Rede von
Siegmar
Mosdorf
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Hellwig, Sie haben in Ihrem Wahlkreis in Ludwigsburg die Sorge vieler Maschinenbauarbeiter, die sehr viel leisten, die aber jetzt auf Grund der besonderen Situation der Weltwirtschaft und der Versäumnisse auch bei uns von heute auf morgen arbeitslos werden. Diese Menschen haben — das müssen Sie immer mit bedenken, wenn Sie sich so äußern — nicht nur ihr Leben lang gearbeitet, sondern auch in die Bundesanstalt für Arbeit eingezahlt. Das ist ein Leistungsgesetz, das auf Versicherungsbasis beruht. Das heißt, daß man auf das, was man eingezahlt hat, einen Anspruch erwirbt. Den können Sie nicht auf Teilzeitbeschäftigung heruntersetzen.
Ich muß Ihnen sagen, Frau Hellwig — ich kenne Sie seit einigen Jahren —, daß ich sehr erschrocken bin über die Art und Weise, wie Sie in einer Europadebatte mit Menschen umgehen, die etwas leisten wollen, wie Sie die einfach abschieben und wie Nummern behandeln und denen sagen: Dann machen wir daraus Teilzeitbeschäftigte oder noch weniger. Wir beide haben — Sie in Ludwigsburg und ich in Esslingen — ähnliche Probleme: in der Elektrotechnik, im Maschinenbau und in der Automobilindustrie. Sie haben Gott sei Dank Unternehmen wie Leibinger und Triumph, die noch erfolgreich sind. Aber wir haben auch eine ganze Reihe von Unternehmen, die Sorgen haben. Daher können wir mit den Menschen so nicht umspringen. Damit vertiefen wir nur den Verdruß, lösen aber nicht die Probleme.
Meine Damen und Herren, ich habe ohnehin das Gefühl, daß wir heute in der Europadebatte nicht erkennen, daß Europa eigentlich vor einer neuen Entwicklungsphase steht. Nach der Eurosklerose in der ersten Hälfte der 80er Jahre haben wir mit der Präsidentschaft von Jacques Delors und mit dem Cecchini-Bericht in der europäischen Binnenmarktentwicklung einen wichtigen Zwischenspurt eingelegt. Ich begrüße das ausdrücklich. Diese Präsidentschaft hat uns sehr weit vorangebracht.
Aber die Siegerehrung, die jetzt sozusagen mit dem Abschluß der Maastrichter Verträge stattgefunden hat, findet in einer Zeit statt, in der Europa vor völlig neuen Herausforderungen steht, die wir alle noch nicht richtig wahrgenommen haben. Die bisherige Konzeption in Europa wurde in einer Zeit entwickelt,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17145
Siegmar Mosdorf
als wir noch in einer bipolaren Welt gelebt haben. Wir sind im wesentlichen davon ausgegangen, daß Westeuropa integriert werden muß, und Westeuropa hörte an der Elbe auf. Wir waren sehr eurozentristisch. Im westeuropäischen Haus wurden sozusagen die Wände eingerissen. Aus den nationalen westeuropäischen Familien entstand so etwas wie eine Wohn- und Lebensgemeinschaft.
Jetzt, am Ende des Jahres 1993, stellen wir nicht nur fest, daß das westeuropäische Haus keine gemeinsame Innenarchitektur hat, sondern auch, daß die Mauern zum Nachbarhaus gefallen sind und es in Europa drunter und drüber geht.
Ich teile nicht den Optimismus, den Herr Kinkel vorhin zum Ausdruck gebracht hat. Er sagte, er wisse nach so vielen Erfolgen überhaupt nicht, warum wir mit der europäischen Entwicklung nicht zufrieden seien. — Wir haben zwar Erfolge gehabt, aber Europa steht vor völlig neuen Herausforderungen, auf die wir uns einstellen müssen. Ich habe die Sorge, daß wir uns auf diese Entwicklung im Moment eben nicht einstellen.
Die Entwicklung in Europa ist dadurch gekennzeichnet, daß wir uns sehr auf uns konzentrieren und in einer solchen Zeit das Haus Europa eigentlich nicht weiterentwickelt haben und keine Innenarchitektur entwickeln, die auch der neuen Weltarchitektur gerecht wird. Die Wirtschafts-, Finanz-, Geld-, Forschungs- und Technologiepolitik muß sich deshalb endlich folgenden Fragen zuwenden:
Erstens. Warum haben wir uns in den letzten Jahren in Europa zwar auf die Chancen des größeren Absatzes in einem größeren Markt konzentriert — das war richtig —, die dazu notwendigen gemeinschaftlichen Infrastrukturen aber nicht geschaffen?
Zweitens. Warum haben wir in den letzten Jahren bei unserem Eurozentrismus übersehen, daß sich die Schwerpunkte der Weltwirtschaft in den nächsten Jahren dramatisch in den asiatisch-pazifischen Raum verschieben werden?
Sie kennen die Bevölkerungszahlen: Bis zum Jahre 2010 — das ist nicht mehr sehr lange — wird die Anzahl der Einwohner in Europa bei etwa 460 Millionen bleiben. Aber in der gleichen Zeit wird die Bevölkerung des afrikanischen Kontinents von 2,4 auf 3,5 Milliarden Einwohner, die des asiatischen Kontinents von 5,2 auf 7,7 Milliarden Einwohner steigen. Auf diese neue Entwicklung, die dazu führt, daß Asien und auch der pazifische Raum einen neuen Stellenwert erhalten, haben wir uns bisher zuwenig eingestellt. Nur dann, wenn wir diese Fragen sachgemäß beantworten und operative Zukunftskonzepte entwickeln, werden wir verhindern, daß Europa in der weltwirtschaftlichen Entwicklung abgehängt wird. Unsere Sorge ist, auch in der heutigen Debatte, daß Sie mit Ihren Antworten von gestern den heutigen neuen Fragen nicht gerecht werden.
Weil das so ist, bedauern wir sehr, daß das Weißbuch von Jacques Delors in seiner ursprünglich vorgelegten Fassung eigentlich keine Rolle mehr spielt. Es ist auf ein vierseitiges Papier reduziert worden, das
aber im Grunde keinen neuen Impuls für die Entwicklung in Europa gibt, sondern im wesentlichen nur den Zustand beschreibt. Das ist wirklich ein Problem: In einer Zeit, in der sich andere Regionen dynamisch entwickeln, haben wir diesen Anstoß jedenfalls nicht.
Ich glaube, es ist hohe Zeit für eine neue Ara der Dynamik und der Innovation in Europa. Dazu müssen wir, gerade auch die Bundesrepublik Deutschland, Konzepte entwickeln. In Europa muß endlich der Aufbau der Industrien, der Infrastrukturen und der Technologien des 21. Jahrhunderts angepackt werden. Dazu brauchen wir einen „Europäischen Masterplan für die Infrastrukturen des Verkehrs und der Telekommunikation" . Das gibt es bisher leider nicht; Sie wissen, was auf dem amerikanischen und dem asiatischen Kontinent stattfindet.
Dafür brauchen wir endlich auch eine Verabschiedung des 4. Forschungsrahmenprogramms der EG; das ist ein ganz wichtiges Konzept. Wir wollen nicht, daß das weiter reduziert wird. Es gibt gegenwärtig Bestrebungen, das dafür vorgesehene Budget zu reduzieren. Wir halten es für sehr wichtig, Forschung und Entwicklung in Europa gemeinsam zu betreiben, und dringen deshalb auf eine rasche Verabschiedung des 4. Forschungsrahmenprogramms in der Europäischen Gemeinschaft.
Dabei muß man sich auf die Technologien des 21. Jahrhunderts konzentrieren. Auch hier sind Fehler gemacht worden. Wir haben oftmals mit viel Geld und viel Bürokratie Technologien gefördert, die überholte Strukturen aufwiesen.
— Nein, der Zwischenruf ist zwar schön, er hilft uns aber nicht weiter. Sie wissen genausogut wie ich, daß, auch wenn wir bei der Kohle einen Kurswechsel vorgenommen hätten, wir trotzdem in dem Dilemma wären, auf dem Sektor der Hochtechnologien, wo wir riesige Ressourcen brauchen, nicht die Spielräume zu haben, um wirklich weiterhin einen Spitzenplatz in der Technologieentwicklung einzunehmen. Im übrigen empfehle ich Ihnen, mit dem Bundeswirtschaftsminister die Frage der Kohle mit Blick auf die Zukunft zu diskutieren.
Wir brauchen in Europa aber auch eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik. Ich finde es geradezu hanebüchen, daß sich Europa z. B. beim TGV und beim ICE in Korea auf Auseinandersetzungen einläßt, statt auf diesen fernen Märkten im vorwettbewerblichen Bereich, aber auch bei entsprechenden Angeboten zu kooperieren.
Wir brauchen eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik gerade für den asiatischen und pazifischen Raum wie auch für den nord- und lateinamerikanischen Markt. Deshalb müssen wir die Chancen der neuen Friedensperspektiven auch im Nahen Osten nutzen. Denn ein befriedeter Naher Osten könnte zur zentralen industrie- und handelspolitischen Drehscheibe zwischen Europa und Asien werden.
17146 Deutscher Bundestag — 12.Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Siegmar Mosdorf
Amerika stellt sich auf diese neue Entwicklung in der Welt ein. Das zeigt nicht nur die Entscheidung für NAFTA in den USA, sondern auch der APEC-Gipfel in Seattle, den ich auch in der Frage, welche Bedeutung dieser Entwicklung zukommt, sehr hoch bewerte. Da findet der alte Kontinent Europa nicht mehr statt. Wir haben aber noch keine Konzepte entwickelt, wie wir damit umgehen.
Asien ist dabei, zum Zentrum der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts zu werden. Das zeigt nicht nur die Entwicklung auf dem größten Markt der Welt, China. Das zeigen auch die Reformanstrengungen der Regierung Hosokawa in Japan.
In einer solchen Phase eines fundamentalen Strukturwandels der Weltwirtschaft steigt in Europa die Arbeitslosigkeit auf inzwischen 20 Millionen Menschen. Das sind nicht nur, Frau Kollegin Hellwig, 20 Millionen Schicksale in Europa, sondern das heißt auch — darüber haben wir vorhin geredet —, daß Ressourcen gebunden werden, daß Qualifikationen verlorengehen und daß wir damit in der Entwicklung der Weltwirtschaft weiterhin abrutschen.
Der deutsche Goliath — das hat Herr Präsident von Weizsäcker neulich so formuliert — hat sich selbst gefesselt, ist bewegungslos geworden und fällt deshalb als dynamischer Motor für die EG — das nämlich wäre unsere heutige Aufgabe — aus. Es gibt keine kreativen Konzepte dieser Regierung in bezug auf den EG-Gipfel. Es gibt keine konkreten kreativen Konzepte in bezug auf das Weißbuch. Wenn wir nicht aufpassen, kann es so sein, daß wir in Europa insgesamt italienische Verhältnisse bekommen. Das erfüllt mich mit großer Sorge, gerade wenn die Massenarbeitslosigkeit weiter zunimmt. Man kann darauf nicht nur damit reagieren, daß man sagt, wir reduzieren das Arbeitslosengeld entsprechend, sondern man muß auch damit reagieren, daß man wettbewerbsfähige, neue Arbeitsplätze schafft. Dazu sind bisher von dieser Regierung keine Impulse in Europa gegeben worden. So wie es aussieht, wird der Europäische Rat am nächsten Wochenende keine entsprechenden Impulse geben, sondern als ein „Business-as-usual"Rat zu Ende gehen — ohne Impulse für die zukünftige Entwicklung.
Meine Damen und Herren, die Voraussetzung für einen Erfolg in einer solch dramatischen Krise ist auch, daß man Gerechtigkeit als Leistungsmotor erkennt. Wenn wir in Deutschland, in Europa nicht gerecht vorgehen, wenn wir nicht Gerechtigkeit schaffen und die Menschen nicht motivieren, mitzuhelfen, aus dieser Krise herauszukommen. werden wir dies nicht schaffen.
Ich glaube, auch in diesem Sinne ist es wichtig, in Deutschland fair miteinander umzugehen und nicht weiter eine soziale Schieflage entstehen zu lassen, die in den letzten Jahren betrieben worden ist und die Sie offensichtlich weiter betreiben wollen. Das motiviert die Menschen nicht, etwas zu leisten, sondern das führt dazu, daß sie sich von diesem System abwenden und im Grunde hoffnungslos werden.
In einer solchen Situation hat die französische Regierung in den letzten Tagen einen interessanten Vorschlag gemacht. Balladur und Mitterrand haben zusammen hier in Bonn in einer Situation, in der wir
erstens eine hohe Verschuldung, zweitens einen riesigen Investitionsbedarf für Zukunftsinvestitionen und drittens freies Kapital haben, das in Europa Anlagen sucht und viertens einen Impuls für die Konjunktur brauchen, eine „Euroanleihe" für Investitionen und Zukunftsinfrastrukturen vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat darauf sehr reserviert reagiert, aber nicht mit einer eigenen Alternative und nicht mit eigenen Konzepten, sondern sie hat im Grunde gesagt, sie wolle das prüfen.
Ich halte es für notwendig, daß wir gerade mit Blick auf die Infrastrukturen, die wir in Europa brauchen, mit Blick auf die technologischen Entscheidungen, die wir für Europa brauchen, und mit Blick auf die Qualifikationspolitik, die wir in Europa brauchen, eine solche Euroanleihe für Innovation und Infrastrukturen auflegen. Ich sage ausdrücklich: Ich will das nicht über den Haushalt laufen lassen. Ich will auch keine Verschuldung der Europäischen Gemeinschaft zulassen, sondern — das sagte ich jetzt zu Ingrid Matthäus-Maier — es geht darum, daß wir Investitionen auf die Schiene bringen. Das ist das, was wir in Europa brauchen, um bei wichtigen Zukunftsentwicklungen, auf wichtigen Zukunftsmärkten wirklich wieder mithalten zu können.
Nur mit einer solchen außergewöhnlichen Kraftanstrengung der Menschen kann das notwendige Kapital mobilisiert werden, um wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und Europa vor dem ökonomischen und technologischen Abstieg zu bewahren. Die großen Chancen, die im Binnenmarkt stecken, haben wir teilweise genutzt. Aber wir haben uns dabei auf Europa selber konzentriert und reduziert. Wir haben eigentlich die anderen Entwicklungen der Welt dabei eher vernachlässigt.
Wenn ich heute an Europa denke, dann fallen mir immer die beiden Bilder von Max Ernst ein, die Sie vielleicht auch kennen, beide Bilder mit demselben Titel: „L'Europe après la pluie", „Europa nach dem Regen". Das eine Bild zeigt ein Europa, bei dem der Kontinent mit Nordafrika und Nahost zusammengewachsen ist und sehr dynamisch wächst, eine Landkarte von Europa. Das andere Bild zeigt ein Europa, das lethargisch wirkt und das keine Zukunftsperspektive, sondern eher zerstörte Strukturen hat.
Deshalb bin ich in der jetzigen Situation nicht der Meinung, daß in Europa alles in Butter ist, sondern es gibt wirklich den dringenden Bedarf, neue Impulse zu geben und auch eine neue Dynamik für Europa zu entwickeln. Das ist notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen; denn 20 Millionen Arbeitslose lassen mich nicht kalt, Frau Hellwig.
Wir müssen wettbewerbsfähige Zukunftsarbeitsplätze schaffen, damit die Menschen auch wieder Zuversicht haben. Dann ist es auch möglich, für Europa insgesamt in der neuen Weltwirtschaft einen neuen Platz zu gewinnen, der unseren hohen Wohlstand sichert.
Ich glaube, daß es falsch wäre, die Standortdiskussion in Deutschland und Europa nur auf die Verteilungsfrage zu reduzieren und zu sagen, wenn wir nur
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Siegmar Mosdorf
ein bißchen umverteilen und den Schwächeren etwas wegnehmen, sei das Problem gelöst. Das Problem geht viel tiefer. Die Zukunftsperspektiven dafür zu entwickeln hat diese Regierung versäumt. Deshalb bin ich nicht optimistisch, daß der Gipfel zum Erfolg wird.
Vielen Dank.