Rede von
Dr.
Wolfgang
Schäuble
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben den Art. 23 unseres Grundgesetzes im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages neu geregelt und dabei vorgesehen, daß die Bundesregierung vor Beratungen im Europäischen Rat den Bundestag zu unterrichten und Gelegenheit zur Aussprache darüber zu geben hat. Es ist heute das erste Mal, daß dies geschieht.
Wir bedanken uns für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herr Bundeskanzler, für Ihre Regierungserklärung und für die Möglichkeit, dazu unsere Beiträge zu leisten.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1993 17123
Dr. Wolfgang Schäuble
Herr Ministerpräsident Lafontaine, eigentlich war der Art. 23 in seiner Neufassung nicht dazu gedacht, der Opposition eine Möglichkeit zu bieten, die Haushaltsdebatte der vergangenen Woche auf diese Weise fortzusetzen.
Weil dies aber nicht unwidersprochen stehenbleiben kann, bitte ich Sie, einige Anmerkungen, auch im Sinne der Anregung Ihres Fraktionsvorsitzenden Klose aus der letzten Debatte, daß man auf das, was ein Vorredner gesagt hat, auch eingehen soll, machen zu dürfen.
Der Versuch war einigermaßen durchsichtig, er ist nicht besonders überraschend.
— Warten Sie erst die Erwiderung ab, Herr Kollege, und urteilen Sie nicht zu schnell!
Der Versuch, die Beratungen Ihres Wiesbadener Parteitags unter dem Deckmantel der Europäischen Kommission in die Debatte einzuführen, war ebenso durchsichtig wie untauglich.
Er wird im übrigen der Kommission der Europäischen Gemeinschaft nicht gerecht. Es wird auch der europäischen Dimension der Probleme nicht gerecht, wenn man versucht, dies in solcher Weise, auch in Verdrehung der Vorschläge der Kommission und in völliger Verschweigung der Tatsache, daß das, was die Kommission für die nächste Tagung des Rats vorgelegt hat, eben genau dem nicht entspricht, was Sie vorgetragen haben, in die innenpolitische Debatte einzuführen.
Deswegen hoffe ich, daß wir im weiteren Verlauf der Debatte — —
— Gerne, ja. Aber vielleicht geben Sie mir erst die Chance, Ihnen zu antworten. Vielleicht hören Sie sogar aufmerksam zu, so wie ich Ihnen aufmerksam zugehört habe.
Ich denke, daß wir im weiteren Verlauf der Debatte uns wieder mit dem beschäftigen sollten, was der Bundeskanzler als Position der Bundesregierung vorgetragen hat. Zu den meisten Fragen haben Sie überhaupt keine Anmerkungen gemacht.
Das wird durch die Kollegen meiner Fraktion noch geschehen.
Ich will auf das eingehen, was der Kollege Lafontaine in die Debatte eingeführt hat und was nicht unwidersprochen bleiben kann.
Die erste Bemerkung: Es ist schon beachtlich, wie man in einer Rede auf der einen Seite den Anstieg der Neuverschuldung — übrigens nicht nur beim Bund, sondern in einer noch dramatischeren Weise bei den
Ländern und Gemeinden; Sie sind im Saarland ja Spitzenreiter — beklagen kann,
während wir auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, im Vermittlungsausschuß darum ringen müssen, die Blockade der SPD im Bundesrat gegen die von uns durchgesetzten Sparmaßnahmen aufzulockern.
Die Wahrheit ist, daß zu dieser Stunde der Vermittlungsausschuß tagt, weil die SPD-geführte Mehrheit im Bundesrat den vom Bundestag verabschiedeten Spargesetzen die notwendige Zustimmung versagt hat.
Dann tritt Herr Lafontaine hier ans Rednerpult und sagt, die Explosion der Staatsverschuldung gefährde die europäische Einigung. Ein größeres Maß an Heuchelei habe ich selten erlebt.
— Ich komme ja gerade darauf.
Die zweite Bemerkung: Sie haben recht, daß der Anstieg von Lohn- und Lohnnebenkosten eines der zentralen Probleme unserer wirtschaftlichen Entwicklung ist. Weil uns die Entwicklung am Arbeitsmarkt einschließlich der weiteren Perspektiven so ungeheure Sorgen macht und weil es zu den vorrangigen Aufgaben von uns allen gehört, alles zu tun, um mehr wirtschaftliches Wachstum und mehr Beschäftigung zu erreichen, und vor allen Dingen alles zu unterlassen, was Wachstum gefährden und damit mehr Arbeitsplätze beseitigen könnte, müssen wir darüber in einer ehrlichen, unvoreingenommenen Weise reden, und der Anstieg der Lohn- und Nebenkosten ist eine der entscheidenden Ursachen.
Deswegen, Herr Ministerpräsident Lafontaine, ist es unvermeidlich, daß durch neue notwendige soziale Maßnahmen, wenn wir sie einführen — und die Pflegeversicherung ist angesichts unserer demographischen Entwicklung jetzt notwendig und richtig —, ein Anstieg der Lohnkosten insgesamt nicht entsteht.
— Da sind wir überhaupt nicht einig. Wenn wir darüber einig wären, dann bräuchten wir dieses Hickhack seit Wochen und Monaten nicht zu haben. Sie haben immer gesagt, es gibt keine Kompensation.
Man hat bei den Gesprächen manchmal das Gefühl, als wäre die größte Sorge, daß man eine Mark zuviel sparen könnte. Aber wir können nicht eine Mark zuviel sparen, wir sparen immer noch viel zuwenig.
Jedenfalls dürfen wir einen weiteren Anstieg der Lohnneben- und der Lohnkosten insgesamt unter gar
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Dr. Wolfgang Schäuble
keinen Umständen verantworten. Deswegen sage ich Ihnen in aller Ruhe: Wir wollen alles tun, damit wir doch noch zusammenkommen, obwohl ich Ihnen sage: Ich bin nicht mehr sehr optimistisch, ich bin nicht sehr zuversichtlich.
Sie müssen auch ganz klar wissen: Wir sind Ihnen weit entgegengekommen; denn natürlich wäre die mit Abstand sinnvollste Form, bei Einführung der Pflegeversicherung insgesamt eine Belastung der wirtschaftlichen Entwicklung zu vermeiden, die Einführung einer Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gewesen. Das hätte ökonomisch Sinn gemacht.
Dieses Vorhaben im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung haben wir nur aus dem einzigen Grund aufgegeben: weil Sie uns gesagt haben, daß Sie dann überhaupt nicht zu Gesprächen bereit wären; aber Ihre Zustimmung zur Pflegeversicherung ist notwendig. Nur aus diesem Grund — damit das völlig klar ist!
Dann haben wir gesagt: Es muß aber dann wenigstens in der Größenordnung von zwei bezahlten Arbeitstagen liegen. Ob das Feiertage, Urlaubstage oder eine prozentuale Kürzung ist, ist im Grunde eine zweitrangige Frage, aber unter der Größenordnung von zwei Arbeitstagen ist eine hinreichende Kompensation nicht zu machen.
Jetzt wollen Sie die Sache damit, daß Sie nur zu einem Feiertag, nicht zu zwei Feiertagen bereit sind, scheitern lassen! Und dann beklagen Sie hier den Anstieg von Lohn- und Nebenkosten und machen sich Sorgen um die Beschäftigung. Das ist nicht zu verantworten. Und die Art, wie Sie diese Debatte führen, wird den Problemen in unserem Land nicht gerecht.
Ich will aus Ihren Bemerkungen einen dritten Punkt anführen, wo wir offensichtlich fundamental unterschiedlicher Meinung sind. Ich weiß nicht genau, was Sie mit Ihrer Kritik an der Bundesbank meinen. Und wenn Sie sich dabei noch auf die von der Kommission korrigierten Vorschläge berufen — die hat sie ja nicht aufrechterhalten, weil es Widerspruch nicht nur der deutschen Bundesregierung, sondern der Regierungen aller Mitgliedstaaten gegeben hat — —
— Ja, natürlich! Aber jetzt wollen wir auf die Sache kommen.
Es gibt Überlegungen — offensichtlich auch bei Ihnen —, unsere Probleme durch weniger Stabilität zu lösen. Anders ist doch die Kritik an der Bundesbank im Ernst nicht zu verstehen.
Es macht übrigens wenig Sinn, hier auf der einen Seite die Verschuldung zu kritisieren und gleichzeitig für weniger Stabilität zu plädieren.
Die Sache wird ja dadurch noch schlimmer: Ihre Kritik an der Bundesbank ist eine Kritik an der Stabilitätspolitik. Und wenn Sie dabei noch — und das waren ja Überlegungen in der Kommission, die zurückgezogen worden sind — die Wechselkurse so manipulieren, daß wir auch in der äußeren Stabilität der europäischen Währung ein Stück weit nachlassen, dann sage ich Ihnen: Die Probleme der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen wie der europäischen Wirtschaft sind nicht dadurch zu lösen, daß wir jetzt die Wechselkurse nach unten manipulieren. Damit geraten wir nur in einen Abwertungswettlauf. Dies wird am Ende nicht mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze, nicht mehr Wettbewerbsfähigkeit bringen, sondern das genaue Gegenteil. Deshalb ist es das falsche Rezept für unsere Krise.
Sagen Sie ehrlich, daß Sie dafür sind, mit weniger innerer und äußerer Stabilität unsere Probleme zu lösen, und wir sagen Ihnen, daß wir entschieden anderer Meinung sind.
Ich sage Ihnen: Die Probleme der geringer gewordenen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wie anderer europäischer Wirtschaften sind eben nicht dadurch zu lösen, daß wir uns durch Manipulation des äußeren Wertes ein bißchen drumrumschlawinern, sondern sie sind nur dadurch zu lösen, daß wir die Chance dieser strukturellen Krise nutzen, um die notwendigen Anpassungen für unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit jetzt in unserem Lande durchzusetzen. Die Bürger in unserem Lande, die Arbeitgeber wie die Arbeitnehmer, sind dazu auch bereit.
Dabei kommt der nächste Fehler, den die Sozialdemokraten machen: Sie rufen bei allem und jedem nach dem Staat und nach der Politik. Sie schüren damit bei den Menschen den falschen Eindruck, daß die Politik alles lösen könne. Wir haben doch vor der Wiedervereinigung im anderen Teil Deutschlands erlebt, daß dort, wo die Politik für alles zuständig sein will, am Ende gar nichts geht. An den Folgen zahlen wir immer noch teuer.
Es ist der Sinn der von der Bundesregierung und dem Bundeskanzler in Gang gesetzten Standortdebatte, daß alle begreifen: Die wirtschaftlichen Probleme unseres Landes können wir im Interesse von mehr Arbeitsplätzen nicht dadurch lösen, daß wir immer nur nach dem Staat rufen. Die Politik muß ihre Beiträge leisten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen ihre Beiträge leisten. Wir alle müssen in unserem Lande ein Stück weit umdenken. Ohne größere Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung werden wir unseren sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand nicht bewahren können. Das ist die entscheidende Wahrheit, und davon lenken die Sozialdemokraten ab.
Herr Lafontaine, ich dachte, Sie hätten in der Haushaltsdebatte — aber Sie waren nicht da — von unseren Argumenten vielleicht doch ein bißchen gelernt. Sie verharren in den Fehlern Ihres Parteitages von Wiesbaden. Sie denken immer noch, die Arbeit sei eine bestimmte Menge, und es ginge nur darum, sie zu verteilen. Herr Ministerpräsident Lafontaine, nach
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Dr. Wolfgang Schäuble
unserer Überzeugung hängt die Menge der Arbeitsplätze von etwas anderem ab. Wir haben ja in Deutschland und in Europa nicht zuwenig Arbeit. Auf die Idee ist noch keiner gekommen. Das Problem liegt doch darin, daß wir zuwenig Nachfrage nach bezahlter Arbeit zu den Preisen, die die regulär bezahlte Arbeitsstunde bei uns in Deutschland kostet, haben. Je mehr wir die Kosten einer Stunde Arbeit verteuern, um so weniger Nachfrage nach Arbeit und um so weniger Arbeitsplätze wird es geben.
Deswegen ist das Problem mit Verteilungsmodellen, die die Kosten der Arbeitsstunde verteuern, nicht gelöst. Am Ende verteilen wir so lange, bis überhaupt nichts mehr zu verteilen ist. Das ist der falsche Weg.
Wir werden diesen Weg nicht gehen. Wir müssen mit aller Entschiedenheit dabei bleiben, die Menschen davon zu überzeugen, daß die Arbeit nicht immer teurer werden darf. Wir müssen andere Wege gehen. Dann können wir über die Begrenzung des Anstiegs der Lohnnebenkosten reden.
Der erste Schritt wäre, daß Sie die Anrufung des Vermittlungsausschusses, die Sie gerade angekündigt haben, zurücknehmen. Wenn dies die Zustimmung im Bundesrat findet, können wir die Lohnnebenkosten schon um mehr als 20 Milliarden DM senken.
Zum zweiten müssen Sie nun endlich bei der Pflegeversicherung einer vernünftigen Kompensation zustimmen. Zum dritten müssen Sie die Länderhaushalte, wo Sie die Verantwortung tragen, endlich in Ordnung bringen.
— Verzeihen Sie, damit sind wir wieder bei dem magischen Dreieck Ihrer demagogischen Art, Kritik zu üben, von der keiner mehr begreifen kann, wie sie zustande kommt.
Man kann nicht auf der einen Seite sagen, die Verschuldung sei zu hoch, die Steuern und Abgaben seien zu hoch, und auf der anderen Seite die Sparvorschläge ablehnen und keine Alternativvorschläge machen.
Sie haben — weder heute in Ihrer Rede noch in Wiesbaden — nicht einen Sparvorschlag gemacht. Sie haben zwar gesagt, wenn die Konjunktur wieder besser ist, muß es zu massiven Kürzungen der konsumtiven Ausgaben kommen. Die Art, wie Sie unsere Sparvorschläge demagogisch angegriffen haben, relativiert im übrigen Ihr Konzept. Sie sagen ja in Wahrheit: Nach der Wahl werden wir genau solche
Maßnahmen ergreifen, aber heute lehnen wir sie ab. Aber ich bin überzeugt, daß es dann zu spät ist.
— Deswegen haben wir ja unsere Sparvorschläge jetzt beschlossen, damit das jedermann weiß. Sie greifen sie aber an.
Herr Lafontaine, es ist doch sachlich falsch: Es wird nicht zu einer Besserung der wirtschaftlichen Lage kommen, wenn wir Einsparungen erst später durchsetzen. Wir müssen zunächst einsparen, damit es wirtschaftlich wieder bergauf geht. Das ist die richtige Reihenfolge.
Sie sollten Ihre Blockadepolitik im Bundesrat endlich aufgeben.
Eine letzte Bemerkung, die ich machen möchte: Sie haben dem Bundeskanzler beim Thema GATT vorgeworfen, er habe nicht genau gesagt, wo die Differenzen lägen. Ich finde, es wäre angemessener gewesen, wenn Sie gesagt hätten: Herr Bundeskanzler, verehrte Bundesregierung — —
— Nein, nein, im Ernst. Es gibt ja gelegentlich Reste von Fairneß im Umgang miteinander.
Reste von Fairneß sollte es geben.
— Dann will ich Ihnen einmal sagen, was ich in den letzten Tagen vermißt habe. Weil Sie mir jetzt dauernd dazwischen rufen, will ich Ihnen doch einmal sagen: Nach den Maßstäben, die Ihre Parteifreunde an die Mitglieder meiner Partei in Sachsen-Anhalt angelegt haben, wäre Herr Lafontaine schon längst zurückgetreten und wären längst Neuwahlen im Saarland.
— Wenn Sie hier Wahlkampf haben wollen, können Sie ihn haben. Wir wollten eigentlich eine Debatte über den nächsten Europäischen Rat.
Aber Sie können nicht erwarten
— ich komme zu dem Thema, das Herr Lafontaine hier eingeführt hat, bei dem bin ich —, daß Sie hier Wahlkampf machen können, und wenn wir dann antworten, sind Sie auch noch beleidigt. So geht es ja nun nicht zusammen.
Wenn Sie zur sachlichen Debatte zurückkehren wollen — bitte sehr! So haben wir es eigentlich verstanden. Nur, täuschen Sie sich nicht, und richten
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Dr. Wolfgang Schäuble
Sie sich darauf ein: Den Ton, den Sie hier einführen, können Sie auch haben.
— Herr Lafontaine hat nicht zur Sache gesprochen, und jetzt will ich — —
— Na ja, man sieht ja, wer schreit. Jedermann kann ja verfolgen, wer hier das Gebrüll veranstaltet.