Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einer Woche findet die regelmäßige halbjährliche Tagung des Europäischen Rats in Brüssel statt. Diese Tagung schließt sich an die Sondertagung vom 29. Oktober an, über die ich hier bereits am 11. November berichtet habe.
Vor wenigen Wochen, am 1. November, ist der Vertrag über die Europäische Union in Kraft getreten. Es kommt jetzt darauf an, alles zu tun, um die Möglichkeiten dieses Vertrages zu nutzen. Die Europäische Union muß ihre Handlungsfähigkeit auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Europas in allen wichtigen Sachfragen unter Beweis stellen. Das heißt, anders ausgedrückt, wir müssen alles tun, um aus der gelegentlich vorhandenen Stimmung des
Euro-Pessimismus herauszukommen und den Zug Europa auf volle Fahrt zu bringen.
Von dem Sondertreffen am 29. Oktober ist, wie ich denke, ein wichtiger Impuls ausgegangen. Wir haben die Tagung im Oktober und die Tagung jetzt im Dezember immer als eine Einheit gesehen. Wir werden alles tun — die Bundesregierung wird ihren Beitrag dazu leisten —, daß wir das, was wir uns im Oktober vorgenommen haben, jetzt im Dezember vollenden.
Ich will noch einmal darauf hinweisen — weil wir sehr vergeßlich sind —, daß die Sondertagung für uns Deutsche ein besonders herausragendes Ergebnis gebracht hat mit der Entscheidung, daß das Europäische Währungsinstitut und damit auch die künftige Europäische Zentralbank ihren Sitz in Frankfurt am Main haben werden.
Es war ebenfalls von großer Bedeutung, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Voraussetzungen und den Zeitplan für den gemeinsamen Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion klar bekräftigt haben. Jetzt sind alle Mitgliedstaaten aufgefordert, entsprechend den Bestimmungen des Vertrages eine möglichst große Annäherung unserer nationalen Volkswirtschaften durch eine konsequente Stabilitätspolitik und durch die notwendigen Veränderungen der Strukturveränderungen zu erreichen.
Wichtig ist, meine Damen und Herren — ich will das besonders hervorheben —, daß der Rat der Europäischen Union die von der französischen und der deutschen Regierung erstmals gemeinsam übermittelten nationalen Konvergenzprogramme zur Vorbereitung auf die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion besonders positiv aufgenommen hat. Ich sehe hierin nicht nur ein wichtiges wirtschafts- und finanzpolitisches, sondern vor allem auch ein europapolitisches Signal. Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung unserer beiden Länder ist es im Hinblick auf die weitere europäische Integration für alle von größtem Vorteil, wenn die beiden größten europäischen Volkswirtschaften sich einander noch weiter annähern. Das war auch das Ziel unserer Gespräche anläßlich des deutsch-französischen Treffens in diesen Tagen in Bonn.
Wir wollen damit einmal mehr unterstreichen, daß sich unsere Freundschaft und Zusammenarbeit auf alle Gebiete erstrecken und daß sich diese Veranstaltung — auch psychologisch und ökonomisch — nicht nur auf Schönwetterzeiten beschränkt. Auch und gerade bei einer schwierigen wirtschaftlichen Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist es wichtig, daß wir versuchen, gemeinsam unsere Probleme zu lösen.
Meine Damen und Herren, wer die ökonomische Situation — Fragen der Investitionen, steigende Arbeitslosigkeit — in weiten Teilen der westlichen Welt betrachtet — ich nenne die USA genauso wie
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Japan, aber auch die europäischen Länder — weiß, daß wir vor neuen und auch gewaltigen Herausforderungen im Blick auf Wachstum und Arbeitsplätze stehen. Die Ursachen dafür sind in vielen Feldern in den einzelnen Ländern unterschiedlich; der Gesamtbefund ist schon sehr ähnlich, in vielen Fällen sogar deckungsgleich.
Die Gespräche, die ich in diesen Tagen mit meinem britischen Kollegen, mit den Staats- und Regierungschefs Frankreichs und den Regierungschefs von Spanien und Belgien führen konnte, zeigen, daß überall im Prinzip die gleiche Herausforderung zu sehen ist: die Überwindung einer konjunkturellen Krise, deren eigentliche Gefährlichkeit darin besteht, daß strukturelle Umbrüche deutlich geworden sind wie selten zuvor.
Es ist erfreulich, daß wir in der Analyse weitgehend übereinstimmen. Aber für mich ist noch erfreulicher, daß wir in bezug auf die Maßnahmen, die wir national wie auch auf der Gemeinschaftsebene ergreifen müssen, weitgehend Übereinstimmung haben. Wir müssen schlicht erkennen, daß unsere Volkswirtschaften in Europa einem immer stärkeren Konkurrenzdruck vor allem aus Übersee, aus dem pazifischen Raum, aus Amerika ausgesetzt sind.
Meine Damen und Herren, ich bedauere eigentlich, daß ein so großes, wichtiges Ereignis wie die Tagung der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft vor zwei Wochen im amerikanischen Seattle bei uns so wenig Resonanz gefunden hat.
Die Länder dieses pazifischen Raums, dieser Wirtschaftsgemeinschaft, erwirtschaften etwas mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts der ganzen Welt. Es ist die erste internationale Tagung von dieser Bedeutung, an der aus Gründen der Geographie, aber sicher auch aus anderen Gründen keine Europäer teilnahmen.
Wenn wir Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze schaffen wollen, ist unser erstes Ziel, international wettbewerbsfähig zu sein. Deshalb müssen wir unser großes Potential zur Innovation, zu wirtschaftlichem Wachstum und für zukunftssichere Arbeitsplätze nutzen. Die richtigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ist — wie immer wir es anfassen — eine nationale und eine europäische Aufgabe zugleich. Daher werden die Fragen der Förderung des Wachstums, der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung im Mittelpunkt unserer Beratungen heute in acht Tagen stehen.
Gegenwärtig sind in den Staaten der Europäischen Union rund 17 Millionen Menschen — das sind rund 11 % der Erwerbsbevölkerung — arbeitslos. Trotz des zu erwartenden Konjunkturaufschwungs mit Wachstumsraten in der Größenordnung zwischen 1 bis 2 % —je nach Land — im kommenden Jahr ist ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union auf über 12 % nicht auszuschließen. Dies ist mehr als besorgniserregend, zumal da es sich in weiten Bereichen eben nicht um die Folge einer
vorübergehenden Konjunkturflaute handelt, sondern — wie ich schon sagte — die strukturellen Anpassungen bewältigt werden müssen. Alte Strukturen mit vielen Arbeitsplätzen gehen verloren, ohne daß in den einzelnen Ländern — wir wissen das aus der eigenen Erfahrung — sofort neue Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Dies zeigt jedem deutlich, daß wir jetzt — und nicht irgendwann — Impulse für ein stärkeres Wachstum, für die notwendigen Entscheidungen zu struktureller Umgestaltung brauchen, um Arbeitsplätze zu sichern und sichere Arbeitsplätze neu zu schaffen.
Bei der Sondertagung des Europäischen Rates vor wenigen Wochen, Ende Oktober, hat uns Präsident Jacques Delors einen Zwischenbericht über die Vorbereitung des Weißbuchs gegeben, das einer mittelfristigen Strategie für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung dienen soll. Der eigentliche Bericht — das will ich hier gleich mitteilen, wenn ich danach gefragt werden sollte — wird erst in den nächsten Tagen — ich vermute, erst am kommenden Montag — der Bundesregierung vorliegen.
Die Bundesregierung hat ihre Erwartungen für eine solche Strategie der Gemeinschaft zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung der Kommission bereits Anfang September mitgeteilt. Wir haben dabei auf folgende Punkte hingewiesen: Stärkung der Attraktivität des Investitionsstandortes Europa, insbesondere durch Anstrengungen zum Ausbau der Infrastruktur, zur Intensivierung von Forschung und Entwicklung sowie zur Verbesserung von Bildung und Ausbildung; Fortsetzung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik und konsequente Anwendung aller Notwendigkeiten der Haushaltskonsolidierung; mehr Flexibilität bei der Gestaltung von Arbeitszeit und Maschinenlaufzeiten, verbunden mit einer stärkeren Differenzierung der Lohnvereinbarungen nach Regionen, nach Branchen und nach Unternehmen; und schließlich Offenhaltung der Märkte, d. h. in diesen Tagen immer auch der gewünschte erfolgreiche Abschluß der laufenden GATT-Runde.
Ich gehe davon aus, daß die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch gerade zu diesen Punkten Vorschläge unterbreiten wird. Die Diskussion darüber, meine Damen und Herren, d. h. über die Chancen für Wachstum, Arbeit und Beschäftigung in Europa in den nächsten Jahren, muß dementsprechend im Mittelpunkt der Tagung des Europäischen Rats stehen.
Es ist dabei ganz besonders wichtig im Blick auf Arbeitslosigkeit und stärkeres Wachstum in Europa auch und nicht zuletzt für die Entwicklungschancen der Länder der Dritten Welt, daß wir die wenigen Tage bis zum 15. Dezember nutzen — ich will es so sagen, wie wir es vereinbart haben: Stunden wie Tage —, um zu einem positiven Abschluß bei GATT zu kommen.
Das geht nur bei Kompromißbereitschaft auf allen Seiten, auch auf beiden Seiten des Atlantiks. Ich hoffe — ich will das vorsichtig formulieren —, daß sich das
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bestätigt, was an positiven Anzeichen in den letzten 24 Stunden über die Nachrichten lief. Ich selbst möchte mit einem Urteil abwarten, bis die Dinge tatsächlich beschlossen sind. Wir werden jedenfalls — und ich selbst — bis in die letzte Stunde alles versuchen — ich habe das in vielen Gesprächen in diesen Tagen getan —, um unseren Beitrag zu dieser Kompromißfähigkeit zu leisten.
Meine Damen und Herren, gerade wir Deutschen sollten nicht aus den Augen verlieren: Der Zusammenschluß Westeuropas hat schon bisher ganz entscheidend zu Beschäftigung, zu Wachstum und zu wirtschaftlichem Wohlstand in Deutschland beigetragen.
All jene, die die europapolitische Debatte rückwärts gerichtet führen, sollten nicht vergessen, daß Deutschland wirtschaftlich in den vergangenen Jahrzehnten von den europäischen Rahmenbedingungen, die uns EG und EFTA boten, in höchstem Maße profitiert hat.
Für uns in Deutschland bleibt der Export die tragende Säule des Bruttosozialprodukts. Jeder dritte Arbeitsplatz hängt vom Export ab. Wir erwirtschaften ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts durch Exporte.
Rund drei Viertel davon kommen von unseren europäischen Handelspartnern. 1992 exportierten wir Waren im Werte von 365 Milliarden DM in die Lander der Gemeinschaft und der EFTA. Unsere Ausfuhren in EG-Länder sind dabei etwa doppelt so stark gestiegen wie unsere Exporte in die übrige Welt, was im übrigen die durchaus berechtigte Frage aufwirft, ob wir bei den Exporten die übrige Welt zu sehr vernachlässigt haben.
Anders ausgedrückt: Europa bedeutet Millionen von Arbeitsplätzen für Deutschland. Schon aus diesen, aber nicht nur aus diesen Gründen ist die Frage der europäischen Einigung von einer existentiellen Bedeutung für unser Land.
Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Thema des Europäischen Rats wird die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips sein, dessen Verankerung wir im Vertrag von Maastricht durchgesetzt haben.
Ich weiß, dieser Begriff ist in der Öffentlichkeit schwer vermittelbar. Ich will es hier ganz verkürzt sagen: Es geht um die Bürgernähe der Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft. Es ist wahr — ich habe das auch schon von dieser Stelle gesagt, aber weil die Diskussion an diesem Punkt ja unaufhörlich weitergeht, will ich es wiederholen —, daß Sinn und Zweck mancher EG-Richtlinie nur schwer vermittelbar ist.
Manches ist dem Regulierungseifer in Brüssel zu verdanken. Manches — und das muß man fairerweise hinzufügen — ist aber auch massiven nationalen Interessen denjenigen zu verdanken, von Aktiven, die
sich im eigenen Land nicht durchsetzen konnten und den Weg über Europa gewählt haben.
Bei diesem Tun, meine Damen und Herren, sollten wir niemand ausnehmen, auch uns selbst nicht.
Wir haben im Europäischen Rat von Edinburgh vor einem Jahr die EG-Kommission beauftragt, bestehende und in Vorbereitung befindliche Rechtsakte im Lichte des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen und dem Europäischen Rat zu dieser Tagung in acht Tagen Vorschläge vorzulegen.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips eine der entscheidenden Voraussetzungen für das Verständnis der Bürger für die europäische Einigung, für Bürgernähe ist. Ich hoffe sehr — eigentlich bin ich zuversichtlich —, daß alle unsere Partner und das heißt auch die EG-Kommission die Bedeutung und die Tragweite dieses Grundsatzes für alle Bürger in Europa begreifen.
Die erneute Befassung Ende nächster Woche mit dem Thema ist deswegen nur ein erster wichtiger Schritt. Ich will hier ankündigen, daß die Bundesregierung darauf bestehen wird, daß erstens ein jährlicher Bericht von der Kommission über die jeweiligen Richtlinien des abgelaufenen Jahres vorgelegt wird und daß zweitens auch die Antragsteller in diesem Bericht ausdrücklich erwähnt werden.
Wir müssen einen Weg finden, um fair mit den Institutionen umzugehen. Ich füge gleich hinzu, weil es ja auch diese Diskussion in Europa gibt: Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bedeutet nicht, daß wir den Integrationsprozeß hemmen wollen oder gar, wie man das in Straßburg nennt, eine schleichende Renationalisierung vornehmen wollen. Darüber brauchen wir hier, glaube ich, nicht zu diskutieren; das ist nicht unser Ziel.
Es gab und gibt und darf auch in Zukunft keinen Rückzug auf überlebte nationalstaatliche Modelle des vergangenen Jahrhunderts geben.
Die großen Herausforderungen der Zukunft Europas in wirtschafts-, finanz-, energie- und umweltpolitischen Bereichen sind immer auch europäische Aufgaben und anders gar nicht mehr zu lösen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns weiterhin auch darüber unterhalten und die Chancen konsequent nutzen, die uns der Vertrag fiber die Europäische Union mit einer verstärkten Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik bietet.
Ich habe damals bei meinem Bericht über die Maastricht-Tagung schon erwähnt, daß die Bundesregierung und vor allem auch ich selbst gern im Vertrag
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bessere Möglichkeiten für die Verstärkung der Zusammenarbeit im Bereich der Innen- und der Rechtspolitik gesehen hätten. Das war in Maastricht so nicht zu machen. Aber ich denke, wir sollten jetzt alles tun, um den gegebenen Rahmen nicht nur auszuschöpfen, sondern möglichst stark auszuweiten, um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, die Drogenmafia und das international organisierte Verbrechen in Zukunft viel stärker, viel intensiver angehen zu können.
Wir haben ja gerade einen tragischen Beweis für die Notwendigkeit solchen Handelns erlebt; ich erinnere an die Morde an zwei deutschen Grenzbeamten im D-Zug „Donau-Kurier" am 11. November.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich bin sicher: Wir können auch diese Probleme nur gemeinsam mit unseren Partnern lösen. Ich denke dabei eben nicht nur an die jetzigen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, sondern ebenso an die frühzeitige Einbeziehung von Nachbarn, beispielsweise Österreichs und der Schweiz.
Wir müssen erreichen, den Bürgern, die ja in ihrem täglichen Leben unmittelbar betroffen sind, die Gewißheit zu geben, daß die Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen nicht zu Lasten der Sicherheit gehen kann.
Die Innen- und die Justizminister werden dem Europäischen Rat in der nächsten Woche einen Aktionsplan für das weitere Vorgehen vorlegen. Hierzu gehören insbesondere der Aufbau von EUROPOL und wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenhandels und der Geldwäsche.
Ich habe die Absicht, meine Kollegen darauf hinzuweisen, daß wir, da aus meiner Sicht die Instrumente des Vertrags noch nicht ausreichen, darüber hinaus überlegen müssen, was wir konkret, nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen der amerikanischen Behörden bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität und der Drogenmafia, tun können.
Ich stelle mit einer gewissen Genugtuung fest, daß immer mehr Staats- und Regierungschefs in der Europäischen Gemeinschaft jetzt bereit sind, zu überlegen, welche raschen Maßnahmen wir ergreifen können, um die Effizienz der Verfolgung entscheidend zu verbessern. Ich halte dies auch im Blick auf die Sicherheit unserer Bürger und die öffentliche Diskussion in einer Europäischen Union ohne Binnengrenzen — das ist ein oft gehörtes Argument — für sehr bedeutsam.
Meine Damen und Herren, der Maastricht-Vertrag bezeichnet auch die Asylpolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse. Der Sondergipfel hat die Innen- und die Justizminister aufgefordert, eine abgestimmte Asylpolitik zu entwickeln. Die Asylpolitik der Mitgliedstaaten kann nur dann erfolgreich sein, wenn überall in Europa über einen Asylantrag nach weitgehend einheitlichen Kriterien auf Grund gleichwertiger Verfahren entschieden wird.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, nicht zuletzt der Krieg im früheren Jugoslawien hat die
bisherigen Grenzen der Europäischen Gemeinschaft bei Krisenvorbeugung und Krisenlösung deutlich aufgezeigt. Jetzt gibt uns der Vertrag die Möglichkeit, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die den Namen wirklich verdient. Dabei reicht es natürlich nicht aus, neue Institutionen zu schaffen. Mehr als bisher und möglichst schnell müssen wir zu gemeinsamen Positionen und Aktionen finden und sie geschlossen vertreten.
Der Bundesaußenminister und der französische Außenminister haben eine Initiative ergriffen, die sozusagen in letzter Stunde den Versuch unternimmt, den Menschen in Bosnien angesichts des bereits ausgebrochenen Winters die notwendige Hilfe zum Überleben zu geben. Der Bundesaußenminister wird nachher zu dieser Initiative noch eingehend sprechen.
Die Außenminister der Europäischen Union haben am 29. November mit den Vertretern der Konfliktparteien gesprochen, diskutiert und die Zusage erreicht, daß die Konvois in Bosnien jetzt passieren können. Dies ist ein wichtiges Zeichen dafür, daß wir unserem Ziel einer wirksamen Hilfe wenigstens ein Stück näher gekommen sind.
Meine Damen und Herren, auch ich weiß, daß bei uns in Deutschland auch diese Initiative als unzureichend bezeichnet wird. Aber ich frage jeden Kritiker, in Europa wie in Deutschland, was er seinerseits vorschlägt, was wirklich in dieser Situation helfen kann. Die Bilder, die wir Abend für Abend in den Nachrichten sehen, das entsetzliche Leiden von Kindem, von alten Leuten, von Männern und von Frauen wirken auf uns alle bedrückend und erschreckend.
Ich bitte das Hohe Haus, bei all seinen Anregungen auch zu bedenken, daß wir in dieser Diskussion nicht die besten Ratgeber sind, weil wir immer wieder in die Lage geraten, anderen Ratschläge zu geben, und auf die Frage: „Was seid ihr bereit, selbst zu tun, und was könnt ihr tun?" doch mit sehr bescheidenen Reaktionen anworten müssen.
Ich bin in völliger Übereinstimmung mit François Mitterrand, wenn er gesagt hat, er sehe keinen besseren Ansatz, solange der Westen und die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates nicht bereit sind, einschneidendere Schritte einzuleiten und mitzutragen. Hinter dieser Formulierung „einschneidendere Schritte" verbirgt sich natürlich die Forderung nach Einsatz von Soldaten, und zwar nicht von wenigen und kleinen Kontingenten, sondern letztlich bis hin zum Einsatz von Kampftruppen.
Jeder, der sich ernsthaft mit diesen Themen beschäftigt, weiß, daß auf diesem Weg leider keine Lösung zu finden ist.
Dennoch, ist es angebracht, daß wir hier, die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag, vor allem jenen Soldaten, die aus unseren befreundeten Natio-
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nen im humanitären Einsatz dort ihren Dienst tun, unseren besonderen Respekt bekunden.
Das sind junge Leute, die ebenso wie unsere Soldaten, die bei uns unter ganz anderen Bedingungen ihren Dienst tun, Eltern haben, Mütter und Väter, Bräute, Schwestern, Freunde und die in einer extremen Lage gerade jetzt im Winter ihrer Pflicht nachkommen.
Die konsequente Umsetzung der Möglichkeiten des Maastricht-Vertrages in allen seinen Teilen wird Europa stärken. Dies gilt besonders beim Beitritt der EFTA-Staaten Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen zum 1. Januar 1995. Die Bundesregierung wird alles tun — ich denke, mit Unterstützung des ganzen Hauses —, um die notwendigen Entscheidungen zu ermöglichen.
Wir wollen, daß die Beitrittsverhandlungen bis zum 1. März 1994 abgeschlossen werden, damit das Europäische Parlament damit noch befaßt wird und die nationalen Ratifikationsverfahren einschließlich der Referenden in den Beitrittsländern rechtzeitig durchgeführt werden können.
Für uns Deutsche ist es selbstverständlich, daß wir unsere Partner in den Beitrittsländern auf diesem Weg, wo immer möglich, unterstützen.
Meine Damen und Herren, ganz Europa braucht heute mehr denn je einen sicheren und festen Anker. Dies gilt in ganz besonderem Maße auch für die Reformstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, mit denen uns Assoziierungs- und Kooperationsabkommen verbinden.
Gerade die Beziehungen zu Rußland wie auch zur Ukraine und zu Weißrußland sollen auf diese Art und Weise auf eine feste Grundlage gestellt werden. Das Partnerschaftsabkommen mit Rußland befindet sich jetzt in seiner Abschlußphase. Wir haben Präsident Jelzin unsere volle Unterstützung dabei zugesagt. Er wird in der kommenden Woche, am 9. Dezember, in Brüssel am Vorabend des Europäischen Rates zum ersten Mal mit den Staats- und Regierungschefs der Zwölf zusammentreffen.
Dabei soll in einer gemeinsamen Erklärung der bevorstehende Abschluß dieses Partnerschaftsabkommens gewürdigt werden. Wir wollen mit diesem Schritt einmal mehr und ganz deutlich den Reformprozeß in Rußland unterstützen, dies nicht zuletzt auch im Blick auf die dortigen Parlamentswahlen am 12. Dezember. Das Interesse an diesem Ereignis wird auch dadurch unterstrichen, daß Wahlbeobachter aus allen Teilen Europas, auch hier aus Deutschland, zu dieser Wahl entsandt werden.
Die Länder des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens haben für den Frieden und die Sicherheit des Kontinents größte Bedeutung. Deswegen ist für uns die Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen Osten eine ganz wichtige Aufgabe.
Ich hatte gestern anläßlich des Besuches von Ministerpräsident Rabin die Möglichkeit, ihm noch einmal unsere Unterstützung bei diesem historischen Prozeß einer Entwicklung hin zum Frieden, bei den Gesprächen und Abmachungen zwischen Israel und der PLO, zuzusichern. Ich glaube, dies ist eines der erfreulichsten Ergebnisse dieses Jahres, daß in diesem Teil der Erde — natürlich unter der Voraussetzung, daß das Abkommen am Ende auch eingehalten wird — ein wesentlicher Schritt weg von einem fortdauernden Bürgerkrieg hin zu Frieden gemacht wird.
Daß wir als Deutsche diesen Weg besonders unterstützen, will ich auch in meinem Gespräch in ein paar Tagen mit dem PLO-Vorsitzenden Yassir Arafat, wenn er Bonn besucht, zum Ausdruck bringen.
Meine Damen und Herren, am 10. und 11. Januar werden sich die Staats- und Regierungschefs des Atlantischen Bündnisses in Brüssel treffen. Dort wird einmal mehr zum Ausdruck kommen, daß für uns Europäer die Allianz die Garantie für Sicherheit und Stabilität ist und daß wir auch entschlossen für die Zukunft für die Allianz eintreten.
Europa braucht ein Amerika, das bereit ist, auch in Zukunft eine zentrale Rolle in Fragen der europäischen Sicherheit zu übernehmen, und ich denke, Amerika braucht gleichzeitig ein Europa, das ein höheres Maß an Eigenverantwortung und Pflicht übernimmt und damit einen wichtigen Teil internationaler Sicherheit gewährleistet. Wir werden dies in enger Zusammenarbeit mit unseren Partnern tun bei der Ausgestaltung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union und bei dem Vorantreiben und Ausbau der Handlungsfähigkeit der WEU.
Ich will in diesem Zusammenhang mit besonderer Genugtuung hervorheben, daß die Bundesregierung den Beschluß Spaniens, sich am Eurokorps zu beteiligen, begrüßt.
Ungeachtet aller Einwände noch vor zwei Jahren und vor einem Jahr zeigt sich, daß sich dieses Eurokorps zu einem wirklichen Erfolgsmodell entwickelt und daß es sehr wohl denkbar ist, daß wir mit anderen Partnern in Europa zu vergleichbaren Modellen kommen können.
Wir wollen, daß vom NATO-Gipfel ein Signal für die Weiterentwicklung der Beziehungen und die Vertiefung der Zusammenarbeit mit den Ländern Mittel-und Osteuropas ausgeht. Wir wollen auch die WEU bei ihrer Zusammenarbeit mit diesen Ländern stärken.
Mit einem Wort, meine Damen und Herren — man kann es nicht oft genug wiederholen —, die Europapolitik muß gerade jetzt auch in einer wirtschaftlich schwierigen Lage mit realistischem Optimismus Zukunft gestalten. Die Absicherung und Fortführung des europäischen Einigungswerks ist nicht irgendeine Frage, es ist die Schicksalsfrage unseres Kontinentes und auch unseres Landes. Gerade für die Deutschen ist deutsche Einheit und europäische Einigung die
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Schicksalsfrage. Wir sichern damit Frieden und Freiheit für die Zukunft.