Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Freitagmittag ist für eine solche Europadebatte offensichtlich nicht der geeignetste Zeitpunkt. Ich finde, daß Europa ein bißchen mehr an Begeisterung und Beteiligung erwarten dürfte.
Ein Brite hat neulich über Europa gesagt: Dazuzugehören mag langweilig sein, aber nicht dabeizusein ist eine Tragödie. So ist es, was das Letztere anbelangt. Aber zu viele wollen das bei uns ganz offensichtlich nicht so recht glauben. Den Außenminister freut es natürlich nicht — das sage ich ganz offen —, so oft auf Euroskepsis und Europessimismus zu stoßen. Überall wird Europa nur noch hinterfragt. Brüssel soll für uns zuständig sein, wird aber für alles Negative verantwortlich gemacht.
Ja, natürlich, dieses Europa hat auch seine Schwächen, gewaltige Schwächen. Ich verstehe, wenn die Traktorüberrollbügelentscheidung und die Bananenrichtlinie kritisiert werden. Aber ich finde eben, daß die Diskussion nicht auf das Niveau einer Bananenrepublik absinken darf, wenn wir über Europa diskutieren.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17135
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Ich höre unwahrscheinlich oft Kritik. Wenn man ihr nachgeht, merkt man, daß sie unbegründet ist. Ohne Rücksicht auf die Sache wird kritisiert. Warum reden wir eigentlich nicht öfter von den Stärken dieses Europas?
Es gibt keinen Grund, das immer nur düster, wolkenverhangen und müde zu sehen.
Ich sehe im Grunde überhaupt nicht ein — ich hoffe, daß wir uns da einig sind —, daß wir Europa immer nur mit hängendem Kopf verteidigen.
Es wird auch zu schnell gesagt, die Bürger seien alle europaverdrossen. Ja, wenn wir nur lange und intensiv genug darüber reden, fühlen sich die Bürger eines Tages wirklich so. Ich glaube aber, daß die Wirklichkeit anders aussieht. Ich glaube nämlich, daß die Menschen in unserem Land weit überwiegend dieses Europa wollen und daß es nicht so sehr um das Für oder das Gegen geht, nicht um das Ob, sondern um das Wie. Wenn das hinterfragt wird, hat das im Grunde genommen mit Europaverdrossenheit nichts zu tun. Diese Fragen sind legitim. Es ist sogar wichtig und willkommen, daß die Bürger wissen, welches Europa wir eigentlich anstreben, wie die Europäische Union künftig aussehen soll, vor allem aber, was Europa tut — das kam in der Debatte bisher schon deutlich zum Ausdruck —, um Beschäftigung zu sichern und innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Das sind wirklich berechtigte Fragen, auf die wir Politiker Antwort geben müssen.
Welchen Nutzen hat der Bürger von der europäischen Integration? Haben wir denn wirklich vergessen, daß die deutsch-französische Erbfeindschaft unser Land in schreckliche, blutige Kriege gestürzt hat? Wissen wir nicht mehr, wie die Völker Europas miteinander umgegangen sind, welchen Haß sie übereinander ausgeschüttet haben? Das alles ist so sehr Vergangenheit, daß junge Menschen die große historische Errungenschaft Europas gar nicht mehr wahrnehmen.
Gerade deshalb müssen wir ihnen sagen, daß Frieden und gute Nachbarschaft nicht selbstverständlich sind,
sondern durch die europäische Integration tatkräftig und visionär errungen wurden und daß es vor allem in dieser Welt, auch in Europa, keine Besitzstandgarantien gibt. Wenn wir den Fortschritt in Europa behalten wollen, müssen wir ihn verteidigen und ihn immer wieder erneuern. Wenn wir Stillstand predigen, wählen wir in Wirklichkeit den Rückschritt.
Ich werde nicht müde, immer wieder zu betonen: Haben wir denn wirklich vergessen, daß Aufbau und
Wohlstand nach 1945 nicht ohne Europa möglich gewesen wären? Haben wir vergessen — es liegt erst kurz zurück —, daß dieses Europa uns die Wiedervereinigung ermöglicht hat,
daß die deutsche Einheit ebenso wie die europäische Integration gerade für junge Menschen die eigentliche Chance ist?
Sie haben ihr Leben noch vor sich und können deshalb nutzen, was jetzt möglich ist: ein freies, ein ungehindertes Studium überall in der Gemeinschaft. Wer in anderen Ländern Freunde findet, dort leben möchte, kann dort arbeiten, kann sich dort niederlassen. Jeder kann überall in der Union Bürger sein — er ist es seit dem 1. November 1993 bereits. Aber die Menschen wissen einfach zuwenig von diesem Europa, sie wissen zuwenig, welche Vorteile ihnen Europa bringt.
Der Anteil der Europäischen Union an der Oberfläche der Erde beträgt 1,3 %, an ihrer Bevölkerung 6 %, am Weltsozialprodukt aber 22 %. Kein Mitgliedstaat wäre allein auf sich gestellt imstande, seinen Bürgern einen derartigen Wohlstand zu sichern. Der Europäische Binnenmarkt findet weltweit Nachahmer, jüngstes Beispiel: die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA.
Für uns Europäer kommt es jetzt darauf an, unseren Integrationsvorsprung zu erhalten und auszubauen,
deshalb die Wirtschafts- und Währungsunion,
deshalb die Öffnung für neue Mitglieder,
deshalb die Entschlossenheit, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden.
Ist den Kritikern eigentlich bewußt, daß sich allein die Umtauschkosten im innergemeinschaftlichen Zahlungsverkehr auf rund 19 Milliarden ECU pro Jahr belaufen? Das sind 4 % der Gewinne der europäischen Unternehmen, die damit für arbeitsplatzschaffende Investitionen verlorengehen. Es ist ein billiges Spiel mit der Angst, zu behaupten, daß wir die stabile D-Mark, den verläßlichsten Garanten unseres Wohlstands, leichtfertig aufs Spiel setzen würden. Die einfache Lektüre des Unionsvertrages oder des Urteils des Bundesverfassungsgerichts macht doch klar: Wir sind auf eine Stabilitätsgemeinschaft verabredet, und zwar vertraglich. Darauf muß hingewiesen werden.
Und wie ist es mit der These, die Arbeitslosigkeit könne national überwunden werden? Natürlich müssen wir — darüber ist heute auch schon genügend gesprochen worden — zunächst unser eigenes Haus in Ordnung bringen, müssen zu neuen Einstellungen finden, die Rolle des Staates überdenken, Planungs-, Genehmigungsverfahren abkürzen, Privatisierung und Deregulierung vorantreiben, die Arbeitskosten senken und insgesamt flexibler werden.
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Aber wir leben in einer Globalisierung der Wirtschaft. Der gesamte europäische Wirtschaftsraum muß wettberwerbsfähiger werden, technische Neuerungen nicht nur entwickeln, sondern auch in praktische Produktion umsetzen, mehr Wert auf Wissenschaft, Forschung, Bildung legen, und nur im Rahmen der europäischen Integration können wir — da bin ich sehr sicher — unseren legitimen Platz in der Welt auch im 21. Jahrhundert behaupten.
Wer sich abschottet, verliert die Wettbewerbsfähigkeit und damit auch zwangsläufig Arbeitsplätze. Wohlstand verlangt nun einmal offene Märkte, und der Welthandel ist kein Nullsummenspiel, bei dem der eine nur gewinnt, was der andere verliert. Liberalisierung setzt Energie und Erneuerung frei, und das ist das, was wir heute brauchen, und da sind sich die Mitglieder der Europäischen Union Gott sei Dank auch einig.
Auf dem Außenministerrat in Brüssel ist es gestern sehr deutlich geworden: Trotz mancher Partikularinteressen sind alle Mitgliedstaaten — ich betone ausdrücklich: alle Mitgliedstaaten — an einem erfolgreichen Abschluß der Uruguayrunde interessiert, der größten Liberalisierung des Welthandels in der Geschichte überhaupt.
Ich bin heute nacht aus Brüssel zurückgekommen. Ohne jetzt hier auf Einzelheiten eingehen zu können: Ich bin zum ersten Mal vorsichtig optimistisch,
nach dem letzten Bericht von Sir Leon Brittan zum ersten Mal vorsichtig optimistisch, daß wir es tatsächlich zum 15. Dezember schaffen könnten.
Und da möchte ich dann doch, lieber Herr Lafontaine, darauf hinweisen dürfen: Sollte das klappen, dann allerdings hat deutsche Außenpolitik — an der Spitze der Bundeskanzler, der Wirtschaftsminister, ein paar andere und, wenn Sie erlauben, in aller Unbescheidenheit auch ich — daran einen nicht unerheblichen Anteil.
Ich fand die Bemerkung, die Sie dazu vorher gemacht haben, nicht sehr fair. Wir können im Augenblick über die Einzelheiten nicht sprechen, aber ich sage nochmals: Ich bin seit heute nacht zum ersten Mal vorsichtig optimistisch, und ich glaube, ich habe Grund dazu.
Ich frage weiter: Haben ausgerechnet wir Deutschen wirklich Grund, europaskeptisch zu sein? Wissen wir denn nicht, wie genau die Welt vor allem uns nach unserer Vergangenheit beobachtet? Glaubt denn wirklich jemand, unser Heil läge erneut in nationalen Sonderwegen? Der angebliche Gegensatz zwischen nationalen Interessen und europäischer Integration ist falsch, und er führt in die Irre. Nur in Europa können wir uns wirklich entfalten. Europa — ich sage es mit Nachdruck — bedroht nicht unsere Identität, es schützt sie.
Und noch etwas: Nur gemeinsam sind wir in der Zukunft sicher. Die Mafia denkt und handelt — ich habe es hier im Bundestag kürzlich schon einmal gesagt — längst europaweit. Wir brauchen eine effiziente und schlagkräftige Bundespolizei, wir brauchen eine Europapolizei, die ihren Namen verdient. Unsere Bürger verstehen nicht, daß zwar unsere Kinder von internationalen Banden in die Drogenabhängigkeit getrieben werden, daß aber die Mittel unserer Polizei nur bis an die jeweiligen nationalen Grenzen reichen, jedenfalls bis jetzt.
Wir brauchen die Gemeinsamkeit im Umweltschutz, im Verbraucherschutz und bei der Eindämmung von Zuwanderungsbewegungen und auch bei der Eindämmung von Flüchtlingsströmen. Eine gehobene Freihandelszone wird dazu nicht ausreichen. Die Europäische Union muß ihr politisches Gewicht voll einsetzen und Stabilität in ihr unruhiges Umfeld projizieren — durch Stärkung der Reformen in Mittel- und Osteuropa, durch Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen Osten, durch Hilfe für das neue, hoffentlich demokratische Südafrika, durch gemeinsame Wahlbeobachtung in Rußland.
Die drängendste Aufgabe, meine Damen und Herren, ist die Situation vor einem schrecklichen Winter — das kann man vorhersagen — im früheren Jugoslawien, in Bosnien. Wir haben zu schnell vergessen: Dieses ehemalige Jugoslawien ist Europa. Es ist in erster Linie eine europäische Aufgabe, mit diesem Problem fertigzuwerden. Wir können das nicht in irgendeinen anderen Bereich drängen.
Ich habe deshalb zusammen mit dem französischen Außenminister Juppé, wie Sie wissen, eine Initiative angestoßen, von der wir glauben, daß sie vielleicht ein letzter Lösungsversuch — vor wahrscheinlich schrecklichen Ereignissen sein kann. Es ist uns immerhin gelungen, die Genfer Gespräche wieder anzuwerfen. Wenn ich auf die Ergebnisse blicke, die bisher in diesen Gesprächen erzielt worden sind, dann würde ich vorsichtig zurückhaltend sagen: Es hat sich gelohnt.
Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Wenn es uns nicht gelingt, mit dem Dreieransatz — im humanitären Bereich, in der Krajina-Frage und vor allem in der territorialen Frage — zu einem Ergebnis zu kommen, dann wissen jedenfalls die Europäer im Augenblick nicht mehr weiter. Wir müssen das so deutlich sagen.
Im humanitären Bereich haben wir erreicht — das ist zunächst einmal das wichtigste —, daß die Vereinbarung von Frau Ogata vom 18. November mit den Konfliktparteien in ein weit besseres Ergebnis überführt werden konnte. Wir glauben, sicher zu sein, daß jetzt die humanitären Hilfstransporte durchkommen. Das allein hat, so glaube ich, die Anstrengung gelohnt.
Ich weiß ganz genau, daß einige Fragen schwierig bleiben: Das trifft auf die Territorialfrage insgesamt zu. Die Moslems beanspruchen als schwächster Teil ein Drittel des Gesamtgebietes, um lebensfähige Gebiete für sich zu haben. Das trifft auch auf die Frage
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der Öffnung des Flughafens von Tuzla zu, die wir dringend brauchen, um neben Sarajevo einen Ort zu haben, den wir bei den humanitären Hilfslieferungen anfliegen können. Das trifft auf die Frage des Meereszugangs, die für die Moslems, aber natürlich auch für die kroatische Seite von außerordentlicher Bedeutung ist, und noch auf ein paar andere Fragen zu, die von zentraler Bedeutung bleiben werden.
Die Gespräche laufen. Lassen Sie sich durch das, was im Augenblick nach draußen tönt, nicht zu sehr verwirren! Wenn man auf das blickt, was sich dahinter abspielt, ist mindestens ein kleiner Hoffnungsschimmer berechtigt. Dieser Hoffnungsschimmer war den Ansatz wert. Auf den Konferenzen in den letzten Tagen — am Montag haben wir in Genf die Jugoslawien-Konferenz abgehalten; dann war in Luxemburg der Ministerrat der WEU zusammen; am Tag darauf war der KSZE-Rat in Rom; der NATO-Rat in Brüssel tagte gestern; heute kommt der NATO-Kooperationsrat zusammen — haben uns alle unterstützt, auch die Amerikaner, und zwar massiv. Denn auch sie haben auf die Frage, ob sie etwas Besseres, ob sie einen anderen Ansatz wissen, keine positive Antwort geben können. Das ist für meine Begriffe das Entscheidende.
Wir wissen, daß die Amerikaner mit der Frage der Sanktionsaufhebung und mit der eventuellen Ausübung von Druck auf die moslemische Seite Probleme hat. Wir wollen die Sanktionen nicht aufheben, sondern nur suspendieren, und zwar im Gegenzug zu vorherigen Schritten der serbischen Seite im territorialen Bereich. Auch wir wollen keinen Druck ausüben, jedenfalls keinen unangemessenen. Das haben wir uns fest vorgenommen.
Meine Damen und Herren, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat die zweite Halbzeit der europäischen Einigung begonnen. Bis 1995 sollen vier EFTA-Staaten, nämlich Schweden, Norwegen, Finnland und Österreich, zur Europäischen Union hinzukommen. Für uns Deutsche besonders wichtig ist die Heranführung der Umbruchstaaten Osteuropas an die Europäische Union wie auch an die NATO. Das ist eines unserer Hauptprobleme in nächster Zeit. Das Drängen der mittel- und osteuropäischen Staaten ist sehr, sehr stark geworden. Das betrifft das Drängen auf Schritte in oder an die Europäische Gemeinschaft heran und vor allem das Drängen im Bereich der Sicherheit.
Es gibt in diesen Ländern eine unwahrscheinliche Unruhe und ein berechtigtes Gefühl, daß man sie in einer schwierigen Situation im Stich läßt. Ich kann nur immer wieder sagen und habe das auch auf den Konferenzen, die ich vorhin genannt habe, gegenüber allen unseren Freunden und Partnern massiv zum Ausdruck gebracht: Es kann nicht richtig sein, daß wir diese Lander über Jahrzehnte aufgefordert haben, in unsere freiheitliche Gesellschaft zu kommen, und sie jetzt im Stich lassen.
Meine Damen und Herren, wenn man bei allem, was im Leben abzuwägen ist, eine so positive Bilanz wie bei Europa ziehen kann, dann müßten wir eigentlich mit wirklicher Zuversicht in die Zukunft blicken. Wir haben diesen Erfolg vorzuweisen, weil wir unseren Weg nicht mit Scheuklappen gegangen sind, sondern Integration als einen kreativen und dynamischen Prozeß begriffen haben — für Kritik offen — und aus Fehlern gelernt haben. Nur das, was auf nationaler Ebene nicht vernünftig geregelt werden kann, muß auf Unionsebene gemeinsam mit unseren Partnern angegangen werden.
Übrigens haben wir als Deutsche das Subsidiaritätsprinzip hineingebracht. Das wird viel zuwenig betont, viel zuwenig gesagt und viel zu schnell vergessen: Wir haben das Subsidiaritätsprinzip hineingebracht.
Warum also wider besseres Wissen unseren Bürgern angst machen? Nein, das wollen wir nicht. Die Nationalstaaten und ihre Parlamente bleiben nach wie vor Herren der Verträge. So hat es auch das Bundesverfassungsgericht richtigerweise gesagt.
Die Bundesregierung nimmt die Verpflichtungen, die ihr aus dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union erwachsen, überaus ernst, und sie wird alles daran setzen, daß der Bundestag und der künftige Unionsausschuß ihre Mitwirkungsrechte effektiv wahrnehmen können.
Auch dafür, daß das Europäische Parlament eine umfassende Kontrolle und Mitentscheidung auf europäischer Ebene erlangt, werden wir weiter entschieden eintreten.
Ich möchte zum Schluß, weil es so üblich geworden ist, skeptisch zu sein und alles kaputtzureden, allen Skeptikern zurufen: Zu Europa gibt es keine Alternative.