Rede von
Heidemarie
Wieczorek-Zeul
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Auch da danke ich Ihnen sehr herzlich für die Frage. Sie gibt mir nämlich Gelegenheit zu sagen: Wie es damals gelaufen ist, hat viele Ursachen, aber eine der Hauptursachen ist, daß Maastricht unter den Regierungen selbst erarbeitet worden ist, und zwar unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Ich sage Ihnen: Der Ausschuß für die Europäische Union im Deutschen Bundestag, der ja auch für den Bundestag Stellung nehmen soll, muß öffentlich tagen, und zukünftig darf es keine Weiterentwicklung der Europäischen Union mehr geben, ohne daß daran die Abgeordneten der einzelnen nationalen Parlamente und die Bevölkerung in einer breiten, offenen
Debatte beteiligt sind. Es muß Schluß damit sein, an den Leuten vorbei solche Fragen zu verhandeln.
Das ist der Mangel, den in bezug auf Maastricht die Bundesregierung zu verantworten hat.
Aber notwendig ist nicht nur der Ausschuß für die Europäische Union. Wir beantragen in unserem Antrag ebenfalls, daß es eine schriftliche Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Art geben soll, wie dieser Informationspflicht Genüge getan wird.
Ich will darauf hinweisen — vorhin sind ja Bundestag und Bundesrat hier angesprochen worden: Eine solche Verabredung schriftlicher Art ist mit dem Bundesrat längst abgeschlossen, und ich finde, es ist an der Zeit, daß der Deutsche Bundestag sein Selbstverständnis so wahrnimmt, wie es dem Parlament gebührt, und dafür sorgt, daß es eine vergleichbare mit der Bundesregierung abgeschlossene Vereinbarung zu diesen Fragen gibt.
— Also, Herr Kollege Irmer, ich habe immer darauf hingewiesen, daß — schon bevor Maastricht in Kraft getreten ist — die Europäische Kommission mit den Beitrittsländern so verhandelt hat, als sei Maastricht bereits ratifiziert. Dann meine ich doch: Wenn man das nach der einen Seite macht, muß man es doch bitte schön dem eigenen Parlament gegenüber jedenfalls noch sehr viel schneller tun.
Ich denke, das ergibt sich ja wohl auch von selbst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus dem, was hier heute angesprochen worden ist und was Herr Kinkel vor mir hier angesprochen hat, zeigt sich doch auch, daß die Frage, ob eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem eine gemeinsame Außenpolitik auf EG-Ebene und auf europäischer Ebene, zustande kommt, sehr stark davon abhängig ist, was die einzelnen nationalen Regierungen leisten.
Ich denke — Herr Kinkel hat ja mehrere solcher Veranstaltungen von NATO, KSZE, WEU hinter sich, und heute ist noch das Eurokorps und was auch immer da mit hineingebracht worden: Erstens zeigt sich in diesem Bereich, wenn man die deutsche Außenpolitik betrachtet, daß ein internationaler Flugplan und die Teilnahme an diesen Konferenzen noch keine überzeugende Außenpolitik bedeuten.
Zweitens zeigt sich auch, daß wir eine ganze Menge dieser internationalen Institutionen haben, aber jedenfalls keine Bundesregierung, die eine Vorstellung davon hat, was eigentlich diese Institutionen leisten sollen — am Ende der Spaltung Europas und nachdem es möglich ist, gesamteuropäische Kooperation unter ganz neuen Gesichtspunkten zu praktizieren.
17140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Ich möchte an der Stelle ein paar dieser Punkte aufgreifen. Wir sind der Meinung, daß die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als eine Institution in Richtung auf gemeinsame und am Ende sogar kollektive Sicherheit entwickelt werden sollte, damit die Chancen der gesamteuropäischen Kooperation ergriffen werden.
Wir sagen aber auch: Wir sind der Meinung, daß die NATO grundlegend verändert werden muß. Zum Beispiel sind wir dafür, daß das im Zuge einer grundlegenden Veränderung der NATO in Richtung auf gemeinsame Sicherheit auch bedeutet, daß sie für mittel- und osteuropäische Staaten offen sein muß und daß da prinzipiell niemand ausgeschlossen sein darf. Wir bedauern, daß es in bezug auf diese Fragen, zu denen sich ja Herr Rühe wer weiß wie oft öffentlich geäußert hat, jetzt so ist, daß dieses Konzept sang- und klanglos sowohl bei der NATO als auch in anderen Institutionen beiseite gelegt wird.
— Ich darf noch mal darauf hinweisen: Das eine sind die Reden; das zweite ist das, was Konferenzen beschließen. In bezug auf die NATO haben alle Kommentatoren schon festgestellt, daß die amerikanische Initiative der Versuch war, zu verhindern, daß die NATO um mittel- und osteuropäische Länder erweitert wird. Genau das ist ja in letzter Konsequenz jetzt auf Jahre hinaus erst einmal der Fall.
Wir sagen: Laßt uns die NATO auch in diesem Bereich prinzipiell verändern, z. B. indem das Konzept der atomaren Abschreckung in Europa von allen Seiten aufgegeben wird, z. B. indem es keine „Krisenreaktionskräfte" gibt, die irgendwo in letzter Konsequenz von ihrer Dimensionierung her ein Eingreifen auch außerhalb der NATO-Strukturen bedeuten können.
Wir sind aber auch der Meinung, daß vorher und sehr frühzeitig gesagt werden muß, daß die Öffnung der Europäischen Union für den Beitritt vieler osteuropäischer Länder zu einem Zeitpunkt, in dem die Integration und die wirtschaftliche Entwicklung noch nicht ausreichend fortgeschritten sind,
bedeuten würde, daß die Europäische Union in letzter Konsequenz geschwächt werden würde. Das wird niemandem nutzen, weder den Mitgliedstaaten noch den mittel- und osteuropäischen Ländern, die auf diese Art und Weise in eine Europäische Union hineinkämen, die geschwächt wäre, noch der Europäischen Union selbst, die dann nicht mehr das leisten könnte, was wir mit Blick auf die mittel- und osteuropäischen Länder leisten müssen. Das heißt, wir sind
offen, was die Veränderung und die Einbeziehung in den Bereich der NATO bedeutet, aber wir sind der Meinung, daß die Erweiterung der Europäischen Union an sehr klare Kriterien gebunden werden muß, weil es weder im Interesse der einen noch der anderen Seite liegt, auf eine andere Weise vorzugehen.
Lassen Sie mich am Schluß auf ein paar andere Punkte hinweisen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Ich höre mit Interesse, daß es jetzt aus den Reihen der CDU/CSU und der F.D.P., nachdem wir diese europäischen und internationalen Institutionen angesprochen haben, Vorschläge gibt, der Europäische Rat solle als Allernächstes Konzepte vorlegen, wie die europäische Verteidigung zu gestalten sei. Da sagen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das erste, was heute von Europa zu verlangen ist — das hat Oskar angesprochen,
und ich will es noch einmal betonen —, ist Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wir brauchen keine neuen Aufträge für irgendwelche neuen europäischen Armeen, sondern wir brauchen die Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa.
Das zweite ist: Hier werden einfach falsche Schwerpunkte gesetzt. Auch vor Maastricht war es so, daß die Bundesrepublik mit Frankreich irgendwelche Konzepte
zu einer ursprünglich geplanten europäischen Verteidigung entwickelt hat.
Es stellte sich heraus, daß man dann Fehler gemacht hat, weil man sich nicht um die eigentlich wichtigen Fragen, nämlich um die Verbindung von Währungsunion und politischer Union, gekümmert hat. So ist es immer wieder: Wer auf derartige abwegige und unrealistische Themen abhebt, vernachlässigt die eigentlich wichtigen Themen.
Zu den eigentlich wichtigen Fragen, auch in Europa, gehört — das ist vorhin in der Debatte angesprochen worden — z. B. die Verwirklichung der Sozialcharta.
Es geht doch nicht an, daß wir seit Jahr und Tag darauf warten, daß angesichts der Schwierigkeiten in den Krisenbranchen europäische Gesamtbetriebsräte eingerichtet werden, in deren Rahmen sich Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Europa untereinander verständigen können. Das muß endlich angepackt werden; die europäische Sozialcharta muß verwirklicht werden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17141
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Auch das will ich noch einmal sagen — vorhin hat es ja da große Unruhe gegeben —: Im deutschen Interesse liegt doch nicht, irgendwelche militärischen Verteidigungs- oder Armeespiele oder was auch immer zu betreiben,
sondern liegt es, Europa zu nutzen, um es ökologisch umzubauen.
Ich will das einmal an zwei praktischen Punkten deutlich machen.
Ich denke an die Schwierigkeiten z. B. bei der Verpackungsrichtlinie in der EG und auch an die Schwierigkeiten bei der Trinkwasserrichtlinie. Wir sollten alle unser Engagement darauf konzentrieren, in den EG-Ministerräten dafür zu sorgen, daß hohe Umweltnormen durchgesetzt werden. Wir sollten da die deutschen Interessen deutlich machen; denn das hat Konsequenzen für die Menschen bei uns im Land. Das führt auch dazu, daß wir weltweit Exportchancen bekommen, die sonst den Europäern und den Deutschen verlorengingen.
An dieser Stelle darf ich sagen: Die CDU/CSU-Fraktion propagiert die Erleichterung bei Rüstungsexporten — auch das findet unter der Decke statt —, indem sie erklärt: Europäisch ist das alles viel lascher, und bei uns ist das zu scharf.
Ich sage an dieser Stelle: Wir alle haben im GolfKrieg, als man sehen konnte, was der Export von Rüstungsgütern an Gefährdung und Tod von Menschen bedeuten kann und was Rüstungsexporte auslösen, gesagt: Wir wollen die Verschärfung.
Wenn jetzt klammheimlich der Versuch gemacht wird, Europa zum Anlaß zu nehmen, um in diesem Bereich wieder aufzulösen, was an Verschärfungen durchgesetzt worden ist, dann sagen wir Ihnen erstens: Das ist ein Mißbrauch von Europa. Zweitens sagen wir Ihnen: Engagieren Sie sich dafür, daß die scharfen Bestimmungen, die wir haben, möglichst auf europäischer Ebene durchgesetzt werden!
Denn wir wollen nicht Waffen und Raketen exportieren, sondern z. B. Rauchgasentschwefelungsanlagen. Das schafft Arbeit und sorgt dafür, daß nicht anschließend die Truppen, die Sie sich wahrscheinlich in der europäischen Armee vorstellen, in die Welt geschickt werden müssen, um die Rüstungsgüter aus Europa wieder einzusammeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie solche Vorschläge zur europäischen Verteidigung machen, dann verstecken Sie sich nicht hinter Europa, sondern
gehen Sie hier in den Deutschen Bundestag und sagen Sie, was Sie selber wollen!
Sagen Sie nicht, Sie beauftragen den Rat. Schlagen Sie doch mal vor, was Sie wollen, und versuchen Sie, im Deutschen Bundestag für Ihre Position eine Zweidrittelmehrheit zu bekommen! Dann müssen Sie nämlich dem Haus zweierlei klarmachen: erstens, wie Sie auf der Basis des Maastricht-Vertrages, der ein Staatenverbund ist, eine solche Regelung schaffen wollen, die eigentlich einem Bundesstaat entspricht. Und dann müssen Sie vor allen Dingen sagen, wie Sie sich eine gemeinsame Verteidigung vorstellen, wenn in Europa noch lange keine gemeinsame Außenpolitik entwickelt worden ist.
Eine gemeinsame Außenpolitik — davon sind wir alle überzeugt — braucht Europa. Es braucht sie für die Marktöffnung gegenüber Osteuropa.