Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehen Sie, Sie unterliegen wieder dem Fehler, daß Sie unter Lohnnebenkosten nur die Abgaben der Arbeitgeber verstehen. Sie sollten endlich begreifen, daß die Arbeitnehmer auch etwas zu den Lohnnebenkosten beitragen.
Wenn Sie zwei Feiertage ins Gespräch bringen, dann habe ich manchmal den Eindruck, es gibt für Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht, weil Sie sich gar nicht vorstellen können, daß dies Beiträge der Arbeitnehmerschaft sind, über die Sie ausschließlich reden.
Oder meinen Sie etwa, die Arbeitnehmer verzichten auf die Feiertage? — Ich bitte um Entschuldigung, aber ich muß jetzt fortfahren, da die Zeit knapp ist.
Der dritte Punkt, den die Kommission vorschlägt, ist der, Maßnahmen zu finden, um die Arbeit gerechter zu verteilen. Sie haben lange Zeit aus ideologischen Gründen eine gerechtere Verteilung der Arbeit in diesem Lande blockiert. Sie zeigen sich nach wie vor unbeweglich, wenn es darum geht, alle Maßnahmen anzugehen, die möglich sind, um die Arbeit gerechter zu verteilen und um insbesondere mehr Teilzeitarbeitsplätze anzubieten. Das hat erhebliche Folgen beispielsweise für die Gestaltung des Steuersystems und der sozialen Sicherungssysteme.
Aber wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten weit hinter diesen zurückhinken, was das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen angeht, dann ist das kein Ausweis von Flexibilität, sondern ein Ausweis von ideologischer Verkrustung, die in erster Linie zu Ihren Lasten geht.
Ich füge im übrigen hinzu, meine Damen und Herren, daß dieses Thema der Teilzeitarbeitsplätze und der gerechten Verteilung der Arbeit auch ein Thema der Familien ist, wenn man sich zu einem Familienverständnis durchringen kann, in dem auch die Frauen einen Zugang zum Erwerbsleben haben müssen.
Die Kommission schlägt vor, die Forschungsausgaben in der Kommission auf europäischer Ebene zu verbessern. Wir haben dies hier auch angesprochen, verehrter Herr Bundeskanzler, aber bisher ist nichts geschehen. Ich habe mich vorhin wieder bei den zuständigen Haushaltsreferenten erkundigt.
Sie haben hier zwar ein Einsehen, aber offensichtlich folgen den Ankündigungen keine Taten. Es ist nicht zu akzeptieren, daß wir hier mit schlechtem Beispiel vorangehen und die Forschungsausgaben systematisch zurückfahren, obwohl sich eine Industrienation das nicht leisten kann.
Die Kommission schlägt den Ausbau der Infrastruktur vor. Sie haben auch gesagt: Wir sind dafür. Die Frage ist nur, wie wir die Projekte finanzieren.
Die Kommission engagiert sich für eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik, für eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik. Diese ist in der gegenwärtigen Situation unvermeidlich.
Dies wirft die Frage auf, wie denn im Dreiklang des Zusammenwirkens von Tarifparteien, der Finanzpolitik der öffentlichen Hand und der Geldpolitik der Bundesbank die einzelnen ihre Hausaufgaben machen.
Meine Damen und Herren! Was ich hier anmerken muß, ist folgendes: Zumindest seit 1993 werden bei der Lohnpolitik erhebliche Anstrengungen unternommen, um Verträge nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Europäischen Gemeinschaft beschäftigungsorientiert abzuschließen.
— Dies mag zu spät sein, und es mag auch durchaus die Frage zu stellen sein, ob die Abschlüsse 1992 vernünftig waren. Aber ehe Sie, meine Damen und Herren, ,.zu spät" dazwischenrufen, muß die Frage aufgeworfen werden, ob Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben und ob die Bundesbank im Zusammenwirken mit der Finanzpolitik auf europäischer Ebene die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Dies sind die Kernfragen der Europäischen Gemeinschaft.
Sie sind — für mich unfaßbar — elegant an dem Thema vorbeigegangen, wie es ist um die Politik der Bundesbank, die Auswirkungen auf die Zentralbanken der europäischen Mitgliedstaaten und den Zusammenhalt Europas.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17121
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Hier stellt sich die Frage, was Sie tun können, um hier zu einer besseren Abstimmung zu kommen.
— Richtig, weniger Schulden. Sie haben ein gutes Stichwort gegeben. Aber hier sind Sie Gefangener Ihrer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Sie haben die Einheit völlig falsch finanziert, indem Sie sich zunächst um einige tausend Milliarden verschätzt haben und dann auf den Kreditmarkt gegangen sind. Dies ist, über zehn Jahre gerechnet, Ihr Verschätzen. Sie sind dann in unzulässiger Weise auf den Kreditmarkt gegangen. Sie haben die Bundesbank gezwungen, gegenzusteuern, die dann wie üblich zu lange auf der Bremse geblieben ist. Sie haben damit dazu beigetragen und die Voraussetzung dafür geschaffen, daß das Europäische Währungssystem in die Luft geflogen ist.
Dies ist Ihr Beitrag zur europäischen Integration. Wenn Sie die ökonomischen Zusammenhänge nicht begreifen, dann ist das schlimm für Europa. Wenn Sie den Anteil unserer Verschuldung und die Reaktion der Bundesbank auf das Auseinanderdriften des Europäischen Währungssystems nicht begriffen haben, dann ist das ganz schlimm für Europa. Wenn Sie, meine Damen und Herren, immer noch nicht wissen, wie die Geldpolitik der Bundesbank in den Mitgliedstaaten bewertet wird, dann ist das ebenfalls schlimm für Europa.
Deshalb liegt hier, bei uns, der zentrale Ansatz für das Fortschreiten der europäischen Integration: Wie schaffen wir es, daß Haushalts- und Geldpolitik im Bund wieder zusammenkommen? Dies ist die entscheidende Frage.
Dabei geht es auch darum, daß wir uns über die Größenordnung des strukturellen Haushaltsdefizits Klarheit verschaffen. Dies liegt nämlich nicht bei 20 Milliarden DM, die man ein bißchen zu den Gemeinden verschieben kann. Ich will dies sagen, damit kein Zweifel besteht: Das strukturelle Defizit liegt eher bei 100 Milliarden DM als bei 20 Milliarden DM. Das ist das Problem, das wir haben, wenn wir wieder ernsthaft darüber reden wollen, wie wir zu einer stärkeren Integration der Europäischen Gemeinschaft beitragen wollen. Dabei müssen wir größere Anstrengungen unternehmen als die, die gegenwärtig gemacht worden sind.
Deshalb kann Ihre gegenwärtige Haushaltspolitik nicht fortgesetzt werden. Sie besteht, was die Einnahmenseite angeht, darin, mit Verbrauchsteuern die Bezieher kleinerer Einkommen ungleichgewichtig zu belasten. Sie besteht, was die Kürzung angeht, in der alleinigen Belastung der Bezieher kleiner Einkommen und entzieht damit einer vernünftigen Haushaltspolitik, die auf gesellschaftlichem Konsens beruhen
muß, die Grundlage. Dies ist Ihr Fehler, meine Damen und Herren.
Daher werden wir hier nur eine Wende schaffen, wenn tatsächlich zusätzliche erhebliche Anstrengungen auf der Einnahmenseite unternommen werden.
Wir haben ein strukturelles Haushaltsdefizit von etwa 100 Milliarden DM. Sie werden Geld- und Finanzpolitik nur dann wieder zusammenbekommen, wenn Sie entsprechende Entscheidungen treffen. Die Entscheidungen müssen zur Voraussetzung haben, daß die soziale Symmetrie stimmt. Deshalb schlagen wir vor, höhere Einkommen und Vermögen stärker zu besteuern und, wenn die Konjunktur wieder anspringt, die konsumtiven Ausgaben des Staates zu beschneiden, meine Damen und Herren.
Beides zusammen gibt einen Sinn, eines allein macht keinen Sinn.
Ich will Ihnen, weil Sie jetzt so erregt sind, etwas aus einer Fachzeitschrift vorlesen. In „Der deutsche Ökonomist" schrieb Ludwig Erhard bereits 1932:
Nicht so sehr das Deckungsprinzip als die Art der Kreditverwendung entscheidet über die wirtschafts- und währungspolitische Unbedenklichkeit eines solchen Verfahrens.
In dieser Fachzeitschrift wird fortgefahren: Die gegenwärtige Verschuldungspolitik — Ihre Politik ist gemeint —
seiner Nachfolger kann sich also ausdrücklich nicht auf ihn berufen; denn sie dient defensiven Ausgaben einer konsumtiven Verwendung, folgt mithin dem nicht durchhaltbaren Modell der Finanzierung des Urlaubs mittels Überziehungskredit.
Meine Damen und Herren, der strukturelle Fehler, den wir seit 1990 festzustellen haben, daß die Kreditaufnahme in erster Linie der konsumtiven Verwendung dient, muß beseitigt werden.
Wir haben im übrigen in der Europäischen Gemeinschaft ein Ungleichgewicht, was die Ersparnisse und die Investitionen angeht. Wenn Herr Waigel hier wäre, könnte ich etwas zu der Besteuerung von Kapitaleinkünften und dem schweren Fehler sagen, der gemacht worden ist, indem man vor einigen Jahren die Chance dazu verspielt hat, eine Chance, die hoffentlich wiederkommt; denn ohne gleichmä-
17122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Bige Besteuerung der Kapitaleinkünfte sind wichtige Voraussetzungen, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen, nicht zu leisten.
Ich plädiere hier also dafür, meine Damen und Herren, in Abstimmung mit der Bundesbank eine mittelfristige Strategie zu entwickeln, die wirklich geeignet ist, das aufzugreifen, was auch im DelorsBericht angesprochen worden ist, nämlich das Ungleichgewicht von zurückgehenden Investitionen und durchaus beachtlichen Ersparnissen zu beseitigen. Das ist Beschäftigungspolitik ersten Ranges. Wenn wir dieses Ungleichgewicht nicht beseitigen, werden wir trotz vielfältiger Reden und wohlfeiler Worte keine Chance haben, die Beschäftigungsprobleme einigermaßen zu lindern. Ich formuliere es bewußt so. Daher kommt es darauf an, daß die Haushaltspolitik im Zusammenwirken mit der Geldpolitik ein deutliches Signal an die Investoren gibt. Das geht nicht mit einigen Trippelschritten, und das geht auch nicht mit der selbstgefälligen Bemerkung: Wir entscheiden hier in erster Linie, was unsere Interessen angeht; wir haben die Stabilität der D-Mark im Auge, und das ist das oberste Gebot.
Meine Damen und Herren, wir sind nun einmal in einer besonderen Verantwortung. Wir entscheiden mit unserer Geldpolitik auch über die Geldpolitik aller übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben, ohne uns darüber ausreichend Klarheit zu verschaffen, durch unsere Verschuldung und durch die konsumtive Verwendung der Kredite in großem Umfang auch über die konjunkturellen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft entschieden. Daher — um das scherzhaft zu formulieren —: Es muß endlich Klarheit darüber bestehen, daß in den letzten Jahren nicht so sehr Herr Kinkel oder Herr Rühe die Aufgaben des Außenministers wahrgenommen haben oder gar Sie persönlich, Herr Bundeskanzler,
sondern im wesentlichen war es die Bundesbank, die die Aufgaben der deutschen Außenpolitik gestaltet hat, aber ganz entscheidend in eine Richtung, wie sie für Europa nicht erträglich war, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich würde Ihnen einmal empfehlen, sich umzuhören. Herr Bundeskanzler, Ihnen kann ich das weniger empfehlen, weil Sie, wenn Sie Ihre festlichen Besuche in den europäischen Hauptstädten machen, Freundliches hören. Aber ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal umzuhören, wenn es nicht offiziell zugeht. Dann würden Sie feststellen, daß genau dieser Zusammenhang Ihrer Überschuldung, Ihrer kreditfinanzierten Konsumbefriedigung und der daraus resultierenden Geldpolitik das entscheidende Problem in
Gesamteuropa ist und die europäische Integration in großem Umfang erschwert.
Im übrigen, meine Damen und Herren, wenn wir schon über die Zins- und Geldpolitik reden, dann genügt mittlerweile auch nicht mehr der Hinweis auf die Verbraucherpreise. Es muß auf die Erzeugerpreise und die Renditeerwartungen der Unternehmen stärker geachtet werden, da besteht nämlich ein gewisser Zusammenhang. Mittlerweile ist klar, daß nur, wenn die Spanne zwischen Erzeugerpreisen und Realzins einigermaßen befriedigend ist, das notwendige Signal für die Investoren gesetzt wird. Wenn dies nicht eintritt, wenn es mit Trippelschritten weiter geht, dann wird es eben nicht zu einer Belebung der Investitionen kommen, und das Rad dreht sich immer stärker in die falsche Richtung.
Im übrigen hat die Europäische Gemeinschaft, d. h. das Weißbuch, die Kommission, in der Sie vertreten sind, auch für mehr Steuergerechtigkeit und für mehr soziale Gerechtigkeit plädiert. Wenn es vielleicht auch da oder dort unangenehm klingt und wenn Sie auch zu Recht auf Widersprüche bei den Haushaltsentscheidungen da oder dort hinweisen können, muß eines klar sein: Wir können uns eine Explosion der Verschuldung, wie sie gegenwärtig stattfindet, nicht weiter leisten, wenn wir die europäische Einigung nicht immer weiter gefährden wollen.
Wir müssen weitaus stärkere Anstrengungen unternehmen, um den Anstieg der Staatsverschuldung zu begrenzen. Wir werden keinen Erfolg haben, wenn Sie nachher wieder meinen, Sie seien auf dem richtigen Weg, und wenn wir glauben, wir könnten dieses Problem beim Fortbestehen der sozialen Schieflage lösen. Deshalb war es richtig, daß im Weißbuch darauf hingewiesen wurde, daß es in Europa auch um die Verteidigung des Sozialstaates geht; denn ohne Sozialstaat gibt es keine wirkliche Demokratie.