gipfel ein Signal für die Weiterentwicklung der Beziehungen und die Vertiefung der Zusammenarbeit mit den Ländern Mittel-und Osteuropas ausgeht. Wir wollen auch die WEU bei ihrer Zusammenarbeit mit diesen Ländern stärken.
Mit einem Wort, meine Damen und Herren — man kann es nicht oft genug wiederholen —, die Europapolitik muß gerade jetzt auch in einer wirtschaftlich schwierigen Lage mit realistischem Optimismus Zukunft gestalten. Die Absicherung und Fortführung des europäischen Einigungswerks ist nicht irgendeine Frage, es ist die Schicksalsfrage unseres Kontinentes und auch unseres Landes. Gerade für die Deutschen ist deutsche Einheit und europäische Einigung die
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Schicksalsfrage. Wir sichern damit Frieden und Freiheit für die Zukunft.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Saarlandes Oskar Lafontaine.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach allem, was wir hören, soll auf der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 10. und 11. Dezember die Bewältigung der Beschäftigungskrise im Mittelpunkt der Beratungen stehen. Das ist gut so; denn nicht nur bei uns, sondern in allen Ländern Europas ist die Massenarbeitslosigkeit die größte Herausforderung, die es zu bewältigen gilt. Es ist auch gut so, daß sich in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mehr und mehr die Erkenntnis durchsetzt, daß die Beschäftigungskrise in nationalen Alleingängen nicht mehr bewältigt werden kann.
Hier sind wir auf Europa angewiesen. Hier erfahren wir, daß wir wirtschaftlich und sozial bereits zu einer Gemeinschaft geworden sind. Wir haben nur auf europäischer Ebene die Chance, die Arbeitslosigkeit durch konzertiertes Vorgehen abzubauen, oder wir werden diese Aufgabe nicht bewältigen.
Im Vorfeld der Beratungen des Europäischen Rates gibt es interessante Diskussionen, unterschiedliche Auffassungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, unterschiedliche Auffassungen zwischen der Europäischen Kommission und den Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Sie, Herr Bundeskanzler, sind in wenigen Worten darauf eingegangen. Sie haben darauf hingewiesen, daß Präsident Delors ein Weißbuch in Vorbereitung hat, daß der Bericht von der Kommission in den nächsten Tagen erfolgen soll.
Sie haben die Erwartungen der Bundesregierung kurz skizziert. Ich wiederhole sie: Erstens. Sie plädieren für eine Stärkung der Attraktivität des Investitionsstandortes Europa, insbesondere durch Anstrengungen zum Ausbau der Infrastruktur, zur Intensivierung von Forschung und Entwicklung sowie zur Verbesserung von Bildung und Ausbildung. Hier gibt es keinen Dissens.
Zweitens. Sie plädieren für eine Fortsetzung der stabilitätsorientierten Geldpolitik — gemeint ist in erster Linie wohl die der Bundesbank — und konsequente Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung. Hier gibt es erheblichen Dissens hinsichtlich der gegenwärtigen Praxis; ich werde gleich darauf eingehen.
Drittens. Sie plädieren für mehr Flexibilität bei der Gestaltung von Arbeitszeiten und Maschinenlaufzeiten verbunden mit einer stärkeren Differenzierung
der Lohnvereinbarungen nach Regionen, Branchen und Unternehmen.
Nachdem auch in die Beschäftigungspolitik erhebliche Bewegung gekommen ist und nachdem jetzt in der Gesellschaft realisiert wird, was vor einigen Monaten noch bestritten worden ist, daß nämlich auch mit kürzeren Arbeitszeiten Entlassungen vermieden werden können,
freuen wir uns, daß beschäftigungspolitische Ansätze in Gesamteuropa stärker zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herangezogen werden können. Selbstverständlich sind wir alle dafür, daß die GATT-Runde bald zum Abschluß kommt.
Herr Bundeskanzler, ich bin eigentlich hierher gekommen, um zu erfahren, wie Sie die kontroversen Themen innerhalb der Europäischen Kommission und innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu behandeln gedenken. Davon habe ich leider kein einziges Wort gehört. Zwar haben Sie in einer Rede vor einigen Tagen noch gesagt, mehr oder weniger stimmten Sie mit dem Weißbuch überein; dieser Satz fehlte heute aber in Ihrer Rede, die ansonsten ähnliche Versatzstücke enthielt. Aber die Tatsache, daß dieser kleine Satz fehlt, verdeckt einen Konflikt, der doch größeren Umfangs ist und der hier in diesem Hause debattiert werden muß.
Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und von der Koalition, können zwar anderer Auffassung sein als Teile der Kommission, in der Sie vertreten sind und nicht wir, und zwar durch qualifizierte Politiker der CSU, ein verlängerter Arm des Herrn Stoiber in der Kommission — man stelle sich das vor —, und durch qualifizierte Politiker der F.D.P.; aber Sie können die Konflikte nicht verschweigen, die zwischen der Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten bestehen.
Sie müssen in diesem Hause diskutiert werden.
Die Kommission macht nämlich im wesentlichen drei Vorschläge zur Bewältigung der Strukturkrise und drei Vorschläge zur Bewältigung der konjunkturellen Turbulenzen, die wir in den letzten Jahren festzustellen haben. Die Frage ist, ob diese Vorschläge geeignet sind, ob Sie bereit sind, darauf einzugehen, ob sie längerfristig geeignet sind, Strukturen zu verändern und damit Arbeitsplätze zu schaffen, und ob die kurzfristigen konjunkturellen Überlegungen geeignet sind, uns aus der gegenwärtigen Rezession herauszuführen. Man sollte vielleicht über diese Vorschläge diskutieren; verschweigen sollten wir sie nicht.
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Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Ich komme zum ersten strukturellen Vorschlag der Kommission, der langfristig angelegt ist, zu dem Sie kein einziges Wort gesagt haben: Das ist die ökologische Modernisierung unserer Volkswirtschaft.
— Das ist für Sie eine Schnulze, das zeigt, wie rückständig Sie eigentlich sind
und warum Sie immer mehr an Vertrauen in der Bevölkerung verlieren — von Teilen der Union; das sage ich jetzt zum Schutze Ihrer Kolleginnen und Kollegen, die ich nicht alle für diesen etwas wenig qualifizierten Zwischenruf verantwortlich machen will.
Diese große Aufgabe muß angegangen werden. Wir haben sie in den letzten Jahren im Grunde genommen verschlafen. Ich frage mich, wenn solche Berichte aus der heutigen Zeitung, die auf der Ermittlung seriöser Daten beruhen, daß Umweltschutz Arbeit schaffe, von Ihnen gelesen werden, warum Sie sich nicht endlich zu dem Schluß durchringen, dieses große Projekt unserer Gesellschaft anzugehen.
Das ist ein strukturelles Projekt. Es schafft Arbeitsplätze. Mittlerweile hat sich eine Mehrheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu dieser Einsicht durchgerungen. Wir sollten unseren Beitrag dazu leisten, daß wir hier weiterkommen.
Ich möchte nur leise hinzufügen: Allein mit der Behandlung der CO2-Problematik ist dieses Problem nicht zu bewältigen.
Wer sich bei Hunderten von Schadstoffen in der Luft lediglich auf einen konzentriert, erliegt gewaltigen Fehlschlüssen und ist so naiv, zu glauben, daß etwa CO2 bekämpft werden kann, indem man mehr Alphastrahler, Betastrahler und Gammastrahler in den Kreislauf bringt.
Ein solch ökologischer Irrtum kann uns auf Dauer schwer zu stehen kommen.
Der zweite strukturelle Vorschlag der Kommission, zu dem Sie kein einziges Wort gesagt haben — vielleicht besteht nicht die Zeit, ausreichend zuzuhören oder nachzulesen —, ist ein konzertiertes Vorgehen zum Senken der Kosten der Arbeit. Das ist doch nun tatsächlich ein Vorschlag, über den man debattieren muß, über den man reden muß. Er ist gegenwärtig auch aktuell. Es geht nämlich konkret um die gesetzlichen Lohnnebenkosten.
Die Frage ist: Warum sehen Sie tatenlos zu, meine Damen und Herren von der Koalition, daß sich die
gesetzlich festgelegten Lohnnebenkosten von den 70er Jahren bis zum heutigen Zeitpunkt von 25 % auf das Bruttogehalt für Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf 40 % angehoben haben. Die Frage ist: Warum erkennen Sie nicht, welche strukturellen Effekte damit für unsere Volkswirtschaften verbunden sind
und in welchem Ausmaß auch durch solche Fehlentwicklungen Arbeitsplätze gefährdet wurden und weggefallen sind?
Wenn die Kommission vorschlägt, konzertiert vorzugehen und die Lohnnebenkosten zu senken, dann weiß ich nicht, warum trotz ständiger Mahnungen des Sachverständigenrates, trotz ständiger Mahnungen aus dem Bereich der Wirtschaft diese Koalition da sitzt und so tut, als sei das für sie kein Thema.
Und nun kommt das Stichwort Pflegeversicherung. Es ist fast so, als wenn ich Sie gebeten hätte, dazwischenzurufen, verehrter Herr Kollege. Das Thema der Pflegeversicherung ist ein ordnungspolitisches Thema. Es geht auch um die Höhe der Lohnnebenkosten, aber Sie machen hier wirklich wiederum einen gravierenden strukturellen Fehler. Wenn wir Lohnnebenkosten senken wollen, dann denken wir nicht nur an die Arbeitgeberseite oder die Kostenrechnung des Unternehmens, wir denken auch an die Kerngruppen der Arbeitnehmerschaft, die mittlerweile zuviel Geld abgeben müssen
und die sich allmählich fragen, ob Sie den Leistungsbegriff allein auf die Höherverdienenden verengen, ob Sie immer noch nicht begriffen haben, daß der Wohlstand unseres Landes im wesentlichen von Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die derzeit zu hohe Abzüge haben, erarbeitet werden muß.
Insofern war und ist es nicht akzeptabel, daß Sie in ideologischer Verengung nur darauf herumreiten, man müsse, wenn es um die Lohnnebenkosten geht, die Arbeitgeberseite und die Kostenrechnung des Unternehmens im Auge haben. Das ist ein völlig falscher Ansatz. Sie sollten hier von der Kommission lernen.
Die Kommission schlägt vor, die gesetzlichen Lohnnebenkosten in allen Mitgliedstaaten zu senken. Sie stellt Vergleichsrechnungen an, etwa zu den Vereinigten Staaten oder zu Japan. Ich bedaure es, daß dieser vernünftige Ansatz bei Ihnen nicht auf Gehör stößt.
Wir werden auf jeden Fall darauf hinarbeiten, daß es hier zu der längst überfälligen Korrektur kommt. Daß wir uns auch noch in der Besonderheit befinden, daß Sie die deutsche Einheit über die gesetzlichen Lohnnebenkosten finanzieren, ist ein besonderes Thema. Es erschwert in unserem Lande die Situation noch mehr. Aber insgesamt ist das ein Thema für die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft.
17120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Herr Ministerpräsident, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich lasse gern eine Zwischenfrage zu, wenn das nicht auf die Zeit geht.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, können Sie mir zustimmen, daß Ihr Vorschlag zur Pflegeversicherung die Lohnnebenkosten mehr steigert als der der Koalition?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehen Sie, Sie unterliegen wieder dem Fehler, daß Sie unter Lohnnebenkosten nur die Abgaben der Arbeitgeber verstehen. Sie sollten endlich begreifen, daß die Arbeitnehmer auch etwas zu den Lohnnebenkosten beitragen.
Wenn Sie zwei Feiertage ins Gespräch bringen, dann habe ich manchmal den Eindruck, es gibt für Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht, weil Sie sich gar nicht vorstellen können, daß dies Beiträge der Arbeitnehmerschaft sind, über die Sie ausschließlich reden.
Oder meinen Sie etwa, die Arbeitnehmer verzichten auf die Feiertage? — Ich bitte um Entschuldigung, aber ich muß jetzt fortfahren, da die Zeit knapp ist.
Der dritte Punkt, den die Kommission vorschlägt, ist der, Maßnahmen zu finden, um die Arbeit gerechter zu verteilen. Sie haben lange Zeit aus ideologischen Gründen eine gerechtere Verteilung der Arbeit in diesem Lande blockiert. Sie zeigen sich nach wie vor unbeweglich, wenn es darum geht, alle Maßnahmen anzugehen, die möglich sind, um die Arbeit gerechter zu verteilen und um insbesondere mehr Teilzeitarbeitsplätze anzubieten. Das hat erhebliche Folgen beispielsweise für die Gestaltung des Steuersystems und der sozialen Sicherungssysteme.
Aber wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten weit hinter diesen zurückhinken, was das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen angeht, dann ist das kein Ausweis von Flexibilität, sondern ein Ausweis von ideologischer Verkrustung, die in erster Linie zu Ihren Lasten geht.
Ich füge im übrigen hinzu, meine Damen und Herren, daß dieses Thema der Teilzeitarbeitsplätze und der gerechten Verteilung der Arbeit auch ein Thema der Familien ist, wenn man sich zu einem Familienverständnis durchringen kann, in dem auch die Frauen einen Zugang zum Erwerbsleben haben müssen.
Die Kommission schlägt vor, die Forschungsausgaben in der Kommission auf europäischer Ebene zu verbessern. Wir haben dies hier auch angesprochen, verehrter Herr Bundeskanzler, aber bisher ist nichts geschehen. Ich habe mich vorhin wieder bei den zuständigen Haushaltsreferenten erkundigt.
Sie haben hier zwar ein Einsehen, aber offensichtlich folgen den Ankündigungen keine Taten. Es ist nicht zu akzeptieren, daß wir hier mit schlechtem Beispiel vorangehen und die Forschungsausgaben systematisch zurückfahren, obwohl sich eine Industrienation das nicht leisten kann.
Die Kommission schlägt den Ausbau der Infrastruktur vor. Sie haben auch gesagt: Wir sind dafür. Die Frage ist nur, wie wir die Projekte finanzieren.
Die Kommission engagiert sich für eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik, für eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik. Diese ist in der gegenwärtigen Situation unvermeidlich.
Dies wirft die Frage auf, wie denn im Dreiklang des Zusammenwirkens von Tarifparteien, der Finanzpolitik der öffentlichen Hand und der Geldpolitik der Bundesbank die einzelnen ihre Hausaufgaben machen.
Meine Damen und Herren! Was ich hier anmerken muß, ist folgendes: Zumindest seit 1993 werden bei der Lohnpolitik erhebliche Anstrengungen unternommen, um Verträge nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Europäischen Gemeinschaft beschäftigungsorientiert abzuschließen.
— Dies mag zu spät sein, und es mag auch durchaus die Frage zu stellen sein, ob die Abschlüsse 1992 vernünftig waren. Aber ehe Sie, meine Damen und Herren, ,.zu spät" dazwischenrufen, muß die Frage aufgeworfen werden, ob Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben und ob die Bundesbank im Zusammenwirken mit der Finanzpolitik auf europäischer Ebene die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Dies sind die Kernfragen der Europäischen Gemeinschaft.
Sie sind — für mich unfaßbar — elegant an dem Thema vorbeigegangen, wie es ist um die Politik der Bundesbank, die Auswirkungen auf die Zentralbanken der europäischen Mitgliedstaaten und den Zusammenhalt Europas.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17121
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Hier stellt sich die Frage, was Sie tun können, um hier zu einer besseren Abstimmung zu kommen.
— Richtig, weniger Schulden. Sie haben ein gutes Stichwort gegeben. Aber hier sind Sie Gefangener Ihrer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Sie haben die Einheit völlig falsch finanziert, indem Sie sich zunächst um einige tausend Milliarden verschätzt haben und dann auf den Kreditmarkt gegangen sind. Dies ist, über zehn Jahre gerechnet, Ihr Verschätzen. Sie sind dann in unzulässiger Weise auf den Kreditmarkt gegangen. Sie haben die Bundesbank gezwungen, gegenzusteuern, die dann wie üblich zu lange auf der Bremse geblieben ist. Sie haben damit dazu beigetragen und die Voraussetzung dafür geschaffen, daß das Europäische Währungssystem in die Luft geflogen ist.
Dies ist Ihr Beitrag zur europäischen Integration. Wenn Sie die ökonomischen Zusammenhänge nicht begreifen, dann ist das schlimm für Europa. Wenn Sie den Anteil unserer Verschuldung und die Reaktion der Bundesbank auf das Auseinanderdriften des Europäischen Währungssystems nicht begriffen haben, dann ist das ganz schlimm für Europa. Wenn Sie, meine Damen und Herren, immer noch nicht wissen, wie die Geldpolitik der Bundesbank in den Mitgliedstaaten bewertet wird, dann ist das ebenfalls schlimm für Europa.
Deshalb liegt hier, bei uns, der zentrale Ansatz für das Fortschreiten der europäischen Integration: Wie schaffen wir es, daß Haushalts- und Geldpolitik im Bund wieder zusammenkommen? Dies ist die entscheidende Frage.
Dabei geht es auch darum, daß wir uns über die Größenordnung des strukturellen Haushaltsdefizits Klarheit verschaffen. Dies liegt nämlich nicht bei 20 Milliarden DM, die man ein bißchen zu den Gemeinden verschieben kann. Ich will dies sagen, damit kein Zweifel besteht: Das strukturelle Defizit liegt eher bei 100 Milliarden DM als bei 20 Milliarden DM. Das ist das Problem, das wir haben, wenn wir wieder ernsthaft darüber reden wollen, wie wir zu einer stärkeren Integration der Europäischen Gemeinschaft beitragen wollen. Dabei müssen wir größere Anstrengungen unternehmen als die, die gegenwärtig gemacht worden sind.
Deshalb kann Ihre gegenwärtige Haushaltspolitik nicht fortgesetzt werden. Sie besteht, was die Einnahmenseite angeht, darin, mit Verbrauchsteuern die Bezieher kleinerer Einkommen ungleichgewichtig zu belasten. Sie besteht, was die Kürzung angeht, in der alleinigen Belastung der Bezieher kleiner Einkommen und entzieht damit einer vernünftigen Haushaltspolitik, die auf gesellschaftlichem Konsens beruhen
muß, die Grundlage. Dies ist Ihr Fehler, meine Damen und Herren.
Daher werden wir hier nur eine Wende schaffen, wenn tatsächlich zusätzliche erhebliche Anstrengungen auf der Einnahmenseite unternommen werden.
Wir haben ein strukturelles Haushaltsdefizit von etwa 100 Milliarden DM. Sie werden Geld- und Finanzpolitik nur dann wieder zusammenbekommen, wenn Sie entsprechende Entscheidungen treffen. Die Entscheidungen müssen zur Voraussetzung haben, daß die soziale Symmetrie stimmt. Deshalb schlagen wir vor, höhere Einkommen und Vermögen stärker zu besteuern und, wenn die Konjunktur wieder anspringt, die konsumtiven Ausgaben des Staates zu beschneiden, meine Damen und Herren.
Beides zusammen gibt einen Sinn, eines allein macht keinen Sinn.
Ich will Ihnen, weil Sie jetzt so erregt sind, etwas aus einer Fachzeitschrift vorlesen. In „Der deutsche Ökonomist" schrieb Ludwig Erhard bereits 1932:
Nicht so sehr das Deckungsprinzip als die Art der Kreditverwendung entscheidet über die wirtschafts- und währungspolitische Unbedenklichkeit eines solchen Verfahrens.
In dieser Fachzeitschrift wird fortgefahren: Die gegenwärtige Verschuldungspolitik — Ihre Politik ist gemeint —
seiner Nachfolger kann sich also ausdrücklich nicht auf ihn berufen; denn sie dient defensiven Ausgaben einer konsumtiven Verwendung, folgt mithin dem nicht durchhaltbaren Modell der Finanzierung des Urlaubs mittels Überziehungskredit.
Meine Damen und Herren, der strukturelle Fehler, den wir seit 1990 festzustellen haben, daß die Kreditaufnahme in erster Linie der konsumtiven Verwendung dient, muß beseitigt werden.
Wir haben im übrigen in der Europäischen Gemeinschaft ein Ungleichgewicht, was die Ersparnisse und die Investitionen angeht. Wenn Herr Waigel hier wäre, könnte ich etwas zu der Besteuerung von Kapitaleinkünften und dem schweren Fehler sagen, der gemacht worden ist, indem man vor einigen Jahren die Chance dazu verspielt hat, eine Chance, die hoffentlich wiederkommt; denn ohne gleichmä-
17122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Bige Besteuerung der Kapitaleinkünfte sind wichtige Voraussetzungen, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen, nicht zu leisten.
Ich plädiere hier also dafür, meine Damen und Herren, in Abstimmung mit der Bundesbank eine mittelfristige Strategie zu entwickeln, die wirklich geeignet ist, das aufzugreifen, was auch im DelorsBericht angesprochen worden ist, nämlich das Ungleichgewicht von zurückgehenden Investitionen und durchaus beachtlichen Ersparnissen zu beseitigen. Das ist Beschäftigungspolitik ersten Ranges. Wenn wir dieses Ungleichgewicht nicht beseitigen, werden wir trotz vielfältiger Reden und wohlfeiler Worte keine Chance haben, die Beschäftigungsprobleme einigermaßen zu lindern. Ich formuliere es bewußt so. Daher kommt es darauf an, daß die Haushaltspolitik im Zusammenwirken mit der Geldpolitik ein deutliches Signal an die Investoren gibt. Das geht nicht mit einigen Trippelschritten, und das geht auch nicht mit der selbstgefälligen Bemerkung: Wir entscheiden hier in erster Linie, was unsere Interessen angeht; wir haben die Stabilität der D-Mark im Auge, und das ist das oberste Gebot.
Meine Damen und Herren, wir sind nun einmal in einer besonderen Verantwortung. Wir entscheiden mit unserer Geldpolitik auch über die Geldpolitik aller übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben, ohne uns darüber ausreichend Klarheit zu verschaffen, durch unsere Verschuldung und durch die konsumtive Verwendung der Kredite in großem Umfang auch über die konjunkturellen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft entschieden. Daher — um das scherzhaft zu formulieren —: Es muß endlich Klarheit darüber bestehen, daß in den letzten Jahren nicht so sehr Herr Kinkel oder Herr Rühe die Aufgaben des Außenministers wahrgenommen haben oder gar Sie persönlich, Herr Bundeskanzler,
sondern im wesentlichen war es die Bundesbank, die die Aufgaben der deutschen Außenpolitik gestaltet hat, aber ganz entscheidend in eine Richtung, wie sie für Europa nicht erträglich war, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich würde Ihnen einmal empfehlen, sich umzuhören. Herr Bundeskanzler, Ihnen kann ich das weniger empfehlen, weil Sie, wenn Sie Ihre festlichen Besuche in den europäischen Hauptstädten machen, Freundliches hören. Aber ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal umzuhören, wenn es nicht offiziell zugeht. Dann würden Sie feststellen, daß genau dieser Zusammenhang Ihrer Überschuldung, Ihrer kreditfinanzierten Konsumbefriedigung und der daraus resultierenden Geldpolitik das entscheidende Problem in
Gesamteuropa ist und die europäische Integration in großem Umfang erschwert.
Im übrigen, meine Damen und Herren, wenn wir schon über die Zins- und Geldpolitik reden, dann genügt mittlerweile auch nicht mehr der Hinweis auf die Verbraucherpreise. Es muß auf die Erzeugerpreise und die Renditeerwartungen der Unternehmen stärker geachtet werden, da besteht nämlich ein gewisser Zusammenhang. Mittlerweile ist klar, daß nur, wenn die Spanne zwischen Erzeugerpreisen und Realzins einigermaßen befriedigend ist, das notwendige Signal für die Investoren gesetzt wird. Wenn dies nicht eintritt, wenn es mit Trippelschritten weiter geht, dann wird es eben nicht zu einer Belebung der Investitionen kommen, und das Rad dreht sich immer stärker in die falsche Richtung.
Im übrigen hat die Europäische Gemeinschaft, d. h. das Weißbuch, die Kommission, in der Sie vertreten sind, auch für mehr Steuergerechtigkeit und für mehr soziale Gerechtigkeit plädiert. Wenn es vielleicht auch da oder dort unangenehm klingt und wenn Sie auch zu Recht auf Widersprüche bei den Haushaltsentscheidungen da oder dort hinweisen können, muß eines klar sein: Wir können uns eine Explosion der Verschuldung, wie sie gegenwärtig stattfindet, nicht weiter leisten, wenn wir die europäische Einigung nicht immer weiter gefährden wollen.
Wir müssen weitaus stärkere Anstrengungen unternehmen, um den Anstieg der Staatsverschuldung zu begrenzen. Wir werden keinen Erfolg haben, wenn Sie nachher wieder meinen, Sie seien auf dem richtigen Weg, und wenn wir glauben, wir könnten dieses Problem beim Fortbestehen der sozialen Schieflage lösen. Deshalb war es richtig, daß im Weißbuch darauf hingewiesen wurde, daß es in Europa auch um die Verteidigung des Sozialstaates geht; denn ohne Sozialstaat gibt es keine wirkliche Demokratie.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben den Art. 23 unseres Grundgesetzes im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages neu geregelt und dabei vorgesehen, daß die Bundesregierung vor Beratungen im Europäischen Rat den Bundestag zu unterrichten und Gelegenheit zur Aussprache darüber zu geben hat. Es ist heute das erste Mal, daß dies geschieht.
Wir bedanken uns für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herr Bundeskanzler, für Ihre Regierungserklärung und für die Möglichkeit, dazu unsere Beiträge zu leisten.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17123
Dr. Wolfgang Schäuble
Herr Ministerpräsident Lafontaine, eigentlich war der Art. 23 in seiner Neufassung nicht dazu gedacht, der Opposition eine Möglichkeit zu bieten, die Haushaltsdebatte der vergangenen Woche auf diese Weise fortzusetzen.
Weil dies aber nicht unwidersprochen stehenbleiben kann, bitte ich Sie, einige Anmerkungen, auch im Sinne der Anregung Ihres Fraktionsvorsitzenden Klose aus der letzten Debatte, daß man auf das, was ein Vorredner gesagt hat, auch eingehen soll, machen zu dürfen.
Der Versuch war einigermaßen durchsichtig, er ist nicht besonders überraschend.
— Warten Sie erst die Erwiderung ab, Herr Kollege, und urteilen Sie nicht zu schnell!
Der Versuch, die Beratungen Ihres Wiesbadener Parteitags unter dem Deckmantel der Europäischen Kommission in die Debatte einzuführen, war ebenso durchsichtig wie untauglich.
Er wird im übrigen der Kommission der Europäischen Gemeinschaft nicht gerecht. Es wird auch der europäischen Dimension der Probleme nicht gerecht, wenn man versucht, dies in solcher Weise, auch in Verdrehung der Vorschläge der Kommission und in völliger Verschweigung der Tatsache, daß das, was die Kommission für die nächste Tagung des Rats vorgelegt hat, eben genau dem nicht entspricht, was Sie vorgetragen haben, in die innenpolitische Debatte einzuführen.
Deswegen hoffe ich, daß wir im weiteren Verlauf der Debatte — —
— Gerne, ja. Aber vielleicht geben Sie mir erst die Chance, Ihnen zu antworten. Vielleicht hören Sie sogar aufmerksam zu, so wie ich Ihnen aufmerksam zugehört habe.
Ich denke, daß wir im weiteren Verlauf der Debatte uns wieder mit dem beschäftigen sollten, was der Bundeskanzler als Position der Bundesregierung vorgetragen hat. Zu den meisten Fragen haben Sie überhaupt keine Anmerkungen gemacht.
Das wird durch die Kollegen meiner Fraktion noch geschehen.
Ich will auf das eingehen, was der Kollege Lafontaine in die Debatte eingeführt hat und was nicht unwidersprochen bleiben kann.
Die erste Bemerkung: Es ist schon beachtlich, wie man in einer Rede auf der einen Seite den Anstieg der Neuverschuldung — übrigens nicht nur beim Bund, sondern in einer noch dramatischeren Weise bei den
Ländern und Gemeinden; Sie sind im Saarland ja Spitzenreiter — beklagen kann,
während wir auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, im Vermittlungsausschuß darum ringen müssen, die Blockade der SPD im Bundesrat gegen die von uns durchgesetzten Sparmaßnahmen aufzulockern.
Die Wahrheit ist, daß zu dieser Stunde der Vermittlungsausschuß tagt, weil die SPD-geführte Mehrheit im Bundesrat den vom Bundestag verabschiedeten Spargesetzen die notwendige Zustimmung versagt hat.
Dann tritt Herr Lafontaine hier ans Rednerpult und sagt, die Explosion der Staatsverschuldung gefährde die europäische Einigung. Ein größeres Maß an Heuchelei habe ich selten erlebt.
— Ich komme ja gerade darauf.
Die zweite Bemerkung: Sie haben recht, daß der Anstieg von Lohn- und Lohnnebenkosten eines der zentralen Probleme unserer wirtschaftlichen Entwicklung ist. Weil uns die Entwicklung am Arbeitsmarkt einschließlich der weiteren Perspektiven so ungeheure Sorgen macht und weil es zu den vorrangigen Aufgaben von uns allen gehört, alles zu tun, um mehr wirtschaftliches Wachstum und mehr Beschäftigung zu erreichen, und vor allen Dingen alles zu unterlassen, was Wachstum gefährden und damit mehr Arbeitsplätze beseitigen könnte, müssen wir darüber in einer ehrlichen, unvoreingenommenen Weise reden, und der Anstieg der Lohn- und Nebenkosten ist eine der entscheidenden Ursachen.
Deswegen, Herr Ministerpräsident Lafontaine, ist es unvermeidlich, daß durch neue notwendige soziale Maßnahmen, wenn wir sie einführen — und die Pflegeversicherung ist angesichts unserer demographischen Entwicklung jetzt notwendig und richtig —, ein Anstieg der Lohnkosten insgesamt nicht entsteht.
— Da sind wir überhaupt nicht einig. Wenn wir darüber einig wären, dann bräuchten wir dieses Hickhack seit Wochen und Monaten nicht zu haben. Sie haben immer gesagt, es gibt keine Kompensation.
Man hat bei den Gesprächen manchmal das Gefühl, als wäre die größte Sorge, daß man eine Mark zuviel sparen könnte. Aber wir können nicht eine Mark zuviel sparen, wir sparen immer noch viel zuwenig.
Jedenfalls dürfen wir einen weiteren Anstieg der Lohnneben- und der Lohnkosten insgesamt unter gar
17124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Dr. Wolfgang Schäuble
keinen Umständen verantworten. Deswegen sage ich Ihnen in aller Ruhe: Wir wollen alles tun, damit wir doch noch zusammenkommen, obwohl ich Ihnen sage: Ich bin nicht mehr sehr optimistisch, ich bin nicht sehr zuversichtlich.
Sie müssen auch ganz klar wissen: Wir sind Ihnen weit entgegengekommen; denn natürlich wäre die mit Abstand sinnvollste Form, bei Einführung der Pflegeversicherung insgesamt eine Belastung der wirtschaftlichen Entwicklung zu vermeiden, die Einführung einer Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gewesen. Das hätte ökonomisch Sinn gemacht.
Dieses Vorhaben im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung haben wir nur aus dem einzigen Grund aufgegeben: weil Sie uns gesagt haben, daß Sie dann überhaupt nicht zu Gesprächen bereit wären; aber Ihre Zustimmung zur Pflegeversicherung ist notwendig. Nur aus diesem Grund — damit das völlig klar ist!
Dann haben wir gesagt: Es muß aber dann wenigstens in der Größenordnung von zwei bezahlten Arbeitstagen liegen. Ob das Feiertage, Urlaubstage oder eine prozentuale Kürzung ist, ist im Grunde eine zweitrangige Frage, aber unter der Größenordnung von zwei Arbeitstagen ist eine hinreichende Kompensation nicht zu machen.
Jetzt wollen Sie die Sache damit, daß Sie nur zu einem Feiertag, nicht zu zwei Feiertagen bereit sind, scheitern lassen! Und dann beklagen Sie hier den Anstieg von Lohn- und Nebenkosten und machen sich Sorgen um die Beschäftigung. Das ist nicht zu verantworten. Und die Art, wie Sie diese Debatte führen, wird den Problemen in unserem Land nicht gerecht.
Ich will aus Ihren Bemerkungen einen dritten Punkt anführen, wo wir offensichtlich fundamental unterschiedlicher Meinung sind. Ich weiß nicht genau, was Sie mit Ihrer Kritik an der Bundesbank meinen. Und wenn Sie sich dabei noch auf die von der Kommission korrigierten Vorschläge berufen — die hat sie ja nicht aufrechterhalten, weil es Widerspruch nicht nur der deutschen Bundesregierung, sondern der Regierungen aller Mitgliedstaaten gegeben hat — —
— Ja, natürlich! Aber jetzt wollen wir auf die Sache kommen.
Es gibt Überlegungen — offensichtlich auch bei Ihnen —, unsere Probleme durch weniger Stabilität zu lösen. Anders ist doch die Kritik an der Bundesbank im Ernst nicht zu verstehen.
Es macht übrigens wenig Sinn, hier auf der einen Seite die Verschuldung zu kritisieren und gleichzeitig für weniger Stabilität zu plädieren.
Die Sache wird ja dadurch noch schlimmer: Ihre Kritik an der Bundesbank ist eine Kritik an der Stabilitätspolitik. Und wenn Sie dabei noch — und das waren ja Überlegungen in der Kommission, die zurückgezogen worden sind — die Wechselkurse so manipulieren, daß wir auch in der äußeren Stabilität der europäischen Währung ein Stück weit nachlassen, dann sage ich Ihnen: Die Probleme der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen wie der europäischen Wirtschaft sind nicht dadurch zu lösen, daß wir jetzt die Wechselkurse nach unten manipulieren. Damit geraten wir nur in einen Abwertungswettlauf. Dies wird am Ende nicht mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze, nicht mehr Wettbewerbsfähigkeit bringen, sondern das genaue Gegenteil. Deshalb ist es das falsche Rezept für unsere Krise.
Sagen Sie ehrlich, daß Sie dafür sind, mit weniger innerer und äußerer Stabilität unsere Probleme zu lösen, und wir sagen Ihnen, daß wir entschieden anderer Meinung sind.
Ich sage Ihnen: Die Probleme der geringer gewordenen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wie anderer europäischer Wirtschaften sind eben nicht dadurch zu lösen, daß wir uns durch Manipulation des äußeren Wertes ein bißchen drumrumschlawinern, sondern sie sind nur dadurch zu lösen, daß wir die Chance dieser strukturellen Krise nutzen, um die notwendigen Anpassungen für unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit jetzt in unserem Lande durchzusetzen. Die Bürger in unserem Lande, die Arbeitgeber wie die Arbeitnehmer, sind dazu auch bereit.
Dabei kommt der nächste Fehler, den die Sozialdemokraten machen: Sie rufen bei allem und jedem nach dem Staat und nach der Politik. Sie schüren damit bei den Menschen den falschen Eindruck, daß die Politik alles lösen könne. Wir haben doch vor der Wiedervereinigung im anderen Teil Deutschlands erlebt, daß dort, wo die Politik für alles zuständig sein will, am Ende gar nichts geht. An den Folgen zahlen wir immer noch teuer.
Es ist der Sinn der von der Bundesregierung und dem Bundeskanzler in Gang gesetzten Standortdebatte, daß alle begreifen: Die wirtschaftlichen Probleme unseres Landes können wir im Interesse von mehr Arbeitsplätzen nicht dadurch lösen, daß wir immer nur nach dem Staat rufen. Die Politik muß ihre Beiträge leisten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen ihre Beiträge leisten. Wir alle müssen in unserem Lande ein Stück weit umdenken. Ohne größere Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung werden wir unseren sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand nicht bewahren können. Das ist die entscheidende Wahrheit, und davon lenken die Sozialdemokraten ab.
Herr Lafontaine, ich dachte, Sie hätten in der Haushaltsdebatte — aber Sie waren nicht da — von unseren Argumenten vielleicht doch ein bißchen gelernt. Sie verharren in den Fehlern Ihres Parteitages von Wiesbaden. Sie denken immer noch, die Arbeit sei eine bestimmte Menge, und es ginge nur darum, sie zu verteilen. Herr Ministerpräsident Lafontaine, nach
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17125
Dr. Wolfgang Schäuble
unserer Überzeugung hängt die Menge der Arbeitsplätze von etwas anderem ab. Wir haben ja in Deutschland und in Europa nicht zuwenig Arbeit. Auf die Idee ist noch keiner gekommen. Das Problem liegt doch darin, daß wir zuwenig Nachfrage nach bezahlter Arbeit zu den Preisen, die die regulär bezahlte Arbeitsstunde bei uns in Deutschland kostet, haben. Je mehr wir die Kosten einer Stunde Arbeit verteuern, um so weniger Nachfrage nach Arbeit und um so weniger Arbeitsplätze wird es geben.
Deswegen ist das Problem mit Verteilungsmodellen, die die Kosten der Arbeitsstunde verteuern, nicht gelöst. Am Ende verteilen wir so lange, bis überhaupt nichts mehr zu verteilen ist. Das ist der falsche Weg.
Wir werden diesen Weg nicht gehen. Wir müssen mit aller Entschiedenheit dabei bleiben, die Menschen davon zu überzeugen, daß die Arbeit nicht immer teurer werden darf. Wir müssen andere Wege gehen. Dann können wir über die Begrenzung des Anstiegs der Lohnnebenkosten reden.
Der erste Schritt wäre, daß Sie die Anrufung des Vermittlungsausschusses, die Sie gerade angekündigt haben, zurücknehmen. Wenn dies die Zustimmung im Bundesrat findet, können wir die Lohnnebenkosten schon um mehr als 20 Milliarden DM senken.
Zum zweiten müssen Sie nun endlich bei der Pflegeversicherung einer vernünftigen Kompensation zustimmen. Zum dritten müssen Sie die Länderhaushalte, wo Sie die Verantwortung tragen, endlich in Ordnung bringen.
— Verzeihen Sie, damit sind wir wieder bei dem magischen Dreieck Ihrer demagogischen Art, Kritik zu üben, von der keiner mehr begreifen kann, wie sie zustande kommt.
Man kann nicht auf der einen Seite sagen, die Verschuldung sei zu hoch, die Steuern und Abgaben seien zu hoch, und auf der anderen Seite die Sparvorschläge ablehnen und keine Alternativvorschläge machen.
Sie haben — weder heute in Ihrer Rede noch in Wiesbaden — nicht einen Sparvorschlag gemacht. Sie haben zwar gesagt, wenn die Konjunktur wieder besser ist, muß es zu massiven Kürzungen der konsumtiven Ausgaben kommen. Die Art, wie Sie unsere Sparvorschläge demagogisch angegriffen haben, relativiert im übrigen Ihr Konzept. Sie sagen ja in Wahrheit: Nach der Wahl werden wir genau solche
Maßnahmen ergreifen, aber heute lehnen wir sie ab. Aber ich bin überzeugt, daß es dann zu spät ist.
— Deswegen haben wir ja unsere Sparvorschläge jetzt beschlossen, damit das jedermann weiß. Sie greifen sie aber an.
Herr Lafontaine, es ist doch sachlich falsch: Es wird nicht zu einer Besserung der wirtschaftlichen Lage kommen, wenn wir Einsparungen erst später durchsetzen. Wir müssen zunächst einsparen, damit es wirtschaftlich wieder bergauf geht. Das ist die richtige Reihenfolge.
Sie sollten Ihre Blockadepolitik im Bundesrat endlich aufgeben.
Eine letzte Bemerkung, die ich machen möchte: Sie haben dem Bundeskanzler beim Thema GATT vorgeworfen, er habe nicht genau gesagt, wo die Differenzen lägen. Ich finde, es wäre angemessener gewesen, wenn Sie gesagt hätten: Herr Bundeskanzler, verehrte Bundesregierung — —
— Nein, nein, im Ernst. Es gibt ja gelegentlich Reste von Fairneß im Umgang miteinander.
Reste von Fairneß sollte es geben.
— Dann will ich Ihnen einmal sagen, was ich in den letzten Tagen vermißt habe. Weil Sie mir jetzt dauernd dazwischen rufen, will ich Ihnen doch einmal sagen: Nach den Maßstäben, die Ihre Parteifreunde an die Mitglieder meiner Partei in Sachsen-Anhalt angelegt haben, wäre Herr Lafontaine schon längst zurückgetreten und wären längst Neuwahlen im Saarland.
— Wenn Sie hier Wahlkampf haben wollen, können Sie ihn haben. Wir wollten eigentlich eine Debatte über den nächsten Europäischen Rat.
Aber Sie können nicht erwarten
— ich komme zu dem Thema, das Herr Lafontaine hier eingeführt hat, bei dem bin ich —, daß Sie hier Wahlkampf machen können, und wenn wir dann antworten, sind Sie auch noch beleidigt. So geht es ja nun nicht zusammen.
Wenn Sie zur sachlichen Debatte zurückkehren wollen — bitte sehr! So haben wir es eigentlich verstanden. Nur, täuschen Sie sich nicht, und richten
17126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Dr. Wolfgang Schäuble
Sie sich darauf ein: Den Ton, den Sie hier einführen, können Sie auch haben.
— Herr Lafontaine hat nicht zur Sache gesprochen, und jetzt will ich — —
— Na ja, man sieht ja, wer schreit. Jedermann kann ja verfolgen, wer hier das Gebrüll veranstaltet.
Meine Damen und Herren, daß es in einer Debatte lebhaft wird, ist in Ordnung. Aber daß der Redner andauernd durch lautes Zwischenrufen am Reden praktisch gehindert wird, das geht nicht.
Dr. Wolfgang Schäuble Herr Präsident, ich bedanke mich. Ich habe es so verstanden — deshalb bin ich auch gar nicht so furchtbar erschüttert —: Es ist ja ein Ausdruck von Nervosität der Sozialdemokraten.
Ich wollte, nachdem Herr Ministerpräsident — —
— Im Volksmund gibt es ja den Satz: Getroffene Hunde bellen. Und so etwas veranstalten Sie gerade.
— Nur weiter! Ich beobachte das noch eine Weile.
Ich wollte zu den Ausführungen von Herrn Lafontaine zu dem Stand der Bemühungen um einen Erfolg der GATT-Verhandlungen noch eine Bemerkung machen, weil das ja mit eine der wichtigsten Fragen für die Chance ist, daß wir in Deutschland wie in Europa und darüber hinaus in der Weltwirtschaft eine nachhaltige wirtschaftliche Besserung bekommen, daß wir nun wirklich zu einem erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen kommen. Meine Damen und Herren, haben Sie eigentlich einmal bedacht, was es wohl für die Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Stellung in der Welt bedeutet, daß im Grunde alle ihre Hoffnungen darauf setzen, daß es dem Bundeskanzler Kohl gelingen möge, die Weichen für den Erfolg der GATT-Verhandlungen zu stellen?
— Ja, aber es liegt ja nicht an Deutschland, daß es nicht zu einem Abschluß kommt, sondern es liegt an den Meinungsunterschieden zwischen wichtigen Partnern und Freunden auch der Bundesrepublik Deutschland.
Alle setzen ihre Hoffnungen auf Helmut Kohl und auf die deutsche Bundesregierung.
Ich finde, es gehört zu dem Rest von Fairneß, den man auch von der Opposition verlangen sollte, insbesondere vom Koordinator für die deutsch-französischen Beziehungen, daß man einmal sagen sollte: Herr Bundeskanzler, wir sind froh und dankbar, daß Sie sich mit einem solchen Maß an Autorität und Einsatz um einen Erfolg der GATT-Verhandlungen bemühen;
wir unterstützen Sie und wünschen alles Gute, daß sich die guten Chancen, daß es noch zum Erfolg führt, auch tatsächlich verwirklichen.
Dies zeigt, daß die Politik dieser Regierung, die Politik der Koalition von CDU/CSU und F.D.P. für die europäische Einigung, für die Zusammenarbeit in der Welt auf wirtschaftlichem wie auf anderem Gebiet erfolgreicher ist als alle anderen, und dies zeigt im übrigen, daß wir auf diesem Weg gemeinsam das Beste für Wachstum und mehr Beschäftigung in unserem Land tun.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, nach der Verfassung hat ein Mitglied des Bundesrates wie die Bundesregierung jederzeit das Recht, in diesem Hohen Hause gehört zu werden. Wir haben aber um eines ordnungsgemäßen Ablaufs willen intern auch bestimmte Regeln entwickelt.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich werde Ihnen jetzt selbstverständlich das Wort erteilen, aber das ist ein höchst ungewöhnlicher Vorgang.
Daß hier von der Bundesratsbank mit dem Redner Dialoge geführt werden, ist schon ungewöhnlich. Daß einmal ein Zwischenruf kommt, ist normal.
Aber das ist eine Sache, die die SPD-Fraktion mit sich wird abmachen müssen und über die wir auch im Ältestenrat zu sprechen haben werden.
Bitte, Herr Ministerpräsident, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst zu den Bemerkungen über den Bundesrat etwas sagen, die ich doch in aller Deutlichkeit zurückweisen muß. Die Mitglieder des Bundesrates haben nach der Verfassung das Recht, das Wort zu ergreifen.
Das habe ich nicht bestritten.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17127
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das haben Sie nicht bestritten. Sie haben es umfangreich kommentiert. Herr Präsident, ich weise diese Bemerkungen zurück.
Einen Moment, meine Damen und Herren!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie können hier noch so viel lärmen, meine Damen und Herren — —
Verzeihen Sie, ich darf Sie einen Moment unterbrechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Sie führen hier Usancen ein, die es seit Jahrzehnten in diesem Hause nicht gegeben hat.
Ich habe das Recht eines Mitglieds des Bundesrates, hier jederzeit das Wort zu ergreifen, nicht nur nicht bestritten, sondern Ihnen ausdrücklich bestätigt. Ich habe Sie lediglich darauf hingewiesen, daß das, was hier jetzt und heute geschieht, äußerst ungewöhnlich ist und den abgemachten Regeln zwischen uns widerspricht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich möchte zunächst einmal sagen —
Ich habe eine Meldung zur Geschäftsordnung. — Herr Kollege Hörster.
Ich möchte dem Herrn Ministerpräsidenten des Saarlandes Gelegenheit geben, seine Kritik an dem amtierenden Präsidenten zurückzunehmen. Falls er dies nicht tut, beantrage ich Unterbrechung der Sitzung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wird ein hervorragendes Klima zwischen Bundesrat und Bundestag, wenn das so weitergeht.
Ich möchte zunächst folgendes klarstellen, Herr Präsident: Ich habe hier darum gebeten, noch einmal fünf Minuten das Wort zu erhalten. Ich habe nicht darauf bestanden, das Wort jetzt direkt zu nehmen.
— Herr Kollege Schäuble, wenn Sie jetzt einmal so
nett sein würden, auch mich einmal ausreden zu
lassen. — Ich habe mich überhaupt nicht in irgendeiner Form in den Ablauf eingemischt. Ich hätte es nach meinem Verständnis selbstverständlich akzeptiert, wenn die Redner der kleineren Parteien zuerst das Wort ergriffen hätten. Mir ging es nur um eine Erwiderung. Dies zunächst zum Ablauf.
Zweitens sage ich noch einmal: Ein Mitglied des Bundesrates hat das Recht, hier das Wort zu nehmen.
Ich weise für den Bundesrat Bemerkungen, die dahin gehend verstanden werden können, als wäre ein solches Begehren in irgendeiner Form zu kritisieren oder mit kritischen Bemerkungen zu begleiten, ganz entschieden zurück.
Zweitens. Sie haben zum Verfahren etwas gesagt. Wir hatten kürzlich unter meiner Sitzungsleitung, Herr Präsident, den Herrn Bundeskanzler im Bundesrat. Er hat dort gesprochen.
— Ich teile Ihnen nur etwas mit, damit Sie vielleicht über die Usancen des Bundesrats informiert werden.
Der Herr Bundeskanzler hat während dieser Debatte häufiger, auch an mich gerichtet, Zwischenrufe gemacht, und er hat insofern eben auch
eine Gepflogenheit im Bundesrat eingeführt, von der ich zugegebenerweise ebenfalls Gebrauch gemacht habe. Wenn wir uns darauf verständigen könnten, daß wir das überall in gleicher Form handhaben, dann sind die Dinge geklärt,
aber eine einseitige Darlegung in der Form, daß hier die Mitglieder des Bundesrates nicht ihre vollen Rechte wahrnehmen, gibt es nicht, um das in aller Form klarzumachen.
Wenn gewünscht wird, unterbreche ich jetzt meine Ausführungen, Herr Präsident.
Bitte, Herr Schäuble.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, wir wollen nichts verschärfen und nichts dramatisieren, aber vielleicht darf ich Ihnen in aller Ruhe doch erklären: Sie sprechen hier vor dem Deutschen Bundestag.
Der Deutsche Bundestag ist mit dem Bundesrat nicht
vergleichbar, was sich schon daraus ergibt, daß zwar
17128 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Dr. Wolfgang Schäuble
die Mitglieder des Bundesrats im Bundestag Rederecht haben, aber nicht umgekehrt. Deswegen ist der Deutsche Bundestag, das frei gewählte Parlament, das Forum der Nation.
In diesem Deutschen Bundestag gibt es eine ganz einfache, feste Regelung, und an die müssen sich alle — die Mitglieder des Bundestags, die Mitglieder der Bundesregierung und auch die des Bundesrats, alle Redeberechtigten — halten: Es wird niemals mit dem Präsidenten, der die Sitzung leitet, diskutiert.
Eine Entscheidung des amtierenden Präsidenten ist von dem Redner immer unwidersprochen zu akzeptieren. Wenn jemand damit nicht einverstanden ist, muß diese Frage im Ältestenrat debattiert werden. Wenn wir anfangen, mit dem Präsidenten des Bundestages während der Sitzungsleitung zu diskutieren, verkommt dieses Parlament. Das möchten wir nicht.
Deswegen schlage ich Ihnen jetzt vor, daß Sie von Ihrem verfassungsmäßigen Rederecht Gebrauch machen, was von niemandem bestritten wird, und zur Sache sprechen, aber nicht den Präsidenten des Bundestags kritisieren.
Meine Damen und Herren, ich bitte doch einen Moment um Ruhe.
Der Antrag des Kollegen Hörster, wenn ich das richtig sehe, hat sich damit erledigt.
Ich bitte den Herrn Ministerpräsidenten des Saarlands, mit seinen Ausführungen fortzufahren. Er hat noch einmal um fünf Minuten Redezeit gebeten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wollte kurz dem Kollegen Schäuble erwidern.
Zunächst haben Sie mir Bemerkungen zu den GATT-Verhandlungen unterstellt, die ich überhaupt nicht gemacht habe. Das ist kein guter Stil in unserer Debatte. Ich habe hier ausgeführt — wie Sie dem schriftlichen Protokoll entnehmen werden —, daß wir hinsichtlich der GATT-Verhandlungen mit den Zielsetzungen der Regierung einverstanden sind.
Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, umfangreiche Ausführungen zu machen, es wäre an mir gewesen, doch Herrn Kohl zu danken und ihn nicht zu kritisieren. Ich habe ihn mit keinem Wort kritisiert. Lesen Sie das Protokoll noch einmal nach.
— Herr Kollege Schäuble, wir müssen da schon etwas korrekt sein. Wenn Sie wirklich auf ein besseres Klima hinarbeiten wollen — und Sie haben ja durchaus in Erinnerung, was wir zustande gebracht haben beim Rentenreformgesetz, beim Gesundheitsgesetz, beim Solidarpakt und jetzt kürzlich bei der Bahnreform; auch bei dem, was wir noch vorhaben, muß ein erträgliches Klima der Zusammenarbeit herrschen —,
dann müssen wir eben versuchen, fair miteinander umzugehen.
Daher möchte ich eine Bemerkung von Ihnen nicht aufgreifen. Ich erlaube mir aber, Sie anzurufen und Sie über einen bestimmten Sachverhalt in Kenntnis zu setzen.
Sie haben hinsichtlich unserer Sparvorschläge noch einmal gemeint, dies sei inkonsistent. Nehmen Sie bitte zwei Argumente noch einmal zur Kenntnis; Sie brauchen sie ja nicht zu teilen. Wenn die Konsumentennachfrage fällt — dies ist seit langen Jahren zum ersten Mal so in der Bundesrepublik Deutschland —, dann kann man nicht in erster Linie mit Lohnkürzungen und Sozialleistungskürzungen darauf antworten wollen. Dies wäre ökonomisch falsch und kontraproduktiv.
Sie haben etwas zu den Lohnnebenkosten gesagt. Ich bleibe dabei, daß wir bei den gesetzlichen Lohnnebenkosten — um es exakt zu sagen — nicht nur den Arbeitgeberanteil im Auge haben können und daß wir eine solche Position nicht akzeptieren werden. Wer über Kompensation redet — Sie haben das Wort benutzt — und nur den Arbeitgeberanteil im Auge hat, hat keine Möglichkeit, mit uns zu einem Konsens zu kommen. Denn wir denken auch an die leistungsfähigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die durch Fehlentscheidungen in der Vergangenheit über Gebühr belastet worden sind.
Im übrigen hat hinsichtlich der Zinspolitik niemand in der Europäischen Gemeinschaft für einen Abwertungswettlauf plädiert. Ich empfehle Ihnen, einmal die Zinssätze der amerikanischen und der japanischen Zentralbank zur Kenntnis zu nehmen. Sie würden allein schon durch einen Vergleich zu dem Ergebnis kommen, daß Ihre Schlüsse zumindest problematisch sind. Wie sich der Yen trotz der niedrigen Zinsen dort entwickelt hat, ist bekannt. Das entlastet auch beispielsweise die europäische Exportwirtschaft in enormem Umfang. Wie sich der Dollar in der letzten Zeit entwickelt, können Sie täglich in den Nachrichten hören.
Insofern meine ich, daß wir sehr wohl das Hauptproblem sehen müssen — ich wiederhole es —, weil wir sonst zu keiner Lösung der Fragen kommen. Das
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Ministerpräsident Oskar Lafontaine Hauptproblem ist die explodierende Staatsverschuldung. Wir können sie nur in den Griff bekommen, wenn wir größere Anstrengungen unternehmen, als sie gegenwärtig auf dem Tisch liegen. Wenn Sie nicht akzeptieren, daß wir nicht immer nur Verbrauchsteuererhöhungen machen können, nicht immer nur Sozialleistungen kürzen können, und wenn Sie dann drei Runden zur Unternehmensentlastung in den letzten drei Jahren, an denen ich persönlich beteiligt war und bei denen ich versucht habe, sie auf dem Kompromißwege mit Ihnen zu einem Ergebnis zu bringen, durchführen, dann stelle ich hier einen Dissens fest.
Ich sage Ihnen aber nur: Mit einer ständigen Erhöhung der Verbrauchsteuern und der relativen Belastung der kleineren Einkommen, mit Kürzungen der Sozialleistungen bei einem Rückgang der Verbrauchernachfrage, mit gleichzeitigen ständigen Entlastungen auf der Unternehmerseite — das teilweise bei Steuern, bei denen nicht nachgewiesen ist, daß damit direkt Investitionen in Gang gesetzt werden — werden Sie das Problem nicht lösen. Ich habe hier ein Angebot gemacht; vielleicht haben Sie das überhört.
Wenn Sie beispielsweise immer noch meinen, es sei richtig gewesen, den Solidaritätszuschlag auslaufen zu lassen und die Belastungsrunden durchzuführen, die es in der letzten Zeit gab, dann gibt es einen wirklichen Dissenspunkt. Mit einer einseitigen Belastung ist diese große Aufgabe nicht zu bewältigen.
Herr Kollege Schäuble, eine Bemerkung dann doch noch. Sie haben geglaubt, sagen zu sollen: Vor der Wahl soll man die Wahrheit sagen.
Wir haben, was die Haushaltskürzung angeht, gesagt: Sobald sich die Konjunktur wieder einigermaßen erholt hat, wollen wir beim Zuwachs unter dem nominalen Zuwachs des Sozialproduktes bleiben. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. Ich habe ausdrücklich von Steuererhöhungen für höhere Einkommen und für größere Vermögen gesprochen. Das ist nicht populär. Ich habe gleichzeitig gesagt, daß die konsumtiven Ausgaben zurückgeführt werden müssen. Ich glaube, daß dies doch ein deutliches Angebot war. Vielleicht wird es nicht verstanden. Ich würde nur bitten, Herr Kollege Schäuble — diese persönliche Bemerkung gestatten sie mir dann doch —: Wenn Sie darüber reden, daß es notwendig sei, vor den Wahlen die Wahrheit zu sagen, dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
gerne zum Thema der heutigen Aussprache zurückkommen, nämlich zu Europa. Ich möchte aber sagen: Aus Sicht der F.D.P. hat Herr Lafontaine diese Europadebatte, an der ja bisher noch kein Kollege der SPD teilnehmen konnte, zu einer Wahlkampfrede mißbraucht.
Er hat von Herrn Schäuble die richtige Antwort bekommen und sollte deshalb nicht beleidigt sein.
In der Sache bleiben wir bei der Meinung: Er ist ein schlechter Ratgeber in bezug auf das Sparen in der Bundesrepublik. Herr Ministerpräsident, Sie können froh sein, daß Ihr Bundesland zur Bundesrepublik gehört. Als selbständiges Land würden Sie nie und nimmer die Konvergenzkriterien der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion schaffen.
Insofern sind Sie ein sehr schlechter Ratgeber.
Wer bei der Wiedervereinigung erlebt hat, wie die Bundesländer die Bundesregierung in die Verschuldung getrieben haben, wer die jetzige Diskussion bei der Bahnreform verfolgt, wie der Bundesrat, von der SPD regiert, seine Machtposition ausspielt, die Bundesregierung erpreßt und sie damit weiter in die Verschuldung hineintreibt,
: Wer regiert denn in
den neuen Bundesländern? Dafür sind Sie
doch verantwortlich!)
der gefährdet auch die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion.
— Nein. — Denn mit dieser durch die Bundesländer verursachten hohen Verschuldung der Bundesrepublik schaffen wir nicht die Konvergenzkriterien, was die Verschuldung angeht.
Wir reden heute über ein Problem, das nicht nur uns Deutsche, sondern inzwischen 18 Millionen Europäer in Westeuropa betrifft. Wir sollten uns auch in dieser Debatte daran erinnern, daß Spanien eine Massenarbeitslosigkeit von über 20 % hat. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, daß in Irland jeder fünfte arbeitslos ist. Wir müssen leider auch zur Kenntnis nehmen, daß in den neuen Bundesländern über 15 % der Menschen ohne Arbeit sind.
Wir sollten wissen, daß es ohne die Europäische Gemeinschaft in einer solchen Rezession mit Massenarbeitslosigkeit längst Protektionismus und Abschottung zwischen Nationalstaaten gegeben hätte. Vor 40 Jahren wäre Frankreich nicht bereit gewesen, über 3 Millionen Arbeitslose in Kauf zu nehmen und trotzdem deutschen Firmen zu erlauben zu exportieren. Das ist ein großer Fortschritt.
Deshalb sollte man als Deutscher dankbar sein, daß dieses Regelwerk wirklich auch in schlechten Zeiten hält.
17130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Dr. Helmut Haussmann
Meine zweite Bemerkung heißt: Der Vorsprung der Europäer schmilzt dahin. Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt, daß es zum erstenmal eine Welthandelskonferenz gab, an der über 50 % des Weltsozialproduktes beteiligt waren, Regionen, in denen über 60 % der Bevölkerung leben, an der aber kein Europäer teilgenommen hat. In Seattle ging es um über 50 % der Weltbevölkerung und des Weltsozialproduktes.
Bei der NAFTA handelt es sich heute um die größte Wirtschaftsunion der Welt; das ist nicht mehr die Europäische Gemeinschaft. Wer die NAFTA-Diskussion erlebt hat, der sollte wieder mehr Mut zu Europa haben. Wie Al Gore und wie Clinton gegen einen Miesmacher wie Herrn Perrot vorgegangen sind, das wünsche ich mir auch in Deutschland und in Europa.
Ich fand es nicht gut, daß Herr Stoiber die letzte Europadebatte nicht genutzt hat, Herr Europaminister Goppel, seine Einlassungen richtigzustellen, sondern er ist als Rechthaber aufgetreten. Nach wie vor gibt es in den Mitgliedstaaten die Angst, daß sich der Ministerpräsident eines wichtigen Bundeslandes vorbehält, aus der Europäischen Gemeinschaft auszutreten. Das muß richtiggestellt werden.
Deshalb gibt es keine Alternative. Es gibt keinen Schritt zurück in den Nationalstaat. Wer Europa will, wer damit auch die Demokratie in Europa stützen will, der muß für mehr Arbeit für Europäer sorgen.
Entscheidend — das will ich auch Herrn Lafontaine sagen — ist die Grundeinstellung. Der Grundansatz von vielen Sozialdemokraten — leider auch von Gewerkschaften, großen Teilen der Kirche — nach dem Motto, die Arbeit ist endlich, die Arbeit geht aus, sie ist beschränkt, und daher müssen wir sie durch immer kürzere Arbeitszeiten auf immer mehr Menschen umverteilen, ist grundfalsch. Sie ist in dieser Weltpolitik das beste Arbeitsbeschaffungsprogramm für Japaner und für Amerikaner.
Es ist im übrigen ein Zeichen von großer Arroganz unserer Wohlstandsländer. Wer die Armut in Osteuropa und erst recht in den Entwicklungsländern kennt, der merkt, wie zynisch es ist, wenn entwickelte Länder sagen: Es gibt nicht mehr Arbeit, wir müssen sie unter uns besser verteilen. Es gibt unendlich viel Arbeit, nur — da knüpfe ich an das an, was Herr Schäuble dazu gesagt hat —, sie ist zu starr geworden. Wir sind zu langsam geworden, wir sind in Westeuropa zuwenig innovativ, wir haben uns zu sehr mit Konsum und Freizeit beschäftigt, und wir sind zu teuer geworden.
Der Weltmarkt wächst. Am Weltmarkt gibt es neue Arbeitsplätze, aber eben nur für Staaten und für Wirtschaftsvereinigungen, die schneller, die investiver, die flexibler und die fleißiger sind, meine Damen und Herren.
Eine dritte Bemerkung zur Massenarbeitslosigkeit in Europa. Wir brauchen die Wirtschafts- und Währungsunion dringender denn je. Nur eine Überlegung: In Japan gibt es knapp 3 % Arbeitslose. In den USA gibt es derzeit 7 % Arbeitslose. In der Europäischen Gemeinschaft gibt es bereits 11 % Arbeitslose, in Spanien 28 %. Das heißt, Wirtschaftsräume, die integriert sind, d. h. eine Währungs-, eine Zins-, eine Finanzpolitik haben wie die USA und wie Japan, haben langfristig auch Beschäftigungsvorteile.
Deshalb ist die Wirtschafts- und Währungsunion in Europa nicht die Erfindung von Brüsseler Bürokraten, sondern sie ist eine Notwendigkeit. Wir müssen die Voraussetzung dafür schaffen, daß zumindest in Frankreich, in Deutschland, in den Beneluxstaaten, in Österreich noch in diesem Jahrzehnt eine einheitliche Währungs-, Wirtschafts- und Zinspolitik gemacht werden kann, um die Massenarbeitslosigkeit entschieden zu bekämpfen.
Ich darf den vielen Zweiflern, die es leider in allen Fraktionen auf dem Weg zur Wirtschaftsunion gibt, nur ein kurzes Zitat vorhalten, was uns der Sachverständigenrat in seinem letzten Gutachten ins Stammbuch geschrieben hat. Ich zitiere:
Es wird für die nationalen Notenbanken immer schwerer werden, einen Kurs zu fahren, der stabile Währungsverhältnisse aufrechthält. Agieren die Kapitalanleger europaweit, so werden die Länder der davon ausgehenden destabilisierenden Effekte nur durch einen radikalen Schritt wirklich Herr werden: indem sie den Übergang zur Europäischen Währungsunion vollziehen. Europa wird sich früher oder später zu diesem Schritt durchringen müssen — oder es bleibt von Desintegration bedroht.
Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Deshalb sollten wir auch national bei der Privatisierung, bei der Entschuldung Fortschritte machen,
weil wir sonst als größtes Land die Verschuldungskriterien der Europäischen Gemeinschaft gar nicht erfüllen. Da hat die SPD nun einen weiten Weg zurückzulegen, wenn sie nicht nur auf dem Papier Europapartei sein will, sondern auch in der nationalen Wirklichkeit.
Vierter Punkt — hier bin ich nicht mit dem einverstanden, was bei uns und in der Europäischen Gemeinschaft geschieht —: Wir müssen die Integration von Mittel- und Osteuropa beschleunigen.
Ich finde es richtig, daß Außenminister Kinkel, aber auch meine Fraktion eine konkrete politische, wirtschaftspolitische und sicherheitspolitische Beitrittsperspektive für Mittel- und Osteuropa bieten. Hier liegt aus meiner Sicht langfristig das wahre Dilemma von uns Europäern. Wir sehen zu wenig die Chancen von neuen Märkten in Mittel- und Osteuropa. Wir investieren in diese neuen Märkte zu wenig. In
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Dr. Helmut Haussmann
Wirklichkeit gibt es weder bei den Ländern des G 7 noch bei der Europäischen Gemeinschaft, noch bei der OECD, noch bei der Weltbank einen richtigen, geschlossenen, koordinierten wirtschaftlichen Aufbauplan für Mittel- und Osteuropa.
Deshalb gibt es zwei langfristige negative Konsequenzen von großem Gewicht für die Beschäftigungspolitik. Erstens gefährdet der Mangel eines Aufbauplans die jungen Demokratien; sie müssen zu lange auf wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt warten. Zweitens kommen wir in Westeuropa aus dem Teufelskreis von Überkapazitäten der entwickelten Länder ohne die zusätzlichen Märkte in Mittel- und Osteuropa nicht heraus. Es geht also nicht nur um politische Hilfe für Mittel- und Osteuropa, sondern es ist in unserem ureigensten Interesse, daß wir uns selbst stärker an der Erschließung dieser neuen Märkte beteiligen.
Wir haben es in den nächsten zehn Jahren weltweit mit einer Kombination zwischen Hochtechnologie in Japan und Amerika und Billiglöhnen in Südamerika und in Asien zu tun. Wir Westeuropäer sind unter uns bereits zu teuer, zu langsam, zu konsumtiv geworden. Das heißt, wir brauchen billige Arbeit, wir brauchen fleißige Menschen aus Osteuropa, um zu einer besseren gesamteuropäischen Produktivität zu kommen.
Meine Damen und Herren, wer sich mit diesen Fragen, mit Programmen für Mittel- und Osteuropa beschäftigt, der weiß: Es ist viel guter Wille, es ist zu langsam, es ist zu bürokratisch, es wird zuwenig koordiniert, ob Phare, ob Tacis, es ist ein Trauerspiel, daß Herr Attali in der Osteuropabank mehr Geld für Repräsentation ausgegeben hat als für Kredite in Mittel- und Osteuropa. Das macht diesen Ländern wenig Hoffnung.
Es ist auch eine Heuchelei. Wir haben diesen jungen Demokratien sogenannte asymmetrische Handelsabkommen angeboten. Das heißt, die Idee war: Sie können mehr einführen, als wir ausführen. In Wirklichkeit haben die reichen Länder Westeuropas einen Handelsüberschuß, weil sie ihre Märkte nicht öffnen. Wenn wir unsere Märkte nicht öffnen, dann wird es beschäftigungspolitisch, aber auch politisch Instabilität geben.
Ich möchte zum Abschluß sagen, meine Damen und Herren: Wir sehen mit Blick auf den Gipfel die Beschäftigungspolitik als das Hauptthema an. Wir sollten aber in Deutschland auch mehr Mut zur europäischen Entwicklung haben. Wir Deutschen sollten nicht — wie ein Amerikaner vor kurzem zu Recht gesagt hat — ein wehleidiger, ein griesgrämiger Gewinner der Weltgeschichte sein.
Wir liegen im Zentrum Europas. Wir haben gut ausgebildete Menschen. Deutschland kann mittelfristig ein Zentrum, eine Drehscheibe für die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Gesamteuropa werden. Nur so schaffen wir Arbeitsplätze und damit auch demokratische Stabilität in Gesamteuropa.
Danke schön.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Hans Modrow das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa durchlebt offensichtlich eine Zwischenzeit. Sie hat noch keinen Namen. Auf die Verschiebungen der politischen Landkarte nach dem Ost-West-Konflikt wird im wesentlichen traditionell konservativ reagiert mit nationaler Interessenpolitik, die fast schon mit dem bisher erreichten Integrationsniveau zu kollidieren droht. Die etablierte Politik bietet kaum angemessene Problemlösungen an, ja, sie weigert sich zunehmend, die Tiefe der heraufdrohenden Europakrise wahrzunehmen.
Fakten bleiben Fakten: Mehr als 18 Millionen Menschen sind als arbeitslos registriert, davon 32 % Jugendliche und 45 % Langzeitarbeitslose. 40 Millionen von 345 Millionen Einwohnern der Europäischen Union, einer der reichsten Regionen der Welt, sind arm; 3 Millionen haben nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Schon jetzt nehmen zwischen den europäischen Staaten Verteilungskonflikte zu; die Unterschiede zwischen armen und reichen Regionen vergrößern sich.
Folgt man nun der heutigen Regierungserklärung und vor allem den Antworten auf die Große Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu dieser Problematik — letztere könnte übrigens neben jedem SED-Bericht zu Wirtschaftsfragen bestehen —, so ist die Botschaft nur eine: Die EG-Integration schreitet — nicht zuletzt dank der unermüdlichen Anstrengungen der Bundesregierung — mit Riesenschritten voran. Wer sich dafür nicht bedankt, wehe dem. Mit dem Binnenmarkt steht das solide Fundament für die Maastrichter Wirtschafts- und Währungsunion, keinerlei Krisensymptome — ein Bösewicht, wer an diesem Lack aus guten deutschen Farben auch nur kratzt. Wie es dann klingt, haben wir gerade mit der Diskussion zur Hochverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland erlebt.
Übrigens, Herr Biedenkopf spricht hier von Auswägen und meint, eine neue Regierung müsse her.
Die Bundesregierung kann sich nicht länger um folgende Eingeständnisse herummogeln: Von den ursprünglich versprochenen positiven Wirkungen des Binnenmarktes für die Menschen ist auf entscheidenden Gebieten wenig, eher das Gegenteil spürbar. Jedenfalls sind die Versprechungen, durch den Binnenmarkt und die damit verbundene Beseitigung der ökonomischen Hemmnisse für die freie Bewegung von Kapital und Arbeit würden das Wirtschaftswachs-turn angekurbelt, Arbeitsplätze geschaffen und durch die steigende Konkurrenz die Preise niedrig gehalten, nicht eingetreten.
Die Menschen erleben zwar, wie das Kapital zusammenwächst, für sie ist westeuropäische Integration aber mit einem schonungslosen Abbau von Arbeitsplätzen und sozialen Errungenschaften verbunden.
17132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Dr. Hans Modrow
Und Grundsätze für europäische Betriebsräte stehen noch immer aus.
Mehr noch: Niemand kann mehr die Augen davor verschließen, daß der Standortwettbewerb in der Europäischen Union inzwischen zu einem Wettrennen um die niedrigsten Löhne und schlechtesten Sozialleistungen verkommt. Wir haben davor schon im Zusammenhang mit dem Maastrichter Vertrag gewarnt. Heute warnt selbst Kommissionspräsident Jacques Delors unmißverständlich vor den Folgen, wenn nicht endlich der Abbau der Arbeitslosigkeit als zentrale Herausforderung der Integrationspolitik begriffen wird. Wie schwer es der Koalition damit fällt, haben wir gerade in dem zurückliegenden Streit erlebt.
Der Kommissar für Arbeit Patrick Flynn fordert, die Antwort auf Massenarbeitslosigkeit dürfe nicht einfach die Abschaffung jeglicher Regulierung sein. Dem kann man nur zustimmen, und die Regierung sollte nachdenken.
Die Regierungen, allen voran die Bundesregierung, wie die Unternehmer tun jedoch genau das Gegenteil: Während die Unternehmer Massenarbeitslosigkeit ankündigen, beschließt die Bundesregierung drastische Sparmaßnahmen vor allem im sozialen Bereich, Lohnkürzungen und Deregulierungsmaßnahmen. Ihrer Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt.
Selbst die wenigen und keineswegs ausreichenden Ansätze für eine europäische Beschäftigungspolitik aus der EG-Kommission wurden von der Bundesregierung, wie heute bereits nachgewiesen worden ist, zurückgewiesen. Wir fordern die Bundesregierung auf, auf dem bevorstehenden Europäischen Rat die diesbezüglichen Beschlüsse der Wirtschafts- und Finanzminister zu korrigieren und alle Maßnahmen, die Rezession und Arbeitslosigkeit durch Sozialabbau und Lohnsenkung beseitigen wollen, entschieden entgegenzutreten.
Besonders wohlklingend beschreibt die Bundesregierung stets die Wirkungen des Binnenmarktes auf die neuen Bundesländer. Gewiß fließen inzwischen beträchtliche Fördermittel. Das Europäische Parlament empfiehlt in seiner Entschließung zum gemeinschaftlichen Förderkonzept für die neuen Bundesländer, diese vor allem auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zu richten. Aber genau da hapert es, und die Bundesregierung bleibt bisher den Beweis schuldig. So fordert selbst der Bundesverband der Deutschen Industrie: „Priorität bei der Vergabe der Mittel . . . muß die Unterstützung produktiver Investitionen und der weitere Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur haben. "
Auch vermag niemand die immer wieder behauptete „allmählich einsetzende wirtschaftliche Erholung im Osten" nachzuvollziehen, wenn man in die verödeten Industrielandschaften im Osten schaut, von der Landwirtschaft ganz zu schweigen. Niemand hat ein so kurzes Gedächtnis, um den Crashkurs, mit dem das geschehen ist, zu vergessen.
Die Bundesregierung muß endlich eine Politik der europäischen Einigung betreiben, die nicht nur den Reichen und Mächtigen, sondern vor allem den Bürgerinnen und Bürgern nutzt. Dies ist aber nur zu
erreichen, wenn der weitere Fortgang dieses Prozesses auch in einem demokratischen Prozeß unter Mitwirkung aller Bürgerinnen und Bürger gestaltet wird.
Es bleibt uns ein wichtiges Anliegen, dieses Recht immer wieder einzufordern. Wir haben deshalb einen Antrag mit Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesregierung vorgelegt. Auf drei Dinge möchte ich besonders verweisen.
Erstens erwarten wir von der Bundesregierung, daß sie in der Europäischen Union alles dafür tut, um den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen zur wichtigsten Gemeinschaftsaufgabe zu erheben. In der Europäischen Union muß schnellstens ein gemeinsames Beschäftigungs- und Investitionsprogramm entwickelt werden, das die ungeheure Zahl von über 18 Millionen Arbeitslosen durch eine aktive ökologische Wirtschafts- und Strukturpolitik, die den technologischen Fortschritt fördert, eine schrittweise Angleichung der Lebensbedingungen zwischen den Ländern und Regionen ermöglicht und auf ein erhaltendes Wachstum gerichtet ist, abbauen hilft.
Es braucht mehr Qualifizierung der Arbeitnehmer, mehr Forschung und Entwicklung zur Verbesserung des Standortes. Weshalb, so ist doch zu fragen, werden nicht europaweit vor allem Zinserträge wirksam besteuert, um produktive Investitionen zu fördern und Investitionen in Finanzanlagen zurückzudrängen? Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit darf nicht den Kräften des Marktes allein überlassen werden.
Zweitens fordern wir von der Bundesregierung, daß sie im Rahmen der Europäischen Union intensiv und konsequent Schritte unternimmt, damit das europäische Sozialmodell nicht aufgekündigt wird, der Kündigungsschutz, kollektive Lohnverhandlungen, kollektive Systeme der sozialen Sicherheit erhalten bleiben und nicht ersatzlos gestrichen werden. Die Europäische Sozialcharta muß endlich verbindlichen Charakter erhalten und durch weitere Grundrechte ergänzt werden.
Drittens sollte die Bundesregierung ab sofort — hier berufe ich mich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts — keiner grundlegenden Entscheidung in der Europäischen Union mehr zustimmen dürfen, ohne daß diese zuvor im Bundestag eingehend diskutiert und geprüft worden ist. Überhaupt sollte sie alle wichtigen Zukunftsentscheidungen stets auf ihre gesamteuropäische Verträglichkeit — wohlgemerkt: nicht nur auf ihre nationale oder westeuropäische Verträglichkeit — hin überprüfen und diese nachweisen müssen. Auch ihre Vorbereitung auf die EG-Präsidentschaft ab dem 1. Juli 1994 sollte unter strenge parlamentarische Kontrolle gestellt werden, damit die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, Fragen einer Sozialunion und die Demokratisierung der Europäischen Union tatsächlich zur Integrationsanstrengung erhoben werden und nationalistische Alleingänge konsequent ausgeschlossen bleiben.
Meine Damen und Herren, eine der wenigen positiven Auswirkungen des Vertrages von Maastricht ist die Verpflichtung zur Einführung eines partiellen Wahlrechts für Menschen anderer Nationalität als der deutschen, die Einführung eines aktiven und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17133
Dr. Hans Modrow
passiven Kommunal-, Gemeinderats- und Kreistagswahlrechts sowie eines Wahlrechts zum Europäischen Parlament für Unionsbürgerinnen und -burger. Auch wenn unsere Forderung immer ein allgemeines Wahlrecht für alle hier dauerhaft lebenden Ausländerinnen und Ausländer zu allen Parlamenten umfassen wird, begrüßen wir, daß nun wenigstens ein allererster Schritt in die richtige Richtung gegangen wird. Peinlich genug für die Bundesregierung, daß dies erst durch den Druck des Maastrichter Vertrages geschah. Natürlich müßte dieses Wahlrecht auch den bereits seit langem in der Bundesrepublik lebenden Immigrantinnen und Immigranten gewährt werden, deren Leben durch die europäische Politik ebenso beeinflußt wird wie das aller Unionsbürgerinnen und -burger und Deutschen. Die auf völkischem Staatsbürgerschaftsrecht beruhende Wahlrechtsverweigerung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern ist überholt und gereicht diesem Land ohnehin nicht zur Ehre. So schnell wie möglich sollten jetzt die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden, damit Unionsbürger zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni aktiv und passiv wahlberechtigt werden.
Wir haben hierzu einen Gesetzentwurf eingebracht und eine Änderung des Europawahlgesetzes vorgeschlagen. Mit großer Sorge vernehmen wir jedoch Überlegungen aus dem Innenministerium, das in Art. 8 b des Maastrichter Vertrages eindeutig gewährte Wahlrecht wieder auszuhöhlen. Nicht anders ist es doch zu werten, wenn jetzt für Unionsbürgerinnen und -bürger ein Antragsverfahren eingeführt werden soll. Wir warnen vor jeglichem Versuch, völlig im Widerspruch zum Maastrichter Vertrag erneut Hindernisse für die ohnehin nur eingeschränkte Gewährung dieses Bürgerrechts aufzubauen. Die Bundesregierung ist verpflichtet, alles zu tun, damit die betreffenden Bürgerinnen und Bürger ihr Wahlrecht genauso ohne jegliche Erschwernis wahrnehmen können wie die deutschen Wählerinnen und Wähler. Dies nicht zu gewähren bedeutet nicht nur, Demokratie zu verhindern, sondern vor allem, Politikverdrossenheit zu fördern. Europamüdigkeit ist nur ein Ausdruck davon. Das Verhalten der Bundesregierung wird einmal mehr zum Prüfstein dessen, was ihre Europabeteuerungen am Ende wirklich wert sein werden.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sondergipfel vor wenigen Wochen hat sich mit der Tatsache der gelungenen Ratifizierung des Vertrages von Maastricht zufriedengegeben. Vom bevorstehenden Europäischen Rat müssen wir entschieden mehr verlangen, insbesondere daß sich die Europäische Union den von ihr bisher vernachlässigten Aufgaben zuwendet. Auf zwei dieser Aufgaben, die zunehmend aus dem Blickfeld der Union, aber vor allem auch der Bundesregierung entschwunden sind, möchte ich mich beziehen. Es sind die Aufgaben, eine Sozial- und eine Umweltunion zu schaffen. Mein Kollege Ullmann wird nachher noch andere Themen behandeln.
Europäische Integration im Rahmen der EU betrifft neben der politischen und wirtschaftlichen Union west- und zukünftig auch osteuropäischer Staaten die Verbindung von wohlhabenden mit ärmeren Gesellschaften. Das verlangt die soziale Integration jenes Drittels der Menschen in den Mitglied- und Nachbarstaaten, die von Wachstum und Handelsliberalisierung zunächst überhaupt nichts haben.
Die Armut in Europa geht weit über die jetzt 18 Millionen erfaßten Arbeitslosen in der Union hinaus. Von diesem wachsenden Teil der Gesellschaften, auch der deutschen, ist weder in der Kommissionsempfehlung noch im Koalitionsantrag die Rede. „Wachstum und Beschäftigung" — schon der Titel der Kommissionsempfehlung unterstellt einen Zusammenhang, der so nicht existiert. Es ist längst eine Binsenwahrheit, daß Wirtschaftswachstum, so es denn wieder erreicht wird, keineswegs automatisch Arbeitsplätze schafft. Ebenso möglich ist die Vernichtung von Arbeitsplätzen infolge von Rationalisierungsinvestitionen.
Daß dies auch der Kommission bekannt ist, läßt sich aus den sehr allgemein gehaltenen Formulierungen ihrer Empfehlungen ableiten. Wo anfangs noch ein Programm mit dem Ziel, 3 % Wachstum und 15 Millionen Arbeitsplätze bis zum Jahr 2000 zu erreichen, verabschiedet werden sollte, bleiben jetzt nebulöse makroökonomische Leitlinien, strukturpolitische Grundsätze und viele Appelle übrig.
Die Koalition drängt in ihrem heutigen Antrag auf die Einhaltung des längst obsolet gewordenen Fahrplans für die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion und setzt zur Erfüllung der Konvergenzkriterien vor allem auf eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Was die Koalition damit meint, verdeutlicht ihr Antrag: den Abbau staatlicher Intervention, die Verringerung der Arbeitskosten und die Ablehnung jeder Art quantitativ meßbarer Zielsetzungen für den Abbau von Arbeitslosigkeit aus — ich zitiere — „grundsätzlichen marktwirtschaftlichen Erwägungen".
Es ist schon verblüffend, festzustellen, wie unreflektiert die Koalition nach all den ostdeutschen Erfahrungen das Allheilmittel des freien Marktes beschwört.
Lassen wir das einmal beiseite,
so bleibt immer noch die unabweisbare und bislang allseits akzeptierte Forderung nach gleichzeitigen sozialpolitischen Anstrengungen — erinnern Sie sich einmal an die diesbezüglichen Mahnungen von Jacques Delors —; doch im Moment steht nur das Weißbuch zur Wiederherstellung des Wachstums zur Debatte.
Auf dem Gebiet der Sozialpolitik hinkt die Europäische Union weit hinterher. Das Arbeitsprogramm der Kommission für die Jahre 1993 und 1994 ist dafür ein
17134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Gerd Poppe
Beispiel. Ohne die Aufrechterhaltung und Verbesserung sozialer Standards im Rahmen der gesamten Union ist jede gesellschaftlich tragfähige Wirtschaftspolitik zum Scheitern verurteilt. Ich möchte deshalb die Bundesregierung ausdrücklich auffordern, sich den im sozialpolitischen Grünbuch der Kommission aufgeworfenen Fragen endlich zuzuwenden und ihre offene Diskussion zu fördern.
Das eigentliche Problem aber liegt im Beharren auf überlebten Wachstumsstrategien. Mit deren Ankurbelung läßt sich der gewohnte Wohlstand nicht länger halten. Die Studien, die vor einer dramatischen Umweltzerstörung durch den EG-Binnenmarkt und den europäischen Wirtschaftsraum warnen, sind allgemein bekannt.
Der Club of Rome und viele namhafte Wissenschaftler fordern seit langem eine Abkehr von herkömmlichen Wachstumsvorstellungen, um ein neues Wohlstandsmodell durchzusetzen. Der ökologische und soziale Umbau unserer Gesellschaften nützt nicht nur der Umwelt, er würde auch zur Grundlage für die Schaffung neuer Arbeitsplätze werden. Ich begnüge mich mit einigen wenigen Beispielen aus einem erweiterbaren Katalog von Vorschlägen: Recycling, Wiederverwendung und Reparatur bringen mehr Arbeitsplätze hervor als die Forcierung von Wegwerfproduktionen.
Die Umweltindustrie ist eine noch längst nicht ausgeschöpfte Reserve der Arbeitsplatzbeschaffung, und dies übrigens vorrangig in den zu Recht förderungswürdigen Klein- und Mittelstandsbetrieben. Der Ausbau öffentlicher Verkehrssysteme schafft mindestens so viele Arbeitsplätze wie der Autobahnbau.
Oder wenden wir uns solchen arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Maßnahmen zu wie zum einen der Einführung von Umweltsteuern, womit zugleich eine Relativierung der Arbeitskosten im Verhältnis zu den Produktionskosten erreichbar wäre, oder zum anderen einer Umverteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit. Dafür sind vielfältige Initiativen zur Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit notwendig, wobei sichergestellt werden muß, daß insbesondere die aus verkürzter bzw. Teilzeitbeschäftigung abgeleiteten Sozialversicherungsanwartschaften existenzsichernd sind. Auf diese Weise könnte auch der bisher vernachlässigten sogenannten Armutsfalle begegnet werden. Schließlich muß eine öffentliche Förderung der Beschäftigung als dauerhafte Aufgabe verstanden werden, die von den verschiedenen Ebenen gemeinsam zu tragen ist.
Vorhin war bereits auch wieder einige Male von der Erweiterung in Richtung Ost- und Ostmitteleuropa die Rede.
Meine Damen und Herren, daß schließlich ökologische Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik vor allem auch eine gesamteuropäische Dimension hat, beweist mein letztes Beispiel. Während die USA, Frankreich, Italien und die Schweiz für Polen einen Teilschuldenerlaß zugunsten von Umweltschutzinvestitionen zugesagt haben, verweigert sich die Bundesregierung diesem Weg. Sie blockiert damit den Zugang für deutsche Umwelttechnologie zum polnischen Markt
und schadet dem so oft beschworenen Standort Deutschland. Der ehemalige polnische Umweltminister erklärte dazu, daß er als Präsident des polnischen Eco-Fonds mehr als 20 Umweltprojekte hätte ablehnen müssen, weil dafür deutsche Technologie erforderlich gewesen wäre.
Herr Abgeordneter Poppe, wenn ich das richtig einschätze, dann haben Sie sich die Redezeit mit Ihrem Kollegen Ullmann geteilt. Sie fangen an, die Redezeit des Kollegen Ullmann zu verbrauchen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam.
Ja, ich habe noch eine letzte Bemerkung, Herr Präsident. Ich danke für den Hinweis.
Nach der Auffassung des ehemaligen polnischen Umweltministers würde ein Teilverzicht auf die Rückzahlung polnischer Restschulden zu Aufträgen in dreifacher Höhe an deutsche Unternehmen führen. Meine Damen und Herren, niemand sollte so tun, als machte die Luft- und Gewässerverschmutzung an den Grenzen halt. Zu einer ökologisch orientierten Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik gehört die Berücksichtigung dieser trivialen Erkenntnis.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, auch auf diesem Gebiet globale und gesamteuropäische Interessen als von ihr so gern vertretene und beschworene nationale Interessen zu begreifen.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Freitagmittag ist für eine solche Europadebatte offensichtlich nicht der geeignetste Zeitpunkt. Ich finde, daß Europa ein bißchen mehr an Begeisterung und Beteiligung erwarten dürfte.
Ein Brite hat neulich über Europa gesagt: Dazuzugehören mag langweilig sein, aber nicht dabeizusein ist eine Tragödie. So ist es, was das Letztere anbelangt. Aber zu viele wollen das bei uns ganz offensichtlich nicht so recht glauben. Den Außenminister freut es natürlich nicht — das sage ich ganz offen —, so oft auf Euroskepsis und Europessimismus zu stoßen. Überall wird Europa nur noch hinterfragt. Brüssel soll für uns zuständig sein, wird aber für alles Negative verantwortlich gemacht.
Ja, natürlich, dieses Europa hat auch seine Schwächen, gewaltige Schwächen. Ich verstehe, wenn die Traktorüberrollbügelentscheidung und die Bananenrichtlinie kritisiert werden. Aber ich finde eben, daß die Diskussion nicht auf das Niveau einer Bananenrepublik absinken darf, wenn wir über Europa diskutieren.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17135
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Ich höre unwahrscheinlich oft Kritik. Wenn man ihr nachgeht, merkt man, daß sie unbegründet ist. Ohne Rücksicht auf die Sache wird kritisiert. Warum reden wir eigentlich nicht öfter von den Stärken dieses Europas?
Es gibt keinen Grund, das immer nur düster, wolkenverhangen und müde zu sehen.
Ich sehe im Grunde überhaupt nicht ein — ich hoffe, daß wir uns da einig sind —, daß wir Europa immer nur mit hängendem Kopf verteidigen.
Es wird auch zu schnell gesagt, die Bürger seien alle europaverdrossen. Ja, wenn wir nur lange und intensiv genug darüber reden, fühlen sich die Bürger eines Tages wirklich so. Ich glaube aber, daß die Wirklichkeit anders aussieht. Ich glaube nämlich, daß die Menschen in unserem Land weit überwiegend dieses Europa wollen und daß es nicht so sehr um das Für oder das Gegen geht, nicht um das Ob, sondern um das Wie. Wenn das hinterfragt wird, hat das im Grunde genommen mit Europaverdrossenheit nichts zu tun. Diese Fragen sind legitim. Es ist sogar wichtig und willkommen, daß die Bürger wissen, welches Europa wir eigentlich anstreben, wie die Europäische Union künftig aussehen soll, vor allem aber, was Europa tut — das kam in der Debatte bisher schon deutlich zum Ausdruck —, um Beschäftigung zu sichern und innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Das sind wirklich berechtigte Fragen, auf die wir Politiker Antwort geben müssen.
Welchen Nutzen hat der Bürger von der europäischen Integration? Haben wir denn wirklich vergessen, daß die deutsch-französische Erbfeindschaft unser Land in schreckliche, blutige Kriege gestürzt hat? Wissen wir nicht mehr, wie die Völker Europas miteinander umgegangen sind, welchen Haß sie übereinander ausgeschüttet haben? Das alles ist so sehr Vergangenheit, daß junge Menschen die große historische Errungenschaft Europas gar nicht mehr wahrnehmen.
Gerade deshalb müssen wir ihnen sagen, daß Frieden und gute Nachbarschaft nicht selbstverständlich sind,
sondern durch die europäische Integration tatkräftig und visionär errungen wurden und daß es vor allem in dieser Welt, auch in Europa, keine Besitzstandgarantien gibt. Wenn wir den Fortschritt in Europa behalten wollen, müssen wir ihn verteidigen und ihn immer wieder erneuern. Wenn wir Stillstand predigen, wählen wir in Wirklichkeit den Rückschritt.
Ich werde nicht müde, immer wieder zu betonen: Haben wir denn wirklich vergessen, daß Aufbau und
Wohlstand nach 1945 nicht ohne Europa möglich gewesen wären? Haben wir vergessen — es liegt erst kurz zurück —, daß dieses Europa uns die Wiedervereinigung ermöglicht hat,
daß die deutsche Einheit ebenso wie die europäische Integration gerade für junge Menschen die eigentliche Chance ist?
Sie haben ihr Leben noch vor sich und können deshalb nutzen, was jetzt möglich ist: ein freies, ein ungehindertes Studium überall in der Gemeinschaft. Wer in anderen Ländern Freunde findet, dort leben möchte, kann dort arbeiten, kann sich dort niederlassen. Jeder kann überall in der Union Bürger sein — er ist es seit dem 1. November 1993 bereits. Aber die Menschen wissen einfach zuwenig von diesem Europa, sie wissen zuwenig, welche Vorteile ihnen Europa bringt.
Der Anteil der Europäischen Union an der Oberfläche der Erde beträgt 1,3 %, an ihrer Bevölkerung 6 %, am Weltsozialprodukt aber 22 %. Kein Mitgliedstaat wäre allein auf sich gestellt imstande, seinen Bürgern einen derartigen Wohlstand zu sichern. Der Europäische Binnenmarkt findet weltweit Nachahmer, jüngstes Beispiel: die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA.
Für uns Europäer kommt es jetzt darauf an, unseren Integrationsvorsprung zu erhalten und auszubauen,
deshalb die Wirtschafts- und Währungsunion,
deshalb die Öffnung für neue Mitglieder,
deshalb die Entschlossenheit, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden.
Ist den Kritikern eigentlich bewußt, daß sich allein die Umtauschkosten im innergemeinschaftlichen Zahlungsverkehr auf rund 19 Milliarden ECU pro Jahr belaufen? Das sind 4 % der Gewinne der europäischen Unternehmen, die damit für arbeitsplatzschaffende Investitionen verlorengehen. Es ist ein billiges Spiel mit der Angst, zu behaupten, daß wir die stabile D-Mark, den verläßlichsten Garanten unseres Wohlstands, leichtfertig aufs Spiel setzen würden. Die einfache Lektüre des Unionsvertrages oder des Urteils des Bundesverfassungsgerichts macht doch klar: Wir sind auf eine Stabilitätsgemeinschaft verabredet, und zwar vertraglich. Darauf muß hingewiesen werden.
Und wie ist es mit der These, die Arbeitslosigkeit könne national überwunden werden? Natürlich müssen wir — darüber ist heute auch schon genügend gesprochen worden — zunächst unser eigenes Haus in Ordnung bringen, müssen zu neuen Einstellungen finden, die Rolle des Staates überdenken, Planungs-, Genehmigungsverfahren abkürzen, Privatisierung und Deregulierung vorantreiben, die Arbeitskosten senken und insgesamt flexibler werden.
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Aber wir leben in einer Globalisierung der Wirtschaft. Der gesamte europäische Wirtschaftsraum muß wettberwerbsfähiger werden, technische Neuerungen nicht nur entwickeln, sondern auch in praktische Produktion umsetzen, mehr Wert auf Wissenschaft, Forschung, Bildung legen, und nur im Rahmen der europäischen Integration können wir — da bin ich sehr sicher — unseren legitimen Platz in der Welt auch im 21. Jahrhundert behaupten.
Wer sich abschottet, verliert die Wettbewerbsfähigkeit und damit auch zwangsläufig Arbeitsplätze. Wohlstand verlangt nun einmal offene Märkte, und der Welthandel ist kein Nullsummenspiel, bei dem der eine nur gewinnt, was der andere verliert. Liberalisierung setzt Energie und Erneuerung frei, und das ist das, was wir heute brauchen, und da sind sich die Mitglieder der Europäischen Union Gott sei Dank auch einig.
Auf dem Außenministerrat in Brüssel ist es gestern sehr deutlich geworden: Trotz mancher Partikularinteressen sind alle Mitgliedstaaten — ich betone ausdrücklich: alle Mitgliedstaaten — an einem erfolgreichen Abschluß der Uruguayrunde interessiert, der größten Liberalisierung des Welthandels in der Geschichte überhaupt.
Ich bin heute nacht aus Brüssel zurückgekommen. Ohne jetzt hier auf Einzelheiten eingehen zu können: Ich bin zum ersten Mal vorsichtig optimistisch,
nach dem letzten Bericht von Sir Leon Brittan zum ersten Mal vorsichtig optimistisch, daß wir es tatsächlich zum 15. Dezember schaffen könnten.
Und da möchte ich dann doch, lieber Herr Lafontaine, darauf hinweisen dürfen: Sollte das klappen, dann allerdings hat deutsche Außenpolitik — an der Spitze der Bundeskanzler, der Wirtschaftsminister, ein paar andere und, wenn Sie erlauben, in aller Unbescheidenheit auch ich — daran einen nicht unerheblichen Anteil.
Ich fand die Bemerkung, die Sie dazu vorher gemacht haben, nicht sehr fair. Wir können im Augenblick über die Einzelheiten nicht sprechen, aber ich sage nochmals: Ich bin seit heute nacht zum ersten Mal vorsichtig optimistisch, und ich glaube, ich habe Grund dazu.
Ich frage weiter: Haben ausgerechnet wir Deutschen wirklich Grund, europaskeptisch zu sein? Wissen wir denn nicht, wie genau die Welt vor allem uns nach unserer Vergangenheit beobachtet? Glaubt denn wirklich jemand, unser Heil läge erneut in nationalen Sonderwegen? Der angebliche Gegensatz zwischen nationalen Interessen und europäischer Integration ist falsch, und er führt in die Irre. Nur in Europa können wir uns wirklich entfalten. Europa — ich sage es mit Nachdruck — bedroht nicht unsere Identität, es schützt sie.
Und noch etwas: Nur gemeinsam sind wir in der Zukunft sicher. Die Mafia denkt und handelt — ich habe es hier im Bundestag kürzlich schon einmal gesagt — längst europaweit. Wir brauchen eine effiziente und schlagkräftige Bundespolizei, wir brauchen eine Europapolizei, die ihren Namen verdient. Unsere Bürger verstehen nicht, daß zwar unsere Kinder von internationalen Banden in die Drogenabhängigkeit getrieben werden, daß aber die Mittel unserer Polizei nur bis an die jeweiligen nationalen Grenzen reichen, jedenfalls bis jetzt.
Wir brauchen die Gemeinsamkeit im Umweltschutz, im Verbraucherschutz und bei der Eindämmung von Zuwanderungsbewegungen und auch bei der Eindämmung von Flüchtlingsströmen. Eine gehobene Freihandelszone wird dazu nicht ausreichen. Die Europäische Union muß ihr politisches Gewicht voll einsetzen und Stabilität in ihr unruhiges Umfeld projizieren — durch Stärkung der Reformen in Mittel- und Osteuropa, durch Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen Osten, durch Hilfe für das neue, hoffentlich demokratische Südafrika, durch gemeinsame Wahlbeobachtung in Rußland.
Die drängendste Aufgabe, meine Damen und Herren, ist die Situation vor einem schrecklichen Winter — das kann man vorhersagen — im früheren Jugoslawien, in Bosnien. Wir haben zu schnell vergessen: Dieses ehemalige Jugoslawien ist Europa. Es ist in erster Linie eine europäische Aufgabe, mit diesem Problem fertigzuwerden. Wir können das nicht in irgendeinen anderen Bereich drängen.
Ich habe deshalb zusammen mit dem französischen Außenminister Juppé, wie Sie wissen, eine Initiative angestoßen, von der wir glauben, daß sie vielleicht ein letzter Lösungsversuch — vor wahrscheinlich schrecklichen Ereignissen sein kann. Es ist uns immerhin gelungen, die Genfer Gespräche wieder anzuwerfen. Wenn ich auf die Ergebnisse blicke, die bisher in diesen Gesprächen erzielt worden sind, dann würde ich vorsichtig zurückhaltend sagen: Es hat sich gelohnt.
Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Wenn es uns nicht gelingt, mit dem Dreieransatz — im humanitären Bereich, in der Krajina-Frage und vor allem in der territorialen Frage — zu einem Ergebnis zu kommen, dann wissen jedenfalls die Europäer im Augenblick nicht mehr weiter. Wir müssen das so deutlich sagen.
Im humanitären Bereich haben wir erreicht — das ist zunächst einmal das wichtigste —, daß die Vereinbarung von Frau Ogata vom 18. November mit den Konfliktparteien in ein weit besseres Ergebnis überführt werden konnte. Wir glauben, sicher zu sein, daß jetzt die humanitären Hilfstransporte durchkommen. Das allein hat, so glaube ich, die Anstrengung gelohnt.
Ich weiß ganz genau, daß einige Fragen schwierig bleiben: Das trifft auf die Territorialfrage insgesamt zu. Die Moslems beanspruchen als schwächster Teil ein Drittel des Gesamtgebietes, um lebensfähige Gebiete für sich zu haben. Das trifft auch auf die Frage
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
der Öffnung des Flughafens von Tuzla zu, die wir dringend brauchen, um neben Sarajevo einen Ort zu haben, den wir bei den humanitären Hilfslieferungen anfliegen können. Das trifft auf die Frage des Meereszugangs, die für die Moslems, aber natürlich auch für die kroatische Seite von außerordentlicher Bedeutung ist, und noch auf ein paar andere Fragen zu, die von zentraler Bedeutung bleiben werden.
Die Gespräche laufen. Lassen Sie sich durch das, was im Augenblick nach draußen tönt, nicht zu sehr verwirren! Wenn man auf das blickt, was sich dahinter abspielt, ist mindestens ein kleiner Hoffnungsschimmer berechtigt. Dieser Hoffnungsschimmer war den Ansatz wert. Auf den Konferenzen in den letzten Tagen — am Montag haben wir in Genf die Jugoslawien-Konferenz abgehalten; dann war in Luxemburg der Ministerrat der WEU zusammen; am Tag darauf war der KSZE-Rat in Rom; der NATO-Rat in Brüssel tagte gestern; heute kommt der NATO-Kooperationsrat zusammen — haben uns alle unterstützt, auch die Amerikaner, und zwar massiv. Denn auch sie haben auf die Frage, ob sie etwas Besseres, ob sie einen anderen Ansatz wissen, keine positive Antwort geben können. Das ist für meine Begriffe das Entscheidende.
Wir wissen, daß die Amerikaner mit der Frage der Sanktionsaufhebung und mit der eventuellen Ausübung von Druck auf die moslemische Seite Probleme hat. Wir wollen die Sanktionen nicht aufheben, sondern nur suspendieren, und zwar im Gegenzug zu vorherigen Schritten der serbischen Seite im territorialen Bereich. Auch wir wollen keinen Druck ausüben, jedenfalls keinen unangemessenen. Das haben wir uns fest vorgenommen.
Meine Damen und Herren, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat die zweite Halbzeit der europäischen Einigung begonnen. Bis 1995 sollen vier EFTA-Staaten, nämlich Schweden, Norwegen, Finnland und Österreich, zur Europäischen Union hinzukommen. Für uns Deutsche besonders wichtig ist die Heranführung der Umbruchstaaten Osteuropas an die Europäische Union wie auch an die NATO. Das ist eines unserer Hauptprobleme in nächster Zeit. Das Drängen der mittel- und osteuropäischen Staaten ist sehr, sehr stark geworden. Das betrifft das Drängen auf Schritte in oder an die Europäische Gemeinschaft heran und vor allem das Drängen im Bereich der Sicherheit.
Es gibt in diesen Ländern eine unwahrscheinliche Unruhe und ein berechtigtes Gefühl, daß man sie in einer schwierigen Situation im Stich läßt. Ich kann nur immer wieder sagen und habe das auch auf den Konferenzen, die ich vorhin genannt habe, gegenüber allen unseren Freunden und Partnern massiv zum Ausdruck gebracht: Es kann nicht richtig sein, daß wir diese Lander über Jahrzehnte aufgefordert haben, in unsere freiheitliche Gesellschaft zu kommen, und sie jetzt im Stich lassen.
Meine Damen und Herren, wenn man bei allem, was im Leben abzuwägen ist, eine so positive Bilanz wie bei Europa ziehen kann, dann müßten wir eigentlich mit wirklicher Zuversicht in die Zukunft blicken. Wir haben diesen Erfolg vorzuweisen, weil wir unseren Weg nicht mit Scheuklappen gegangen sind, sondern Integration als einen kreativen und dynamischen Prozeß begriffen haben — für Kritik offen — und aus Fehlern gelernt haben. Nur das, was auf nationaler Ebene nicht vernünftig geregelt werden kann, muß auf Unionsebene gemeinsam mit unseren Partnern angegangen werden.
Übrigens haben wir als Deutsche das Subsidiaritätsprinzip hineingebracht. Das wird viel zuwenig betont, viel zuwenig gesagt und viel zu schnell vergessen: Wir haben das Subsidiaritätsprinzip hineingebracht.
Warum also wider besseres Wissen unseren Bürgern angst machen? Nein, das wollen wir nicht. Die Nationalstaaten und ihre Parlamente bleiben nach wie vor Herren der Verträge. So hat es auch das Bundesverfassungsgericht richtigerweise gesagt.
Die Bundesregierung nimmt die Verpflichtungen, die ihr aus dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union erwachsen, überaus ernst, und sie wird alles daran setzen, daß der Bundestag und der künftige Unionsausschuß ihre Mitwirkungsrechte effektiv wahrnehmen können.
Auch dafür, daß das Europäische Parlament eine umfassende Kontrolle und Mitentscheidung auf europäischer Ebene erlangt, werden wir weiter entschieden eintreten.
Ich möchte zum Schluß, weil es so üblich geworden ist, skeptisch zu sein und alles kaputtzureden, allen Skeptikern zurufen: Zu Europa gibt es keine Alternative.
Die Abgeordnete Heidi Wieczorek-Zeul hat nunmehr das Wort.
Die Debatte heute morgen schmerzt Sie, Herr Irmer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, eine solche Debatte hat auch den Sinn, auf Diskussionsbeiträge und Argumente von Vorrednern einzugehen. Ich will an das anschließen, was hier zur Frage GATT gesagt worden ist. Wir hoffen alle, daß die GATT-Runde wirklich abgeschlossen werden kann.
Ich darf aber auch — und das haben wir in unserem Antrag heute mit vorgelegt — darauf hinweisen, daß
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Heidemarie WIeczorek-Zeul
wir als SPD-Fraktion der Meinung sind, daß die nächste Runde von Handelsabkommen und -absprachen zum GATT so laufen muß, daß demnächst auch andere Kriterien als nur die des freien Handels einbezogen werden, daß z. B. soziale und ökologische Standards mit einbezogen werden, damit es in diesen Fragen kein Dumping auf der Basis z. B. von Kinderarbeit oder schrecklichen Umwelt- und Arbeitsbedingungen in Ländern der Dritten Welt oder anderswo gibt.
Zum zweiten. Diese Diskussion heute morgen war auch deshalb notwendig, weil wir über die Fragen der Beschäftigungspolitik und der Arbeit diskutiert haben. Denn was die Menschen interessiert, ist: Nutzt ihnen die Europäische Gemeinschaft? Herr Außenminister Kinkel, natürlich hätten wir vieles von dem, was Sie gesagt haben, unterschreiben können. Aber die Leute interessieren nicht die allgemeinen Sprüche zu Europa, sondern es interessiert sie, ob der EG-Gipfel jetzt das beschließt, was ursprünglich die EG-Kommission zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt hat.
Da sind wir an dem Punkt, an dem heute die Doppelstrategie, die die Bundesregierung in diesen Fragen praktiziert, auch einmal vor der Bevölkerung deutlich gemacht worden ist. Und das muß man noch einmal darstellen. Herr Schäuble hat davon ja geredet, ohne den Hintergrund und den Ablauf überhaupt mit anzusprechen.
Das lief so: Im Juni hat der Gipfel der EG-Regierungschefs den Auftrag gegeben, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Vorschläge auf EG-Ebene zu machen. Jacques Delors hat dazu Vorschläge entwikkelt, die Oskar Lafontaine hier dargestellt und unterstützt hat, die kreativ und neu sind und die sich jedenfalls mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht abfinden. Es hat ein Vorpapier der EG-Kommission gegeben, das all diese Punkte beinhaltet. Es hat dann — oh heiliges Wunder — eine Sitzung der EG-Wirtschafts- und Finanzminister gegeben. Dann haben sich die Herren darübergebeugt und haben festgestellt, daß hier einmal nicht ihre alten, konservativen, verstaubten und verfehlten Rezepte aus ihrer eigenen Politik vorgelegen haben, und sie haben dann versucht, so viel Wasser wie möglich in die Vorschläge der EG-Kommission zu gießen.
Wir erwarten von den EG-Regierungschefs, daß sie nicht das, was sie sowieso an verfehlter eigener Wirtschafts- und Finanzpolitik mit Lohnsenkungen und Lohnabbau und vor allen Dingen Sozialabbau zu Hause praktizieren, jetzt noch auf die europäische Ebene transportieren,
sondern daß sie dazu beitragen, daß dort Vorschläge geschaffen werden, wie Europa aus der Misere herauskommt. Sonst können Sie nämlich tausende solcher Reden halten, Herr Kinkel, die Verdrossenheit
über Europa wird zunehmen, weil die Leute das Gefühl haben, es bewegt sich nichts. Aber die Verdrossenheit darf eigentlich nicht Europa, Jacques Delors und der EG-Kommission gelten, sondern sie muß der Mehrzahl der konservativen Regierungen einschließlich der Bundesregierung gelten, die immer noch nichts gelernt haben, die auf der EG-Ebene immer noch versuchen, konstruktive Vorschläge zu verhindern.
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ulrich Irmer zu beantworten?
Ulrich Irmer, bitte, wenn es dann von meiner Zeit nicht abgeht.
Nein.
Bitte schön.
Frau Kollegin, wenn es von Ihrer Zeit abginge, dann hätte ich mich gar nicht gemeldet. Ich werde Ihnen doch nicht die Zeit stehlen.
Ich wollte von Ihnen nur eine kleine Erläuterung haben: Sie sind doch sonst dagegen, daß von Brüssel alles zentral gesteuert und gelenkt wird. Wie kommt es dann, daß Sie es jetzt beanstanden, daß Vorschläge von Herrn Delors nicht sofort jubelnd von allen aufgegriffen werden, sondern daß sich einige Experten erlauben, einmal zu fragen, ob das wirklich die Lösung ist, die hier angeboten wird.
Ich danke Ihnen, Herr Kollege Irmer, ausdrücklich für die Frage. Sie gibt mir Gelegenheit, an das anzuschließen, was heute morgen auch Oskar Lafontaine angeführt hat. Es geht nämlich nicht darum, daß sich einmal der eine oder andere Experte über etwas gebeugt hat, sondern es geht merkwürdigerweise um die Vorschläge — und das hat auch die Bundesregierung im Ausschuß gesagt —, die die EG-Kommission vorgelegt hat, z. B. zur Entlastung von Arbeit, d. h. Lohnnebenkosten, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Was ist jetzt geblieben, nachdem sich die Wirtschafts- und Finanzminister darüber gebeugt haben? Es sollen nur noch Entlastungen für die Arbeitgeberseite sein. Sagen Sie mir nicht, daß das Experten seien! Es sind Leute mit konservativer Politik, die gegen Arbeitnehmerinteressen in Europa arbeiten. Europa muß den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern genauso nutzen, sonst wird es keine Unterstützung finden.
Das gesamte Verhalten — und das wird auch an dieser Verfahrensweise deutlich —, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesregierung zeigt: Sie hat nichts daraus gelernt, wie das bisher vor sich ging. Sie hat Maastricht im wirklich abgeschlossenen Kämmerlein verhandelt.
Sie hat dann mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, daß ein Großteil der Konzepte, die darin beinhaltet sind, erst einmal auf Ärger, auf Frust und auf Verdruß in der Bevölkerung gestoßen sind. So wird es nach wie vor praktiziert. Wir wollen, daß es im Deutschen Bundestag den in der Verfassung bereits verankerten Ausschuß für die Europäische Union gibt, der dann wirklich, auch im Detail, das Verhalten der Bundesregierung in diesen Fragen von Anfang bis Ende mit unter Kontrolle nimmt.
In dem Rechtsstellungsgesetz, das wir vor gerade einem Jahr verabschiedet haben, steht, daß die Bundesregierung ihren Verhandlungen die Position des Deutschen Bundestages zugrunde legen soll. Können Sie mir mal sagen, wo hier in den Fragen, die jetzt anstehen, die von hoher Bedeutung für die Menschen in Deutschland und in Europa sind, eigentlich die Position des Deutschen Bundestages zugrunde gelegt worden ist?
Doch bitte schön nicht in einer Debattenrunde! Wir sind die Sprüche leid. Wir wollen endlich Festlegungen der Bundesregierung, damit sie nicht immer etwas anderes in Brüssel macht, als sie hier zu Hause erzählt.
Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Kittelmann möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Frau WieczorekZeul, würden Sie mit mir übereinstimmen, daß wir, der Deutsche Bundestag, im Vorfeld der Maastrichter Verträge lange Gelegenheit hatten, mit der Regierung zu diskutieren, daß die Öffentlichkeit beteiligt wurde, lediglich eine Uninteressiertheit der veröffentlichten Meinung zum Maastrichter Vertrag zu spüren war und daß wir uns gegenseitig schaden, wenn wir nachträglich so tun, als wäre nicht Gelegenheit dazu gewesen?
Auch da danke ich Ihnen sehr herzlich für die Frage. Sie gibt mir nämlich Gelegenheit zu sagen: Wie es damals gelaufen ist, hat viele Ursachen, aber eine der Hauptursachen ist, daß Maastricht unter den Regierungen selbst erarbeitet worden ist, und zwar unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Ich sage Ihnen: Der Ausschuß für die Europäische Union im Deutschen Bundestag, der ja auch für den Bundestag Stellung nehmen soll, muß öffentlich tagen, und zukünftig darf es keine Weiterentwicklung der Europäischen Union mehr geben, ohne daß daran die Abgeordneten der einzelnen nationalen Parlamente und die Bevölkerung in einer breiten, offenen
Debatte beteiligt sind. Es muß Schluß damit sein, an den Leuten vorbei solche Fragen zu verhandeln.
Das ist der Mangel, den in bezug auf Maastricht die Bundesregierung zu verantworten hat.
Aber notwendig ist nicht nur der Ausschuß für die Europäische Union. Wir beantragen in unserem Antrag ebenfalls, daß es eine schriftliche Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Art geben soll, wie dieser Informationspflicht Genüge getan wird.
Ich will darauf hinweisen — vorhin sind ja Bundestag und Bundesrat hier angesprochen worden: Eine solche Verabredung schriftlicher Art ist mit dem Bundesrat längst abgeschlossen, und ich finde, es ist an der Zeit, daß der Deutsche Bundestag sein Selbstverständnis so wahrnimmt, wie es dem Parlament gebührt, und dafür sorgt, daß es eine vergleichbare mit der Bundesregierung abgeschlossene Vereinbarung zu diesen Fragen gibt.
— Also, Herr Kollege Irmer, ich habe immer darauf hingewiesen, daß — schon bevor Maastricht in Kraft getreten ist — die Europäische Kommission mit den Beitrittsländern so verhandelt hat, als sei Maastricht bereits ratifiziert. Dann meine ich doch: Wenn man das nach der einen Seite macht, muß man es doch bitte schön dem eigenen Parlament gegenüber jedenfalls noch sehr viel schneller tun.
Ich denke, das ergibt sich ja wohl auch von selbst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus dem, was hier heute angesprochen worden ist und was Herr Kinkel vor mir hier angesprochen hat, zeigt sich doch auch, daß die Frage, ob eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem eine gemeinsame Außenpolitik auf EG-Ebene und auf europäischer Ebene, zustande kommt, sehr stark davon abhängig ist, was die einzelnen nationalen Regierungen leisten.
Ich denke — Herr Kinkel hat ja mehrere solcher Veranstaltungen von NATO, KSZE, WEU hinter sich, und heute ist noch das Eurokorps und was auch immer da mit hineingebracht worden: Erstens zeigt sich in diesem Bereich, wenn man die deutsche Außenpolitik betrachtet, daß ein internationaler Flugplan und die Teilnahme an diesen Konferenzen noch keine überzeugende Außenpolitik bedeuten.
Zweitens zeigt sich auch, daß wir eine ganze Menge dieser internationalen Institutionen haben, aber jedenfalls keine Bundesregierung, die eine Vorstellung davon hat, was eigentlich diese Institutionen leisten sollen — am Ende der Spaltung Europas und nachdem es möglich ist, gesamteuropäische Kooperation unter ganz neuen Gesichtspunkten zu praktizieren.
17140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Ich möchte an der Stelle ein paar dieser Punkte aufgreifen. Wir sind der Meinung, daß die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als eine Institution in Richtung auf gemeinsame und am Ende sogar kollektive Sicherheit entwickelt werden sollte, damit die Chancen der gesamteuropäischen Kooperation ergriffen werden.
Wir sagen aber auch: Wir sind der Meinung, daß die NATO grundlegend verändert werden muß. Zum Beispiel sind wir dafür, daß das im Zuge einer grundlegenden Veränderung der NATO in Richtung auf gemeinsame Sicherheit auch bedeutet, daß sie für mittel- und osteuropäische Staaten offen sein muß und daß da prinzipiell niemand ausgeschlossen sein darf. Wir bedauern, daß es in bezug auf diese Fragen, zu denen sich ja Herr Rühe wer weiß wie oft öffentlich geäußert hat, jetzt so ist, daß dieses Konzept sang- und klanglos sowohl bei der NATO als auch in anderen Institutionen beiseite gelegt wird.
— Ich darf noch mal darauf hinweisen: Das eine sind die Reden; das zweite ist das, was Konferenzen beschließen. In bezug auf die NATO haben alle Kommentatoren schon festgestellt, daß die amerikanische Initiative der Versuch war, zu verhindern, daß die NATO um mittel- und osteuropäische Länder erweitert wird. Genau das ist ja in letzter Konsequenz jetzt auf Jahre hinaus erst einmal der Fall.
Wir sagen: Laßt uns die NATO auch in diesem Bereich prinzipiell verändern, z. B. indem das Konzept der atomaren Abschreckung in Europa von allen Seiten aufgegeben wird, z. B. indem es keine „Krisenreaktionskräfte" gibt, die irgendwo in letzter Konsequenz von ihrer Dimensionierung her ein Eingreifen auch außerhalb der NATO-Strukturen bedeuten können.
Wir sind aber auch der Meinung, daß vorher und sehr frühzeitig gesagt werden muß, daß die Öffnung der Europäischen Union für den Beitritt vieler osteuropäischer Länder zu einem Zeitpunkt, in dem die Integration und die wirtschaftliche Entwicklung noch nicht ausreichend fortgeschritten sind,
bedeuten würde, daß die Europäische Union in letzter Konsequenz geschwächt werden würde. Das wird niemandem nutzen, weder den Mitgliedstaaten noch den mittel- und osteuropäischen Ländern, die auf diese Art und Weise in eine Europäische Union hineinkämen, die geschwächt wäre, noch der Europäischen Union selbst, die dann nicht mehr das leisten könnte, was wir mit Blick auf die mittel- und osteuropäischen Länder leisten müssen. Das heißt, wir sind
offen, was die Veränderung und die Einbeziehung in den Bereich der NATO bedeutet, aber wir sind der Meinung, daß die Erweiterung der Europäischen Union an sehr klare Kriterien gebunden werden muß, weil es weder im Interesse der einen noch der anderen Seite liegt, auf eine andere Weise vorzugehen.
Lassen Sie mich am Schluß auf ein paar andere Punkte hinweisen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Ich höre mit Interesse, daß es jetzt aus den Reihen der CDU/CSU und der F.D.P., nachdem wir diese europäischen und internationalen Institutionen angesprochen haben, Vorschläge gibt, der Europäische Rat solle als Allernächstes Konzepte vorlegen, wie die europäische Verteidigung zu gestalten sei. Da sagen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das erste, was heute von Europa zu verlangen ist — das hat Oskar angesprochen,
und ich will es noch einmal betonen —, ist Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wir brauchen keine neuen Aufträge für irgendwelche neuen europäischen Armeen, sondern wir brauchen die Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa.
Das zweite ist: Hier werden einfach falsche Schwerpunkte gesetzt. Auch vor Maastricht war es so, daß die Bundesrepublik mit Frankreich irgendwelche Konzepte
zu einer ursprünglich geplanten europäischen Verteidigung entwickelt hat.
Es stellte sich heraus, daß man dann Fehler gemacht hat, weil man sich nicht um die eigentlich wichtigen Fragen, nämlich um die Verbindung von Währungsunion und politischer Union, gekümmert hat. So ist es immer wieder: Wer auf derartige abwegige und unrealistische Themen abhebt, vernachlässigt die eigentlich wichtigen Themen.
Zu den eigentlich wichtigen Fragen, auch in Europa, gehört — das ist vorhin in der Debatte angesprochen worden — z. B. die Verwirklichung der Sozialcharta.
Es geht doch nicht an, daß wir seit Jahr und Tag darauf warten, daß angesichts der Schwierigkeiten in den Krisenbranchen europäische Gesamtbetriebsräte eingerichtet werden, in deren Rahmen sich Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Europa untereinander verständigen können. Das muß endlich angepackt werden; die europäische Sozialcharta muß verwirklicht werden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17141
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Auch das will ich noch einmal sagen — vorhin hat es ja da große Unruhe gegeben —: Im deutschen Interesse liegt doch nicht, irgendwelche militärischen Verteidigungs- oder Armeespiele oder was auch immer zu betreiben,
sondern liegt es, Europa zu nutzen, um es ökologisch umzubauen.
Ich will das einmal an zwei praktischen Punkten deutlich machen.
Ich denke an die Schwierigkeiten z. B. bei der Verpackungsrichtlinie in der EG und auch an die Schwierigkeiten bei der Trinkwasserrichtlinie. Wir sollten alle unser Engagement darauf konzentrieren, in den EG-Ministerräten dafür zu sorgen, daß hohe Umweltnormen durchgesetzt werden. Wir sollten da die deutschen Interessen deutlich machen; denn das hat Konsequenzen für die Menschen bei uns im Land. Das führt auch dazu, daß wir weltweit Exportchancen bekommen, die sonst den Europäern und den Deutschen verlorengingen.
An dieser Stelle darf ich sagen: Die CDU/CSU-Fraktion propagiert die Erleichterung bei Rüstungsexporten — auch das findet unter der Decke statt —, indem sie erklärt: Europäisch ist das alles viel lascher, und bei uns ist das zu scharf.
Ich sage an dieser Stelle: Wir alle haben im GolfKrieg, als man sehen konnte, was der Export von Rüstungsgütern an Gefährdung und Tod von Menschen bedeuten kann und was Rüstungsexporte auslösen, gesagt: Wir wollen die Verschärfung.
Wenn jetzt klammheimlich der Versuch gemacht wird, Europa zum Anlaß zu nehmen, um in diesem Bereich wieder aufzulösen, was an Verschärfungen durchgesetzt worden ist, dann sagen wir Ihnen erstens: Das ist ein Mißbrauch von Europa. Zweitens sagen wir Ihnen: Engagieren Sie sich dafür, daß die scharfen Bestimmungen, die wir haben, möglichst auf europäischer Ebene durchgesetzt werden!
Denn wir wollen nicht Waffen und Raketen exportieren, sondern z. B. Rauchgasentschwefelungsanlagen. Das schafft Arbeit und sorgt dafür, daß nicht anschließend die Truppen, die Sie sich wahrscheinlich in der europäischen Armee vorstellen, in die Welt geschickt werden müssen, um die Rüstungsgüter aus Europa wieder einzusammeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie solche Vorschläge zur europäischen Verteidigung machen, dann verstecken Sie sich nicht hinter Europa, sondern
gehen Sie hier in den Deutschen Bundestag und sagen Sie, was Sie selber wollen!
Sagen Sie nicht, Sie beauftragen den Rat. Schlagen Sie doch mal vor, was Sie wollen, und versuchen Sie, im Deutschen Bundestag für Ihre Position eine Zweidrittelmehrheit zu bekommen! Dann müssen Sie nämlich dem Haus zweierlei klarmachen: erstens, wie Sie auf der Basis des Maastricht-Vertrages, der ein Staatenverbund ist, eine solche Regelung schaffen wollen, die eigentlich einem Bundesstaat entspricht. Und dann müssen Sie vor allen Dingen sagen, wie Sie sich eine gemeinsame Verteidigung vorstellen, wenn in Europa noch lange keine gemeinsame Außenpolitik entwickelt worden ist.
Eine gemeinsame Außenpolitik — davon sind wir alle überzeugt — braucht Europa. Es braucht sie für die Marktöffnung gegenüber Osteuropa.
Frau Abgeordnete, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie langsam zum Schluß kämen.
Ich bin gleich soweit. — Wir brauchen die gemeinsame Außenpolitik dafür, um den gefährdeten Friedensprozeß im Nahen Osten zu unterstützen. Wir brauchen sie nicht für die nächste Runde der Aufrüstung, sondern dafür, daß unsere gemeinsamen Vorschläge in Europa in die Abrüstung im Rahmen der Vereinten Nationen, in gemeinsame Umweltinitiativen in Europa und in den Vereinten Nationen einfließen. Das ist unser Konzept für eine sinnvolle gemeinsame europäische Außenpolitik.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Renate Hellwig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist heute schon oft gesagt worden: Wachstum und Beschäftigung werden die Schwerpunkte des nächsten Gipfels sein. Wissen Sie, was ich daran besonders begrüße? Ich begrüße daran besonders, daß wir endlich von diesen Globalbekenntnissen für oder gegen Europa herunterkommen und daß es jetzt zur Sache geht.
Der hier im Bundestag ausgetragene Streit über die richtige Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik für Deutschland hat jetzt seine Fortsetzung im Streit um die richtige Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik für Europa. Jetzt endlich ist Gelegenheit, zu zeigen, daß es wirklich zweierlei Europa sind, was Sie wollen, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, und was wir von den Koalitionsfraktionen wollen.
17142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Dr. Renate Hellwig
Die Auseinandersetzung ist alt. Sie hat schon unter Erhard begonnen. Schon damals war der große Krach: Was hilft in Krisenzeiten besser, mehr Markt oder mehr Staat? Sie haben sich immer für mehr Staat, und wir haben uns immer für mehr Markt entschieden. Weil der Markt die bessere Medizin gerade für den rezessionskranken Patienten ist, deswegen ist es so wichtig, daß jetzt die CDU/CSU-Koalition dran ist.
— Nein, ich habe keine Zeit; es tut mir leid.
Frau Abgeordnete Matthäus-Maier möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein danke, ich habe keine Zeit.
Sie lehnt ab. — Ich möchte bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung machen. Wir liegen sehr, sehr spät in der Zeit. Wir kommen auf zwei Uhr zu und, mit Verlaub zu sagen, auch meiner Sitzfähigkeit sind Grenzen gesetzt.
Nun bitte ich fortzufahren.
Wir waren bis heute sehr erfolgreich auf europäischer Ebene, und zwar wir, die Koalition. Die Kommission hat die Vorschläge der Bundesregierung weitgehend übernommen, und dort, wo es schien, daß sie uns widerspricht, sind die Texte jetzt im neuesten Entwurf für die Konvergenzpolitik ganz eindeutig. Das Reizwort Zinssenkung steht eben nicht mehr s ta t t Haushaltskonsolidierung und Lohndisziplin. Im Gegenteil: Erst nach Haushaltskonsolidierung und Lohndisziplin ist die Geldwertstabilität so gesichert, daß Zinssenkungen möglich werden. Stabilitätspolitik wird zur europäischen Philosophie.
Meine Damen und Herren, wir können stolz darauf sein, daß sich hier deutsche Ansichten so stark durchgesetzt haben, und zwar bei allen. Die Forderungen der Kommission — und da widerspreche ich Ihnen ausdrücklich, Frau Wieczorek-Zeul — sind sehr beachtlich. Wachstum kann nicht künstlich, es muß durch die Wirkung der Marktkräfte und des Binnenmarktes erzeugt werden, sagt die Kommission ausdrücklich. Für 1996 gibt sie — und zwar für alle Staaten — als Ziel eine Durchschnittsinflationsrate von maximal 2 bis 3 % vor. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Und dann sagt sie, die Mitgliedstaaten sollen ihre laufenden Ausgaben, und zwar insbesondere ihre konsumtiven, kürzen.
Herr Lafontaine, ich will gerade auf Sie eingehen. Konsumtive Ausgabenkürzung bedeutet realistisch Kürzung von Sozialleistungen. Man soll doch einmal ganz realistisch sagen, daß es das bedeutet. Genau dieses Paket liegt im Bundesrat vor, und es wird sich die Glaubwürdigkeit der Länder zeigen. Auf die SPD-Oppositionsfraktion hier im Bundestag können wir da schon längst nicht mehr setzen. Aber die SPD-geführten Länder stehen hier voll in der Mitverantwortung, und man wird sehen, was die Sprüche
hier am Pult und dann die tatsächlichen Ausarbeitungen bedeuten.
Was muß der Staat? Der Staat muß seine Sozialleistungen umsteuern in Richtung auf mehr Gerechtigkeit. Herr Scharping hat hier in der Haushaltsdebatte so wirkungsvoll die armen Arbeitslosen gegen die reichen Geizigen ausgespielt. Weiß er denn nicht, daß das Durchschnittsarbeitslosengeld über dem Durchschnittslohn der Teilzeitarbeitnehmerin liegt? Wenn die Leute draußen etwas aufregt, dann dies, daß gerade die Aufsteiger aus einfachen Schichten, die engagiertesten Schaffer, unter den hohen Abgaben stöhnen, während die typischen Wohlstandskinder mit der gesicherten Erbschaft von den Eltern in der Tasche staatliche Sozialleistungen am hemmungslosesten kassieren. Wir subventionieren heute NichtArbeit besser als Arbeit, und wir werden wie in der Vergangenheit trotz Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze einen bleibenden hohen Sockel an Arbeitslosigkeit behalten, wenn wir in dieser Hinsicht nicht umsteuern.
Und um Sie mal hier aufzuwecken: Das schnellstwirksame Konzept würde lauten: Entlassen Sie fristlos alle Manager, deren Konzerne und Gesellschaften rote Zahlen schreiben! Schaffen Sie das Arbeitslosengeld ab, und ersetzen Sie es durch einen Teilzeitlohn, der nur ausgezahlt wird, wenn dafür halbtags gemeinnützig in der Pflege, in der Landwirtschaft, im Umweltbereich gearbeitet wird! Dann haben Sie genau das Fitneßprogramm, dem wir uns nach der Kommissionsregelung unterziehen müssen.
Denn, meine Damen und Herren, Trägheit in allen Bereichen — auch auf Arbeitgeberseite — ist ein Problem der Tarifpartner. — Natürlich würde eine Inpflichtnahme auch der Arbeitslosen zu einer Halbtagsarbeit sehr schnell viele Arbeitsprobleme lösen. Sie mögen vielleicht kritisieren, daß dieses Programm zu hart ist; erfolgreich wäre es auf jeden Fall sehr schnell.
Es ist hier immer wieder angesprochen worden, wir müßten mehr Umwelt-Umsteuerung unserer Marktwirtschaft machen. Ich kann nur sagen: Wir Deutschen haben mit Abstand die strengsten Umweltvorschriften. Es hätte Ihnen, Frau Wieczorek-Zeul, gut angestanden, Herrn Töpfer hier ausdrücklich dafür zu loben, daß er mit großem Nachdruck darum kämpft, gerade bei den Abwasserrichtlinien und bei den sonstigen Umweltvorschriften zu erreichen, daß diese auch wirklich zu europäischen werden.
Wir sehen die Unterschiede, was die Sanierung unserer Haushalte anbelangt. Falls Sie da noch irgendwelche Zweifel haben, sage ich Ihnen, Frau Matthäus-Maier: Es geht z. B. auch um den Vorstoß dieser Fraktion, daß jetzt wenigstens die Sozialhilfeempfänger von den Gemeinden in die Pflicht genommen werden. Wissen Sie, daß lediglich 16 % der männlichen, alleinstehenden Sozialhilfeempfänger über 50 Jahre alt sind? Das bedeutet, daß wir einen hohen Prozentsatz, gut 80 %, jüngerer Sozialhilfeempfänger haben, die für die Sozialhilfe zum Teil sehr wohl arbeiten könnten.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17143
Dr. Renate Hellwig
Das ist genau das, was die Arbeiterschichten, von denen Sie behaupten, daß Sie sie vertreten, am meisten erbost, daß nämlich die in Arbeit sind, immer höhere Abgaben zahlen müssen und neben sich die Faulenzer erleben, die sich auf Kosten der Arbeitenden einen schönen Lenz machen. Das ist die Konfliktlage, und die haben wir gerade bei den Tüchtigen in den unteren Einkommensschichten. Die haben Sie im Grunde überhaupt nicht erkannt.
Es geht mir aber auch noch um einen weiteren wichtigen Schwerpunkt der heutigen Debatte, nämlich um die Frage: Wie wird es dieser Bundestag schaffen, sich endlich besser in die europäische Gesetzgebung einzuschalten? Gerade die Tatsache, daß wir um bessere Umweltvorschriften, daß wir um eine vernünftige Verschlankung auch der Sozialvorschriften in allen europäischen Staaten — mit dem Interesse der Verbesserung der Beschäftigungslage — kämpfen, macht dies erforderlich. Denn in allen europäischen Staaten sind hier gewisse Korrekturen dringend erforderlich. Wenn Sie sehen, welch hohe Jugendarbeitslosigkeit andere Staaten haben, die nicht unser kombiniertes Schul- und Berufsausbildungssystem haben, dann wissen Sie, daß hier sehr viele Korrekturen erforderlich sind. Aber dieser Bundestag ist nicht in der Lage, an dieser europäischen Gesetzgebung rechtzeitig teilzunehmen, weil er die Instrumente nicht hat.
Meine Damen und Herren, Ihnen liegt ein Antrag auch der Koalition zur Einsetzung eines jetzt in der Verfassung gegebenen Europaausschusses vor, der sich als schlagkräftiges Instrument, das vorher rechtzeitig Stellung nimmt, erweisen kann und erweisen wird. Der Bundesrat hat seinen Europaausschuß bereits eingerichtet. Ich bitte Sie dringend, daß wir das jetzt ebenfalls tun.
Ich möchte noch etwas in bezug auf die Umweltvorschriften im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft sagen. Gerade wir Deutschen müssen besonders daran interessiert sein, daß die Skandinavier, also die Schweden, die Norweger, die Finnen, aber auch die Österreicher möglichst schnell Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden. Nicht nur — und das sage ich unseren ängstlichen Bürgern, die meinen, wir würden so viel zahlen — kommen hier finanzkräftige, engagierte, uns in finanziellen Dingen unterstützende Staaten in die Gemeinschaft, sondern auch im Umweltbereich sind diese Staaten besonders engagiert und werden genau das, was wir alle gemeinsam wollen, nämlich die deutsche Vorbildfunktion im Umweltbereich zu einer gemeinsamen europäischen Politik zu machen und Wachstum bei Umweltinvestitionen und einem umweltfreundlicherem Konsum zu erreichen, dann tatsächlich auch mehrheitsfähig machen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt zu der Ängstlichkeit sagen, die überall herrscht, leider auch bei unseren französischen Freunden, wie ich bei der COSAC, der Konferenz der Europaausschüsse, feststellen mußte. Nicht die Abschottung vor anderen Märkten, sondern die Öffnung zu den Märkten, auch in Richtung Mittel- und Osteuropa, das ist das Fitneßprogramm, dem sich Westeuropa aussetzen muß, in
bewährter Form, wie in der Nachkriegszeit so auch jetzt.
Wir stehen in einer vergleichbaren Herausforderung.
Mit unseren Rezepten werden wir sie erfolgreich bestehen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
Frau Kollegin Hellwig, Sie hatten mir eine Zwischenfrage verwehrt, deswegen muß ich mich jetzt zu Wort melden. Die wirklich herzlose Art, mit der Sie über Arbeitslose, ihre Probleme und ihre Nöte sprechen, stößt ab, Frau Hellwig.
Es gibt in diesem Lande 5 Millionen Menschen, die Arbeit suchen und keine finden. Bei der Bundesanstalt für Arbeit sind nur 300 000 offene Stellen gemeldet. Sie aber tun so, als seien die Arbeitslosen ein Heer von Faulpelzen, die man durch Kürzung des Arbeitslosengeldes an die Arbeit treiben müsse, weil sie es von sich aus nicht täten.
Haben Sie nicht in Ihrem Wahlkreis die Situation, daß auf einen Schlag 200, 400, 500 Menschen arbeitslos werden? Nein, ich muß Ihnen sagen: Sozialmißbrauch gibt es überall; den müssen wir bekämpfen. Genauso müssen Sie sich endlich daranmachen, Steuerhinterziehung und Subventionsmißbrauch zu bekämpfen, was Sie nicht tun.
Der Eindruck, den Sie hier erwecken, z. B. durch den Satz, das durchschnittliche Arbeitslosengeld sei höher als die Teilzeitbezahlung, ist schlimm; denn das ist doch selbstverständlich. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich doch nach der Vollzeitbezahlung, die der Vollzeitarbeitende vorher bekommen hat. Wollen Sie das auch noch absenken?
Wenn Sie weiter monieren, daß der Abstand zwischen niedrigen Einkommen und Lohnersatzleistungen zu gering ist, dann haben Sie völlig recht. Aber haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, welchen Anteil daran Ihre Bundesregierung hat, wenn sie in verfassungswidriger Weise Familien mit Kindern und Menschen mit niedrigem Einkommen besteuert?
Nein, Frau Hellwig, wenn Sie hier den Eindruck erwecken — und so ist es bei mir und meinen Kollegen
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Ingrid Matthäus-Maler
angekommen —, daß diese Dinge bei Ihnen in Europa im Vordergrund stehen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, daß die Menschen Angst vor Europa bekommen.
Ich will aber nicht, daß sie Angst haben; denn Europa ist eine große Chance, in den zwölf Ländern zu mehr Arbeitsplätzen zu kommen, wenn wir gemeinsam einen nationalen und internationalen Beschäftigungspakt und nicht so einen billigen Sozialabbau wollen, wie Sie ihn vorhaben.
Ich erteile zur Erwiderung das Wort der Abgeordneten Frau Dr. Renate Hellwig.
Frau Matthäus-Maier, um das hier ein für allemal klarzustellen: Mir ging es um die eindeutige Feststellung, daß das Durchschnitts-Arbeitslosengeld über dem Einkommen der Durchschnitts-Teilzeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer liegt.
— Ich habe Ihnen zugehört. Jetzt hören Sie mir auch zu!
Man muß hier doch eine einigermaßen vernünftige Form wahren.
Es geht mir darum, daß diese entsetzliche Heuchelei, als wenn alle Arbeitslosen nur die Ärmsten der Armen seien und überhaupt keine Chance hätten, wieder auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren, endlich beseitigt wird. Die Bürger warten darauf, daß das endlich jemand offen sagt. Kein Arbeitsloser sieht sich heute bereit, eine Arbeit anzunehmen, in der er „nur" genausoviel verdienen würde, wie er heute an Arbeitslosengeld bezieht. Das ist eine Fehlentwicklung, die wir dringendst korrigieren müssen. Dazu müssen wir uns etwas einfallen lassen, gerade im Interesse der geringer verdienenden Schichten. Ich kann Ihnen nur sagen, wir müssen jetzt wirklich einmal prüfen, ob das, was wir uns an Sozialleistungen glauben leisten zu können,
und zwar nicht am Grundstock, sondern an Zulagen, noch in einem angemessenen Verhältnis zu den Arbeitseinkommen steht und ob es in bezug auf die Arbeit nicht wirklich eine zu hohe Subventionierung der Nichtarbeit gibt.
Dies bedarf dringendst der Korrektur.
Vielen Dank.
Nun kommen wir zu der normalen Rednerliste zurück. Der Abgeordnete Siegmar Mosdorf hat das Wort. — Ich bitte die Damen, sich wieder zu beruhigen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Hellwig, Sie haben in Ihrem Wahlkreis in Ludwigsburg die Sorge vieler Maschinenbauarbeiter, die sehr viel leisten, die aber jetzt auf Grund der besonderen Situation der Weltwirtschaft und der Versäumnisse auch bei uns von heute auf morgen arbeitslos werden. Diese Menschen haben — das müssen Sie immer mit bedenken, wenn Sie sich so äußern — nicht nur ihr Leben lang gearbeitet, sondern auch in die Bundesanstalt für Arbeit eingezahlt. Das ist ein Leistungsgesetz, das auf Versicherungsbasis beruht. Das heißt, daß man auf das, was man eingezahlt hat, einen Anspruch erwirbt. Den können Sie nicht auf Teilzeitbeschäftigung heruntersetzen.
Ich muß Ihnen sagen, Frau Hellwig — ich kenne Sie seit einigen Jahren —, daß ich sehr erschrocken bin über die Art und Weise, wie Sie in einer Europadebatte mit Menschen umgehen, die etwas leisten wollen, wie Sie die einfach abschieben und wie Nummern behandeln und denen sagen: Dann machen wir daraus Teilzeitbeschäftigte oder noch weniger. Wir beide haben — Sie in Ludwigsburg und ich in Esslingen — ähnliche Probleme: in der Elektrotechnik, im Maschinenbau und in der Automobilindustrie. Sie haben Gott sei Dank Unternehmen wie Leibinger und Triumph, die noch erfolgreich sind. Aber wir haben auch eine ganze Reihe von Unternehmen, die Sorgen haben. Daher können wir mit den Menschen so nicht umspringen. Damit vertiefen wir nur den Verdruß, lösen aber nicht die Probleme.
Meine Damen und Herren, ich habe ohnehin das Gefühl, daß wir heute in der Europadebatte nicht erkennen, daß Europa eigentlich vor einer neuen Entwicklungsphase steht. Nach der Eurosklerose in der ersten Hälfte der 80er Jahre haben wir mit der Präsidentschaft von Jacques Delors und mit dem Cecchini-Bericht in der europäischen Binnenmarktentwicklung einen wichtigen Zwischenspurt eingelegt. Ich begrüße das ausdrücklich. Diese Präsidentschaft hat uns sehr weit vorangebracht.
Aber die Siegerehrung, die jetzt sozusagen mit dem Abschluß der Maastrichter Verträge stattgefunden hat, findet in einer Zeit statt, in der Europa vor völlig neuen Herausforderungen steht, die wir alle noch nicht richtig wahrgenommen haben. Die bisherige Konzeption in Europa wurde in einer Zeit entwickelt,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17145
Siegmar Mosdorf
als wir noch in einer bipolaren Welt gelebt haben. Wir sind im wesentlichen davon ausgegangen, daß Westeuropa integriert werden muß, und Westeuropa hörte an der Elbe auf. Wir waren sehr eurozentristisch. Im westeuropäischen Haus wurden sozusagen die Wände eingerissen. Aus den nationalen westeuropäischen Familien entstand so etwas wie eine Wohn- und Lebensgemeinschaft.
Jetzt, am Ende des Jahres 1993, stellen wir nicht nur fest, daß das westeuropäische Haus keine gemeinsame Innenarchitektur hat, sondern auch, daß die Mauern zum Nachbarhaus gefallen sind und es in Europa drunter und drüber geht.
Ich teile nicht den Optimismus, den Herr Kinkel vorhin zum Ausdruck gebracht hat. Er sagte, er wisse nach so vielen Erfolgen überhaupt nicht, warum wir mit der europäischen Entwicklung nicht zufrieden seien. — Wir haben zwar Erfolge gehabt, aber Europa steht vor völlig neuen Herausforderungen, auf die wir uns einstellen müssen. Ich habe die Sorge, daß wir uns auf diese Entwicklung im Moment eben nicht einstellen.
Die Entwicklung in Europa ist dadurch gekennzeichnet, daß wir uns sehr auf uns konzentrieren und in einer solchen Zeit das Haus Europa eigentlich nicht weiterentwickelt haben und keine Innenarchitektur entwickeln, die auch der neuen Weltarchitektur gerecht wird. Die Wirtschafts-, Finanz-, Geld-, Forschungs- und Technologiepolitik muß sich deshalb endlich folgenden Fragen zuwenden:
Erstens. Warum haben wir uns in den letzten Jahren in Europa zwar auf die Chancen des größeren Absatzes in einem größeren Markt konzentriert — das war richtig —, die dazu notwendigen gemeinschaftlichen Infrastrukturen aber nicht geschaffen?
Zweitens. Warum haben wir in den letzten Jahren bei unserem Eurozentrismus übersehen, daß sich die Schwerpunkte der Weltwirtschaft in den nächsten Jahren dramatisch in den asiatisch-pazifischen Raum verschieben werden?
Sie kennen die Bevölkerungszahlen: Bis zum Jahre 2010 — das ist nicht mehr sehr lange — wird die Anzahl der Einwohner in Europa bei etwa 460 Millionen bleiben. Aber in der gleichen Zeit wird die Bevölkerung des afrikanischen Kontinents von 2,4 auf 3,5 Milliarden Einwohner, die des asiatischen Kontinents von 5,2 auf 7,7 Milliarden Einwohner steigen. Auf diese neue Entwicklung, die dazu führt, daß Asien und auch der pazifische Raum einen neuen Stellenwert erhalten, haben wir uns bisher zuwenig eingestellt. Nur dann, wenn wir diese Fragen sachgemäß beantworten und operative Zukunftskonzepte entwickeln, werden wir verhindern, daß Europa in der weltwirtschaftlichen Entwicklung abgehängt wird. Unsere Sorge ist, auch in der heutigen Debatte, daß Sie mit Ihren Antworten von gestern den heutigen neuen Fragen nicht gerecht werden.
Weil das so ist, bedauern wir sehr, daß das Weißbuch von Jacques Delors in seiner ursprünglich vorgelegten Fassung eigentlich keine Rolle mehr spielt. Es ist auf ein vierseitiges Papier reduziert worden, das
aber im Grunde keinen neuen Impuls für die Entwicklung in Europa gibt, sondern im wesentlichen nur den Zustand beschreibt. Das ist wirklich ein Problem: In einer Zeit, in der sich andere Regionen dynamisch entwickeln, haben wir diesen Anstoß jedenfalls nicht.
Ich glaube, es ist hohe Zeit für eine neue Ara der Dynamik und der Innovation in Europa. Dazu müssen wir, gerade auch die Bundesrepublik Deutschland, Konzepte entwickeln. In Europa muß endlich der Aufbau der Industrien, der Infrastrukturen und der Technologien des 21. Jahrhunderts angepackt werden. Dazu brauchen wir einen „Europäischen Masterplan für die Infrastrukturen des Verkehrs und der Telekommunikation" . Das gibt es bisher leider nicht; Sie wissen, was auf dem amerikanischen und dem asiatischen Kontinent stattfindet.
Dafür brauchen wir endlich auch eine Verabschiedung des 4. Forschungsrahmenprogramms der EG; das ist ein ganz wichtiges Konzept. Wir wollen nicht, daß das weiter reduziert wird. Es gibt gegenwärtig Bestrebungen, das dafür vorgesehene Budget zu reduzieren. Wir halten es für sehr wichtig, Forschung und Entwicklung in Europa gemeinsam zu betreiben, und dringen deshalb auf eine rasche Verabschiedung des 4. Forschungsrahmenprogramms in der Europäischen Gemeinschaft.
Dabei muß man sich auf die Technologien des 21. Jahrhunderts konzentrieren. Auch hier sind Fehler gemacht worden. Wir haben oftmals mit viel Geld und viel Bürokratie Technologien gefördert, die überholte Strukturen aufwiesen.
— Nein, der Zwischenruf ist zwar schön, er hilft uns aber nicht weiter. Sie wissen genausogut wie ich, daß, auch wenn wir bei der Kohle einen Kurswechsel vorgenommen hätten, wir trotzdem in dem Dilemma wären, auf dem Sektor der Hochtechnologien, wo wir riesige Ressourcen brauchen, nicht die Spielräume zu haben, um wirklich weiterhin einen Spitzenplatz in der Technologieentwicklung einzunehmen. Im übrigen empfehle ich Ihnen, mit dem Bundeswirtschaftsminister die Frage der Kohle mit Blick auf die Zukunft zu diskutieren.
Wir brauchen in Europa aber auch eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik. Ich finde es geradezu hanebüchen, daß sich Europa z. B. beim TGV und beim ICE in Korea auf Auseinandersetzungen einläßt, statt auf diesen fernen Märkten im vorwettbewerblichen Bereich, aber auch bei entsprechenden Angeboten zu kooperieren.
Wir brauchen eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik gerade für den asiatischen und pazifischen Raum wie auch für den nord- und lateinamerikanischen Markt. Deshalb müssen wir die Chancen der neuen Friedensperspektiven auch im Nahen Osten nutzen. Denn ein befriedeter Naher Osten könnte zur zentralen industrie- und handelspolitischen Drehscheibe zwischen Europa und Asien werden.
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Siegmar Mosdorf
Amerika stellt sich auf diese neue Entwicklung in der Welt ein. Das zeigt nicht nur die Entscheidung für NAFTA in den USA, sondern auch der APEC-Gipfel in Seattle, den ich auch in der Frage, welche Bedeutung dieser Entwicklung zukommt, sehr hoch bewerte. Da findet der alte Kontinent Europa nicht mehr statt. Wir haben aber noch keine Konzepte entwickelt, wie wir damit umgehen.
Asien ist dabei, zum Zentrum der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts zu werden. Das zeigt nicht nur die Entwicklung auf dem größten Markt der Welt, China. Das zeigen auch die Reformanstrengungen der Regierung Hosokawa in Japan.
In einer solchen Phase eines fundamentalen Strukturwandels der Weltwirtschaft steigt in Europa die Arbeitslosigkeit auf inzwischen 20 Millionen Menschen. Das sind nicht nur, Frau Kollegin Hellwig, 20 Millionen Schicksale in Europa, sondern das heißt auch — darüber haben wir vorhin geredet —, daß Ressourcen gebunden werden, daß Qualifikationen verlorengehen und daß wir damit in der Entwicklung der Weltwirtschaft weiterhin abrutschen.
Der deutsche Goliath — das hat Herr Präsident von Weizsäcker neulich so formuliert — hat sich selbst gefesselt, ist bewegungslos geworden und fällt deshalb als dynamischer Motor für die EG — das nämlich wäre unsere heutige Aufgabe — aus. Es gibt keine kreativen Konzepte dieser Regierung in bezug auf den EG-Gipfel. Es gibt keine konkreten kreativen Konzepte in bezug auf das Weißbuch. Wenn wir nicht aufpassen, kann es so sein, daß wir in Europa insgesamt italienische Verhältnisse bekommen. Das erfüllt mich mit großer Sorge, gerade wenn die Massenarbeitslosigkeit weiter zunimmt. Man kann darauf nicht nur damit reagieren, daß man sagt, wir reduzieren das Arbeitslosengeld entsprechend, sondern man muß auch damit reagieren, daß man wettbewerbsfähige, neue Arbeitsplätze schafft. Dazu sind bisher von dieser Regierung keine Impulse in Europa gegeben worden. So wie es aussieht, wird der Europäische Rat am nächsten Wochenende keine entsprechenden Impulse geben, sondern als ein „Business-as-usual"Rat zu Ende gehen — ohne Impulse für die zukünftige Entwicklung.
Meine Damen und Herren, die Voraussetzung für einen Erfolg in einer solch dramatischen Krise ist auch, daß man Gerechtigkeit als Leistungsmotor erkennt. Wenn wir in Deutschland, in Europa nicht gerecht vorgehen, wenn wir nicht Gerechtigkeit schaffen und die Menschen nicht motivieren, mitzuhelfen, aus dieser Krise herauszukommen. werden wir dies nicht schaffen.
Ich glaube, auch in diesem Sinne ist es wichtig, in Deutschland fair miteinander umzugehen und nicht weiter eine soziale Schieflage entstehen zu lassen, die in den letzten Jahren betrieben worden ist und die Sie offensichtlich weiter betreiben wollen. Das motiviert die Menschen nicht, etwas zu leisten, sondern das führt dazu, daß sie sich von diesem System abwenden und im Grunde hoffnungslos werden.
In einer solchen Situation hat die französische Regierung in den letzten Tagen einen interessanten Vorschlag gemacht. Balladur und Mitterrand haben zusammen hier in Bonn in einer Situation, in der wir
erstens eine hohe Verschuldung, zweitens einen riesigen Investitionsbedarf für Zukunftsinvestitionen und drittens freies Kapital haben, das in Europa Anlagen sucht und viertens einen Impuls für die Konjunktur brauchen, eine „Euroanleihe" für Investitionen und Zukunftsinfrastrukturen vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat darauf sehr reserviert reagiert, aber nicht mit einer eigenen Alternative und nicht mit eigenen Konzepten, sondern sie hat im Grunde gesagt, sie wolle das prüfen.
Ich halte es für notwendig, daß wir gerade mit Blick auf die Infrastrukturen, die wir in Europa brauchen, mit Blick auf die technologischen Entscheidungen, die wir für Europa brauchen, und mit Blick auf die Qualifikationspolitik, die wir in Europa brauchen, eine solche Euroanleihe für Innovation und Infrastrukturen auflegen. Ich sage ausdrücklich: Ich will das nicht über den Haushalt laufen lassen. Ich will auch keine Verschuldung der Europäischen Gemeinschaft zulassen, sondern — das sagte ich jetzt zu Ingrid Matthäus-Maier — es geht darum, daß wir Investitionen auf die Schiene bringen. Das ist das, was wir in Europa brauchen, um bei wichtigen Zukunftsentwicklungen, auf wichtigen Zukunftsmärkten wirklich wieder mithalten zu können.
Nur mit einer solchen außergewöhnlichen Kraftanstrengung der Menschen kann das notwendige Kapital mobilisiert werden, um wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und Europa vor dem ökonomischen und technologischen Abstieg zu bewahren. Die großen Chancen, die im Binnenmarkt stecken, haben wir teilweise genutzt. Aber wir haben uns dabei auf Europa selber konzentriert und reduziert. Wir haben eigentlich die anderen Entwicklungen der Welt dabei eher vernachlässigt.
Wenn ich heute an Europa denke, dann fallen mir immer die beiden Bilder von Max Ernst ein, die Sie vielleicht auch kennen, beide Bilder mit demselben Titel: „L'Europe après la pluie", „Europa nach dem Regen". Das eine Bild zeigt ein Europa, bei dem der Kontinent mit Nordafrika und Nahost zusammengewachsen ist und sehr dynamisch wächst, eine Landkarte von Europa. Das andere Bild zeigt ein Europa, das lethargisch wirkt und das keine Zukunftsperspektive, sondern eher zerstörte Strukturen hat.
Deshalb bin ich in der jetzigen Situation nicht der Meinung, daß in Europa alles in Butter ist, sondern es gibt wirklich den dringenden Bedarf, neue Impulse zu geben und auch eine neue Dynamik für Europa zu entwickeln. Das ist notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen; denn 20 Millionen Arbeitslose lassen mich nicht kalt, Frau Hellwig.
Wir müssen wettbewerbsfähige Zukunftsarbeitsplätze schaffen, damit die Menschen auch wieder Zuversicht haben. Dann ist es auch möglich, für Europa insgesamt in der neuen Weltwirtschaft einen neuen Platz zu gewinnen, der unseren hohen Wohlstand sichert.
Ich glaube, daß es falsch wäre, die Standortdiskussion in Deutschland und Europa nur auf die Verteilungsfrage zu reduzieren und zu sagen, wenn wir nur
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ein bißchen umverteilen und den Schwächeren etwas wegnehmen, sei das Problem gelöst. Das Problem geht viel tiefer. Die Zukunftsperspektiven dafür zu entwickeln hat diese Regierung versäumt. Deshalb bin ich nicht optimistisch, daß der Gipfel zum Erfolg wird.
Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Martin Mayer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangspunkt unserer Europapolitik und der Europadebatte müssen die Sorgen und Erwartungen der Bürger sein. Die Erwartungen der Bürger sind gegenwärtig auf sichere Arbeitsplätze gerichtet. Arbeitsplätze gibt es bei uns aber nur dann, wenn unsere Maschinen, unsere Autos, unsere Flugzeuge, unsere Dienstleistungen, unsere Arzneimittel am Weltmarkt gekauft werden.
Voraussetzung dafür ist bei unserem Kostenniveau allerdings, daß unsere Waren und Dienstleistungen deutlich besser sind als die der anderen. Dafür spielen Forschung und Technologie und die Umsetzung ihrer Ergebnisse in marktfähige Produkte eine Schlüsselrolle.
Das ist heute mein Thema.
Beispiel Arzneimittel: Die Mittel zum Erkennen und Heilen von Krankheiten werden mehr und mehr über gentechnische Methoden erforscht und hergestellt. Müssen uns nicht Meldungen erschrecken, daß seit 1988 in den USA 52 Gentherapien zugelassen worden sind, bei uns aber nur drei? Im Wettlauf um den medizinischen und pharmakologischen Fortschritt haben wir in Europa unseren Forschern die Hände gebunden.
Der Deutsche Bundestag hat mit den Stimmen der Koalition im Gentechnikgesetz einen Schritt getan, mit dem wir die Aufholjagd einleiten. Behindert ist diese Aufholjagd nach wie vor durch Vorschriften der Europäischen Gemeinschaft. Durch Forderungen der SPD und der GRÜNEN geschürt, hat die Europäische Gemeinschaft vor Jahren bestimmte Vorschriften zur Gentechnik willkürlich und kleinlich festgelegt. Die Bundesregierung hat bereits im Frühjahr dieses Jahres der EG-Kommission Vorschläge zur Vereinfachung vorgelegt. Die Kommission soll jetzt endlich handeln und der Biotechnik die Fesseln abnehmen — das ist die beste Förderung dieser Technik und nicht ständig neue Programme.
Meine Damen und Herren, die Gentechnik ist ein klassisches Beispiel für den Grundsatz der Subsidiarität, daß wir also das, was wir national regeln können, auch auf nationaler Ebene regeln sollten. Europa
sollte keine Detailfragen, sondern nur Grundsätze regeln. Darüber zu wachen halte ich für die wichtigste und zentrale Aufgabe des Unionsausschusses. Dort müssen wir uns in Zukunft mehr als bisher um diese Dinge kümmern.
Während die Gemeinschaft in der Gentechnik zuviel geregelt hat, gibt es andere Bereiche, bei denen dringender Nachholbedarf besteht. Beispielsweise gibt es bei der Telekommunikation existenzgefährdende Wettbewerbsverzerrungen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft. Die Handelspartner im Weltmarkt in der Telekommunikation müssen genauso wie wir die Märkte öffnen und Subventionen abbauen, damit ein fairer Wettbewerb stattfinden kann. Auch wir selbst müssen in der Frage der Telekommunikation einiges ändern. Ich fordere deshalb die SPD auf, die Blockade bei der Privatisierung der Post aufzugeben und endlich mit uns konstruktiv an Lösungen zu arbeiten, damit auch bei uns wieder neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn Hersteller gemeinsam mit den Nutzern auf den Weltmärkten neue Arbeitsbereiche erobern.
Im internationalen Wettbewerb mit Japan und den USA spielt der Zeitfaktor immer eine große Rolle. Nach dem Motto „Zeitführerschaft ist wichtiger als Kostenführerschaft" kommt es in der Forschung und Entwicklung immer mehr auf ein schnelles Umsetzen von Ergebnissen in marktfähige Produkte an. Deshalb muß auch der 4. Rahmenplan in der europäischen Forschungsförderung — da sind wir uns einig — schnell verabschiedet werden. Schnelles Helfen ist hier wichtiger, als davon zu reden, daß noch mehr Geld ausgegeben werden muß. Denn auch in der europäischen Forschungspolitik gilt in einer Zeit, in der die Mittel knapper werden, daß sich die EG um mehr Effektivität bemühen muß und nicht immer zuerst für mehr Geld eintritt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für Deutschland gilt aber eines noch viel entscheidender: Die Verwaltungsvorschriften müssen wir deutlich vereinfachen und die Verfahren wesentlich verkürzen. Hier fordere ich auch die SPD erneut auf, endlich Blockaden aufzugeben und konstruktiv mitzuarbeiten, damit wir in Deutschland zur Verkürzung und Vereinfachung von Verfahren kommen.
Deutschland hat eine führende Rolle in der europäischen Forschung. Daraus erwächst auch eine besondere Verantwortung für die Zukunft von Forschung und Entwicklung in Europa und damit für neue Arbeitsplätze bei uns. Wir werden dieser Verantwortung nur gerecht, wenn wir ohne ideologische Scheuklappen zu einer sachgerechten Einschätzung der Risiken und Chancen neuer Techniken kommen. Da ließen sich jetzt viele Zukunftstechniken von der Mikroelektronik über die Nutzung der Kernenergie bis zur Telekommunikation anführen, an die wir Deutsche einfach mit mehr Begeisterung für neue Techniken herangehen sollten.
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Dr. Martin Mayer
Lassen wir uns — auch das gehört zu Europa — doch alle, auch die Opposition, auch die Medien, von der Technologiebegeisterung der Franzosen etwas anstecken. Europa muß wissenschaftlich und wirtschaftlich, kulturell und politisch Spitze bleiben. Wir brauchen dazu Selbstvertrauen, Mut und schöpferische Kraft. Dann wird es ein Europa, in dem die Bürger Arbeit finden und gerne leben.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Sie wollen nach Europa?" So werde ich jetzt ständig, manchmal auch mit einem Unterton freundlichen Spottes, gefragt. Und wenn es nicht gar so unhöflich klänge, läge mir dann als Antwort auf der Zunge: „Und wollen Sie etwa woanders hin?"
Meine Damen und Herren, diese etwas spitze Antwort ist aber immer noch erst die Hälfte der Wahrheit. Wir sind nämlich schon in Europa. Seit dem 1. November ist der Vertrag von Maastricht über die Gründung einer Europäischen Union geltendes Recht. Wir sind tatsächlich in einer Union der Völker, in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden sollen.
Zu den Bürgern gehören natürlich auch die Arbeitslosen und die Sozialhilfeempfänger, über deren Köpfe man nicht so reden sollte, wie das hier geschieht.
Der in den letzten Wochen geführte Streit in Europa ist ein klassisches Beispiel dafür, wie unser Bewußtsein der geschichtlichen Realität hinterherhinkt. Während wir schon längst in Europa angekommen sind, unter europäischen Bedingungen ]eben, streiten wir noch darüber, ob wir eigentlich dahin wollen, wo wir längst sind.
Das gilt vor allen Dingen — und darauf möchte ich zunächst eingehen — für den Streit über Bundesstaat oder Staatenbund. Das ist ein typischer Streit über des Esels Schatten.
Das Europa der Europäischen Union ist eine Union der Völker. So steht es ausdrücklich im MaastrichtVertrag. Was soll angesichts dieser klaren Aussage die Alternative von Staatenbund oder Bundesstaat? Genauso klar und sogar präzisiert kann man es im Karlsruher Europaurteil lesen, wo die Union der Völker als „ein auf eine dynamische Entwicklung angelegter Verbund demokratischer Staaten" definiert ist. So war Europa nie ein Staatenbund und wird nie ein Bundesstaat wie die USA oder die Schweiz sein. Europa ist eine noch nicht dagewesene Kooperation von Völkern.
Jetzt kommt es aber, meine Damen und Herren: Das bedarf daher auch einer völlig neuen politischen Philosophie, um die Verfassungsprobleme dieser neuen Kooperative zu formulieren und zu lösen. Diese neue politische Philosophie ist natürlich nicht Europol und ist erst recht nicht die uralte Technokratie, die wir
in der DDR nun wahrlich in extenso kennengelernt haben.
Die Organe dieser Kooperation sind etwas völlig anderes und müssen etwas völlig anderes sein als die Organe einer nationalstaatlichen Demokratie nach herkömmlicher Lehre und Praxis. Und sie sind es jetzt schon.
Wer wie der Koalitionsantrag europäisches Parlament und Rat als Legislative — es ist natürlich sehr interessant, daß wir hier auf einmal eine Verfassung mit zwei Legislativen haben — und die Kommission als Exekutive betrachtet, der geht nicht nur an der gänzlich anders gearteten Realität vorbei, sondern nährt unnötigerweise die populistisch ausbeutbare Angst vor dem europäischen Superstaat.
Natürlich, meine Damen und Herren, ist es eine höchst komfortable Situation, wenn man hier in Bonn als Exekutive sitzen kann und in Brüssel dann als Legislative auftritt. Ich denke, in der Formulierung des Koalitionantrages wird die Lage deutlich, in der wir wirklich sind, nämlich daß die Trennung der Gewalten in unserer Demokratie mehr und mehr theoretisch zu werden beginnt.
Das ist kein Demokratiedefizit, das ist ein echter Demokratiedefekt. Wenn dann gar von dem Europäischen Parlament als einer Kontrollinstanz gesprochen wird, dann ergreift den, der die Kontrollmöglichkeiten auf nationaler Ebene mittlerweile kennt, geradezu ein Gefühl. der Rührung.
Machen wir uns darum lieber an der Tatsache der von Maastricht geschaffenen Unionsbürgerschaft klar, daß sich uns in dieser neuen Union eine so noch nie dagewesene Friedensordnung der durch eine gemeinsame Unionsbürgerschaft verbundenen Völker erschlossen hat!
Über die Bürgernähe politischer Entscheidungen werden wir erst dann etwas Triftiges sagen können, wenn sie über eine Umformulierung der Staatsbürgerrechte als politische Teilhaberechte einen für alle faßbaren Inhalt gewonnen haben und dann Teil des politischen Alltags geworden sind. Darum sollte nicht nur ohne Inhaltsangabe ständig nach mehr Rechten für das Europäische Parlament gerufen, sondern dieses aufgerufen werden, die Modalitäten der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung der Europäischen Union zu entwerfen, und zwar spätestens bis zur Überprüfungskonferenz von 1996.
Allen Forderungen nach einer unverzüglichen Umsetzung der Richtlinie zur Europawahl ist darum zuzustimmen. — Ich bin aber nicht, wie die PDS, für deutsche Alleingänge. —
Aber auch sie wird den verunsicherten Bevölkerungen Europa nicht als Friedensordnung erfahrbar werden lassen, solange diese Umsetzung nicht mit einer Gesetzgebung zu Asyl-, Flüchtlings- und Einwande-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17149
Dr. Wolfgang Ullmann
rungsrecht auf europäischer Ebene einhergeht, die Schluß macht mit jeder Art von Völkerdiskriminierung auf der einen und böse Erinnerungen weckenden Grenzregimeverschärfungen auf der anderen Seite.
Die Faustschläge gegen den Bundespräsidenten, meine Damen und Herren, konfrontieren uns einmal mehr mit der Tatsache, daß Friede am Ende unseres Jahrhunderts nicht der Zustand der Gesellschaft, sondern eine soziale Aufgabe geworden ist. Wir wissen jetzt: Ganze Völker können verarmen, ganze Völker können arbeitslos, obdachlos und kulturlos werden.
Darum, Frau Kollegin Hellwig, muß ich es schon als ganz befremdlich bezeichnen, daß Sie in einem Moment, wo in deutschen Landen Hunger gestreikt wird, hier von Faulheit reden können.
Denn wenn es so ist, wie ich das gerade gesagt habe, beginnen jene Völkerwanderungen, mit denen wir jetzt zu tun haben und die deswegen so dramatisch sind, weil wir nicht mehr im vierten Jahrhundert nach Christus leben und in Europa für Völkerwanderungen kein Platz mehr ist.
Aber Europa besitzt wenigstens jetzt kraft Maastricht die Organe, die riesige Aufgabe der sozialen Befriedung unserer Gesellschaft zu leisten. Es hat das Richtlinienorgan der Kommission, das Entscheidungs-
und Souveränitätsorgan des Rates, das Kommunikationsorgan des Parlamentes und die Organe der europäischen Rechtsprechung.
Aber die eigentümliche Funktions- und Kompetenzunklarheit des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Regionalausschusses zeigen, daß noch etwas fehlt: ein Organ der Forschung und Prognostik. Die Prognostik fehlt mir bei jenen, die sich hier für Gentechnologie begeistern. Allein im Rahmen der Kreisau-Initiative und im Verfassungsentwurf der „Europäischen Föderalisten" ist an die Errichtung einer europäischen Akademie für Bildung und Wissenschaft gedacht — der einzig angemessenen Antwort auf die Riesenaufgabe der Befriedung unserer Gesellschaft. Mit Europol sind derartige Aufgaben wahrlich nicht zu lösen.
Europa ist kein Kontinent. Europa ist eine Begegnungsstätte von Kontinenten. Es obliegt unserer Verantwortung, diese Begegnung als eine friedliche Begegnung zu verwirklichen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Michael Stübgen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Ullmann, ich will doch ganz kurz auf eine Ihrer Äußerungen eingehen. Wenn Sie es im europäischen Bereich als einen demokratischen Defekt bezeichnen, daß es Regierungen gibt, die in den Nationalstaaten Regierungen sind und auf europäischer Ebene Legislative spielen, dann müßten Sie diesen Defekt allerdings auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sehen. Denn auch hier haben wir — ich sehe das nicht als Defekt, aber teilweise als problematisch an — Landesregierungen, die in den Landeshauptstädten Exekutive sind und hier in Bonn — und da müßten sie eigentlich sitzen — Legislative spielen, und das weitestgehend unkontrolliert von den Landtagen, die nämlich gar nicht mitreden können.
Ich will dazu sagen: Die Landtage in der Bundesrepublik Deutschland wären froh, wenn sie ähnliche oder auch etwas geringere Mitbestimmungsrechte hätten, wie wir sie als Bundestag seit dem 1. November 1993 haben. Das muß man selbstkritisch mit sehen, wenn man den demokratischen Defekt — ich nenne es Demokratiedefizit, das es in der Tat gibt — in der Europäischen Gemeinschaft mit Recht kritisiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin aufgefordert worden, mich möglichst kurz zu fassen. Aber es ist ein wichtiges Thema, das ich kurz ansprechen möchte, und zwar ist es nach Ansicht der Bürger in der Bundesrepublik Deutschland das zweitwichtigste Problem innerhalb Deutschlands und der Europäischen Gemeinschaft. Es geht um die Frage der inneren Sicherheit.
Wie Sie alle wissen, sind im Maastrichter Vertrag im Art. K die Zusammenarbeit im Zollwesen und die polizeiliche Zusammenarbeit, die Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und anderer Formen der organisierten Kriminalität als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse bezeichnet worden. Frühzeitig, schon vor gut eineinhalb Jahren, waren sich die Mitgliedstaaten darüber einig, daß Europol, ein europäisches Polizeiamt zur Bekämpfung der internationalen Kriminalität, eingerichtet werden muß.
Kurz nach der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages wurde auf europäischer Ebene zur Konkretisierung dieser globalen Zielvorgaben Anfang 1993 die TREVI-Ad-hoc-Arbeitsgruppe eingerichtet. Sie sollte einen Diskussionsentwurf zur Einrichtung und zur Arbeitsweise von Europol vorlegen. Zusätzlich wurde eine Ad-hoc-Gruppe Europol eingerichtet, die bis zum Oktober 1994 — das halte ich für eine wichtige Entscheidung — einen festumrissenen Organisationsplan für die Organisation und Struktur des Europäischen Polizeiamtes vorlegen soll, das dann möglichst bald seine Arbeit aufnehmen soll.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß es schlichtweg notwendig ist, daß der neu zu gründende Europaausschuß seine Rechte in diesem Fall wahrnimmt und an der Erarbeitung dieses festumrissenen Organisationsplans mitwirkt, daß es nicht wieder passiert, wie es schon einige Male passiert ist — z. B. im Schengener Vertrag —, daß in
17150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Michael Stübgen
diesem Organisationsplan dann sehr viele schöne Sachen stehen, ihre Umsetzung aber nicht funktioniert. Ich halte das für ein wichtiges Thema für das nächste Jahr. Wir werden als Bundestag diese Rechte wahrnehmen und dafür kämpfen, daß Europol auch ordentlich arbeiten kann, wenn es in Kraft tritt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aber was soll in der Zwischenzeit bis Oktober 1994 passieren? Man hat sich auf europäischer Ebene darauf geeinigt, daß zwischenzeitlich als Vorstufe zum Europäischen Polizeiamt das sogenannte EDU — Europol Drug Unit — eingerichtet werden soll. Gedacht ist dabei an eine gemeinsame Einrichtung für den Informationsaustausch, die zunächst lediglich auf der Grundlage der nationalen Rechtssysteme den Datenaustausch wahrnimmt. Der Datenaustausch soll über Verbindungsbeamte aus den einzelnen Mitgliedstaaten erfolgen. Diese sollen zunächst auf der Grundlage der nationalen Rechtssysteme die Weitergabe von Informationen regeln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte das ansprechen. Ich habe gewisse Bedenken, daß von einigen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union versucht wird, zu sagen: Das ist eine endgültige Regelung, wir lassen es bei diesem EDU. — Das ist unmöglich und darf nicht passieren. Die Bundesregierung wird sich auch dafür einsetzen, daß es nur eine Übergangsregelung ist.
Ich möchte nur ganz kurz auf mögliche Verfahrensweisen dieses EDU hinweisen. In Den Haag wird ein deutscher Verbindungsbeamter sitzen. Dieser kann dann Informationen entsprechend dem deutschen Datenschutzgesetz usw. auf Anfrage z. B. der französischen Polizei oder der englischen Polizei weitergeben. Was muß er machen? Er, muß erstens das deutsche Datenschutzgesetz, das sehr komplex und kompliziert und teilweise auch überholt ist, ganz genau kennen. Dann muß er noch für jedes einzelne Bundesland, wo es teilweise noch additiv zum Bundesdatenschutzgesetz bestimmte Regelungen gibt, die Vorschriften genau kennen.
Jetzt stellen Sie sich einmal vor: Es kommt eine Anfrage an diesen deutschen Verbindungsbeamten über einen Drogenhändler, zu dem es Informationen in der Bundesrepublik Deutschland, in Sachsen, im Saarland und in Hamburg gibt. Da muß er bei jeder einzelnen Information, die es gibt, sehen, wie die einzelnen Berichte sind. Wie gesagt: Es ist eine Übergangssituation, die notwendig ist und die ein wesentliches Ziel hat. Deswegen begrüße ich trotzdem die Einrichtung des EDU. Bis zum nächsten Jahr sollen Analysen zur Entwicklung der Drogenkriminalität im europäischen Bereich erarbeitet werden. Dazu wird dieses EDU in der Lage sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, um die Bekämpfung der Kriminalität wirkungsvoll durchzuführen, reicht ein europäisches Polizeiamt, wie es im Maastrichter Vertrag festgelegt worden ist, allerdings nicht aus. Der Austausch von Daten mag zwar die Strafverfolgung erleichtern, sichert jedoch nicht den Zugriff auf die Täter. Die Täter, die Kriminellen in Europa entziehen sich einer Festnahme mehr und
mehr durch Grenzübertritt, der durch die allgemeine Freizügigkeit in Europa mittlerweile unproblematisch ist, wie für jeden Bürger der Europäischen Gemeinschaft. Ich betone aber ausdrücklich: Der Grenzübertritt für Kriminelle ist unproblematisch. Ein Grenzübertritt für die den Kriminellen eventuell verfolgenden Polizeibeamte ist teilweise kritisch, in kritischen Einzelfällen fast unmöglich.
Das Thema der Nacheile — wir haben es in diesem Hause mehrfach diskutiert — muß in diesem Fall weitergetrieben werden. Es reicht nicht aus, wie es bisher im Schengener Vertrag geregelt ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der zweiten Hälfte des Jahres 1994 übernimmt die Bundesrepublik Deutschland die Präsidentschaft im Justiz- und Innenministerrat sowie die Ratspräsidentschaft. Hierauf sollten sich alle Beteiligten besonders intensiv vorbereiten, um der Vorreiterrolle im Bereich der Justiz- und der Innenpolitik, wie Bundeskanzler Helmut Kohl in den letzten Jahren in der Europäischen Gemeinschaft begründet hat, gerecht zu werden. Vorreiterrolle — das möchte ich betonen — meint hier nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland den anderen Unionsmitgliedern — ich meine die Mitglieder der Europäischen Union — seinen Willen aufzwingt. Es meint vielmehr, daß wir weiterhin auch die Befindlichkeiten in den Mitgliedstaaten zu bewerten haben, um im gemeinsamen Gespräch zu Ergebnissen im Konsens zu kommen.
Ich erwarte allerdings auch, daß die Mitgliedstaaten die existentiellen Bedürfnisse der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigen, z. B. bei dem Problemkreis Asyl und dem besonderen Problemkreis der Grenzsicherung unserer EG-Außengrenzen in den neuen Ländern Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Der kurze Abriß der Probleme, die ich hier dargestellt habe, zeigt, daß es ohne Zusammenarbeit auf europäischer Ebene einfach nicht geht. Mit der Einsetzung — dazu noch ein kurzer Satz — eines Ausschusses bar die Angelegenheiten der Europäischen Union kann und muß der Deutsche Bundestag eine Vorbildfunktion unter den europäischen Parlamenten übernehmen.
Gerade in dieser Woche war ich zu einer Anhörung des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments, wo die nationalen Parlamente über ihre Mitwirkungsrechte gegenüber der Regierung bei Fragen der Gesetzgebung der Europäischen Gemeinschaft berichtet haben. Ich habe festgestellt: Außer Dänemark sind wir dort weit, weit vorne.
Herr Abgeordneter, darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf das rote Licht richten?
Ja. — Ich bin am Schluß angelangt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17151
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Abschluß dieser Debatte noch einige Anmerkungen.
Erstens. Europa und nur Europa kann Deutschlands Zukunft sein. Das muß immer wieder gesagt werden angesichts der schleichenden Renationalisierung der deutschen Mitte.
Der bayerische Ministerpräsident Stoiber hat hierfür vor wenigen Wochen ein Beispiel gegeben. Die Gefahr ist nicht so sehr die deutsche extreme Rechte, auch wenn diese wohl insbesondere von solchen unbegreiflichen Dummheiten, wie sie erfahrene Westpolitiker in Sachsen-Anhalt begangen haben, weiter erheblich profitieren wird.
Die Gefahr ist vielmehr das Verlassen des gelebten Nachkriegskonsenses in Westdeutschland. Deutschland sollte nach diesem Konsens voll und ganz in Europa integriert werden. Die Nationalstaaten sollten in Europa aufgehen.
Dieser Konsens wird nun durch große und wohl weiter wachsende Teile der konservativen Mitte in diesem Lande verlassen.
Die Absage des Bundeskanzlers an die schleichende Renationalisierung in Deutschland ist zu begrüßen, wird durch die schleichende Renationalisierung in der Christdemokratie allerdings in Frage gestellt.
Zweitens. Die ökologische Modernisierung als Beschäftigungsstrategie wird auch notwendig, weil es eine Wachstumslösung für den Arbeitsmarkt nicht gibt. Die hochentwickelten industriellen Volkswirtschaften kennen so etwas wie den tendenziellen Fall der realen Wachstumsrate. In Deutschland liegt diese Wachstumsrate kaum mehr über dem Produktivitätsfortschritt. Konsequenzen müssen sein: Arbeitszeitverkürzung, Neuverteilung der Arbeit, Schaffung von Arbeitsplätzen in ökologisch und sozial sinnvollen Bereichen. Übrigens: Es gibt kaum etwas, was Ökologie- und Beschäftigungspolitik so zusammenbringt wie die Politik der Arbeitszeitverkürzung.
Wenn die Europäische Union die Explosion der Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen will, muß sie ihre Industriepolitik noch ausbauen, diese Industriepolitik, die es ja gibt.
Die Bundesregierung wäre also gut beraten, sich schon aus diesem Grund schnell mit dem Entwurf einer eigenen Industriepolitik vertraut zu machen.
Drittens. Der Europäische Binnenmarkt und auch die Liberalisierung der Handelsbeziehungen im Rahmen des GATT bringen „economies of scale" durch Konzentration der Produktion und durch die Nutzung komparativer Kostenvorteile. Dies geht zu Lasten bestimmter Beschäftigungsbereiche — der Druck auf die Beschäftigung in Europa wird noch weiter zunehmen.
Keine Frage: Eine europäische Beschäftigungsoffensive ist überfällig. Allerdings lastet Deutschland — insbesondere durch seine Währungspolitik — wie Packeis auf den beschäftigungsexpansiven Bestrebungen in anderen Ländern der Europäischen Union. Um das zu erkennen, braucht man sich doch nur einmal quer durch den europäischen Blätterwald durchzulesen.
Viertens. Die Europäische Union fördert moderne Technologien, verdienstvoll, energisch — zumindest an einigen Punkten — und doch zugleich differenziert. Diese Bundesregierung kürzt jedoch ausgerechnet in den Zukunftsetats von BMFT und BMBW. Europa geht aber auch in der Forschung etwas differenzierter vor. Die Praxis der Technologiefolgenabschätzung — etwa im Rahmen des FAST-Programms der EG — ist in Europa wesentlich weiter entwickelt als in der Bundesrepublik, wo diese Koalitionsparteien der Technologiefolgenabschätzung in der vorigen Legislaturperiode eine Beerdigung erster Klasse bereitet haben.
Dennoch: Das Vorantreiben der High-Tech-Dominanz Europas plündert zwangsläufig die Dritte Welt noch weiter aus. Die armen Länder im Süden dieses Planeten müssen im Austausch für unsere HighTech-Produkte immer größere Teile ihrer natürlichen Reichtümer und ihrer sowieso schwach entwickelten Arbeitsproduktivität an uns, an die reiche Welt, liefern.
Die Strategie der ökologischen Modernisierung ist richtig. Sie muß aber um eine strukturelle Modernisierung bestimmter Bereiche der europäischen Wirtschaft im Hinblick auf die Förderung nachhaltiger Entwicklung in der Dritten Welt ergänzt werden. Auch das kann Arbeitsplätze schaffen. Auch das setzt allerdings in diesem Land Industriepolitik voraus.
Fünftens. Ein ganz anderer Punkt: Europa braucht eine gemeinsame Sprache, nicht nur eine gemeinsame politische Sprache, einen Konsens oder so etwas. Sie braucht auch eine gemeinsame Verwaltungs- und Kultursprache.
Das Deutsche, die deutsche Sprache, scheidet hierfür aus. Es gibt nach wie vor viele berechtigte und zu respektierende Widerstände in größeren Teilen Westeuropas gegen das Deutsche, gegen die deutsche Sprache. Das müssen wir einfach hinnehmen.
Durch die barbarische NS-Zeit ist Deutsch eben eine zweitrangige Sprache geworden, die z. B. kaum noch offizielle Sprache in internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften ist — damit haben wir uns abzufinden, das haben wir uns selbst zuzuschreiben.
Im übrigen dürfen wir nicht vergessen, daß die internationale Bedeutungslosigkeit des Deutschen auch darauf zurückzuführen ist, daß in der großen Zeit Deutschlands einer der hauptsächlichen Träger der deutschen Sprache und der deutschen Kultur, nämlich das europäische Judentum, durch die Deutschen ausgerottet worden ist.
Ich möchte daher anregen, zu prüfen, ob etwa das Französische zur Lingua franca, zu einer solchen Verwaltungs- und Kultursprache in Europa werden kann. Das Französische war das schon jahrhundertelang in den europäischen Oberschichten. Wer „Krieg und Frieden", den großen Roman Tolstois aus der Welt
17152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Dr. Ulrich Briefs
des russischen Adels, gelesen hat, weiß, daß er zu größeren Teilen in Französisch verfaßt ist.
Französisch wird in über 40 Ländern der Welt als offizielle Sprache gesprochen. Der uns am nächsten liegende Teil der sogenannten Dritten Welt, Nordafrika, spricht und schreibt Französisch. Daß das aus der kolonialen Vergangenheit übernommen worden ist, spielt natürlich auch eine Rolle. Ich weiß auch, was in den arabischen Ländern getan wird, um das Arabische wieder im Rahmen der ta'riib zur praktizierten offiziellen Sprache zu machen. Aber das Französische ist eine dort gesprochene und praktizierte Sprache, gerade Kultursprache. Das können wir in diesem Zusammenhang, denke ich, ebenfalls nutzen.
Der letzte Punkt. Vor allem aber könnte ein Pflichtprogramm zum Erlernen der französischen Sprache für deutsche Politiker und Beamte diesen vielleicht sogar etwas vermitteln, was allzu oft in Deutschland und in der deutschen Geschichte gefehlt hat, nämlich Sensibilität, Offenheit, Großzügigkeit, kurzum: so etwas wie westeuropäische wohlverstandene Liberalität.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Rudolf Karl Krause das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine deutsche Europapolitik muß den berechtigten Interessen Deutschlands untergeordnet sein und darf nicht zu Lasten ganzer deutscher Bevölkerungsteile gehen.
Es sind hier vom Kollegen Mosdorf italienische Verhältnisse befürchtet worden. Die Regierungskriminalität in Magdeburg zeigt, daß wir schon tief in italienischen Verhältnissen stecken. Denn ein Vorsitzender der Sozialausschüsse einer sehr großen Partei in diesem Lande, der die Gehälter seiner Mitarbeiter in eigenes ruhestandsfähiges Gehalt umwandelt — das sind in der Tat italienische Verhältnisse.
—Ja, „Pfui" muß man demjenigen sagen, der so etwas macht.
Der Bericht der Bundesregierung ist in der Tat von einer, wie ich meine, schönfärberischen Einseitigkeit und geht an drei signifikanten Ergebnissen der bisherigen Politik, auch der Europapolitik, vorbei.
Erstens. Der weitere Anstieg der Arbeitslosenzahlen in Deutschland auf real etwa 6 bis 8 Millionen korrespondiert mit den mindestens 17 Millionen Arbeitslosen in Europa. Man kann also sagen: Gemeinsamer Markt ist auch gemeinsame Arbeitslosigkeit geworden.
Zweitens. Es ist eine Kriminalitätsexplosion zu verzeichnen, insbesondere durch die Migration der Kriminellen— das ist ja heute schon gesagt worden—; ich möchte hinzusetzen: natürlich auch durch den Import krimineller Ideologien und Lebensweisen, wie
z. B. der Straßengewalt in den Medien und auf den Straßen Europas sowie die Pornographie.
Drittens. Zur Staatsverschuldung: Wir haben in den Haushaltsdebatten der letzten Wochen keinerlei Konzeption gehört, wie der Staat konkret wieder aus den roten Zahlen herauskommen will. Es gibt keine realistische Konzeption, wie in den nächsten 10 oder 20 Jahren bei steigender Arbeitslosigkeit der Sozialstaat noch finanzierbar sein soll.
Lassen Sie mich bitte aber noch zu einem Einzelthema sprechen. Deutsche Europapolitik darf nicht nur Gewinne für Freihändler und für das organisierte Verbrechen zum Ziel haben, sondern muß auch zuerst an alle Deutschen auf diesem Kontinent und in der Welt denken und für sie sorgen.
Gestern und heute sind hier im Bundeshaus Heimatvertriebene und Auslandsdeutsche zu Besuch gewesen, die, als Reichsdeutsche in Ostpreußen geboren, mitansehen mußten, wie durch die furchtbaren barbarischen Verbrechen der roten Soldateska ihre Mütter und ihre Geschwister umgebracht wurden, und die ihre Väter nie wiedergesehen haben. Sie haben sich als sogenannte „Wolfskinder", jetzt auch „Edelweißkinder" genannt, in Litauen, in Weißrußland und anderswo durchgebettelt. Sie haben nie eine Schule besucht. Auch sie sind Europäer, auch sie sind Deutsche.
Das Bundesverwaltungsamt verweigert ihnen unter Vorwänden die Einbürgerung in Deutschland, weil — ich zitiere — ihnen keine Eltern, kein Elternteil oder andere Verwandte bestätigende Merkmale wie Sprache, Erziehung und Kultur vermittelt haben. Desweiteren heißt es: Die Prägung, die vom Vertriebenengesetz gefordert wird, zeigt sich insbesondere darin, daß das Kind selbst die Bestätigungsmerkmale Sprache und Kultur aufweist. Weiter wird ausgeführt: Dies ist nach den getroffenen Feststellungen bei einem Antragsteller gerade nicht der Fall. Der Antrag wird deshalb abgelehnt. Ein anderer Fall: Weil diejenigen, die zehn Jahre lang bettelnd hinter dem Eisernen Vorhang vagabundieren mußten, die geforderten Unterlagen nicht mehr haben, wird es abgelehnt, ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft wiederzugeben. Unterschrieben ist das Ganze von einem Herrn Hilbertz vom Bundesverwaltungsamt.
Ich sage: Auch sie sind Europäer, auch sie sind Deutsche. Sie haben vorhin hier eine Stunde gesessen und haben nur den Kopf darüber geschüttelt, was alles an Ausbildung und an Freizügigkeit überall in Europa möglich ist. Aber sie selbst dürfen nicht einmal zurück ins eigene Vaterland.
Das ist eine Europapolitik, die sich ganz schnell ändern muß. Hier sind wir im Bundestag gesetzgeberisch gefragt, weil das Bundesvertriebenengesetz für diese Menschen, für diese unsere deutschen Brüder und Schwestern, nicht zuständig ist, weil sie einfach vergessen und ausgegliedert sind.
Vor einer weiteren Integration des gemeinsamen europäischen Marktes muß es Aufgabe deutscher Politik sein, sich um die Menschen zu kümmern, die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17153
Dr. Rudolf Karl Krause
als deutsche Staatsbürger geboren sind. Nach ihrer grauenhaften Kindheit und Jugend, nach einem angsterfüllten und dürftigen Leben müssen sie wenigstens einen sicheren Lebensabend im deutschen Vaterhaus oder, wenn sie es wollen, in ihrer Heimatstadt Königsberg erhalten.
Deutschland muß die Heimat aller Deutschen bleiben. Das hat für mich Vorrang vor jeder anderen Europapolitik.
Ich schöpfe meine Redezeit der späten Stunde wegen nicht aus.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag! Meine Damen und Herren! Die Botschaft des deutschen Kanzlers an diesem Vormittag lautete zusammengefaßt: Der Karren ist tief im Dreck; mir fällt nichts mehr dazu ein;
wem etwas dazu einfällt, der möge sich bitte bei mir melden.
Aber der Wolfgang Schäuble meint, alle setzten ihre Hoffnung auf diesen Kanzler.
Ich kann nur sagen: Wenn das Fundament der deutschen Politik Ideenlosigkeit, Planlosigkeit, Konzeptlosigkeit sein soll, dann kann das Fazit nur lauten: Armes Deutschland.
Der Bundeskanzler spricht über den letzten Brüsseler Gipfel und über den zukünftigen. Aber er läßt die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts völlig außen vor, das ihm nämlich sehr genau sagt, was die deutsche politische Führung vortragen darf und was nicht.
Dieser Bundestag hat vom Bundesverfassungsgericht den Auftrag bekommen, auch in Zukunft die Kontrolle darüber auszuüben, daß die deutschen Interessen weiterhin in Europa gewahrt bleiben.
Diese Entscheidung ist der letzte Anker, der uns davor bewahrt, daß das deutsche Schiff in einem Strudel europäischer Wirren, die uns nicht mehr Einfluß auf die Politik nehmen lassen, verschwindet. Diesen Auftrag muß dieses Parlament bejahen.
Das bedeutet auch, daß die Europäische Gemeinschaft endlich auf den Prüfstand muß. Es kann nicht wahr sein — ich wiederhole das so lange, bis wir darüber neu debattiert haben —, daß wir aus der europäischen Kasse 27 Milliarden DM Strukturmittel für die neuen Bundesländer hereinbekommen, aber nur deshalb, weil wir in die Europäische Gemeinschaft 93,3 Milliarden DM in den gleichen Topf einbezahlen.
Es kann nicht sein, daß ein riesiger Adhäsions- und Strukturfonds mit höchster deutscher Beteiligung aufgebaut wird, ohne daß wir ein einziges Wort mitreden können, was damit passiert.
Es kann nicht wahr sein, daß ein Herr Delors einen Haushaltsvorschlag für die Europäische Gemeinschaft unterbreitet, der in Zukunft bedeuten würde, daß der deutsche Finanzbeitrag nicht bei 36,6 Milliarden DM wie heute, sondern dann bei über 100 Milliarden DM liegen wird.
Es kann nicht wahr sein, daß die deutsche Landwirtschaft vor die Hunde geht, weil wir nicht in der Lage sind, den europäischen Zentralismus dort, wo er sich als immenser Schaden für alle herausstellt, besonders für die deutschen Landwirte, wenigstens in Teilen abzubauen.
Herr Abgeordneter Lowack, der Abgeordnete Irmer bittet um Beantwortung einer Zwischenfrage.
Meine Kollegen haben mich vorhin gebeten, mich kurz zu fassen. Ich bitte deswegen, lieber Uli, die Rede nicht zu unterbrechen.
Ich bin Ihnen nicht böse.
Es kann nicht wahr sein, daß der Bundeskanzler hier das Trostpflaster einer Europäischen Zentralbank mit Sitz in Frankfurt beschwört, wenn die Deutsche Bundesbank ohnehin längst die Funktionen einer Europäischen Zentralbank hat, wenn vor allen Dingen diese Entscheidung für Frankfurt nur vor dem Hintergrund erklärbar ist, daß wir von den deutschen Devisenreserven über 40 Milliarden in die Sache einbringen und sie damit der Disposition deutscher Politik entziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wolkige, euphorische Erklärungen zu Europa helfen nichts. Wir müssen uns mit den Tatsachen und den Auswirkungen, besonders auch bei uns in Deutschland, befassen.
Vorhin wurde auch das GATT erwähnt. Natürlich haben wir ein primäres Interesse an dem GATT und an dem schnellen Abschluß. Aber die falsche Nibelungentreue gegenüber Frankreich hat uns bis jetzt schon unendlich geschadet. Die Reaktion der Vereinigten Staaten von Amerika mit der APEC, jetzt eine neue riesige Wirtschaftszone mit über zwei Milliarden Menschen gegenüber Europa zu favorisieren, müßte längst ein Warnzeichen für die deutsche Politik sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf Dauer ist es unerträglich, wenn uns immer vorgehalten wird, wir Deutschen profitierten ja von der Europäischen Gemeinschaft am meisten. Hat denn die Bundesregierung vergessen, daß die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde mit der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Benelux und Italien, d. h. mit zwei wichtigen Ländern, daß wir also an dem Aufbau überhaupt einen entscheidenden Anteil hatten und mit unseren Steuermitteln entscheidend dazu beigetragen haben, daß diese Gemeinschaft überhaupt erst aufgebaut werden konnte und ausbaufähig
17154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Ortwin Lowack
wurde? Wir haben uns nicht vorzuhalten, daß durch die Leistungen der deutschen Betriebe so viel erarbeitet werden konnte. Und der Abbau von Handelsbeschränkungen und Zöllen ist im Prinzip doch das Natürlichste auf der Welt. Hier hat sich doch die Europäische Gemeinschaft nicht besonders hervorgetan. Sie hat sich zu einer Protektionsgemeinschaft entwickelt, die uns langfristig schon schadet, weil wir uns von den Weltmärkten teilweise abgeschottet haben.
Nein, diese Bundesregierung ist, wenn ich das werte, was heute früh gesagt wurde, politisch am Ende, und die Antwort muß aus der Mitte, sie muß aus den Herzen unserer Menschen, unserer Bevölkerung kommen, und sie wird kommen.
Zu einer kurzen Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Ulrich Irmer das Wort.
Meine lieben Kollegen, ich bitte um Verständnis dafür. Ich will Ihre Geduld nicht strapazieren; aber ich würde es für unerträglich halten, wenn diese Debatte mit diesem Mißklang, den Herr Lowack eben hier hereingebracht hat, enden sollte.
Hier ist wieder das alte Märchen aufgetischt worden, wir seien der Zahlmeister der Europäischen Union. Wissen Sie, Herr Lowack, das ist genauso, wie wenn der Bürgermeister einer Fremdenverkehrsgemeinde sagen würde, wir stellen bei uns den Fremdenverkehr ein, denn wir zahlen drauf, indem das, was wir an Kurtaxe einnehmen, bei weitem nicht die Beträge erreicht, die wir für Fremdenverkehrswerbung ausgeben. Diese rein fiskalische Betrachtung ist völlig weltfremd, völlig lebensfremd. Man muß sehen, was an gesamtwirtschaftlichen Vorteilen die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union jedem einzelnen hier bei uns bringt.
Vielen Dank.
Nun,
meine Damen und Herren, liegen mir für die Debatte keine weiteren Wortmeldungen vor.
Ich möchte zunächst einmal das Haus davon unterrichten, daß der Abgeordnete Wolfgang Schulhoff nach § 31 unserer Geschäftsordnung eine Erklärung abgegeben hat, die ich zu Protokoll genommen habe * ).
Dem Abgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff habe ich versprochen, das Plenum zu fragen, ob es damit einverstanden ist, daß seine Rede zu Protokoll gegeben wird. — Herr Abgeordneter Dr. Küster, Sie haben sich gemeldet. Bitte, Sie haben das Wort.
Herr Präsident, ich widerspreche, daß diese Rede zu Protokoll genommen wird. Sie wissen, daß die Redezeit der CDU/CSU-Fraktion erschöpft ist. Auf diese Art und Weise wird die vereinbarte Redezeit ausgedehnt. Es ist nicht verein-
*) Anlage 3
bart mit mir, mit der Fraktion; insofern weise ich das zurück.
Damit ist es nicht möglich, die Rede zu Protokoll zu nehmen; denn wenn eine Fraktion widerspricht, kann ich von der Geschäftsordnung nicht abweichen. Ich bedaure das, weil ich in einer gewissen Zusage gegenüber dem Abgeordneten war.
Wir kommen nunmehr zu den Abstimmungen. Wir stimmen ab über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/6289. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! Wer stimmt dagegen? —Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Dr. Krause ist der Entschließungsantrag gegen die Stimmen der SPD und mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Ich lasse nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6287 abstimmen. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt worden.
Tagesordnungspunkt 15 c: Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zur Entschließung des Europäischen Parlaments zum einheitlichen Wahlverfahren, Drucksachen 12/4703 und 12/5753. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist sie einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 d: Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zum 51. Bericht der Bundesregierung über die Integration in die Europäischen Gemeinschaften, Drucksachen 12/4678 und 12/5757. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 e: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu Vorschlägen der EG im Bereich der Forschung, Drucksachen 12/5457 und 12/6213. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Dagegen? — Enthaltungen? — Darm ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der CDU/ CSU, F.D.P. und SPD bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und gegen die Stimme der PDS/Linke Liste angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 f: Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/ Linke Liste zur Änderung des Europawahlgesetzes auf Drucksache 12/6115 zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Rechtsausschuß und den EG-Ausschuß. Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das beschlossen.
Tagesordnungspunkt 15 g und 15h: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD zur
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17155
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Einsetzung eines Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union, Drucksachen 12/6283 und 12/6036, zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, Rechtsausschuß, EG-Ausschuß und an den Finanzausschuß. Gibt es weitere Vorschläge? — Sie werden offensichtlich nicht gemacht. Dann ist das so beschlossen.
Zusatzpunkt 5: Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zur Entschließung des Europäischen Parlaments zur Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips, Drucksachen 12/4054 und 12/6256. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist sie gegen die PDS/Linke Liste mit SPD-, CDU/CSU- und F.D.P.-Stimmen angenommen.
Zusatzpunkt 6: Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zu Entschließungen des Europäischen Parlaments zum freien Personenverkehr, Drucksachen 12/5173, 12/5534 und 12/6257. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Dagegen? — Enthaltungen? — Darm ist diese Beschlußempfehlung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie Zusatzpunkt 5 angenommen worden.
Zusatzpunkt 7: Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zum Arbeitsprogramm der EG für die Jahre 1993 und 1994, Drucksache 12/6258. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Mit den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen des restlichen Hauses ist sie angenommen.
Zusatzpunkt 8: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu einem Vorschlag der EG zur Gewährung einer Bürgschaft an die Europäische Investitionsbank für ein Darlehen an Albanien, Drucksache 12/6259. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer enthält sich? — Dagegen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen worden.
Zusatzpunkt 9: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zur Entschließung des Europäischen Parlaments zum Zahlungsverkehr im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion, Drucksachen 12/4505 und 12/6260. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und gegen die Stimmen des Abgeordneten Dr. Krause und der Abgeordneten der PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Zusatzpunkt 10: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zum Europäischen Investitionsfonds, Drucksache 12/6261. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie Zusatzpunkt 9 angenommen worden.
Zusatzpunkt 11: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu einer Mitteilung und einem Vorschlag der EG zur Intervention und Garantieleistung der Europäischen Investitionsbank, Drucksache 12/6265. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der PDS/Linke Liste und des Abgeordneten Dr. Krause ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Zusatzpunkt 12: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/6282 — das ist der Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Forderung an die künftige Europapolitik — an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Haushaltsausschuß vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Zusatzpunkt 15: Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Forderungen an die künftige Europapolitik, Drucksache 12/6335, ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 12/6106 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Dezember 1993 um 13 Uhr ein.
Ich möchte es aber nicht versäumen, mich bei all denjenigen herzlich zu bedanken, die die Geduld gehabt haben, auch die letzten Abstimmungen zu ertragen. Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.