Gesamtes Protokol
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und zu dem Europäischen Übereinkommen vom 20. Mai 1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses— Drucksache 11/5314 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheitb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und des Europäischen Übereinkommens vom 20. Mai 1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses
— Drucksache 11/5317 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheitc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Marktstrukturgesetzes— Drucksache 11/5317 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Haushaltsausschußd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der Rationalisierung im Steinkohlenbergbau— Drucksache 11/5318Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußHaushaltsausschuße) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Mitarbeiter/-innen von Presse und Rundfunk sowie des entsprechenden Beschlagnahmeverbotes auf selbsterarbeitetes Material— Drucksache 11/5377 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Innenausschußf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Vorschriften über gemeinsame Anlagen in Wertpapieren
— Drucksache 11/5411 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaftg) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Empfehlung 169 betreffend die Beschäftigungspolitik— Drucksache 11/3631 —
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12800 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Präsidentin Dr. SüssmuthÜberweisungsvorschlag des Altestenrates:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und WissenschaftInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist so.Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zum Bericht der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie"— Drucksachen 10/6775, 11/5320 —Berichterstatter:Abgeordnete Seesing KohnCatenhusenFrau Schmidt
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5468 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Dann eröffne ich die Aussprache. Als erster hat Herr Abgeordneter Seesing das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche mich für eine verantwortliche Nutzung der Möglichkeiten der Gentechnologie aus, d. h. nicht alles, was machbar ist, darf getan werden. Ich halte die Gentechnologie für ein Instrument des Fortschritts. Wahrer Fortschritt wird aber nur erreicht, wenn moralische Grenzen nicht überschritten werden.Genau diesem Ziel diente auch die Arbeit der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", die in der 10. Wahlperiode arbeitete und im Januar 1987 ihren Bericht fiber die Möglichkeiten und Auswirkungen der Gentechnologie in den verschiedenen Anwendungsbereichen vorlegte. An die 180 Empfehlungen für politisches Handeln wurden in diesem Bericht gegeben.Der Deutsche Bundestag hat in seiner 11. Wahlperiode diesen Bericht aufgegriffen und am 4. Juni 1987 die Überweisung in den federführenden Ausschuß für Forschung und Technologie und in zwölf mitberatende Ausschüsse beschlossen. Allein aus dieser Zahl wird deutlich, wie weitreichend die Aufgabengebiete der Gentechnologie sind.Am 21. Juni dieses Jahres hat der Ausschuß für Forschung und Technologie seine Arbeit beendet. Er hat auch die Äußerungen der mitberatenden Ausschüsse in seinen Bericht und in die Beschlußempfehlung eingebracht.Die Beratungen waren oft nicht einfach; die zu klärenden Sachfragen waren nicht leicht zu beantworten. Es hat viele Anhörungen und viele Fachgesprächegegeben, und natürlich waren viele Ausschuß- und Arbeitsgruppensitzungen und Berichterstattergespräche nötig. Deswegen ist es mir ein ernstes Anliegen, allen Beteiligten herzlich für das Engagement zu danken, das sie gezeigt haben.Besonders dankbar bin ich aber für die Art, wie wir bei der Arbeit miteinander umgegangen sind. In diesen Dank möchte ich ausdrücklich die Mitarbeiter in den Sekretariaten der Ausschüsse und in den Arbeitsgruppen der Fraktionen einschließen.
Nun gibt es wohl auch in diesem Raum Menschen, die sich fragen: Wovon reden denn die Politiker da überhaupt? Deswegen möchte ich doch einiges zu der Frage sagen: Was ist Gentechnologie, was will sie, und was kann sie? Wer von Ihnen schon alles weiß, meine Damen und Herren, der kann ja in den nächsten Minuten einfach weghören.Meine Damen und Herren, von einer Gliederung meiner Partei wurde mir ein Entschließungsantrag zugestellt, in dem ein Verbot der militärischen Nutzung der Gentechnologie verlangt wurde. Im Grunde sind solche Anträge zu begrüßen, aber hier wurde von einer militärischen Nutzung durch eine Züchtung von besonders kleinen Menschen gesprochen, die als Panzerfahrer oder Astronauten eingesetzt werden können. Bei einer anderen Veranstaltung wurde mir vorgeworfen, wir Politiker wollten nur deswegen die Gentechnologie, um geklonte Menschen mit Flügeln, Affenhänden und Elefantenrüsseln produzieren zu können. Ich hatte zunächst an einen Ulk gedacht, merkte aber schnell, daß dieser Mann tatsächlich echte Sorgen hatte. Aus den Anfängen der Gentechnologie geistert auch noch die eierlegende Wollmilchsau durch manche Köpfe und erzeugt Ängste.Mit diesen Dingen, meine Damen und Herren, hat die Gentechnologie nichts zu tun. Richtig ist aber, daß es die Gentechnologie mit allen Lebewesen zu tun hat. Sie betrifft die Erbinformationen von Viren, Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen. Zu den angesprochenen Mikroorganismen gehören Bakterien, Schimmelpilze und Hefen. Jede Zelle eines Lebewesens enthält sein gesamtes genetisches Material. Gene enthalten Erbinformationen. Für manche Funktion eines Körpers ist nur ein Gen zuständig. Andere Funktionen oder Eigenschaften benötigen das Einschalten mehrerer Gene.Diese Gene sind auf einem fadenförmigen Riesenmolekül angeordnet. Wir können einzelne Erbinformationen auf ihre Eigenschaft und auf ihren Standort auf diesem Faden hin analysieren. Ich möchte diese Arbeit kurz mit Genomanalyse bezeichnen.Mit Hilfe gentechnischer Verfahren kann man diese Erbinformationen aus ihrer Umgebung herauslösen und über Arten und Grenzen hinweg in andere Orgamismen übertragen. Es geht also darum, Erbanlagen gezielt zu verändern. Es geht darum, Organismen neue Fähigkeiten zu verleihen und unerwünschte aus
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Seesingihnen zu entfernen. Es geht also um eine Leistung, die es in der Natur derzeit so nicht gibt.Meine Damen und Herren, die Entwicklung des Lebens ist von Anfang an durch eine Evolution bestimmt, die auch immer schon zu genetischen Veränderungen im Lebewesen geführt hat. Seit Jahrtausenden hat der Mensch durch Züchtung immer neue genetische Veränderungen hervorgebracht. Die Gentechnologie ermöglicht es nun, solche Veränderungen sehr gezielt, sehr genau und sehr schnell herbeizuführen.Zu 25 Bereichen hat der Ausschuß für Forschung und Technologie Empfehlungen formuliert, die der Bundestag heute in Richtung Bundesregierung beschließen möge. Es wäre reizvoll, zu allen diesen Bereichen Aussagen zu machen. Da das aber nicht möglich ist, will ich auf einige Punkte eingehen, die mir heute wichtig sind; vielleicht sind es morgen schon andere.Ich möchte zunächst etwas über Genomanalyse und pränatale Diagnose sagen. Von der Gentechnologie erhoffen sich nicht nur die Wissenschaftler, mehr Kenntnisse vom Menschen, von seinen Erbanlagen, Krankheiten und Fähigkeiten zu erlangen. Ich möchte einige rechtliche Folgerungen aus unseren Erkenntnissen ziehen.Nur wenn ganz klar ist, daß wir ein für allemal den einzelnen Menschen als Person annehmen und deswegen alle züchterischen Versuche ausschließen, kann ich den Einsatz gentechnischer Methoden am Menschen diskutieren. Der vorliegende Bericht befaßt sich im Abschnitt II unter den Ziffern 6 bis 13 mit den schon vorhandenen oder noch zu erwartenden Möglichkeiten der Genomanalyse, der somatischen Gentherapie und des Bereichs der gentechnischen Eingriffe in die Keimbahn des Menschen. 38 Empfehlungen mit zahlreichen weiteren Hinweisen werden ausgesprochen. Da ist also schon über manches nachzudenken. Es gibt z. B. die Möglichkeit, schon in einem sehr frühen Stadium einer Schwangerschaft sehr viel über die künftige Gesundheit des neuen Lebens zu erfahren. Wir haben uns im Deutschen Bundestag mit dieser Frage befaßt, als wir ein Forschungsprogramm der Europäischen Gemeinschaft diskutierten, das die Bezeichnung „Prädiktive Medizin" trug. Wir haben es seinerzeit abgelehnt.Die Problematik bleibt aber nach wie vor: Die Eltern erfahren von ihrem Arzt, daß ihr Kind — noch im embryonalen Zustand — an einer derzeit unheilbaren Krankheit leiden wird. Soll das Kind abgetrieben werden oder nicht?Unabhängig von der Einstellung des einzelnen Menschen zur Frage der Abtreibung wird ein neues Problem deutlich: Wie reagiert das Umfeld dieser Eltern darauf, wenn ein behindertes Kind geboren wird? Wird man den Eltern Vorwürfe machen? Sind wir in unserer Gesellschaft noch bereit, Behinderte anzunehmen? Wann wird die erste politische Bewegung kommen, die dieses Problem in ihre Neidpropaganda einbezieht, etwa unter der Fragestellung: Sollen die da ihr Kind mit deinen Krankenkassenbeiträgen aufziehen können?Schreckliche Entwicklungen können sich da auftun. Viele glauben, das Problem mit einem Verbot der pränatalen Diagnostik lösen zu können. Das kann und darf nicht das letzte Wort sein. Wir sollten im Gegenteil schwangere Frauen ermutigen, frühzeitig und immer wieder den Arzt aufzusuchen, um sich und ihr Kind untersuchen zu lassen. Eine genetische Beratung und eine pränatale Diagnostik mit Hilfe einer genetischen Analyse auf DNA-Ebene werden ja auch nur in den Fällen nützlich sein, in denen entscheidende Fragen nach der Gesundheit des Kindes gestellt werden müssen. In den weitaus meisten Fällen wird eine solche Diagnostik den Eltern Sicherheit geben können, nach menschlichem Ermessen ein gesundes Kind zur Welt bringen zu können.Das gilt nur für die anderen. Ich habe vielleicht gut reden, meine Damen und Herren, denn meine Frau und ich haben drei gesunde Kinder. Aber ich weiß von vielen Familien, die mit einem behinderten Kind oder auch wegen eines behinderten Kindes zu einer glücklichen Familie geworden sind.Es stellt sich hier uns, der Politik, die Aufgabe, in unserer leistungs- und genußbezogenen Gesellschaft, die Lebensrechte und die Entfaltungsmöglichkeiten aller Menschen zu sichern.
Genomanalyse kann sich nach meiner Auffassung nur auf den Einzelfall beziehen. Es kann und darf keine vom Staat angeordnete Analyse geben, nirgendwo. Das gilt aber auch für Krankenkassen, Versicherungen und Arbeitgeber, um nur einige Anwendungsbereiche anzusprechen.Ich begrüße es, daß sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit dem Problem der Genomanalyse befaßt und einen Bericht dazu vorlegen wird. Diesen sollten wir zu gegebener Zeit nutzen und Schlußfolgerungen für eine notwendige gesetzliche Regelung ziehen.Mein zweiter Hinweis betrifft Eingriffe in das menschliche Erbgut. Es gibt zwei sehr unterschiedlich bewertete Verfahren, zu denen auch der Ausschuß für Forschung und Technologie Empfehlungen vorlegt. Es geht zunächst um die Übertragung genetischer Informationen in Körperzellen. Man hofft, zur Behebung von genetischen Störungen gentechnologisch veränderte Zellen in den menschlichen Körper einführen zu können, z. B. um ein fehlendes Gen zu ergänzen. Wenn durch einen solchen Eingriff die personale Struktur des Menschen nicht verändert wird und ein therapeutisches Anliegen vorliegt, ist eine solche Maßnahme etwa wie eine Organtransplantation zu bewerten. Dennoch sollte auch eine solche medizinische Methode auf eine vernünftige rechtliche Basis gestellt werden.Ganz anders sind gentechnische Eingriffe in die Keimbahn des Menschen zu bewerten. Bei solchen Eingriffen ist nicht nur der einzelne Mensch, sondern es sind auch alle Nachkommen betroffen. Ich möchte die Empfehlungen 13.1 und 13.2 der Beschlußvorlage ausdrücklich bekräftigen.Ich muß auf einem strafrechtlichen Verbot gentechnischer Eingriffe in die Keimbahnzellen des Menschen und in befruchtete Eizellen bestehen. Draußen
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Seesingim Lande muß ich immer wieder über diese technische Möglichkeit diskutieren. Es wird gefragt, ob man nicht durch solche Eingriffe z. B. die Weitergabe von Erbkrankheiten verhindern könne. Dadurch sei es möglich, Not, Elend und persönliche Betroffenheit zu verhindern.Ich muß hier warnen, dringend warnen. Die technischen Möglichkeiten mögen eines Tages ja geschaffen werden. Aber noch ist es so, daß die Folgen einer solchen Manipulation durch Aufschneiden und Verkleben der DNA nicht berechenbar sind. Man kann eventuell nicht nur Erbkrankheiten ausschalten, sondern auch andere Eigenschaften des Menschen und aller seiner Nachkommen verändern. Ich bin dankbar, daß alle, die in der Bundesrepublik mit der Gentechnologie zu tun haben, solche Eingriffe in die Keimzellen von Menschen ablehnen.
Wenn sich in vielen Jahren die Verfahrensmöglichkeiten einmal so verändert haben sollten, daß die Mediziner solche Eingriffe mit einem verantwortbaren Risiko durchführen könnten, dann muß sich das Parlament halt wieder mit der Frage beschäftigen.Wir wollen diese Eingriffe nicht. Deswegen werden wir im Embryonenschutzgesetz, das wir hier ja sehr bald beraten werden, für ein strafrechtliches Verbot sorgen.Drittens noch ein paar Bemerkungen zu den Anwendungsgebieten der Gentechnologie. Der Bericht des Forschungsausschusses gibt Empfehlungen für fünf Anwendungsgebiete der Gentechnologie: erstens im Bereich biologische Stoffumwandlung und Rohstoffversorgung, zweitens im Bereich Pflanzenproduktion, drittens im Bereich Tierproduktion, viertens im Bereich Umwelt und fünftens im Bereich Gesundheit.Damit wird die gesamte Bandbreite der Anwendungsbereiche deutlich. Betroffen sind Viren, Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere, also alle Lebensformen, die wir kennen. Deswegen kann ich nur einige wenige Dinge noch angehen.Erstens. Im Bereich der biologischen Stoffumwandlung gibt es weltweit interessante Entwicklungen. Ich will gar nicht von den Wünschen sprechen, die uns so oft entgegengebracht werden. Ich meine z. B. die Herstellung von Bioethanol als Kraftstoff für Motoren.Ich möchte von einem Verfahren berichten, das eine kalifornische Firma entwickelt hat und das patentiert worden ist. Es geht darum, schnell und vorübergehend rekombinante Produkte in Pflanzengeweben herzustellen. Derzeit stellt diese Firma einen Stoff her, der vor allem in Sonnenpflegemitteln verarbeitet wird. Der Vektor, der das ganze Tun veranlaßt, der also in die Pflanzen — es handelt sich vor allem um Tabakpflanzen — eingeschleust wurde, ist nicht auf Dauer stabil und nicht in der Fortpflanzung übertragbar. Damit kommt man einerseits Sicherheitsbedenken entgegen; andererseits hat auch die Firma erhebliche wirtschaftliche Vorteile. Es wird ihr nämlich ermöglicht, das patentierte Verfahren immer wieder zu verkaufen.Zweitens. In der Bundesrepublik spielt in der Pflanzenzucht eine lachsfarbene Petunie insoweit eine große Rolle, als diese Farbe nur durch die Übertragung eines Maisgens gewonnen werden kann. Gegen diese Pflanzen organisieren sich Bürgerinitiativen mit dem Namen „Bürger beobachten Petunien". Ihr Ziel ist es, einen Freilandversuch mit lachsfarbenen Petunien zu verhindern.Die Australier scheinen das ganz anders zu sehen. Es ist ihnen wohl gelungen, blaue Rosen gentechnisch herzustellen. Blaue Rosen gibt es von Natur aus nicht. Die weiteren Bemühungen der australischen Pflanzenzüchter gehen nun dahin, das Welken von Schnittblumen und Salatpflanzen beträchtlich zu verzögern. Wenn das gelingt, dann wird selbst der mitteleuropäische Markt für australische Schnittblumenlieferanten hochinteressant.Drittens. Wir wissen, daß es heute schon möglich ist, gerade in der Rinder- und Schafzucht identische Mehrlinge durch Teilung von frühen Embryonen zu erzeugen. Oder: Eine Hochleistungskuh wird so behandelt, daß sie in einem Zyklus statt eines befruchteten Eies 10 oder 15 solcher Eizellen produziert. Die Kuh wird, wie heute üblich, künstlich befruchtet. Die entstandenen Embryonen werden um den siebenten Tag nach der Befruchtung ausgespült und in die Gebärmutterschleimhaut von Leihmutterkühen eingesetzt, die allerdings dem gleichen Zyklus unterworfen sein müssen wie die Eispenderin. Notfalls können die Embryonen tiefgekühlt zwischengelagert werden. Das hat zwar mit Gentechnologie gar nichts zu tun. Aber dadurch werden Wege eröffnet, diese Tiere durch Einschleusung fremder Gene zu einer Art Bioreaktor umzuprogrammieren. Holländische Wissenschaftler wollen in wenigen Jahren eine Kuh gezüchtet haben, die in der Lage ist, menschliche Muttermilch zu produzieren; sie erwarten, 1992 damit auf den Markt kommen zu können.Ich will nicht mehr von der eierlegenden Wollmilchsau sprechen. Ich plädiere bei all diesen technischen Möglichkeiten für Formen der Selbstbeschränkung. Besonders sollte eine Neukombination von Tieren ausgeschlossen werden. Sollten sich aber im Laufe der Zeit Möglichkeiten zur Produktionssteigerung ergeben, so müßten sie genutzt werden, um die ökologische Belastung zu verringern. Ich darf z. B. daran erinnern, daß die Methanbelastung durch das Wiederkäuen der Rinder zu Schädigungen der Erdatmosphäre geführt hat.Ich habe diese Möglichkeiten vor allen Dingen deswegen vorgetragen, weil ich aufzeigen wollte, daß es weltweit zu rasanten Entwicklungen kommt.National können wir nicht mehr die Frage stellen: Wollen wir Gentechnologie oder wollen wir sie nicht? National können wir aber noch die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit den Chancen und Risiken der Gentechnologie so lösen, daß Anlagen und Verfahren den deutschen Vorstellungen von einer Industrieproduktion entsprechen, die nicht nur auf Gewinn, sondern auch auf Ökologie und Zukunftssicherung aus ist. Ich meine, die Gentechnologie ist wie vieles in dieser Welt ein Gut, mit dem man wuchern kann, zugleich aber auch eine Aufforderung an die Verantwortung der Menschen.
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SeesingEs ist zweifellos noch vieles zu sagen. Ich habe nur einige wenige Punkte herausgegriffen. Weisen Sie also bitte nicht auf das hin, was ich nicht gesagt habe. Bei einer zehnstündigen Debatte hätte ich mehr, aber auch noch nicht alles sagen können. Ich möchte einen Platz für die Gentechnologie in der Bundesrepublik Deutschland. Wichtig scheint mir dabei zu sein, daß wir uns alle miteinander darum bemühen, daß wir zu einer Ethik der Selbstbeschränkung finden. Schließlich sind und bleiben wir Gottes Geschöpfe.Ich bitte herzlich, der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie zuzustimmen.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Herr Catenhusen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die technologische Macht ist kollektiv, nicht individuell; also kann nur kollektive Macht, und das heißt nicht zuletzt politische Macht, sie auch bändigen. Diese geht aber in den parlamentarischen Demokratien vom Volke aus, das seine Regierungen wählt und dessen Willen diese ausführen sollen. " Mit diesen Worten hat der Philosoph Hans Jonas vor genau zwei Jahren seine Ansprüche an den Umgang der Politik mit grundlegenden neuen Techniken formuliert. Er hat warnend darauf hingewiesen, daß die parlamentarische Demokratie als freiestes politisches System auf Dauer grundsätzlich in Frage gestellt werden könnte, wenn nicht innerhalb dieses Systems durch die Politik rechtzeitig Maßstäbe für einen verantwortlichen, im Sinne von Jonas zurückhaltenden Umgang mit der übergroßen Macht der Technik entwickelt werden. Wir teilen diese Überzeugung von Hans Jonas, daß die Politik dieser Verantwortung gerade gegenüber der Gentechnologie gerecht werden muß.
Denn, meine Damen und Herren, nach fünf Jahren Arbeit zum Thema Gentechnik im Deutschen Bundestag sind wir uns, glaube ich, darüber einig, daß die wissenschaftliche Methode der Gentechnik darauf abzielt, uns Menschen eine umfassende Beeinflussung der Natur und des Menschen selbst als eines Teiles dieser Natur zu ermöglichen. Wir können mit Hilfe der Gentechnik Erbinformationen in bislang nicht gekannter Geschwindigkeit und Genauigkeit über alle Artengrenzen hinweg austauschen. Es verwundert einen deshalb eigentlich nicht, wenn beispielsweise nach einer Untersuchung des amerikanischen Office of Technology Assessment ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung den Wunsch teilt, es wäre besser, wir würden das Wissen, Zellen gentechnisch zu manipulieren, nicht besitzen. Ich bin der festen Überzeugung, daß es auch hier in diesem Raum den einen oder anderen gibt, der diese Auffassung teilt.Wir waren 1984 als Parlament gut beraten, Anfragen und Sorgen der Bevölkerung gegenüber der Gentechnologie nicht voreilig pauschal als irrationale Ängste abzutun, sondern sie in einem Prozeß von Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung auf ihren rationalen Kern hin zu hinterfragen; denn, meine Damen und Herren, in diesen Ängsten kommt bisweilen die Überzeugung zum Ausdruck, daß technische Entwicklungen autonom, ohne Beeinflussungsmöglichkeiten durch die Gesellschaft oder gar das Parlament ablaufen. Manchen von uns bedrückt sicherlich eine Situation, in der das Tempo der Entwicklung von neuen Technologien — dafür ist die Gentechnik ein Paradebeispiel — so rasch verläuft, daß die Möglichkeiten des einzelnen und die Möglichkeiten der Gesellschaft zur Reflexion über Maßstäbe eines verantwortlichen Umgangs ausgeschaltet zu werden drohen.Es war deshalb richtig und notwendig, daß das Parlament schon vor fünf Jahren einen Prozeß der Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung begonnen hat. Wir versuchen heute im Parlament, diesen Prozeß zu einem ersten Zwischenergebnis zu führen, indem wir uns über Grundsätze verständigen, die das weitere Vorgehen der Regierung und aller Verantwortlichen in diesem Lande im Umgang mit der Gentechnik bestimmen sollten. Wir haben diese Arbeit in einer Phase begonnen, wo die Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnik schon breit erkennbar waren, Produkte und Verfahren aber noch nicht breit genutzt wurden.Ich bin in den letzten fünf Jahren von vielen ermuntert worden, Entscheidungen des Parlaments, die der Anwendung dieser Technik Grenzen setzen, vorzubereiten und herbeizuführen. Dabei klang sehr oft die Skepsis durch: Kommt ihr nicht doch wieder zu spät?
Wir befinden uns im Wettlauf mit der Zeit, keine Frage, aber, meine Damen und Herren, wir treffen heute Entscheidungen über Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnik, die in vielen Fällen zu einem erheblichen Teil noch nicht praktisch genutzt werden.Ich nenne die Züchtung genmanipulierter Pflanzen. Sie sind auf dem Markt noch nicht erhältlich. Es ist noch keine Zulassung einer gentechnisch manipulierten Pflanze beantragt worden. Ich nenne die gentechnische Analyse menschlicher Erbinformationen. Auch diese technische Methode kann heute noch nicht in der vorgeburtlichen Diagnostik oder bei Einstellungsuntersuchungen in der Arbeitswelt eingesetzt werden.Auf der anderen Seite hält gerade in diesen Monaten die Methode des DNA-Fingerprinting zur Täteridentifizierung Einzug in unsere Gerichtssäle, ohne daß der Gesetzgeber vorher entschieden hat, ob und unter welchen Bedingungen diese Methode der Täteridentifizierung angewandt werden kann.
Wir sind im Wettlauf mit der Zeit, und es ist höchste Zeit für die Entscheidungen, die wir heute zu treffen haben.In einer Hinsicht kommen wir allerdings immer zu spät: Wir können immer erst die Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse bedenken, wenn diese Erkenntnisse gemacht worden sind. Wir hatten nie die Chance, ja oder nein zur Genmanipulation zu sagen,
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Catenhusenbevor diese eine reale technische Möglichkeit geworden war. Ich halte auch den Versuch, durch Nichtwissen-Wollen den Folgen moderner Naturwissenschaften zu entgehen, für nicht machbar und auch nicht für wünschbar.
Selbst wenn wir die Genforschung in der Bundesrepublik Deutschland einstellen, wird das Wissen über die Möglichkeiten international weiter erzeugt, und auch dann müssen wir Regeln für den Umgang mit diesem Wissen entwickeln. Dadurch daß das Parlament auf Initiative der SPD seit Mitte 1984 diesen Prozeß von Technikfolgenabschätzung und -bewertung hier durchführt, haben wir einen Beitrag dazu geleistet, daß die Sorgen und Ängste in der Bevölkerung doch zum überwiegenden Teil in konkrete Anforderungen und Erwartungen an Entscheidungen münden, die die Politik in diesem Bereich zu treffen hat, und daß sie sich nicht in fundamentalistische, pauschale Nein-Haltungen verloren haben, die meiner Ansicht nach nur verdecken, daß man letztendlich den Anspruch aufgibt, den Weg im Umgang mit der Gentechnik politisch beeinflussen zu wollen.Meine Damen und Herren, wir haben durch politische Diskussionen im Parlament Mut zum Engagement der Bürger für sinnvolle Grenzen im Umgang mit der Gentechnik gemacht. Wir haben, denke ich, auch eines in diesen fünf Jahren geschafft: nämlich daß die Wissenschaft und die Industrie, die ursprünglich scharf gegen den Regulierungsanspruch der Politik aufgetreten sind, sich mittlerweile zum Teil konstruktiv in den Prozeß eingeschaltet haben, wo im Interesse der Überlebensfähigkeit unserer Natur und wo im Interesse des Schutzes des Menschen der Anwendung dieser Technik Grenzen zu ziehen sind.Ich möchte einen aktuellen Fall würdigen: Es ist schon erstaunlich, daß der Vorsitzende der Zentralen Kommission für die biologische Sicherheit sich gerade in den letzten Tagen öffentlich dafür ausgesprochen hat, daß auch ausgewiesene Kritiker der Gentechnik ihren Platz in Kommissionen haben müßten, die Entscheidungen über die Sicherheit von gentechnischen Forschungsvorhaben zu treffen haben.
Ich meine, das muß uns ermutigen, mit den heutigen Beratungen die überfälligen politischen Entscheidungen vorzubereiten.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten auch festhalten: In den letzten fünf Jahren hat sich immer deutlicher ergeben, daß der Standort Bundesrepublik Deutschland für die gentechnische Forschung und für die gentechnische Anwendung in der Industrie nicht dadurch beeinträchtigt war, daß zuviel diskutiert worden ist; das größere Hemmnis — auch das größere Investitionshemmnis — war eigentlich das Fehlen klarer Rahmenbedingungen.
Daraus können wir heute, denke ich, die Konsequenzen ziehen, und daraus müssen wir auch die Verpflichtung ableiten, daß der Gestaltungsanspruch derPolitik in diesem Bereich noch in dieser Legislaturperiode durch ein Gentechnik-Gesetz
und durch das strafrechtlich bewehrte Verbot des Eingriffs in menschliche Keimbahnen auch tatsächlich eingelöst wird.
Wir Sozialdemokraten lassen uns in dem Anspruch, Maßstäbe für einen verantwortlichen Umgang mit der Gentechnologie in unserem Lande zu entwickeln, von folgenden Grundsätzen leiten:Wir gehen erstens davon aus, daß es bei der Gentechnik um Chancen und Risiken geht, daß ein pauschales Ja und ein pauschales Nein zur Gentechnik, daß Euphorie und pauschale Ablehnung fehl am Platze sind. Ich denke, daß wir im Bereich der Medizin nur durch die Methode der Genforschung in die Lage versetzt worden sind, etwa den Entstehungsprozeß von Krebs zum erstenmal ansatzweise wirklich zu verstehen, und daß wir nur durch die Gentechnik die Chance haben, für einige bisher nicht behandelbare Krankheiten Impfstoffe — ich nenne den Hepatitis-BImpfstoff — zu entwickeln.Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Bereiche, in denen denkbare Nutzanwendungen heute sehr schwer zu bejahen sind, weil die mit ihnen verbundenen ökologischen Risiken heute zum Teil nicht abschätzbar und deshalb nach unserer Überzeugung auch nicht verantwortbar sind. Das heißt, ob wir irgendwann einmal gentechnisch manipulierte Mikroorganismen zu Zwecken der Umweltsanierung einsetzen können, hängt doch davon ab, ob wir wirklich in der nahen Zukunft die Grundlagen schaffen können, die es uns ermöglichen, eine qualifizierte Abschätzung des Risikos solcher Eingriffe in Ökosysteme vorzunehmen. Es ist die Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion, daß die nicht rückholbare Freisetzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen zur Zeit nicht verantwortbar ist.Der zweite Gesichtspunkt, der uns leitet, ist der, daß es keine pauschalen Risiken der Gentechnik, aber im Einzelfall durchaus ein erhebliches Risiko- und Gefährdungspotential gibt.
Aber damit ist die Diskussion um die Gentechnik nicht beendet; denn wir verfügen seit Jahrzehnten über Know-how etwa im Umgang mit hochgefährlichen Krankheitserregern in Forschung und Produktion, und auf dieser Grundlage entwickeln und produzieren wir schon seit Jahrzehnten abgeschwächte Krankheitserreger, die als Lebendimpfstoffe eingesetzt werden.Meine Damen und Herren, es gibt riskante Forschung; wir müssen diese Forschung aber betreiben, wenn wir nur auf diesem Wege Erkenntnisse über die Struktur der Entstehung von hochgefährlichen Krankheitserregern gewinnen und Ansätze zur Früherkennung und Behandlung finden können. Wir verfügen über technische Vorkehrungen, die uns im Labor den Umgang mit diesen biologischen Risiken ermöglichen. Es kommt hier im einzelnen darauf an, zum
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CatenhusenSchutz des Laborpersonals und der Umwelt in ausreichendem Maße entsprechende Sicherheitsvorkehrungen vorzuschreiben.
Im Unterschied dazu geht es in der Frage der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt vor allem darum, daß die Grundlagen für eine Risikoabschätzung heute in vielen Fällen zu gring sind. Hier äußert die SPD-Bundestagsfraktion große Vorbehalte, und meine Kollegin Blunck wird zu dieser Freisetzungsproblematik noch ausführlich Stellung nehmen.Drittens. Wir als SPD-Bundestagsfraktion sehen natürlich Mißbrauchsmöglichkeiten, die mit der Anwendung der Gentechnik verbunden sind. Ich nenne zwei Dinge, auf die wir besonders achten müssen. Zum einen ist die Genforschung natürlich auch im militärischen Bereich einsetzbar. Mit Hilfe der Gentechnik könnte zum erstenmal eine Entwicklung eingeleitet werden, in deren Folge biologische Waffen, deren Einsatz heute für den Aggressor nicht kalkulierbar ist, weil die Gefahr für denjenigen, der diese biologischen Waffen einsetzt, selbst von ihnen getroffen zu werden, zu groß ist. Diese Waffen können mit Hilfe der Gentechnik so maßgeschneidert werden, daß sie tatsächlich einsetzbar wären. Meine Damen und Herren, dies würde eine sehr gefährliche Entwicklung einleiten, und deshalb setzen wir uns in unserem Änderungsantrag dafür ein, daß bei der Bundeswehr kein gentechnisches Know-how aufgebaut wird, daß Gentechnik weder in Forschungseinrichtungen der Bundeswehr noch in vom Militär finanzierten Projekten eingesetzt werden darf. Wir müssen diese Position in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen, damit wir weltweit ein Zeichen dafür setzen, daß wir auf Dauer zu einem Verbot auch der B-Waffen-Forschung kommen. Heute sind weltweit nur die Produktion, der Einsatz und die Lagerung von B-Waffen verboten, aber nicht die Forschung an solchen biologischen Organismen, die als B-Waffen eingesetzt werden können.Wir wollen mit dem klaren Verbot der militärischen Nutzung der Gentechnologie in der Genomanalyse und in der sonstigen Forschung international ein Zeichen setzen.
Es geht auch um den falschen Gebrauch der Gentechnik. Deshalb haben wir uns in unserem Änderungsantrag dagegen ausgesprochen, daß die Strategie der Entwicklung herbizidresistenter Pflanzen unter Nutzung der Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland gefördert und vorangebracht wird; denn Gentechnik kann auch für falsche gesellschaftliche Zielsetzungen eingesetzt werden. Für uns ist die Strategie der Züchtung herbizidresistenter Pflanzen ein Zeichen für eine verfehlte Agrarpolitik, die darauf abzielt, den Einsatz von Giften in der Landwirtschaft nicht zu verringern, sondern zu stabilisieren, vielleicht sogar auszuweiten.
Ich möchte aber auch deutlich sagen, daß nach fünf Jahren Diskussion im Deutschen Bundestag über die Chancen und Risiken der Gentechnik eins ganz wichtig ist: Wir haben uns fünf Jahre lang von seiten der SPD, von seiten der Koalitionsfraktionen darum bemüht, auszuloten, wie breit die Grundlage für einen Konsens sein kann, den wir vor allem dort unverzichtbar brauchen, wo es darum geht, in Gesetzen festzulegen, wie aus unterschiedlichen ethischen Einstellungen heraus die Grenzziehung der Genforschung für die Anwendung am Menschen vorgenommen wird. Es ist ganz wichtig, daß sich der Deutsche Bundestag in den Fragen der Humangenetik weitgehend einig ist.
Ich betone ausdrücklich, daß es Einigkeit im Hause darüber gibt, daß der Eingriff in die menschlichen Erbanlagen mit Hilfe der Gentechnik gegen unsere Vorstellungen von menschlicher Würde verstößt.
Unsere Vorstellung von der Individualität eines Menschen fußt letztlich darauf, daß der Mensch Produkt eines genetischen Zufalls ist. Wir wollen nicht, daß diese unverwechselbare Individualität, die Geschöpflichkeit des Menschen durch steuernden, planenden Eingriff des Menschen in die Erbanlagen außer Kraft gesetzt wird.
Wir sind uns in dieser Debatte heute auch darin einig, daß wir bei der Nutzung der Analyse menschlicher Erbanlagen zurückhaltend sein müssen. Wir sind uns auch darin einig, daß, wenn es etwa um die Nutzung der Gentechnik in der vorgeburtlichen Diagnostik geht, das pauschale Nein eine zu einfache Antwort darstellt; denn ethisch gebotene Entscheidungen können auch darin bestehen, daß wir die Entscheidungsfreiheit des einzelnen in solchen Fragen respektieren, ihm allerdings dabei helfen wollen, sich frei für oder gegen die Nutzung der Methoden der vorgeburtlichen Diagnostik zur Früherkennung von schweren genetischen Schäden eines Kindes zu entscheiden.Ablehnung einer solchen Methode kann auch bedeuten, daß ich mich persönlich gegen eine solche Möglichkeit entscheide, aber nicht versuche, meine persönliche Wertentscheidung mit Hilfe des Gesetzgebers als Norm jedermann vorzugeben, mit der Folge, daß derjenige, der eine andere wertbezogene Einstellung zu solchen Fragen hat, sich strafbar macht.
Ich glaube, wir sollten dieses Prinzip der Eigenverantwortung des einzelnen ernst nehmen.Natürlich kann uns entgegengehalten werden, daß die Entscheidung einer Frau in einer solchen Situation immer gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt. Aber das gilt auch für die Entscheidung einer schwangeren Frau in einer Konfliktsituation beim § 218. Deshalb gibt es für mich gute Gründe, ganz nachdrücklich zu unterstreichen, wie wichtig die Übereinstimmung in dieser Frage in diesem Hause ist.Es ist auch sehr wichtig, noch einmal daran zu erinnern, daß in Fragen der Zurückweisung eugenischer Zielsetzungen, die zweifellos durch das vermehrte
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CatenhusenWissen über genetische Informationen des Menschen in der öffentlichen Diskussion befördert werden können, Einigkeit besteht. Dieses Wissen darf nicht zu einer eugenisch bestimmten Gesundheitspolitik führen.
Wir stehen mit diesen Bedenken nicht alleine, denn das Europäische Parlament hat sich ja ausdrücklich die vom Deutschen Bundestag geäußerte Kritik an eugenischen Zielsetzungen europäischer Gesundheitspolitik zu eigen gemacht. Ich möchte ausdrücklich der Legende widersprechen, daß die besondere Sensibilität der deutschen Bevölkerung, der deutschen Politik in Fragen des Umgangs mit der Gentechnik eine nationale Besonderheit sei. Ich denke, wir haben eine Chance, in der Regulierung der Gentechnik auch international eine Vorreiterrolle zu übernehmen.
Ich meine, daß die Arbeit des Parlaments in dem Bereich mit der heutigen Debatte nicht beendet ist, sondern erst richtig anfängt.
Wir brauchen noch in dieser Legislaturperiode Entscheidungen zu einem Gentechnikgesetz, zu einem Verbot des Eingriffs in die Keimbahn des Menschen. Wir Sozialdemokraten meinen, daß dem andere Schritte zu folgen haben, vor allem ein Genomanalysegesetz, das rechtsverbindlich regelt, wo, unter welchen Bedingungen überhaupt menschliche Erbinformationen erhoben werden dürfen und wo Dritte überhaupt einen Zugang zu genetischen Erbinformationen eines Menschen erhalten dürfen. Diese Diskussion ist überfällig.Ich habe in meinem Diskussionsbeitrag deutlich gemacht, daß es in dieser Debatte im Hinblick auf drei, vier grundsätzliche Fragen Dissens zur Haltung der Koalitionsfraktionen gibt. Das ist der Grund, weshalb wir Sozialdemokraten einen eigenen Änderungsantrag vorgelegt haben. Wir können der Beschlußempfehlung nicht zustimmen, weil für uns insbesondere das befristete Verbot der Freisetzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen einen unverzichtbaren Bestandteil eines Konsenses über Gentechnik darstellt, in den wir Sozialdemokraten uns einbinden lassen. Meine Damen und Herren, in diesem Sinne streiten wir auch heute nicht so sehr über das Ziel, sondern über die Wege hin zu diesem Ziel.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Kohn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Der Politik wird ja häufig vorgeworfen, daß sie sich erst dann mit Themen auseinandersetze, wenn das Kind — salopp gesprochen — schon in den Brunnen gefallen sei. Ich glaube, daß der Deutsche Bundestag diesmal mit der Einsetzung der Enquete-Kommission Gentechnologie im Jahre 1984 den Versuch unternommen hat, dieser Gefahr vorzubeugen und erstmals in einem modellhaften Verfahren Technikfolgenabschätzung zu praktizieren.Ich will uns hier nicht selbst auf die Schulter klopfen, doch ich denke, daß die internationale Resonanz, die die Arbeit der Enquete-Kommission gefunden hat, deutlich macht, daß wir hier einen vernünftigen Ansatz gewählt haben. Vielleicht ist die Arbeit der Enquete-Kommission für die weitere Beratung der Thematik „Institutionalisierung und Organisation des Technikfolgenabschätzungsprozesses" in diesem Hause ein interessantes Vorbild. Ich würde mir das jedenfalls wünschen.Ich will an dieser Stelle ganz persönlich den Kollegen Catenhusen und Seesing danken, mit denen ich nun seit fünf Jahren, seit der Einsetzung der EnqueteKommission, an diesem Thema gearbeitet habe.
Trotz aller in Einzelpunkten natürlich vorhandenen Unterschiede hat sich auch ein hohes Maß an persönlicher Vertrautheit und an Bereitschaft, die Argumente des anderen aufzunehmen, ergeben. Der Konsens, von dem Sie, Herr Catenhusen, hier gesprochen haben, ist in der Tat auch für uns Liberale ein hohes Gut, weil wir denken, diese Thematik ist zu wichtig, als daß wir sie zum Gegenstand der üblichen Rituale der Tagespolitik machen dürften.Ich will noch eine ganz persönliche Bemerkung hinzufügen. Als ich 1984 von meiner Fraktion in die Enquete-Kommission geschickt wurde, war ich natürlich kein Experte. Ich maße mir auch heute nicht an, mich in diese Rubrik einzureihen. Aber ich habe in diesen Jahren gelernt, welche gesellschaftlichen, welche politischen Probleme von der Gentechnologie ausgehen können, wie wir als Staat, als Gesellschaft darauf zu reagieren haben. Bei all dem, was einen im politischen Prozeß sonst manchmal beschwert — jeder von uns hat hier hinreichende Erfahrungen —, war das für mich persönlich eine der angenehmsten Erfahrungen im Deutschen Bundestag.Meine Damen und Herren, ich will zunächst versuchen, einige wenige Bemerkungen zur Frage der Grundsätze zu machen, die für uns Liberale maßgebend sind, wenn wir uns mit der Gentechnologie auseinandersetzen. Ich unterstreiche hier das, was sowohl vom Kollegen Seesing als auch von Herrn Catenhusen gesagt wurde. Wir sind der Überzeugung, daß nur mit konsequenter und strenger Sachlichkeit dieser Thematik begegnet werden kann. Wir haben uns von Anfang an dagegen gewehrt, daß Horrorgemälde die öffentliche Diskussion bestimmt haben. Wir haben uns auch mit der gleichen Präzision und Deutlichkeit dagegen verwahrt, daß der Versuch gemacht werden könnte, irgend etwas unter den Teppich zu kehren. Alles mußte auf den Tisch, alles mußte ausgetragen werden.Vor diesem Hintergrund sage ich: Der Grundsatz, von dem wir Liberalen uns auch in Zukunft leiten lassen wollen, lautet: Wir wollen, daß die Gentechnolo-
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Kohngie in unserem Lande verantwortungsbewußt gestaltet wird.Was heißt das? Das heißt, die Gentechnologie muß nach unserer Überzeugung in vollem Umfange den ethischen Maßstäben unterworfen bleiben, die sich aus der Wertordnung unseres Grundgesetzes ergeben. Die Gentechnologie muß auch weiterhin strenge Sicherheitsanforderungen erfüllen, um eine möglich werdende Gefährdung von Mensch und Umwelt auszuschließen. Die Gentechnologie muß sich ständig der Technikfolgenabschätzung auf ihre ethischen, auf ihre sozialen, auf ihre ökologischen, auf ihre ökonomischen Konsequenzen hin stellen. In dem so beschriebenen Rahmen muß die Gentechnologie mit dem Ziel der Förderung der Gesundheit, der Welternährung und des Umweltschutzes weiterentwickelt werden. Dies ist die Grundposition, die wir Liberalen bezogen haben.Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eine Einfügung machen: Es hat auch in den zahlreichen Diskussionen, die wir seither geführt haben, vielfältige Versuche gegeben, die Gentechnologie gleichsam verantwortlich zu machen für alle Beschwernisse und Probleme, die wir auf dieser Welt haben. Meine Damen und Herren, wir müssen verstehen lernen, daß die Gentechnologie nicht ursächlich ist etwa für die Probleme der Dritte-Welt-Politik, daß sie nicht ursächlich ist etwa für die Probleme der Agrarpolitik in der Bundesrepublik, um nur zwei willkürlich gewählte Beispiele herauszugreifen. Aber wir müssen auch sehen, daß die Gentechnologie in all diesen Bereichen eine Rolle spielen kann. Die Aufgabe, die wir als Politiker und als Gesetzgeber haben, besteht darin, diese Rolle zu definieren, zu beschreiben und sie so zu gestalten, daß wir uns am Ende vernünftigerweise damit sehen lassen können. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Ich kann uns nur aufrufen, an dieser Strategie ganz entschieden festzuhalten.Meine Damen und Herren, ich habe mich von Anfang an mit großem Nachdruck dafür ausgesprochen, schon in der Beschlußfassung über den Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission seinerzeit im Jahre 1984, daß wir der Thematik der ethischen Aspekte der Gentechnologie eine ganz besondere Aufmerksamkeit widmen wollen. Wir haben dieses getan. Ich will deshalb diese Ausführungen in den Vordergrund stellen.Die Anwendung der Gentechnologie auf den Menschen, also das, was man als Humangenetik bezeichnet, ist natürlich das, was viele Menschen in besonderer Weise bewegt und auch vielfältige Ängste, Sorgen, Befürchtungen und Emotionen hervorgerufen hat.Wir Liberalen bekennen uns nachdrücklich zu der Position, die wir in der Enquete-Kommission erarbeitet haben, daß der Eingriff in menschliche Keimbahnzellen für uns nicht akzeptabel ist, und stimmen deshalb ausdrücklich zu, daß im Embryonenschutzgesetz dieses unter Strafe gestellt wird.
Wir sagen dort weiterhin: Die Verwendung gentechnisch veränderter menschlicher Keimbahnzellen zur Befruchtung muß ebenfalls unter Strafe gestellt werden. Wir sagen: Die Herstellung genetisch identischermenschlicher Individuen, also das, was man als Klonierung bezeichnet, ist ebenfalls mit der Menschenwürde unvereinbar und muß deshalb unter Strafe gestellt werden.
Selbstverständlich ist für uns auch alles, was auf die Überschreitung der Artengrenze hinweist, nicht akzeptabel.Deswegen möchte ich an dieser Stelle namens meiner Fraktion alle ausdrücklich dazu aufrufen, daß wir das Embryonenschutzgesetz rasch beraten und rasch verabschieden, damit wir in diesem Bereich eine verbindliche Klarheit haben, wo die ethischen Grenzen der Gentechnologie liegen.
Der zweite Aspekt, den ich ansprechen möchte, ist der Aspekt der Sicherheit. Ich muß unseren Zuhörern ein wenig erklären, was der Hintergrund ist. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland seit vielen Jahren Sicherheitsrichtlinien, die allerdings nur für öffentliche Einrichtungen oder für Projekte Verbindlichkeit haben, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Wir kamen in der Enquete-Kommission zu der Überzeugung, daß das auf Dauer nicht ausreicht, obwohl sich die betroffene Industrie bereit erklärt hat, diese Regeln im Wege einer freiwilligen Selbstbindung zu übernehmen. Das ist deshalb nicht ausreichend, weil wir Politiker dann kein Instrumentarium haben, um einen Verstoß gegen diese Regelungen auf wirksame Weise zu ahnden. Deshalb haben wir die Idee entwickelt, ein Gentechnikgesetz zu machen, das diese Sicherheitsfragen verbindlich regelt und auf dem Wege entsprechender Verordnungen die konkrete Anpassung an den Gang der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung ermöglicht.Wir fordern, daß in diesem Gentechnikgesetz zwei Kriterien maßgebend sind, nämlich einmal daß sich die Frage, wie diese Sicherheit im Detail zu organisieren ist, an dem tatsächlichen Gefährdungspotential orientiert, das von den benutzten gentechnisch veränderten Organismen ausgeht. Wir fordern zweitens, daß sichergestellt wird, daß in diesem einen Gesetz alle relevanten Aspekte auf einem hohen Sicherheitsstandard zusammengefaßt werden, daß wir also eine Konzentrationswirkung erreichen, die dazu beiträgt, etwas weniger Bürokratie zu haben, ohne daß dadurch in irgendeiner Weise Sicherheitsaspekte abgebaut oder verringert würden.Nachdem der Bundesrat den vorliegenden Entwurf eines Gentechnikgesetzes der Bundesregierung mit einer Vielzahl auch kritischer Kommentare bedacht hat, will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Der politische Wille von uns Liberalen ist, daß dieses Gentechnikgesetz in dieser Legislaturperiode des Deutschen Bundestages beraten und beschlossen wird.
Ich appelliere deshalb von dieser Stelle aus an dieBundesländer, der Verständigungsbereitschaft der
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KohnBundesregierung und der sie tragenden Fraktionen entgegenzukommen. Lassen Sie uns uns nicht in eine Diskussion über Zuständigkeitsfragen verzetteln, die wir alle einvernehmlich werden regeln können, sondern lassen Sie uns dafür sorgen, daß dieses Gesetz in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht wird und daß wir vor allem — darauf lege ich als Forschungspolitiker großen Wert — die Grundlagenforschung in unserem Lande durch unüberlegte bürokratische Regelungen nicht behindern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe das hier so deutlich gesagt, obwohl die Bundesratsbank heute nicht besetzt ist.
Ich finde das sehr schade. Denn ich denke, nachdem der Bundesrat so deutliche Kritik an der Bundesregierung geübt hat,
wäre es hilfreich für einen Dialog gewesen, wenn die Vertreter der Länder heute an unserer Debatte im Deutschen Bundestag teilgenommen hätten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch zu einigen Aspekten der Anwendung der Gentechnologie Stellung nehmen. In wenigen Tagen wird das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg sein 25. Jubiläum feiern. Ich habe in vielen Gesprächen mit den Wissenschaftlern dort gelernt, daß die Rolle der Gentechnologie für die Auf gabenstellung, die dort behandelt wird, ganz entscheidend ist. Die Wissenschaftler sagen mir: Wir haben noch nicht einmal eine Chance, diese Krankheit wirksam zu bekämpfen, wenn wir uns nicht gentechnologischer Erkenntnisse und Erfahrungen bedienen. Deshalb sagen wir Liberalen: Wir wollen, daß die Gentechnologie als Gesundheitstechnologie von unserer Gesellschaft angewandt wird.Wir Liberalen sprechen uns weiter dafür aus, daß wir uns im Bereich der Agrarpolitik dem Thema der Sicherung der Welternährung stellen. In diesem Zusammenhang wurde vielfach das Argument vorgetragen, das sei eine ganz verquere Diskussion. Wir in der Bundesrepublik und in der Europäischen Gemeinschaft würden über Überschüsse und über all solche Dinge reden; was sollte der Beitrag der Gentechnologie sein können, um Welternährungsprobleme zu lösen? Ich muß sagen, daß ich diese Argumentation niemals verstanden habe, weil sie eine solche Provinzialisierung des Denkhorizonts ausdrückt, daß ich mich fragen muß: Leben wir denn nicht in einer Welt, in der wir wissen, daß wir es mit dramatischem Wachstum der Weltbevölkerung zu tun haben, daß heute weltweit Menschen hungern und daß wir ihnen durch konkrete Pflanzenzüchtungen die Chance geben müssen, in ihrer Umwelt und ihren klimatischen Bedingungen zu leben,
oder wollen etwa Sie, Frau Zwischenruferin, den Menschen in der Dritten Welt ganz bestimmte Strategien der Ernährung oder des Verhaltens aufzwingen? Das kann von Ihnen doch nicht sinnvollerweise vertreten werden.
Deshalb sage ich: Die Gentechnologie ist auch eine Welternährungstechnologie. Auch deshalb wollen wir sie nachdrücklich unterstützen.Meine Damen und Herren, wir wissen, daß es in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, wie wir die Gentechnologie nutzen können, um z. B. umweltbelastende Stoffe abzubauen. Ich denke hier etwa an die Reinigung von Trinkwasser und alles, was in diesem Zusammenhang hineingehört. Ich weiß, daß das manche nicht gerne hören, weil es nicht in ihr ideologisch geprägtes Weltbild hineinpaßt.
Trotzdem sage ich hier ganz deutlich: Wir wollen, daß die Gentechnologie von unserer Gesellschaft als Umweltschutztechnologie genutzt und angewandt wird.Herr Catenhusen hat in seinen Ausführungen einen Aspekt besonders betont, nämlich den Aspekt eines möglichen Mißbrauchs der Gentechnologie in einem militärischen Kontext. Wir Liberalen sind wie, ich denke, wir alle in diesem Hause ganz entschieden und nachdrücklich der Auffassung, daß wir die Gentechnologie nicht nur nicht mißbrauchen dürfen, um biologische Waffen herzustellen, sondern daß wir auch alle gemeinsam dafür zu kämpfen haben, daß biologische Waffen, egal ob konventionell, gentechnologisch oder wie auch immer hergestellt, von dieser Erde verschwinden. Das ist die Aufgabe, der wir uns zu stellen haben, und dazu bekennen wir uns.
Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die ich hier noch ansprechen müßte. Ich denke etwa an Fragen der Genomanalyse, die wahnsinnig schwierig sind und wo wir an gewisse Grenzen auch dessen stoßen, was mit Hilfe staatlicher Normierungsmechanismen erreicht werden kann. Lassen Sie mich hier nur die Grundpositionen beschreiben. Wir wollen, sofern der Bereich der genetischen Beratung betroffen ist, nicht, daß es zu einer aktiven Beratung durch genetische Beratungsstellen kommt, und wir wollen auch nicht, daß es zu einer direktiven Beratung durch solche Beratungsstellen kommt. Von daher ist es für uns ganz selbstverständlich, daß wir keine eugenisch bestimmte Abtreibungspraxis — das ist der eigentliche Punkt, um den die Diskussion geht — wollen.
Ich weiß natürlich — ich sage das hier in Klarheit —, daß es sehr schwierig werden wird, dies in der gesellschaftlichen Realität durchzusetzen. Trotzdem vertreten wir dieses Ziel mit Nachdruck.Es gibt auch in unserer Fraktion — ich sage das ganz offen — unterschiedliche Positionen, etwa über
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Kohndie Frage, wie wir die Gentechnologie im Arbeitsrecht nutzen. Grundsätzlich gilt aber für uns alle, daß wir zu einer Begrenzung des Fragerechts von Arbeitgebern kommen wollen, darüber hinaus gibt es auch bei uns Überlegungen, ob man nicht den Bereich der Gentechnologie aus dem arbeitsrechtlichen Zusammenhang völlig herausnehmen sollte. Wir sind hier noch zu keiner abschließenden Position gekommen; ich sage das frank und frei. Ich denke, gerade die Gentechnologie sollte eine gute Chance für uns sein, nicht mit vorformulierten und abgeschlossenen, endgültigen Antworten aufzutreten. Vergleichbares gilt für den Bereich des Versicherungswesens, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen — ich denke, daß dies durch meine Ausführungen deutlich geworden ist — , hier in der Bundesrepublik Deutschland unsere nationalen Hausaufgaben machen.
Aber dies reicht nicht aus. Wir brauchen EG-einheitliche Regelungen. Ich unterstreiche nachdrücklich, was hierzu von meinen Kollegen schon gesagt wurde. Wir wollen, daß die Gentechnologie innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nach vergleichbaren ethischen Maßstäben und vergleichbaren Sicherheitsstandards behandelt wird. Aus diesem Grunde finde ich sehr wichtig, daß es gelungen ist, in diesem Hause, im Deutschen Bundestag, eine gemeinsame Position gegenüber dem Ansinnen etwa von seiten der EG-Kommission zu finden, das hier unter dem Stichwort prädiktiver Medizin vorgetragen wurde. Ich freue mich, daß es gelungen ist, hier zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen. Aber auch dies wird, sage ich, noch nicht ausreichen. Deswegen möchte ich von dieser Stelle aus die Bundesregierung darum bitten, international tätig zu werden, eine internationale Konferenz über die Fragen des Umgangs mit der Gentechnologie zu initiieren, damit wir zumindest den Versuch machen können, weltweit zu einem einvernehmlichen Umgang mit dieser Technologie zu kommen.Meine Damen und Herren, die Gentechnologie wirft gravierende Fragen auf, auf die ich hier nicht mehr eingehen kann, etwa die Frage nach der Rolle und der Stellung des Menschen in dieser Welt, die Frage, ob man ein anthropozentrisches Weltbild oder ein anderes hat. Sie wirft die Frage nach dem Technologiefolgen-Abschätzungsinstrumentarium auf, das wir in der Politik zur Verfügung haben. Sie wirft auch die Frage — darauf ist Herr Catenhusen dankenswerterweise schon kurz eingegangen — nach der Grundantinomie auf, die politischen Ordnungen zugrunde liegt, nämlich der zwischen gesellschaftlicher Vielfalt und Gegensätzlichkeit einerseits und staatlich-politischer Einheit andererseits. Wir Liberalen sind von unserer Grundsatzposition her immer der Auffassung gewesen, daß wir den Staat möglichst weit zurückhalten wollen und sollen. Deshalb wollen wir die Eigenverantwortung des Menschen nachdrücklich stärken.Wir denken, daß die Beratung über die Fragen der Gentechnologie mit der heutigen Diskussion nicht abgeschlossen sein wird. Sie wird uns noch viele Jahre in diesem Hause begleiten.Lassen Sie mich zum Ende mit einem Zitat von André Gide schließen, der uns einen Wegweiser für die weitere Diskussion gegeben hat. Er sagte nämlich einmal: „Vertrauen Sie denjenigen, die nach der Wahrheit suchen. Mißtrauen Sie denen, die sie gefunden haben. "
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rust.
Kürzlich konnten wir der Presse entnehmen, daß es im neuen Gebäude des Paul-Ehrlich-Instituts in Frankfurt zu einer Explosion gekommen ist. Ursache war ein offener Gashahn. Ein aufmerksamer Arbeiter hatte ihn geschlossen. Zum Verhängnis wurde, daß er anschließend das Licht ausschaltete. Der dabei entstandene Funke löste die Explosion aus. Das Unglück hinterläßt einen Schwerverletzten, eine leichter verletzte Mitarbeiterin und ca. 8 Millionen DM Sachschaden. Trotzdem waren informierte Kreise eher erleichtert. Denn das neue Gebäude ist noch nicht bezogen, die Arbeit noch nicht aufgenommen. Aufgabe des Paul-Ehrlich-Instituts ist u. a. AIDS-Forschung sowie die Prüfung neuer Impfstoffe und neuartiger, zum Teil nur mit Hilfe gentechnologischer Methoden herstellbarer Arzneimittel. Die Arbeit mit kontaminiertem Material im Institut ist also an der Tagesordnung. Eine Sicherheitstür des neuen Gebäudes ist durch die Explosion deformiert worden. Was wäre gewesen, wenn die Mitarbeiter des Instituts die Arbeit in den neuen Räumen schon aufgenommen hätten? Ich habe bisher niemanden getroffen, der sich getraut hätte, auf diese Frage zu antworten.Zweites Schlaglicht: Im September dieses Jahres fand der Erörterungstermin für eine gentechnische Produktionsanlage in Marburg statt. Gleich zu Beginn des Erörterungstermins wurde deutlich, daß die zuständige Genehmigungsbehörde mit der Beurteilung von gentechnischen Anlagen völlig überfordert ist. Den anwesenden Behördenvertretern wurde erst nach sachkundigen und insistierenden Hinweisen der Einwender und Einwenderinnen einsichtig, welche Daten und Angaben im Detail notwendig sind, um auch nur annähernd zu einer Beurteilung der biologischen Sicherheit des Produktionsverfahrens zu kommen.Damit befinden wir uns in einer Situation, in der den Einwendern und Einwenderinnen bei öffentlichen Genehmigungsverfahren in der Praxis die Aufgabe zukommt, die Mindestsicherheitsstandards für Gentechnik zu formulieren. Es ist also die absurde Situation entstanden, daß die Exekutive über Anträge auf Genehmigung von gentechnischen Anlagen nicht kompetent entscheiden kann.
Die gegenwärtige sogenannte Sicherheitsphilosophie, wie sie sowohl im Bericht der Enquete-Kommission als auch in der Beschlußvorlage des Ausschusses enthalten ist, geht davon aus, daß das Risikopotential der Gentechnik sowohl qualitativ begrenzt als auch
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Frau Rustquantitativ bestimmt werden kann. Die wissenschaftliche Grundlage dafür bietet das sogenannte additive Modell. Dieses Modell besagt, daß sich das Risikopotential eines genmanipulierten Organismus aus der Summe der Eigenschaften der benutzten Komponenten im voraus bestimmen lasse. Die molekularbiologische Forschung hat allerdings inzwischen selbst Ergebnisse produziert, die das additive Modell in Frage stellen und auf synergetische Effekte genetischer Neukombinationen hinweisen, die qualitativ neue Eigenschaften zum Ergebnis haben.Das dementsprechende synergetische Modell geht davon aus, daß gentechnisch veränderte Organismen unvorhergesehene Wirkungen haben können, ihre Ausbreitung unkontrolliert verlaufen kann und somit die Gefahr auch katastrophaler Veränderungen vorhandener Ökosysteme nicht auszuschließen ist.Die Berücksichtigung dieses spezifischen Risikopotentials führt uns in der politischen Bewertung gegenwärtig zu der Forderung, Freisetzungen grundsätzlich zu verbieten, während Enquete-Kommission und Ausschuß den Versuch unternehmen, diese Gefahren durch biologische und technische Sicherheitsmaßnahmen einzugrenzen. Die Enquete-Kommission wird zwar der spezifischen Qualität gentechnischer Risiken nicht gerecht, versucht aber noch, zumindest den höchst unbefriedigenden Stand der Wissenschaft zu berücksichtigen, indem sie ein fünfjähriges Moratorium für die gezielte Freisetzung manipulierter Mikroorganismen vorschlägt.Die heute zur Abstimmung vorliegende Beschlußempfehlung soll demgegenüber offenbar dem dilettantischen Machwerk des Gentechnikgesetzentwurfs der Bundesregierung, das die Freisetzung von Mikroorganismen erlaubt, vorab die Zustimmung bringen. Dieses weitere Zugeständnis an die Begehrlichkeiten von Forschung und Industrie ist in jeder Beziehung unverantwortlich.
In dem Gesetzentwurf wird die Entscheidung über Freisetzungen zentralistisch an das Bundesgesundheitsamt delegiert, also an eine nachgeordnete Behörde der Bundesregierung. Die Vorschriften des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, nach denen die Länder die zuständigen Genehmigungsbehörden sind und in denen eine Öffentlichkeitsbeteiligung bei jeder gentechnischen Anlage zwingend vorgeschrieben ist, werden mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung faktisch außer Kraft gesetzt.Darüber hinaus soll via Gentechnikgesetz auch noch das Parlament entmachtet werden; denn der Gesetzentwurf sieht in insgesamt 17 von 30 Paragraphen die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen vor.
Die genannten 17 Paragraphen enthalten wiederum40 gesonderte Positionen, welche auch wieder durchRechtsverordnung zu regeln sind. Wesentliche Inhaltedes Gesetzes müssen also erst durch Rechtsverordnung der Regierung nachträglich geregelt werden.Dazu gehören auch Ausnahmen von der Genehmigungspflicht bei Freisetzungen und die Auswahl der Freisetzungsanträge, für die kein Anhörungsverfahren durchgeführt wird. Länder, Parlament und Öffentlichkeit sollen also bei Genehmigungsverfahren weitgehend ausgesperrt bleiben, wohingegen die Zentrale Kommission für biologische Sicherheit — ZKBS — praktisch immer beteiligt ist. Damit entscheiden die Anwender der Gentechnik über die Anwendung; denn genau sie sind es, die die ZKBS mehrheitlich bevölkern. Die Bundesregierung ist also dabei, ausgerechnet den Bock zum Gärtner zu machen.
Nicht nur die Bereiche der Gentechnik, deren Beherrschung auf dem Trugbild des eingrenzbaren Risikos aufbaut, müssen Gegenstand ernsthafter Auseinandersetzung sein, sondern auch die Anwendung gentechnischer Methoden, deren soziale Folgewirkungen gesellschaftliche Risiken ganz anderer Art in sich bergen. Hier kann als exemplarisch die Genomanalyse bei Arbeitnehmern gelten.Die Methode scheint auf den ersten Blick einiges für sich zu haben. Via genetischer Analyse wird festgestellt, ob ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin bei der Konfrontation mit einem bestimmten Stoff eine Veranlagung zu krankhaften Reaktionen aufweist. Ergibt die Analyse, daß das getestete Individuum möglicherweise mit Krankheit reagieren könnte, wird es an entsprechenden Arbeitsplätzen nicht eingesetzt.Bei näherer Betrachtung stellt diese allzu simple Nutzenanalyse jedoch die bisherige Konzeption des Arbeitsschutzes auf den Kopf. Statt sich an der Exposition, also an der Belastung durch den Stoff zu orientieren, zielen arbeitsmedizinische Untersuchungen hier auf die Disposition, d. h. auf die Ermittlung der individuellen Belastbarkeit. Das klassische Ziel des Arbeitsschutzes, nämlich die Verwendung von gefährlichen Stoffen einzuschränken und zu vermeiden, wird auf diese Weise durch die Strategie ersetzt, von vornherein nur noch genetisch passende Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einzustellen.
Angesichts dieser sowohl sozialpolitisch als auch ökologisch unerwünschten potentiellen Fehlentwicklungen wird in der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie lediglich Regelungsbedarf konstatiert. Das Screening als Methode wird nicht in Frage gestellt. Statt dessen soll das Schlimmste verhindert werden, wobei die angebliche Restriktivität der Vorschläge durch auffällig häufige Verwendung des Wörtchens „nur" betont wird. So sollen etwa „nur wissenschaftlich abgesicherte Tests angewandt werden". Doch der Bereich dessen, was als wissenschaftlich abgesichert gilt, vergrößert sich mit atemberaubender Geschwindigkeit.Weiter heißt es: „Krankheitsanlagen und zukünftige Krankheiten" sollen nicht diagnostiziert werden, sondern „nur die gegenwärtige gesundheitliche Eig-
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Frau Rustnung des Arbeitnehmers". In der Praxis aber läßt sich das eine vom anderen nicht trennen.Darüber hinaus wird empfohlen, eine genetische Analyse an die schriftliche Einwilligung des betreffenden Arbeitnehmers zu knüpfen.Verbal erweckt diese Formulierung den Eindruck eines Arbeitnehmerinnenrechts. Nur in der Praxis wird es bei schönen Worten bleiben, denn welcher Arbeitssuchende wird vor dem Hintergrund anhaltender Massenarbeitslosigkeit den Mut haben, sich einer Einstellungsuntersuchung zu widersetzen, die der zukünftige Arbeitgeber ausdrücklich wünscht? Die Selektion von Bewerberinnen nach Kategorien wie „genschwach" und „genstark" wird so zur durchaus realistischen Entwicklungstendenz.Die datenschutzrechtliche Behandlung genetischer Informationen wirft Probleme auf, die zumindest als ungeklärt gelten müssen, und die Beschlußempfehlung, lediglich „elektronische" Speicherung auszuschließen, wird der Brisanz des Problems bei weitem nicht gerecht.
Aus all diesen Erwägungen lehnen wir die Vorschläge der Koalition ab und fordern wir weiterhin, auf der Grundlage des im Bericht der Enquete-Kommission verwendeten umfassenden Begriffs der „Genomanalyse" ein gesetzliches Verbot zu erlassen.
Frau Abgeordnete Rust, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?
Selbstverständlich.
Die anderen Fraktionen hören, glaube ich, Ihrer Rede sehr aufmerksam zu. Deshalb habe ich an dieser Stelle eine Frage, die vielleicht der Klärung dienen kann. Sie sagen, Sie fordern ein Verbot der Genomanalyse.
Arbeitnehmer-Screening.
Bedeutet dieses Verbot auch, daß Sie dem einzelnen Menschen das Recht nehmen wollen, zur Feststellung etwa gesundheitlicher Risiken oder vorliegender gesundheitlicher Defekte, die genetisch bedingt sind, individuell eine Genomanalyse bei einem Arzt seines Vertrauens vornehmen zu lassen? Wollen Sie auch das verbieten?
Das würde ich in den strengen Bereich der Verbotsregelung so nicht hineinnehmen. Genauso bin ich selbstverständlich bereit, darüber zu diskutieren, inwieweit es sinnvoll ist, Genomanalyse anzuwenden, wenn es darum geht, umweltgefährdende Stoffe ausfindig zu machen, die sich auch auf Erbanlagen negativ auswirken können.
Ich sehe aber auch bei dieser Anwendung der Genomanalyse, daß die datenschutzrechtlichen Probleme in keiner Weise gelöst sind. Sie machen, wenn ich mich richtig erinnere, den Vorschlag, daß die Daten nur in anonymisierter Form erhoben werden sol-len. Ich traue mir bei meinem jetzigen Wissensstand überhaupt nicht zu, zu beurteilen, ob diese Anomymisierung überhaupt möglich ist.
Deshalb sage ich: Darüber müssen wir uns noch auseinandersetzen.Seit Mitte der 80er Jahre wird an der Entwicklung gentechnologischer Methoden in der medizinischen Therapie gearbeitet, genauer gesagt: eher herumexperimentiert.Von der gezielten Einschleusung von Erbinformationen in menschliche Körperzellen verspricht man sich die Behandlung schwerer Krankheiten, beispielsweise Krebs und Erkrankungen des Immunsystems. Auch bei degenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit soll die Gentherapie die Heilerfolge erbringen, die andere Therapieansätze in der Vergangenheit nicht erzielen konnten.Die Verfechter der molekulargenetisch orientierten, manchmal auch schönfärberisch „biologisch" genannten Medizin suggerieren, daß wir nun endlich bald den Krebs besiegen, daß wir endlich bald in einer Welt ohne Krankheit und Leid werden leben können.Aber die Vorstellung einer vollständigen Gesundheit für morgen wird zu Lasten heutiger Patienten verwirklicht, denn an ihnen werden die zukunftsweisenden Methoden ausprobiert.
Die ersten Gentherapieversuche an Menschen sind Anfang dieses Jahres am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA vorgenommen worden. Die Eingriffe sollten dazu dienen, den Weg von Abwehrzellen im Körper zu verfolgen. Einen therapeutischen Nutzen im eigentlichen Sinne — direkt für die betroffenen Kranken — hatten sie nicht. Damit aber ist der Gentherapie der Einstieg gelungen, obwohl sie wissenschaftlich auf tönernen Füßen steht.Die Gentherapie geht von einem statischen Verständnis des menschlichen Genoms aus. Das menschliche Genom jedoch ist kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozeß, in den nun die Gentherapeuten ohne großes Wissen und Verständnis eingreifen, und zwar gleich direkt beim Menschen. Wir halten ein solches Vorgehen für unverantwortlich und im übrigen auch für unwissenschaftlich.Anstatt über das Arzneimittelgesetz hinaus gesetzliche Regelungen vorzuschlagen, verlassen sich Enquete-Kommission und Beschlußempfehlung des Ausschusses allein auf das ärztliche Berufsrecht. Doch ebenso, wie die ZKBS ein Gremium der Betreiber der Gentechnologie ist, ist die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer eine Einrichtung zur Wahrung der Interessen von Ärzten und medizinischen Forschern. Sie bewerten und begutachten sich untereinander, das Patientenwohl bleibt oft genug auf der
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Frau RustStrecke. Um es zu wahren, wären unabhängige Gremien notwendig, die es in der BRD
allerdings nicht gibt.
Wie so oft in diesem Hohen Hause bleibt uns GRÜNEN auch heute der Vorwurf nicht erspart, wir machten uns das Leben leicht, indem wir so ziemlich gegen alles sind.
Der Ausschußbericht formuliert es etwas seriöser, aber in der Sache läuft es genau darauf hinaus.Dazu möchte ich folgendes feststellen: Natürlich setzen auch wir uns mit der Frage auseinander, ob die Antwort auf eine Querschnittstechnologie wie Gentechnik aus der schlichten Forderung eines allumfassenden Verbotes bestehen kann.Wir müssen allerdings konstatieren, daß es gegenwärtig kein demokratisches Konzept für den gesellschaftlichen Umgang mit dieser Technik gibt.
Solange wir von dieser Voraussetzung ausgehen müssen, lehnen wir die Förderung der Gentechnik aus öffentlichen Mitteln ab und treten in bestimmten Bereichen für strikte Verbotsregelungen ein; denn die Anwendung dieser Risikotechnologie zwingt das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung in die Knie. Die Legislative ist mit der Beurteilung hoffnungslos überfordert oder wird kurzerhand entmachtet.
Die Länder als zuständige Genehmigungsbehörden erweisen sich weitgehend als hilflos, die Exekutive auf Bundesebene tritt die Flucht in den Zentralismus an, gestützt auf das Wissen der industriellen Betreiber.Die Judikative vollzieht schließlich in den engen Grenzen gesetzlich festgeschriebener Risikobegrenungsstrategien nach. Die Demokratie gerät so in Gefahr, zum Erfüllungsgehilfen technischer Sachzwänge degradiert zu werden. Die demokratischen Gewalten reagieren. Als einzige Akteure im gesellschaftlichen Kräftespiel verbleiben die Betreiber.
Wir sind nicht grundsätzlich gegen gesetzliche Regelungen, wir sind für Gesetze, die demokratische Entscheidungen über Gentechnik überhaupt erst ermöglichen.
Dazu gehört die rechtliche Verankerung von Umweltverträglichkeitsprüfungen, Technikfolgenabschätzung, Beteiligungsrechten für Länder und Kommunen, Beteiligungsrechten der Öffentlichkeit, Akteneinsichtsrecht und Verbandsklagerecht. Von dieserdemokratischen Öffnung des Entscheidungsprozesses ist die Bundesregierung weit entfernt.
Solange das so bleibt, werden wir dagegen sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es würde mir sehr viel Freude machen, auf die letzten Ausführungen einzugehen, aber ich gehe davon aus, daß mein eloquenter Minister diese Dinge aufnehmen und dazu Stellung nehmen wird.
— Er ist eloquent.
Herr Catenhusen, ich glaube, daß wir Ihnen für die Arbeit sehr zu danken haben, die Sie innerhalb der Kommission koordinierend und mit sehr viel Sachverstand geleistet haben. Sie haben einige Punkte angeführt, die nicht im Konsens jetzt in die endgültige Diskussion oder die Abstimmung hineingehen. Ich sage Ihnen zu, daß wir auch in diesen Fragen im Gespräch bleiben sollten und versuchen sollten, so weit wie möglich — ich halte das für die gesamte Technikanwendung für sehr notwendig — zu gemeinsamem Handeln zu kommen. Ich sage Ihnen das seitens meiner Fraktion zu; denn ich halte es für wichtig, daß wir in diesen Fragen sehr viel Übereinstimmung haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heute zur Abstimmung stehenden Empfehlungen und Handlungsanweisungen sind in der Zwischenzeit aus den verschiedensten Perspektiven beleuchtet worden. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir mit diesen Handlungsanweisungen, Verboten und Empfehlungen sehr stark in die Forschungsfreiheit eingreifen, und ich bin der Auffassung, daß wir von hier aus auch einmal den Wissenschaftlern, die in ihrer Arbeit und ihrem täglichen Handeln unmittelbar davon betroffen sind, eine Rechtfertigung dafür geben sollten, daß wir diese Vorschläge machen und daß wir hoffen, daß die zukünftige Gentechnologie über Gesetze ihre Chancen wirklich wahrnehmen kann.Ich erinnere mich an eine Äußerung, die wir im Jahre 1984 hörten, als wir unsere Arbeit aufnahmen, als die Max-Planck-Gesellschaft zu einem Symposion eingeladen hatte und sich dort der Molekularbiologe Professor Cramer aus Göttingen mit der Frage auseinandersetzte, ob wir eine neue Ethik brauchen. Er hat wörtlich gesagt — ich zitiere — : „Mir scheint es häufig, daß die Forschung nach neuen Vorschriften oder nach neuen Gesetzen aus einer Nichtvertrautheit mit unseren moralischen Traditionen erwächst, ja, aus einer, wie man schon sagen kann, gewissen moralischen Unbildung und aus einer gewissen Denkfaulheit. "Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war der Ansatzpunkt von dem aus wir unsere Arbeit aufgenommen haben.
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Dr. Voigt
Wenn ich Ihnen jetzt ein weiteres Zitat von einem Mitglied der Enquete-Kommission anbiete, nämlich von dem Moraltheologen Professor Reiter, dann sehen Sie, wie wir uns im Laufe der Zeit zu den Aussagen hin weiterentwickelt haben, die Sie heute mehr oder weniger in der Drucksache finden.Er formuliert „zehn Gebote" für die Anwendung der Gentechnologie. Ich möchte davon vier zitieren.Erstens. Eingriffe in die Natur sind ethisch erlaubt. Sie sollen aber im Sinne einer erweiterten Verantwortung gebunden sein an die Abschätzung der möglichen Folgen für die Gegenwart und die Zukunft von Natur und Menschheit.Zweitens. Die Freiheit der Forschung ist nicht absolut. Sie hat ihre Grenzen am Wohl der Menschheit. Gentechnologische Forschung unterscheidet sich grundsätzlich nicht von anderer Forschung. Sie ist, obwohl sie Gefahren und Risiken einschließt, ethisch vertretbar, solange sie die Grenze wahrt, die jeder Forschung gesetzt ist.Drittens. Die Arbeit des Gentechnikers darf nicht der Exklusivität der Wissenden überlassen bleiben. Sie muß in der Öffentlichkeit geschehen, damit der Öffentlichkeit die Möglichkeit gegeben ist, die Forschungsergebnisse zu reflektieren und zu kritisieren.Viertens. Der Gentechniker trägt die Alleinverantwortung für seine Forschung und eine Mitverantwortung für das, was andere daraus machen.
Chancen und Risiken sind in einer ständigen Technologiefolgenabschätzung zu prüfen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sagte schon: Diese beiden Äußerungen geben eigentlich den Ausgangspunkt und das Ende unserer Arbeit wieder. Wir fordern in unserem Bericht Regeln. Wir geben Handlungsanweisungen und sprechen sogar Verbote aus. Damit wird die Freiheit der Forschung in wichtigen Bereichen eingeschränkt, und in einigen wichtigen Bereichen der Forschung wird sogar die wissenschaftliche Arbeit unter Strafe verboten. Ich denke hier an die schon mehrfach zitierten Eingriffe in die Keimbahn und an die Freisetzung von Viren.Die Entscheidung, die Chancen der Gentechnik dadurch zu wahren, daß durch strenge Regeln die Risiken soweit wie irgend möglich abgefangen werden, war das Ergebnis einer sehr kritischen Diskussion, eben auch mit Wissenschaftlern, auch mit denjenigen, die den externen Sachverstand eingebracht haben. Ich möchte auch diesen Mitgliedern der Kommission sehr herzlich danken. Wie ich sehe, ist der Vertreter der Ärzteschaft heute im Publikum. Herr Dr. Oden-bach, Ihnen danke ich stellvertretend für alle anderen, die den externen Sachverstand in die Kommissionsarbeit mit eingebracht haben.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind davon gekennzeichnet, daß wir uns gelöst haben von der ethischen Verantwortung der Gleichzeitigkeit, die sich nur auf den gegenwärtigen Umgang von Mensch zu Mensch bezog. Die Handlungsanweisungen und Empfehlungen der Kommission berücksichtigen vielmehr, daß das technische Handeln, daß der Umgang mit gentechnischen Methoden derart massiv in die Natur eingreifen, daß es zu weitreichenden Vernetzungen und Folgewirkungen kommt, die weit über den Zeitpunkt des eigentlichen Handelns hinausgreifen und in ferner Zukunft wirken.Wenn wir der Auffassung sind, daß die Anwendung der Gentechnik nur dann vertretbar ist, wenn Regeln und Verbote seitens der Wissenschaft eingehalten werden, so ist das nicht der Ausdruck eines Mißtrauens gegenüber den Menschen, die in der Forschung tätig sind. Ich bin davon überzeugt, daß auf Grund der moralischen Tradition unserer Wissenschaft die Wissenschaftsgesellschaft auch in eigener Verantwortung einen Weg gefunden hätte, die in dem Bericht aufgezeigten Probleme zu lösen.Die wissenschaftsöffentliche Diskussion hätte ganz sicherlich dazu geführt, daß Experimente, die wir als Ergebnis unserer Beratung untersagen wollten, auch dann nicht stattgefunden hätten.Dem steht aber folgendes gegenüber. Die Akzeptanz der Gentechnik in der Bevölkerung, die Beteiligung der breiten Öffentlichkeit am Diskussionsprozeß, die Einbindung in einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozeß für eine so komplexe und für den Laien schwer zugängliche Technologie sind bei einem so sensiblen Thema nur dann zu erreichen, wenn die Politik koordinierend und regelnd mitwirkt.
Keinem von uns fällt es leicht, Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes, der uns sagt, daß Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind, einzuschränken. Forschungsfreiheit ist aber eben kein Spiel ohne Grenzen. Unsere Zeit verlangt, daß die Forschung, das Experimentieren im medizinisch-biologischen Bereich und die Anwendungsfolgen von wissenschaftlichen Denkansätzen in der Öffentlichkeit durchsichtig gemacht werden. Risikoabschätzungen müssen heute Bestandteil der Planung von technischer und naturwissenschaftlicher Forschung, also auch von gentechnischen Experimenten, sein.Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Verantwortungsethik hat aber nicht nur etwas mit der Abschätzung negativer Folgen des Einsatzes einer Technik zu tun, sondern Verantwortungsethik hat auch etwas mit den positiven Folgen ihrer Anwendung für den Menschen zu tun. Ich meine, die wünschenswerten Ziele der Gentechnologie sind therapeutisch im weitesten Sinne — und das ist nicht nur medizinisch zu verstehen — ausgerichtet. Wer der Gentechnik generell seine Zustimmung versagt, nimmt nach meiner festen Überzeugung seine Verantwortung für große Teile unserer Mitmenschen nicht wahr.
Ich erinnere nur an verheerende Krankheiten, vor allem an Infektionskrankheiten, die von Tag zu Tag mehr werden.
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12814 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. Voigt
— Das können wir gerne beide zusammen erörtern; ich habe leider jetzt nicht die Zeit dazu. Aber ich werde Sie gerne darüber aufklären.Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch hier, wie in allen anderen Feldern gilt: Wo die Risiken des Mißbrauchs zunehmen, müssen sich die Wachsamkeit der Öffentlichkeit und die Rechtfertigungsbereitschaft der Wissenschaft steigern, müssen die Institutionen akzeptiert werden, welche verbindliche Regelungen für den legitimen Gebrauch und Verbote des Mißbrauchs dieser neuen intelligenten Technik, also der Gentechnik, schaffen und durchsetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Schreiner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche zu den Änderungsvorschlägen der SPD-Fraktion für das Kapitel Genom-, also Erbgutanalyse an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ich will gleich einräumen, daß uns die Beschäftigung mit dieser äußerst komplexen und sensiblen Materie sehr, sehr schwer gefallen ist. Sensibel ist sie im übrigen schon deshalb, weil die Anwendung genetischen Wissens in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Deutschland eine schlimme Entwicklung genommen hatte.
Die Vorschläge der SPD-Fraktion auf diesem Feld sind deutlich restriktiver, zurückhaltender, als die Auffassungen der Koalitionsfraktionen. Die Kernpunkte unserer Auffassung lassen sich in vier Elementen zusammenfassen.Erstens. Wir lehnen Erbgutuntersuchungen bei Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen im Rahmen arbeitsvertraglicher Beziehungen kategorisch ab.
Dies gilt insbesondere für die Nutzung der Genomanalyse bei Einstellungsuntersuchungen. Zudem ist das Fragerecht des Arbeitgebers gesetzlich auf die Erhebung des gegenwärtigen Gesundheitszustandes der Betroffenen zu beschränken.Zweitens. Davon unberührt bleibt die Möglichkeit für den einzelnen Arbeitnehmer und die einzelne Arbeitnehmerin, sich aus eigener Entscheidung und aus arbeitsmedizinischen Gründen einer Genomanalyse zu entziehen. Dies entspricht dem auch von uns betonten Prinzip der Eigenverantwortung.Drittens. Genomanalysen zur arbeitsmedizinischen Früherkennung bereits erfolgter Belastung, das sogenannte Biomonitoring, sollten auf freiwilliger Basis möglich sein, sofern sie in Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens oder gleichwertigen Instituten erfolgen.
Reihenuntersuchungen sind dabei prinzipiell unzulässig.Beim sogenannten biologischen Monitoring geht es im übrigen nicht um das Erforschen genetischer Veranlagungen und daraus gewonnener Annahmen, daßunter bestimmten Arbeitsbelastungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit zur späteren Herausbildung eines Krankheitsbildes vorliegt. Gegenstand des Biomonitoring ist vielmehr das reale Auftreten von Gefahrstoffen und die durch den Arbeitsprozeß bewirkten Zersetzungs- oder Reaktionsprodukte im Körper der Arbeitnehmer. Insoweit handelt es sich hier um ein brauchbares Erkenntnisinstrument, das zur Verbesserung des Arbeitsschutzes auf freiwilliger Basis herangezogen werden kann.Viertens. Genanalytische Verfahren auf dem Feld der arbeitsmedizinischen Forschung werden von uns dann akzeptiert, wenn sie zum Ziel haben, den Grund bestimmter Berufserkrankungen aufzuhellen und wenn andere Erkenntnismethoden nicht möglich sind. Arbeitsmedizinische Forschungsprojekte sind durch eine zentrale Ethikkommission unter Beteiligung insbesondere der Gewerkschaften zu begutachten. Unerläßliche Voraussetzungen bei den Forschungsvorhaben sind für uns weiterhin die Zustimmung des Betroffenen sowie die Anonymisierung der gewonnenen Daten.Das sind im wesentlichen die Kernelemente unserer Vorschläge bezogen auf Erbgutuntersuchungen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir haben uns diesen Vorschlag nicht einfach gemacht. Wir haben viele, viele Diskussionen gebraucht.Der Vorschlag stellt sicherlich eine schwierige Gratwanderung dar. Die zentralen Überlegungen waren folgende: Die Genomanalyse an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist wie viele moderne Techniken zwiespältig. Sie birgt Chancen, aber die Risiken wiegen unserer Auffassung nach ungleich schwerer. Informationen über Erbanlagen können dem Arbeitnehmer bei der Berufswahl oder der individuellen Gesundheitsvorsorge behilflich sein. Sie können auch dazu dienen, ihn vor dem Risiko einer Berufskrankheit zu bewahren. Aber die gleichen Informationen können auch gegen den Arbeitnehmer verwendet werden, etwa als Instrument bei der Einstellung und Entlassung.Bei einer gemeinsamen Anhörung der Ausschüsse für Arbeit und Soziales, Jugend, Familie und Gesundheit und Forschung und Technologie im vergangenen Jahr gab der Leiter der Rehabilitationsklinik Heidelberg, Professor Dr. Wolfgang Huber, ein aufschlußreiches Beispiel aus den Vereinigten Staaten. Ich zitiere Herrn Huber:Hier in den USA überlegt Dupont, — ein Großkonzern —Personen, die eine mögliche Sichelzellenanämie haben, aus dem Arbeitsprozeß auszugliedern. Das wird im Staat New York auch durchgeführt. Dieselbe Personengruppe mit Sichelzellenanämie war aber bei den Olympischen Spielen in Mexiko zugelassen, obwohl genau dort der Sauerstoffmangel auf dieser großen Höhe ganz besonders imponierend war. Es sollte also eine Gruppe selektiert werden, die an anderer Stelle zu Hochleistungen durchaus fähig war.Ich will dieses Beispiel nicht weiter kommentieren,weil ich glaube, daß es aus sich selbst heraus spricht,
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Schreinerwie eklatant die denkbaren Mißbrauchssachverhalte sein können und teilweise auch schon sind.Befürchtet wird zudem, daß die verstärkte Einführung gentechnischer Analysen notwendige und längst überfällige Maßnahmen des Arbeitsschutzes wie zum Beispiel die Reduzierung schädigender Stoffe am Arbeitsplatz noch weiter zurückdrängt.
Nicht der Arbeitsschutz für alle Arbeitnehmer würde verbessert, sondern der einzelne Arbeitnehmer würde über gentechnische Ausmusterungsverfahren für miserable Arbeitsbedingungen hergerichtet werden.Auf der schon erwähnten Anhörung der drei Ausschüsse führte der Vertreter des DGB ein bemerkenswertes Beispiel an. Er sagte, der gegenwärtig zulässige Grenzwert für Asbestfasern am Arbeitsplatz oder in der Arbeitsumwelt beträgt das Tausendfache dessen, was das Bundesgesundheitsamt der allgemeinen Bevölkerung als Höchstwert zumutet.Diese Beispiele lassen sich beliebig ergänzen. Sie zeigen, daß in vielen Fällen die Belastungswerte innerhalb der Betriebe das Tausendfache — teilweise noch höher — dessen übersteigen können, was der Allgemeinheit außerhalb der Betriebe zugemutet werden kann. Ich will damit nur deutlich machen, wie notwendig und dringlich Maßnahmen zur Verbesserung des objektiven Arbeitsschutzes sind.
Die SPD-Fraktion hat übrigens nach Vorarbeiten meines Kollegen Manfred Reimann im Sommer dieses Jahres eine umfängliche Große Anfrage im Bundestag eingebracht, wo nach den Auswirkungen gefährlicher Arbeitsstoffe gefragt wird. Die dringliche Verbesserung des objektiven Arbeitsschutzes — auch im Hinblick auf zwei Studien, die im Auftrag des DGB erarbeitet wurden — ist angemahnt worden. Eine der Erkenntnisse dieser Studien war zum Beispiel, daß derzeit nur 30 % der männlichen Arbeiter gesund das Rentenalter erreichen. Das ist eigentlich skandalös: 30 % der männlichen Arbeiter erreichen gesund das Rentenalter mit 63 oder 65 Jahren. Der stellvertretende DGB-Vorsitzende Gerd Muhr kommentierte die Studienergebnisse so — ich zitiere — : „Diese besondere Betroffenheit sozial schlechtergestellter Gruppen von Frühinvalidität und Tod ist ein beschämender Ausdruck der sozialen Ungleichheit in unserer Gesellschaft."Die Zurückhaltung unserer sozialdemokratischen Vorschläge bezüglich genetischer Untersuchungen bei Arbeitnehmern ist auch darin begründet, daß sich der Arbeitnehmer in der Regel gegenüber dem Arbeitgeber in einer schwächeren Position befindet. Deshalb muß ihm ein besonderer Schutz zukommen. Die Ergebnisse von Einstellungs- und Eignungsuntersuchungen, von Vorsorge- und Nachsorgeuntersuchungen fallen bereits im derzeitigen Umfang sämtlich zu Lasten des Arbeitsuchenden oder des Arbeitnehmers aus, wenn sie im Inhalt nachteilig für ihn sind. Wir wollen da nicht noch draufsatteln. Sollte der Arbeitnehmer allerdings aus eigenem Antrieb eine Genomanalyse für nützlich halten, so steht ihm diese Möglichkeit selbstverständlich frei.Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch zwei Anmerkungen.Die Befassung im Ausschuß für Arbeit und Soziales mit hochkomplexen Fragestellungen molekularbiologischer und biochemischer Art hat jedenfalls mir gezeigt, daß die gegenwärtigen Beratungsinstrumente des Parlaments nicht ausreichen, um unserer Verantwortung in der gebotenen Gründlichkeit hier im Deutschen Bundestag gerecht werden zu können. Wir brauchen dringlicher denn je eine solide Technikberatung beim Bundestag und keine wie auch immer gearteten Alibiveranstaltungen.
Zweite Schlußbemerkung. Wir brauchen schließlich eine Beweislastumkehr in dem Sinne, daß wir neue Techniken erst dann anwenden dürfen, wenn ihre Unschädlichkeit für den Menschen und seine sozialen Beziehungen bewiesen ist.
Diese Beweislastumkehr fordert auch Hans Jonas, der von meinem Kollegen Catenhusen hier bereits in die Debatte eingeführt worden ist und dem vor einiger Zeit der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen worden ist. Sein Anliegen sollte auch das gemeinsame Anliegen des ganzen Hauses hier sein. Wir dürfen nur das tun, was wir in seinen Auswirkungen für morgen und übermorgen übersehen und vor uns selbst, unserer Gesellschaft und denen, die nach uns kommen, auch wirklich verantworten können.Schönen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie, Herr Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Herr Kollege Schreiner, Hans Jonas, spricht an einer Stelle allerdings auch von der Asymmetrie des Denkens, die uns für Risiken sensibel macht, die uns davor schützen soll, leichtfertig in Gefahren zu laufen, die uns aber auch für die Chancen blind machen kann, die wir ergreifen sollten. Insofern glaube ich, daß wir bei allem was wir diskutieren — so ist die Debatte hier ganz überwiegend gelaufen — , beides abwägend betrachten sollten: die Möglichkeiten, die Chancen und auch die Risiken. So heißt ja der Titel des Berichts, und so heißt der Titel der Debatte.Ich möchte mich hier sehr für die Art bedanken, in der die Debatte bis jetzt geführt worden ist, insbesondere von den drei Berichterstattern, den Herren Kollegen Catenhusen, Seesing und Kohn. Es ist eine sehr abgewogene und nachdenkliche, sehr sachbezogene und sachgegründete Diskussion. Ich freue mich auch, daß der Kollege Voigt den Wissenschaftlern gedankt hat; denn wenn es uns nicht gelingt, eine Tradition des Dialogs zwischen Wissenschaft und Politik zu begründen, dann wird Politik blind sein und Wissenschaft unwirksam. Nur dann, wenn wir in einem gemeinsamen Gespräch erkennen, wo die Probleme
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12816 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Bundesminister Dr. Riesenhuberwirklich liegen, wo Handlungsbedarf besteht, dann können wir Voraussetzungen so schaffen, daß Risiken verläßlich beherrscht und die Chancen verantwortlich genutzt werden. Beides gehört zu dem, was hier diskutiert worden ist, und ich glaube, auch zu dem, was jetzt in den Gesetzesverfahren zum Embryonenschutzgesetz wie zum Gengesetz angestrebt wird.Die Chancen, die heute entstehen, sind insgesamt noch gar nicht absehbar. Daß sie sehr groß sind, ist deutlich. Die Märkte, die Entwicklungen und die Anwendungen für die Praxis haben sich langsamer entwickelt, als dies vor acht oder zehn Jahren prognostiziert worden ist. Aber an dem Gewicht dieser Entwicklungen für künftige Anwendungen, für Problemlösungen und auch für Märkte und Techniken ist weltweit kein Zweifel.Es sind hier verschiedene Bereiche genannt worden: etwa die Möglichkeiten der Pflanzenzüchtung. Ich bin besonders dem Kollegen Kohn sehr dankbar dafür, daß er eben nicht nur von unserem unmittelbaren und vordergründigen Interesse ausgeht, sondern daß er auch davon ausgeht, daß wir für Länder der Dritten Welt Wissenschaften erfinden müssen, die sie selber nicht leisten können, daß wir deren Probleme mitzulösen die Verantwortung haben. Daß wir neue Techniken natürlich auch nutzen müssen, gehört dazu.
— Daß es hier auch Grenzen gibt, Frau Kollegin, sehe ich ebenfalls, übrigens auch Grenzen in der Förderstrategie des Bundes.Um dies nur an einer Stelle festzumachen: Herr Catenhusen, es ist bekannt, daß die Züchtung herbizidresistenter Pflanzen innerhalb des sehr umfassenden und großen Programms des Bundesforschungsministers nicht gefördert wird. Wir fördern allerdings ganz andere Gebiete. Wir fördern Gebiete, die es erlauben, daß Pflanzen bzw. neue Pflanzenarten gezüchtet werden, die Frucht tragen und den Stickstoff nicht aus Düngemitteln, sondern aus der Luft bekommen. Wir bringen ganz neue grundsätzliche Ansätze, die die Landwirtschaft und die Düngung verändern können, die die Möglichkeit der Erträge auch unter den Bedingungen der Sahelzone garantieren sollen. Wir entwickeln neue Medikamente und Diagnostika.Es ist hier verschiedentlich über die Frage der sanften Chemie diskutiert worden. Ich habe gefragt, was dies sei: eine Chemie ohne große Abfälle, ohne großen Druck, ohne große Temperaturen. Aber das ist das, was Gentechnologie kann:
mit wenigen Syntheseschritten hochkomplexe Produkte und Medikamente höchster Spezifität und Reinheit herzustellen, ohne daß sie mit hohem Druck, mit großen Abfällen oder mit vielen Verfahrensschritten arbeiten müssen. Auch dies muß man mit der gleichen Nüchternheit betrachten, weil es wahr ist.Was wir hier getan haben, um Wissenschaft zu ermöglichen und um Chancen wirklich zu nutzen, haben wir an anderen Stellen diskutiert. Wir hatten imJahr 1982 noch keine 100 Millionen DM für Biotechnologie in Deutschland im Forschungsministerium vorgesehen. Wir liegen heute oberhalb von 250 Millionen DM. Wir haben die Genzentren mit ihrer Zusammenarbeit von Max-Planck-Instituten, Universitäten und Wirtschaft aufgebaut. Wir haben an Dutzenden von Universitäten ausgezeichnete Forschungsinstitute, die in den verschiedensten Bereichen Gentechnologie betreiben. Wir haben eine wachsende Zahl von mittelständischen Unternehmen, die diese Aufgabe als Chance begriffen haben. Wir haben neue Themen, von der Neurobiologie über die Bioverfahrenstechnik bis zur Enzymforschung. Wir haben das, was wir tun, international verflochten. Wir haben heute eine große Zahl tüchtiger junger Wissenschaftler, die durch eine Vielzahl von Stipendienprogrammen in eine internationale Zusammenarbeit eingebunden sind. Wir haben Forschungsarbeiten auf den Gebieten AIDS und Krebs.Frau Rust, Sie haben vorhin ein Beispiel aus dem Paul-Ehrlich-Institut gebracht. Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie damit sagen wollten. Sie sagten, dort sei eine Gasexplosion passiert. Sie fragten: Was wäre passiert, wenn das später gelaufen wäre? Aber, Frau Rust, Sie sagten auch selbst, was dort gemacht wird: beispielsweise Impfstoffe, beispielsweise AIDS-Forschung. Herr Catenhusen hat im einzelnen dargestellt, daß und warum eine solche Forschung seit vielen Jahrzehnten notwendig und richtig ist. Wollen Sie denn sagen, daß deshalb, weil die Möglichkeit einer Gasexplosion besteht, jetzt nicht mehr nach Impfstoffen geforscht werden darf, daß jetzt nicht mehr AIDS-Forschung betrieben werden kann?Die einzige Antwort ist doch vielmehr die — und das ist die Strategie, die wir in allen Bereichen immer verfolgt haben — , daß wir auch hier versuchen, die Risiken zu verstehen und aufs äußerste einzuschränken, daß wir sie beherrschen und gestalten, daß wir aber auch die Chancen so nutzen, daß wir Menschen helfen und das menschliche Leid lindern. Beides hat — über die verschiedenen Bundesregierungen hinweg — immer dazugehört.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schoppe?
Sehr gern, Frau Präsidentin!
Herr Bundesminister, entschuldigen Sie, aber ich denke, auf dieser Basis können wir die Diskussion gar nicht führen. Niemand von uns ist dagegen, irgendwo Leid lindern zu wollen. Aber die Frage, die Frau Rust gestellt hat — dieser Frage müssen Sie sich stellen, und dieser Frage muß sich das ganze Parlament stellen — , ist doch die folgende. Wir maßen uns an, hier Entscheidungen über die Weiterführung und die Entwicklung bestimmter Technologien zu treffen, deren Folgen wir nicht einschätzen können. Wir können es einfach nicht. Das Wissen und die Kompetenz, eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können, haben wir hier im Parlament überhaupt nicht. Die Leute, die in der Kommission gesessen haben, haben sie in Ansätzen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12817
Frau Schoppe, kommen Sie zur Frage!
Ja. — Die Leute in der Kommission haben sie in Ansätzen, aber die normalen Abgeordneten, die hier sitzen und mit entscheiden, haben diese Kompetenz nicht. Diese Kompetenz hat die Industrie.
Frau Schoppe, das ist jetzt eine Intervention. Sie wollten aber eine Frage stellen.
Nun, es ist ein schwieriges Thema, aber jetzt kommt endlich die Frage: Können wir als Vertreter dieser Gesellschaft uns anmaßen, hier Entscheidungen zu treffen, die Folgen haben, die wir nicht abschätzen können?
Herr Bundesminister.
Sie halten bitte die Uhr an, Frau Präsidentin?!
Habe ich.
Frau Kollegin, dies ist kein neues Problem. Kant hat gesagt: Die Möglichkeit des Erkennens reicht nie so weit wie die Notwendigkeit des Entscheidens. In dieser Situation sind wir immer. Auf dieser Basis gilt aber zweierlei: erstens daß wir alle für uns verfügbaren Möglichkeiten nutzen müsse, um einen so weit wie möglich gesicherten Grund für Entscheidungen zu schaffen. Ich glaube, daß das, was die Enquete-Kommission stellvertretend für das ganze Parlament und in dessen Auftrag geleistet hat, eine vorzügliche Arbeit gewesen ist, eine Arbeit von weltweit einzigartiger Intensität, die es ermöglicht, Verantwortung zu tragen und Entscheidungen verantwortlich zu fällen.
Auch der zweite Punkt steckt mit in Ihrer Frage. — Frau Präsidentin, ich sehe mit Entsetzen, daß meine Uhr weiterläuft.
Aber meine nicht.
Liebe Frau Präsidentin, es wäre ganz schön, wenn ich das auch wüßte. — Der zweite Punkt gehört genauso dazu, und auch dies ist eine sehr alte und sehr grundsätzliche Frage. Sie haben eingangs Ihrer Frage etwa so formuliert: Weil hier ein Risiko besteht, dürfen wir uns darauf nicht einlassen. Ich habe das jetzt mit meinen Worten gesagt. Frau Kollegin, das ist der alte und sehr grundsätzliche Unterschied zwischen einer Gesinnungsethik und einer Verantwortungsethik. Von der Kirche ist das beispielsweise im Zusammenhang mit der Kernenergie mehrfach diskutiert worden. Es ist auf die Frage gebracht worden: Ist das Nichthandeln richtiger als das Handeln, oder müssen wir immer abwägen zwischen den Folgen von beiden: dem Handeln und dem Nichthandeln?
Ich bin der Ansicht, daß dies Grundlage der Enquete-Kommission war: Wir müssen immer abwägen zwischen beiden, den Folgen des Handelns und des Nichthandelns. So sind die Empfehlungen aufgebaut, so können wir das Gesetz machen, und dies halte ich für richtig.
Deshalb bin ich der festen Überzeugung, daß wir dann, wenn wir das Beste getan haben, um die Risiken abzuschätzen und sie zu beherrschen, die Chancen ergreifen können. Ich folge insofern den Empfehlungen von Herrn Catenhusen, der auch an dieser Stelle nach einem klaren Gesetz verlangt. Wir werden alles tun, um dies in dieser Legislaturperiode zu erreichen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?
Gerne, Frau Präsidentin, wenn die Uhr wirklich angehalten wird.
Als ich die Frage begann, hatte ich noch acht Minuten: jetzt sind es noch sechs Minuten.
Das wird sich sicherlich noch klären lassen. — Da Frau Rust ihr Szenario zum Thema Paul-Ehrlich-Institut-Unfall aufgeworfen hat und ich mit Ihnen übereinstimme, daß es richtig ist, daraus Konsequenzen zu ziehen, möchte ich Sie fragen Herr Minister, ob Sie mit mir übereinstimmen, daß, selbst wenn man diese Dinge so offen benennt, wie Frau Rust sie beschreibt, und wenn man weiß, daß bei der AIDS-Forschung auch AIDS-Infektionen vorkommen können, es dennoch ethisch unverantwortbar wäre, die heute zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Möglichkeiten zur Erforschung von AIDS und zur Entwicklung von diagnostischen und therapeutischen Verfahren nicht zu nutzen?
Herr Kollege Catenhusen, ich stimme Ihnen darin zu, und ich möchte ein Weiteres sagen: Wissend, daß solche Risiken bestehen, kann ich natürlich den Wissenschaftler nicht dazu verpflichten, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Ich kann nur mit höchstem Respekt vor Wissenschaftlern stehen, die dieses Risiko in ihrer Verantwortung für den Mitmenschen auf sich nehmen und solche Aufgaben zu ihrem eigenen Lebensanliegen machen.
— Bitte, gerne.
Eine weitere Zwischenfrage.
Nachdem die Einleitung meiner Rede allseits interpretiert wird, sehe ich mich gezwungen, mich ebenfalls mit einer Zwischenfrage an Sie zu wenden: Sind Sie, Herr Minister, nicht der Meinung, daß wir uns auch darüber Gedanken machen sollten, daß das Risiko, das die Forschung , die Ergebnisse zum Nutzen der Menschen zeitigen soll, ein-
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12818 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Frau Rustgeht, erheblich sein kann — Beispiel Impfstofforschung — und den angestrebten gesellschaftlichen Nutzen beispielsweise im Falle eines GAUs bei weitem überschreiten kann?
Verehrte Frau Kollegin, dies ist wirklich die grundsätzliche Frage; nur ist es so: Eine normale TA-Studie klassischer Art zeigt nur Wenndann-Beziehungen auf. Die Enquete-Kommission macht etwas anderes: Neben der Klärung des Sachverhalts und der Strukturen der Frage führt sie die Wertung aus einer verantwortenden Politik ein. Dieser Frage werden wir nie ausweichen können; denn wenn wir die Frage ablehnen, ihr ausweichen, bleibt das Problem ungelöst. Ein Problem, das man nicht löst, kommt über einen, und dann ist man wehrlos.Deshalb halte ich den Weg, der hier meines Erachtens erfolgreich eingeschlagen worden ist, für richtig, nämlich die Sache nach dem besten Vermögen mit den bestmöglichen Partnern zu klären, aber dann die politische Entscheidung, die Wertung, die wir hier zu tragen haben, einzubeziehen.Wir sind als Parlamentarier gewählt, damit wir uns mit Sachverhalten präzise auseinandersetzen, aber vor allem auch deshalb gewählt, weil wir aus unserer Verantwortung als Abgeordnete eine Entscheidung zu fällen haben und uns nicht der Verantwortung vor einer schwierigen Frage entziehen dürfen. Deshalb halte ich diese Strategie für richtig. Wir müssen entscheiden. Die Lösung besteht nicht darin, eine Wissenschaft abzulehnen. Vielmehr ist es die Aufgabe, sie aus Verantwortung zu gestalten.
Daß die Wissenschaft selbst diese Fragen als ihre eigenen Fragen sieht, ist nicht in allen Bereichen von vornherein selbstverständlich gewesen. In der Gentechnologie war die Wissenschaft früher als die Politik mit der Fragestellung beschäftigt. Asilomar, 1975 in Kalifornien, war eine Konferenz der Wissenschaftler. Die Empfehlungen haben Grenzen gesetzt für die Arbeit der Wissenschaft.
— Nein, verehrte Frau Kollegin, ich muß sagen: Dies assoziiere ich dabei nicht. — In dieser Konferenz sind die Grundlagen für die Richtlinien gelegt worden, die auf dem Gebiet der Gentechnologie weltweit erlassen worden sind: für die Richtlinien, die die damalige Bundesregierung zu einem frühen Zeitpunkt — 1978 — erlassen hat, die mehrfach novelliert worden sind — zum letztenmal 1986 — , und in die wir mit Hilfe der Zentralen Kommission für Biologische Sicherheit immer wieder den letzten Stand der Wissenschaft in bezug auf die präzise Erfassung des Risikos eingebracht haben. Aber wir hatten in dem Moment eine neue Phase, als wir wegen einer großen Zahl von Labors — es sind inzwischen fast 1 000 in Deutschland — tatsächlich einen festen und dauerhaften Rahmen setzen mußten. Inzwischen hat sich die Kenntnis der Entwicklung und auch der Risiken soweit gefestigt,daß ein dauerhafter Bestand des Gesetzes möglich ist.Ein solches Gesetz liegt seit Juni dieses Jahres vor. Frau Kollegin Lehr wird es hier im Bundestag einbringen und begründen. Ich will insofern nicht im einzelnen auf die Inhalte des Gesetzes eingehen. Aber lassen Sie mich soviel sagen: Hinsichtlich der Grundsätze — Herr Catenhusen hat hier einige Punkte vorgetragen — sind wir mit der Enquete-Kommission in sehr wichtigen Bereichen einig. Wir sind uns auch einig in der Erkenntnis der Notwendigkeit, daß dieses Gesetz noch in dieser Wahlperiode verabschiedet werden muß.
Darüber sind wir uns innerhalb des Parlaments einig, aber wir sind uns auch einig mit der Wissenschaft, was nicht immer selbstverständlich war, mit den Gewerkschaften und mit der Industrie, mit allen Beteiligten.Wir brauchen dieses Gesetz, weil Wissenschaft und Forschung und Industrie einen verläßlichen Rahmen haben müssen. Dieser Rahmen kann streng und auch kostspielig sein, aber er muß verläßlich sein. Er muß in zweierlei Hinsicht verläßlich sein: zum einen hinsichtlich der verläßlichen Beherrschung der möglichen Risiken und zum anderen hinsichtlich seiner Dauerhaftigkeit, damit Arbeit unter diesen Bedingungen möglich ist. Beides muß gewährleistet sein.Deshalb halte ich es auch für wichtig, daß es uns hier gelungen ist, einen weitgehenden Konsens in Europa zu erarbeiten. Ich akzeptiere, daß wir in einigen Punkten eine gewisse Vorreiterrolle hatten und auch in Zukunft haben werden, aber es ist von größter Bedeutung, daß wir dann auf einen Konsens in Europa hinarbeiten.Gerade bei kritischen Fragen — Herr Catenhusen sprach über die Freisetzung von Mikroben — haben wir Entwicklungen, die nicht an Grenzen halt machen. Wenn es dazu kommt, daß wir in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich strenge Gesetze haben, dann hat ein Teil der Länder strenge Gesetze, während der andere Teil forscht und produziert. Dies ist eine völlig unverantwortliche Arbeitsteilung. Das Ziel ist, daß Forschung, Wissenschaft, aber auch Produktion an den Standorten unter gleichen strengen und verantwortbaren Bedingungen, die auch eingehalten werden, möglich sind.
— Nicht zum Billigtarif. Ich wiederhole, was ich sagte: Die Wissenschaft und die Wirtschaft können mit strengen und auch kostspieligen Auflagen leben, aber sie müssen eindeutig und verläßlich sein. Das Instrument hierfür ist das Gesetz.Herr Kollege Catenhusen, bei der Freisetzung halte ich ein Moratorium für ein ungeeignetes Instrument, denn die Entwicklung in anderen Ländern geht weiter. Ich halte etwas von Sicherheitsforschung. Wir schreiben sie aus. Ich halte etwas von einer strengen Prüfung des Einzelfalles. Ein Moratorium führt jedoch dazu, daß wir uns ausklinken aus der Mitgestaltung der europäischen, der internationalen Bedingungen,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12819
Bundesminister Dr. Riesenhuberauf die Kollege Kohn in anderem Zusammenhang hingewiesen hat.Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, der hier in dieser Debatte keine zentrale Rolle gespielt hat, den ich aber für entscheidend halte: Das ist die Frage der Humangenetik, des Umgangs mit menschlichem Erbgut, des Umgangs des Menschen mit dem Menschen selbst. Daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse neue Chancen bedeuten und daß neue Chancen neue Freiheiten bedeuten, ist offenkundig. Daß neue Freiheiten nur in dem Maße dauerhaft sind, in dem sie durch Verantwortung ausgefüllt werden, ist ein altes ethisches Postulat, eine Grundlage des Denkens.Ich bin voller Leidenschaft für die Freiheit der Forschung. Die Technik braucht strenge Rahmenbedingungen. Dies ist klar. Ich wiederhole: Ich bin mit Leidenschaft für die Freiheit der Forschung. Wenn sie nicht frei ist, ist es keine Forschung. Sie bringt nichts Neues. Aber sie findet ihre Grenze, vielleicht ihre einzige Grenze dort, wo die Würde des Menschen berührt sein kann. Diese Grenze — auch durch das Gesetz — zu setzen, ist eine der zentralen Aufgaben des Staates, gerade in einer sich wandelnden Gesellschaft.
Herr Vosen hat durch einen Zwischenruf festgestellt, ich sei ein Technokrat. Ich weiß nicht, ob ich das bin oder nicht.
Ich sage Ihnen, was ich tue, Herr Vosen: In 1982 war die Frage des Umgangs mit menschlichem Erbgut nirgends in der Diskussion. Ich habe die Kirchen gefragt, die sehr höflich waren, aber nicht kundig. Ich habe die Wissenschaft gefragt, die sehr höflich war, aber nicht interessiert. Ich habe fast ein Jahr gebraucht, bis ich die Wissenschaftler an einem Tisch hatte: auf der einen Seite die Theologen, die Sozialethiker, die Moralphilosophen, auf der anderen Seite die Mediziner, die Biologen, die Gentechnologen. Sie hatten die klassischen zwei Welten von C. P. Snow in unserem Saal gegenübergesetzt. Die Parlamentarier schwankten so ein bißchen in der Mitte herum. Wir haben darüber diskutiert. Wir haben ein Gespräch gefunden. Am Schluß saßen wir durcheinander. Wir haben es veröffentlicht.Wir haben die Benda-Kommission eingesetzt. Wir haben diese Fragen zusammen mit dem Justizminister in die Diskussion gebracht. Die Enquete-Kommission, für die ich mich nochmals sehr herzlich bedanke, ist kurz danach eingesetzt worden. Wir haben mit den Kirchen gesprochen. Wir hatten die Kirchentage. Wir haben die Diskussion mit den Gewerkschaften über Gendiagnose, über Genomanalyse geführt. Wir haben gemeinsame Tagungen durchgeführt. Wir fangen viele dieser Punkte im Embryonenschutzgesetz ein, das jetzt im Geschäftsgang ist, unter den gleichen Prinzipien, die jetzt dargestellt worden sind, bei einem strengen Schutz dessen, was hier schutzbedürftig ist.Der Mensch darf nicht zum Objekt werden. Er ist nicht verfügbar der menschlichen Neugier.
Wir müssen hier eindeutige Grenzen setzen — nicht etwa, um die Selbstverantwortung der Wissenschaft auszuhebeln, die brauchen wir nach wie vor — bei Klonen, bei Chimären, bei Eingriffen in menschliches Keimbahnmaterial. Dies alles gehört dazu und ist eine staatliche Aufgabe in unserer Verantwortung.
Daß es schwierig sein wird, dies in Europa gleich durchzusetzen — Herr Kollege Kohn hat dies zu Recht angemahnt — , weiß ich selbst. Ich bemühe mich, ein Gespräch der Forschungsminister Europas zu diesem Thema — in einer Klausurtagung — zusammenzukriegen. Ob dies gelingt, weiß ich noch nicht; denn die Einstellungen sind bei einigen Ländern durchaus verschieden. Aber daß wir hier einbringen müssen, was aus einer gemeinsamen langen Tradition ethischen Denkens des Abendlands erbracht worden ist, daß wir uns wieder im Gespräch darüber finden und verstehen müssen, was dies für unsere heutige Welt bedeutet, halte ich für eine der zentralen Aufgaben, um die Chancen nützen und den Menschen helfen zu können.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Rückblick auf das Entstehen und Wachsen unserer hochtechnisierten Industriegesellschaft macht uns allzu schmerzlich deutlich, daß wir in der Vergangenheit stets allein die wirtschaftlichen und technologischen Vorteile begrüßt und bereitwillig akzeptiert haben, ohne auch nur im entferntesten Fragen nach den schwerwiegenden Auswirkungen dieser Entwicklung auf das ökologische Gleichgewicht der Natur zu stellen.
Uns ist auf dem langen Weg die Ehrfurcht vor der Natur und der Schöpfung abhanden gekommen.
Rücksichtsloser Einsatz von Technik beutete oft die Natur aus, mehrte aber unseren Wohlstand. Und vor lauter Technologiegläubigkeit haben wir in Naturzerstörungen eingewilligt, die inzwischen das menschliche Leben selbst bedrohen und die kaum oder nur mit unverhältnismäßig hohen Mitteln noch beseitigt werden können.Nun erfährt diese technologische Entwicklung in Gestalt der Gentechnik eine ganz neue Dimension, die in atemberaubendem Tempo alles bisher Bekannte zu sprengen droht. Trotz der schlechten Erfahrungen aus der Vergangenheit erleben wir leider auch hier, daß allein die wirtschaftlichen und technologischen Vorzüge herausgestellt werden, während die in
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12820 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Frau Blunckihrem Ausmaß überhaupt nicht abschätzbaren Risiken der neuen Technologie beispielsweise für den Naturhaushalt, von dem der Mensch nur ein Teil ist, heruntergespielt werden.
Vielen Fortschrittsfanatikern in unserer bisher auf Selbstmord in Raten angelegten Entwicklung erscheint die Technologie nun wie ein Lichtstrahl am Ende eines Tunnels, nach dem sie begierig greifen, mit dem sie sogar die bisherigen Umweltzerstörungen selbst in den Griff glauben bekommen zu können. Die einen nutzen das zu Plänen, Kulturpflanzen gegen ein Herbizid, gegen Gift also, resistent zu machen,
ohne dabei zu bedenken, welche Folgewirkung dies für den Boden, das Trinkwasser, die Artenvielfalt, für den Bauern hat.
Die anderen verteufeln jeden Fortschritt aus Prinzip. Nur, das Schüren von Ängsten allein begünstigt eine Entwicklung, die es gerade zu verhindern gilt.Was spricht eigentlich gegen insektenresistente Pflanzen? Nichts. Worauf es ankommt, ist die Bereitschaft zur Einflußnahme, sind der Wille und die Fähigkeit, politisch gestaltend einzugreifen, um eine Entwicklung zu verhindern, die Schleusen öffnet, bei der Mensch und Natur bedroht werden können. Je mehr Geld in eine neue Technologie investiert wird, im selben Maße wird eine Hemmschwelle beseitigt, und es wächst zugleich die Risikobereitschaft zu gentechnologischen Manipulationen in solchen Bereichen, in die einzudringen bislang noch als ethisch und moralisch verwerflich galt. Vor diesem Weg warne ich. Er wäre unumkehrbar.
Nun will ich gern einräumen, daß es durch den Einsatz der Gentechnologie etwa im Bereich der Nahrungsmittelerzeugung oder bei der Produktion nachwachsender Rohstoffe ökonomische Vorteile geben kann. Aber hier stellt sich sogleich die Frage, ob angesichts der Überschußproblematik in der Landwirtschaft ertragsteigernde Gentechniken überhaupt erforderlich sind. Ich habe in der Debatte vorhin ganz genau zugehört: Die Hungerprobleme in der Dritten Welt werden dadurch nicht gelöst.
Sie sollten wirklich den Enquete-Bericht in diesem Punkt noch einmal nachlesen, weil er dazu eindeutige Aussagen macht. Um die Hungerprobleme zu lösen, bedarf es anderer Mittel und Techniken. Schließlich stehen in den Industrieländern schon heute Nahrungsmittel im Überfluß zur Verfügung, ohne daß die Hungersnot in der Dritten Welt beseitigt wird.Mit einem ganz großen Fragezeichen sind meiner Ansicht nach auch die Hoffnungen zu versehen, die in die mit Hilfe der Gentechnik produzierten nachwachsenden Rohstoffe gesetzt werden. Hier muß verstärkt geforscht werden, aber eben nicht bei Industriepflanzen zur Gewinnung von Bioalkohol als Benzinersatz. Das wäre nicht nur extrem unwirtschaftlich, sondern auch ökologisch sehr bedenklich.In jedem Einzelfall müssen wir erkennen, bewerten, abschätzen, ob unsere bisherigen schweren Eingriffe in den Naturhaushalt durch den Einsatz der Genmanipulation gemindert werden können oder ob die neuen Eingriffe weniger schädlich sind als die alten. Es gibt bislang keinerlei Erkenntnisse über die kurz- oder langfristigen Folgen dieser neuen Eingriffsmöglichkeiten für das Ökosystem. Es stellt sich die Frage, ob wir zulassen dürfen, daß Freilandexperimente jederzeit durchgeführt werden können, ohne vorher gesicherte Erkenntnisse über die möglichen ökologischen Folgen eines solchen Vorgehens gewonnen zu haben. Denn über eines müssen wir uns im klaren sein: Solche Experimente sind nicht in jedem Fall rückholbar. Einmal freigesetzte Organismen verbleiben meistens für immer in der Umwelt und können durch menschliches Handeln nicht mehr zurückgewonnen werden. Hier fordere ich den Herrn Riesenhuber auf, sich an das Moratorium für die Freisetzung von Mikroorganismen zu halten. Ich denke, es hat gute Gründe gegeben, warum die Enquete-Kommission dieser Meinung war.
Die Risiken bei der Freisetzung sind wesentlich ernster zu nehmen, als das bislang von Industrie und Teilen der Wissenschaft behauptet wird. Jede Ausbringung, Erprobung oder Anwendung genetisch veränderter Organismen bedarf daher einer speziellen Umweltverträglichkeitsprüfung. Aber auch die Anwendung in geschlossenen Systemen muß geprüft werden, wenn auch nur die geringste Möglichkeit der ungewollten Freisetzung besteht.Die Risiko- und Folgenabschätzung ist unerläßliche Voraussetzung für jedes Freilandexperiment, bevor die Gentechnologie weitere Fortschritte macht und wir dann auf mögliche Fehlentwicklungen nur noch reagieren können, wie es bisher bei vielen großen Techniken leider eben der Fall ist. Ökologen und Naturschutzverbände müssen daran beteiligt werden. An dieser Stelle möchte ich Frau Süssmuth ein Dankeschön dafür sagen, daß sie zuwege gebracht hat, daß zumindest e i n Ökologe in die ZKBS gekommen ist.Natürlich muß die Öffentlichkeit über solche Projekte informiert werden. Darüber hinaus brauchen wir ganz klare Haftungsregelungen.Wir halten das grundsätzliche Verbot der Freisetzung von Viren aufrecht, und wir benötigen das von der Enquete-Kommission vorgeschlagene Moratorium für die gezielte Freisetzung von Mikroorganismen. Ich denke, die Liberalen im Umweltausschuß würden gut daran tun, sich den Enquete-Bericht noch einmal vorzunehmen und an diesem Moratorium festzuhalten.Eine solche umfassende Abschätzung einer neuen Technik fällt uns sehr schwer. Unsere Technikgläubigkeit hat einseitiges Denken gefördert. Aber hier ist es eben nicht mit reinem Fachwissen getan. Wir brauchen den kritischen, offenen, verantwortungs- und problembewußten Laien. Wir müssen uns bewußt sein: Wir sind für das verantwortlich, was wir tun; aber
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Frau Blunckwir sind genauso für das verantwortlich, was wir nicht tun.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Fellner.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir können zunächst alle froh sein, daß nach eingehenden Beratungen in der Enquete-Kommission, begleitet durch den wissenschaftlichen Sachverstand verschiedenster Disziplinen, und nach den Beratungen in den Fachausschüssen im Bundestag nun das auf dem Tisch liegt, was die Bundesregierung und wir selber als Gesetzgeber in Sachen Gentechnologie zu tun haben. Es ist jetzt Aufgabe des Gesetzgebers, in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, der Wirtschaft und den gesellschaftlichen Gruppen Normen und Maßstäbe dafür zu entwickeln und in eine rechtliche Form zu gießen, wie wir diese Technik unter Wahrung der Würde des Menschen, in Wahrnehmung unserer Verpflichtung gegenüber der Schöpfung und in Verantwortung für die Lebensfähigkeit künftiger Generationen nutzen können. Ich bin zutiefst überzeugt, daß es diese Menschheit überhaupt nicht mehr gäbe, wenn sie es sich in irgendeiner Phase ihrer Geschichte erlaubt hätte, auf einen Erkenntnisfortschritt zu verzichten, so wie es die GRÜNEN mit ihrer generellen Ablehnung der Gentechnik nun von uns verlangen. Wir sind dabei beileibe nicht blind fortschrittsgläubig, aber wir wollen unserer Verantwortung gerecht werden.Kollege Kohn hat im Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung den Ernährungsbedarf der Menschheit angesprochen. Ich glaube, Sie können es sich nicht so leicht machen, daß Sie bei dieser Gelegenheit so ganz beiläufig auch über die Frage entscheiden, ob auf der Erde künftig Millionen oder Milliarden mehr Menschen, einzelne Menschen, leben können oder ob sie nicht leben können, weil wir sie nicht ernähren können.
Wenn man diesen Überlegungen nicht folgen will, Frau Blunck, dann sollte man trotzdem nicht immer so abwegige Argumente dagegen ins Feld führen, wie zum Beispiel das, daß wir die Überschüsse, die wir in Europa produzieren, den Menschen zukommen lassen sollten, die sie brauchen. Das haben wir bisher leider nicht geschafft. Deshalb müssen wir den anderen Weg gehen, nämlich dafür zu sorgen, daß dort, wo die Menschen leben, auch Lebensmittel wachsen und erzeugt werden,
daß über eine Anpassung der Pflanzen die Menschen dort ernährt werden können.
Ich meine, daß gerade unter diesem Aspekt unsere Haltung nicht sein kann, ein generelles Nein zu sagen. Vielmehr müssen wir ja sagen, ein durchaus kontrolliertes, abgewogenes Ja mit der Bereitschaft, dieses Ja jederzeit in Frage zu stellen. Wir müssen uns immer imstande sehen, auch stopp sagen zu können, wo wir den Mißbrauch nicht verhindern können und wo wir in Bereiche vorstoßen, wo wir die Auswirkungen unseres Handelns nicht mehr übersehen und damit auch nicht verantworten können. Wir müssen nach meiner Überzeugung auch deshalb ja sagen, weil wir die wissenschaftliche Autorität brauchen, um in der Welt mitreden zu können, wenn es um Methoden der Gentechnologie geht, auch mit dem Ziel, die Wissenschaft, die Forschung in der Welt zu beeinflussen, daß sie Grenzen dessen achtet, was wir aus ethischen Gesichtspunkten wirklich als die Grenzen ansehen.In diesem Zusammenhang sagen wir umgekehrt natürlich ein Nein, z. B. wenn es um den Eingriff in menschliche Erbanlagen geht. Dieses Nein ist für mich in erster Linie aus ethischer Verantwortung motiviert; es ist eine ethische Entscheidung auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes. Es ist auch dadurch gerechtfertigt, daß wir solche Eingriffe nicht zielsicher machen können und damit Schäden auch für künftige Generationen verursachen würden, die wir nicht verantworten können.Aber das gilt selbstverständlich dann nicht, wenn es darum geht, Gentechnik zur Heilung von Krankheiten anzuwenden. Ich möchte Ihnen von den GRÜNEN wirklich vor Augen führen, was es eigentlich bedeutet, wenn Sie in diesem Zusammenhang gentechnologische Methoden ablehnen. Sie stellen sich schlicht hin und verhindern und lassen es nicht zu, daß Menschen geheilt werden, daß der Schmerz von Menschen gelindert wird, der Schmerz von Menschen, die sich aus der Anwendung der Gentechnologie Heilung und Linderung ihres Leidens erwarten können. Sie würden, ich sage: eiskalt verantworten, daß wir dort, wo wir Menschen helfen können, schlicht darauf verzichten, weil Sie die Gentechnologie dömonisiert haben und dömonisieren wollen.
Ich bedaure, daß wir bei der Frage der kontrollierten Freisetzung keinen Konsens gefunden haben. Es ist richtig, daß wir in der Kommission einmal ein Moratorium beschlossen haben. Wir haben uns auch im Zuge der Diskussion eines Besseren belehren lassen. Wir haben uns sagen lassen, daß wir diese Freisetzung zumindest zulassen müssen, um Sicherheitsforschung überhaupt betreiben zu können. Im übrigen ist es ja so — der Kollege Catenhusen weiß das —, daß eine EG-Richtlinie die Freisetzung mittlerweile zuläßt und wir im Grunde genommen nur darüber beraten können, unter welchen Bedingungen wir diese Freisetzung ermöglichen. Selbstverständlich wollen wir das ganz sorgfältig, kontrolliert, abgewogen und Schritt für Schritt zulassen.Ich begrüße es vor allen Dingen, meine Damen und Herren, daß wir demnächst in der Lage sein werden, in eine intensive Beratung eines Gentechnikgesetzes einzusteigen. Das ist nicht deshalb so erfreulich, weil wir etwa keine rechtlichen Grundlagen für die Arbeit mit der Gentechnologie gehabt hätten. Und es wäre vielleicht auch nicht unbedingt erforderlich gewesen,
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Fellnerein eigenes Gesetz zu machen; wir waren damals in der Kommission noch etwas anderer Ansicht. Aber ich meine, daß es jetzt Zeit ist, für die Öffentlichkeit und auch für die Forschung und die Wirtschaft klarzulegen, was im Zusammenhang mit Gentechnologie zulässig ist und was der Gesetzgeber will.Es ist also nicht so, daß etwa jede demokratische Legitimation bisher gefehlt hätte, wie die GRÜNEN es gestern in einem Antrag im Innenausschuß dargestellt haben. Diese demokratische Legitimation kriegen Sie im übrigen auch nicht dadurch, daß Sie etwa eine Volksabstimmung durchführen lassen und damit nur abfragen wollen, was Sie durch Ihre Agitation gegen die Gentechnologie inzwischen an Verunsicherung in der Bevölkerung erreicht haben.
Herr Abgeordneter Fellner, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Flinner zu beantworten?
Ich möchte bitte jetzt zu Ende kommen, weil Sie mir schon mit dem Ende meiner Redezeit drohen. Es hat sich vorhin gezeigt, daß keine Fragen gestellt werden, sondern daß jemand nur auf Kosten meiner Redezeit reden will.
Ich meine auch — und dazu rufe ich auf — , daß wir die Diskussion — in Begleitung dieser Gesetzesberatung — natürlich in allen Dimensionen weiterführen sollten. Es ist nach wie vor ein sehr großer Informationsbedarf in unserer Bevölkerung, nebenbei gesagt: auch in diesem Parlament. Allein wenn man die Reden des Kollegen Catenhusen und von Frau Blunck vergleicht, dann merkt man, daß noch großer Informationsbedarf besteht.
Ich glaube, wir sollten der Gentechnologie aufgeschlossen gegenübertreten.
Ich möchte das Schlußwort des Kollegen Kohn aufgreifen, der — André Gide zitierend — gesagt hat: „Vertrauen Sie denjenigen, die nach der Wahrheit suchen. Mißtrauen Sie denen, die sie gefunden haben. " Ich würde hinzufügen: Man soll auch denen mißtrauen, die die Wahrheit gar nicht wissen wollen. Wir gehen an die Gentechnologie positiv heran und wollen die Chancen nutzen, die die Gentechnologie bietet.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie zum Bericht der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" auf Drucksache 11/5320.Die SPD-Fraktion wünscht, daß über die Abschnitte I bis IV getrennt abgestimmt wird. Darüber hinaus gibt es den Wunsch, daß über Punkt 13 der Nr. II der Beschlußempfehlung gesondert abgestimmtwird. Ich werde also so verfahren und noch einmal darauf aufmerksam machen.Ich lasse zunächst einmal über Nr. I der Beschlußempfehlung abstimmen. Wer für Nr. I ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist Nr. I mit den Stimmen der SPD-, der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Ich komme nun zu Nr. II der Beschlußempfehlung; das liegt Ihnen auf Drucksache 11/5320 vor.Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5468 vor. Die CDU/CSU-Fraktion hat darum gebeten, daß über den Punkt 13 in diesem Änderungsantrag der SPD gesondert abgestimmt wird. Ich frage, wer für den Punkt 13 dieses Änderungsantrages ist. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Punkt 13 des Änderungsantrags der SPD einstimmig angenommen worden.Ich lasse nunmehr über den Änderungsantrag der SPD insgesamt abstimmen.
— Ja, ist in Ordnung: „im übrigen", sozusagen über den Rest. — Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der GRÜNEN abgelehnt worden.Ich lasse nunmehr über die Nr. II in der geänderten Fassung abstimmen. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. II ist gegen die Stimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion der GRÜNEN angenommen worden.Wir kommen zu Nr. III der Beschlußempfehlung. Wer stimmt ihm zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir kommen zu Nr. IV. Wer stimmt ihm zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ebenfalls einstimmig angenommen.Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie angenommen worden ist.Ich muß jetzt etwas nachholen, was heute morgen wohl übersehen worden ist. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um folgende Punkte erweitert werden, die Ihnen auf der Zusatzpunktliste vorliegen:1. Aktuelle Stunde:Die Haltung der Bundesregierung zum Alpentransit-Nachtfahrverbot für LKW durch Österreich
2. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. April 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksachen 11/5288, 11/5471 —3. Aktuelle Stunde: Der Friedensauftrag der Bundeswehr
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Vizepräsident Cronenberg4. Aktuelle StundeAbzug von C-Waffen aus der Bundesrepublik Deutschland5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Duve, Dr. Penner, Weisskirchen , Adler, Amling, Becker-Inglau, Bernrath, Dr. Böhme (Unna), Büchner (Speyer), Bulmahn, Conradi, Egert, Diller, Dr. Emmerlich, Dr. Glotz, Graf, Hämmerle, Dr. Hartenstein, Dr. Holtz, Jungmann (Wittmoldt), Kastning, Klein (Dieburg), Dr. Klejdzinski, Kolbow, Kretkowski, Kühbacher, Kuhlwein, Lambinus, Lohmann (Witten), Lutz, Müller (Düsseldorf), Dr. Niehuis, Dr. Nöbel, Odendahl, Dr. Pick, Reuter, Rixe, Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Schröer (Mülheim), Sielaff, Singer, Dr. Soell, Dr. Sonntag-Wolgast, Steinhauer, Stiegler, Dr. Struck, Tietjen, Toetemeyer, Wartenberg (Berlin), Weiler, Weyel, Wiefelspütz, Wimmer (Neuötting), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Grundsätze und Ziele für eine Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den neunziger Jahren- Drucksache 11/5469 -6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Duve, Dr. Penner, Weisskirchen , Bernrath, Conradi, Egert, Hämmerle, Müller (Düsseldorf), Odendahl, Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Sielaff, Dr. Soell, Toetemeyer, Wartenberg (Berlin), Weiler, Weyel, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Deutsches Historisches Museum in Berlin- Drucksache 11/5470 -Gleichzeitig soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Das sind Empfehlungen des Ältestenrates. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das beschlossen.Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Wollny und der Fraktion DIE GRÜNENSchutz der Bevölkerung und der Umwelt vor radioaktiven Strahlen- Drucksachen 11/2837, 11/4151 -Berichterstatter:Abgeordnete Harries SchützFrau Wollnyb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1986— Drucksache 11/5049 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Forschung und TechnologieDer Ältestenrat schlägt einen Debattenbeitrag je Fraktion von fünf Minuten vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall.Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat Frau Abgeordnete Wollny.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute in sechs Tagen haben wir den 1. November. Dieser 1. November 1989 ist ein Freudentag für den Bundesminister fürUmwelt und für die Atomlobby in diesem Land; denn an diesem Tag kann der Minister nicht nur sein Bundesamt für Strahlenschutz einweihen, sondern an diesem Tag soll auch die neue sogenannte Strahlenschutzverordnung in Kraft treten.Unsere heutige Debatte ist — ich möchte das einmal so dramatisch ausdrücken — der letzte verzweifelte Versuch, diesen Tag nicht zu einem Trauertag für die Bevölkerung dieses Landes und für die Beschäftigten in Atomanlagen werden zu lassen. Es ist auch die letzte Chance für die hier versammelten Damen und Herren zu beweisen, daß ihr Einsatz für den Schutz der Bevölkerung ernst gemeint ist und für sie einen höheren Stellenwert hat als der Schutz der Atomanlagen vor der Bevölkerung.Die Novellierung der Strahlenschutzverordnung geht zurück auf eine Empfehlung der ICRP von 1977. Inzwischen ist unbestritten, daß die Risikoeinschätzung, die damals getroffen wurde, nicht der Wirklichkeit entsprach. Vielmehr war das tatsächliche Risiko fünf- bis zehnmal so hoch. Daraus ergibt sich die Forderung, die zulässigen Werte um eben diese Faktoren herabzusetzen.Mit der Novellierung der Strahlenschutzverordnung hätte die Bundesregierung die Chance gehabt, sich die neuen Erkenntnisse zu eigen zu machen, damit ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis und sich in den Dienst der Gesundheit der Bevölkerung zu stellen. Sie hat diese Chance nicht ergriffen. Sie hat sich statt dessen in den Dienst der Atomlobby nehmen lassen und statt einer Verbesserung in vieler Beziehung eine Verschlechterung zugelassen.Es ist nur als makaber zu betrachten, daß bei der Berechnung des Risikos allein von Krebstoten ausgegangen wird.
Erkrankungen spielen dagegen bei der Berechnung keine Rolle. Das führt dazu, daß z. B. die Schilddrüse und die Knochenoberfläche, die als Jod- bzw. Strontiumsammler besonders anfälligen Organe, mit einem Anteil von nur 3 % gewichtet werden, weil — wie es z. B. heißt — Schilddrüsenkrebs gute Heilungschancen hat.
Das ist wegen der Kürze der Zeit nur ein einziges Beispiel für die Ignoranz der Bundesregierung und derjenigen Abgeordneten in diesem Haus, die der Novellierung bereits zugestimmt und im Ausschuß für die Ablehnung unseres Antrages gestimmt haben.Der eigentliche Skandal besteht jedoch darin, daß niemand weiß und nachvollziehen kann, was diese Novellierung am Ende den Betroffenen — und das sind wir alle, denn Strahlung macht vor niemand halt — tatsächlich bringt.Wir beantragen, die Novellierung zurückzuziehen und die Bemessungsgrundlagen und Bewertungszahlen — die jetzt in einer Ausführungsverordnung festgelegt werden sollen — vorher bekanntzugeben und ohne Zeitdruck breit und öffentlich zu diskutieren, damit jeder Bürger dieses Landes nachvollziehen kann, was ihm zugemutet werden soll. Die Herrschaften aus der Regierungsfraktion halten das nicht für
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Frau Wollnynötig. Sie sehen ihre Aufgabe in diesem Bundestag darin, jede Regierungsvorlage unbesehen abzusegnen, ohne Rücksicht auf Verluste — und das gilt in diesem Fall wörtlich.
Nun sollen die Bemessungsgrundlagen am 8. November erstmals von den Verbänden diskutiert werden. Dann ist die Novellierung längst in Kraft. Warum scheut man sich derart, diese Zahlen rechtzeitig zu diskutieren, und behandelt sie wie eine Geheimsache, bis es für eine Änderung zu spät ist?Wie notwendig ein wirksamer Strahlenschutz ist, der möglicherweise den Betrieb von Atomanlagen unwirtschaftlich macht, beweist der Großunfall in dem spanischen Atomkraftwerk vor wenigen Tagen, bei dem wir wieder einmal nur Glück gehabt haben. Nicht die Profitinteressen der Atomlobby dürfen das Kriterium für Strahlenwerte sein, sondern allein der Gesundheitsschutz für die Menschen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Harries.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Wollny, Sie können sich darauf verlassen: Wir lesen die Regierungsvorlagen und stimmen dann zu, wenn wir überzeugt sind. Wir lesen aber auch Ihre Vorlagen. In Ihrer Vorlage stimmt zumindest ein Satz. Es stimmt, daß wir die Risiken der Gesundheitsgefährdung, die sich aus der Radioaktivität ergeben, natürlich kennen. Es stimmt auch der Zusatz, den Sie in der Begründung gegeben haben, daß alles getan werden muß, um — ich zitiere sinngemäß — die Gesundheit der Bevölkerung vor den Auswirkungen der Radioaktivität zu schützen. Auch das ist klar.Nur die Schlußfolgerung, die Sie aus der soeben zitierten Erkenntnis ziehen, nämlich aus der Kernenergie auszusteigen und die Kraftwerke zu schließen,
ist nicht richtig. Jeder Kundige, jeder, der mit Verantwortung die aktuellen Probleme unserer Zeit verfolgt — ich nenne nur die Debatte über die Klimaveränderung — , muß zustimmen, daß es derzeit und auch für die Zukunft nicht verantwortet werden kann, für die Industrienationen aus der Kernenergie auszusteigen.
Daß wir zu dieser eindeutigen Schlußfolgerung kommen, ergibt sich aus dem jetzt zur Debatte stehenden Bericht der Bundesregierung vom 8. August dieses Jahres, der das Fazit aus den Prüfungen und Messungen von 1986 zieht. Wir bedauern natürlich, daß wir uns hier mit Tabellen und Zahlen aus dem Jahr 1986 zu beschäftigen haben. Wir wissen aber, daß — und dafür herzlichen Dank, Herr Staatssekretär — die entsprechenden fortgeführten Berichte der Bundesregierung für 1987 und 1988 uns in Kürze zur Prüfung und anschließenden Debatte vorgelegt werden.Der Bericht der Bundesregierung behandelt, wie wir wissen, drei Komplexe: die Ergebnisse der radioaktiven Messungen, die sich auf die natürliche Strahlenexposition, auf die zivilisatorische Strahlenexposition — gemeint sind die Auswirkungen der Kernkraftwerke — und die Strahlenexposition durch den Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl beziehen. Es wird ausgesagt, daß gefährliche Grenzwerte nicht überschritten worden sind. Daran ist nichts zu deuteln. Die natürliche Strahlenexposition hat sich gegenüber den Vorjahren — ich rede jetzt von 1986, 1985, 1984 — nicht verändert und vor allen Dingen auch nicht erhöht. Der Beitrag zur Strahlenexposition durch Kernkraftwerke betrug 1986 weniger als 1 % des Beitrages der zivilisatorischen Strahlenexposition.
Auswirkungen hatte selbstverständlich der Unfall in Tschernobyl. Er hat die Umweltradioaktivität — wir wissen das — in der Bundesrepublik Deutschland verändert; daran gibt es nichts zu deuteln. Aber die dadurch bedingte Strahlenexposition der Bevölkerung betrug 1986 im Mittel nur 5 % der natürlichen Strahlenexposition; in Süddeutschland war sie höher.
Der Bevölkerung muß deutlich gemacht werden — deswegen sage ich es hier und unterstreiche es noch einmal — , daß gerade der Tschernobyl-Unfall zum Anlaß für eine Reihe von Gesetzesvorhaben, Verordnungen und Überprüfungen genommen worden ist. Ich erinnere an die Strahlenschutzverordnung, an das Bundesgesetz zur Einrichtung des Strahlenschutzamtes in Salzgitter. Die Messung von Radioaktivität wurde wesentlich verfeinert. In der Bundesrepublik ist ein zentral geleitetes Meßnetz errichtet worden. Vor allen Dingen sehe ich es als ganz wichtig an, daß deutsche Vorstellungen, Hilfsmaßnahmen, Sicherheitsstandards in internationale Beratungen und Absprachen eingegangen sind. Es ist wesentlich, daß wir hier endlich zu einem internationalen, vor allen Dingen auch europäischen Kontext kommen.Unmittelbar nach dem Unfall von Tschernobyl haben Fachkommissionen die deutschen Kernkraftwerke im Auftrag der Bundesregierung überprüft und festgestellt, daß wir einen hohen Sicherheitsstandard haben. Das ist bekannt, aber es muß gerade wegen gegenteiliger Vorstellungen und Behauptungen immer wieder auch hier gesagt werden.Die besonderen Auswirkungen im Gesundheitswesen sind nicht zu übersehen. Ich nenne die Röntgendiagnostik. Bei Abwägung der Werte — Gesundheitsfürsorge auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Chance, daß man durch eine vernünftige, sichere und verantwortungsvolle Handhabung der Richtlinien zu einer Minimierung des Risikos kommt — führt auch hier zu dem Schluß, daß wir ohne Einschränkung ja zu der medizinischen Nutzung sagen.
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HarriesAlles in allem, meine Damen und Herren, bestätigt der Bericht der Bundesregierung, daß wir hier auf einem verantwortungsvollen Weg sind. Diesen müssen wir weitergehen. Auch für uns gilt: Sicherheit vor Kosten.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schütz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Harries, Sie sagten, daß die Klimakatastrophe uns zu ganz anderem Nachdenken führen wird. Ich glaube, daß dieses Thema für Sie der Haken ist, um die Atomenergie wieder salonfähig zu machen. Das werden wir jetzt, glaube ich, permanent bei Diskussionsbeiträgen hier in diesem Hause erleben.
— Das ist falsch; darüber wollen wir uns hier klar sein.
Die Feststellungen, die die GRÜNEN in ihrem Antrag gemacht haben, decken sich im Grunde mit unseren Positionen zum Strahlenschutz und zur Kernenergie. Sowohl beim vorigen Mal als auch bei der Antragsberatung haben wir diesen Beitrag abgelehnt, weil Sie in zwei Punkten andere Positionen vertreten als wir.
Erstens haben wir viel konkretere Positionen in unserem Vorschlag zum Kernenergieabwicklungsgesetz aufgestellt. Zweitens habe ich auch schon bei der vorigen Diskussion hier im Plenum gesagt, Frau Wollny, daß die Auflösung der Strahlenschutzkommission von uns nicht mitgetragen wird.
Wir wollen eine andere Zusammensetzung dieser Kommission, aber wir wollen, solange dieses Problem besteht, nicht eine Auflösung dieser Kommission. Wir wollen ein alternatives und auch kritischeres Beraterpotential.
Frau Abgeordnete Wollny, bei den Fünf-Minuten-Beiträgen ist die Beantwortung von Zwischenfragen unmöglich. Ich bitte um Verständnis.
Lassen Sie mich vor allem — leider auch nur kurz — auf den von der Bundesregierung vorgelegten Bericht über die Umweltradioaktivität eingehen.Erstens. Er stellt erstmalig auf die mittlere effektive Dosis der Strahlenbelastung ab und kommt wegen der Radonbelastungen in Wohnungen zu wesentlich höheren Werten der natürlichen Strahlenbelastung. Sie haben immer nur die genetischen verglichen, Herr Harries. Auch bei der anderen Strahlenexposition, beiden zivilisatorischen Strahlen, kommen wir zu höheren Werten, weil wir die Schwankungsbreite in der Medizin mit höheren Werten ansetzen. Diesen Ansatz, die effektive Dosis anzusehen, begrüße ich; das halte ich für richtig.Zweitens. Dieser Bericht berücksichtigt erstmalig die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Er kommt zu dem Ergebnis, daß der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl die Umweltradioaktivität in der Bundesrepublik Deutschland verändert hat. Soweit die nüchterne Feststellung dieses Berichts der Bundesregierung, der aber ansonsten — da stimme ich Frau Wollny zu — den Duktus des „Im Westen nichts Neues" zur Radioaktivitätsentwicklung eigentlich aufrechterhält. Ist aber, so frage ich, bei uns im Tschernobyl-Jahr tatsächlich so wenig passiert, wie aus der verbalen Beschreibung dieses Berichts hervorgeht? Es ist schon verräterisch, daß dieses die Republik doch gerade wegen der Strahlenbelastung so aufrührende Ereignis der Bundesregierung in ihrem Bericht nur eine halbe Seite wert ist.
— Ich komme noch darauf, Herr Lennartz.
Soll hier ein Vorhang zur Beruhigung und Verharmlosung heruntergezogen werden? Diese Frage stelle ich. Hat die Molke-Irrfahrt nach der Tschernobyl-Katastrophe überhaupt nicht stattgefunden? Hat die monatelang geführte Diskussion über Lebensmittelbelastungen durch Strahlung auf einem anderen Planeten stattgefunden? Oder soll dies in einem Bericht über Strahlenbelastung überhaupt nicht behandelt werden?Wäre nicht eine andere Auseinandersetzung als nur die Anmerkung am Platze — Herr Lennartz hat schon darauf hingewiesen — , daß die Bevölkerung ihre effektive Dosisbelastung niedrig gehalten habe, weil sie die Verzehrgewohnheiten verändert bzw. auf geringer kontaminierte Nahrungsmittel ausgewichen ist? Kann man das nicht untersuchen?Fragen über Fragen!
— Es ist nicht im Bericht niedergelegt. Uns interessieren schon die Erkenntnisse, Herr Baum, über den Umfang der Kontamination der Lebensmittel und über die erfolgten Reaktionen bei der Vernichtung und Umleitung von Lebensmitteln wegen ihrer Strahlenbelastung.Ein Bericht zum Tschernobyl-Jahr — es ist das erste Mal, daß das Tschernobyl-Jahr in diesem Bericht auftaucht — hätte zumindest in diesem Kapitel ganz anders aussehen müssen; nicht dramatisch in der Sprache, wohl aber gehaltvoller, detaillierter und breiter bezüglich der untersuchten Felder.
Dem Thema „Im Westen nichts Neues" in unserem Bericht steht im Osten zu Tschernobyl mittlerweile die Haltung von Glasnost gegenüber. Michail Leneschow, der Laborleiter der Kommission der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, hat hier in Bonn am
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Schütz16. Oktober 1989 gesagt, daß die Regierung der Ukraine wegen einer immer noch hohen Strahlenbelastung die Evakuierung von 108 000 Menschen nordwestlich von Tschernobyl plane. Dort werden also die Auswirkungen betrachtet, aber bei uns gibt es eine Verharmlosung und Vernebelung hinsichtlich des Ernstes dieser Katastrophe, zumindest in diesem Bericht.Meine Damen und Herren, geht man von dem von der Bundesregierung vorgelegten Zahlenwerk aus, verläßt man die Ebene der bundesweiten Durchschnittswerte und konzentriert man sich statt dessen auf die für die Strahlenexposition nicht unwichtigen regionalen Werte, so kommt man etwa für den Raum Berchtesgaden auf Belastungswerte von 0,94 mSv effektiver Dosis. Bei einem dortigen permanenten Aufenthalt im Freien zur Zeit der Tschernobyl-Katastrophe — das kann man auch aus der Tabelle ersehen — käme man auf einen Wert von 2 mSv. Diese Werte sind zu der natürlichen Strahlenexposition hinzuzurechnen.Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß uns die Diskussion über die Niedrigstrahlung klargemacht hat, daß es keine unschädliche Dosis gibt, sondern daß jede zusätzliche Dosis das Krebsrisiko erhöht.
Wir wissen, daß die britische nationale Strahlenschutzkommission eine die Vorbelastung einbeziehende Grenzdosis von unter 0,5 mSv vorschlägt. Es muß uns interessieren, wie wir mit diesen Überlegungen umzugehen haben. Diese Überlegungen werden in dem Bericht überhaupt nicht angestellt.Feststellungen zur Wirkungsforschung finden wir nicht. Das liegt für uns daran, daß das jetzt neu errichtete Bundesamt für Strahlenschutz zwar eine umfangreiche Untersuchung dieser Fragen vermuten läßt, bei der Stellenausstattung wird aber — so haben wir nachgelesen — auf diese Fragen überhaupt kein Schwerpunkt gelegt. Es ist dort nichts an zusätzlichen Stellen hinzugekommen. Das Verabreichen von weißer Salbe verstärkt häufig den Placebo-Effekt.
Herr Abgeordneter, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Großzügigkeit des Präsidenten nicht überstrapazieren würden.
Ich bin am Ende meiner Ausführungen.
Hier wird der Eindruck verstärkt, als sei für den Strahlenschutz der Bevölkerung alles getan worden. Tatsächlich werden nur Daten gesammelt. Die notwendigen Grundlagen für die Bewertung sind nicht vorhanden. Wir müssen den Vorhang aufziehen und auch beim Strahlenschutzbericht etwas gründlicher mit den Tatsachen umgehen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.
Ich teile Ihre kritische Position nicht, Herr Kollege. Die Bundesregierung hat die Konsequenzen aus Tschernobyl gezogen. Die GRÜNEN mit ihrem Antrag sind blind für die Fakten. Sie wollen den Ausstieg und stellen hier Behauptungen auf, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, z. B. die Behauptung, daß Gesundheit und Leben hier in der Bundesrepublik nachhaltig gefährdet seien und daß die Maßnahmen nach Tschernobyl zu keiner Zeit dem gesetzlich gebotenen Schutz der Bevölkerung entsprochen hätten.Dieser Feststellung tritt ja nicht einmal die SPD bei, die sich im übrigen schwertut, sich hier von den GRÜNEN abzugrenzen, wie wir im Ausschuß gesehen haben.Wir, CDU/CSU und FDP, haben im Ausschuß darauf hingewiesen, daß die Senkung der Grenzwerte nahezu auf Null, wie es verlangt wird, offenbar nur damit gerechtfertigt wird, daß man auf diese Weise einen Ausstieg erreichen will. Ein wissenschaftlich überzeugender Beweis für die vorgebrachten Argumente der GRÜNEN ist nicht geliefert worden. Vor allen Dingen wird kein Unterschied zwischen der natürlichen und der zivilisatorischen Strahlenbelastung gemacht.
Sie übersehen, daß der größte Teil der zivilisatorischen Belastung von der Röntgendiagnostik herrührt. Vielleicht sollten wir uns einmal überlegen, ob nicht auch hier noch Verbesserungen möglich und notwendig sind.Ihre Ziele richten sich eindeutig nicht auf die Belastungen, sondern Sie wollen den Ausstieg aus der Kernenergie.
Deshalb bauen Sie Szenarien auf, die die Leute in Angst und Schrecken versetzen sollen, damit Sie Ihre politischen Ziele erreichen.Dieser Politik folgen wir nicht.
Wir haben und auch ich habe in meiner Funktion als Reaktorsicherheitsminister immer der Sicherheit Vorrang vor jeglichem ökonomischen Argument gegeben. Meine Partei ist der Meinung, daß die Kernenergie nicht die Lösung der Zukunft darstellt. Sie ist eine Energie des Übergangs. Aber wir halten sie für verantwortbar. Die Bundesregierung hat auch auf unsere Forderungen hin eine Reihe von Maßnahmen getroffen, etwa die Einrichtung des Strahlenschutzamtes und das Strahlenschutzvorsorgegesetz.
Die Bundesregierung hat auf Grund neuerer Untersuchungen in Nagasaki und Hiroshima eine Neubewertung der Grenzwerte vorgenommen. Es besteht kein Anlaß, vom 30-Millirem-Konzept abzugehen.Ich habe auch Vertrauen darauf, daß sich Ereignisse, Unsicherheiten und Fehlinterpretationen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland nach Tschernobyl bedauerlicherweise passiert sind, nicht wieder-
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Baumholen. Alles, was die Bundesregierung mit den Ländern zusammen jetzt gemacht hat, läuft auf dieses Ziel hinaus und wird dieses Ziel auch erreichen. Ich weise darauf hin, daß die Bundesrepublik mit ihren Grenzwertforderungen in der Europäischen Gemeinschaft isoliert war. Sie geht hier sehr viel weiter, auch bei der Anwendung nationalen Rechts, als unsere europäischen Nachbarn.Deshalb meine ich, daß dieser Bericht nicht Anlaß zu Kritik ist. Wir würden uns auch unabhängig von der Kernenergie, selbst wenn wir überhaupt keine Kernenergie hätten, mit den Fragen der Strahlenexposition befassen müssen.
Die Verengung der Fragen auf die Strahlenexposition aus der Kernenergie ist falsch.Wir werden weiter dafür sorgen, daß die hohen Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke optimiert werden. Wir befassen uns im Ausschuß minutiös mit jedem Schadensfall. Die ganze Situation ist transparent. Wo Verbesserungen notwendig sind, werden sie vorgenommen.
Ich meine, daß wir die Folgen von Tschernobyl hier aufgearbeitet haben. Herr Kollege Schütz, ich möchte jetzt keine Grundlagendebatte mit Ihnen darüber führen, wann ein Ausstieg aus der Kernenergie möglich ist. Sie sollten, meine ich, den Mut haben, sich etwas deutlicher von den GRÜNEN und von ihren unhaltbaren Feststellungen und Forderungen abzugrenzen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Gröbl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Bericht über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung für das Jahr 1986 kommt die Bundesregierung der Forderung des Strahlenschutzvorsorgegesetzes nach, Bundestag und Bundesrat über die wesentlichen Entwicklungen der Umweltradioaktivität bei der Gesamtbevölkerung und den beruflich strahlenexponierten Arbeitskräften zu informieren. Die Berichte für die Jahre 1987 und 1988, Herr Harries, werden wir voraussichtlich noch in diesem Jahr vorlegen.Dieser Bericht enthält die wichtigsten Angaben über die natürliche Strahlenexposition sowie über die Emissionen radioaktiver Stoffe aus kerntechnischen Anlagen, über Strahlenunfälle und Kernwaffenversuche sowie die damit verbundenen Strahlenexpositionen. Er behandelt ferner die berufliche Strahlenexposition sowie die Beiträge, die sich aus der Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlen in Medizin, Forschung, Technik und Haushalt ergeben.Nahezu zwei Drittel der Gesamtbelastung entfallen danach auf die Exposition durch natürliche radioaktive Stoffe und die kosmische Strahlung. Der größte Teil der zivilisatorischen Strahlenbelastung entsteht — wie Herr Baum ausgeführt hat — durch die Röntgendiagnostik. Vergleichsweise gering ist dagegen die Exposition durch die Verwendung radioaktiver Stoffe oder ionisierender Strahlen in den übrigen Bereichen der Medizin, in Forschung und Technik, im Haushalt und insbesondere durch kerntechnische Anlagen.Die Abgaben radioaktiver Stoffe blieben bei allen in der Bundesrepublik befindlichen kerntechnischen Anlagen unterhalb, bei den meisten weit unterhalb der genehmigten Werte.Durch die Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl hat sich die Umweltradioaktivität auch in der Bundesrepublik Deutschland verändert. Die Bundesregierung, Herr Schütz, berichtet seitdem in Monatsberichten — jetzt quartalsweise — und zusammengefaßt in Jahresberichten über die auf Tschernobyl zurückgehende Strahlenbelastung. Deswegen ist es ganz gut, daß man miteinander spricht. Hier kann ich Sie auf diese Berichte verweisen.
Noch im Sommer 1986 wurde der Entwurf eines Strahlenschutzvorsorgegesetzes erarbeitet, um künftig die Vorsorgemaßnahmen auf gesicherter rechtlicher Grundlage und bundeseinheitlich treffen zu können. Dieses Gesetz ist in Kraft. Es ist u. a. Grundlage für das integrierte Meß- und Informationssystem — IMIS — , das die in Bund und Ländern vorhandenen Strahlenmeßnetze verknüpft und die Meßdaten bei der neu geschaffenen Zentralstelle des Bundes zusammenführt, die den Umweltminister bei der Bewertung der Daten unterstützt.In der Neufassung der Strahlenschutzverordnung, die am 1. November 1989 in Kraft tritt, wurden die Werte für beruflich strahlenexponierte Personen in Kernkraftwerken für die gesamte Lebensarbeitszeit auf 400 mSv begrenzt. Das 30-Millirem-Konzept blieb trotz des höheren EG-Richtwertes erhalten. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Strahlenforschung wurden demnach berücksichtigt. Ein Strahlendosisregister wird zum Schutz der betroffenen Arbeiter und sicherlich auch zum Nutzen der medizinischen Forschung errichtet.In der EG haben wir uns erfolgreich für strenge Grenzwerte für die Kontamination von Lebensmitteln bei einem Ereignis nach Tschernobyl eingesetzt.Die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik wurden im Auftrag der Bundesregierung von der Reaktorsicherheitskommission und der Strahlenschutzkommission einer intensiven Sonderuntersuchung unterzogen und — wo sinnvoll — auch nachgerüstet. Die IAEO hat auf unsere Einladung hin Kernkraftwerke nach eigener Wahl untersucht und nachahmenswerte hohe Sicherheitsstandards festgestellt.Ich nehme die Gelegenheit wahr, im Namen der Bundesregierung den Mitgliedern der RSK und SSK für ihre verantwortungsvolle und von hohem Fachwissen getragene Arbeit zu danken.
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12828 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär GröblNun noch ein Wort zur Zukunft der Kernenergie. Wer heute angesichts der durch Treibhausgase drohenden Klimaveränderung die Kernenergie eliminieren will, hat entweder das Ausmaß der Bedrohung durch den Treibhauseffekt nicht erfaßt oder will in Verachtung der Nöte der Menschen in Entwicklungsländern die Nutzung der Energie auch künftig den Industrienationen vorbehalten.
Das ist nicht unsere Politik. Deshalb werden wir weiterhin die Kernenergie als eine der Säulen unserer Energieversorgung aufrechterhalten — mit Verantwortung und hoher Sicherheitskultur.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Diese Beschlußempfehlung liegt Ihnen auf der Drucksache 11/4151 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2837 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen worden, d. h. der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN ist abgelehnt.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen nun vor, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 11/5049 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen — Widerspruch erhebt sich nicht; dann ist das beschlossen.
Bevor wir nunmehr, meine Damen und Herren, zum Tagesordnungspunkt 6 kommen, habe ich noch einen Ordnungsruf zu erteilen, und zwar an den Abgeordneten Böhm . Er hat in der Aktuellen Stunde am 5. Oktober ausweislich unseres Protokolls eine Zwischenruf gemacht, der da lautete: „Sie koalieren mit Mauermördern".
Meine Damen und Herren, ich bedauere auch im Namen meiner Kollegen Schriftführer — ich habe bei der Sitzung präsidiert — , daß uns dies entgangen ist. Auch die Verwaltuang hat diesen Zwischenruf nicht gehört. Dies gibt mir Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß die Verhaltensweisen in dieser Aktuellen Stunde aus meiner Sicht unerträglich waren und daß dies die einzige Ursache war, daß wir diesen Ordnungsruf nicht sofort, nachdem dieser Ausspruch getan worden war, erteilten.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kittelmann, Frau Geiger, Dr. Pohlmeier, Dr. Stercken, Lummer, Börnsen , Bühler (Bruchsal), Fuchtel, Dr. Grünewald, Harries, Haungs, Hauser (Esslingen), Hedrich, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Herkenrath, Hinsken, Dr. Hoffacker, Frau Hoffmann (Soltau), Dr. Jobst, Kalisch, Dr.-Ing. Kansy, Kroll-Schlüter, Dr. Kronenberg, Lenzer, Frau Limbach, Lowack, Magin, Marschewski, Rossmanith, Schemken, von Schmude, Dr. Schroeder (Freiburg), Schulze (Berlin), Seesing, Dr. Stark (Nürtingen), Dr. Uelhoff, Frau Verhülsdonk, Weiß (Kaiserslautern), Werner (Ulm), Wilz, Frau Dr. Wisniewski, Zierer und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Feldmann, Beckmann, Bredehorn, Frau Folz-Steinacker, Gries, Grünbeck, Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Haussmann, Heinrich, Hoppe, Dr. Hoyer, Irmer, Noltin, Ronneburger, Frau Dr. Segall, Frau Dr. Seiler-Albring, Zywietz, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP
Politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Lage im Mittelmeer-Raum
— Drucksachen 11/2162, 11/4870 —
Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von 90 Minuten vor. — Das Haus ist damit offensichtlich einverstanden; dann ist das so beschlossen.
Die Debatte kann eröffnet werden. Das Wort erteile ich dem Abgeordneten Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg der Dank der CDU/CSU an die Bundesregierung für die sehr umfangreiche Beantwortung, obwohl ich ab und zu den Eindruck hatte: Dort, wo es spannend wurde, waren die Ausführungen der Bundesregierung sehr kurz.Wir sprechen heute über eine Region, die seit Jahren zum Teil einem Pulverfaß gleicht. Die CDU/CSU verfolgt mit großer Sorge die politische, wirtschaftliche und auch sicherheitspolitische Entwicklung in Teilen der Region. Sie erwartet von der Bundesregierung, daß sie erstens weiterhin mit hoher Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft der besorgniserregenden sozialen Spannung durch Kooperation begegnet, daß sie zweitens den sicherheitspolitischen Gefahren an der Südflanke Europas weiterhin große Aufmerksamkeit widmet und drittens dem zunehmenden wirtschaftspolitischen Notstand in einzelnen Teilen der Region mit angemessenen Unterstützungsmaßnahmen begegnet. Dabei denken wir allerdings auch an die EG und an eine internationale Kooperation.Die politische und geostrategische Bedeutung des Mittelmeerraums wird wesentlich durch seine exponierte geographische Lage als Randmeer und durch die regionalen Zusammenhänge seiner Anrainer bestimmt. Das Mittelmeer verbindet nicht nur die Kontinente Europa, Afrika und Asien miteinander, sondern auch drei Religionsgemeinschaften und Kulturgemeinschaften. In den Anrainerstaaten lebt etwa ein Zehntel der Weltbevölkerung.Für den Welthandel, insbesondere für die Rohölversorgung Europas aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika, für die NATO und auch für die Westeuropäische Union ist das Mittelmeer eine Transport- und Kommunikationsstraße von vitaler Bedeutung. Im mittleren und ostwärtigen Raum des Mittelmeers liegt der flächenmäßig größte NATO-Befehlsbereich, Südeuropa, in welchem Griechenland und die Türkei unmittelbar an den Warschauer Pakt angrenzen.Die NATO gewährleistet in hohem Maß die sicherheitspolitische Stabilität der Mittelmeerregion. Drei der fünf Anrainer, nämlich Italien, Griechenland und
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Kittelmanndie Türkei, sind in die militärische Kommandostruktur des Bündnisses integriert und stehen damit in direkter regionaler Verantwortung. Frankreich und Spanien leisten ebenfalls als nicht militärisch integrierte Bündnispartner der NATO im Rahmen der MittelmeerSicherheitspolitik beachtliche Beiträge.Meine Damen und Herren, die USA leisten im Mittelmeer durch ihre 6. Flotte einen wesentlichen Sicherheitsbeitrag. Großbritannien unterhält mit Gibraltar sowohl NATO- als auch auf Zypern nationalen Sicherheitsinteressen dienende Stützpunkte. Die UdSSR — dies ist von uns immer wieder zu betonen — hat als ,,Mittelmeer-Anrainer" — so versteht sie sich — dort eine erhebliche maritime Präsenz.Die USA werden immer wieder mit dem Problem konfrontiert, daß sich die Sowjetunion teilweise bemüht, dem Einfluß der NATO, besonders der USA, in diesem Bereich entgegenzuwirken. Das heißt, am liebsten möchte die Sowjetunion ein echter Anrainer werden. Ihr Minimalziel ist es allerdings, den ungehinderten Zugang von Handels- und Kriegsschiffen vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer durch die türkischen Meerengen im Frieden und für den Spannungs- und Verteidigungsfall zu sichern. Dieser wird ihr auch von keiner Seite bestritten.Zusätzlich sind für die Sicherheitspolitik von NATO und Westeuropäischer Union die offene WestsaharaFrage von Bedeutung, die von revolutionärem Selbstverständnis getragene radikale Politik Libyens, das ungelöste Nah-Ostproblem, die instabile Situation zwischen den Kontrahenten nach Beendigung des Golfkrieges, insbesondere im Hinblick auf die Ära nach Khomeini, und der zunehmende islamische Fundamentalismus, der wegen der wirtschaftlichen Hoffnungslosigkeit der Menschen in vielen Regionen immer mehr Zulauf findet. Dieser Punkt, Frau Staatsministerin, ist in der Antwort der Bundesregierung nur sehr kurz gestreift worden. Uns würden in Ihrem Redebeitrag ein paar Worte mehr dazu interessieren. Schließlich nenne ich die destabilisierende Lage in Jugoslawien.Die CDU/CSU bedauert, daß sowohl die EG als auch die Westeuropäische Union, von einzelstaatlichen Interessen abgesehen, lange Zeit kein erkennbares Interesse an der Region gezeigt haben. Seit den 70er Jahren aber begann sich die EG zunehmend für den Mittelmeerraum zu interessieren, und die Westeuropäische Union hat seit dem Golfkrieg mit relativem Erfolg ihre Interessen dort umsetzen können, was auch im gemeinsamen Interesse der NATO lag.Die Interessenlage läßt sich wie folgt skizzieren. Wir haben Interesse an der Freiheit der Schiffahrt — ich nenne als Schlagworte Gibraltar, Bosporus, Suez-Kanal —; an der Förderung der wirtschaftlichen, sozialen, außen- und sicherheitspolitischen Stabilität der Anrainer; an der Sicherstellung der Versorgung mit Energie auf dem Wege durch das Mittelmeer; schließlich am Offenhalten unserer Exportmärkte. Dabei gibt es natürlich auch nationale Interessenkonflikte innerhalb Europas.Zahlreiche arabische Staaten haben im Laufe der letzten 15 Jahre Prozesse beschleunigter Entwicklung in verschiedenen Wirtschaftssphären über sich ergehen lassen. Nichtsdestoweniger gibt es — darauf werden die Kollegen Lummer und Pohlmeier nachher noch eingehen — zum Teil Regionen mit absoluter wirtschaftlicher Lähmung. Nach Meinung vieler, die die Situation dort kennen, sind einige arabische Staaten grundlegender und durchgreifender Reformen bedürftig; doch sowohl Ägypten als auch Syrien fällt es schwer, Reformen durchzuführen, um ihre Wirtschaftsstrukturen zu sanieren, und auch über Jordanien hören wir in letzter Zeit nur Negatives.Die Ölstaaten befinden sich bei der Finanzierung ihrer Entwicklungsbudgets in Schwierigkeiten — mit allen sich daraus für die übrigen arabischen Staaten ergebenden Auswirkungen. Trotz der Öleinkünfte, die im Laufe von mehr als einem Jahrzehnt etwa 1,5 Trillionen Dollar erreichten, und trotz enormer Investitionen in der Infrastruktur ist es in keinem der arabischen Ölstaaten zu grundlegenden strukturellen Änderungen gekommen, und das Ziel, die Staaten von der Ölwirtschaft unabhängig zu machen, wurde nirgends erreicht.Meine Damen und Herren, die Auslandsverschuldung der arabischen Staaten belief sich 1986 auf 147,8 Milliarden Dollar; davon entfiel der Löwenanteil auf Ägypten, Marokko, Tunesien und Syrien. Gleichzeitig investierten — und das ist das, was einen öfter zornig machen kann — die arabischen Ölstaaten bis 1981 etwa 330 Milliarden Dollar am internationalen Finanzmarkt, 1986 immer noch 205 Milliarden Dollar.
— Wenn ich dazu ein Wort sagen kann: Es macht einen zornig, wenn ich sehe, wie in diesen Ländern soziale Verelendung stattfindet und wie die Regierungen häufig, statt im eigenen Bereich zu investieren, sich auf Kosten sehr vieler, die dort leben, woanders reicher machen. Ich wollte nur erwähnen, daß einen das zornig macht. Verboten ist es nicht, und das habe ich auch nicht gesagt.Wirtschaftlich ist der Mittelmeerraum für die EG besonders wichtig. Die Mittelmeerländer stehen unter den Handelspartnern der Gemeinschaft nach der EFTA und den USA an dritter Stelle. Im Handel mit diesen Ländern erzielt die Gemeinschaft regelmäßig einen hohen Überschuß in der Größenordnung von 7 Milliarden ECU. Darüber hinaus sind die EG und ihre Nachbarn auch insofern eine Schicksalsgemeinschaft, als das ökologische Gleichgewicht des Mittelmeers heute so gefährdet ist, daß nur gemeinsame Anstrengungen es retten können. Keiner wagt die Summen zu nennen, die dafür inzwischen notwendig sind.Angesichts all dieser Schwierigkeiten, die sich von Jahr zu Jahr weiter verschärft haben, hat die EG bereits Anfang der 70er Jahre privilegierte Beziehungen zu Nachbarn im Mittelmeerraum aufgenommen.Die CDU/CSU bedauert, daß unverändert gegenläufige Tendenzen im westlichen und im östlichen Teil des Mittelmeers bestehen. Sie erwartet, wie ich es bereits am Anfang gesagt habe, daß die NATO-Südwestflanke eine weitere Konsolidierung erfährt.12830 Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989KittelmannAn der NATO-Südostflanke sind leider fortdauernde destabilisierende Wirkungen festzustellen. Ich erwähne nur das unberechenbare Verhalten Griechenlands in der Allianz und das Fortbestehen der griechisch-türkischen Spannungen. Zu diesen Bereichen könnte man noch sehr viel sagen. Auch besteht weiterhin ein ungünstiges Kräfteverhältnis an der türkischen Ostgrenze.Eine globale und konsequente Mittelmeerpolitik der EG sollte zu der wirtschaftlichen Entwicklung, der sozialen und politischen Stabilität im Mittelmeerraum beitragen.Ich fasse zusammen: Der für die Region schicksalhafte arabisch-israelische Konflikt muß im Interesse einer positiven politischen und wirtschaftlichen Entwicklung unter den Beteiligten aller Staaten der Region gelöst werden. Dieser Konflikt bindet zu viele Ressourcen, die für eine Entwicklung im Interesse der Menschen dringend benötigt werden.Die arabischen Staaten befinden sich in einer kritischen Phase des Übergangs, in der die traditionellen Lebensformen und Strukturen, die Halt geben, durch die Modernisierung ausgehöhlt oder zerstört werden, ohne daß bereits an ihrer Stelle Pfeiler des modernen Industriestaates sichtbar werden.Wir, die CDU/CSU, bitten die Bundesregierung, bei diesem immer wesentlicher werdenden Thema eine große Bereitschaft zu zeigen, dieses zu einem Hauptthema der zukünftigen Jahre zu machen; denn gefährdet ist nicht nur die Golfregion, sondern gefährdet sind, wenn wir nicht helfen, wir alle.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Osswald.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den Anrainerstaaten rund um das Mittelmeer leben heute ca. 370 Millionen Menschen. Dies ist deutlich mehr als die Bevölkerung der Vereinigten Staaten oder der Sowjetunion. Es ist somit mehr als gerechtfertigt, daß sich auch der Deutsche Bundestag mit dieser Region näher auseinandersetzt.Betrachtet man die Mittelmeeranrainerstaaten etwas genauer, so lassen sie sich in zwei große Gruppen aufteilen: Auf der einen Seite haben wir die europäischen Mittelmeerländer, deren Bevölkerung ca. 200 Millionen beträgt, auf der anderen Seite die Länder an der Süd- und Ostseite des Mittelmeers mit einer Einwohnerzahl von ca. 170 Millionen. — Über die europäische Dimension wird nachher mein Kollege Antretter etwas sagen.Das starke Bevölkerungswachstum in diesen orientalischen Mittelmeerländern wird dazu führen, daß dort im Jahre 2000 ca. 240 Millionen Menschen leben werden. Mit diesen zusätzlichen 70 Millionen wird diese Region sowohl wirtschaftlich als auch politisch an Bedeutung gewinnen.Ich möchte mich heute in meinem Beitrag vorwiegend auf diese Ländergruppe beschränken, die zum arabisch-islamischen Kulturkreis gehört. Diese Region spielt in der Weltpolitik seit jeher eine besondere Rolle. Auch heute noch kann sie als einer der gefährlichsten Krisenherde bezeichnet werden. Die Entwicklung dort genauer zu beobachten und im Konfliktfall einen moderierenden Einfluß auszuüben sollte im deutschen und europäischen Interesse eine hohe Priorität haben.Ich möchte daher die Frage untersuchen, wie es um das speziell deutsche Verhältnis zu diesen Ländern im Nahen Osten bestellt ist. In ihrer Antwort auf die Große Anfrage bedauert die Bundesregierung — ich zitiere —,daß sich in den letzten Jahren eine deutliche Stagnation in den Aktivitäten des euro-arabischen Dialogs ergeben hatte.Damit hat die Bundesregierung zweifellos recht. Aber trägt sie als Regierung eines der wichtigsten EG-Länder nicht auch mit die Verantwortung dafür?Lassen Sie mich dazu einen deutschen Außenpolitiker zitieren, mit dessen politischen Vorstellungen ich sonst eigentlich nicht übereinstimme. Ich meine Franz Josef Strauß, der in seinen Memoiren folgendes schrieb
— Herr Rose, so etwas lese ich sogar — :
Es gibt keine deutsche Außenpolitik für den pazifischen Raum, es gibt keine deutsche Afrika-Politik, es gibt keine deutsche Nahostpolitik usw. usw. Es gibt seit Genscher nur noch eine multilaterale deutsche Kongreßpolitik.— Klatschen Sie jetzt auch?
Ich bin der Meinung, daß Franz Josef Strauß in diesem Fall nicht ganz unrecht hat. Auch wenn ich wie alle bisherigen Bundesregierungen der Meinung bin, daß deutsche Außenpolitik in eine gesamteuropäische Außen- und Sicherheitspolitik eingebettet sein muß, vermissse ich doch — wie Strauß — eigenständige Konturen in unserer Außenpolitik gegenüber den Ländern des Nahen Ostens.Seit Jahren arbeite ich in der „Parlamentarischen Vereinigung für Euro-Arabische Zusammenarbeit" , zusammen, z. B. mit Herrn Feldmann. Diese überparteiliche Arbeitsgruppe, die im deutschen Parlament eher ein Mauerblümchendasein fristet, hat in Brüssel, Paris, London oder Rom einen wesentlich größeren Einfluß und gestaltet die jeweilige nationale Nahostpolitik aktiv mit. In vielen Gesprächen mit den anderen europäischen Kollegen wird immer wieder deutlich, daß man sich darüber wundert, wie wenig Impulse von den Deutschen im Bereich der Nahostpolitik ausgehen. Schließlich ist bekannt, daß die Deutschen im Nahen Osten traditionell einen guten Ruf haben und daß die Bundesrepublik mit fast allen Ländern dieser Region einen regen wirtschaftlichen Austausch hat.Die politische Zurückhaltung in der Nahostpolitik, die übrigens unabhängig davon ist, welche Parteien an der Regierung sind, kommt nicht von ungefähr.
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Dr. OsswaldIhre tieferen Gründe liegen eindeutig in der historischen Verantwortung gegenüber Israel und den daraus erwachsenden Problemen. Beileibe nicht alle, aber viele Probleme im Nahen Osten hängen letztendlich mit dem Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern zusammen.Die praktizierte Zurückhaltung ist insofern auch ein Stück unserer Vergangenheitsbewältigung. Daher beschränkt sich die deutsche Nahostpolitik darauf, sich den eher allgemeinen europäischen Stellungnahmen anzuschließen. Dies wird auch ganz deutlich in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage. In ihr heißt es „Die deutsche Nahostpolitik ist Teil der europäischen Nahostpolitik und beruht unverändert auf den drei in der Erklärung von Venedig niedergelegten Prinzipien." Dazu kann man nur sagen: Dies ist richtig. Dies kostet nichts, und dies tut niemandem weh.
Meine Damen und Herren, ich möchte nicht mißverstanden werden. Auch ich finde es richtig, daß wir auf dem sensiblen Feld der Nahostpolitik mit unsren europäischen Partnern an einem Strang ziehen. Ich meine allerdings, daß unser Engagement in diesem Abstimmungsprozeß durchaus etwas deutlicher sein könnte. Gerade wir Deutschen mit unserer historischen Verantwortung sollten uns nicht nur vornehm zurückhalten. Gerade wir mit unserem besonderen Verhältnis zu Israel sollten verstärkt darauf hinwirken, daß das Blutvergießen ein Ende nimmt und ein dauerhafter Friede entstehen kann. Solidarität mit Israel ist für Deutsche eine Selbstverständlichkeit. Es gibt aber auch Situationen, in denen diese Solidarität kritische Solidarität sein muß.Wie dem südafrikanischen Volk und anderen unterdrückten Völkern hat unsere Solidarität auch dem palästinensischen Volk zu gelten. In diesem Sinne begrüße ich ausdrücklich den letzte Woche erfolgten Schritt der Bundesregierung, mit der PLO normale Gespräche aufzunehmen, wie es bereits vorher die Sozialdemokraten und kurz danach auch die CDU getan haben. Angesichts der Tatsache, daß Arafat von Präsident Mitterrand in Frankreich mit allen protokollarischen Ehren empfangen wurde, sind die deutschen Schritte sowieso eher bescheiden. Noch immer konnte sich unser Außenminister nicht dazu durchringen, den langjährigen Vertreter der PLO in Bonn, Abdallah Frangi, persönlich zu empfangen.Da wir uns ja sonst so gern den anderen Europäern anschließen, wäre es nur konsequent, wenn Arafat auch in der Bundesrepublik eingeladen würde. Damit würden wir wie die Franzosen, die Spanier und andere dokumentieren, daß wir den von uns allen seit langem geforderten Schritt der PLO zur Anerkennung Israels begrüßen. Die PLO hat nach einem langen Prozeß mit dieser Entscheidung nun die Grundlage für ein friedliches Nebeneinander von Israel und Palästina geschaffen. Wir alle können nur hoffen, daß Israel diese Chance erkennt und seinerseits ebenso bereit sein wird, dem palästinensischen Volk ein Leben in einem selbstbestimmten Gemeinwesen zuzugestehen.Dazu gehört als erstes die Beendigung der Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens. Dies ist auch die Voraussetzung dafür, daß die Bevölkerung ihren seit zwei Jahren dauernden Aufstand, die Intifada, beendet. Noch aber glaubt die israelische Regierung, die Intifada mit immer härteren Repressionen unterdrücken zu können.Meine Damen und Herren, ich halte diese Politik für sehr gefährlich. Israel, das bisher zu Recht Stolz darauf war, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, setzt sich zunehmend ins Unrecht. Dies darf uns nicht gleichgültig sein. Gerade wir Deutschen mit unseren besonderen Beziehungen zu Israel müssen all unseren Einfluß geltend machen, diejenigen Kräfte in Israel zu stärken, die zu Verhandlungen mit den Palästinensern bereit sind.Daß inzwischen so prominente Israelis wie der ehemalige Außenminister Abba Eban bereit sind, einen eigenständigen palästinensischen Staat zu akzeptieren, zeigt, daß hier etwas in Bewegung ist. Es ist zu hoffen, daß diese Kompromißbereitschaft auch von der Regierung aufgenommen wird, bevor die Auseinandersetzungen zu einem neuerlichen Nahost-Krieg eskalieren.Als positive europäische Initiative im mühsamen nahöstlichen Friedensprozeß möchte ich die Wiener Konferenz der „European Study Group Middle East" vom Juli dieses Jahres erwähnen. Dort wurde von hochrangigen Israelis und Palästinensern ein „Minimum-Consensus" verabschiedet, in dem beide Seiten die Notwendigkeit eines israelischen Rückzugs aus den besetzten Gebieten und die Einberufung einer internationalen Friedenskonferenz mit Beteiligung der PLO bekräftigten. Wir alle sollten solche Friedensbemühungen begrüßen und nach Kräften unterstützen. Lippenbekenntnisse zum Selbstbestimmungsrecht der Plästinenser, des palästinensischen Volkes reichen auf die Dauer allerdings nicht aus.Israel, das inzwischen zur mächtigsten Nation im Nahen Osten geworden ist, hat dies vor allem der enormen Unterstützung durch die USA zu verdanken. Aber auch die Bundesrepublik war aus den bekannten Gründen am Aufbau des Staates Israel in nicht unerheblichem Maße beteiligt und unterstützt Israel nach wie vor mit jährlich 150 Millionen DM. Unsere Unterstützung für das palästinensische Volk nimmt sich dagegen wie die Gewährung von Almosen aus. Viele werden nun sagen: Dies kann man nicht miteinander vergleichen.
Darauf kann ich aber nur versichern, daß die Betroffenen dies sehr wohl tun. Und sie haben sicher aus ihrer Sicht ein Recht dazu.Neben dem Israel-Palästina-Konflikt gibt es in der Ländergruppe der orientalischen Mittelmeerländer noch eine ganze Reihe von Konfliktherden, die durch ihre politische Brisanz den Frieden im gesamten Mittelmeerraum gefährden. Dazu folgende Beispiele:Erstens. Libanon. Im Libanon herrscht nun seit 15 Jahren Bürgerkrieg. Alle Welt bedauert dies, tut aber nichts dagegen, sondern, im Gegenteil, vieles dafür, daß es so weitergeht wie bisher. Dies klingt provokativ, entspricht aber durchaus den Tatsachen.
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Dr. OsswaldWie anders als durch die ununterbrochene Lieferung von Waffen und Munition von außen kann in einem so kleinen Land 15 Jahre Krieg geführt werden? Alle, die Waffen liefern, darunter viele unserer Verbündeten, machen sich daher seit Jahren mitschuldig. Die Friedensappelle, denen sich auch die Bundesregierung immer anschließt, enthalten ein hohes Maß an Heuchelei. Was den Libanon angeht, sind wir Deutschen weniger vorbelastet als die ehemaligen Mandatsmächte Frankreich und Großbritannien. Daß wir uns bisher geweigert haben, mit Truppen die Friedensbemühungen zu stützen, ist verständlich. Dafür gibt es gute Gründe. Unverständlich aber ist, daß wir im politischen Bereich unser Gewicht nicht besser nutzen, auf die kämpfenden Parteien mäßigend einzuwirken.Was dagegen tut unsere Nahost-Politik? Sie begnügt sich mehr oder weniger mit einer Zuschauerrolle, sichtlich darauf bedacht, die kürzlich wiederaufgenommenen Beziehungen zu Syrien nicht in Frage zu stellen.Währenddessen wird Beirut immer mehr in Schutt und Asche gelegt und der Libanon als Modell einer ehemals multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft endgültig zerstört.
Ich möchte hierbei nicht den Syrern die alleinige Schuld zuschieben. In hohem Maße tragen die Christen im Libanon die Verantwortung, die hartnäckig auf ihrem längst nicht mehr zu rechtfertigenden Vormachtanspruch beharren. Auch in diesem Fall wäre mehr kritische Solidarität gefragt. So ist z. B. die Ablehnung des in Saudi-Arabien mühsam ausgehandelten Kompromisses durch den Christengeneral Aoun absolut unverständlich und gefährdet die seit langem notwendige grundsätzliche Neuordnung im Libanon.Zweitens. Der Konflikt zwischen Marokko und der ehemals Spanischen Sahara, in dem das sahrauische Volk um seine Unabhängigkeit kämpft. Der Krieg Marokkos gegen die Polisario verhindert nicht nur seit Jahren das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis, es stellt auch eine enorme Belastung für das marokkanische Volk dar, da der Krieg alle Mittel für die dringend notwendige Entwicklung Marokkos absorbiert. Ich habe nichts gegen ca. 100 Millionen DM Entwicklungshilfe pro Jahr für Marokko. Ich muß diese Leistungen aber auch unter dem Gesichtspunkt sehen, daß in Marokko damit die Mittel für einen neoimperialistischen Eroberungskrieg freigemacht werden.Wie gut unsere Beziehungen zu Marokko sind, zeigt gerade der Besuch des Bundespräsidenten. Der von Herrn von Weizsäcker bestimmt ernst gemeinte Hinweis, daß die Bundesregierung wie die übrige Welt für ein Referendum in der West-Sahara eintrete, kann von der Polisario nur als schwaches Lippenbekenntnis gewertet werden. Angesichts der massiven deutschen Unterstützung für Marokko und der im Vergleich dazu lächerlichen humanitären Hilfen für die sahrauischen Flüchtlinge wirkt unser Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht des sahrauischen Volkes nicht gerade sehr glaubhaft.Drittens. Unsere Beziehungen zu Libyen, wo die unselige Geschichte um die Giftgasfabrik in Rabta aller Welt wieder einmal vor Augen geführt hat, daß die Deutschen um des Geschäftes willen alle Skrupel fallenlassen. Ich möchte diese Sache keineswegs der Bundesregierung in die Schuhe schieben. Eines aber ist sicher: Daß hierbei alle Kontrollmechanismen versagt haben und erst die Amerikaner uns die Augen öffnen mußten, ist ein Skandal. Die anschließende Rolle der Bundesregierung war trotz aller Bemühungen von Herrn Schäuble eher peinlich.
Viertens. Ägypten. Das menschenreichste arabische Land muß mit immer größer werdenden Schwierigkeiten kämpfen. Trotz der politischen Entlastung durch den Friedensschluß mit Israel, trotz massiver Hilfen von außen und trotz einer breiten, gebildeten Elite erscheinen die Probleme am Nil zunehmend als unlösbar.Deutschland ist mit Ägypten traditionell eng verbunden, nicht erst seit der eher dubiosen Hilfe deutscher Raketenbauer, nein, seit jeher stellt das Land am Nil einen Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit dar. Es ist die Nummer 2 unter den Empfängerländern deutscher Entwicklungshilfe nach Indien. Seine Meinungsführerschaft unter den arabischen Ländern hatte Ägypten durch das umstrittene Camp-David-Abkommen verloren und ist erst heute dabei, aus dieser Isolation herauszukommen.Seine starke Anlehnung an die USA wird allerdings auch heute noch in der arabischen Welt mit skeptischen Blicken betrachtet. Europa und hierbei besonders die Bundesrepublik sollten sich daher in Ägypten politisch und wirtschaftlich stärker engagieren. Dieses Land stellt den größten Problemfall und damit auch einen der großen Instabilitätsfaktoren in der gesamten Mittelmeerregion dar. Das Land am Nil zählt heute 50 Millionen Einwohner. Für das Jahr 2000 erwarten die Bevölkerungsprognosen 67 Millionen. Wie der Zuwachs von 17 Millionen in den nächsten Jahren ernährt werden soll, vermag niemand zu sagen. Hinzu kommt eine Verschuldung von über 40 Milliarden US-Dollar. Damit ist Ägypten weltweit das sechsgrößte Schuldnerland. Soziale Spannungen, die sich bereits mehrfach in blutigen Unruhen Bahn brachen, verschärfen die innenpolitische Lage zusehends.Fünftens. Die Türkei hat ihre historische Rolle als „kranker Mann am Bosporus" längst überwunden. Sie ist auf dem Weg zu einem Staat moderner westlicher Prägung. Dieses seit Atatürk angestrebte Ziel ist aber nicht ungefährdet. Auch in der Türkei wachsen die Probleme eher, als daß sie gelöst werden. Wie Ägypten ist die Türkei mit etwa 40 Milliarden US-Dollar verschuldet, was ihre Attraktivität als MöchteGern-EG-Mitglied nicht unbedingt erhöht. Nach wie vor problematisch sind ihre dubiose Menschenrechtspraxis, ihre Schwierigkeiten mit dem Demokratisierungsprozeß sowie die ungelösten Nationalitätenkonflikte mit Armeniern und Kurden. In einer Zeit zunehmender Entspannung zwischen Ost und West verliert auch das alte Argument an Gewicht, man müsse die Türkei ohne Rücksicht auf ihre Politik schon deshalb
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12833
Dr. Osswaldstützen, da sie im östlichen Mittelmeer ein Bollwerk gegen den Kommunismus sei.Sechstens. Ein wachsendes Problem ist der Fundamentalismus mit seinen unkalkulierbaren Auswirkungen auf den Bestand der bisherigen säkularen Staaten und seiner destabilisierenden Effekte in allen Konfliktfeldern des Orients.Meine Damen und Herren, neben allem Negativen in dieser Region gibt es einen Bereich, der in der Regel positiv gesehen wird. Ich meine die Tatsache, daß wir trotz der zum Teil blutigen Konflikte mit praktisch allen Ländern dieser Region einen blühenden wirtschaftlichen Austausch haben. Dieser war zwar schon wesentlich besser, aber er kann sich auch heute noch sehen lassen. Was dabei meines Erachtens aber mehr als nur ein Schönheitsfehler ist, darf nicht verschwiegen oder verharmlost werden: Deutsche Waffen gibt es praktisch an allen Fronten im Nahen Osten. Diese skandalöse Tatsache widerspricht nicht nur dem Anspruch der Bundesrepublik, dazu beitragen zu wollen, daß alle Völker in Frieden zusammenleben können, diese traurige Wahrheit macht uns Deutsche auch mitschuldig.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Ich bin der Meinung, daß sich die Deutschen weder überschätzen sollten noch daß sie in irgendeiner Weise eine europäische Führungsrolle anstreben sollten.
Andererseits erlaubt es das Gewicht, das die Bundesrepublik in Europa nun einmal hat, Herr Feldmann, nicht, daß wir uns mit einer reinen Zuschauerrolle begnügen. Diese Region stellt nach wie vor einen der gefährlichsten Brennpunkte unserer Zeitgeschichte dar. Bisher haben wir die uns gebührende Rolle in einer europäischen Friedenspolitik für den nahöstlichen Mittelmeerraum noch nicht richtig gefunden. Halten wir uns weiterhin politisch vornehm zurück, und singen dabei fleißig das gesamteuropäische Lied von der Friedensverantwortung für diese Region und machen daneben kräftig Geschäfte mit Waffen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir in eine gefährliche Nähe zu Bismarck gestellt werden, der einmal gesagt hat:Es liegt im deutschen Interesse, daß die orientalische Wunde offen bleibt.
— Ziemlich lange her. — Diese Zeiten sollten eigentlich längst vorbei sein. Ich möchte daher meinen heutigen Beitrag als ein Plädoyer für eine aktivere deutsche Rolle in einer friedenstiftenden europäischen Nahostpolitik verstanden wissen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht bei Bismarck anfangen, sondern bei dieser Bundesrepublik, und in unserem europäischen Rahmen bleiben. Die Mittelmeerregion ist zwar ein geographisch einheitlicher Raum, aber weder die politische noch die wirtschaftliche oder gar die sicherheitspolitische Lage der Staaten dieser Region spiegelt diese Einheit wider. Das Mittelmeer trennt und verbindet Länder mit sehr verschiedenen Interessen, verschiedenen Kulturen und konkurrierenden Religionen. Das war in der Antike so, und das ist auch heute so. Deshalb läßt sich der Mittelmeerraum nicht über einen Leisten schlagen.Für die Probleme des Vielvölkerstaates Jugoslawien, für den Nahostkonflikt, für den Bürgerkrieg im Libanon, für die Probleme des Maghreb, für die Auswirkungen der Süderweiterung der Gemeinschaft und für den allianzinternen Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei kann es nicht eine einheitliche Politik, sondern nur jeweils maßgeschneiderte politische Einzellösungen geben.
— Das werden wir nachher beurteilen, Frau Beer. — Daher kann auch nicht von einer Politik für den Mittelmeerraum gesprochen werden. Ich will einzelne Fragen herausgreifen und dazu eine politische Antwort versuchen.Das Mittelmeer ist heute nicht mehr wie in der Antike die zivilisierte Welt schlechthin. Keiner der Anrainerstaaten hat Weltmachtstatus. Allerdings drohen die Konflikte der Region weltweite Dimensionen anzunehmen. Die Ölkrise der 70er Jahre hat uns allen klargemacht, wie groß die Abhängigkeit von Stabilität und Frieden in dieser Region ist. Die politischen, ideologischen und religiösen Spannungen in und zwischen den Mittelmeerstaaten stehen einer gemeinsamen Politik, wie sie im Interesse der Region erforderlich wäre, als fast unüberwindliche Hindernisse entgegen. Das jüngste Scheitern der Libanonlösung, auf die Sie hingewiesen haben, Herr Kollege Osswald, macht dies deutlich.Meine Vorredner haben hier eine deutsche Nahostpolitik oder eine deutsche Mittelmeerpolitik angemahnt. Es ist richtig, die Bundesrepublik ist durch ihre EG-Mitgliedschaft zu einem mittelbaren Mittelmeeranrainer geworden. Wir formulieren unsere Interessen aber im Rahmen dieser Gemeinschaft und verfolgen sie auch im Rahmen dieser Gemeinschaft. Gemeinsame europäische Außenpolitik, wie sie in der Europäischen Akte beschlossen wurde, ist auch im Mittelmeerraum gefordert. Jeder einzelne Mitgliedstaat bringt seine besonderen Beziehungen als Kapital in die EG ein und stärkt sie damit. Nur so kann die Gemeinschaft als Ganzes ihren Beitrag zur Lösung der Probleme der Region leisten.Das Mittelmeer ist gewiß kein mare nostrum der Europäer. Die Befürchtungen vieler Mittelmeeranrainer wegen eines geschlossenen EG-Binnenmarktes müssen ernst genommen werden. Hier gilt es, nicht anders als gegenüber den sozialistischen Staaten, klare Signale zu setzen, daß sich die Gemeinschaft gegen niemanden abschottet. Die Europäische Gemeinschaft hat als wirtschaftspolitische Supermacht
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12834 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. Feldmannhier eine besondere Verantwortung. Die Vorteile des EG-Zusammenschlusses müssen nicht nur EG-Mitgliedern zustatten kommen, sondern auch Nichtmitgliedern. Die EG hat bereits Mitte der 70er Jahre auf der Grundlage ihres globalen Mittelmeerkonzepts mit den meisten Staaten der Region Assoziationsabkommen geschlossen. Im Rahmen der Süderweiterung wurde diesen Staaten zusätzlich der zollfreie Zugang zu den spanischen und portugiesischen Märkten mit rund 50 Millionen Verbrauchern erschlossen.Für den Friedensprozeß im Mittelmeerraum spielt neben der EG auch die NATO eine wichtige Rolle. Spaniens Beitritt war ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit in Europa und hat die WEU und damit den europäischen Pfeiler in der Allianz gestärkt. Die Bundesrepublik leistet durch NATO-Verteidigungshilfe an Portugal, Griechenland und die Türkei eine besondere Hilfe zur Stärkung der Südflanke der Allianz.Wir begrüßen den in Davos aufgenommenen Dialog zwischen Griechenland und der Türkei als Schritt in die richtige Richtung. Die Aussöhnung zwischen diesen beiden Nachbarstaaten ist eine historische Aufgabe.
— Zypern hängt damit zusammen. — Dabei zu helfen ist eine Herausforderung für die Gemeinschaft und eine zwingende Notwendigkeit für die NATO.Vor allem im Nahen Osten ist die EG in den letzten Jahren zunehmend geschlossen aufgetreten; sie hat ihren Einfluß dadurch stärken können. Dies gilt sowohl bei der Vermittlung im Golfkrieg, bei der vor allem Bundesaußenminister Genscher gute Dienste geleistet hat, als auch im israelisch-arabischen Konflikt. Die Europäische Gemeinschaft ist gut beraten, in keinem dieser Konflikte einseitig Partei zu ergreifen. Durch Parteilichkeit ist in dieser Region kein Beitrag zum Interessenausgleich und zur friedlichen Konfliktlösung zu leisten. Parteilich ist diese Politik nur insoweit, als sie alle Bemühungen eines friedlichen Interessenausgleichs mit Nachdruck unterstützt, unabhängig davon, von wem diese Bemühungen ausgehen. So unterstützen wir die Friedensbemühungen des ägyptischen Präsidenten Mubarak und den Friedensplan des US-Außenministers Baker.Die PLO hat mit der Anerkennung des Existenzrechtes des Staates Israel einen entscheidenden Schritt getan und damit eine unverzichtbare Voraussetzung für eine friedliche Lösung des Konflikts geschaffen. Jetzt ist Israel gefordert; da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Osswald. Im Nahen Osten kann es keinen Frieden zu ausschließlich israelischen Bedingungen geben.Lassen Sie mich zum Schluß kommen: Auch im Mittelmeer-Raum muß Konfrontation durch Kooperation ersetzt werden. Die Supermächte scheinen dazu bereit zu sein. Die Sowjetunion ordnet ihre Beziehungen zu Israel neu, und die USA suchen verstärkt das Gespräch mit der PLO. Wir müssen die Sowjetunion in die Bemühungen um friedliche Lösungen konstruktiv einbinden. Wenn beide Supermächte und die EG an einem Strang ziehen, kann vieles möglich werden,was bisher unmöglich schien, nämlich Friede im Mittelmeer-Raum und im Nahen Osten sowie eine wirtschaftliche Gesundung der Region.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Der Mittelmeer-Raum ist nur in den Augen der Geostrategen eine Einheit; das haben wir schon gehört. In Wirklichkeit ist er in politischer, wirtschaftlicher, religiöser, gesellschaftlicher und in ziemlich jeder anderen Hinsicht extrem heterogen. Die einzige wirkliche Gemeinsamkeit der Mittelmeer-Region besteht heute darin, daß die EG auf ihrem Weg zur dritten Supermacht, Herr Kollege Feldmann, zunehmend in sie hineinwirkt und ihren Einfluß systematisch ausbaut.
Der ökonomische und politisch-militärische Aufstieg Westeuropas beginnt, nicht nur große Teile Ost- und Ostmitteleuropas in sein Schwerefeld zu ziehen, sondern ebenfalls wichtige Teile der Mittelmeer-Anrainer, wobei die koloniale Vergangenheit und die wirtschaftliche Potenz die zentralen Ansatzpunkte sind.Zugleich ist die Mittelmeer-Region insgesamt in hohem Maße unstabil, ein Bündel sozialer, politischer und militärischer Konflikte. Unruhen, diktatorische oder quasi-diktatorische Verhältnisse, Repression und Bürgerkriege gehören von Marokko bis zum Libanon zum Alltag der Region.
Und dann ist die östliche Mittelmeer-Region direkter Nachbar der Krisenregion des Mittleren Ostens.Sehen wir uns einmal näher an, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage zwei der besonders heiklen Konfliktpunkte behandelt.Erstens: die Türkei. In den Passagen zur Türkei kann die Bundesregierung offensichtlich kaum an sich halten, diplomatische Nettigkeiten mit vollen Händen zu verteilen. Es ist die Rede von einer „stabilitätsorientierten, friedlichen und ausgewogenen Politik der Türkei". Die Türkei wird als „zuverlässiger Freund und Partner" bezeichnet und mit anderen Freundlichkeiten bedacht.
Die GRÜNEN sind immer für freundliche Beziehungen zum türkischen Volk eingetreten. Aber die Bundesregierung stellt der Folter und der Repression in der Türkei mit ihren Formulierungen glatt einen Persilschein aus. Das türkische Militär führt in der Osttürkei einen blutigen Feldzug gegen die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen. In den Gefängnissen und in den Polizeistationen wird gefoltert, und die
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Frau BeerBürgerrechte stehen weitgehend nur auf dem Papier. Ein türkischer General hat bereits die Anwendung von Giftgas gegen türkische Kurden angedroht und dabei auf das irakische Beispiel verwiesen.Die Bundesregierung hält all das keiner Erwähnung für wert. Für sie ist die türkische Regierung ein „zuverlässiger Freund und Partner" mit einer „stabilitätsorientierten, friedlichen und ausgewogenen Politik".Da gute Freundschaft nicht umsonst zu haben ist, erhält die türkische Regierung eine umfangreiche Rüstungssonderhilfe. Auch Repression ist schließlich nicht zum Nulltarif zu haben. Die Türkei ist eines der Länder mit dem größten Anteil bundesdeutscher Entwicklungshilfe. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit floriert.Woran mag das liegen? Da der Bundesregierung unterstellt werden muß, über die Repressionen in der Türkei ausreichend informiert zu sein — auch wenn sie daran an sich nicht sonderlich interessiert ist —, muß wohl ein politischer Grund vermutet und unterstellt werden. Die Bundesregierung gibt uns in der vorliegenden Antwort auf die Große Anfrage auch einen Hinweis auf die Ursache ihres Verhaltens. Es geht um das Verhältnis der Türkei zu Westeuropa, genauer: zur EG. An diesem Punkt vollführt die Bundesregierung eine Reihe politisch- sprachlicher Kunststückchen erster Güte. So wird die Türkei unter Berufung auf Hallstein schlicht nach Europa eingemeindet, allen geographischen und kulturellen Tatsachen zum Trotz.Gleichzeitig vermeidet sie allerdings peinlichst alles, was als ein Eintreten für eine EG-Mitgliedschaft der Türkei interpretiert werden könnte. Statt dessen ist in prächtigstem Amtsdeutsch von — ich darf zitieren — „Bemühungen um eine Normalisierung der Assoziation EG-Türkei" die Rede. Wie schön: Die Türkei gehört zu Europa, darf aber nicht in die EG. Die Freizügigkeit türkischer Staatsbürger steht drohend im Hintergrund.Was also ist zusammengenommen das Ziel der Türkeipolitik der Bundesregierung? Sie selbst bringt es in schöner Offenheit auf den Punkt. Es geht um die — ich zitiere erneut — „immer engere Anbindung der Türkei an Europa". Die Anbindung der Türkei ist also das Ziel, nicht deren Integration und auch nicht deren verstärkte Hinwendung zum islamischen Kulturkreis.Anbindung — was für ein schauriges und treffendes Wort. Es riecht nach Abhängigkeit, nach Kontrolle, nach Vorherrschaft. Man will die Türkei also nicht verlieren, auch nicht gleichberechtigt zulassen, sondern als EG-Anhängsel geostrategisch und wirtschaftlich ausnutzen.Das zweite Beispiel: der Nahostkonflikt und das Verhältnis zu Israel und den Palästinensern. Hier findet die Bundesregierung durchaus zu einer Reihe positiver Formulierungen, so wenn sie etwa vom Selbstbestimmungsrecht auch des palästinensischen Volkes spricht. Das ist sicherlich zu begrüßen. Allerdings ist es sehr bedauerlich, daß die Regierung auf halbem Wege stehenbleibt. Ebenso bedauerlich ist, was alles nicht von der Bundesregierung vertreten wird. So fehlt jede Konkretisierung der Forderung nach Selbstbestimmung durch die Ergänzung, daß diese auch dasRecht zu einer eigenen Staatsgründung beinhalten muß, die an der Seite Israels zu vollziehen wäre.Die Bundesregierung spricht sich vernünftigerweise auch für eine Beteiligung der PLO am Friedensprozeß aus. Ohne eine solche Beteiligung kann schließlich von einem Friedensprozeß gar keine Rede sein. Allerdings bleibt zu fragen, warum die Bundesregierung diesen Worten keine konsequenten Taten folgen läßt. Warum weigert sie sich bis heute, Yassir Arafat offiziell nach Bonn einzuladen? Da hat sie wohl wieder Angst vor der eigenen Courage. Ein Gespräch mit beiden Konfliktparteien auf derselben, nämlich hohen Ebene wäre ja wohl kaum mehr als selbstverständlich. Trotzdem müssen wir weiter darauf warten.Die Bundesregierung hat es auch nicht über sich gebracht, die ungeheuren Menschenrechtsverletzungen der israelischen Besatzungsmacht in der Westbank zur Sprache zu bringen. Hunderte von Toten, willkürlich abgerissene Häuser, Knochenbrechen durch Soldaten bei Jugendlichen, überhaupt eine Herrschaft von Willkür und Einschüchterung und den schleichenden Prozeß der Israelisierung der Westbank übergeht sie mit Schweigen.
Über die Formulierung einer „schweren Lage der Bevölkerung in den besetzten Gebieten" wagt sie sich nirgends hinaus. Sie nennt weder die Repression noch deren Charakter und deren Ursachen, weder deren Auswirkungen noch die dafür Verantwortlichen.Die Bundesregierung streicht statt dessen ausführlich heraus, welche Hilfsmaßnahmen sie für die Westbank durchführt. Dabei geht es um einige Entwicklungsprojekte und Flüchtlingshilfe, insgesamt kaum mehr als eine beschränkte, symbolische Geste. Angesichts der Tatsache, daß die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Nazi-Reiches gerade in der Region eine besondere historische Verantwortung hat, sind die Beiträge der Bundesregierung nur als kleinlich zu bezeichnen, insbesondere weil jede politische Hilfe für die Opfer militärischer Repression unterlassen wird.Die beiden gerade angeführten Länderbeispiele belegen, was der Bundesregierung insgesamt vorgeworfen werden muß: Das Wort Menschenrechte kommt an keiner Stelle vor. Und es geht bei dieser Kritik nicht um das Wort allein. Das Thema wird völlig ausgeblendet. Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen sind für die Bundesregierung offensichtlich kein Thema, zumindest kein Thema, das sich in praktischer Politik niederschlagen würde.
— Lesen Sie Ihre Anfrage und die Antwort! Das Wort „Menschenrechte" ist darin nicht enthalten.Nun ist nicht ausgeschlossen, daß die Bundesregierung die Frage der Menschenrechte schlicht „vergessen" hat. Nur: Gerade dieses Vergessen ist das Erschreckende. Ich gestatte mir hier den Hinweis, daß diese Kritik leider auch den Fraktionen der CDU/CSU
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12836 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Frau Beerund FDP nicht erspart werden kann: In Ihrer Großen Anfrage, Herr Kollege, haben Sie ebenfalls die Frage der Menschenrechte ignoriert und die Bundesregierung nicht gezwungen, dazu Stellung zu nehmen.Nicht vergessen — das Gegenteil wäre eine Sensation gewesen — hat die Bundesregierung, ständig ihr Loblied auf eine „liberale Wirtschaftsordnung" und auf „die Marktkräfte" zu singen. Beides nämlich führt, und zwar nicht nur um das Mittelmeer, zu dem, was man ein „positives Investitionsklima" nennt, und im Gegensatz zu den Menschenrechten wird so etwas nicht vergessen, sondern als zentrales Glaubensbekenntnis zuerst quasi-theologisch überhöht und dann ständig erneut beschworen.Nun könnte man das als die übliche Folklore der Bundesregierung beiseite lassen, wenn es nicht doch einen Zusammenhang mit der Frage der Menschenrechte gäbe. In ihrer Antwort zählt die Bundesregierung diejenigen Länder auf, die nach ihrer Meinung auf Grund ihrer „liberalen Wirtschaftsordnungen" über ein besonders positives Investitionsklima verfügen. Es sind Israel, Jordanien, Marokko, Tunesien, die Türkei und Zypern. Es scheint der Bundesregierung entgangen zu sein, daß sich in dieser Gruppe vorbildlicher Länder erneut diejenigen befinden, die in besonders flagranter Weise die Menschenrechte mißachten und mit entsprechenden Konflikten zu kämpfen haben.Gestatten Sie mir eine letzte Anmerkung zur Frage der Stabilität im Mittelmeerraum. Wenn mit „Stabilität" nicht die Verteidigung des Status quo gemeint ist, sondern die politische Lösung von Konflikten, dann wäre gegen diese Zielformulierung kaum etwas einzuwenden. Es muß der Regierung zugestanden werden, zumindest verbal durchaus positive Beiträge geleistet zu haben.Auch hier allerdings finden wir die selektive Wahrnehmung, die zum Markenzeichen dieser Regierung geworden ist und die so oft an Heuchelei grenzt: In den Jahren 1982 bis 1984 intervenierten die Streitkräfte der USA militärisch in den libanesischen Bürgerkrieg. Ihre Aktionen führten zur Verschärfung und weiteren Destabilisierung der Lage im Libanon. Der Beschuß der Schouf-Berge mit schwerster Schiffsartillerie durch ein vor der Küste kreuzendes Schlachtschiff kann auch beim besten Willen nicht als Beitrag zur Stabilisierung der Mittelmeerregion betrachtet werden. Im Oktober 1985 entführten US-amerikanische Abfangjäger als Reaktion auf die Entführung des Passagierdampfers „Achille Lauro " ein ägyptisches Verkehrsflugzeug nach Sizilien, wo es fast zu einer Schießerei mit US-Einheiten kam. Diese Destabilisierungsmaßnahmen, aber auch der Anschlag Israels auf das PLO-Hauptquartier in Tunesien und der Mord an Khalil a-Wasir im April 1988 haben zu einer Verschärfung der Situation im Mittelmeerraum geführt.Wir würden uns wünschen, daß die Bundesregierung ihre Einäugigkeit überwinden könnte. Ich erwähne nur am Rand die out-of-area-Einsätze der NATO-Einheiten, die eine große Rolle spielen.Die Bundesregierung hat mit ihrer Toleranz und Unterstützung von Flottenverstärkung, z. B. im Golfkrieg und im Mittelmeerraum, eine Situation geschaffen, die eine Quelle der Unsicherheit und der Friedensbedrohung ist.Die Bundesregierung hat durch ihre Aktionen und Unterstützung und zum Teil durch Stillschweigen eine Politik betrieben und betreibt sie immer noch, die droht, Öl ins Feuer zu gießen — im Gegensatz zu unserer Absicht und politischen Forderung an die Bundesregierung, dieses Feuer zu löschen und die destabile Lage zu stabilisieren.
Frau Abgeordnete, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Redezeit einhalten würden.
Die Position der Bundesregierung zur Lage im Mittelmeerraum ist unbefriedigend. Sie setzt falsche Akzente. Wo sie richtige Elemente enthält, beschränkt sie sich auf leere Deklarationen. Wo sie substantiell wird, führt sie in die falsche Richtung.
Schönen Dank!
Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Dr. AdamSchwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegende Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage in der Region des Mittelmeeres macht das große Interesse deutlich, das die Bundesrepublik Deutschland an einer stabilen Entwicklung in dieser seit alters her sensitiven Region nimmt, einer Region, die an der Schnittstelle zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost und an der Nahtstelle zwischen Europa, Afrika und dem Nahen Osten liegt und von daher immer bestimmt gewesen ist. Auch heute bildet das Mittelmeer eine Brücke zwischen Orient und Okzident. Wir unterschätzen ihre Bedeutung nicht.Durch die enge Zusammenarbeit mit den südlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ist auch die Bundesrepublik Deutschland in der Gemeinschaft letztlich zum Anrainer am Mittelmeer geworden, ebenso wie über die Verbindung zum Schwarzen Meer die Sowjetunion, Bulgarien und Rumänien aus unseren Überlegungen zur Mittelmeerpolitik nicht mehr ausgeklammert werden können. Gerade hier in Osteuropa haben sich in jüngster Zeit einschneidende Veränderungen ergeben, die uns zur ständigen Überprüfung auch unserer Politik im Mittelmeer veranlassen. Diesen Veränderungen gilt zweifellos große Aufmerksamkeit, sie machen aber die Beziehungen zu anderen, uns traditionell in Freundschaft verbundenen Partnern in der Mittelmeerregion nicht weniger wichtig.Der Mittelmeerraum erhält seine Faszination, aber auch seine Probleme durch eine große politische, wirtschaftliche und soziale Vielfalt. Gegensätze und
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Staatsminister Frau Dr. Adam-SchwaetzerSpannungen in der Region zu vermindern, sie schrittweise abzubauen, ist eine wichtige Voraussetzung für Sicherheit und Frieden in Europa. Frau Beer, ich denke, es ist schon ein gutes Maß an Arroganz auch in Ihren Worten gewesen, diese Bemühungen, über die wir auch im Auswärtigen Ausschuß und an vielen Stellen hier im Plenum in der Vergangenheit debattiert haben, nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen, im Gegenteil, sie zu leugnen.
Spannungen abzubauen, Gegensätze zu mildern, daß ist das Ziel der Politik, und das gilt ganz besonders und notwenigerweise für den lang andauernden und besonders tragischen Konflikt in der Region, den NahOst-Konflikt. Hier stehen sich Staaten und Völker in einer Konfrontation gegenüber, die mit Europa und mit Deutschland in besonderer Weise verbunden sind. Dies gilt für das jüdische Volk, das in Israel seine Heimat gefunden hat, wie für die Araber, die seit Jahrhunderten enge Beziehungen zu Europa haben. Daher gilt auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft diesem Konflikt größte Sorge. Alle, die das nicht so zur Kenntnis genommen haben, weil die Europäische Politische Zusammenarbeit es in der Tat zu einem Prinzip gemacht hat, gemeinsam zu sprechen, möchte ich darauf hinweisen, daß die Bundesregierung innerhalb der Europäischen Politischen Zusammenarbeit diese Themen mit größter Intensität mitberät und ihren Beitrag leistet.
Nach wie vor ist es das Ziel europäischer und deutscher Politik, das Ende von Gewalt und Blutvergießen und ein friedliches Zusammenleben der Staaten am östlichen Rand des Mittelmeers in anerkannten, respektierten und sicheren Grenzen herzustellen. Dazu kann am besten eine internationale Friedenskonferenz unter Teilnahme aller am Konflikt Beteiligten unter dem Schirm der Vereinten Nationen dienen.Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch die Palästinenser gehört ebenso zur Lösung dieses Konflikts wie das Recht des Staates Israel auf anerkannte und respektierte Grenzen.
Die Bundesregierung hat ihre Beziehungen zur PLO in den vergangenen Jahren kontinuierlich weiterentwickelt, wie auch die am Konflikt Beteiligten ihre eigenen Positionen weiterentwickelt haben.Für die Sicherung einer friedlicheren Entwicklung in der Region ist genauso die Wiederherstellung der Unabhängigkeit und der Souveränität des Libanon Voraussetzung. Mit unseren Partnern in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit arbeiten wir für eine politische Lösung des Libanon-Konflikts. Wir versuchen, den inneren Dialog der durch Religion und Tradition motivierten Gruppen innerhalb des Libanons in Gang zu setzten, und wir bedauern zutiefst, daß der Teil des Dialogs, der jetzt durch die Vereinbarung in Taif in Gang gekommen schien, durch dieweiteren kriegerischen Auseinandersetzungen im Libanon wieder zunichte gemacht worden ist. Es scheint schnelle Lösungen nicht geben zu können. Das wird uns in unseren Bemühungen nur noch weiter anstacheln.Es liegt in unser aller Interesse, zur Lösung regionaler Konflikte und zur Festigung der demokratischen Staatsformen im Mittelmeerbereich beizutragen. Für die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den Anrainerstaaten des Mittelmeers sind drei Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung:Wichtige Partnerstaaten, in denen noch Mitte der 70er Jahre autoritäre Systeme herrschten, haben zur Demokratie zurückgefunden, wie Griechenland und die Türkei.Die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft durch die Beitritte Griechenlands, Portugals und Spaniens, der Beitritt Spaniens zur NATO und die Einbeziehung Portugals und Spaniens in die Westeuropäische Union haben zur Erhöhung der Sicherheit in Europa beigetragen.Die Einbeziehung der südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer in ein Geflecht von Abkommen mit der EG hat einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in diesen Ländern geleistet. Wir waren und wir sind an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt.
Allein der finanzielle Anteil der Bundesrepublik Deutschland beträgt ein Viertel der gesamten Leistungen.Die Bundesregierung ist mit der Mehrzahl der Staaten dieser Region traditionell freundschaftlich verbunden. Wie wichtig das von diesen Partnern genommen wird, hat jetzt gerade erst der Besuch des Bundespräsidenten in Marokko gezeigt. Er hat auch deutlich gemacht, welche Bedeutung wir der Pflege dieser Beziehungen beimessen.Meine Damen und Herren, nach wie vor berühren uns eine ganze Reihe von inneren Entwicklungen auch in den Ländern des Mittelmeerraums. Die Türkei ist hier bereits angesprochen worden. Der Antrag der Türkei auf Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft liegt vor. Alle diejenigen, die das vielleicht im Moment nicht mehr so präsent haben, möchte ich daran erinnern, daß mit der Aufnahme der Türkei in den Europarat die Grundsatzentscheidung dafür gefallen ist, daß die Türkei zu den europäischen Staaten zu rechnen ist. Wir erwarten Ende des Jahres den Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zum Beitrittsantrag der Türkei.
Wir könnten uns vorstellen, daß dieser Bericht Perspektiven für eine auf Europa ausgerichtete Entwicklung der Türkei enthält. Die Bundesregierung wird sich nach Vorliegen des Kommissionsberichts eine endgültige Meinung — wir müssen diesen Kommissionsbericht ja in unsere Meinungsbildung mit einbeziehen — zum Beitrittsantrag der Türkei bilden.
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Staatsminister Frau Dr. Adam-SchwaetzerIm übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß wir, Frau Beer, nie die Probleme geleugnet haben, die es auch im Hinblick auf die Beachtung der Menschenrechte in der Türkei heute noch gibt. Ich selbst habe vor nicht allzu langer Zeit in einer Debatte des Deutschen Bundestags dazu Stellung genommen.Wir haben aber auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß hier eine Entwicklung vorliegt, die wir im Interesse der Menschen in der Türkei nach Kräften zu befördern versuchen.Mit Sorge betrachten wir weiterhin auch die Spannungen, die durch die ungelöste Zypernfrage entstehen. Die Überwindung dieser Spannung kann nur durch eine Annäherung und Einigung der zyprischen Volksgruppen erreicht werden. Wir können dort nicht Vermittler sein, aber wir können — das tun wir auch — bei dem einen um Verständnis für den anderen werben.Im sicherheitspolitischen Bereich entspricht die Mittelmeerpolitik der Bundesregierung den Grundsätzen, die für die Sicherheit und Zusammenarbeit mit den Ländern des Mittelmeerraums in der KSZE-Schlußakte von Helsinki und in den abschließenden Dokumenten von Madrid und Wien niedergelegt sind. Daneben soll über breiter angelegte und aktivere Zusammenarbeit zum gegenseitigen Verständnis beigetragen und damit das Vertrauen gestärkt werden. Verständnis und Vertrauen müssen besonders gefördert werden im Verhältnis zwischen den mit uns jeweils freundschaftlich verbundenen NATO-Partnern Griechenland und Türkei, deren geschichtlich gewachsene Gegensätze in der sensitiven Südostregion des Mittelmeers nicht nur der Bundesregierung, sondern allen Bündnispartnern Sorge bereiten.Mit der Verteidigungshilfe im Rahmen der NATO an Portugal, Griechenland und die Türkei trägt die Bundesrepublik Deutschland wesentlich zur Sicherung und zur Stabilisierung der Südflanke der NATO bei.Meine Damen und Herren, wir sind daran interessiert, einen intensiveren Austausch auch über die Aspekte des Umweltschutzes und der Erhaltung und Verbesserung des ökologischen Gleichgewichts im Mittelmeer in den gesamten Dialog mit einzubeziehen, wie dies im Wiener abschließenden Dokument vereinbart wurde.
— Ich erinnere nur daran: Gegen Folter hilft, auf diejenigen, die das zu verantworten haben, einzuwirken.
Frau Beer, ich kann nur noch einmal das Angebot wiederholen, das Gespräch darüber fortzuführen.
— Frau Beer, wie Sie wissen, bin ich nicht nur einmal in der Türkei gewesen.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend noch einmal auf die notwendigen Dinge zurückkommen, die im Umweltschutz im Mittelmeerbereich getan werden. Ich möchte daran erinnern, daß in Wien ein Mandat für ein Expertentreffen zum Schutz mediterraner Ökosysteme für Ende 1990 erteilt wurde. Dies geht auf eine spanische Initiative zurück und ist ein äußerst notwendiger Schritt zur Erhaltung dieses wichtigen Ökosystems. Die Bundesregierung tritt dafür ein, daß die Zusammenarbeit mit allen Staaten im Mittelmeerraum, auch mit denen, die nicht an der KSZE teilnehmen, verbessert wird. Daß sie an dem Expertentreffen als Beobachter teilnehmen können, ist auch auf unsere Initiative zurückzuführen.Meine Damen und Herren, der Mittelmeerraum ist nach wie vor eine unruhige Region. Wir verfolgen die Entwicklung mit Aufmerksamkeit, aber auch mit großem Engagement, um unseren Beitrag zur Lösung der dortigen Konflikte zu leisten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pohlmeier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute, im Herbst 1989, mit dem Mittelmeerraum beschäftigen, dann erscheint das auf den ersten Blick als ein etwas abseitiges Feld deutscher Außenpolitik. Das Interesse der Öffentlichkeit und unser volles Engagement sind auf die umwälzenden Veränderungen in Osteuropa, auf deren Bezüge und Rückwirkungen auf die EG und auf das westliche Bündnis gerichtet. Wir brauchen diese vornehmste Aufgabe nicht zu verkleinern, und wir wollen es auch nicht tun, wenn wir uns heute Rechenschaft über die Südflanke Europas ablegen. Wir müssen das sowohl als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft als auch in spezifischer deutscher Verantwortung tun.Die Mittelmeerländer, vier von ihnen als Partner in der EG mit besonderen Problemen, zwei kommunistische Balkanländer, zwei Inselrepubliken mit starker Zuwendung nach Europa und der große Kranz von islamischen Staaten in unterschiedlichen Verflechtungen und einem manchmal diffusen, aber auch gefährlichen Spannungsverhältnis, bilden den Raum vor unserer Haustür.Die politische und wirtschaftliche Konstellation ist nicht unähnlich der auf dem amerikanischen Doppelkontinent: hier eine hochentwickelte, wohlhabende und mit allen technologischen Errungenschaften ausgerüstete angloamerikanische Welt; dort eine unterentwickelte, in einem Wust wirtschaftlicher Probleme steckende iberoamerikanische Region von gefährlicher politischer Instabilität.Die US-Amerikaner sind immer noch weit davon entfernt, eine problemadäquate, überzeugende und
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Dr. Pohlmeiervon den Partnern als gerecht anerkannte Politik gegenüber ihren südlichen Nachbarn entwickelt zu haben. Wir Europäer und an herausragender Stelle wir Deutschen sollten alles daransetzen, daß unser Verhältnis zu den Südanrainern des Mittelmeers nicht von ähnlichen Ressentiments, ähnlichem Mißtrauen und vergleichbaren Spannungen geprägt wird wie das belastete Verhältnis zwischen Lateinamerika und der nördlichen Supermacht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier hilft es nun überhaupt nicht, wenn Sie, wie Frau Beer, für die GRÜNEN, hier selektive Feindbilder aufbauen. Hier ist vielmehr die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft für Frieden und Sicherheit in dieser Region gefordert.
Die deutsche Außenpolitik ist aufgefordert, einen nachhaltigen und kontinuierlichen Beitrag dazu zu leisten, daß aus dem Mittelmeerraum eine Zone des Friedens und der Sicherheit, des wirtschaftlichen Wachstums und sozialen Fortschritts, der kulturellen Aussöhnung und Begegnung und der fairen politischen Zusammenarbeit wird.Ich möchte in meinem Beitrag von den wirtschaftlichen Entwicklungsproblemen der EG-Mitgliedsländer im Süden des Kontinents absehen und auch nicht Jugoslawien und Albanien in den Vordergrund stellen. Über den Nahen Osten wird mein Kollege Lummer hier gleich noch etwas zu sagen haben.Ich möchte aber doch auf die beiden kleinen Inselrepubliken Malta und Zypern hinweisen. Beide haben, wie auch immer an die EG angebunden, beträchtliche Entwicklungschancen für höherwertige Produktionen und — nicht zu vergessen — Dienstleistungen. Um freilich so etwas wie ein Hongkong oder Singapur des Mittelmeers zu werden, müssen die Rahmenbedingungen für Kapitalanlagen in diesen Ländern noch entscheidend verbessert werden.Ich möchte einige Schwerpunkte der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Südanrainern des Mittelmeers erörtern und die Bundesregierung, aber auch die deutsche Wirtschaft auffordern, sich in dieser Richtung stärker zu engagieren.Erstens. Eine wirksame und nachhaltige Förderung wirtschaftlichen Wachstums für Schwellenländer — und die meisten hier zu besprechenden Länder gehören zu dieser Kategorie — ist ihre Einbindung in den internationalen Handel. Von Marokko bis zur Türkei sind die Länder in hohem Maße EG-orientiert. Ihr Argwohn und ihre Befürchtungen richten sich nach der Vollendung des Binnenmarktes auf bewußt gewollte oder sich automatisch einstellende protektionistische Schranken der EG.
Zu diesen Befüchtungen hat durchaus Grund, wer das verfeinerte Brüsseler Instrumentarium zur Abwehr unerwünschter Importe kennt: Kontingente, Einfuhrkalender, Referenzpreise, Mindestpreise und das Überwachungssystem der Kommission über sogenannte Marktstörungen. Die Wachstumsdynamik der EG muß voll nutzbar gemacht werden für die Südanrainer des Mittelmeers, die zwar draußen vor der europäischen Tür sind, aber doch partnerschaftlichen Zugang behalten müssen. Zu fordern ist hier eine weitere Diversifizierung der Exportprodukte der Mittelmeersüdanrainer und der Aufbau von Verarbeitungsstufen für ihre Rohstoffe. Die Steigerung der Exporte ist Voraussetzung für den Ausbau von Märkten für die europäische Wirtschaft in diesen Ländern. Diese Märkte vor unserer Haustür mit derzeit etwa 150 Millionen Menschen — hier noch unter Ausklammerung der arabischen Länder — und im Jahre 2000 von ca. 230 Millionen durch Entwicklung der Kaufkraft zu stärken ist ein natürliches europäisches Interesse. Es sollte sehr sorgfältig abgewogen werden zwischen Schutzbedürfnissen europäischer Wirtschaftsbereiche und der Entwicklung von Kaufkraft in den bevölkerungsstarken Südanrainern des Mittelmeers.Zweitens. Die Investitionstätigkeit deutscher Unternehmer in den Mittelmeerländern hatte in den 60er und 70er Jahren einen erfolgversprechenden Anlauf genommen: etwa 60 deutsche produzierende Unternehmen in Tunesien, gut 30 in Malta. Hier schien eine privatwirtschaftliche Investitionswelle in Gang gekommen zu sein. Durch ein Zusammenspiel von einer Reihe von Faktoren ist dieser Prozeß in den 80er Jahren nahezu zum Erliegen gekommen. Mittelfristig werden sich aber in manchen Ländern südlich des Mittelmeers Europa nahegelegene sehr interessante Produktionsstandorte für diese Märkte selbst oder als Sprungbrett zum Nahen Osten oder nach Afrika hin ergeben. Es ist Aufgabe der Politikberatung und der Ausrichtung unserer Wirtschaftshilfe, in geeigneten Ländern wie der Türkei, Ägypten oder den Maghrebländern dafür die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entwickeln zu helfen.Drittens. Die Länder südlich des Mittelmeers, die nicht Mitglieder der EG sind, müssen erkennen, daß sie durch regionale Zusammenarbeit bis hin zur Wirtschaftsunion ihre eigenen Märkte stärken und kräftigere Partner für die EG sein können. Wir haben allen Anlaß, den großen Maghreb im Westen und den regionalen Zusammenschluß zwischen Ägypten, Jordanien, Irak und Jemen im Osten nach allen Kräften zu fördern.Viertens. Die deutsche Entwicklungshilfe gegenüber den Südanrainern des Mittelmeers hat beachtliche Leistungen vorzuweisen. Die Türkei hat bisher 5,6 Milliarden DM erhalten und steht damit weltweit an zweiter Stelle nach Indien als Empfänger deutscher Entwicklungshilfe, wenn wir den gesamten Zeitraum betrachten. Es folgen Ägypten mit 4,6 Milliarden DM, Israel mit 3,3 Milliarden DM und Marokko mit 1,9 Milliarden DM sowie Tunesien mit 1,8 Milliarden DM. Für die Zukunft brauchen wir für die einzelnen Länder stärker maßgeschneiderte Lösungen, die die besonderen Entwicklungsziele und die Möglichkeiten sowie die Rahmenbedingungen der einzelnen Länder stärker berücksichtigen.Ich möchte das an den Länderbeispielen Türkei, Ägypten und Marokko sowie Algerien erläutern.Die Türkei hat vor zwei Jahren den Antrag auf Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft gestellt. Ich lasse die Diskussion, ob die Türkei ein europäisches Land ist und die kulturellen und politischen
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12840 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. PohlmeierVoraussetzungen für eine EG-Mitgliedschaft mitbringt, einmal unberücksichtigt. Wenn die Türkei wirtschaftlich an Europa herangeführt werden soll, dann sind in den nächsten zehn Jahren ein starkes wirtschaftliches Wachstum und mehr binnenwirtschaftliche Stabilität erforderlich. Die Industrialisierung des Landes hat beachtliche Fortschritte gemacht. Die Exportfähigkeit türkischer Produkte ist gewachsen, allerdings nur selektiv, und hat bei weitem noch nicht den europäischen Mindeststandard erreicht. Daraus ergeben sich fundamentale Aufgaben in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, die für die Zukunft beachtet werden müssen.Anders liegen die Dinge in Ägypten. Meine Kollegen haben schon vorhin darauf hingewiesen: Dieses Land genießt eine bevorzugte Rolle als Schlüsselland des gesamten arabischen Raumes. Die internationale Gebergemeinschaft des Westens hat Ägypten in den letzten Jahren mit Hilfe geradezu zugeschüttet. Vielleicht wegen dieser ungemein verläßlich fließenden Hilfe sind Wirtschaftsreformen bisher unterblieben. Der Politikdialog mit Ägypten muß viel entschiedener mit dem Ziel geführt werden, den staatlichen Sektor energisch einzuschränken, die Landwirtschaft produktiver zu machen und die Ressourcen dieses menschenreichen Landes nicht weiter brachliegen zu lassen.Meine Zeit ist leider weit fortgeschritten. Ich muß mir deswegen versagen, auf Marokko und Algerien einzugehen, so reizvoll das sein könnte.Ich möchte auf einen Punkt, der die Südanrainer des Mittelmeeres besonders betrifft und besonders belastet, am Ende aber doch noch eingehen dürfen. Die Länder südlich des Mittelmeeres sind durch eine ungewöhnlich starke Bevölkerungszunahme ausgezeichnet; ich habe vorhin einige Zahlen genannt. Diese Bevölkerungszunahme zeigt sich — wenn Sie in die großen Ballungsgebiete, in Riesenstädte wie Kairo mit 15 Millionen Menschen, Algier oder Casablanca kommen, sehen Sie dies — in einer großen Zahl unbeschäftigter, perspektivloser junger Menschen. Unmittelbar vor der europäischen Haustür braut sich ein ungeheurer Bevölkerungsdruck zusammen. Ich möchte auf diesen Aspekt mit besonderer Dringlichkeit hinweisen, weil das bisher so noch nicht geschehen ist.Wir haben allen Anlaß, meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Politik gegenüber den Mittelmeer-Südanrainern mit großer Aktivität, mit großer Zielsicherheit und mit großer Klarheit in den nächsten Jahren fortzuführen.Ich danke der Bundesregierung, ich danke auch den konstruktiven Beiträgen meiner Kollegen, auch von Herrn Osswald aus der SPD. Die GRÜNEN haben sich einer solchen konstruktiven Zusammenarbeit leider versagt.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Antretter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie, daß ich mich mit einem Wort zunächst an Sie wende, Frau Staatsministerin. Ich meine, Sie sollten vor dem Parlament und damit vor der Öffentlichkeit nicht den Eindruck erwecken und in Ihrem politischen Handeln selber nicht davon ausgehen, daß es sich bei der Türkei, so wie sie jetzt regiert wird, um ein Land handle, das auf dem Wege sei, die Menschenrechte anzuerkennen. Sie ziehen dann nämlich falsche Schlüsse und stellen falsche Weichen für eine Politik in Richtung der Einhaltung der Menschenrechte in diesem Land.Wenn Sie sagen, daß mit der Wiederaufnahme der Türkei in den Europarat — vorher hatte die Mitgliedschaft geruht, wie Sie wissen — der erste Schritt für eine spätere Aufnahme in die EG getan sei,
und Sie diesen zweiten Schritt fast als unwiderruflich bzw. als zwingend darstellen oder zumindest den Eindruck erwecken — ich habe das so verstanden —, dann möchte ich Ihnen sagen: Eher umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir sollten, nachdem die Erwartungen, die wir in die Türkei bei der Wiederaufnahme in den Europarat gesetzt haben, nicht realisiert wurden, eher die Frage stellen, ob dieses Land seinen Platz denn wirklich in der Völkergemeinschaft haben kann, die geradezu ein Synonym für die Menschenrechte darstellt.Ich sage das nicht als Kritik an der Bundesregierung, sondern richte an alle, die der Parlamentarischen Versammlung des Europarates angehören — einige sind hier unter uns — , die Bitte, sich einmal miteinander zu überlegen, ob es denn eine gute Sache sein kann, wenn wir in dieser Parlamentarischen Versammlung über die Einhaltung der Menschenrechte in allen Teilen der Welt reden, sich aber unter uns ein Land befindet, in dem die Menschenrechte nach wie vor so mißachtet werden wie an dem Tag vor drei oder dreieinhalb Jahren, als wir sagten: Wir nehmen sie wieder auf, weil wir darin die Chance sehen, daß dieses alles besser wird. Der gegenwärtige Zustand ist schwer zu ertragen, und darüber sollten wir einmal miteinander reden.
In ihrer Antwort auf die hier heute debattierte Große Anfrage betont die Bundesregierung mehrfach, wie notwendig eine abgestimmte EG-Politik gegenüber den Ländern des Mittelmeerraums sei. Es ist aber die Frage offengeblieben, wo das Konzept der Bundesregierung für die Entwicklung einer konsistenten, kohärenten EG-Mittelmeerpolitik ist. Diese Frage wurde weder in der Antwort noch in der heutigen Debatte seitens der Kollegen von den Koalitionsfraktionen beantwortet. Ich befürchte, es gibt diese Politik nicht. So, wie die Antworten der Bundesregierung auf die vorliegende Große Anfrage Stückwert sind, so ist es auch ihre Mittelmeerpolitik.Es ist übrigens auch keine konsistente Mittelmeerpolitik der Europäischen Gemeinschaft erkennbar, und dies trotz aller vorgelegten „Orientierungen" und „Leitlinien".
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AntretterIch darf daran erinnern: Als Grundlage für die Beziehungen zu den Mittelmeerländern hatte die EG-Kommission bereits 1972 ein dreifaches Interesse definiert:Erstens. Die EG und die Länder des Mittelmeerraums sind Nachbarn, die durch ein Netz vielfältiger Beziehungen miteinander verbunden sind.Zweitens. Die wechselseitigen Interessen, die nicht nur die Garantie der äußeren Sicherheit, sondern auch die gesicherte Versorgung umfassen, erfordern Beziehungen, die sich auf das Prinzip der Kooperation ohne jede Abhängigkeit gründen.Drittens. Der Mittelmeerraum bildet die Brücke zu den afrikanischen Ländern, zu denen die EG ebenfalls besondere Beziehungen unterhält.Meine Damen und Herren, damals schwebte der Kommission eine — wie sie selbst formulierte —„echte vertragliche Kooperation mit kohärenten Maßnahmen auf dem Gebiet des Kapitalverkehrs, der Technologie, der Energiewirtschaft, der Beschäftigung und des Umweltschutzes" vor, für die der freie Warenverkehr allein kein Ersatz wäre. Dieser ehrgeizige Ansatz wurde in den folgenden Jahren zwar der Form nach verwirklicht; inhaltlich aber wichen die Kooperationsabkommen erheblich von dem ursprünglichen Projekt ab.Der Kardinalfehler in den Abkommen — ich beziehe mich dabei vor allem auf die ursprünglichen Maghreb- und Maschrik-Abkommen — liegt vor allem darin, daß sie in der Praxis kein Konzept umfassender Zusammenarbeit beinhalten, sondern sich vorrangig auf den Warenaustausch beziehen. Der Warenaustausch aber entwickelte sich einseitig zugunsten der EG. Wichtige „Handelsteile" in den Mittelmeerabkommen haben sich für die Partnerländer als nicht glaubwürdig oder — ich nenne das Beispiel der Agrarprodukte — als nicht erfolgversprechend erwiesen. Die „Kooperationsteile" erwiesen sich als sehr begrenzt.Die politische Rolle schließlich, die die EG auf der Grundlage der Abkommen im Mittelmeerraum spielen sollte, hat sich — auf Grund der Trennung der EG-Außenpolitik im Rahmen der EPZ von der wirtschaftlichen und technischen Seite der Europäischen Gemeinschaft — sozusagen kommissionspolitisch als fast ohne Inhalt erweisen.Hinzu kommt, daß in fast allen politischen Fragen die EG im Rahmen der EPZ keinen wirklichen Dialog mit den Ländern der Region führte oder führt. In den Fragen, in denen politische EG-Initiativen notwendig gewesen wären, nämlich im Nahen Osten, ist die beständige Wiederholung der Prinzipien der VenedigDeklaration von 1980 zum israelisch-palästinensischen Konflikt auch kein Ersatz für Handeln in der Politik.Nach wie vor gibt es enge wechselseitige Interessen zwischen den EG-Mitgliedstaaten und den Staaten im Mittelmeerraum. Da gibt es zunächst ein gemeinsames Interesse an friedlicher Entwicklung. Dieses Interesse muß notgedrungen bei den Europäern größer sein als bei den USA. Die Europäer sind von krisenhaften oder gar unfriedlichen Entwicklungen in der Mittelmeerregion allemal stärker betroffen als diegeographisch weiter entfernten USA. Dennoch müssen wir die USA bitten und darauf hinwirken, daß sie ihre Mittlerrolle weiterhin aufrechterhält und ausbaut. Übrigens glaube ich, daß auch Ägypten da noch eine wichtige, große Aufgabe als Mittler vor sich hat.Da ist ferner zu sehen, daß für die EG-Mitgliedstaaten die Mittelmeerländer ein ebenso bedeutender Markt wie die USA und Kanada sind. Damit hängt aber auch ein Teil ihres Wohlstands von der wirtschaftlichen Entwicklung in den Mittelmeerländern selbst ab. Die EG ist somit von der wirtschaftlichen Verwundbarkeit der Mittelmeerländer unmittelbar abhängig.Notwendig ist also ein neuer Anlauf für die Mittelmeerpolitik. Ich habe den Eindruck, es gibt zwischen den Christdemokraten und den Sozialdemokraten, namentlich: zwischen der Rede von Herrn Kollegen Pohlmeier und Herrn Osswald, sogar ein bißchen mehr Einvernehmen als zu dem, was von seiten der FDP zu diesem Zusammenhang gesagt wurde.Mir scheint ein neuer Anlauf in der Mittelmeerpolitik notwendig. Dies bedeutet eine Überprüfung und Neuorientierung der Politik der Bundesregierung, aber auch der EG gegenüber der Region.Ich möchte in diesem Zusammenhang die Bundesregierung bitten,
sich auch die Entschließungen und Empfehlungen des Europarats anzusehen, die für eine verantwortliche künftige Mittelmeerpolitik hilfreich sein könnten.Wenn es so ist, daß der Handelsaustausch nur einen Teil der Probleme dieser Länder lösen hilft, dann muß die EG in anderen Fragen stärkere Hilfe leisten, wobei im Agrarsektor sehr wohl ein stärkeres Entgegenkommen möglich wäre.Wir drängen die Bundesregierung, in diesen Fragen die Initiative zu einer internationalen Friedenskonferenz im Nahen Osten selbst zu ergreifen. Wenn sich für die Palästinenser zeigt, daß der Versuch einer Verhandlungslösung, die Yassir Arafat anstrebt, keine Ergebnisse bringt, dann wird überall in der arabischen Welt die Basis für den Fundamentalismus Weiterwachsen. Deshalb muß dieser Verhandlungsansatz Arafats endlich Erfolg haben. Deshalb müssen die Bundesregierung und die EG die israelische Regierung drängen, direkte Kontakte mit den Palästinensern, die durch die PLO vertreten werden, nicht länger zu vermeiden.Deshalb muß auch auf eine friedliche politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts hingearbeitet werden, die auf der gesicherten Existenz des Staates Israel, auf dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und auf der Anerkenntnis beruht, daß die Palästinenser ihr Selbstbestimmungsrecht in einem eigenen Staat in Anspruch nehmen wollen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Lummer.
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12842 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man in einer Großen Anfrage ein so weites Feld behandelt, dann läuft man, unbeschadet der vielen Fragen, doch Gefahr, daß man das eine oder andere vergißt, oder es wird einem vorgehalten.Die Kollegin Beer ist nicht im Raume, aber ich möchte sehr wohl deutlich machen, daß der Vorwurf, wir sähen in diesem Raume die Frage der Menschenrechte nicht, gänzlich unberechtigt ist. Nur, wir gingen und gehen davon aus, daß die Bundesregierung einen eigenständigen Bericht über diesen Fragenkomplex vorbereitet — einmal in einer Legislaturperiode — und daß wir dann Gelegenheit haben, speziell darüber zu reden. Denn es sollte dort, wo es um die Bemühungen geht, Menschenrechte durchzusetzen, wirklich Einigkeit herrschen.Aber auch bezogen darauf, was hier heute debattiert worden ist, sehe ich ein relativ hohes Maß an Gemeinsamkeit; denn alles läßt sich doch irgendwie dahin summieren, Herr Dr. Osswald, daß wir hier gemeinsam ein Plädoyer für eine aktivere Politik in diesem Raum ablegen, weil er es einfach verdient.Es ist sicherlich richtig, was der Kollege Feldmann gesagt hat: Vorstellungen von dem „mare nostrum'' sind Vergangenheit, aber es ist ein Meer, das gleichwohl unser Schicksal mitbestimmt, und insofern ein Bereich, der unserer Verantwortung unterworfen ist. Diese Verantwortung müssen wir in angemessener Weise wahrnehmen, meine ich.
Hier gibt es eine Reihe von fundamentalen Herausorderungen. Eine dieser Herausforderungen ist genannt worden: das Bevölkerungswachstum. In etwa zehn Monaten — man sagt es ja immer in verschiedenen Bildern — gibt es 1 Million Ägypter mehr. Das Wirtschaftswachstum kann mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten. Die Problematik ist erkannt, aber niemand hat eine probate Lösung vorzuweisen. Wir können nicht mehr nur noch Statistiken aufzählen, sondern wir müssen uns, finde ich, diesem Spezialproblem intensiv widmen.Zum anderen existiert die auch heute viel zitierte Herausforderung des Fundamentalismus. Was bedeutet das denn eigentlich? Meine Damen und Herren, es ist nicht nur so, daß der Fundamentalismus für europäische pluralistische Demokratien eine Bedrobung ist, sondern es ist vielmehr einerseits die Frage,ab sich dieser Fundamentalismus mit Demokratie vereinbaren läßt, und andererseits die Frage, ob in den Strukturen, in denen der Fundamentalismus zu Hauseist, die ökonomischen Probleme überhaupt lösbar sind. Es ist doch dasselbe wie im Osten Europas: Solange sich dort eine Ideologie mit dem Staat verheiratet hat und den absoluten Wahrheitsanspruch anmeldete, sind alle Probleme nicht lösbar, weder das der inneren Freiheit noch das der Ökonomie. Insofern geht es hier auch um die Frage, inwieweit wir gegen diesen Fundamentalismus angehen.Daneben gibt es den Konflikt zweier Bündnispartner. Ferner gibt es Herausforderungen in den verschiedensten Formen. Sie verdienen, meine ich, von uns her gesehen eine Konzentration der Kräfte. Ich habe nicht den Eindruck, daß die europäischen Länder in den vergangenen Jahrzehnten in angemessener Weise aktiv gewesen wären.Alle diese Probleme verdienen aber eine Lösung ohne Gewalt; so auch die Antwort der Bundesregierung. Dennoch frage ich hier einmal am Rande, zynisch scheinend und ganz bitter: Wo wären denn die Palästinenser und auch die Israelis, wenn sie dann und wann nicht Gewalt angewendet hätten? Das ist eine Frage an uns, an die Stumpfheit, die manchmal in der Welt vorhanden war, ehe man zu dem Satz kam, wie es ja auch in der Antwort heißt, daß man das Existenzrecht der Palästinenser, aber auch das Sicherheitsbedürfnis der Israelis sehen muß. Das zu vereinbaren ist schwierig. Es ist ebenso schwierig, Lösungen zu finden; denn es geht auf der einen Seite um souveräne Staaten und auf der anderen Seite um Bevölkerungsgruppen, die danach streben. Hier kann die Bundesregierung nicht einfach irgend so ein Ding hinhauen, und das Problem ist gelöst, sondern hier muß, meine ich, der mühsame Prozeß des Dialogs stattfinden.Ich möchte gerne ein paar Bemerkungen zum Libanon machen. Diese Beschränkung ist nach dem, was alles gesagt worden ist, glaube ich, auch zweckmäßig. Auch hier ist ja die Erkenntnis vorhanden, daß militärische Macht kein Lösungsansatz ist, daß eine militärische Lösung nicht in Frage kommt, also eine politische. Darum sage ich hier: Es ist gut, Frau Staatsminister, daß gerade jetzt unser Botschafter wieder nach Beirut unterwegs ist. Er war lange Zeit nicht dort. Er ist dort vermißt worden.Ich bewerte Taïf nicht so schlecht, wie das hier heute geschehen ist. Ich weiß nicht, ob das ein durchschlagender Erfolg ist, aber ich weiß: Die Tatsache, daß Taïf stattgefunden hat, war ein Erfolg.
Ich bin auch der Meinung, daß der Dialog ohne militärische Macht weiterzugehen hat, und ich bin überzeugt, er wird auch weitergehen, denn der General Aoun ist nicht die ganze christliche Gemeinschaft, sondern nur ein Teil davon. Wir — auch unser Botschafter — können einen Beitrag dazu leisten, den Kompromiß zu fördern und zu vermitteln. Als solche Person ist er dort anerkannt. Insofern bin ich froh, daß er jetzt wieder auf dem Wege ist.In der Antwort der Bundesregierung heißt es ja auch demgemäß, daß wir uns darum bemühen, in guten Kontakten zu allen Parteien im Libanon zu einer Lösung beizutragen. Dies setzt natürlich die Präsenz unseres Botschafters voraus.Meine Damen und Herren, es bleibt in der Antwort der Bundesregierung betreffend den Beitrag zum Libanon aber bemerkenswert, daß die Bundesregierung zwar die Verletzung der libanesischen Souveränität und Integrität durch Israel, aber keineswegs die Rolle Syriens erwähnt. Natürlich sind die Gründe der syri-
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Lummerschen Präsenz im Libanon viel schwieriger zu beschreiben und zu bewerten. Aber es kann auch gerade nach den Gesprächen von Taïf kein Zweifel daran sein, daß die Rolle der Syrer eine Schlüsselfrage darstellt, die man nicht einfach zu übergehen vermag.Eine Lösung der Krise im Libanon— so heißt es in der Antwort der Bundesregierung —kann jedoch nur von den Libanesen selbst herbeigeführt werden.Wenn das stimmt, dann wird man ja nicht ohne Grund fragen, wie eine selbstbestimmte Lösung im Libanon unter dem Status der Besetzung durch die Syrer stattfinden kann.
Es ist nämlich sehr zu bezweifeln, daß Syrien ein so zurückhaltender Besetzer ist — wenn ich das einmal so sagen darf — wie die westlichen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, die gleichwohl Selbstbestimmung zuließen. Die Syrer haben nie die Existenz eines souveränen Libanon anerkannt. Sie haben bis heute nie Botschafter ausgetauscht, und sie wollen das auch nicht. Insofern steckt darin auch ein Stück der Bedrohung der libanesischen Existenz.Darum sage ich: Die notwendige Reform für den Libanon muß von einer Bereitschaft der Syrer und von einem Plan der Syrer begleitet sein, was den Rückzug anbetrifft.Ich darf Ihnen, Herr Kollege Osswald, an dieser Stelle sagen, weil Sie den General Aoun so schlecht bewertet haben: Seine Kritik an Taïf bezieht sich nicht auf den Teil der Reformen im Lande, sondern nur auf den Teil: Werden die Syrer abziehen, unter welchen Voraussetzungen werden sie abziehen? Das ist ein wesentlicher Unterschied, den man hier, glaube ich, machen muß.Also, wie gesagt: Es muß unser Bemühen mit sein, daß nicht erneut die Waffen sprechen. Wir müssen dafür sorgen — das ist das Ziel des Dialogs auch dort — , die Wiedergewinnung gewissermaßen der staatlichen Handlungsfähigkeit zu erreichen. Dazu muß ein Präsident gewählt werden; dazu muß ein Parlament aktiv sein können und schließlich auch eine Armee.Meine Damen und Herren, ein bißchen können vielleicht auch wir als Parlament dazu beitragen. Ich freue mich darüber, daß der Auswärtige Ausschuß die Absicht hat, ein Hearing über den Libanon stattfinden zu lassen. Ich glaube, dies kann förderlich für die Sache sein. Insofern sollten wir es möglichst bald, auch mit geeigneten Partnern, durchführen.Eine letzte Bemerkung über die Eindrücke, die ich dort gewonnen habe — ich war ein paar Tage da — : Die letzten sechs Monate sind für das Land und die Menschen dort wirklich schlimm gewesen. Da ist viel in Trümmer gegangen, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Hier wären die europäischen Länder sehr wohl aufgerufen, einen besonderen Beitrag zu einem nicht nur physischen, sondern auch moralischen Wiederaufbau des Landes zu leisten; denn unser Ziel ist — das steht in der Antwort der Bundesregierung und ist wohl gemeinsames Ziel — , die Integrität und Souveränität dieses Landes zu erhalten.Ich danke der Bundesregierung und meine, insgesamt gesehen, daß wir die Aufgabe haben — die Fülle der Punkte hat es gezeigt — , das eine oder andere Problem selektiv aufzugreifen, um es intensiver zu diskutieren. Hier haben wir natürlich unsere eigenen europäischen Interessen. Aber wir müssen uns darum bemühen, diese Region des Mittelmeerraumes, die immer ein Stück unseres Schicksales war und, ich nehme an, auch auf absehbare Zeit sein wird, so zu befrieden, daß wir gemeinsam miteinander leben können. Dazu sollten wir ein bißchen mehr Zeit und ein bißchen mehr Geld opfern.Danke.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte über die Große Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage im Mittelmeerraum.Wir haben jetzt noch etliche Tagesordnungspunkte abzuhandeln, wo wir ohne Debatte beschließen müssen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 und den Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:7. Beratungen ohne Aussprache
— Drucksache 11/4614 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/5346 —Berichterstatter: Abgeordneter Grünbeck
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichtes des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit— Drucksachen 11/2465 Nr. 2.20,11/4760 —Berichterstatter: Abgeordneter Reimannc) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu
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Vizepräsident Cronenbergdem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung in die Veräußerung des Bundesanteils am „Oberen Mundatwald" gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksachen 11/5002, 11/5334 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Diederich Roth (Gießen)ZywietzFrau Vennegertsd) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung in Dortmund-Eving, Hessische Straße, Schwäbische Straße, Preußische Straße, Pfälzische Straße und Osterfeldstraße— Drucksachen 11/5056, 11/5335 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Diederich Roth (Gießen)ZywietzFrau Vennegertse) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Vierte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 11/4912, 11/5343 —Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmannf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Dreiundsechzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 11/5045, 11/5344 —Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmanng) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft
zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Vierundsechzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 11/5093, 11/5345 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gautierh) Beratung der Ersten Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die allgemeine Produktsicherheit— Drucksachen 11/5145 Nr. 3.2, 11/5376 —Berichterstatter: Abgeordneter GrünbeckZP2 Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. April 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksachen 11/5288, 11/5471 —Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 11/5472 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. FellWir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Rohstoffstatistikgesetzes. Das liegt Ihnen auf den Drucksachen 11/4614 und 11/5346 vor.Ich rufe die §§ 1 bis 10, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf.Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN-Fraktion sind die Vorschriften angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir kommen zur Schlußabstimmung.Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN-Fraktion ist das Gesetz angenommen.Ich komme zum Punkt 7 b der Tagesordnung. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 11/4760 ab. Es handelt sich hierbei um den Vorschlag für eine Richtlinie über den Schutz der Arbeit-
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Vizepräsident Cronenbergnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zum Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung des Bundesanteils am „Oberen Mundatwald" auf Drucksache 11/5334 ab. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Enthaltungen? — Gegenstimmen? — Gegen die Stimmen der Fraktion der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.Wir stimmen jetzt über eine Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung zur Veräußerung einer bundeseigenen Wohnsiedlung in Dortmund-Eving ab. Sie liegt Ihnen auf Drucksache 11/5335 vor. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Gegen die Stimmen der Fraktion der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung. Die Vorlagen sind im Ausschuß einvernehmlich verabschiedet worden. Ich lasse daher über alle Vorlagen gemeinsam abstimmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf den Drucksachen 11/5343 bis 11/5345? — Wer enthält sich? — Ich stelle fest, daß sich die Vertreterin der GRÜNEN entgegen der einvernehmlichen Ausschußempfehlung der Stimme enthalten hat.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Erste Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/5376. Es handelt sich um einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die allgemeine Produktsicherheit. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.Ich komme zum Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Republik Türkei. Sie liegt Ihnen auf den Drucksachen 11/5288 und 11/5471 vor. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich darf feststellen, daß dieses Gesetz in der zweiten Lesung einstimmig angenommen worden ist.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN angenommen worden.Ich unterbreche die Sitzung und wünsche Ihnen eine angenehme Mittagspause. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
— Drucksache 11/5429 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatsminister Schäfer zur Verfügung. Frage 14 des Abgeordneten Lowack soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Frage 18 des Abgeordneten Opel wird auf Grund Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 15 des Herrn Abgeordneten Stobbe auf:
Wie viele warnende Hinweise von der amerikanischen Administration haben Stellen der Bundesregierung in den letzten fünf Jahren über die Beteiligung deutscher Firmen und deutscher Staatsangehöriger an sensiblen Rüstungsexporten nach Libyen, Irak, Iran, Syrien, Ägypten, Argentinien und Brasilien erhalten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die Bundesregierung steht mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika in ständiger Gesprächsverbindung, bei der die jeweiligen Kenntnisse über mögliche illegale Exporte von Waffen und Rüstungsgütern ausgetauscht werden. Amerikanische Hinweise auf mögliche illegale Exporte sind schnellstmöglich an die zuständigen Behörden zur Überprüfung und gegebenenfalls auch zur Einleitung von Ermittlungen weitergeleitet worden.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, auf welche Rüstungstechnologien haben sich diese offenbar ungezählten Warnungen der amerikanischen Seite schwerpunktmäßig bezogen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie wissen aus den vielfältigen Diskussionen im Auswärtigen Ausschuß, an denen Sie teilgenommen haben, daß wiederholt und immer wieder von neuem bestimmte Vermutungen und Verdächtigungen vorwiegend in amerikanischen Presseorganen geäußert worden sind und daß wir, soweit uns von amerikanischen Dienststellen Hinweise gegeben worden sind, diesen Hinweisen nachgegangen sind. Das bezieht sich sowohl auf den Fall Rabta als auch auf Fälle von angeblicher Beteiligung deutscher Techniker an dem angeblichen Bau von Raketen und der Herstellung chemischer Waffen in verschiedenen Ländern. Das ist, wie Sie wissen, im Verlauf des letzten Jahres ganz besonders virulent gewesen. Es gibt gelegentlich immer wieder solche Hinweise, und die Bundesregierung bemüht sich, diesen Hinweisen nachzugehen.
Herr Staatsminister, warum hat die Bearbeitung der warnenden Hinweise von amerikani-
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Stobbescher Seite durch die Bundesregierung angesichts sich jetzt häufender Meldungen über Beteiligungen deutscher Firmen an der Raketenaufrüstung der Staaten, die ich in meiner Frage genannt habe, so wenig Erfolg gehabt?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie wissen, daß die Quellen, die wir da gelegentlich zur Verfügung gestellt bekommen, oft erst nachgeprüft werden müssen, daß es sich oft lediglich um Vermutungen und Verdächtigungen handelt, daß sehr häufig keine genauen Hinweise gegeben werden und von daher die Überprüfung dieser gesamten Vorgänge nicht so einfach ist, wie das scheint.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatsminister, waren unter diesen Vermutungen oder Verdächtigungen, von denen Sie sprachen, auch amerikanische Hinweise auf Beteiligungen deutscher Firmen an der Giftgasproduktion nicht nur in Libyen und im Irak, sondern auch in Syrien, und trifft es zu, daß die Bundesregierung Informationen darüber hat, daß eine deutsche Firma, die in der Gegend von Mainz ansässig ist, an der Giftgasproduktion in Syrien beteiligt ist?
Schäfer, Staatsminister: Diese Frage, Herr Kollege, ist mir neu. Ich kann sie deshalb nicht beantworten.
Mir ist nicht bekannt, daß es einen solchen neuerlichen Hinweis gibt. Aber ich bin sehr gern bereit, Ihnen das schriftlich zu beantworten.
— Bitte schön?
„Neuerlichen Hinweis" habe ich gesagt. Entschuldigung, wenn das etwas unklar war.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 16 des Herrn Abgeordneten Stobbe auf:
Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung weder den Deutschen Bundestag noch die deutsche Öffentlichkeit über das mit verbündeten und befreundeten Staaten vereinbarte Regime zur Kontrolle der Ausfuhr von Raketen und Marschflugkörpern, die als Träger nuklearer Sprengkörper geeignet sind, sowie von Komponenten und Technologien zur Herstellung solcher Träger unterrichtet?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, bei dem Trägertechnologie-Regime, das sich bei seiner Annahme in das geltende Ausfuhrrecht der Bundesrepublik Deutschland problemlos einfügte, handelt es sich nicht um ein internationales Übereinkommen, sondern unter den sieben Regierungen der Länder des Wirtschaftsgipfels abgestimmte Regeln über das Verhalten bei der Kontrolle der Ausfuhr von Trägertechnologie ohne völkerrechtliche Bindungswirkung.
Die Bundesregierung war darauf vorbereitet, den Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages in seiner Sitzung vom 6. Mai 1987 über das Trägertechnologie-Regime zu unterrichten. Zu dieser Unterrichtung kam es jedoch nicht. In der 48. Sitzung des Auswärtigen Ausschusses vom 21. Juni 1989 hat das Auswärtige Amt Fragen nach der Veröffentlichung des Trägertechnologie-Regimes beantwortet.
Entsprechend der im Bereich der Ausfuhrkontrolle üblichen Praxis hat die Bundesregierung den in erster Linie betroffenen Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie e. V. sowie die wichtigsten Firmen und Großforschungseinrichtungen dieser Branche über das Regime unterrichtet.
Herr Staatsminister, wenn aber nun die ganze Welt darüber diskutiert, daß nicht die einschlägigen Firmen die internationalen Sünder sind, sondern Einzelfirmen und oft auch Einzelpersönlichkeiten, was wiederum die Bundesregierung durch die Veränderung der Gesetzeslage auch anerkennt: Wie soll diesen Personen die Haltung der Bundesregierung, wie sie in dem Regime zum Ausdruck kommt, bekannt werden, wenn Sie den Vorgang nicht veröffentlichen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß wir über dieses Abkommen, das zwischen den Sieben geschlossen wurde, informiert haben, ein völkerrechtlich nicht verbindliches, ein Gentleman's Agreement, kann man sagen. Das war bekannt. Es ist uns auch seitens — —
— Ich sage noch einmal: Es ist in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses bekanntgegeben worden. Es ist uns vorher keine Frage danach gestellt worden. Es bestand auch keinerlei Veranlassung, Verpflichtung, ein solches Treffen, eine solche gemeinsame Übereinkunft nun plötzlich öffentlich darzutun. Es gab jedenfalls keinerlei Fragen, es gab keinerlei Hinweise. Und ich darf noch einmal feststellen: Wir haben ja inzwischen informiert. Es ist Ihnen bekannt, und wir stehen für weitere Informationen über diese Frage zur Verfügung.
Aber, Herr Staatsminister, würde es nicht die Position — —
Herr Abgeordneter Stobbe, Sie haben zu dieser Frage schon zwei Zusatzfragen gestellt.
— Doch. Nur, Herr Gansel, es war so, daß ich die zweite Zusatzfrage bei ihm nicht angekündigt habe. Aber er hat sie gestellt.
— Nein, bitte, stellen Sie noch Ihre Frage.
Danke sehr. — Herr Staatsminister, wenn die Bundesregierung ein Gentleman's Agreement, wie Sie das nennen, mit anderen führenden Industrienationen eingeht, dann liegt der Sinn doch
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Stobbedarin, daß sie ihre Industrie zu einem bestimmten Verhalten zwingen will. Ich frage jetzt noch einmal: Wie soll sich sowohl die einschlägige Industrie, der ich ein vernünftiges Verhalten unterstelle, als auch diejenige Industrie, die die Schlupflöcher sucht, um illegalen Rüstungsexport zu betreiben, an Haltungen der Bundesregierung orientieren können, wenn Sie dieses Abkommen nicht veröffentlichen, wie die anderen Staaten es getan haben? Und ich frage auch: Welche Auswirkungen hat das auf mögliche Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich verstehe Ihre Frage jetzt besser. Ich hatte Ihrer ersten Frage zunächst entnommen, daß Sie hier vor allem danach fragen, wie und wann der Deutsche Bundestag informiert worden sei.Was die Wirtschaft betrifft, darf ich darauf hinweisen, daß das zuständige Bundesamt für Wirtschaft über das Trägertechnologie-Regime von Anfang an voll informiert gewesen ist, dies vor allem auch dadurch, daß es — lange vor Inkrafttreten dieser bereits beschriebenen Regelung des Regimes — in die Verhandlungen über die Technische Liste von deutscher Seite voll einbezogen war. Bis auf eine Position der Ausfuhrliste, um die die Ausfuhrliste ergänzt wurde und die auf deutsche Anregung auch von den Partnerstaaten übernommen worden ist, waren alle nach dem Trägertechnologie-Regime zu kontrollierenden Warenpositionen bei dessen Inkrafttreten bereits ausfuhrgenehmigungspflichtig. Das ist also nicht etwas völlig Neues, sondern war — bis auf eine Position — schon vorher ausfuhrgenehmigungspflichtig. Es ist also kein neuer Tatbestand eingetreten. Es bestand und besteht auch kein zusätzlicher außenwirtschaftsrechtlicher Handlungsbedarf.Durch interne Dienstanweisungen ist eine besonders sorgfältige Prüfung der Ausfuhrgenehmigungsanträge sichergestellt. Genehmigungsanträge für die Ausfuhr von Waren in sensitive Länder werden beim Bundeswirtschaftsministerium und beim Auswärtigen Amt vorgelegt. Gegebenenfalls werden andere Ressorts und Experten eingeschaltet. So ist die Praxis. So sind wir bisher verfahren. Dadurch hat sich nichts wesentlich Neues ergeben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Toetemeyer.
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung vorbereitet gewesen sei, am 6. Mai 1987 den Auswärtigen Ausschuß zu informieren, und, wenn ja, was hat sie daran gehindert, ihre Vorbereitung auch zu exekutieren?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Toetemeyer, auch diese Frage habe ich mir heute morgen bei der Vorbereitung der Fragestunde gestellt. Soweit ich jetzt feststellen konnte, lag das nicht an der Bundesregierung, sondern an der Änderung der Tagesordnung des Auswärtigen Ausschusses. Aber ich bitte, das noch einmal nachzuprüfen. Mir ist jedenfalls nur diese Tatsache bekannt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatsminister, warum hat die Bundesregierung den Auswärtigen Ausschuß über dieses Regime zur Kontrolle des Exports von Raketentechnologien erst informiert, als ich darum gebeten habe, und warum haben Sie mir den Text dieses Abkommens vertraulich über die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages zustellen lassen, obwohl andere Regierungen, z. B. die der Vereinigten Staaten, den Text dieses Abkommens in ihren Verordnungsblättern veröffentlicht haben, um die Industrie zu warnen, sich auf solche Geschäfte einzulassen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich war nicht der Absender dieses Schreibens an Sie. Ich kann insofern nicht beurteilen, was diese Vertraulichkeit bedingt hat. Aber ich gehe davon aus, daß durch die Beantwortung der Frage von Herrn Stobbe gerade eben deutlich geworden ist, daß die in Frage kommende deutsche Wirtschaft sehr genau informiert ist.
Ich gehe Ihrer letzten Frage gern noch einmal nach. Das entzieht sich meiner Kenntnis. Weshalb die Bundesregierung erst auf Ihre Frage diese Thematik angesprochen haben soll — auch das kann ich hier nicht beweisen — , entzieht sich genauso meiner Kenntnis. Wahrscheinlich hätte eine früher gestellte Frage schon zu einer früheren Behandlung führen können.
— Ich sage Ihnen noch einmal: Vor zwei Jahren war vorgesehen, den Ausschuß zu informieren. Das wurde von der Tagesordnung abgesetzt.
Sie sehen, Herr Kollege, wir beantworten alle Ihre Fragen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 17 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:
Welche Staaten, und gegebenenfalls auf welcher Ebene, haben bei der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Beteiligung Deutscher an der Giftgasproduktion in Libyen protestiert?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die internationalen Reaktionen auf eine mögliche Beteiligung deutscher Firmen an einer C-Waffen-Produktion in Libyen sind in dem Bericht der Bundesregierung vom 15. Februar 1989 an den Deutschen Bundestag im einzelnen dargelegt worden. Wie aus dem Bericht ersichtlich ist, sind keine Proteste anderer Staaten gegenüber der Bundesregierung erfolgt.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, bedeutet der Umstand, daß wegen der Beteiligung deutscher Firmen an der Giftgasproduktion in Libyen keine Staaten die Beziehungen abgebrochen, keine Staaten Botschafter zurückgerufen oder ähnliche Schritte unternommen haben, die Bundesrepublik in multilateralen Gremien auch nicht verurteilt worden ist und es nun auch keine offiziellen oder inoffiziellen Proteste gege-
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Ganselben hat, daß es zu einer Verurteilung der beteiligten Firmen vor einem ordentlichen Gericht nicht kommen kann, weil die erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik nicht eingetreten ist?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, bei allen Anfragen, die im Zusammenhang mit dieser behaupteten möglichen Beteiligung deutscher Firmen an einer solchen Chemiewaffenproduktion in Rabta von den verschiedensten Staaten an uns gerichtet worden sind, konnten wir darauf verweisen, daß die Bundesregierung oder andere Behörden des Bundes zu keiner Zeit in irgendeiner Weise die libyschen Bemühungen unterstützt oder sensitive Exporte nach Libyen auch nur stillschweigend geduldet hätten.Wir sind der Auffassung, es ist glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt worden, daß die Bundesregierung alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpft, um eine Mitwirkung oder Hilfeleistung deutscher Firmen oder Einzelpersonen an der bzw. zur Herstellung chemischer Waffen in Libyen zu unterbinden. Dem dienen ja auch, Herr Kollege — und ich glaube, darauf sollte man doch in dem Zusammenhang sehr deutlich hinweisen — , die Vorschläge zur Verschärfung der Exportkontrollgesetzgebung, die dem Deutschen Bundestag zur Verabschiedung vorliegen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß Bestrafungen nur nach dem Recht möglich sind, das zur Zeit der Begehung der Straftat gilt, und ist Ihnen bekannt, daß nach den Kriterien eines Rechtsgutachtens des Leiters der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts vom 26. September, das für die Staatsanwaltschaft Kiel in Sachen U-Boot-Geschäft mit Südafrika erstellt worden ist, auch im Fall der Beteiligung deutscher Firmen an der Giftgasproduktion in Libyen eine Verurteilung nach § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes ausgeschlossen ist, weil es an der erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen mangelt?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube nicht, daß man hier Vergleiche zwischen dem Vorgang um die Blaupausen, der in einem Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestags behandelt wird, und diesem Vorgang um Libyen herstellen kann. Die Bundesregierung hat auf die Kritik aus dem Ausland und auch auf Grund der Tatsache, daß offensichtlich eine Verschärfung der Gesetzgebung erforderlich war, das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet. Natürlich ist mir bekannt, daß für Vorgänge, die sich vor Verabschiedung eines Gesetzes ergeben haben, die alten Gesetze gelten. Aber die Tatsache, daß wir auf Grund der Möglichkeit eines Unterlaufens unserer restriktiven Exportpolitik die Gesetze verschärfen, macht doch deutlich, daß wir in Zukunft eben vermeiden wollen, daß so etwas sich wiederholt. Ich kann nur sagen: Wenn Sie jetzt Vergleiche zwischen Südafrika und Libyen ziehen, ist der Fall Libyen, glaube ich, ja ein ganz entscheidender Punkt dafür gewesen, daß die Bundesregierung gesagt hat: Wir müssen die Gesetze verschärfen; wir müssen mehr als in der Vergangenheit tun, weil immer wieder der Versuch gemacht wird, ohne Kenntnis der Bundesregierung Gesetze zu brechen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stobbe.
Herr Staatsminister, wie reagiert die Bundesregierung auf die neuesten Pressemeldungen über eine Beteiligung deutscher Firmen an dem Aufbau einer Raketenfabrik in Libyen, und liegen hierüber auch schon kritische Anmerkungen oder warnende Hinweise anderer Regierungen vor?
Schäfer, Staatsminister: Soweit mir bekannt ist, liegen keine warnenden oder kritischen Hinweise anderer Regierungen vor, sondern wir gehen natürlich auch auf solche Unterstellungen in Presseberichterstattungen ein. Die Bundesregierung prüft diesen Vorwurf, genauso wie sie alle anderen Vorwürfe in diesem Zusammenhang prüft.
Weitere Zusatzfrage. Herr Abgeordneter Penner.
Herr Staatsminister, ist durch den Fall Rabta eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen eingetreten und, wenn, wie hat sich dies materialisiert?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie erinnern sich, daß der ja mehr als ein Jahr zurückliegende Beginn des Falls Rabta damals zu erheblichen Auseinandersetzungen geführt hat, daß aber inzwischen in allen Gesprächen, die wir z. B. mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika geführt haben, ganz klar der Wille der Bundesregierung deutlich gemacht worden ist, alles zu tun, damit sich solche Vorgänge in Zukunft nicht wieder ereignen, und daß, wenn sie sich wieder ereignen, das Strafmaß verschärft wird. Das hat zu einer ganz erheblichen Beruhigung auch im deutsch-amerikanischen Verhältnis geführt. Ich sehe im Augenblick keine außenpolitischen Störungen.
Keine weitere Zusatzfrage.Ich rufe die Frage 19 des Herrn Abgeordneten Toetemeyer auf:Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Südafrika es abgelehnt hat, am Oktoberfest der deutschen Schule in Pretoria teilzunehmen, weil zu diesem Fest auch hohe südafrikanische Polizeioffiziere eingeladen waren, und billigt sie die Abwesenheit des Botschafters?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Bundesregierung ist bekannt, daß der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, sein Vertreter und der Kulturreferent der Botschaft am diesjährigen Oktoberfest der Schule in Pretoria nicht teilgenommen haben. Sie haben damit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt ihre Mißbilligung eines über das unvermeidliche Maß hinausgehenden Zusammenwirkens der Deutschen Schule Pretoria mit der südafrikanischen Polizei zum Ausdruck gebracht, das wir so lange nicht hinnehmen können, wie letztere als Instrument der Apart-
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Staatsminister Schäferheidspolitik der südafrikanischen Regierung eingesetzt wird. Der Botschafter ist angewiesen worden, dem Schulträger diese Einstellung der Bundesregierung in unmißverständlicher Weise klarzumachen und die Schule aufzufordern, sich künftig entsprechend zu verhalten.
Zusatzfrage, bitte.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß der deutsche Botschafter, also Herr Dr. Stabreit, schon beim Oktoberfest des vergangenen Jahres die Anwesenheit von Brigadegenerälen und Generälen der Polizei kritisiert hat, und wie beurteilt die Bundesregierung die Haltung des Schulleiters, der trotz dieser Kritik des deutschen Botschafters den gleichen Personenkreis erneut eingeladen hat?
Schäfer, Staatsminister: Ich kann nur sagen, daß der Botschafter durch sein Fernbleiben beim diesjährigen Oktoberfest sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hat, daß er mit solchen Praktiken nicht einverstanden ist, und er hat sich dabei in absolutem Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt befunden. Wir können den Schulleiter nur immer wieder darauf aufmerksam machen, daß er das entsprechende Fingerspitzengefühl bei Einladungen zu einem sehr großen Fest haben sollte, das nicht nur ein kleines Schulfest, sondern eine Veranstaltung ist, bei der die Schule durch Sammlungen sechsstellige Beträge zu ihrer Unterhaltung bekommt, an dem also Zigtausende beteiligt sind und an dem die südafrikanischen Sicherheitsstreitkräfte auch deshalb teilnehmen, um Ordnung zu gewährleisten. Aber natürlich muß das nicht heißen, daß hier Generäle und höhere Persönlichkeiten bei diesem Oktoberfest erscheinen müssen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, der Bundesregierung ist wie mir bekannt, daß das Gehalt des Schulleiters aus deutschen Steuermitteln gezahlt wird. Wie gedenkt die Bundesregierung, die offensichtliche Mißachtung des Wunsches des Botschafters durch den deutschen Schulleiter zu ahnden?
Schäfer, Staatsminister: Wir haben hier kein Recht zu ahnden. Sie wissen, daß der Schulleiter in einem komplizierten Verfahren bei deutschen Auslandsschulen bestimmt wird, vom Schulvorstand, im Zusammenwirken mit der entsprechenden Behörde in Köln. Ich kann nur davon ausgehen, daß er sich auf Grund des neuerlichen Vorfalls und auch der heutigen Behandlung im Deutschen Bundestag, die man in Pretoria sicher zur Kenntnis nehmen wird, überlegt, wen er zum nächsten Oktoberfest einlädt und wen er nicht einlädt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Duve.
Herr Staatsminister, wir sind uns in der auswärtigen Kulturpolitik alle einig, daß wir nur sehr ungern durch finanzielle Repression Vertreter der deutschen Kulturarbeit an ihre Pflicht erinnern, aber ist es nicht nach Ihrer Meinung in diesem Fall, wo wir auf ein jahrzehnte- oder jahrelanges Gerangel im
Verhalten der Schule zurückblicken, angebracht, diese Fragestellung meines Kollegen Toetemeyer und auch meine der deutschen Schule in einer etwas schärferen Form zur Kenntnis zu bringen, als es bisher der Fall war?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe eigentlich dem, was ich Herrn Kollegen Toetemeyer gerade gesagt habe, nichts mehr hinzuzufügen. Ich meine, ich bin in meiner Antwort sehr deutlich gewesen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack.
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden, daß der Bundesregierung eventuell daran liegt, daß in Zukunft eine Schule, bevor sie einlädt, eine Liste der Einzuladenden erstellt und der Bundesregierung zur Genehmigung vorlegt?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das habe ich nicht so verstanden; so ist es auch nicht. Aber ich glaube, wir müssen auch deutsche Schulleiter im Ausland — wie das aus den Fragen der Kollegen von der SPD deutlich geworden ist — darauf aufmerksam machen, daß sie tatsächlich das rechte Gefühl dafür haben müssen, wen sie alles einladen und ob die Zahl derer, die sie einladen, insbesondere wenn es sich um Polizeistreitkräfte in Südafrika handelt, die natürlich zur Bekämpfung der Apartheid in einem Ausnahmezustand eingesetzt werden, wirklich eine so glückliche Angelegenheit ist, besonders wenn sie in so zahlreicher Weise und mit den höchsten Dienstgraden dort erscheinen.
Ich rufe die Frage 20 des Herrn Abgeordneten Toetemeyer auf:
Stimmt die Bundesregierung mit mir überein, daß die Überreichung eines Schecks an General Jaap Joubert für den Witwen- und Waisen-Fonds der Polizei eine indirekte Subventionierung dieses Fonds darstellt, weil es den deutschen Eltern offensichtlich nicht möglich ist, mehr Geld für die Ausbildung ihrer Kinder aufzubringen, um damit die Subventionierung der Schule durch den deutschen Steuerzahler mit 80 % der Aufwendungen zu verringern?
Schäfer, Staatsminister: Die Übergabe, Herr Kollege, in Höhe von etwa 2 000 Rand — das sind nach der jetzigen Umrechnung etwa 1 000 DM — an General Jaap Joubert für den Witwen- und Waisenfonds der Polizei bedeutet keine indirekte Subventionierung dieses Fonds.
Die Einnahmen der Schule aus Schulfesten laufen, wie an deutschen Auslandsschulen allgemein üblich, außerhalb des zuschußfähigen Jahresetats. Spenden und andere Ausgaben aus diesen Einnahmen haben daher keine Rückwirkung auf den Bundeszuschuß.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, halten Sie es für denkbar, daß man diese 1 000 DM, also 2 000 Rand, dazu hätte benutzen können, um minderbemittelten schwarzen Kindern, die in dieser Schule sind, eine Schulbeihilfe zu zahlen?
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12850 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Schäfer, Staatsminister: Natürlich können Sie eingehende Spenden nach Gutdünken und nach Abwägung und nach Werturteilen verwenden. Die Tatsache, daß diese 1 000 DM, die dort gesammelt wurden, für den Witwen- und Waisenfonds der südafrikanischen Polizei gespendet wurden, veranlaßt mich jetzt nicht zu einem Protest. Ich kann dazu nur sagen: Das ist auch eine Frage, welche Sensibilität an dieser Schule herrscht.Ich weiß ja auch gar nicht — Sie wissen es wahrscheinlich genausowenig wie ich —, wer die Spende in dieser Höhe gegeben hat. Sie wissen, daß an unseren deutschen Auslandsschulen nicht nur deutsche Kinder unterrichtet werden, sondern daß die größte Zahl dieser Kinder beispielsweise in Kapstadt oder Pretoria südafrikanischer Herkunft sind. Von daher ist anzunehmen, daß es sich auch um südafrikanische Spenden gehandelt haben kann.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Würden Sie mir bestätigen, Herr Staatsminister, daß es doch einen Zusammenhang zwischen der Finanzierung dieser Schule mit über 2 Millionen DM im Haushalt 1989 und der Hergabe von in der Schule gesammelten Geldern gibt?
Schäfer, Staatsminister: Natürlich werden Einnahmen, die beispielsweise bei dem vielzitierten Oktoberfest durch Spenden erfolgten, auch zur Finanzierung schulischer Maßnahmen verwendet. Sie wissen, daß die von uns gezahlten Mittel nicht ausreichend sind, um die gesamten Unkosten der Schule zu dekken.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 21 des Herrn Abgeordneten Marschewski auf:
Sieht die Bundesregierung in den Äußerungen des Bundesministers des Auswärtigen vor der UNO, daß „von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft Gebietsansprüche an Polen gestellt würden", keinen Widerspruch zum Deutschlandvertrag, zu den Ostverträgen, den Entscheidungen und Resolutionen des Deutschen Bundestages sowie zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wie ich Ihnen bereits auf Ihre Bleichlautende Frage am 6. Oktober 1989 schriftlich geantwortet habe, kann ich diese Antwort jetzt nur wiederholen. Sie heißt: Nein, die Bundesregierung sieht keinen Widerspruch.
Herr Staatsminister, da Sie diese Frage genauso eindeutig und, wie ich meine, in keiner Weise befriedigend beantwortet haben, bin ich natürlich gehalten, ein paar Zusatzfragen zu stellen.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach Art. IV des Warschauer Vertrags und Art. 4 des Moskauer Vertrags die früher abgeschlossenen beiderseitigen Verträge und Vereinbarungen nicht berührt werden, was natürlich bedeutet, daß das Londoner Übereinkommen von 1944 Gültigkeit hat, in dem die Grenzfrage per 31. Dezember 1937 angesprochen ist, und was bedeutet, daß das Berliner Abkommen von 1945 Gültigkeit hat, wonach jegliche Annexion ausgeschlossen ist, und natürlich Art. 7 des Deutschlandvertrags, wonach alles einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten bleibt? Ist der Bundesregierung bekannt, daß der sowjetische Außenminister damals bei Vertragsabschluß gesagt hat: „Wir haben den Begriff der Anerkennung fallenlassen; das war für uns ein komplizierter und schmerzhafter Prozeß"? Sehen Sie immer noch keinen Widerspruch zur Äußerung des Bundesaußenministers auf Grund dieser eindeutigen Vertrags- und Rechtslage?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Versuch, ständig einen Gegensatz zu den Äußerungen des Bundesaußenministers herstellen zu wollen, die Sie in derselben Form beispielsweise in der Rede des Herrn Bundeskanzlers am 21. Oktober dieses Jahres vor dem Bund der Vertriebenen nachlesen können — ich habe die Rede hier; Sie können sie gern einsehen —, ist ein Versuch, Gegensätze heraufzubeschwören, die so nicht richtig sind. Der Bundesaußenminister hat sich bei all seinen Aussagen auf die geltende Rechtslage bezogen. Er hat aber auch immer wieder — das hat der Herr Bundeskanzler auch getan — Art. 1 Abs. 3 des Warschauer Vertrags zitiert.
Im übrigen sehe ich im Hinblick auch auf die Erklärung des Bundeskanzlers, die er am 11. Juli dieses Jahres vor diesem Hohen Hause abgegeben hat, keinen Gegensatz bezüglich der Rechtslage Deutschlands und der Grundlagen der Außen- und Deutschlandpolitik.
Sie gestatten noch eine Zusatzfrage? — Da Sie auch jetzt nicht auf die rechtliche Subsumtion eingegangen sind, wollte ich Sie fast fragen, ob Sie Psalm 94 Vers 15 kennen, der einfach lautet: Recht muß Recht bleiben. Aber ich will erneut in der Systematik der Verträge bleiben. Sie kennen sicherlich — diese Frage will ich stellen — das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1975. Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts sagt, daß durch die Ostverträge die Gebiete östlich von Oder und Neisse nicht endgültig der Souveränität Polens und der Sowjetunion unterstellt worden sind. Ist Ihnen bekannt, daß Ihr ja sicherlich verwandter Außenminister damals bei Vertragsabschluß auf Nachfrage gesagt hat — ich meine Herrn Scheel — , es sei durch diese Verträge kein Quadratmeter deutschen Bodens verschenkt worden? Sehen Sie immer noch keinen Widerspruch zu den Äußerungen des Außenministers, Herr Staatsminister?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bedaure, daß Sie versuchen, diese Fragestunde dazu zu benutzen, erneut eine Debatte über die deutsche Grenzfrage vom Zaun zu brechen. Ich muß Ihnen sagen: Ich halte es nicht für richtig, wenn hier durch Antworten eines Staatsministers auf solche Fragen, wie Sie sie stellen, eine solche Debatte heraufbeschworen wird. Aber wir können Ihnen ja gerne eine Aktuelle Stunde anbieten.
Ich muß Ihnen auch noch sagen, Herr Kollege, daß es vielleicht gut wäre, wenn wir nicht immer nur unsere Rechtsposition beschwören würden, sondern wenn wir die Möglichkeit, die wir ja natürlich alle als
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12851
Staatsminister SchäferAußenpolitiker, Sie natürlich auch, haben, vielleicht einmal nutzen würden, sich bei Besuchen im westlichen Ausland über die Positionen unserer Verbündeten im Falle eines Friedensvertrages zu informieren.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack.
Herr Staatsminister, ohne daß ich damit eine Debatte auslösen wollte, frage ich Sie: Ist denn die Bundesregierung bereit, anzuerkennen, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Bundesregierung nicht ermächtigt ist, über das Völkerrechtssubjekt Deutschland in den Grenzen des 31. Dezember 1937 zu verfügen, und daß deswegen die Formulierung „von uns Deutschen", wie sie der Bundesaußenminister verwandt hat, zumindest mißverständlich sein muß, und glauben Sie nicht, daß es in einer Zeit, in der wir dabei sind, Grenzen zu überwinden und die Menschen zusammenzubringen, ein politischer Fehler sein kann, den Bestand von Grenzen und ihre Legitimation besonders herauszustellen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Lowack, ich darf ganz klar sagen, daß es vielleicht Deutsche geben mag, die auch in Zukunft Gebietsansprüche an Polen erheben. Es wäre interessant, herauszufinden, wer das ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatsminister, da Sie die Ausführungen des Bundeskanzlers vor dem Bund der Vertriebenen genannt haben: Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß der Herr Bundeskanzler in wesentlich umfassenderer Weise, als Sie es hier tun, betont hat, daß alle staats- und völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich aus dem Grundgesetz, aus unseren Bündnisverträgen und aus den gemeinsamen eindeutigen Willensbekundungen — und nur diesen — des Warschauer Vertrages ergeben, eingehalten werden, und würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß sich der Bundeskanzler auf den gesamten Warschauer Vertrag und nicht selektiv auf einen Satz, der das Ganze verfälscht, ebenso bezogen hat wie auf den Notenwechsel der Bundesregierung mit den Verbündeten zum Warschauer Vertrag, was ja auch zum Vertragswerk gehört und was alles davon ausgeht, daß auch dieser inkriminierte Satz nach den vorherigen Abschnitten voraussetzt, daß man bis zur friedensvertraglichen Regelung vom Stand von 1937 auszugehen hat und darüber hinaus keine gegenseitigen Gebietsansprüche stellt?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie haben eine sehr lange Frage gestellt. Ich habe in einer sehr kurzen Antwort nur zu sagen: Ich habe den Text der Erklärung des Bundeskanzlers vor mir.
Ich hatte darauf verwiesen, daß ich ihn hier nicht verlesen wollte, weil das wohl den Rahmen einer Fragestunde sprengt.
In dem Text wird auch ausführlich zitiert:
In diesem Vertrag bekräftigen die Bundesrepublik Deutschland und Polen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität. Sie erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben wollen .. .
— natürlich im Zusammenhang mit dem gesamten Vertragswerk. Das habe ich ja gar nicht bestritten.
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen zu dieser Frage mehr vor. Damit ist auch der Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes abgeschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wimmer zur Verfügung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Fragen 31 und 32 des Abgeordneten Gerster sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Erler, die Fragen 37 und 38 der Abgeordneten Frau Dr. Götte, die Fragen 39 und 40 des Abgeordneten Horn und die Frage 41 des Abgeordneten Opel werden auf Grund der Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien heute nicht in der Fragestunde beantwortet.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Dr. Kübler auf:
Bei welchen geplanten Baumaßnahmen im militärischen Bereich hat die Bundesregierung auf Grund der Anordnung des Bundesministers der Verteidigung vom 1. September 1988 eine Umweltverträglichkeitsprüfung eingeleitet und gegebenenfalls mit welchen Ergebnissen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, seit dem 1. September 1988 wird bei allen neugeforderten Infrastrukturvorhaben der Bundeswehr die Umwelterheblichkeit der Maßnahme durch die zuständige Wehrbereichsverwaltung nach einem umfassenden Leitfaden — Bezeichnung „Allgemeiner Umdruck Nr. 164 " — geprüft.
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12852 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär WimmerDie Feststellung der Umwelterheblichkeit des Vorhabens erfolgt auf der Grundlage folgender Fragen. 1. Welche umweltrelevanten Aktivitäten bringt die Realisierung des Projekts mit sich? 2. Welche Auswirkungen auf die Umwelt sind mit dem Infrastrukturvorhaben verbunden, und welcher Raum ist betroffen?Auf der Grundlage dieser Prüfung sind folgende 15 Vorhaben als umwelterheblich eingestuft und einer detaillierten Umweltverträglichkeitsprüfung zugeführt worden. Ich darf sie kurz vortragen: Im Wehrbereich I der Flugplatz Kiel-Holtenau, bezogen auf den Neubau eines Feuerlösch-Übungsbeckens; für den Wehrbereich II: Standort Munster: Erweiterung des Entgiftungsplatzes der Wehrwissenschaftlichen Dienststelle der Bundeswehr für ABC-Schutz, Standort Farge-Aschwarden: Neubau einer Pipelinestrecke, Flugplatz Nordholz: Ergänzungsbauten — Schutzbauten und Abstellflächen —; für den Wehrbereich III: Standort Essen-Kupferdreh: Umbau einer Standortschießanlage, Standort Reken: Neubau eines Betriebsstoffdepots; für den Wehrbereich IV: Standort Probbach: Depotneubau, desgleichen im Standort Weitersbach und im Standort Ulmen; im Wehrbereich V: Standort Niederstetten: Neubau eines Hubschrauber-Übungsplatzes, in Stetten am kalten Markt: Sammelplatz für Verwertungsgut, im Standort Neuhausen: Luftfahrzeugwaschhalle, im Standort Bremgarten: Feuerlöschübungsbecken; im Wehrbereich VI: Standort Oberjettenberg: Standortübungsplatz, Standort Neubiberg: Sammelplatz für Verwertungsgut.Nach dem bisherigen Ergebnis sind die Untersuchungen bei den Projekten Luftfahrzeugwaschhalle im Standort Neuhausen, Feuerlöschübungsbecken im Standort Bremgarten und Sammelplatz für Verwertungsgut am Standort Neubiberg mit der Feststellung der Umweltverträglichkeit abgeschlossen worden. Bei den übrigen Standorten dauert die Untersuchung noch an.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, werden die Umweltverträglichkeitsrichtlinien auch für militärische Anlagen der Alliierten in der Bundesrepublik angewendet?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Da sich die Frage nicht unmittelbar hierauf bezog, bin ich gerne bereit, Ihnen eine genaue, präzise Antwort nachzureichen.
Zu dieser Frage noch eine Zusatzfrage? Oder schon die nächste?
Ich habe diese Frage deshalb gestellt, weil es mir hier um das Standortübungsgelände Viernheimer Wald geht, eine Anlage, die den US-Streitkräften zusteht. Ich wiederhole meine Frage, ob die alliierten militärischen Anlagen nicht denselben Spielregeln unterliegen wie die deutschen. Ich erwarte jetzt nur ein Ja oder ein Nein. Sie haben mir gezeigt, daß Sie die Frage im Moment nicht beantworten können.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, jetzt wird die Frage etwas präziser, wenn Sie sich auf einen
bestimmten Standort beziehen, der von den Alliierten genutzt wird. Sie wissen, daß nach der allgemeinen Rechtslage für die Alliierten auf deutschem Territorium das gleiche Recht gilt, das auch wir praktizieren, es sei denn, sie haben einen höheren Rechtsstandard. Das ist der allgemeine Grundsatz. Für den Standort, den Sie angegeben haben, werde ich jedenfalls präzise Ausführungen darüber nachliefern können, wie da der Vereinbarungstatbestand ist.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Kübler auf:
Gibt es interne Anweisungen zur Durchführung dieser Anordnung des Bundesministers der Verteidigung vom 1. September 1988, die die Kriterien und Voraussetzungen für die Einleitung einer Umweltverträglichkeitsprüfung für militärische Baumaßnahmen festlegen, und sind diese für Bundestagsabgeordnete zugänglich?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, wie erwähnt, hat der Bundesminister der Verteidigung einen Leitfaden zur Umweltverträglichkeitsuntersuchung bei Infrastrukturvorhaben der Bundeswehr herausgegeben. Dieses mit wissenschaftlicher Unterstützung erarbeitete Kompendium berücksichtigt die inhaltlichen Vorgaben der Ihnen bekannten EG-Richtlinie für die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten vom 27. Juni 1985 und setzt sie in praktische Arbeitsschritte um. Der Leitfaden gibt dem verantwortlichen Bearbeiter außerdem Kriterien für die Einleitung und Durchführung der Untersuchungen an die Hand. Er ist zusammen mit einem Fallbeispiel als allgemeiner Umdruck, wie soeben genannt: Nr. 164, an die Fachdienststellen verteilt worden. Die Bibliothek des Deutschen Bundestages verfügt über zwei Exemplare.
Zusatzfrage.
Hierzu keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 42 des Herrn Abgeordneten Reuter auf:
Welche Forschungsmittel hat die Firma C. seither für die Entwicklung und Erprobung eines Sicherheitsreifens, CTS , für gepanzerte und ungepanzerte Radfahrzeuge erhalten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reuter, für ein Rad eines gepanzerten Experimentalfahrzeuges —Vorphase: Kampfwagen 90 — werden Musterräder auf der Basis des CTS entwickelt. Die Systemeignung des CTS wurde getestet und positiv beantwortet. Damit ist natürlich noch kein serienreifes Produkt entwickelt. Aus dem Forschungs- und Technologieprogramm hat die Firma Continental von 1985 bis 1988 3,2 Millionen DM erhalten.
Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, wie kann es denn sein, daß in einschlägigen Dokumenten nachgewiesen wird, daß die Firma Continental 20 Millionen DM Forschungsmittel erhalten habe? Wäre das mit einem fairen Wettbewerb mit anderen Anbietern noch im Einklang?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12853
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Nach den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen hat die von Ihnen genannte Firma den auch von mir angegebenen Betrag erhalten. Andere Dinge stehen mir im Augenblick nicht zur Verfügung. Wenn Sie dazu Unterlagen haben, die Sie mir zur Verfügung stellen können, nehme ich sie gerne entgegen und stehe zum Gespräch zur Verfügung.
Keine weitere Zusatzfrage zu dieser Frage? — Nein.
Dann rufe ich die Frage 43 des Herrn Abgeordneten Reuter auf:
Ist beabsichtigt, dieser Firma weitere Forschungsmittel zur Entwicklung entsprechender Reifen bereitzustellen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Zur Nachbeschaffung von CTS-Reifen auf dem bisherigen Entwicklungsstand sind geringe Forschungsmittel eingeplant. Eine aus technischer und taktischer Sicht durchaus sinnvolle Weiterentwicklung bis zur Serienreife ist auf Grund der Prioritätensetzung im Entwicklungshaushalt derzeit nicht finanzierbar.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, dazu möchte ich Sie folgendes fragen: Nach einer mir vorliegenden Dokumentation heißt es: Conti drängt das Bundeswehrbeschaffungsamt für den DB-Geländewagenauftrag im Wege einer politischen Entscheidung für Conti und Uniroyal als einzige Lieferanten. Sind Ihnen diese Forderungen bekannt? Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um das abzuwehren?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mir sind diese Forderungen nicht bekannt. Aber ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang nur das anbieten, was ich soeben schon gesagt habe: Wenn Ihnen dazu Unterlagen vorliegen, sind wir gerne bereit, darüber Gespräche zu führen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit ist die Fragestunde abgeschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Der Friedensauftrag der Bundeswehr
Die Fraktion der CDU/CSU hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was verdanken wir der Bundeswehr? Wir haben mit der Bundesrepublik Deutschland den freiesten und stabilsten Staat aufbauen können, den es je auf deutschem Boden gegeben hat. Dem liegen zwei Hauptentscheidungen zugrunde, die schon zu Beginn der Republik von Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und uns durchgesetzt wurden: die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft und die Entscheidung für den Westen, d. h. für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.Ein unentbehrlicher Bestandteil dieser Entscheidung für den Westen war die Aufstellung deutscher Streitkräfte. Ohne die Bundeswehr, die heute dasstärkste nichtatomare Kontingent der NATO in Europa ist, wäre die Vorherrschaft der Weltmacht Sowjetunion über Westeuropa nicht verhindert worden. Ohne die Bundeswehr könnten wir jetzt nicht auf gesicherter Grundlage mit den Staaten Ost- und Mitteleuropas zusammenarbeiten, die nun ihre Misere, hervorgerufen durch ihr kommunistisches System, mit unserer Hilfe überwinden wollen. Deshalb sage ich: Bundeswehr und Allianz haben zur Wohlfahrt dieses Landes nicht weniger beigetragen als Wissenschaft und Wirtschaft, als Technik und Industrie, als Kultur und Politik.
Es ist zutiefst bedauerlich, daß ein Arzt, der die Soldaten pauschal als potentielle Mörder bezeichnet hat, und die Kammer eines Landgerichts, die diesen Arzt freigesprochen hat, das offenbar nicht begriffen haben. Wir müssen den jungen Soldaten sagen: Auch in der Demokratie gibt es Justizirrtümer.
Auch deshalb haben wir die Todesstrafe abgeschafft. Auch in der Demokratie gibt es skandalöse Gerichtsurteile.
Mord, das ist Tötung aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und grausam. Es ist das schwerste Verbrechen, das unsere Rechtsordnung kennt. Wer die Soldaten pauschal als potentielle Mörder bezeichnet, stempelt sie zu Kriminellen, grenzt sie aus, trifft sie in ihrem moralischen Kern. Er diskriminiert mit unserer Wehrpflichtarmee nahezu alle jungen Männer unseres Volkes. Er beleidigt die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die nach Krieg und Hitler eine vorbildliche demokratische Verfassung geschaffen haben. Er verunglimpft den Deutschen Bundestag, das frei gewählte Parlament des deutschen Volkes, und die von ihm eingesetzte demokratische Regierung, unter deren Befehl ja die Bundeswehr ihren Dienst leistet.
Der Auftrag der Bundeswehr ist es nicht, zu morden, das niemals und unter keinen Umständen! Ihr Auftrag ist es auch nicht, einen Krieg zu beginnen. Ihr einziger Auftrag ist es, einen potentiellen Angreifer vom Krieg abzuhalten. Diese Aufgabe hat die Bundeswehr vorbildlich und wirksam erfüllt. Dafür danke ich unseren Soldaten.
Die Bundeswehr ist und bleibt ein unentbehrliches Instrument unserer Friedenspolitik.Ich hoffe, daß gegen das schlimme Fehlurteil von Frankfurt Revision eingelegt wird und daß diese Erfolg hat. Aber damit ist der Schaden nicht ausgeräumt, zumal es nicht das erste Urteil dieser Art ist. Solche Fehlurteile erinnern mich an Urteile, die zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen haben.
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12854 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. DreggerDas darf sich nicht wiederholen, meine Damen und Herren!
Deshalb habe ich die Arbeitsgruppe Rechtspolitik der Fraktion beauftragt, zu prüfen, ob eine Gesetzesänderung notwendig ist, die sicherstellt, daß unsere Soldaten und unser Staat vor solchen törichten, niederträchtigen und pauschalen Beleidigungen wirksam geschützt werden. Ich halte das für wichtig auch im Interesse des inneren Friedens unseres Landes.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hat einmal gesagt, eine irrige Meinung könne da geduldet werden, wo die Vernunft frei sei, sie zu bekämpfen. Ich glaube, das sollten wir auch heute bei unserer Diskussion zum Motto der Auseinandersetzung im Bundestag machen.Das Landgericht Frankfurt hatte nicht über den Wahrheitsgehalt der Aussage des Beklagten zu befinden.
Der Urteilsspruch enthält auch keine Billigung dieser verleumderischen Aussage.
Die Verleumdungen dieses Arztes sind übrigens Ausdruck der Verwilderung der Sprache in der politischen Auseinandersetzung, und hier können sich auch die Politiker nicht ganz freisprechen;
denn dazu beigetragen haben wir alle, besonders auch jene, die die Pazifisten der Weimarer Republik für Auschwitz verantwortlich gemacht haben.
Die SPD weist deshalb in voller Schärfe die unanständige Beleidigung der Soldaten durch den beklagten Arzt zurück. Wir stimmen aber auch nicht in den Chor derer ein, die mit unterstellenden und zum Teil verleumderischen Aussagen die verantwortlichen Richter des Landgerichts Frankfurt angreifen, wie dies heute aus einer großen Tageszeitung zu entnehmen ist.
Die Auseinandersetzungen sollten nicht mit juristischen Maßnahmen, sondern mit politischen Argumenten geführt werden. Deshalb halte ich es für bedenklich, in der Abwägung des Rechtsgutes der freien Meinungsäußerung und des Ehrenschutzes eine Änderung des Strafrechtes anzustreben.
Insofern ist die gestrige Entschließung des Verteidigungsausschusses nicht richtig.
Ein anderer Gedankengang erscheint mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig: Adolf Arndt hat im Zusammenhang mit der Synagogenschmiererei Anfang der 50er Jahre in Köln davor gewarnt, einen strafrechtlichen Schutzraum für gesellschaftliche Gruppen und staatliche Institutionen zu schaffen. Positives Ausnahmerecht — so führte Adolf Arndt aus — wirke sich in unserer Gesellschaft im Ergebnis immer negativ gegenüber den Betroffenen aus. Hier stellt sich die Frage nach einem angemessenen Selbstbewußtsein der Politiker, diese Diskussion argumentativ zu bestehen; alles andere wäre ein Armutszeugnis für uns.Der Primat der Politik ist unbestritten. Die Soldaten erfüllen einen Verfassungsauftrag.
Deshalb müssen sie vor kränkenden und ehrabschneidenden Aussagen geschützt werden.
Die Politiker haben ihnen den Auftrag erteilt, und damit tragen sie die Verantwortung. Ich glaube, darin stimmen wir völlig überein.Die heutige Debatte sollte deshalb über diese Diskussion der zu Recht kritisierten Aussage und des Gerichtsurteils hinaus Anlaß geben, daß wir als Politiker über die Auftragsgestaltung der Bundeswehr nachdenken, daß wir als Politiker unsere Bemühungen um die Fortsetzung des Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozesses intensivieren, daß wir aber auch zugleich auf der Grundlage der Beiderseitigkeit, der Gleichzeitigkeit und der Gleichwertigkeit in Ost und in West eine Änderung der bestehenden Doktrinen und Strategien vornehmen.Erstens. In einem demokratischen Staat sind Militärdoktrinen und Strategien so auszugestalten, daß sie auf einer breiten Akzeptanz der Bevölkerung beruhen.Zweitens. Die Politiker haben einen Auftrag zu erteilen, bei dem unsere Soldaten frei sind vom Zweifel an der Möglichkeit seiner Erfüllung.Dies betrifft wesentliche Elemente unserer Strategie, z. B. den Vorbehalt zum Ersteinsatz von Atomwaffen und auch das Zögern der Bundesregierung, das Genfer Zusatzprotokoll zu unterzeichnen, das den unterschiedslosen Einsatz von Massenvernichtungsmitteln verbietet.
Notwendig ist darüber hinaus, in Ausbildung und Praxis die Rolle und das Bild der Streitkräfte neu zu bestimmen. Gesellschaft und Bundeswehr dürfen nicht dahin gehend auseinanderfallen, daß den einen das Kriegshandwerk zugeordnet wird und daß die anderen für sich die Friedenserhaltung reklamieren.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12855
HornAuf der Grundlage des Harmel-Berichts, aber ihn fortschreibend und darüber hinausgehend, hat die Bundeswehr die Aufgabe, weiterhin die Herstellung hinlänglicher Verteidigungsfähigkeit zu sichern. Darüber hinaus wächst den Soldaten eine neue, zusätzliche Aufgabe, die aktive Friedensgestaltung im Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozeß, zu. Soldaten führen schon heute den Auftrag vertrauensbildender Maßnahmen zwischen den beiden Bündnissystemen entsprechend der Schlußakte von Helsinki bei Manöverbeobachtungen aus. Neue Aufgaben, das wissen wir, wachsen ihnen in den Kontrollen, den Inspektionen und den Verifikationen zu.
Herr Abgeordneter Horn — —
Vielen Dank. — Als Sozialdemokraten werden wir unsere ganze politische Kraft daransetzen, diese Aufgaben zu verwirklichen. Das dient dem Staat, das dient unserer Gesellschaft und nicht zuletzt auch unserer Bundeswehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Auseinandersetzung in diesem Haus und von diesem Platz mit einer Entscheidung der Judikative auf Landgerichtsebene ist zweifellos ungewöhnlich.
— Aber der Anlaß gebietet es, Herr Lippelt.Nach dem Urteil, das wir hier besprechen, ist die öffentliche Behauptung, jeder Soldat sei „potentieller Mörder" , und: „Bei der Bundeswehr gibt es einen Drill zum Morden über 15 Monate lang, besonders in den ersten drei Monaten" strafrechtlich nicht zu beanstanden.In der Bundeswehr dienen 490 000 Soldaten, und jeder einzelne muß sich betroffen fühlen. Die Soldaten haben Familien, Kinder, Väter, Mütter. Etwa 6 Millionen unserer Mitbürger haben bisher als Soldaten der Bundeswehr gedient.In Art. 1 unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Aber die Würde und die Ehre jedes einzelnen Soldaten der Bundeswehr ist zutiefst mißachtet mit der Bezeichnung „potentieller Mörder".
Die Bezeichnung „Mörder" gehört nach dem Kultur-, Sitten- und Moralverständnis fast des ganzen Erdkreises zum Schlimmsten, was man über einen Menschen sagen kann.Der Soldat schwört als Freiwilliger oder gelobt als Wehrpflichtiger, der Bundesrepublik treu zu dienenund das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Was geht in einem Soldaten wohl vor, den unsere Rechtsordnung nicht davor schützt, mit der schlimmsten Bezeichnung, die die Zivilisation kennt, belegt zu werden?
Der Auftrag der Bundeswehr hat Verfassungsrang. Unser Grundgesetz bindet die Politik und den Soldaten der Bundeswehr an den Frieden. Wir, meine Damen und Herren, der Gesetzgeber, haben den politischen Auftrag zur militärischen Friedenssicherung unter den gegebenen weltpolitischen Rahmenbedingungen erteilt, Herr Horn.
— Ja, dann muß man nicht so darum herumreden, Herr Horn.
Ich bekenne mich für die FDP zum friedenssichernden Auftrag der Bundeswehr. Es ist eine Perversion, ausgerechnet die Angehörigen d e r Streitkräfte zu diffamieren, die mehr als je zuvor in unserer Geschichte dem Frieden verpflichtet sind.
Wir diskutieren doch darüber, ob wir sie zu friedenssichernden Einsätzen der UNO losschicken können, und das sollen „potentielle Mörder" sein? Das soll erlaubt sein?
Wer wollte bestreiten, meine Damen und Herren, daß im Laufe der Geschichte auch Soldaten Unrecht getan haben? Das gleiche gilt für Richter, Ärzte, Polizisten, Politiker, für viele andere Gruppen. — Auch für Architekten, Herr Conradi.
Jeder Mensch würde es sich zu Recht verbitten, pauschal als „potentieller Täter" bezeichnet werden zu dürfen, weil historisch oder gegenwärtig irgendwo ein Angehöriger desselben Standes oder derselben Berufsgruppe Unrecht begangen hat oder begeht. Meine Damen und Herren, ich weiß, es sind fast unerträgliche Beispiele, die ich nenne: Was würden die Richter am Landgericht Frankfurt sagen, wenn man sie mit Urteilssprüchen der Richter am Volksgerichtshof in einen Topf werfen würde?
Was würde ein Arzt, dem Heilen und Helfen verpflichtet, sagen, wenn man ihn in einen Zusammenhang mit Menschenexperimenten brächte? Ich habe solche — ich sage es noch einmal — nahezu unerträglichen Beispiele genommen, um die Unerträglichkeit der
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12856 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. Graf LambsdorffAussage über die Soldaten der Bundeswehr ganz deutlich zu machen.
Wir reden nicht von dem Vorwurf der Rechtsbeugung, und wir distanzieren uns mit aller Eindeutigkeit von den heute bekanntgewordenen persönlichen Angriffen auf den Richter, der ein solches Urteil unterzeichnet hat,
damit da kein Mißverständnis besteht. Aber, meine Damen und Herren, nach diesem Urteil ist eine solche Beleidigung der Angehörigen eines Verfassungsinstruments derzeit möglich, und das erinnert in der Tat in fataler Weise an Parallelen aus der Weimarer Zeit.
Sie scheiterte unter anderem auch daran, daß sie zu schwach zum Schutz der eigenen Institutionen war.
Der Reichspräsident wurde mit den übelsten Schmähungen und Beleidigungen belegt; vom „gemeinen Lumpen" bis zum „Mörder" war alles dabei. Die Beleidigung war billig: Sie kostete 750 RM für einen Studenten, der Ebert den „größten Lumpen in Deutschland" genannt hatte.
Wir wissen alle, wo das endete.
Unsere Bundesrepublik ist nicht in derselben Gefahr wie Weimar, aber wegen des inneren Friedens in unserem Land, der Ehre und Würde unserer Mitbürger, die in unserem Auftrag ihren Dienst tun, übe ich namens der FDP und ihrer Bundestagsfraktion harte Kritik an diesem Urteil. Die FDP stellt sich vor die Bundeswehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Knabe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde könnte eine Weltzeitsekunde der ewig währenden Menschheitsdebatte über Krieg und Frieden sein, der Debatte über Recht und Unrecht der Staaten und ihrer Soldaten zu töten. Wer in diese Debatte einsteigt, bleibt nicht unbeschädigt. Da hallen Anwürfe wie „Mörder" oder „Vaterlandsverräter" hin und her oder gar Morddrohungen wie gegen Richter und Anwälte in Frankfurt. 1988 hat es sogar einen Brandanschlag gegeben. Die heutige „FR" sagt: „Blanker Haß auf Richter ... "Aber wer diese Debatte durch die Justiz eingrenzen will, mißbraucht das Recht und wird den Ängsten undHoffnungen der Menschen, auch der betroffenen Soldaten, nicht gerecht. Auch durch meine Generation, die im letzten Krieg oft Täter und Opfer zugleich war, geht dieser Riß: Die einen sind stolz auf ihre Orden, die anderen tragen noch heute schwer daran. Aber alle haben den Schrecken des Krieges erlebt.Ich bin als Soldat durch die zerschossenen Ruinen von Dünkirchen gegangen — zwei Jahre nach der Zerstörung —, und ich habe mit eigenen Augen das brennende Dresden mit den Tausenden von Leichen gesehen. Aber ich habe mich nicht als Mörder gefühlt, und ich bin damals nicht desertiert. Aber im Rückblick erkenne ich heute sehr klar, daß Armeen als Mordmaschinen eingesetzt werden können. Die Soldaten werden auf ihren winzigen Anteil in dieser Maschinerie abgerichtet,
sie werden ausgebildet zum Töten, sie erhalten Waffen zum Töten, und der Staat erwartet, ja befiehlt, daß sie im Ernstfall diese Waffen auch einsetzen. Das Gericht zitiert hierzu den Angeklagten:Im Kriege müßten Menschen als Soldaten etwas tun, das für sie im „normalen" Leben völlig undenkbar sei, nämlich andere Menschen — unter Umständen in Massen — zu töten. Das sei in jeder Armee so, da gebe es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen US-Armee, Roter Armee, Volksarmee oder Bundeswehr.Das deckt sich mit meiner Erfahrung. Aber einen Unterschied gibt es natürlich: Unsere Armee hat einen Verteidigungsauftrag. Aber sie hat Waffen, um viel, viel, viel mehr Unheil anzurichten als die damalige Wehrmacht es konnte.Jetzt steckt die Bundeswehr in einer tiefen Sinnkrise und mit ihr die bewaffnete Verteidigung; denn immer weniger Menschen sehen im Osten eine Bedrohung, immer mehr Jugendliche wollen nicht mehr töten lernen. Sie wissen, militärische Verteidigung würde das eigene Land zerstören.
In diese Sinnkrise fällt ein Urteil, das Meinungsfreiheit höher stellt als eine empfundene Beleidigung. Es knüpft an den Freispruch für Carl von Ossietzky im Jahre 1932 an, der Soldaten als Mörder bezeichnete.
Aber Kanzler und Bundesregierung finden dieses Urteil unerträglich. Und hier stehen Abgeordnete auf und rufen nach einem Entschließungsantrag im Verteidigungsausschuß. Soll denn ein Stück Papier den reißenden Fluß dieser Menschheitsdebatte aufhalten? Ist das nicht eine lächerliche Anmaßung?
Es ist mehr.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12857
Dr. KnabeEs geht um die Richtung der künftigen Gesellschaft, darum, inwieweit sie eine durch und durch zivile Gesellschaft wird.Viele Soldaten fühlen sich durch das mißverstandene Urteil betroffen. Ich respektiere ihre Gefühle. Gestern habe ich noch mit Offizieren gesprochen, stundenlang. Soldaten sind keine Mörder aus niederen Beweggründen, sondern sie erfüllen ihre Wehrpflicht. Aber jeder Soldat sollte wissen, daß ohne ihn die Ausführung des Massenmordes im Kriege unmöglich wäre.Doch nicht nur Soldaten, sondern auch Kriegsdienstverweigerer sind betroffen. Sie wollen diese Rolle im Kriege nicht mitspielen. Sie dürfen laut Grundgesetz nicht gegen ihr Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Um aber anerkannt zu werden, müssen sie dies belegen und sagen: Für mich ist das Töten von Menschen ein Verbrechen, ist Mord. Ich kann da aus Gewissensgründen nicht mitmachen. — Dieser Begründung der Kriegsdienstverweigerung soll mit der Entschließung, die in Vorbereitung ist, die Grundlage entzogen werden — mit der Aufhebung des Urteils. Nein, das wollen die GRÜNEN nicht. Wir lehnen diese Entschließung des Verteidigungsausschusses ab.Wer will, daß Soldaten nie mehr als potentielle Mörder bezeichnet werden, darf keine Gerichte bemühen, aber auch nicht beim individuellen Ausweg der Kriegsdienstverweigerung stehenbleiben. Er muß die militärische Verteidigung insgesamt in Frage stellen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Grundgesetz stellt die Achtung und den Schutz der Würde des Menschen in den Mittelpunkt alles staatlichen Wirkens. Es erklärt die unveräußerlichen Menschenrechte zur Grundlage unserer stattlichen Gemeinschaft, zur Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden für unser Land, auch zum Maßstab für die Beziehungen zu anderen Völkern.Der Staat trägt die Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürger. Auch das ist eine klare Aussage unserer Verfassung. Er hat die erforderlichen Mittel bereitzuhalten, uns Frieden und Freiheit zu bewahren. Darauf haben die Bürger Anspruch. Das Grundgesetz will im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen eine wehrhafte Demokratie, einen Staat, der die Menschenwürde seiner Bürger nach innen und außen auch tatsächlich zu schützen vermag.Diesem Verfassungsgebot folgend stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf, und nur zur Verteidigung. Denn das Grundgesetz verbietet ausdrücklich die Vorbereitung eines Angriffskrieges. Deshalb hat die Bundeswehr eine besondere Aufgabe für unseren freiheitlich- demokratischen Rechtsstaat, eine andere Aufgabe als frühere Armeen in Deutschland. Alle vorangegangenen Armeen waren vor allem dazu vorgesehen, auch selbst Kriege zu führen. Die Bundeswehr ist die erste Wehrpflichtarmee in einer deutschen Demokratie. Sie bezieht ihre politische Begründung und sittliche Rechtfertigung aus der Aufgabe, Krieg zu verhüten und Frieden und Freiheit zu erhalten.
Deshalb, Herr Kollege Knabe, ist bei allem Respekt vor Ihren persönlichen Erfahrungen jede Analogie zur Zeit des Nationalsozialismus und dem damaligen Mißbrauch der Streitkräfte vollkommen unangebracht.
Die Bundeswehr ist Teil unserer Sicherheitspolitik, in der die Fähigkeit zur Verteidigung die Voraussetzung für eine Politik des Ausgleichs und der Entspannung ist. Unsere Streitkräfte sind Garant für den friedlichen Aufbau und Erhalt unserer freiheitlich-demokratischen und sozialen Gesellschaftsordnung. Wir leben in der längsten Friedensperiode unserer jüngeren Geschichte. Dazu hat die gesicherte Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, dazu haben unsere Soldaten einen entscheidenden Beitrag geleistet.
Wir sollten uns auch angesichts der Erschütterung über dieses Urteil und der zugrunde liegenden Aussagen in solchen Grundsätzen über die Parteien hinweg hier eigentlich einig sein. In den letzten Tagen haben zahllose Menschen den Soldaten Anerkennung, Respekt und Solidarität bekundet. Ich weiß aus der Briefflut, die uns im Verteidigungsministerium jetzt täglich erreicht, aus vielen öffentlichen Bekundungen von Empörung und Unverständnis über das Urteil des Landgerichts Frankfurt, daß sich eine große Mehrheit unseres Volkes sehr wohl darin einig weiß, wem sie zuletzt Frieden und Freiheit verdankt.
Besonders eindrucksvoll sind die Briefe von Eltern junger Wehrpflichtiger. Wer zu Recht beklagt, wenn Richter in massiver Form bedroht werden, der muß genauso, mit derselben Deutlichkeit, ja, schon zuvor sagen, daß hier Soldaten etwas zugemutet wird, was vollkommen unannehmbar ist, auch für ihre Angehörigen.
Gerade die Eltern, die alten Menschen haben zumgroßen Teil noch Erfahrungen aus der Zeit vor 1945.Wenn auch richtig ist, daß das Bedrohungsgefühl nachläßt: Eine jüngste Emnid-Befragung zeigt deutlich, wie die meisten Menschen denken. 78 % unserer Mitbürger halten den Wehrdienst in der Bundeswehr für eine wichtige staatsbürgerliche Pflicht.
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12858 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Bundesminister Dr. Stoltenberg88 % lehnen die Aussage, Bundeswehrsoldaten seien potentielle Mörder, ab. Das zeigt, daß es im Grundsatz einen viel weitergehenden Konsens gibt, als es manchmal sichtbar wird.Ich danke ausdrücklich dem Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages, der gestern unter dem Vorsitz des Kollegen Biehle
mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP eine eindeutige Entschließung verabschiedet hat. Herr Kollege Horn, Sie haben heute einige Akzente anders gesetzt, als in dieser Entschließung ausgesprochen wurde.
— Ich will das vornehm formulieren. — Das zeigt doch, daß es Klärungsbedarf auch innerhalb der Sozialdemokratischen Partei darüber gibt, wie Sie sich weiter verhalten wollen.
Ich danke Parteien und Verbänden für klare Stellungnahmen. Diese überwiegende Solidarisierung mit unseren Soldaten auch in der weit überwiegenden Zahl der öffentlichen Kommentare ist ermutigend, und sie wird sich hoffentlich auch im Alltag der Diskussion wiederfinden, wenn es darum geht, den Soldaten vor Ort bei der Erfüllung ihres Auftrages zu helfen.Der leichtfertige Umgang mit dem Wort „Terror" war bereits vor kurzem Gegenstand der Debatte in diesem Hause. Ich erinnere daran. Hier im Deutschen Bundestag ist in einer Aktuellen Stunde jetzt nicht der Platz für eine eingehende Analyse des Urteils. Wir warten die schriftliche Begründung ab. Dennoch will ich klarstellen: Wir haben gegen das Urteil inzwischen fristgerecht Revision eingelegt.
Wir wollen alle rechtlichen Mittel nutzen, erforderlichenfalls auch durch einen Vorschlag zur Gesetzesänderung, Freisprüche dieser Art für derartige Provokationen, für derartige Anschläge gegen den inneren Frieden unseres Landes zu verhindern.
Dies können Regierung und Parlament eines Rechtsstaats nicht hinnehmen. Wer vorbildlich unserer Gemeinschaft dient, die jedem ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, hat einen Anspruch darauf, daß auch seine Menschenwürde geachtet wird, notfalls durch staatlichen Schutz.Ich hoffe auf Unterstützung des Hohen Hauses für unsere Soldaten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So wie hier die Soldaten der Bundeswehr vom Bundesverteidigungsminister verteidigt werden,müssen wir uns auch überlegen, in welcher Form Richter in Schutz genommen werden, die in den letzten Tagen in unglaublicher Weise beschimpft wurden; ihre Familien werden angegriffen usw.In einem Gespräch mit AP, so berichtet die „FR" am 21. Oktober, hat Dieter Wellershoff, Generalinspekteur der Bundeswehr, wörtlich gesagt:Wenn der Staat Soldaten einen Auftrag gibt, hat er auch dafür zu sorgen, daß sie nicht — durch ein deutsches Gericht — ungestraft beschimpft werden dürfen.
Damit hat der höchste Soldat der Bundesrepublik auf das Urteil bewußt mit einer Unwahrheit reagiert.
Das Gericht hat die Soldaten nicht beschimpft,
sondern es hat festgestellt, daß es einen Bürger für eine bestimmte Meinung nicht strafrechtlich verfolgen kann, und das Gericht hat sich ausdrücklich von dessen Meinung distanziert.
Wellershoff hat hier das Herzstück unserer Rechtskultur verletzt. Wer jemanden verteidigt oder über jemanden richtet, darf mit den Taten, um die es geht, nicht gleichgesetzt werden. Das ist das Herzstück unserer Rechtskultur.
Der populistische Angriff auf unsere freiheitliche Rechtskultur setzt immer hier an: Es wird versucht, einen Schmierfilm der Unklarheit über einen schwierigen Tatbestand zu reiben, der es dann erlaubt, kollektive Empörung zu schüren.
Der Populismus, meine lieben Kollegen, ist eine gefährliche Mechanik.
Ich möchte mich daher ausdrücklich bei all jenen Kommentatoren bedanken, die sorgfältig und verantwortungsvoll mit diesem kostbarsten Schatz und der zugleich verwundbarsten Stelle unserer Demokratie umgegangen sind. Hier, Herr Generalinspekteur, wäre Ihre Aufgabe gewesen, den Soldaten diese Schwierigkeit auch der Gerichte klarzumachen.Junge Menschen, die zu Zehntausenden in der DDR demonstrieren oder zu uns ausreisen, sind vor einem Jahr in der DDR vom Staat angegriffen worden, weil sie den Rosa-Luxemburg-Satz „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden" dort einklagen wollten. Die zunehmend wachsende Zahl der Bürger in der DDR, die ihren Staat verändern wollen, strebt eine Republik an, in der genau dieser Satz Rechtsgültigkeit bekommt. Sie kehren dem SED-Staat den Rücken zu, weil sie auch das Recht haben wollen, den Staat und
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12859
DuveStaatspersonen zu beschimpfen, ohne ins Gefängnis zu kommen, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden.
Und nur darum ging es den Frankfurter Richtern. Sie konnten die Äußerung des Arztes strafrechtlich nicht ahnden. Herr Graf Lambsdorff, es wäre gut gewesen, wenn Sie als Liberaler auf diese Tatbestände hingewiesen hätten.
Die Wellershoffsche Verdrehung ist von Journalisten in der vergangenen Woche leider dutzendfach wiederholt worden. Die „Bild"-Zeitung hat das Urteil gar völlig umgedreht und in einer Überschrift daraus die Tatsachenfeststellung abgeleitet: „Soldaten sind Mörder! sagt das Gericht."Für das immer verletzliche Gewebe der aufklärerischen Rechtskultur und der Grundrechte tragen auch die Zeitungen in unserem Lande Verantwortung.
Wer wie Manfred Geist in der „Welt am Sonntag" gegen das „abartige Urteil" den „gesunden Menschenverstand" ins Feld führt, hat von den Leiden, Opfern und Kämpfen nichts begriffen, die über Jahrhunderte um unsere Rechtskultur erlitten und ausgefochten wurden,
bis sie den jetzigen Verfassungsrang erreicht hat.
Diejenigen Bürger, die die Uniform der Bundeswehr tragen, sind keine potentiellen Mörder.
Ihr Auftrag ist, uns vor äußeren Feinden zu schützen, die unser Verfassungs- und Rechtssystem und unsere Art, zu leben, angreifen oder zu zerstören drohen. Den inneren Schutz dieser öffentlichen demokratischen Kultur müssen wir selbst leisten. Ich bitte auch die Kollegen der Union — auch Sie, Herr Dr. Dregger —, ihre Position noch einmal zu überdenken und sich nicht daran zu beteiligen, eine kollektive Wut zu organisieren,
wo es um den Schutz unserer gemeinsamen inneren Rechtssubstanz geht.
Diesen Schutz sollten auch Sie zu Ihrer Sache machen! Gegen Gegner von außen schützt uns die Bundeswehr und soll uns die Bundeswehr schützen. Gegen leichtfertigen oder gar fahrlässigen Umgang mitdem innersten Kern unserer Verfassung bei uns zu Hause können nur wir selbst uns schützen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Biehle.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe heute morgen bei der Jahresversammlung des Bundeswehrverbandes eine Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Vogel gehört.
Es gab für seine Ausführungen überwiegend Beifall. Hier klingt das, was gesagt worden ist, völlig anders.
Ich bedaure sehr, daß das, was gestern — ohne die GRÜNEN — im Verteidigungsausschuß einstimmig beschlossen worden ist, nach 24 Stunden nicht mehr ganz Gültigkeit haben soll.Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr Generalinspekteur, daß Sie sich vor Ihre Soldaten gestellt, sie in Schutz genommen und sie nicht alleingelassen haben.
Die Bundeswehr besteht seit 34 Jahren. Sie hat in dieser Zeit einen wesentlichen Beitrag, wie ich meine, dazu geleistet, daß der Frieden für uns gewahrt bleibt, daß wir in Freiheit leben und politischem Druck widerstehen konnten. Die Bundeswehr hat in unserem Lande seit Adenauer die Friedenspolitik ermöglicht, die auf der Grundlage glaubhafter Verteidigungsfähigkeit und fester Verankerung im westlichen Bündnis und in den Europäischen Gemeinschaften Dialog und Ausgleich mit dem Osten sucht. Die Bewährung, aber auch die Notwendigkeit der Bundeswehr und des Bündnisses spiegelt sich in der Tatsache wider, daß wir im 44. Friedensjahr sind. Das ist die längste Friedensperiode, die wir in der jüngsten Geschichte Europas erleben, eine Rekordleistung, während überall sonst in der Welt über 150 Kriege mit 30 Millionen Toten stattgefunden haben. Dies ist die Realität!
Professor Dr. Heuss sagte 1949 während der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat:Wir sind jetzt dabei, ein Werk der Demokratie zu schaffen. Die allgemeine Wehrpflicht ist das legitime Kind der Demokratie.
Und Art. 26 des Grundgesetzes sagt zum Verbot der Friedensstörung:Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten,
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12860 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Biehlesind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.Dies ist unser Grundgesetz, das ist die Maxime unseres Handelns.Wenn der Kollege Knabe einen Vergleich mit dem Dritten Reich gezogen hat, kann ich nur sagen: Die Bundeswehr hat als erste Armee in der deutschen Geschichte seit ihrem Bestehen nicht die Aufgabe, in der Verfolgung politischer Ziele für die Führung eines Krieges zur Verfügung zu stehen, sondern sie hat die Aufgabe, durch ihre Präsenz Kriege zu verhindern. Das ist auch die Aufgabe in der Zukunft, wie ich meine.
Die Soldaten der Bundeswehr sind für uns die größte Bürgerinitiative für den Frieden. Sie erfüllen den vom ganzen Volk in freier Selbstbestimmung erteilten Verfassungsauftrag, den dieses Haus mit seiner Politik konkretisiert hat. Dafür gilt den Soldaten, den Reservisten, aber auch den Familienangehörigen aufrichtiger Dank.
Der erste Verteidigungsminister Blank sagte 1955 zur Aufstellung der Bundeswehr: „Die Soldaten haben bei pflichtgemäßer Erfüllung ihres Berufes, der genauso ehrenwert und notwendig ist wie andere Berufe, Anspruch darauf, in gleicher Weise geachtet zu werden. " Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Da kommt nun eine Kammer des Landgerichtes Frankfurt zu dem Urteil, daß es erlaubt sein soll, Soldaten als potentielle Mörder zu bezeichnen. Das darf so nicht im Raum stehenbleiben; denn damit werden nicht nur unsere Soldaten, sondern auch deren Familien und Angehörige sowie die Reservisten — über 5 Millionen — an den Rand der Gesellschaft gedrückt und als Kriminelle abgestempelt.
Das Frankfurter Urteil ist die Neuauflage eines Landgerichtsurteils von 1987. Damals sagte der frühere Verteidigungsminister Leber: „Mir kommt jetzt in den Sinn, daß der Richter auch mich meinen könnte und ich demzufolge als Verteidigungsminister sechs Jahre lang Oberbefehlshaber einer Mörderbande gewesen wäre."
Auch dem ist nichts hinzuzufügen.
Wir müssen jetzt rasch dafür sorgen, daß nicht durch Umfunktionieren von Begriffen wie Mord die Prinzipien unserer Verfassung und der gesellschaftliche Grundkonsens über Recht und Unrecht Schaden leiden. Der Tag, an dem das Frankfurter Urteil gesprochen wurde, war ein schwarzer Tag für die Rechtsprechung in unserem Lande und für die Soldaten unserer Bundeswehr.
Alle aufrechten Demokraten sind gefordert.In Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes — das ist gewissermaßen der zentrale Artikel — steht:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.Das sollte mancher nachlesen, bevor er die Grenzen der Meinungsfreiheit beiseite drängt; auch ein Gericht und ein Richter.Danke sehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einem halben Jahr hat meine Fraktion im Bundestag eine Aktuelle Stunde zu dem Thema beantragt: „Auswirkungen des Memminger Urteils auf die betroffenen Frauen und Ärzte". Damals stellte sich der Herr Justizminister hier hin und erklärte, das sei nur „eine verbale Verschleierung, die überhaupt nicht darüber hinwegtäuschen" könne, daß die Bundesregierung veranlaßt werden solle, „ein laufendes Strafverfahren zu kommentieren und das Gericht von der Regierungsbank aus zu schelten".
„Dazu kann" — so sagte der Bundesjustizminister damals — „und darf sich die Bundesregierung und speziell der Bundesjustizminister nicht hergeben."Herr Justizminister, Sie haben sich dazu hergegeben, Arm in Arm mit dem Verteidigungsminister genau das zu tun. Während der Verteidigungsminister noch die Wahrnehmung berechtigter Interessen für sich geltend machen kann, ist es Ihre Aufgabe, das Recht und die Organe, die es pflegen, zu verteidigen.
Sie haben damals gesagt, es sei ein schwebendes Verfahren, es liege noch nicht einmal die Begründung vor. So ist das heute auch. Aber heute liegt zumindest die mündliche Begründung vor; sie hat uns der Richter noch zugeschickt. Ich zitiere daraus den nach meiner Meinung zentralen Satz: „Es ist im übrigen schwer verständlich, wenn Staatsanwaltschaft und Nebenklägervertreter" — wohl im Hinblick auf gleichartige Äußerungen von prominenten Persönlichkeiten wie Einstein, Probst Grüber; auch der ehemalige Bundesverteidigungsminister Wörner soll so etwas gesagt haben — „in ihren Schlußvorträgen die Bezeichnung des Krieges bzw. des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen als Mord für zulässig erachten, die sich daraus aber eigentlich logisch ergebende Benennung der im Krieg mit diesen Mitteln Kämpfenden als Mörder für strafbar halten, als gäbe es einen Mord ohne Täter."
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12861
Dr. Lippelt
Ich sage ganz klar: Potentielle Mörder sind wir alle. Die Soldaten sind auch potentielle Opfer. Aber wir Politiker, die wir die Doktrin der massiven nuklearen Vegeltung unterschreiben, sind genau das. Damit ist der Vorwurf genau da, wohin er gehört.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoyer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unter dem Gesichtspunkt des gewaltenteiligen Rechtsstaats befinden wir uns und argumentieren wir heute in einer sehr schwierigen Situation. Da ist Besonnenheit gefragt.
Andererseits haben wir die Verpflichtung, uns unzweideutig vor diejenigen zu stellen, die von diesem Urteil betroffen sind,
und das nicht nur, weil wir Verantwortung gegenüber dem Soldaten tragen, der in diesem Fall nicht, zumindest noch nicht, Recht bekommen hat, sondern auch, weil wir schweren Schaden von der Bundeswehr und unserer Sicherheitspolitik abzuwenden haben
und weil wir einen Beitrag zur Überwindung der Motivationskrise auch unserer Bundeswehr leisten müssen, die bisher so erfolgreich und so harmonisch in unserer Gesellschaft integriert ist. Das heißt, wir müssen uns zum Friedensdienst der Bundeswehr bekennen und uns vor die stellen, die ihn in unserem Auftrag leisten.Es gehört zu den schmerzlichen, aber, wie ich betonen muß, unvermeidlichen Tatsachen eines Rechtsstaats, daß es zwischen Recht-Haben und Recht-Bekommen einen Unterschied geben kann. Entsprechende Erfahrungen hat jeder in seinem Lebensbereich schon gemacht. Wir müssen uns alle überlegen, ob wir das nicht auch oft um des Rechtsstaats, der Gewaltenteilung und der Demokratie willen akzeptieren müssen. In vielen Fällen, wo es um Bagatellen geht, machen wir es ohnehin.Aber hier geht es nicht um eine Bagatelle. Denn in unserer Rechtsordnung hat die Rechtsprechung die Verpflichtung, dem Rechtsfrieden zu dienen. Ich habe den Verdacht, daß in diesem Fall das Gericht das Gegenteil erreicht.Im übrigen geht es bei einer Formalbeleidigung nicht darum, als Pflicht des Gerichts die Sinnhaftigkeit der Landesverteidigung zu überprüfen. Insofern liegt das Gericht meines Erachtens auch formal falsch.Der Major, der diesem üblen Vorwurf ausgesetzt war, ist nicht bereit, das Urteil hinzunehmen. Dafür hat er meine volle Sympathie. Er hat Recht und hat es bisher nicht bekommen. Das bedeutet für uns politischVerantwortliche zweierlei: Wir sind verpflichtet, dem betroffenen Soldaten alle Unterstützung zu gewähren, damit er im vorgesehenen rechtsstaatlichen Verfahren zu seinem Recht kommt. Gelingt dies nicht — ich hoffe, das wird nicht erforderlich werden — , dann sind wir als Gesetzgeber gefordert.
Denn darin, der rechtsprechenden Gewalt die Entscheidungskriterien vorzugeben, die Maßstab ihres Handelns sind, liegen unsere Kompetenz und Verpflichtung, nicht in der Urteilsschelte.Freilich fällt es schwer, sich der Urteilsschelte zu enthalten, obwohl einem das Urteil nicht mit seiner Begründung vorliegt. Daß der Herr Knabe eine mündliche Begründung, die uns gestern abend noch verweigert worden ist, vorliegen hat, finde ich bemerkenswert.
Es ist eine der in meinen Augen rechtsstaatlich bedenklichen Fehlentwicklungen, daß unsere Gerichte mehr und mehr ihre Urteile in die Welt bringen, bevor die Urteilsbegründung steht, geschweige denn veröffentlicht ist.Aber die Bedeutung und die zu befürchtenden Konsequenzen dieses Urteils machen es jedenfalls notwendig, jetzt Farbe zu bekennen. Ich freue mich, daß dies gestern im Verteidigungsausschuß gelungen ist, und ich bin sehr traurig darüber, daß dies schon heute nicht mehr möglich ist. Dies hätte heute eine Demonstration für die Bundeswehr und ihre Angehörigen werden können. Sie in der SPD haben diese Chance nicht genutzt.
Machen wir uns nichts vor: Viele Soldaten fühlen sich derzeit oft nicht zuletzt von der Politik alleingelassen. Um so wichtiger ist es, in einer so kritischen Situation Flagge zu zeigen. Das erwarten die Betroffenen zu Recht. Die Betroffenen sind Wehrpflichtige, Berufssoldaten, Zeitsoldaten, Reservisten und nicht zuletzt die Angehörigen.
Jeder, der jemals die Uniform dieser Bundeswehr getragen hat oder hin und wieder trägt, ist betroffen.Es geht schließlich, Herr Kollege Lippelt, bei dieser unglaublichen Beleidigung, die hier vorgelegen hat — ich ergänze das als Jüngerer ganz bewußt; ich weiß, wie sehr ich Sie wahrscheinlich damit gleich wieder aufregen werde —, um diejenigen, die im Zweiten
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12862 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. HoyerWeltkrieg — von einem gewiß mörderischen Regime mißbraucht — ihrer Dienstpflicht nach bestem Wissen und Gewissen nachgekommen sind, und um deren Angehörige, deren Gefühle durch dieses Urteil schwer verletzt werden. Mein Vater, der zehn Jahre seines Lebens unfreiwillig in der Armee gedient hat, dem ein Unrechtsstaat das Opfer seiner Jugend abverlangt hat, war und ist für mich weder ein potentieller noch ein aktueller Mörder.
Mord ist ein Individualvorwurf. Er ist zu messen an dem individuellen Motiv; ansonsten muß es bei der Unschuldsvermutung bleiben. Allen Betroffenen sind wir es schuldig, uns vor sie zu stellen, vor allen Dingen aber darüber nachzudenken, wie wir in dieser Demokratie eigentlich miteinander umgehen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zumkley.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Friedensauftrag der Bundeswehr leitet sich unmittelbar aus unserem Grundgesetzartikel 87 a ab. Demnach müssen Ausbildung und Erziehung in den Streitkräften ausschließlich auf die Erfordernisse von Verteidigungsfähigkeit ausgerichtet sein. Kriegsverhinderung durch ausreichende Verteidigungsfähigkeit ist das oberste Ziel einer derartigen Ausbildung im Frieden. Würde Kriegsverhinderung aber nicht gelingen, hätte auch der Soldat seine wichtigste Aufgabe verfehlt und müßte unter politischer Verantwortung den Verteidigungsauftrag notfalls unter Einsatz seines Lebens erfüllen.
— Ich komme gleich darauf.Seitdem es die Bundeswehr gibt, hat es immer wieder, Herr Kollege Knabe, sehr ernste Diskussionen — ich habe sie selber mitgemacht — auch und gerade innerhalb der Streitkräfte zu den schwierigen Fragen des Tötens gegeben. Neben der gesetzlich einschränkenden Norm für das Handeln des Soldaten in dieser Frage sind besonders ethische und moralische persönliche Einstellungen sowie das Gewissen gefordert.Der Soldat, der auf Grund der Verfassung Wehrdienst leistet, Zeit- oder Berufssoldat ist, braucht zur Bewältigung dieser besonderen Problematik seines Berufes die Unterstützung und Hilfe anderer gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen.
Nur so kann der Soldat seine besondere Verantwortung in existentiellen Fragen tragen und ihr gerecht werden. Die menschheitsgefährdende Wirkung von Massenvernichtungswaffen macht die Beantwortung dieser Fragen zusätzlich außerordentlich schwer. Vor diesem Hintergrund, der vom Kadavergehorsam wegführt, der von dem Bild des marodierenden Soldaten wegführt, den es ja leider in der Welt gibt, der von dem bloßen Killer in Uniform wegführt, ist die Behauptung, alle Soldaten seien potentielle Mörder, nicht gerechtfertigt und falsch.
Eine solche Behauptung, insbesondere wenn sie wiederholt wird, ist geeignet, Unfrieden zu stiften, den Soldaten abzustempeln und ihn sowohl als Person als auch als Berufsgruppe auszugrenzen und zu kränken.
— Ich komme gleich auf den Punkt.Derjenige, der dies tut, muß sich fragen lassen, ob dies wirklich in seinem Interesse ist, insbesondere wenn er sich dem Frieden, auch dem inneren Frieden, verpflichtet fühlt.Trägt Rufmord hierzu bei? Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein wichtiges Grundrecht, das es zu schützen gilt, auch wenn es im Einzelfall einem — besonders als Betroffenem — schwerfällt. Den Soldaten sage ich, daß sie, ich und andere sich zu Recht gegen die Bezeichnung „potentieller Mörder" wehren, daß sie zugleich aber fest für die freie Meinungsäußerung auch durch ihren Dienst einstehen und diese schützen müssen.
Urteilsschelte ist nicht angebracht, sondern die politische Auseinandersetzung über Fragen der Landesverteidigung, möglichst außerhalb von Gerichtssälen.
Das Landgericht hat im übrigen nicht geurteilt, daß der Ausdruck „potentieller Mörder" richtig sei oder gar vom Gericht gutgeheißen wird. Es warnt sogar vor Wiederholung. Es ist der Auffassung, daß in diesem Einzelfall eine derartige Äußerung in Abwägung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung nicht strafbar ist.In diesem Zusammenhang ist es auch mir — es ist mir ein Anliegen, das zu sagen — ebenso unerträglich, wenn der Richter, wie heutige Zeitungsmeldungen berichten, in widerlicher und beleidigender Weise, meist anonym, angegriffen wird.
Wiederum den Soldaten sage ich, daß sie sich hinsichtlich der Durchführung ihres Verfassungsauftrags nicht beirren lassen sollten, ohne dabei unsensibel in den schwierigen Fragen ihres Berufs und ihrer Tätigkeit zu sein.
Soldaten brauchen als Staatsbürger in Uniform keinen besonderen Ehrenschutz, aber sie müssen erwarten, daß sie, wie jeder andere Bürger auch, gerade wegen der Besonderheit des Berufs vor verunglimpfenden Äußerungen in Schutz genommen werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12863
Herr Abgeordneter, ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Dies tun wir. Ich würde es begrüßen, wenn die Bundeswehr diese Debatte zum Anlaß nähme, im Rahmen der politischen Bildung diese Problematik verstärkt zu behandeln. Auch die gesellschaftlichen Gruppen außerhalb der Bundeswehr sind aufgefordert, sich diesem Thema in sachlicher Form anzunehmen.
Ich danke Ihnen.
Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß ich von der Geschäftsordnung her gehalten bin, darauf zu achten, daß die Redezeit eingehalten wird. Es hat gar keinen Sinn, Wohlwollen oder Nicht-Wohlwollen zu üben.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Verteidigung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Duve hat den Generalinspekteur deutlich kritisiert, nach meiner Überzeugung vollkommen zu Unrecht. Ich habe mir nach dieser Kritik noch einmal die Interviews und Erklärungen des Generalinspekteurs Admiral Wellershoff kurz angeschaut.
Ich will einmal aus einem veröffentlichten Text den Kernsatz, um den es geht, hier vorlesen. Admiral Wellershoff hat gesagt: „Der Staat nimmt seine jungen Bürger in die Wehrpflicht. Er kann und darf es nicht zulassen, daß durch die Rechtsprechung die Verunglimpfung der Wahrnehmung dieser Pflicht ungestraft bleibt."
Dies wird eine breite Zustimmung finden.
Dies wurde mehrfach wiederholt und findet sich in der von Ihnen zitierten Meldung von AP, die ich im Originaltext hier vorliegen habe. Sie wurde — etwas verkürzt, aber im Kern richtig — von Ihnen mißverständlich zitiert. Ich komme darauf, weil es jetzt wirklich genau auf die Einzelheiten ankommt.
Der Satz bei AP heißt: „Wenn der Staat Soldaten einen Auftrag gibt, hat er auch dafür zu sorgen, daß sie nicht — durch ein deutsches Gericht ungestraft — beschimpft werden dürfen."
Die beiden Gedankenstriche machen vollkommen klar, daß damit nicht gesagt ist, ein deutsches Gericht habe die Soldaten beschimpft, sondern daß ein deutsches Gericht dies nicht bestraft hat. Dies klarzustellen war mir ein Bedürfnis.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Herr Admiral Wellershoff, hat sich schützend vor die ihm anvertrauten Soldaten gestellt. Und Sie, Herr Kollege Conradi, fordern hier in einem Zwischenruf, ihn zu entlassen. Ich kann Ihnen nur sagen: Ein Generalinspekteur, der sich vor seine Soldaten stellt, ist am richtigen Platz.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung, meine Damen und Herren, ist ein Grundrecht.Wie uns gerade aktuell im Blick auf die Geschehnisse in der DDR noch einmal deutlich wird, ist es ein wesentlicher Eckpfeiler eines freien Gemeinwesens. Der Staat hat dieses Grundrecht zu schützen. Dies tut er durch seine Ordnungsorgane nach innen und außen. Die Unantastbarkeit der Grundrechte schützen die Soldaten der Bundeswehr durch ihren Beitrag zur äußeren Sicherheit. Jedes Freiheitsrecht hat aber seine Grenzen in der Freiheit und der Würde des Nächsten.
Insofern, meine Damen und Herren, ist die diffamierende Äußerung des Frankfurter Arztes ein Mißbrauch des Rechtes auf freie Meinungsäußerung.
Die aktiven und ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Familien werden durch den Vorwurf,Soldaten seien potentielle Mörder, zutiefst beleidigt.Ich möchte hier klar sagen: Auch ich als Reservist der Bundeswehr, als ehemaliger Soldat unserer Streitkräfte, fühle mich persönlich zutiefst beleidigt.
Die Soldaten der Bundeswehr ermöglichen mit ihrem Dienst u. a. auch eine freie Justiz, und sie verlangen — nichts anderes möchte der Generalinspekteur Admiral Wellershoff — , von dieser freien Justiz geschützt zu werden.Die Frankfurter Richter verweigern diesen Schutz. Sie setzen die Soldaten damit weiterhin dem Hagel beschämender öffentlicher Anwürfe aus.
Völlig ungerechtfertigt sehen sich die Soldaten der Bundeswehr auf der Anklagebank.Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, ich weiß nicht, was sich in Ihrer Fraktion seit gestern ereignet hat. Ich darf aus der gemeinsamen Entschließung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der SPD-Bundestagsfraktion und der FDP-Bundestagsfraktion von gestern im Verteidigungsausschuß zitieren. Dort heißt es wörtlich, meine Damen und Herren:Der Schutz des Rechtes auf freie Meinungsäußerung ist mit solcher Rechtsprechung zur unerträglichen Beleidung derer pervertiert, die den Schutz unserer freiheitlichen Gesellschaft nach außen garantieren.
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12864 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
BreuerWie anders hören sich die Wortbeiträge der Kollegen der SPD — ich möchte Herrn Kollegen Zumkley dabei ausnehmen — heute in dieser Debatte an,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, auch im Zusammenhang mit den Äußerungen Ihres Fraktionsvorsitzenden Dr. Vogel heute morgen bei der Hauptversammlung des Deutschen Bundeswehrverbandes. Ich fordere Sie dazu auf: Reden Sie auch bei unterschiedlichem Publikum das gleiche.
Meine Damen und Herren, das Frankfurter Urteil hat eine nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung auf unsere Bevölkerung.
Der junge Mann, der seine Gewissensentscheidung für den Wehrdienst zum Schutze des Friedens und der Freiheit unseres Gemeinwesens treffen möchte, muß, wenn er dieses Urteil liest, eigentlich vor seiner Gewissensentscheidung zurückschrecken. Wie soll ein Lehrer, wie soll ein Pfarrer die ehtisch-moralische Entscheidung, durch den Dienst in den Streitkräften für Frieden und Freiheit einzutreten, eigentlich noch rechtfertigen, wenn er Ihre juristischen Spitzfindigkeiten, die ich in dieser Debatte hier höre, noch auseinanderbröseln muß? Das ist ihm gar nicht zuzutrauen, meine Damen und Herren.
Die Diffamierung unserer Soldaten — das sollten Sie zur Kenntnis nehmen — , der Versuch ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung und die damit einhergehende Demoralisierung haben Methode. Es soll bewußt ein Keil des Mißtrauens zwischen Bevölkerung und bewaffnete Streitkräfte getrieben werden.
Bewußt soll ein Keil des Mißtrauens zwischen Politik im Verständnis einer demokratischen Staatsführung und die Streitkräfte, die ihren Weisungen und ihrer Kontrolle unterworfen sind, getrieben werden. Dies, meine Damen und Herren, dürfen wir gemeinsam nicht zulassen; sonst machen wir uns mitschuldig an der Beschädigung des demokratischen Staatswesens.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Aktuellen Stunde hat es Beiträge gegeben, aus denen die Verantwortung des Parlaments heute sehr deutlich geworden ist. Für andere allerdings gilt dies nicht. Lassen Sie mich deswegen sagen, worum es heute eigentlich geht, was wir heute leisten müssen. Es sind zweierlei Dinge. Wirmüssen einmal zurückweisen und zurechtrücken, was in den vergangenen Tagen, ausgelöst durch die Entgleisungen jenes Arztes von 1984, über Soldaten gesagt wurde, und, Herr Lowack, wir müssen gleichzeitig zurechtrücken, was an schlimmer Hetzkampagne gegen die Frankfurter Richter in Gang gesetzt wurde.
Beides müssen wir tun. In beiden Fällen sind hier Dinge durcheinandergeraten, zum Teil in übler Weise vermischt worden, die unserer Gemeinschaft nicht guttun.Worum geht es denn? Krieg ist Verbrechen, und was er den Menschen Schlimmes antut — in Beirut oder überall in der Welt — , das sehen wir, das sehen alle jeden Abend im Fernsehen. „Grauenvolle Schlächterei", „entehrendes Gemetzel" , das waren schon die verdammenden Worte von Benedikt XV. im Jahre 1915, und das sagen heute die Ärzte gegen den Atomkrieg. Ich bin ihnen dafür dankbar, daß sie das tun, meine Damen und Herren. Wir sind uns einig, daß jeder, der Krieg will, betreibt, unterstützt — übrigens auch durch Waffenlieferungen — , sich mitschuldig macht.
Wir sind uns einig, daß wir das nicht wollen. — Das ist zur Sache, meine Damen und Herren. — Wir wollen Abrüstung, Umstrukturierung der Armeen, strukturelle Angriffsunfähigkeit. Unsere Bundeswehr hat — darauf weist auch die Überschrift dieser Aktuellen Stunde zu Recht hin — einen Friedensauftrag. Deshalb ist der Vergleich mit potentiellen Mördern beleidigend und muß zurückgewiesen werden.Diese Klarheit mußte her. Diese Klarheit ist da. Aber, meine Damen und Herren, bei dieser Klarstellung muß man auch in Rechnung stellen, wann jene Äußerung getan wurde. Das war nicht heute, das war 1984 auf dem Höhepunkt der erbitterten Auseinandersetzung um die Nachrüstungsdebatte,
und es war eine Podiumsdiskussion, bei der sie gefallen ist. Dies hervorzuheben ist deswegen wichtig, weil ich gleich auf Äußerungen, meine Damen und Herren, zu sprechen komme, die heute gefallen sind. Klar muß auch sein, daß das, was jetzt mit den Frankfurter Richtern passiert, einfach unglaublich ist.Herr Bundesjustizminister, ich hätte es gerne gesehen, wenn Sie hierhergekommen wären und gesagt hätten: Diese Kampagne muß aufhören; wenn Sie all das gesagt hätten, was gestern das Präsidium des Landgerichts in Frankfurt gesagt hat; das wäre Ihre Pflicht gewesen.
Herr Lambsdorff und Herr Minister Stoltenberg, ich war bestürzt, daß Sie sagen, es komme auf eine Analyse des Urteils jetzt nicht an. Ich sage Ihnen, es
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12865
Frau Dr. Däubler-Gmelinkommt genau darauf an, was die Frankfurter Richter gesagt haben.
Ich darf das wiederholen: Die Richter haben diese Beleidigungen nicht gedeckt, im Gegenteil. Aber was sie getan haben, ist dies: Sie haben die Strafbarkeitsgrenze,
für die Meinungsfreiheit, im politischen Meinungsstreit weit gezogen.
Ich sage Ihnen: Das ist richtig, Herr Breuer. Wenn sie das nicht getan hätten, was wäre denn dann los? Dann ginge es nicht nur um diesen schlimmen Vergleich, sondern dann ginge es auch allen an den Kragen, die — übrigens ohne Ihren Zorn zu erregen — Schwangerschaftsabbrüche mit Mord oder Holocaust vergleichen,
also Frauen, die in Schwangerschaftskonflikten sind, als Mörderinnen bezeichnen. Darauf hat das Gericht hingewiesen. Es ginge dann um mehr; auch manche Kritiker stünden wegen ihrer Äußerungen der letzten Tage mit einem Fuß im Gefängnis. Was ist denn da nicht alles gesagt worden! Da war von geistiger Nähe zu Mordrichtern die Rede, und dies von einem Juristen. Da hat der Kollege Gerster — ich muß das leider sagen, obwohl er nicht da ist — den Richtern Rechtsbeugung vorgeworfen. Wenn die Grenze der Meinungsfreiheit enger gezogen wäre, wäre das auch nicht nur eine geschmacklose Entgleisung.
Ich sage Ihnen, genauso, wie wir das bei Soldaten und ihren Familien nicht zulassen, dürfen wir auch bei Richtern und ihren Familien nicht zulassen, daß sie sich vor Drohungen und Gehässigkeiten nicht mehr retten können.
Lassen Sie mich wiederholen, was ich eingangs gesagt habe: Wir wollen Kriegsverhütung, Abrüstung und strukturelle Angriffsunfähigkeit. Das ist schwer, auch wenn es heute Chancen dazu gibt. Dazu brauchen wir alle, die gutwillig sind. Wir brauchen die Politiker. Wir brauchen die, die in der Bundeswehr arbeiten. Wir brauchen auch die Zivildienstleistenden. Was wir nicht brauchen, sind Hetzer, die alte Fronten aufbauen, die die Leute davon abhalten, ihre Beiträge zu leisten. Wir brauchen weder solche, die Soldaten beschimpfen, noch solche — auch diesbezüglich kenne ich noch einige Äußerungen aus jener erhitzten Zeit — , die z. B. Zivildienstleistende oder Kriegsdienstverweigerer in die Nähe von Verwahrlosten oder Drückebergern rücken. Diese alle brauchen wir nicht.
Wenn wir mehr Politiker hätten, die nicht wild um sich schlagen, sondern sich ab und zu, wenn sie es nötig haben, auch einmal an die eigene Brust schlagen, dann wären wir dieser Verantwortung auch im Interesse der Soldaten und ihrer Familien wirklich gerecht geworden.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte an meiner Aussage von ehedem auch heute fest, daß sich die Exekutive ohnehin, aber auch die gesetzgebende Gewalt gegenüber der rechtsprechenden Gewalt und ihrem Tun Schranken aufzuerlegen haben und hier Zurückhaltung zu wahren ist.
Danach, wie ich heute von Herrn Dr. Lippelt angesprochen worden bin, gewinnt man aber zunächst einmal den Eindruck, als würde man sich daran nicht halten und als habe jeder einmal seinen Urteilsscheltetermin. Es ist jetzt nicht die Zeit, rein von der Ausdehnung her, um Ihnen einmal detailliert darzulegen, wie sehr Sie im Irrtum sind, wenn Sie meinen, daß heute dasselbe stattfinden würde, was Sie bei dem Memminger Urteil anzuzetteln versucht haben.
— Es handelt sich in beiden Fällen um ernste Themen.Aber Sie werden nicht übersehen können, daß Sie, kaum daß das Urteil erster Instanz in Memmingen gesprochen war — nach einer langen, ausgedehnten und sich über Wochen hinziehenden Hauptverhandlung — eine Aktuelle Stunde beantragt haben, obwohl uns bis zum heutigen Tage, Herr Dr. Lippelt, das Urteil noch nicht in Händen ist.
— Nein, ich habe auch etwas anderes zu tun, als ein nach Monaten eingehendes Urteil innerhalb der ersten drei Tage zu lesen.
Aber das ist überhaupt nicht das Thema. Das Thema ist, daß Sie damals eine Aktuelle Stunde beantragt haben, und glaubten, daß Wesentliches dazu ausgesagt werden kann.
Heute handelt es sich um ein noch nicht rechtskräftiges Urteil;
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12866 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Bundesminister Engelhardaber der Vorgang bei der Podiumsdiskussion vor einer Schule liegt fest.
Wir können uns nach den Gründen des landgerichtlichen Urteils wie auch des oberlandesgerichtlichen Urteils auf Vorgänge stützen, die schon deswegen genau feststehen, weil sie auf der Einlassung des Angeklagten beruhen, was er in welcher Weise und mit welchen Worten gesagt hat. Deswegen ist ein anderer Ausgangspunkt gegeben, der es ermöglicht, bei aller auch hier gebotenen Zurückhaltung über einen Vorgang zu sprechen, der ganz zwangsläufig, sich durch mehrere Instanzen hinziehend, Wellen schlagen und zur Empörung führen mußte.
Frau Däubler-Gmelin, Sie meinen, daß es in dieser Situation notwendig ist, daß ich als Bundesminister der Justiz darauf hinweise, daß Richter nicht wegen ihres Tuns mit anonymen Zuschriften oder in Anrufen, die auch an ihre Familien gerichtet sind, beschimpft, herabgesetzt und bedroht werden dürfen. Dies ist eine Selbstverständlichkeit,
die von allen hier im Hause anerkannt wird.
Sie wird von allen anerkannt,
und es ist in dieser Situation wohl nicht der richtige Weg, jeweils Selbstverständlichkeiten zu wiederholen. Hierzu haben Graf Lambsdorff und andere bereits alles Notwendige zum Ausdruck gebracht.Nur meine ich, bei aller Zurückhaltung wird man bei dem gegebenen Tatbestand, wie er in Frankfurt in den wesentlichen Elementen mit dem, was der Angeklagte gesagt hat, bereits festliegt, hier ein Wort sagen dürfen und wird aus der politischen Landschaft ganz zwangsläufig eine Reaktion kommen.
— Aber natürlich auch vom Justizminister, der hier bei aller gebotenen Zurückhaltung auch sagt, daß die Justiz nicht in einem elfenbeinernen Turm sitzt.
So wie sie Gelegenheit hat, ihrerseits ihre Äußerungen zu tun, so wird man nicht verhindern können, daß ein derartiges Urteil, daß derartige gerichtliche Entscheidungen natürlich kommentiert werden, und zwar — darauf lege ich Wert — mit Anstand und mit Vernunft, mit jener Zurückhaltung, die geboten ist, nicht mit einem Zurückschlagen, sondern mit jener kritischen Wertung, die allein hier der richtige Weg sein kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Däubler-Gmelin, „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet" . So haben Sie als Juristin es gelernt, so haben es die Juristen des Landgerichts Frankfurt gelernt, und so lernt es auch ein Arzt in seiner Ausbildung, wenn er seinen Jura-Schein machen muß. So ist Gott sei Dank draußen in unserer Bevölkerung auch immer noch die Auffassung vom Mord als einem besonderen, dem schwersten Kapitalverbrechen.Unser Grundgesetz geht auf der anderen Seite vom Wehrdienst als dem Normalfall des Dienstes an unserem Staat aus. Unser Grundgesetz erlaubt den Einsatz von Soldaten nur für den Verteidigungsfall. Unser Grundgesetz bestimmt, daß der Verteidigungsfall nur durch das demokratisch gewählte Parlament, d. h. durch uns, den Deutschen Bundestag, festgestellt werden kann. Parlament, vollziehende Gewalt — einschließlich unserer Soldaten — und Justiz sind nach der Verfassung dem Frieden verpflichtet, dem inneren und dem äußeren.Unsere Soldaten als potentielle Mörder zu bezeichnen heißt, sie außerhalb dieser grundgesetzlichen Ordnung zu stellen.
Es bedeutet, vor allem junge Menschen pauschal zubeleidigen, Menschen, die ihrem Dienst an der Gemeinschaft nachkommen und nachkommen müssen.Die Verteidigung unseres Landes, seiner staatlichen Ordnung und seiner Menschen im Kriegsfall — unter höchster persönlicher Lebensgefahr — mit Mordlust oder niedrigen Beweggründen in Verbindung zu bringen ist absurd und abwegig.
Ich glaube, darüber können und sollten wir alle uns heute einig sein.
Bei allem Respekt, den jede richterliche Entscheidung verdient — Kollege Duve, ich komme gerne auf Ihr Argument zurück — : Auch unsere Justiz hat eine Verantwortung nicht nur für den einzelnen und seine Freiheitsrechte, sondern auch für die Allgemeinheit und besonders für diejenigen, die sich nicht wehren können — wie hier Millionen von jungen Menschen, die ihren Dienst abgeleistet haben. Die 29. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt hat den objektiven Tatbestand der Beleidigung und der Volksverhetzung bejaht. Sie hat aber gemeint, beim Angeklagten Wahrnehmung berechtigter Interessen annehmen zu sollen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12867
LowackIch frage: Was sollen das im vorliegenden Fall eigentlich für berechtigte Interessen gewesen sein? Darüber müßten wir uns mehr unterhalten.Der Angeklagte war bei einer Podiumsdiskussion, an der er teilgenommen hatte, nicht persönlich angegriffen worden. Ist denn seine Geltungssucht Wahrnehmung berechtigter Interessen? Ist die Absicht, einen Diskussionsteilnehmer — der Kollege Lippelt hat sich schon verdrückt —, nicht einen Schulungs-, sondern einen Jugendoffizier, vor einer aufgepeitschten Schulklasse lächerlich zu machen oder — noch schlimmer — ihn mundtot zu machen, Wahrnehmung berechtigter Interessen? — Das sind doch Fragen, die wir an das Landgericht stellen müssen.Ist die Beleidigung von Millionen junger Menschen, die unter persönlichen Opfern unserer staatlichen Gemeinschaft einen für uns alle lebenswichtigen Dienst erweisen, Wahrnehmung berechtigter Interessen? Hat nicht der Soldat recht, der nach dem ersten Urteil des Landgerichts Frankfurt fragend festgestellt hat: Wenn Landesverteidigung eine Verfassungspflicht ist, die mörderisch genannt werden kann, dann müssen Teile des Grundgesetzes, des Staates und seiner Repräsentanten selbst mörderisch sein? — Auch das müssen wir uns heute fragen lassen.Der vom Gericht freigesprochene Angeklagte hatte sich einmal auf Kosten des Steuerzahlers bei der Bundeswehr zum Arzt ausbilden lassen,
während immerhin Hunderttausende malochen müssen, um das Studium finanzieren zu können.
Als er dann seinen Dienst an der Gemeinschaft leisten sollte, hat er diesen Dienst aus Gewissensgründen, die ihn plötzlich befallen haben, verweigert. Legen die beleidigenden und verhetzenden Äußerungen des Angeklagten nicht den Schluß nahe, daß er damit sein gemeinschaftsfeindliches Verhalten nur kompensieren oder kaschieren wollte, und können ihm dafür berechtigte Interessen zugebilligt werden?Wir sollten das Urteil der 29. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt aber nicht nur als Gelegenheit zu einer Diskussion des Urteils nehmen: Es ist eine Herausforderung für uns alle. Nur nach dem Parlament zu rufen und zu sagen, daß hier eine Veränderung erfolgen sollte, wäre falsch. Kein Parlament kann davor schützen, daß richterlicher Exzeß möglich ist.
Wir müssen die Justiz bei ihrer Verantwortung nehmen, und wir müssen Wert darauf legen, daß, weil wir die Gewaltenteilung als Prinzip haben, jeder diesen Grundkonsens in einem demokratischen Staatssystem anerkennt.Das Urteil gibt uns Gelegenheit, zu demonstrieren, daß wir uns hinter unsere Soldaten, ihren Auftrag und das große Ziel stellen, den Frieden mit den dafür notwendigen Kräften zu erhalten und die, die ihren Dienst für die Gemeinschaft leisten, zu beschützen, zu motivieren — auch das ist unsere Aufgabe — und ihnen zu danken.
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein allgemeiner Gesichtspunkt: Zuletzt von meinem Vorredner — aber nicht nur von ihm, sondern mehrfach heute — wurde der ehemals angeklagte Arzt in Frankfurt beleidigt, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit und einer Nonchalance, die angesichts der Hysterie, die Sie über dieses Urteil entwickeln, wirklich verwundern muß.Ein zweiter Punkt: Es gibt wohl keinen Krieg in der Geschichte der Menschheit, der nicht aus niederen Beweggründen angezettelt wurde. Es sind in der Regel primitivste materielle, wirtschaftliche Gesichtspunkte, manchmal rassistische Gesichtspunkte und ähnliches. Deshalb ist mir Ihre Aufregung über diese Formulierung des Arztes — wer die Wortbedeutungslehre kennt, der weiß, daß das stimmt — völlig unverständlich.Was ist das für ein Verständnis der Sprache, das Sie an den Tag legen, abgesehen von der Heuchelei in der Rechtskultur? Daran ändert auch nichts der Auftritt des Bundesjustizministers, der eben stattfand.Noch etwas anderes: Uniformträger neigen zu einem wehleidigen Selbstmitleid, das einem manchmal wirklich die Schuhe auszieht. Das korreliert mit ihrer Kompetenz zu Eingriffen in Freiheits- und Grundrechte. Bei Polizisten ist das schon recht deutlich ausgeprägt. Bei Soldaten nimmt dieses wehleidige Selbstmitleid nahezu hysterische Formen an. Statt dessen sollten sich die Genannten schlicht und einfach mit solchen Gedanken in der politischen Debatte auseinandersetzen.Wie oft wurden von dieser Stelle aus Frauen beleidigt — z. B. solche Frauen, die abtreiben — und als „Mörderinnen" und ähnliches mehr bezeichnet. Was soll diese Doppelmoral angesichts einer solchen Rechtsprechung?Ich finde allerdings, daß die CDU den Finger zu Recht in die Wunde der SPD legt. Wer solche Sätze, wie sie aus der gemeinsamen Entschließung des Verteidigungsausschusses hier zitiert wurden, für die Fraktion mit unterzeichnet, der verliert in der Tat ein Stück Glaubwürdigkeit, wenn er sich heute als abgewogen, liberal denkender, rechtsstaatlicher Politiker darstellt, der den Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit höherhält. Die Zitate aus der Entschließung, meine Damen und Herren von der SPD, sind in höchstem Maße peinlich im Hinblick auf Ihre Selbstdarstellung.
Das Gericht hat zu der Art und Weise, wie bei der Bundeswehr Ausbildung betrieben wird, ganz bewußt Sachverständige angehört. Das Gericht hat eine besorgniserregende Dimension festgestellt, weil der
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12868 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
WüppesahlArzt angesichts der entsetzlichen Folgen mit Millionen von Toten und Verletzten keine Außenseitermeinung vertritt; dies ergab sich nach Anhörung vieler Sachverständiger. Das Verfahren hat gezeigt, daß es für den Atomkrieg keine Planung, keine medizinische Versorgung geben kann, sondern nur ein unbeherrschbares Chaos. Auch angesichts dieser Tatsachen sind Äußerungen dieser Art mehr als gerechtfertigt.Noch ein letzter Gesichtspunkt. Ist es nicht auch peinlich, wenn das Bundesverteidigungsministerium, nachdem das Urteil noch gar nicht im Raum verklungen ist, eine Pressemitteilung herausgibt und Herr Engelhard heute etwas abgewogenere Äußerungen ...
Herr Abgeordneter Wüppesahl, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß. — ... mit dem Hinweis auf die notwendige zeitliche Distanz und die intensive Beschäftigung mit den Urteilsgründen macht? Auch solche Gesichtspunkte sind alles andere als glaubwürdig.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, Sie sind am Ende.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Der nächste Redner ist der Herr Abgeordnete Wilz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer — wie der erste Redner der GRÜNEN — davon spricht, daß deutsche Soldaten „abgerichtet" werden, der hat sich selbst disqualifiziert.
Bundeswehrsoldaten werden nicht „abgerichtet", sondern sie werden ausgebildet zum Friedensdienst!Meine Damen und Herren, wer — wie gestern die SPD — zunächst keine gemeinsame Entschließung wollte, dann die Sitzung unterbrechen ließ, sodann eine gemeinsame Entschließung mit verfaßte, sie heute widerruft und sie nur als einen Prüfungsauftrag, wie man den Ehrschutz der Soldaten erweitern kann, verstanden wissen will, und wer sich wie Herr Vogel heute morgen und jetzt hier äußert, dem kann man nur sagen: Meine Damen und Herren von der SPD, Sie werden immer unglaubwürdiger! Sie schaden damit den Interessen der Bundeswehr und auch der Glaubwürdigkeit der Demokratie.
Weltweit gibt es zwei Werte der Bundesrepublik Deutschland, die höchstes Ansehen genießen: zum einen die deutsche Wirtschaft und zum anderen die Bundeswehr.
Wir werden es nicht zulassen, daß dieses hohe Ansehen der Bundeswehr, das sie international genießt, durch innenpolitische Fehltritte dieser Art ramponiert wird.Lassen Sie mich hier feststellen: Wir sind stolz auf diese Bundeswehr. Sie ist, wie es der Kollege Biehle soeben gesagt hat, in der Tat nicht nur die größte, sondern auch die überzeugendste Friedensbewegung, die wir jemals auf deutschem Boden gehabt haben.
Die Bundeswehr hat den Auftrag zur Friedenssicherung durch Kriegsverhinderung. Wir wollen nicht erobern, wir wollen nicht Krieg führen, sondern wir wollen Kriege verhindern. Insofern, meine Damen und Herren, sind Ihre Ausführungen völlig unglaubwürdig und unvorstellbar.Lassen Sie mich weiter feststellen: Es ist ja doch schon ein seltsamer Vorgang, daß die Bundeswehr ausgerechnet diejenigen schützt, die diffamieren, und daß sie auch die Mitglieder von Kammern solcher Gerichte schützt, die solche Urteile sprechen.
— Sehen Sie, das ist eben genau das, was Sie nicht begreifen wollen, Herr Duve.
Lassen Sie mich ferner feststellen: Die Bundeswehr handelt ausschließlich im politischen Auftrag. Wir sind diejenigen, die für all das, was geschieht, zur Verantwortung zu ziehen sind. Ich frage mich: Wenn man schon Soldaten als potentielle Mörder bezeichnet, wie will man dann eigentlich die Politiker bezeichnen, die diesen Auftrag gegeben haben?Meine Damen und Herren, jeder, dem der Friedensauftrag der Bundeswehr oder die Bundeswehr selber nicht paßt, der soll sich mit uns — mit der Politik und mit den Politikern — auseinandersetzen, mit denen, die den Auftrag zu verantworten haben.
Die Bundeswehr hat — darauf hat auch der Bundeskanzler verschiedentlich hingewiesen — sich weltweit vorbildlich gezeigt. Sie hat viele Hilfeleistungen im In- und Ausland für die Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen. Für Hilfeleistungen im Inland erinnere ich an die Flutkatastrophe in Hamburg, an die Schneekatastrophe in Schleswig-Holstein oder an die Feuerlöscheinsätze in der Lüneburger Heide. Oder denken Sie — was das Ausland angeht — an die Einsätze der Bundeswehr zur Bekämpfung von Hungersnöten in Afrika oder bei Erdbeben in Marokko, Italien und Armenien. Ich glaube, wir können dieser Bundeswehr für diese Einsätze nur Dank sagen.
Schließlich ist die Bundeswehr für uns zunehmend zu einem Friedensbotschafter geworden — bis hin nach Leningrad. Wir danken der Bundeswehr, daß sie den Frieden sicherer gemacht hat.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12869
WilzMeine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen: Wir werden für diese Bundeswehr weiter in die Offensive gehen. Wir bekennen uns uneingeschränkt zu dieser Bundeswehr. Wir werden alles tun, um die Würde und die Achtung unserer Soldaten und ihrer Familien wiederherzustellen. Ich fordere Sie alle auf, dies gleichermaßen mit uns, der CDU/CSU, zu leisten.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist zu Ende.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Sportausschusses zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechster Sportbericht der Bundesregierung
— Drucksachen 10/6241, 11/20 Nr. 27, 11/3948 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Büchner Fischer (Hamburg)
Nach Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Stunde für die Aussprache vorgesehen. Das Haus ist damit einverstanden? — Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sport ist längst nicht mehr nur die herrlichste Nebensache der Welt, Sport ist auch nicht das, was er gelegentlich nach dem Eindruck aus den Medien sein könnte, ein Sensationsmedium, sondern soziale, erzieherische und gesundheitliche Funktionserfüllung in besonderem Maße. Sport bedeutet für viele Menschen — in der Bundesrepublik Deutschland sind immerhin ca. 21 Millionen Bürger Mitglied in 64 200 Sportvereinen — Ausgleich durch Spiel und Bewegung, gesteigerte Lebensfreude, Selbstverwirklichung, Gesundheitsvorsorge, Erhaltung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und ein verbindendes Element in unserer Gesellschaft. Die CDU/CSU-Fraktion mißt daher dem Sport eine herausragende gesellschaftspolitische Bedeutung zu und will diese Bedeutung im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit stärken und durch Förderung des Sports in vielfältiger Weise eine Entwicklung gewährleisten, in der der Wert des Sports als ein Kernpunkt der Gesellschafts-, der Bildungs- und der Gesundheitspolitik stärker als bisher anerkannt wird.Sport ist ein wichtiger Beitrag zur Gesundheitsvorsorge; denn er wirkt den Problemen des Bewegungsmangels entgegen. Er fördert darüber hinaus gesundheitsgerechte Lebensweisen und Lebensfunktionen. Wir wissen, daß durch Sportausübung gesundheitliche Risikofaktoren reduziert werden können. Gerade deshalb freuen wir uns ganz besonders, daß die Bundesregierung durch die Gesundheitsreform die Möglichkeiten geschaffen hat, daß sich künftig alle Menschen einem regelmäßigen Gesundheitscheck unterziehen können.Ein wichtiger Teilaspekt des Sports ist natürlich der Spitzensport, für den der Bund aus der Natur der Sache eine ungeschriebene Kompetenz besitzt und deswegen natürlich die Förderungsverpflichtung, d. h. Finanzierungsverpflichtung, wahrzunehmen hat. Der Spitzensport fördert die Bereitschaft und den Willen zur Leistung und vermittelt und fördert durch das sportliche Gebot der Fairness — in diesem Zusammenhang ein herzliches Dankeschön für die Werbekampagne „fair geht vor" des deutschen Sports; ich möchte das an dieser Stelle ausdrücklich hervorheben — und durch die Achtung des anderen auch Werte, die für unsere Gesellschaft insgesamt von Bedeutung sind.
Für uns hat der Spitzensport eindeutig Vorbildfunktion, vor allem für die Sportausübung junger Menschen, und trägt ganz entscheidend zur Verbreitung und Entwicklung des gesamten Sports bei. Daß der Sport, insbesondere der Spitzensport, auch Belange der gesamtstaatlichen Repräsentation erfüllt, ist unbestreitbar. Wir bekennen uns dazu.Meine sehr verehrten Damen und Herren, CDU und CSU befürworten die Förderung des Spitzensports durch den Staat auf allen Ebenen. Gesellschaftliche Gruppierungen, Wirtschaft und Medien sind aufgefordert, den Spitzensport wegen seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung stärker als bisher zu unterstützen. Unterstützen heißt für uns ausdrücklich nicht: gängeln, bevormunden, alles besser wissen, heute „Hosianna", morgen „Kreuziget ihn" , ihn sich selbst überlassen, „jeder ist sich selbst der nächste". Wir sagen ausdrücklich: Aus der Selbstverpflichtung zur Förderung ergibt sich eine Verantwortung für den geförderten Menschen. Ich habe immer noch den Eindruck, daß allen Bemühungen, das Umfeld der Aktiven zu verbessern, zum Trotz der Athlet noch zu oft sich selbst überlassen bleibt.
Das gilt weniger für den unmittelbaren sportlichen Bereich. Hier hat sich durch die trainingsbegleitenden Maßnahmen in den letzten Jahren sehr viel Positives getan. Meine Sorge gilt nach wie vor dem sozialen Umfeld.Wenn wir nicht den Staatsamateur Ost durch einen solchen westlicher Prägung ergänzen wollen — manche Spitzensportler fordern das in der Tat lautstark —, wenn wir auch das Modell des High-School-Stipendiaten nicht nachahmen wollen, dann, meine Damen und Herren, müssen wir endlich ein System finden, das unserer gesellschaftlichen Struktur nicht nur Rechnung trägt, sondern dieser gesellschaftlichen Struktur auch gerecht wird. Dazu gehört eben auch, daß derjenige, der von anderen etwas erwartet, für diese auch Verantwortung übernehmen muß.Ich halte es für dringend geboten, daß wir die in unserer Gesellschaft dafür maßgebenden Kräfte endlich an einen Tisch bringen. Die Deutsche Sportkonferenz ist faktisch gescheitert. Ich fordere daher einen
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12870 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Fischer
runden Tisch, an dem Spitzenvertreter des Sports, der Politik, der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerorganisationen Platz nehmen, um diese Probleme zu beraten und Lösungswege zu finden. Nur gemeinsam können wir Entscheidungen herbeiführen, die einen Motivationsschub für Sportlerinnen und Sportler bedeuten würden.Das derzeitige sehr stark individualisierte System, das dem Zufall Tor und Tür öffnet, ist den nachwachsenden Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern und ihren Eltern nicht mehr zuzumuten. Es ist demotivierend. Der von unserer Gesellschaft verlangte Spagat einer Doppelqualifizierung, im Sport und im Beruf, darf nicht länger ein einseitiges Opfer für jene bedeuten, über deren Erfolge sich nachher alle freuen, mit denen wir uns identifizieren können, bei deren Niederlage wir aber sagen: Selber Schuld, es war ja schließlich deine eigene Entscheidung.
Meine Damen und Herren, mit viel Engagement versucht der Deutsche Sportbund durch die Schaffung von Olympiastützpunkten neue Wege zu gehen. Immer noch nicht sind alle inhaltlichen und organisatorischen Ziele verwirklicht worden. Es gibt Klagen der Olympiastützpunktleiter, die meinen, die Übergangszeit müsse noch bis 1992 dauern. Das sollte nicht nur nachdenklich stimmen, sondern auch unmittelbares Handeln bewirken. Derzeit ist es doch so, daß der Bund der allein zuverlässige Partner der Dreierkoalition von Bund, Ländern und Wirtschaft ist.
Er hat unbürokratisch die ersten Mittel bereitgestellt. Er hat in seiner Finanzplanung einen kontinuierlichen Anstieg seiner Finanzierungsbeiträge eben nicht nur aufs Papier geschrieben, sondern durch jährliche Bereitstellung auch erfüllt. Gleiches verlangen und fordern wir von Ländern und Wirtschaft.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß wir heute in erster Linie gar nicht durch die Probleme der Kommerzialisierung des Sports herausgefordert sind, sondern vor allem durch die Geißel des Sports, die Doping heißt. Dieses Problem muß mit aller Energie schnell beseitigt, nachhaltig ausgerottet werden. Wir danken der Bundesregierung, daß sie im Kampf gegen Doping für die Bekämpfung bereits im Vorfeld der Wettkämpfe zusätzliche Mittel bereitgestellt hat, damit wir wirkungsvoll dagegen einschreiten können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte abschließend sagen: Wenn der Deutsche Bundestag am Ende dieser Debatte die von uns empfohlene Entschließung verabschiedet, dann ist gewährleistet, daß der Siebte Sportbericht, den wir für das nächste Jahr erwarten, noch aussagekräftiger wird hinsichtlich der Weiterentwicklung der Kriterien für die Vergabe der Sportförderungsmittel an die Spitzenfachverbände, der mittelfristigen Perspektiven der Sportförderungsmaßnahmen des Bundes, der Konsequenzen aus den Olympischen Spielen in Calgary und Seoul für die künftige Förderung des Leistungssports unter Einbeziehung selbstverständlich der Wettkämpfe, die es weltweit im Behindertensport gegeben hat, hinsichtlich der Wirksamkeit der Olympiastützpunkte, der Situation der gemeinnützigen Vereine und Verbände im Zusammenhang mit dem neuen Vereinsförderungsgesetz, der Maßnahmen gegen Doping, der Probleme von Kindern im Hochleistungssport und des dauerhaften Interessenausgleichs zwischen Sport und Umwelt, den wir anstreben. Deswegen kann der Deutsche Bundestag auch dem nächsten Sportbericht mit großem Interesse entgegensehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lambinus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sechste Sportbericht, dessen Konsequenzen für die Sportförderung wir hier zu beraten haben, beschreibt den Zeitraum von 1982 bis 1985. Eine sportpolitische Aktualisierung ist deshalb bei dieser Beratung erforderlich.
Dieser Bericht soll die Entwicklung in allen Bereichen der Sportpolitik abschätzen und die Grundsätze für die Partnerschaft zwischen Sport und Staat aufzeigen. Dieser Bericht und die Beschlußempfehlung des Sportausschusses lassen ein beträchtliches Maß an interfraktioneller Übereinstimmung erkennen. Wir Sozialdemokraten halten dieses Arbeitsergebnis für positiv, denn es signalisiert den Sportorganisationen, daß sie es im Sportausschuß des Deutschen Bundestages mit kompetenten und mit engagierten Partnern zu tun haben.Die Beratung des Sechsten Sportberichts der Bundesregierung im Sportausschuß des Parlaments läßt sich, wie ich meine, so zusammenfassen: Soviel streitige Diskussion wie nötig und soviel Übereinstimmung wie irgend möglich.
Ich denke, wir sind dies auch den Zehntausenden von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den rund 70 000 Sportvereinen schuldig. Dort erwartet man von den Sportpolitikern in den Parlamenten und in der Regierung keine kleinkarierte Streiterei, sondern wirkliche Förderungsmaßnahmen. Dabei ist nicht zu übersehen, daß den Sportvereinen und Sportverbänden immer wieder Geringschätzung und Überheblichkeit entgegengebracht wird. Pseudoelitäres Gehabe, abwertende Äußerungen über die Sportvereine und deren „Funktionäre" weisen wir nachdrücklich zurück. Die ehrenamtlich geführten Sportvereine haben wesentlichen Anteil daran, daß unsere Bürger aller Altersgruppen über Sportmöglichkeiten verfügen, die weltweit beispielhaft sind.
Wer sich um den Kinder- und Jugendsport, um die sportliche Betreuung der behinderten Mitbürger, um das Zusammenleben mit unseren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern kümmert, hat Anerkennung verdient. Deshalb haben die gemeinnützigen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12871
LambinusSportvereine auch ein Anrecht auf eine privilegierte Förderung z. B. in der Steuergesetzgebung;
daran gibt es keinen Zweifel. Bund, Länder und Gemeinden sind verpflichtet, vor allem die sozialen Aufgaben des Sports noch intensiver zu fördern; und, Herr Kollege Bohl, dies geschieht nicht erst jetzt, dies geschieht seit langer Zeit.
In der Beschlußempfehlung des Sechsten Sportberichtes kommt dies deutlich zum Ausdruck.
— Ich würde über Sport und Steuern nur dann diskutieren, Herr Kollege Bohl, wenn man ein kleines bißchen davon versteht.
Sie verstehen davon offensichtlich gar nichts, sonst hätten Sie den Zwischenruf nicht gemacht.
— Nomen est omen, ja.
Wir erleben in diesen Wochen und Monaten stärker als zuvor, was der Sport an humanen Werten vermitteln kann. Zehntausende von Aussiedlern aus den ost- und südosteuropäischen Ländern und Landsleute aus der DDR kommen zu uns. Bereits Tausende von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben Aufnahme in die Sportvereine und Jugendgruppen gefunden. Hier finden sie auf unkomplizierte Weise eine neue Heimstatt, entwickeln Freundschaften, werden zu Nachbarn und Mitbürgern. Mehr als alle staatliche Unterstützung vermitteln die Sportvereine und Jugendgruppen Mitmenschlichkeit und praktische Lebenshilfe.Wir wissen auch zu würdigen, daß viele Sportvereine spontan günstige finanzielle Regelungen für unsere Landsleute gefunden haben. Deshalb sollten wir allen Mitarbeitern, Jugend- und Übungsleitern in den Sportvereinen und Jugendorganisationen für ihr gemeinnütziges und verdienstvolles Wirken herzlich danken.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch einige Anmerkungen zur künftigen Gestaltung der innerdeutschen Sport- und Jugendbeziehungen machen. In diesem Hause besteht große Übereinstimmung darüber, daß mit den innerdeutschen Sport- und Jugendbeziehungen ein wirkungsvoller Beitrag zum Zusammenhalt der Deutschen geleistet wird. Diese Tatsache wird im Sechsten Sportbericht und in der vorliegenden Beschlußempfehlung hervorgehoben.Für den Bereich des Sports wurde am 8. Mai 1974 ein Protokoll zwischen den beiden deutschen Sportbünden unterzeichnet. Das Verfahren der jährlichen Veranstaltungskalender, die meistens nach zähen und im Ergebnis nicht befriedigenden Verhandlungen unterzeichnet werden, entspricht nicht den sich verändernden Gegebenheiten. Wenn die DDR-Regierung jetzt Reisefreiheit für alle Bürger zusagt, dann müssen auch für die Sport- und Jugendbeziehungen neue Kriterien entwickelt werden. Es ist an der Zeit, daß — abgesehen von repräsentativen Auswahlbegegnungen — die innerdeutschen Sport- und Jugendbeziehungen liberalisiert und von politischen und bürokratischen Hemmnissen und Kontrollen befreit werden.Wir bitten den Deutschen Sportbund, bei den bevorstehenden Beratungen mit dem Deutschen Turn- und Sportbund der DDR einen freien Sportverkehr zwischen den Organisationen der beiden deutschen Staaten vorzuschlagen. Dies kann auch stufenweise geschehen. Es sollte erreicht werden, daß die Sportvereine in der Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zeit direkt mit den Betriebssportgemeinschaften und Cubs der DDR Absprachen über ihre Spielbegegnungen treffen können.
Dazu gehört selbstverständlich, daß die Sportorganisationen von West-Berlin uneingeschränkt und gleichberechtigt beteiligt werden.
Ferner wäre es erforderlich, daß die Fördermittel im Etat der Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen entsprechend erhöht werden. Meine Fraktion wird vorschlagen, daß der Sportausschuß und der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen gemeinsam mit den Sportorganisationen die veränderte Situation beraten und — wie bisher — mit dem Deutschen Sportbund und den Fachverbänden ein sachgerechtes Vorgehen abstimmen.Ich möchte nun auf einige Punkte eingehen, die als Forderungen an die Bundesregierung für den Siebten Sportbericht formuliert wurden.Der Bundesminister des Innern hat in der vergangenen Woche nach Beratungen mit den Fachverbänden und dem Deutschen Sportbund das Bewilligungsverfahren für die Mittel zur Leistungssportförderung verändert. Herr Minister Schäuble, wir haben mit Ihnen die Hoffnung, daß die größeren finanziellen Spielräume dazu beitragen, die Sportfördermittel noch effektiver einzusetzen. Die Stärkung des Bundesausschusses Leistungssport, die durch den Verzicht auf die Mitwirkung des Bundesinnenministeriums an der Detailplanung der Verbände bewirkt wurde, stellt neue und qualitativ höhere Anforderungen an dieses Gremium. Das bedeutet auch mehr Verantwortung und die Notwendigkeit zum kollegialen und fachlichen Zusammenwirken mit den Fachverbänden.Wir verbinden auch diese Erwartung mit dem neuen Bewilligungsverfahren: Die Sportlerinnen, Athleten und Trainer müssen spüren, daß es weniger bürokratische Schwierigkeiten gibt, z. B. bei der Finanzierung der Trainings- und Wettkampfplanungen. Für schnelle und wettkampfgerechte Entscheidungen
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12872 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Lambinusund finanzielle Korrekturen ist jetzt, wie wir meinen, mehr Raum gegeben. Wir begrüßen dieses Angebot an den Sport als einen Beitrag zu mehr Autonomie und Eigenverantwortung.Eine bedeutsame Station auf dem Weg zur Schaffung optimaler Trainingsmöglichkeiten ist die Funktionsfähigkeit der 14 Olympiastützpunkte. Ausstattung, Arbeitsintensität und Wirkungsweise sind immer noch sehr unterschiedlich. Deshalb warnen wir mit allem Nachdruck davor, weiter wertvolle Zeit zu verlieren. Auch in der finanziellen Grundausstattung und der Beteiligung des Bundes haben diese Servicestationen für den Hochleistungssport die Chance, international eine Spitzenposition zu erreichen.Wichtig ist, daß die Attraktivität der Olympiastützpunkte so groß ist, daß die besten Trainer und Sportwissenschaftler für die Mitarbeit gewonnen werden können. Nachdrücklich begrüßen wir den Trend, daß namhafte ehemalige Leistungssportler ihre Erfahrungen an führender Stelle in die Arbeit der Olympiastützpunkte einbringen. Nur ein enges Zusammenspiel zwischen Erfahrungen und neuen Ideen, zwischen Theorie und Praxis kann den Olympiastützpunkten zur bestmöglichen Funktionsfähigkeit verhelfen.In diesem Zusammenhang ist eine kritische Anmerkung dringend erforderlich. Mit Unverständnis haben wir Sozialdemokraten zur Kenntnis genommen, daß es Widerstände gegen eine angemessene Mitbenutzung der Olympiastützpunkte durch behinderte Leistungssportler gibt. Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wir haben für diese Haltung und die vorgebrachten Argumente kein Verständnis.
— Probieren wir es, Herr Kollege.
Wir bitten die Bundesregierung nachdrücklich, darauf hinzuwirken, daß auch behinderte Leistungssportler die Einrichtungen der Olympiastützpunkte mit benutzen können. Sicherlich mag es die eine oder andere Komplikation geben. Aber erstens wollen wir kein Zweiklassensystem im Leistungssport, und zweitens gilt bei der Problemlösung die bewährte Devise: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Im weiteren Verlauf der Beratungen ersuchen wir die Bundesregierung, gemeinsam mit den Bundesländern und den Sportorganisationen einen Bericht über die Situation, die künftige Nutzung und Aufgabenstellung der verschiedenen leistungssportlichen Zentren in der Bundesrepublik zu erstellen. Mit Hunderten von Millionen Mark wurden in der Vergangenheit errichtet 27 Bundesleistungszentren, die teilweise nun in Olympiastützpunkte umgewandelt wurden, sechs Sportinternate mit bundeszentraler Funktion, über 50 Landesleistungszentren, rund 180 ortsnahe Stützpunkte und sportmedizinische Untersuchungszentren. Dazu kommen die Sportschulen, Sportfördergruppen und Sportkompanien der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes sowie der Länderpolizeien. Der Sportausschuß ist, wie ich meine, der richtige Ort, einen entsprechenden Bericht über dieNutzung der Leistungssportzentren in den 90er Jahren zu beraten.Durch das Thema Doping sind Teilbereiche des Leistungssports in große Bedrängnis geraten. An der Ernsthaftigkeit der Bemühungen, durch Aufklärungsarbeit und durch verbesserte sportmedizinische Betreuung der Sportlerinnen und Athleten Fehlentwicklungen Einhalt zu gebieten, sollte es aber, wie wir meinen, keinen Zweifel geben. Der Sportausschuß des Deutschen Bundestages hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dieser Gefährdung des humanen Leistungssports befaßt. In allen Beratungen mit den Sportorganisationen und den Sportwissenschaftlern haben wir klargemacht, daß eine finanzielle Förderung nur bei klaren Verhältnissen im Leistungssport möglich ist.Durch die von der SPD-Fraktion bewirkte öffentliche Anhörung des Sportausschusses am 14. Oktober 1987 zur „Humanität im Spitzensport" wurden deutliche Zeichen gesetzt, Erkenntnisse gewonnen und den Sportorganisationen Hilfestellung gegeben.Es bietet sich die Gelegenheit, die Bundesregierung an die Beantwortung der Großen Anfrage meiner Fraktion „Entwicklung und Förderung des Spitzensports" zu erinnern. Herr Bundesinnenminister, ich denke, ein Jahr dürfte ausreichen, um auch zu schwierigen Fragen Stellung zu nehmen.Im Verlauf der Beratungen zum Sechsten Sportbericht der Bundesregierung hat sich das Spannungsverhältnis zwischen Sport und Umwelt immer mehr zu einer Gefährdung der Sportausübung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene entwickelt. Wir Sozialdemokraten bleiben dabei, daß beispielsweise im Interesse des Naturschutzes Einschränkungen der Sportausübung, auch des Tourismus, hingenommen werden müssen.Ich füge aber hinzu: Gleiches Recht für alle. Weder kommerzielle noch militärische Nutzung können dort gestattet werden, wo beispielsweise Paddlern oder Ruderern die Sportausübung verweigert wird. Auch können Individualinteressen nicht ständig über das Gemeinschaftsinteresse gestellt werden.
— Noch nicht!
— Sie wissen: Wir sind beide nicht ganz damit einverstanden.
— Tun Sie nicht so!Wir begrüßen es, Herr Minister Schäuble, daß Sie anläßlich der 21. Richterwoche am 17. Oktober in Kassel die Gelegenheit zur Erörterung der Probleme von Sport und Umwelt genutzt haben. Neben den vielfältigen Möglichkeiten, die Entwicklung des Breiten- und Freizeitsports zu unterstützen, obliegt dem Bund ganz wesentlich die Förderung des Leistungssports.Vor einem Jahr fanden in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul die XXIV. Olympischen Sommer-
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Lambinusspiele und die Paralympics der behinderten Sportlerinnen und Sportler statt. Nach Jahren der Gefährdung des Weltsports erlebte die olympische Bewegung einen Triumph über Ideologien und politische Pressionen. Niemals zuvor war die „Universalität des Sports" so deutlich sichtbar wie bei diesen Olympischen Spielen in Korea.Überall in der Welt, wo Blöcke zerfallen und die Freiräume für die Lebensgestaltung der Menschen größer werden, kommt der Sport zu neuer Entfaltung. Vorurteile werden beseitigt, Freundschaften geschlossen und Toleranz praktiziert, wenn auf allen Ebenen des Sports Begegnungen möglich werden.Leider sind die Bedingungen für den Sport in zahlreichen Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika immer noch sehr schlecht. Neben der partnerschaftlichen Sportförderung, die seit rund 25 Jahren durch die Bundesrepublik Deutschland geleistet wird, kommt den nichtstaatlichen Organisationen eine ständig wachsende Aufgabenfülle zu.Wir appellieren auch an das Internationale Olympische Komitee und andere Weltsportorganisationen wie den Internationalen Fußballverband, die FIFA, die Einnahmen aus der Vergabe der Medienrechte noch mehr als bisher für die sogenannte Sportentwicklungshilfe einzusetzen. Dies ist ein Anliegen des mitberatenden Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wir machen es uns zu eigen.Lassen Sie mich mit der Hoffnung schließen, daß es in absehbarer Zeit ein freies Europa des Sports vom Atlantik bis zum Ural geben wird.Die Sozialdemokratische Bundestagsfraktionstimmt der Beschlußempfehlung und dem Bericht des Sportausschusses auf Drucksache 11/3948 zu.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wir stimmen zu. Wir brauchen hier über die Bedeutung des Sports und über unsere Einschätzung des Sports nicht zu streiten. Ich stimme mit beiden Vorrednern weitgehend überein.Der Sechste Sportbericht, über den wir heute debattieren, ist von der Wirklichkeit teilweise überholt. Wir sprechen über aktuelle Fragen, die uns, auch im Sportausschuß, ständig beschäftigen. Ich möchte einige Fragen herausgreifen.Erstens möchte ich darauf hinweisen, daß die finanziellen Aufwendungen für Maßnahmen des Spitzensports doch sehr stark angestiegen sind, nämlich um 50 % in den letzten Jahren seit 1982, wenn ich das richtig sehe; im nächsten Jahr sind es 71,5 Millionen DM. Das ist ein hoher Betrag. Hinzu kommen die Mittel für den Sportstättenbau. Es kommt die Sporthilfe hinzu, deren Haupteinnahmequelle in gewisser Hinsicht ebenfalls staatlich vermittelte Gelder sind, die Briefmarke und die Glücksspirale, und es gibt Forderungen der Länder, die hier eine Rolle spielen, und nicht zuletzt die Spenden der Wirtschaft.Für die Leistungssportförderung in der Bundesrepublik Deutschland wird also, meine ich, genügend Geld ausgegeben. Am Geld kann es also nicht liegen, wenn wir uns über Defizite unterhalten. Ich meine, Herr Schäuble, es liegt auch nicht am Förderungskonzept. Das ist immer wieder fortgeschrieben worden, und ein wichtiger neuer Abschnitt ist mit den Olympiastützpunkten eingeleitet worden. Also fragen wir uns: Was ist denn im Sport los, daß wir Defizite zu beklagen haben, woran liegt es, daß Defizite im Spitzensport bestehen?Wolfgang Mischnick und ich haben uns im Juli dieses Jahres zur Situation des Spitzensports und zur Spitzensportförderung geäußert, und ich wiederhole unsere Forderung, an deren Nicht-Verwirklichung einiges hängt: Die Zersplitterung der Spitzensportbetreuung im deutschen Sport muß überwunden werden. Mit der Betreuung der Spitzensportler sind heute eine ganze Reihe von Organisationen befaßt: der Deutsche Sportbund, das NOK, die Deutsche Sporthilfe, die Fachverbände. Wir meinen, daß eine Straffung der vorhandenen Struktur notwendig ist, und gerade in der Personalunion des NOK-Vorsitzes und des Sporthilfe-Vorsitzes in Person des erfahrensten deutschen Sportführers Willi Daume sehe ich eine Chance, dies zu erreichen.Wir möchten dem Sport nichts vorschreiben, aber wir stellen doch einige Fragen: Ist nicht die Zahl von etwa 3 500 Kadermitgliedern zu hoch, und zwar auch dann, wenn man alle Nachwuchskräfte berücksichtigt? Es nehmen ja nur etwa 500 Sportler an den Olympischen Spielen teil, es kümmert sich fast eine gleich große Zahl von Funktionären um diese Sportler. Gibt es nicht zu viele Zwischeninstanzen zwischen dem zu fördernden Sportler und den entscheidenden Stellen, sind die Spitzenathleten nicht stärker als bisher an den Entscheidungen, auch über die Arbeit der jeweiligen Olympiastützpunkte, zu beteiligen? Diese Fragen müssen beantwortet werden, meine ich. Es gibt besondere Schwierigkeiten in einigen Fachverbänden, Schwimmverb and, Turnerbund, Leichtathletikverband. Wir meinen, daß hier der deutsche Sport einiges tun muß.Ihre Entscheidung über das Bewilligungsverfahren begrüße ich. Hier wird die Selbstverantwortung der Fachverbände aktiviert, übrigens auch die Selbstverantwortung für Mißerfolge, die dann ebenso deutlich getragen werden muß.Das Konzept der Olympiastützpunkte ist richtig. Defizite gibt es. Ich stimme meinen Vorrednern zu, wir werden im Sportausschuß darauf zu achten haben, daß das Steuergeld effizient eingesetzt wird. Am Bund liegt es nicht.Doping: Unsere Position ist eindeutig, wir lehnen Doping ab, und die internationalen Verbände und auch das NOK sollten die Gefahren sehen, die für Ansehen und Faszination des internationalen Spitzensports bestehen.
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12874 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
BaumAber ich meine, der Ansatzpunkt ist im Moment nicht richtig, auch wenn man die ganzen Abgrenzungsprobleme sieht, die sich aus der ärztlichen Behandlung mit Medikamenten ergeben. Ich meine, in den Mittelpunkt des Kampfes gegen Doping gehört das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Ich habe den Eindruck, heute wird zuviel getestet, Analytikverfahren, man läuft den Leuten praktisch mit dem Urinbeutel nach. Vorher muß es geschehen, und zwar im ständigen Austausch, im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Ich könnte mir vorstellen, daß hier auch mal der deutsche Sport ein Konzept entwickelt, wie das geht. Hier liegt ein Schlüssel zur Bekämpfung des Dopingmißbrauchs bei uns in der Bundesrepublik.Trainerfrage: 120 Bundestrainer, 400 Honorartrainer, 115 Millionen DM durch den Bund. Ich meine, der DSB sollte ein neues Trainerkonzept vorlegen, mit dem auch mehr personelle Beweglichkeit erreicht werden kann. Es gibt Fälle, in denen ein früher durchaus geeigneter Trainer für diese Aufgabe nicht mehr geeignet ist, ohne daß seine Leistungsfähigkeit in anderen Bereichen des Sports in Frage stünde. Der Sport sollte also für die Trainer Möglichkeiten eröffnen, die in diese Situation kommen. Bürokratische Erstarrung, am Versorgungsdenken orientiert, können wir uns im Trainerbereich nicht leisten.Sport und Umwelt: Wir stehen mitten in einer Debatte über die Sportausübung in Wohngebieten. Hier muß ein vernünftiger Interessenausgleich erfolgen, den Sie ja suchen, Herr Schäuble. Es wird immer einen Spielraum der Rechtsprechung geben. Er sollte jedoch durch neue Kriterien berechenbarer werden.Deutsch-deutsche Sportbeziehungen: In der DDR wird von den Menschen der freie Reiseverkehr gefordert. Die neue Staatsführung hat Änderungen in Aussicht gestellt. Ich meine, daß der freie Reiseverkehr auch zu einem freien Sportverkehr führen muß. Staatlich gegängelte Sportkalender, die von der DDR-Führung abgesegnet werden, passen nicht mehr in die Landschaft. Reisefreiheit heißt auch Freiheit des Sportverkehrs.Ich möchte als Kölner, aber nicht nur als Kölner, das Deutsche Sportmuseum in Köln erwähnen. Ich wünsche, daß hier weiter positive Entscheidungen möglich sind.Die Situation der Sportvereine ist durch die Entscheidung der Bundesregierung und durch die Vereinsbesteuerung auf eine gute Basis gestellt worden. Ziel ist die Hilfe zur Selbsthilfe.Alles in allem, meine Damen und Herren: Wir unterstützen Sie, Herr Schäuble, und die Bundesregierung, die ja auch in anderen Ressorts, etwa im Verteidigungsressort, für die Sportförderung eine Menge tut. Sie stehen in der Kontinuität der früheren Politik. Das merken Sie ja auch an der Zustimmung, die Sie hier durch die Opposition erfahren.Sie, Herr Schäuble, haben wichtige neue Akzente gesetzt, die wir unterstützen. Wir sind gespannt auf unsere Gespräche mit dem deutschen Sport. Wir erwarten dort einiges rechtzeitig vor den nächsten Olympischen Spielen. Wir bedürfen einiger wichtigerEntscheidungen, die der Sport nur in eigener Verantwortung treffen kann. Er muß sie aber auch treffen.
Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Gehen wir einmal davon aus, daß der Sechste Sportbericht der Bundesregierung nicht nur die Aufgabe hatte, Zahlenmaterial zusammenzustellen, sondern auch und gerade, die Rahmenbedingungen abzustecken, innerhalb derer die akuten Probleme des Hochleistungssports angegangen werden sollen, dann hat dieser Sportbericht seine Aufgabe nicht erfüllt. Noch nicht einmal Denkanstöße gehen von ihm aus.Um diesen Mangel zu beheben, hat der Sportausschuß einstimmig eine Beschlußempfehlung verabschiedet, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, im Siebten Sportbericht über die vordringlichen Probleme von Sport und Umwelt, Kinder im Höchstleistungssport, Doping und die sachgerechte Berücksichtigung von Werbeeinnahmen bei den Spitzensportverbänden usw. zu berichten.Dabei geht es uns GRÜNEN auch darum, daß die Regierung dazu ihre sportpolitischen Positionen darstellt und sich nicht hinter der vermeintlichen Autonomie des Sports versteckt. Das macht sie ja auch nicht, wenn die Bundesregierung feststellt, daß Sport der gesamtgesellschaftlichen Repräsentation des Staates nach innen und außen dient. Herr Schäuble spricht davon, daß für ihn das Entscheidende sei: Nationale Identität schaffe Stabilität.Hier wird von der Bundesregierung offen für die ideologische Instrumentalisierung des Sports plädiert. Hier wird das unstillbare Verlangen nach nationaler Selbstdarstellung deutlich. Nationale Selbstdarstellung soll durch Medaillen und Weltrekorde erreicht werden. Folglich wird der Spitzensporthaushalt aus Bundesmitteln auf nahezu 100 Millionen DM erhöht, und die Förderung wird nur noch auf wenige Spitzensportler mit internationalem Leistungsniveau und auf erfolgversprechenden Nachwuchs konzentriert. Die olympischen Sportarten, bei denen viele Medaillen zu holen sind, haben dabei absoluten Vorrang. Viele Leistungssportler und Leistunssportlerinnen wurden, so heißt es übrigens in den Olympiastützpunkten, als sportliche „Altlasten" aussortiert, viele Sportarten wurden bewußt benachteiligt.Durch Zentralisierung auf die Olympiastützpunkte und Leistungszentren erfolgt die Optimierung der Trainingsbedingungen auch für Kinder. Es ist die logische Folge der computergestützten, biomechanischtrainingswissenschaftlichen Erkenntnis, daß für eine bestimmte Leistung und für den geplanten Erfolg ein bestimmtes Alter für den Eintritt in den Hochleistungssport vonnöten ist. Dieses beträgt z. B. beim Kunstturnen 5 bis 6 Jahre, beim Eiskunstlauf 5 Jahre, beim Schwimmen 6 Jahre und beim Fechten 3 Jahre.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12875
BrauerGenerell gilt, daß im Kinderhöchstleistungssport eine 60-Stunden-Woche eher die Regel als die Ausnahme ist.
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz auf den Kinderhochleistungssport eingehen. Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen kindlichem Sport und Kinderhochleistungssport. Hochleistungssport steht unter zwanghafter Erfolgsorientierung. Spitzensport braucht den Kinderhochleistungssport als Voraussetzung, um überhaupt weiterbestehen zu können. Dieser Existenzsicherung wird alles andere untergeordnet, auch die gesunde Entwicklung der Kinder. Denn selbstverständlich gilt gerade für Kinder, die einmal in die Spitzensportmaschinerie hineingeraten sind, das eherne Alles-oder-Nichts-Prinzip; nur die allerbesten kommen weiter. Kinder sind im Hochleistungssport Objekte eines für sie schwer durchschaubaren Betriebs, lediglich gemessen und beurteilt über ihren Erfolg und über ihre Leistung. Von Liebe und Umihrer-selbst-willen-geachtet-Sein kann man bestimmt nicht sprechen. Sogar das normale Maß an Zuwendung ist leistungsabhängig.Nur ein Kind, das diese fremden Normen internalisiert hat, kann sich in diesem System zurechtfinden. Die Einsamkeit im kindlichen Spitzensport ist evident, zumal zum Aufbau normaler außersportlicher Beziehungen keine Zeit bleibt. Ebenso evident ist die Mißachtung der kindlichen Subjektivität und Würde, weil sie stets nur über die Leistung definiert werden.
— Sie wissen doch, was es bedeutet, sich Kinderhochleistungssport einmal anzuschauen.
Das ist Quälerei und Kinderarbeit.Ich will hier nicht weiter fortfahren und nicht über verordnete Hungermaßnahmen bei Mädchen, über das gezielte Hinauszögern der Menarche, über die vielen Verletzungen und über die 99 % der Kinder sprechen, die trotz schwerster Quälerei später nicht auf dem Treppchen stehen, sprechen.Ich will kurz anreißen, warum der Kinderhochleistungssport bisher reibungslos funktioniert.
— Doch. — Ein gewichtiger Grund ist der rechtsfreie Raum, in dem er sich bewegt. So wäre es juristisch prüfenswert, ob bei Spätschäden Kinder Forderungen an die Eltern oder die Sportverbände stellen können. Ebenso interessant ist es, die Legitimität der staatlichen Förderung des kindlichen Spitzensportes zu untersuchen, weil ganz ohne Zweifel Kinderhochleistungssport Kinderarbeit ist.Im heutigen Spitzensportbetrieb sind Hochleistungssport an Kindern, Doping an Sportlerinnen und Sportlern und ein Leistungsbegriff, der nicht authentisches selbstbestimmtes Handeln meint, sondern derdie Leistung auf abstrakte Werte des CGS-Systems reduziert, zu konstitutiven Elementen geworden.Die GRÜNEN können deshalb den Hochleistungssport nicht unterstützen. Wir unterstützen den Jederfrau- und Breitensport und alle sportlichen Betätigungen, die in Selbstorganisation gemacht werden können. Einzige sinnvolle Begründung ist für uns der Spaß an Spiel und Bewegung.
Herr Brauer, Sie überschreiten sehr, sehr deutlich Ihre Redezeit. Strapazieren Sie meine Großzügigkeit nicht.
Vielen Dank, Herr Präsident.
In der Tat ein überraschender Erfolg. Das Wort hat der Abgeordnete Ferdi Tillmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich Herrn Kollegen Lambinus für seinen fairen und konstruktiven Debattenbeitrag danken. Dieser Redebeitrag der Opposition hat gezeigt, daß es sehr wohl möglich ist, die sachliche und positive sportliche Atmosphäre im Ausschuß auch in das Plenum des Deutschen Bundestages zu übertragen.In diese meine Anerkennung möchte ich allerdings Ihre Ausführungen, Herr Kollege Brauer, nicht einbeziehen. Ich weiß gar nicht, von welchem Land Sie bei Ihrem Vortrag eigentlich gesprochen haben. Vielleicht haben Sie Rumänien oder ein anderes Land gemeint.
Aber die Bundesrepublik Deutschland und ihre Sportförderung können Sie nicht gemeint haben.Kritische Zuhörer dieser Debatte, meine Damen und Herren, werden sicherlich fragen, warum wir erst heute, nach drei Jahren, über den sechsten Sportbericht debattieren. Eine solche Kritik mag ja vielleicht berechtigt sein. Auf der anderen Seite hat es auch gewisse Vorteile, denn im Abstand zu dem Termin der Vorlage des Berichts wird erst deutlich, welche Fortschritte wir in der Sportpolitik der letzten Jahre gemacht haben.Während im Sportbericht im großen und ganzen noch Problembeschreibungen zu finden sind, haben wir es inzwischen mit Problemlösungen zu tun. Das ist auch ein Erfolg, sicherlich ein gemeinsamer Erfolg, unserer Sportpolitik im Ausschuß und in den Fraktionen, aber auch ein Erfolg der Sportpolitik der Regierungskoalition und der Bundesregierung. Das darf ich einmal ausdrücklich anmerken, Herr Minister Schäuble.In wenigen Tagen — um z. B. auf das Thema Sport und Steuern zu kommen — , nämlich am 9. November voraussichtlich, wird der Deutsche Bundestag das Vereinsförderungsgesetz verabschieden. Dann kön-
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Tillmannnen Hunderttausende ehrenamtlich tätige Vereinsvorsitzende und Kassenwarte endlich aufatmen.
— Ja, Sie haben das natürlich bis 1982 nicht zustandegebracht, Herr Kollege Lambinus. Herr Kollege Lambinus, zwingen Sie mich nicht dazu, mein Urteil, das ich eben ausgesprochen habe, zu revidieren.
Nach außerordentlich sorgfältigen Beratungen und einer fortdauernden Rückkopplung mit allen an diesem Entscheidungsprozeß Beteiligten — es war eben eine schwierige Sache, Herr Kollege Lambinus — wird der Bundestag ein in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher einmaliges Vereinsförderungsgesetz verabschieden. Ich finde es gut, daß dieses Gesetz fast einstimmig verabschiedet werden wird, daß es weitgehend Konsens in diesem Hause gefunden hat. Ich wage zu behaupten, daß wir es bei diesem Gesetz mit einem der wichtigsten Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode zu tun haben. Ich möchte auch den Kolleginnen und Kollegen im Finanzausschuß, die sich hier bemüht haben, herzlich dafür danken, daß wir dies so rechtzeitig über die Bühne gebracht haben, daß dieses Gesetz, wie es zugesagt wurde, jetzt zum 1. Januar 1990 in Kraft tritt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Wenn Sie mir die Zeit nicht anrechnen.
Ich rechne sie nicht an. — Also bitte schön, Herr Abgeordneter Penner.
Herr Kollege Tillmann, nun sollen die positiven Seiten dieses Gesetzes nicht heruntergeredet werden. Aber trifft es denn wirklich zu, daß dieses Gesetz die Nöte und Schwierigkeiten der Kassierer der mittleren und kleinen Sportvereine lindern hilft, die sich nach wie vor sehr schwertun mit der Exekutierung immer komplizierter werdender Steuerregelungen?
Zweite Frage. Wollen Sie es denn hier verschweigen, daß es nicht gelungen ist, die Übungsleiterpauschale, die seit vielen Jahren anhängig ist, auf das erforderliche Maß anzuheben?
Herr Kollege Penner, ich danke Ihnen ausdrücklich für diese Fragen. Das gibt mir die Gelegenheit, zunächst einmal Ihre erste Frage mit einem uneingeschränkten Ja zu beantworten. Das kann ich guten Gewissens deswegen tun, weil ich als stellvertretendes Mitglied des Finanzausschusses sehr intensiv an den Beratungen und der Beschlußfassung über dieses Gesetz mitgewirkt habe. 90 bis 95 % aller Vereine werden nach der Beschlußfassung über dieses Gesetz und seinem Inkrafttreten praktisch mit dem Finanzamt nichts mehr zu tun haben. Für sie wird das Wort Finanzamt sozusagen zu einem Fremdwort.Zu Ihrer zweiten Frage. Herr Kollege Penner, auch dies ist natürlich im Finanzausschuß angesprochen worden. Ich habe ja schon in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes betont, daß es jetzt zunächst einmal darauf ankommt, verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten nicht unterschiedlich zu behandeln, sondern hier eine Gleichbehandlung einzuführen. Wir tun mit diesem Gesetz einen ersten Schritt in die richtige Richtung, indem wir auch die Pflege in eine solche pauschalierte Abrechnung einbeziehen und diesen pauschalierten Betrag von 2 400 Mark auch ehrenamtlich tätigen Pflegern in der Alten- und Krankenpflege zuerkennen. Aber das ist nur ein erster Schritt. Solange hier nicht eine Gleichbehandlung aller im ehrenamtlichen Bereich Tätigen herbeigeführt werden kann, ist es nicht gerechtfertigt, jetzt schon einseitig einzelnen Begünstigten eine Erhöhung zuzubilligen. Das habe ich schon in der ersten Lesung zum Ausdruck gebracht.Lassen Sie mich noch auf ein anderes Thema in diesem Zusammenhang zu sprechen kommen, meine Damen und Herren. Das ist Sport und Umwelt im weitesten Sinne. Anfang dieses Jahres ging wieder mal ein Aufschrei durch die Sportöffentlichkeit, als höchstrichterlich festgestellt wurde, daß die Nutzung von Sportanlagen im Interesse der Ruhebedürfnisse einzelner einzuschränken ist. Gott sei Dank hat sich inzwischen nicht nur die Bundesregierung darangemacht, sondern sind wir auch im Parlament dabei, nach Lösungen zu suchen, die zu einer Entspannung führen. Da gibt es den Entwurf der VDI-Richtlinie 3724. Das ist ein konstruktiver Versuch, die Wertigkeit der vom Sport ausgehenden Geräusche sachgerecht, nicht z. B. wie Industriegeräusche, in ihrem Verhältnis zur Umwelt zu bewerten.Die Bundesregierung hat in einer gemeinsamen Stellungnahme der zuständigen Minister zu erkennen gegeben, daß eine rechtliche Regelung im Sinne einer Verwaltungsvorschrift nach § 48 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eine Lösung sein könnte, eine sogenannte TA Freizeitgeräusche. Die technische Grundlage für eine solche technische Anleitung könnte die von mir erwähnte VDI-Richtlinie sein. Aber ich glaube nicht, daß eine solche technische Anleitung dem Problem gerecht wird.Ich bin der Überzeugung, daß eine Rechtsverordnung nach § 23 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes mehr Rechtssicherheit bietet. Ich freue mich darüber, Herr Minister, daß auch die Bundesregierung einer solchen Auffassung nicht fernsteht. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn es uns gelingen sollte, eine solche Rechtsverordnung zusammen mit dem Bundesrat zu verabschieden.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Schmidt. Mein Zwischenruf bezog sich auf die Befahrensregelung für das Wattenmeer. Dieses Problem ist inzwischen in der Tat geregelt, weil sich der Bundesverkehrsminister und der Bundesumweltminister einvernehmlich auf eine dem Sport gerecht werdende Befahrenslösung geeinigt haben.
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TillmannWir begrüßen in diesem Zusammenhang auch sehr, daß dem Bundesrat die Novelle der Baunutzungsverordnung inzwischen vorliegt, die dem Sport weitere Möglichkeiten im Bereich der städtischen und gemeindlichen Planungen zuerkennt. Wir begrüßen es, daß künftig sportliche Anlagen denjenigen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke in den Baugebieten gleichgestellt werden. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Planung und den Bau wohnnaher Sportanlagen werden entscheidend verbessert, wenn der Bundesrat in wenigen Wochen die neue Baunutzungsverordnung verabschiedet.Herr Minister, wir freuen uns darüber, daß die Bundesregierung sozusagen in vorauseilendem Gehorsam einige Forderungen der Beschlußempfehlung, die wir gleich — ich denke, weitgehend einvernehmlich — verabschieden werden, schon erfüllt hat. Ich möchte ausdrücklich dafür danken, daß die Kriterien für die Vergabe der Sportförderungsmittel — Punkt 1 unseres Entschließungsantrages — inzwischen geändert worden sind. Dies schafft mehr Flexibilität; dies entlastet Verbände, Vereine und Sportfunktionäre von überflüssiger Bürokratie. Es ist auch ein entscheidender Fortschritt in der Sache im Hinblick auf eine effektive Spitzensportförderung.Ich möchte herzlich dafür danken, Herr Minister, daß Sie die Beschlüsse des Parlaments, noch ehe sie verabschiedet werden, so ernst nehmen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat noch einmal der Abgeordnete Brauer.
Vielen Dank, Herr Präsident! In den letzten 60 Sekunden möchte ich einen Aspekt ansprechen, nämlich die aktuelle Problematik des Lärms durch Sportanlagen in städtischen Ballungsräumen. Wir freuen uns mit, wenn Kinder freudig lärmend draußen spielen.
Wir freuen uns, wenn auf dem Rasen, auf dem Spielplatz, dem Bolzplatz, der kleinen Sportanlage und der Spielstraße reges Treiben herrscht.
Wir haben schon mehrfach eine Änderung der Baunutzungsverordnung mit dem Ziel eingebracht, die starke Trennung von Wohnen, Freizeit und Arbeit aufzuheben. Dies würde den bestehenden Konflikt in den meisten Fällen lösen helfen. Wir unterscheiden jedoch deutlich nach Art und Größe der sportlichen Anlagen. Großsportanlagen, wo Lautsprecher, Träten usw. eingesetzt werden und wo Massenspektakel stattfinden, werden wir nicht unterstützen.
Sportförderung muß also vielmehr den selbstorganisierten Breitensport erreichen.
Danke schön.
Das Wort hat der Bundesminister des Inneren, Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben ein großes Maß an Gemeinsamkeit, jedenfalls zwischen der Koalition und der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Herr Kollege Baum, das hat in der Tat auch damit zu tun, daß wir alle ein Stückweit in der Kontinuität stehen. Ich bekenne mich dazu ausdrücklich. Ich bekenne mich auch zu meiner persönlichen Kontinuität, denn ich bin einmal sportpolitischer Oppositionssprecher gewesen. Ich freue mich natürlich besonders darüber, daß eines der zentralen Anliegen aus dieser Zeit mit dem Vereinsförderungsgesetz, das zum 1. Januar in Kraft treten wird, nun endlich verwirklicht wird.Weil dies so ist, brauchen wir in dieser Debatte nicht über die grundsätzliche Bedeutung des Sports zu reden. Vielmehr möchte ich zu einigen konkreten Punkten der Debatte einige wenige Anmerkungen machen. Dabei sage ich zunächst einmal: Herr Kollege Brauer, Sie sollten, falls es Ihnen um die Sache geht, bei dem was Sie an Konzentration der Sportförderungspolitik des Bundes auf den Leistungssport erkennen, berücksichtigen, daß — das müssen wir als Mitglieder von Bundesorganen immer wieder sagen — das Gros, daß der Großteil der Sportförderung durch die öffentliche Hand in der Bundesrepublik Deutschland nach unserem Grundgesetz natürlich durch die Länder und die Gemeinden erfolgt. Der Bund hat nur eine Zuständigkeit für die Förderung des Spitzensports auf nationaler Ebene und darüber hinaus für einige wenige Sonderbereiche, und natürlich kann der Sportbericht der Bundesregierung auch nur darüber berichten. Das muß ich hier doch noch einmal sagen.Noch etwas sollte in diesem Zusammenhang klargestellt werden. Die Sorgen in bezug auf Kinder im Hochleistungssport, von denen Sie gesprochen haben, haben wir uns gemeinsam, soweit wir uns damals schon hiermit befaßt haben, bereits in den 70er Jahren gemacht. Mein Eindruck ist, daß Sie von irgend etwas gesprochen haben, was weit weg von der Bundesrepublik Deutschland ist. Aber ganz gewiß werden wir entsprechend der Beschlußempfehlung, die das Hohe Haus jetzt ja wohl verabschieden wird, im Siebenten Sportbericht über die Situation der Kinder im Hochleistungssport und auch über das, was es im Sport und bei denjenigen, die für die Sportförderung zuständig sind, an Überlegungen zu dieser Problematik gibt, berichten, und dann werden wir darüber vielleicht ein bißchen fundierter debattieren können, als es mir heute bei Ihnen, Herr Kollege Brauer, der Fall gewesen zu sein schien.Herr Kollege Lambinus, die Große Anfrage wird nun in der Tat bald beantwortet. Daß die Antwort ein bißchen länger gedauert hat, liegt einfach daran, daß ich die neuen Kriterien der Vergabe von Sportfördermitteln mit den Spitzenfachverbänden erörtern wollte, weil mein Verständnis von Partnerschaft im Sport, von Partnerschaft mit den freien Organisationen des Sports eben so ist, daß man das zunächst einmal miteinander erörtert. Das ist in der vergangenen Woche geschehen. Sie alle haben dazu Positives ge-
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Bundesminister Dr. Schäublesagt. Ich bedanke mich dafür. Nun werden wir auf der Grundlage dieser Erörterung Ihre Große Anfrage bald beantworten.
Ich bitte um Nachsicht dafür, daß es deswegen so lange gedauert hat, aber ich denke, daß das auch in Ihrem Sinne ist.Herr Kollege Baum, was Sie zur Zersplitterung der Zuständigkeiten in den Sportorganisationen hinsichtlich der Betreuung des Spitzensports gesagt haben, will ich mir vielleicht nicht in dieser Akzentuierung zu eigen machen, obwohl ich es als kritische Frage auch schon mehrfach gestellt habe. Ich hoffe, daß die Stärkung der Rolle des Bundesausschusses für Leistungssport, für die ich mich ja in der vergangenen Woche eingesetzt und für die ich auch konkrete Maßnahmen, die Sie begrüßt haben, vorgeschlagen habe, ein Stückweit dazu beiträgt, die Zersplitterung von Zuständigkeiten zu verringern. Denn im Bundesausschuß für Leistungssport treffen ja alle zusammen. Es war, finde ich, eine kluge Idee, diesen Bundesausschuß zu schaffen und dazu zu nutzen, daß dies bei denen, die sich darum kümmern, nicht gegeneinander, sondern miteinander läuft.Herr Kollege Lambinus, auch das will ich ganz offen ansprechen: Die Olympiastützpunkte — die grundsätzliche Richtigkeit ihrer Konzeption ist hier betont worden, und das brauche ich nicht zu wiederholen — sind bis jetzt sehr unterschiedlich entwickelt. Wir werden darauf drängen müssen, daß die, die noch nicht so weit entwickelt sind, sich den besseren annähern. Auch da muß der Bundesausschuß für Leistungssport eine ganz besondere Rolle spielen. Das alles ist gesagt, das alles ist von mir zu unterstreichen und wird von mir unterstützt.Lassen Sie mich eines hinzufügen: Die Olympiastützpunkte eignen sich von ihrer Konzeption und Konstruktion her nicht oder nur sehr eingeschränkt für die Betreuung von behinderten Sportlern. Darüber muß man wirklich offen sprechen. Wir sollten hier keine Kulissenschieberei betreiben. In der vergangenen Woche gab es eine Ehrung behinderter Leistungssportler. Das ist im übrigen für jeden, der da gelegentlich mit erfolgreichen behinderten Sportlern zu tun hat, eine ungeheuer beglückende Erfahrung, und ich kann immer nur empfehlen, diesen Kontakt intensiv zu nutzen. Dort wurde gesagt: Wir werden entsprechende Betreuungs- und Förderungsmöglichkeiten auch für den Leistungssport von Behinderten schaffen. Aber es wäre unredlich, den Eindruck zu erwecken, als könnten wir in den Olympiastützpunkten den Leistungssport für Behinderte gezielt fördern; das macht wenig Sinn. Ich glaube, wir sollten den Behindertensport behindertengerecht fördern. Deswegen sind die Olympiastützpunkte — ich will das offen sagen — nach meiner Überzeugung nicht der richtige Weg. Im übrigen, soweit es Möglichkeiten gibt, wird das auch in Zukunft der Fall sein.
— Sie ist ein Stückweit möglich, obwohl Sie bei derBehindertenbetreuung, auch der medizinischen Betreuung von Behinderten im Bereich der Sportmedizin ein Stückweit unterscheiden müssen.Ich glaube, daß die umfassende Betreuung der Athleten insbesondere durch die Olympiastützpunkte in medizinischer psysiotherapeutischer und sozialer Hinsicht mit der wichtigste Ansatzpunkt ist, um Doping noch erfolgreicher zu bekämpfen als bisher. Natürlich müssen wir das Kontrollsystem verbessern und weiterentwickeln. Aber wir sollten uns keine Illusionen machen: Mit Kontrollen allein ist ein solches Problem niemals zu lösen. Eine verbesserte soziale, medizinische Betreuung, auch ein intensiveres Partnerschaftsverhältnis zwischen Arzt und Sportler — Herr Kollege Baum, das sei ausdrücklich bestätigt — sind ein richtiger Ansatz. Auch dazu bieten die Olympiastützpunkte einen geeigneten Ansatz.Wir werden eine Interessenabwägung zwischen Sport und Umwelt — auch da stimmen wir überein — durchführen müssen. Herr Kollege Tillmann: Geht es mit einer technischen Anleitung? — So etwas ist mir lieber als gar nichts; denn es muß ja in dieser Legislaturperiode zustande kommen. Aber ich habe ausdrücklich gesagt: Wenn sich herausstellt, daß diese Maßnahme nicht ausreicht, dann werden wir darüber nicht nur zu reden haben, sondern auch die entsprechenden Konsequenzen ziehen, nämlich auch einen weiteren Schritt zu gehen. Denn es darf nicht sein, daß wir die Möglichkeit, Sport zu treiben, immer weiter von den Menschen wegbringen. Das ist im übrigen auch unter Umweltgesichtspunkten überhaupt nicht sinnvoll. Vielmehr sollten wir dieses näher beisammenhalten und näher zusammenbringen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, die Interessen besser in Übereinstimmung zu bringen; auch diese Debatte hat das unterstrichen.Ich möchte noch eine letzte Bemerkung machen. Wir haben den Deutschen Sportbund dafür gewinnen können, ein besonderes Programm zur Integration von Aus- und Übersiedlern zu starten. Ich möchte mich dafür beim Deutschen Sportbund ausdrücklich bedanken und möchte an alle in den Sportvereinen appellieren, dieses Programm breit zu nutzen.
Wir wissen aus der Vergangenheit, daß es kaum einen besseren Lebensbereich gibt, um Menschen, die neu zu uns kommen, rasch aufzunehmen und hier zu integrieren. Auch diese Seite zeigt, welche große Bedeutung der Sport für uns alle hat.Herr Präsident, ich möchte mich am Schluß dieser Debatte für die Förderung des Sports bedanken. Unser Land ist — vielleicht wie kein anderes, Herr Kollege Brauer — im Breiten- und Freizeitsport hochentwickelt. Wir haben vielleicht Defizite im Leistungssport, aber im Breiten- und Freizeitsport, übrigens auch im Behindertensport gibt es nach meiner Kenntnis kein Land auf dieser Erde, das unsere Möglichkeiten überbietet. Das ist nicht in erster Linie ein Erfolg des Bundes, sondern das ist ein Verdienst der Anstrengungen von Ländern und Gemeinden. Dies sollte
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Bundesminister Dr. Schäublezur Wirklichkeit des Sports in der Bundesrepublik Deutschland gesagt werden.
— Sie haben aber einen anderen Eindruck erweckt, Herr Kollege.
— Ich habe sehr aufmerksam zugehört. — Sie werden doch erlauben, daß man einen falschen Eindruck, den Sie möglicherweise unwillentlich hervorgerufen haben, am Schluß der Debatte korrigiert.Die Sportler der Bundesrepublik Deutschland sind im Leistungssport erfolgreich. Wir haben in diesem Bereich aber auch Defizite; das ist wahr. Wir sind im Bereich von Breiten-, Freizeit-, auch und gerade Behindertensport weltweit Spitze und wollen es auch in Zukunft bleiben.Der Sport hat in diesem Hause eine große Unterstützung, auch in der Kontinuität. Ich möchte mich vor allen Dingen bei den Kollegen im Sportausschuß dafür herzlich bedanken.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende dieser Debatte.
Ich lasse jetzt über die Beschlußempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache 11/3948 abstimmen. Wer dieser Beschlußempfehlung seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen.
— Ich darf feststellen, daß sie einstimmig angenommen worden ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung
— Drucksachen 11/2739, 11/4143 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Nelle
Weisskirchen Frau Hillerich
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft
aa) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Konzeption für die Förderung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungsstätten
bb) zu dem Antrag der Abgeordneten Odendahl, Dr. Penner, Dr. Böhme , Kastning, Kuhlwein, Dr. Niehuis, Rixe, Weisskirchen (Wiesloch), Andres, Bernrath, Gerster (Worms), Dr. Pick, Schanz, Seidenthal, Bulmahn, Ibrügger, Westphal, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten
cc) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Hillerich, Wetzel und der Fraktion DIE GRÜNEN
Kooperation der Lernorte in der über- und außerbetrieblichen Berufsbildung beim Lernen mit neuen Technologien
— Drucksachen 11/2824, 11/2728, 11/3075, 11/5050 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Nelle Rixe
Frau Hillerich
Zu Punkt 9 b der Tagesordnung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5454 vor.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat der Abgeordnete Schemken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die vorliegende Entschließung des Europäischen Parlaments zur Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der schulischen und auch der beruflichen Bildung ist ein Wegweiser für die Berufsbildungspolitik, aber auch für die Bildungspolitik der EG-Staaten. Durch die Umsetzung dieser Entschließung sollen Mädchen und Jungen gleiche Chancen in der beruflichen Bildung erhalten.Vor diesem Hintergrund erwartet der Deutsche Bundestag — dies wurde in den Fachgremien ausführlich beraten - , daß die Bundesregierung die EG-Kommission auffordert, dem Europäischen Parlament innerhalb eines Jahres einen Bericht über die Durchführung der in dieser Entschließung genannten Maßnahmen vorzulegen. Gleichzeitig sind die angeregten Maßnahmen zur Chancengleichheit im Rahmen des kooperativen Bildungsföderalismus in die Tat umzusetzen.Ich darf hier ausdrücklich sagen, daß unser Berufsbildungssystem nicht nur der Wirtschaft im EG-Binnenmarkt Vorteile verschafft, sondern daß diese Vorteile auch den Menschen in ihren existentiellen Situationen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, aber auch im Hinblick auf die soziale Sicherung zugute kommen sollen.Unser Beitrag in Europa auf diesem Felde muß sich im wesentlichen auf die Qualifikation und Chancengerechtigkeit nach Eignung und Neigung beziehen.
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12880 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
SchemkenDas Nord-Süd-Gefälle in Europa — ein solches Gefälle gibt es gerade im Hinblick auf die unterschiedliche Ausgangssituation — kann mit der Zukunftsinvestition Bildung wirksam und langfristig beseitigt werden. Ich verweise hierbei insbesondere darauf, daß die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte, die am 8./9. Dezember in Straßburg verabschiedet werden soll, ausdrücklich das Recht auf Berufsausbildung formuliert. Hierin werden insbesondere die Arbeitnehmerschaft, die Berufsausbildung und das Erwerbsleben in der Europäischen Gemeinschaft hervorgehoben. Die Unternehmen und die Sozialpartner werden aufgefordert, in ihrem Zuständigkeitsbereich Voraussetzungen für Fort- und Weiterbildung zu schaffen.Die Charta geht weiter davon aus, daß im Bereich des europäischen Binnenmarkts das Recht auf Teilnahme an Berufslehrgängen besteht. Diejenigen, die sich auf Hochschulebene oder auch in anderen Qualifizierungslehrgängen weiterbilden, können in dem Mitgliedstaat, auf dessen Hoheitsgebiet die Lehrgänge angeboten werden — unter den Voraussetzungen, die Angehörige dieses Staates zu erfüllen haben — , an diesen Weiterbildungsmaßnahmen teilhaben.Aber auch wir hier in der Bundesrepublik Deutschland, meine ich, haben gute Gründe, gerade in der Berufsbildung einen Schwerpunkt der Bildungspolitik zu setzen. Auch wenn sich der Ausbildungsstellenmarkt hervorragend entwickelt, brauchen wir einen qualifizierten Einstieg der jungen Menschen in die Berufswelt. 250 000 junge Fachkräfte weniger — das müssen wir mit Nachdruck vermerken — stehen zukünftig zur Verfügung. Wir sollten Aussiedler und Übersiedler gerade wegen dieser Probleme auf dem Arbeitsmarkt herzlich willkommen heißen.Um so mehr müssen wir über die Frage der unterschiedlichen Begabung junger Menschen nachdenken, und zwar dahin gehend, wie wir sie von der unterschiedlichen Qualifikation her zu beruflicher Tätigkeit befähigen. Wir dürfen hier auch feststellen, daß die unterschiedliche Eignung und Neigung zu einer unterschiedlichen Qualifikation führt. Wenn wir schon ein Manko an Jugendlichen haben, die eine Ausbildung absolvieren und einen Beruf ergreifen, dann wäre es meiner Meinung nach fatal, wenn wir nicht allen jungen Menschen einen solchen Einstieg gewähren würden.Auf Grund der rasch fortschreitenden technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, auf Grund des Wandels und der damit zusammenhängenden beruflichen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen vor allen Dingen in der demographischen Entwicklung und der wachsenden Konkurrenz durch den EG-Binnenmarkt wird die Bedeutung der Weiterbildung künftig weiter zunehmen. Die Verfügbarkeit von qualifizierten Führungskräften, aber auch von qualifizierten Mitarbeitern wird zu einem immer wichtigeren Standortfaktor für die Unternehmen, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Hier ist insbesondere auf die Notwendigkeit zur beruflichen Weiterbildung hinzuweisen. Sie beschränkt sich nicht mehr auf bestimmte Tätigkeitsbereiche und Berufsgruppen. Im Gegenteil, Weiterbildung ist vielmehr eine weitereund wichtige Zukunftsaufgabe, der sich jeder einzelne, jedes Unternehmen, die Wirtschaft insgesamt sowie Staat und Gesellschaft vorrangig stellen müssen.Die Konzeption der Bundesregierung für die Förderung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungsstätten ist ein Beitrag hierzu. Gerade Klein- und Mittelbetriebe sind auf eine Konzeption für ausbildungsbegleitende überbetriebliche Ausbildungsstätten angewiesen.Nun hat sich die Bund-Länder-Kommission schon 1977 auf ein Ausbauziel von 77 100 überbetrieblichen Ausbildungsplätzen verständigt. Von diesen 77 100 Ausbildungsplätzen nach dieser Konzeption sind noch 2 000 zu schaffen. Der Bedarf ist natürlich regional sehr unterschiedlich.Wir sind der Meinung, daß angesichts der Tatsache, daß drei Viertel der Auszubildenden oder Lehrlinge in Klein- und Mittelbetrieben ausgebildet werden, diese Maßnahme insbesondere diesen Unternehmen zugute kommt. Die Verwendung moderner Techniken muß auch bei der betriebsübergreifenden Ausbildung weiter verstärkt werden. Es ist mittelständischen Unternehmen nicht möglich, diese modernen Technologien in allen Bereichen so einzuführen, daß sie im Hinblick auf die die Ausbildungserfordernisse bestimmenden Innovationsintervalle zeitgerecht zur Verfügung stehen. Hier gibt es im Hinblick auf die Konjunkturzyklen und auch auf die Konkurrenzfähigkeit Probleme. Das ist auch eine Frage der Kapitaldecke. Insofern ist der Konjunkturaufschwung, den wir augenblicklich als wohltuend empfinden, auch notwendig, um das Betriebskapital auch hinsichtlich der Ausbildung weiter zu erhöhen.Gleiches gilt auch im Zusammenhang mit der Weiterbildung einschließlich der Ausbildung der Ausbilder. Ich sage einmal ausdrücklich: Wir können es uns nicht weiter erlauben, ohne Konzepte und ohne nachdrückliche Unterstützung — das gilt für Staat und Gesellschaft, aber auch für die Unternehmen selbst — an die Ausbildung der Führungskräfte im Hinblick auf die technologischen Bedürfnisse heranzugehen. Insbesondere ist an den Technologietransfer auch in Klein- und Mittelbetrieben zu denken. Man kann den Erfordernissen durch überbetriebliche Ausbildungsstätten und den Transfer von technologischen Erkenntnissen besser gerecht werden.Die Weiterbildung der Ausbilder muß unser verstärktes Anliegen, aber zugleich auch die Verpflichtung der Wirtschaft sein. Ich glaube, daß die konjunkturelle Entwicklung und die Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt die Möglichkeit schaffen, daß sich auch die Wirtschaft mehr, als das noch über das Arbeitsförderungsgesetz geschieht, diesen Weiterbildungsverpflichtungen stellt.Durch Modernisierungsprogramme insbesondere auch für die Ausstattung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten sollte man sich ständig den Entwicklungen anpassen. Hier kommt vor allen Dingen dem zukunftweisenden Teil der Konzeption eine besondere Bedeutung zu. Schließlich sind es gerade die Klein- und Mittelbetriebe, die sich schwertun. Ich hatte soeben schon auf die Innovationsproblematik
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Schemkenhingewiesen. Solche Betriebe sind wegen der immer kürzer werdenden Innovationswellen mit einer Eigenfinanzierung völlig überfordert. Insofern ist es erfreulich, daß die Bundesregierung dem mit immerhin 100 Millionen DM Investitionszuschüssen für 1989 Rechnung trägt.Flankierende Zuschüsse zu den laufenden Kosten überbetrieblicher Ausbildungsstätten in der Startphase kommen hinzu. Auch dies ist sehr erfreulich. Denn gerade in der Anlaufphase solcher Einrichtungen ist es außerordentlich schwierig, die notwendigen Mittel selbst bereitzustellen. Ich bin fest davon überzeugt, daß diese Maßnahmen dazu beitragen werden, daß weitere Ausbildungsplätze geschaffen werden.Der Bund deckt im ersten Jahr nach der Betriebsaufnahme ein Defizit immerhin bis zu 50 %. Dies ist sicherlich erfreulich. Ich kann der Bundesregierung, vor allen Dingen auch dem zuständigen Bildungsminister, hierfür nur herzlichen Dank sagen.Als Ergebnis ist festzustellen, daß die Konzeption für die Förderung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungsstätten den bildungspolitischen Bedürfnissen und Herausforderungen Rechnung trägt. Im übrigen hat auch die öffentliche Anhörung im Ausschuß am 17. April dieses Jahres bestätigt, daß diese überbetrieblichen beruflichen Ausbildungsstätten auch zukünftig gerade für Klein- und Mittelbetriebe eine unverzichtbare Funktion haben und daß wir alles tun müssen, um sie auch in der Reinvestition zu unterstützen.Ich glaube, daß die Konzeption der Bundesregierung dabei richtig liegt. Der Antrag der Fraktion der Sozialdemokraten zur Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten ist dadurch eigentlich überholt. Auch die Anhörung hat deutlich gemacht, daß mit dem ursprünglichen Ausbauziel der Bund-LänderKommission 77 100 überbetriebliche Ausbildungsstätten in einem dichten Netz, auch in einem ausgewogenen Netz für die Ergänzung der Ausbildung in Klein- und Mittelbetrieben zur Verfügung stehen.Ich sage noch einmal ausdrücklich: Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN zur Kooperation der Lernorte in der über- und außerbetrieblichen Berufsbildung beim Lernen mit neuen Technologien enthält Forderungen, die wir nicht mittragen können. Sie sind teilweise sogar verfassungsbedenklich. Das darf ich einmal ausdrücklich sagen. Wir halten nach wie vor etwas vom dualen System, wobei wir ausdrücklich den Ausbilder in den Betrieben meinen, aber auch den Berufsschullehrer in der Berufsschule. Ich sage meinen Dank denen, die sich um das Anliegen der jungen Menschen mühen.Zusätzlich sind in einer Reihe von Forderungen reglementierende Eingriffe vorgesehen, die das funktionierende duale System letztlich stören würden. Das wäre nicht vertretbar.Beide Anträge möchten wir deshalb ablehnen, ihnen nicht folgen. Wir möchten dem Ausschußbeschluß folgen und bitten deshalb um Ihre Zustimmung.Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft macht deutlich — das hatauch die Anhörung gezeigt — , daß wir mit den verschiedensten begleitenden Hilfen von Handwerk, Handel und Kaufmannschaft imstande sind, in Zukunft in Europa ein Stück vorwärtszukommen. Denn berufliche Bildung wird letztlich darüber entscheiden, wieweit soziale Absicherung, wieweit letztlich der soziale Standard in den verschiedenen Ländern vorankommt. Wir wollen dazu unseren Beitrag leisten, wollen geradezu Pilotfunktion haben. Wir wollen hoffen, daß sich das duale Ausbildungssystem darüber hinaus im europäischen Arbeitsmarkt anbietet, Ungleichheiten zu beseitigen. Denn letztendlich kann ich nur durch Bildung soziales Unrecht auf der Welt völlig beseitigen.Hier stellen wir uns auch zukünftig im eigenen Lande. Das, was wir im eigenen Lande tun, können wir auch den anderen anbieten. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir dann ein Stück vorwärtskommen. Ich hoffe, daß auf Grund der hohen Zahl der jetzt freien Ausbildungsstellen in Zukunft weitere Möglichkeiten für Jugendliche erschlossen werden, die dann über einen an Eignung und Neigung orientierten Standard — das sage ich bewußt — einen Einstieg ins Berufsleben erfahren und in Zukunft vor Arbeitslosigkeit bewahrt bleiben.In diesem Sinne darf ich Sie bitten, der Ausschußempfehlung zuzustimmen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Rixe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach fast einjähriger Beratung im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft wollen wir heute über das Thema überbetriebliche Ausbildungsstätten beschließen. Leider konnten wir uns im Ausschuß nicht auf eine gemeinsame Beschlußempfehlung einigen, obwohl wir nicht sehr weit auseinander waren. Die Berichterstatter, Frau Hillerich, Herr Nelle und ich, haben versucht, einen gemeinsamen Beschluß zu formulieren. Aber aus der Koalitionsfraktion kam ein Nein. Deswegen muß ich hier heute die Zeit nutzen, die Unterschiede herauszuarbeiten und deutlich zu machen, warum die Sozialdemokraten in einigen Punkten anderer Meinung waren.Aus Sicht der SPD sind hier besonders drei Bereiche herauszustellen.Erstens. Wir sind uns bezüglich der Notwendigkeit des Ausbauziels von gut 77 000 Plätzen in diesen Ausbildungsstätten einig. Wir sind uns hinsichtlich der qualitativen Ziele, wie sie in der Problemdarstellung der Beschlußempfehlung beschrieben sind, ebenso einig.Zweitens. Die Beschlußempfehlung der Regierungsfraktionen unterschlägt natürlich einige Aspekte, die ich jetzt nochmals benennen will. Ich will sie hier als Position der SPD ausdrücklich anmerken.Erstens. Die Rolle des Bundesinstituts für Berufsbildung ist auch in diesem Zusammenhang zu unterstrei-
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Rixechen. Das BIBB muß weiterhin die wichtigsten Strukturdaten erheben und veröffentlichen.Zweitens. Die strukturellen Benachteiligungen von Mädchen sind besonders zu berücksichtigen.
Drittens. Ebenso geht es um die Weiterqualifizierung von Ausbilderinnen und Ausbildern und den Beschäftigten in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten selber.Viertens. Die multifunktionale Nutzung überbetrieblicher Ausbildungsstätten ist konzeptionell zu entwickeln und zu sichern. Eine Abstimmung mit den örtlich zuständigen Berufsschulen ist zu garantieren.Fünftens. Bei allen überbetrieblichen Berufsbildungsstätten sind paritätisch besetzte Mitbestimmungsgremien einzurichten.In zwei Bereichen sind die Ziele und Forderungen der SPD eindeutig weiterreichend als die Beschlußempfehlung und werden von den Regierungsfraktionen leider ausdrücklich abgelehnt. Die tatsächliche finanzielle Förderung dieser überbetrieblichen beruflichen Ausbildungsstätten wird in der Beschlußempfehlung von den Regierungsfraktionen nur pauschal beschrieben. Die Förderung soll auf der Grundlage der vom BMBW vorgelegten Konzeption erfolgen. Dies bedeutet dreierlei: Das Ausbauziel von 77 100 Plätzen soll mit einer Förderung „bis zu" 65 % unterstützt werden, Investitionen kann der Bund „bis zu" 50 % fördern, die Betriebskosten können letztlich fünf Jahre lang mit „bis zu" 50 % gefördert werden. Die SPD-Fraktion hat eine Förderung der weiteren Einrichtung von Plätzen, der Investitionen für Modernisierung und des Defizits bei den Betriebskosten durch die Bundesregierung in bisheriger prozentualer Höhe von 65 % gefordert. Das „bis zu" ist also weg.Die Richtlinien des BMBW zur Förderung von überbetrieblichen Ausbildungsstätten in der Fassung vom 30. November 1970 sind bezüglich der Mitbestimmung mit den sogenannten 1 3 3-Ausschüssen unzureichend. Für die Zusammensetzung gelten das Berufsbildungsgesetz und die Handwerksordnung sinngemäß. Diese Ausschüsse können über die Ausbildungspläne beschließen. In wesentlichen anderen Fragen haben sie nur ein Anhörungsrecht. Weil gerade in dieser Frage mit den Regierungsfraktionen letztendlich kein Fortschritt zu erzielen war — das war der Punkt, warum wir keine gemeinsame Entschließung zusammenbekommen haben —, will ich hier noch einmal eine eindeutige Gegenposition beschreiben.Für die Auszubildenden in einer überbetrieblichen Ausbildungsstätte ergibt sich die Besonderheit, daß sie nicht nur zur Belegschaft des Betriebes ihres Ausbildungsvertragspartners gehören, sondern ebenfalls zur Belegschaft der überbetrieblichen Ausbildungsstätte. Die bei diesen Berufsbildungsstätten beschäftigten Ausbildungsmeister und Verwaltungsangestellten sowie alle Auszubildenden sind in eine aktive Interessenvertretungspolitik einzubeziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die finanzielle Förderung der öffentlichen Hand für diese Ausbildungsstätten erfordert, daß damit auch die tatsächliche Nutzung dieser Einrichtungen für die berufliche Grundbildung durchgesetzt wird. Dazu gehört aber auch eine größere Bereitschaft, insbesondere auch des Handwerks — ich sage: auch des Handwerks, d. h. auch anderer —, den notwendigen Zeitanteil an überbetrieblichen Unterweisungen nachhaltig auszubauen. Selbst vereinbarte Zeiten der überbetrieblichen Unterweisung, z. B. beim Elektrohandwerk in der Grundbildung drei Wochen und in der Fachbildung zwischen sieben und acht Wochen, konnten in den Ausbildungsordnungen nicht verankert werden. Selbst dann, wenn in der Kammer der Umfang von Lehrgängen verbindlich beschlossen wurde, weigern sich einige Innungen in der Bundesrepublik, dies entsprechend umzusetzen. In einzelnen Berufen und Kammern soll die Verweigerungsquote an diesem Punkt bis zu 50 % betragen. Dies ist bei der Anhörung herausgekommen.Die SPD will, wie eben von mir dargestellt, eine umfassende und angemessene finanzielle Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Wir wollen den Klein- und Mittelbetrieben helfen. Wir wollen aber auch eine qualifizierte Ausbildung für die Jugendlichen sicherstellen. Zur Qualität für die Beschäftigten und die Auszubildenden gehört auch in diesen Ausbildungsstätten die Sicherung der Mitbestimmung.Erst die Durchsetzung solcher umfassenden Rahmenbedingungen rechtfertigt den enormen finanziellen Aufwand der öffentlichen Hand in diesem Feld des dualen Berufsbildungssystems.Durch die Politik der Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten in den letzten Jahren ist neben den Lernorten Schule und Betrieb faktisch ein zusätzlicher, dritter Lernort entstanden.Ich habe bereits eingangs den Abstimmungsbedarf mit den örtlich zuständigen Berufsschulen herausgestellt. Grundsätzlich ist hier noch die berechtigte Kritik der Berufsschulen nachzutragen, daß das Verhältnis der Lernorte untereinander nicht hinreichend bestimmt ist. Die einseitige öffentliche Finanzierung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten und die generelle Vernachlässigung der Berufsschulen hat zu einer Benachteiligung dieser Einrichtungen geführt. Ich denke, es ist Zeit, die Lernorte Betrieb, Berufsschule und überbetriebliche Ausbildungsstätte in ihrem jeweiligen Bildungsauftrag neu zu definieren. Die auch von uns unterstützte Lernortvielfalt kann nur dann erfolgreich zusammengeführt werden, wenn der Staat und die Länder ihrer Verantwortung gegenüber den Berufsschulen gemeinsam gerecht werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Berufsschulen oder die mit großem öffentlichen Aufwand finanzierten überbetrieblichen Berufsbildungszentren orientieren sich oft nicht am regionalen Qualifikationsbedarf, sondern definieren sich als Lernorte, die die betriebliche Ausbildung vervollständigen. Damit berufliche Bildung stärker als bisher unter regional-spezifischen Gesichtspunkten im Zusammenhang mit übergreifender regionaler Struktur-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik betrieben werden kann, ist es notwendig, die vorhandenen überbetrieblichen Bildungsstätten zu regionalen Qualifizierungszen-
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Rixetren weiterzuentwickeln. Das muß langfristig geschehen; das geht nicht von heute auf morgen.
Diese Perspektive fehlt der von den Regierungsfraktionen getragenen Beschlußempfehlung völlig.Ich halte es für wesentlich, die vorhandenen Bildungsstrukturen und Konzepte unter ausdrücklichem Bezug auf eine regionale Aufgabenstellung zu überarbeiten. Dafür wäre es wichtig, den vorhandenen regionalen Sachverstand zu allen Fragen der Technikentwicklung, der Arbeitsmarktpolitik, der Strukturpolitik und der beruflichen Bildung, z. B. in Form von Beiräten, einzubeziehen. So etwas ähnliches gibt es in einigen Regionen dieses Landes schon. Die neuen Aufgaben der regionalen Qualifizierungszentren könnten dann mit den Begriffen Arbeit, Bildung und Innovation gekennzeichnet werden. Ich stelle hiermit die „Konzepte für die Förderung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungsstätten" bewußt in einen größeren Zusammenhang als den, im Ausschuß ausschließlich nach den Platzkapazitäten zu fragen oder über eine Förderung von 50 % oder 65 % zu streiten.Die SPD-Fraktion wird — trotz unterschiedlicher Auffassungen — der Beschlußempfehlung des Ausschusses im Interesse der Arbeit der überbetrieblichen Ausbildungszentren zustimmen und den Antrag der GRÜNEN ablehnen, weil in ihm einige Punkte stehen, denen wir so nicht zustimmen können.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man nach einer Klammer für die hier in verbundener Debatte zu behandelnden Beschlußempfehlungen unseres Ausschusses für Bildung und Wissenschaft sucht — und darum muß man sich ja bemühen, wenn man nur eine kurze Redezeit hat —, so liegt sie in dem Wort „Chancen".
Denn in der im Ausschuß nicht strittigen Beschlußempfehlung zur Unterrichtung durch das Europäische Parlament „Entschließung zur Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung" geht es um eine Reihe von Maßnahmen, die Jungen und Mädchen, Mädchen und Jungen gleiche Chancen in Bildung und Ausbildung öffnen sollen.
Und in der Beschlußempfehlung zur Konzeption der Bundesregierung für die Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten geht es darum, die Chancen von Lehrlingen und Auszubildenden in kleinen und mittleren Betrieben auf eine moderne, den Veränderungen in der Berufs- und Arbeitswelt Rechnung tragende, qualitativ hochwertige Ausbildung zu sichern, in der die überbetrieblichen Berufsbildungsstätten diebetrieblichen Bemühungen als — wie es in der Anhörung des Ausschusses beschrieben wurde — „verlängerte Werkbank " ergänzen und flankieren.Meine Damen und Herren, gerade im Vergleich mit der Ausbildung in Großbetrieben, die, was Organisation, Ausstattung oder Spezialisierungsmöglichkeiten betrifft, eben auch über umfassendere Voraussetzungen verfügen, wird deutlich, wie wichtig ein Netz überbetrieblicher beruflicher Ausbildungsstätten zur Sicherung der qualitativen Chancengleichheit, Herr Kuhlwein, der Auszubildenden in kleinen und mittleren Betrieben ist.So gesehen beantwortet sich auch die in der Anhörung u. a. diskutierte Frage, ob es sich bei den überbetrieblichen Berufsbildungsstätten — wie es im Antrag der GRÜNEN, aber auch in den Ausführungen von Herrn Rixe soeben hieß — um einen dritten Lernort neben Betrieb und Berufsschule handele. Wie im Großbetrieb die Lehrwerkstatt gehört nach unserer Meinung die überbetriebliche Ausbildungsstätte als Ergänzung der einzelbetrieblichen Ausbildung im Sinne der zitierten „verlängerten Werkbank " unter den Gesamtbegriff des betrieblichen Teils der beruflichen Bildung; den anderen wichtigen Teil nehmen unbestritten die Berufsschulen wahr.Ich betone das jetzt nicht nur wegen dieses Dissenses, sondern auch im Zusammenhang mit der in der Anhörung erörterten Frage — Herr Rixe hat auch davon gesprochen — der Akzeptanz der überbetrieblichen Ausbildungsstätten bei Betrieben und Lehrlingen. Es geht eben nicht um eine da oder dort befürchtete Verschulung des betrieblichen Teils der Ausbildung, sondern um ein Instrument der qualitativen Chancengleichheit zwischen der Ausbildung in Groß- und Kleinbetrieben und — darüber hinaus — im Sinne der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung.Meine Damen und Herren, daraus folgt, daß es sich in erster Linie um eine Verbesserung der Chancen der Lehrlinge und Auszubildenden handelt, aber damit natürlich auch um eine solche der Betriebe; denn nur eine hohe Ausbildungsqualität sichert die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe. Sie ist, was den Bedarf an Fachkräften betrifft, auch quantitativ von großer Bedeutung und setzt die Betriebe in die Lage, modernen Anforderungen zu entsprechen.Die Konzeption der Bundesregierung trägt diesen Gesichtspunkten Rechnung. Sie weist auch auf den Funktionswandel hin, der sich in der Nutzung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten abzeichnet. Auch diese Entwicklungsmöglichkeiten gehören zum Thema Chancengleichheit; denn zwischen der Grundlegung der Erstausbildung einerseits und der Notwendigkeit von Fort- und Weiterbildung andererseits gibt es zunehmend keine starren Grenzen mehr.Aber aus dem zunehmenden Weiterbildungsbedarf darf sich auch kein Qualitätsgefälle zwischen den größeren Möglichkeiten in Großunternehmen und den eingeschränkteren in kleinen und mittleren Betrieben ergeben. Hier können überbetriebliche Ausbildungsstätten, vor allem außerhalb der Tagesnutzung, für
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Neuhausenberufliche Weiterbildung von Gesellen und Fachkräften und auch der Ausbilder genutzt werden. Auch das liegt im Interesse der Teilnehmer an solchen Maßnahmen wie der Betriebe vor dem Hintergrund zunehmenden Qualitäts- und Qualifikationsbedarfs.Die Konzeption der Bundesregierung beruht auf dem Prinzip der Subsidiarität. Das Eigenengagement der Träger ist und bleibt gefordert. In diesem Zusammenhang ist in der Anhörung über die Kapazitäts- und die Finanzierungsfrage diskutiert worden. Dazu gibt es verschiedene Ansichten. Dabei spielen — das wurde erwähnt — quantitativ-demographische wie Gesichtspunkte der Nutzung, auch der Nutzungsdichte — etwa bei mehr stationären oder bei mehr mobilen Ausbildungen — eine wichtige Rolle.Das Förderprogramm der Bundesregierung soll — wie es in der Konzeption heißt — stabile Rahmenbedingungen schaffen. Die Forderungen der GRÜNEN in dem heutigen Antrag, aber auch den vorherigen tragen meines Erachtens zu dieser Stabilität nicht bei. Sie stellen vielmehr das bewährte und natürlich auch weiterentwicklungsfähige System im Prinzip in Frage.Mir ist übrigens in der Anhörung deutlich geworden, daß — ehrlich gesagt — unsere Kompetenz, was die Ausfüllung des politisch gesetzten Rahmens betrifft, also im Hinblick auf die Konzeption und Durchführung der Ausbildung, die Kompetenz der vor Ort, bei den Trägern und in den Gewerkschaften und Verbänden Tätigen — vorsichtig gesagt — nicht erreicht und wir zwar Anregungen zu Weiterentwicklungen und Schwerpunktsetzungen, zur Abstimmung und regionalen Zusammenarbeit geben können, aber den unmittelbar Verantwortlichen weder ein Raster enger Vorgaben noch einen — wie befürchtet wird — neuen regionalen Bürokratismus zumuten dürfen.Es liegt in der Natur des Themas, daß die Arbeit der Berufsschulen hier nicht im Vordergrund der Betrachtung steht. Auch ist die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern zu beachten. Was aber den Modernisierungsbedarf in der beruflichen Bildung allgemein betrifft, so gilt er für die Berufsschulen auch. Wie es in einem Aufsatz zur beruflichen Bildung in den 90er Jahren im niedersächsischen „Schulverwaltungsblatt" in diesem Monat heißt, wird z. B. das Land Niedersachsen aus Strukturhilfemitteln — ich zitiere — „eine verbesserte Sachausstattung der berufsbildenden Schulen vor allem im Hinblick auf die Anforderungen auf Grund bundesweit neu geordneter Ausbildungsberufe auch in den nächsten Jahren durch finanzielle Zuschüsse fördern; damit wird das Land zu der notwendigen ,Modernisierung' der berufsbildenden Schulen im Interesse der Auszubildenden und der niedersächsischen Wirtschaft beitragen. "Meine Damen und Herren, wir bitten Sie, der Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen. Wir begrüßen die Konzeption der Bundesregierung, weil sie vernünftige Rahmenbedingungen setzt. Wir wissen, daß das auch im Haushaltsplan für 1990 berücksichtigt ist.Ich bedauere, daß es nicht zu einer gemeinsamen Entschließung gekommen ist; denn ich halte trotz derAusführungen von Herrn Rixe die Unterschiede im Prinzip für marginal. Ich will das hier nicht vertiefen. Ihr ursprünglicher Antrag ist meines Erachtens ohnehin durch die Konzeption überholt. Auf dieser Konzeption beruht das, was die Koalitionsfraktionen in der Beschlußempfehlung noch einmal unterstreichen.Ich komme zum Schluß. Ein kurzes Wort zu der weiteren Beschlußempfehlung zur Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen: Wir stimmen ihr zu. Es liegt nur an der Redezeit, daß ich nicht näher auf sie eingegangen bin. Aber alles, was in anderem Zusammenhang über die berufliche Bildung, ihre Bedeutung und ihre Weiterentwicklung gesagt wurde, schließt den Appell mit ein, die Instrumente der Berufsbildung auch im Sinne der Verstärkung der Chancengleichheit der Mädchen und jungen Frauen im Sinne der Beschlußempfehlung einzusetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hillerich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich wegen meiner kurzen Redezeit für eines der beiden heute zu debattierenden Themen entschieden: für die Chancengleichheit von Mädchen in der schulischen und beruflichen Bildung.Die Überlegungen meiner Fraktion zu den überbetrieblichen Ausbildungsstätten habe ich vor genau einem Jahr in der ersten Lesung zu diesem Thema hier vorgestellt. Unser Ihnen vorliegender Änderungsantrag nimmt, im Unterschied zur Beschlußempfehlung des Ausschusses, die wir ablehnen, auch Vorschläge und Forderungen aus der Ausschußanhörung auf, die wir im April dieses Jahres veranstaltet haben.Nun zur Chancengleichheit von Mädchen in der schulischen und beruflichen Bildung.Wir GRÜNEN haben uns der Beschlußempfehlung des Ausschusses, worin die entsprechende Entschließung des Europäischen Parlaments begrüßt wird, angeschlossen, weil wir die darin geforderte Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Faktoren und Strukturen, die die Chancengleichheit von Mädchen und Frauen in der schulischen und beruflichen Bildung und in der Erwerbsarbeit verhindern, befürworten.Durchaus kritisch sehen wir allerdings die Schlagseite einiger Forderungen in dieser Entschließung, die auch die öffentliche Debatte in der Bundesrepublik zu diesem Thema bestimmt, als lägen die Ursachen für das verengte Berufsspektrum vieler Mädchen auf sogenannte Frauenberufe in deren „psychologischen und kulturellen Hemmschwellen" , die es durch „Sensibilisierung" zu beseitigen gelte.Damit wird abgelenkt von der tatsächlichen geschlechtshierarchischen Aufteilung des Erwerbsarbeitsmarktes, von der auch das darauf hinführende System der Berufsbildung entscheidend geprägt ist.
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Frau HillerichDamit wird ebenfalls abgelenkt von der komplexen und außerordentlich stabilen Verschwörung marktwirtschaftlicher Verwertungs- und patriarchalischer Herrschaftsinteressen und vom harten Kern dieser Verschwörung: dem männlichen Erwerbsarbeitsmuster mit seiner ungestörten und zielgerichteten Konzentration auf lebenslange, aufstiegsorientierte Berufsarbeit.
Dieser einseitige und überdimensionierte Anspruch der Berufsarbeit auf umfassende Disponibilität in räumlicher und zeitlicher, aber auch in geistiger und seelischer Hinsicht hat eine beträchtliche bedürfnis-, lebens- und familienfeindliche Dimension. An ihm gemessen werden zyklische Erwerbsverläufe, wie sie bisher vor allem für Frauen typisch sind, immer ungleich und im Nachteil sein. Hier besteht der größte und weitestreichende Veränderungsbedarf, und hierauf muß sich die vielbeschworene Sensibilisierung richten. Von einer Kampagne der Bundesregierung für familienfreundliche Erwerbsarbeit für Männer ist mir allerdings bisher nichts bekannt.Wer also über Berufsorientierung für Mädchen und Jungen redet, darf über die geschlechtshierarchische Teilung und gegenseitige Abschottung des Erwerbsarbeits- und Berufsbildungssystems nicht schweigen. Deshalb hierzu einige Anmerkungen:Nach wie vor ist es nur eine Mehrheit der Jungen, die im dualen System eine Ausbildung absolvieren. Von den Mädchen sind es lediglich rund 40 %, obwohl über 50 % eine derartige Ausbildung wollen. Die Mehrheit der Mädchen wird demgegenüber im vollzeitschulischen Ausbildungssystem beruflich ausgebildet, an Berufsfachschulen, privaten Handelsschulen, Schulen des Gesundheitswesens, und vielfach muß die Ausbildung von den Teilnehmerinnen bezahlt werden. Die ein- oder zweijährigen Beruf sf ach-schulen, die keinen beruflichen Abschluß vermitteln, werden zu 70 °A, von Mädchen besucht. Sie sind meines Erachtens überflüssig, zumal da sie vorwiegend auf traditionell weibliche Berufe und auf die Rolle als Haus- und Familienfrau orientieren. Hierzu brauchen die Mädchen keine Orientierung.Hinsichtlich der Zukunftschancen und der Ausbildungsbedingungen sind die vollzeitschulischen und die dualen Ausbildungswege sehr unterschiedlich: Die schulischen Ausbildungen dauern meistens länger als Facharbeiterausbildungen, und sie zielen auf ein abgegrenztes Berufsfeld, meist ohne Aufstiegschancen und mit prekären Arbeitsmarktbedingungen.Geringe Aufstiegschancen, hohes Übergangsrisiko und niedrige Bezahlung sind auch die Merkmale der sogenannten Frauenberufe im dualen System, in denen sich nach wie vor viele Mädchen konzentrieren. Dies ist nicht das Ergebnis ihrer freien Wahl. Vielmehr wirken sich der geschlechtlich geteilte Arbeitsmarkt und die unterschiedlichen Normen männlicher und weiblicher Erwerbsbiographien als heimlicher Lehrplan beträchtlich auf den Berufswahl-, genauer: Berufszuweisungsprozeß von Mädchen aus.Zu diesem heimlichen Lehrplan gehört, daß sich neben der vorhandenen Abschottung zwischen traditionellen Männer- und Frauenberufen in den Branchen, wo Frauen und Männer ausgebildet werden und beruflich arbeiten, zunehmend eine branchen- oder berufszweiginterne geschlechtsspezifische Segmentierung entwickelt im Hinblick auf unterschiedliche Bereiche, in denen Frauen und Männer eingesetzt werden, und hinsichtlich der Aufstiegschancen. Dies gilt deutlich für den Büro- und Dienstleistungsbereich, der — technologisch angereichert — auch für Männer interessant geworden ist.In der Konkurrenz um interessante und qualifikationsangemessene Einsatzbereiche und um Aufstiegschancen schneiden Frauen auch deshalb schlechter ab, weil ihr Lebensalltag und ihre Lebensplanung sich vom männlichen Erwerbsmuster mit seiner einseitigen beruflichen Vereinnahmung unterscheiden.Diese Abschottung und Ausgrenzung von Frauen gilt auch für die Ausbildung und Beschäftigung von Frauen im gewerblich-technischen Bereich. Die Modellversuche haben zwar gezeigt, daß Mädchen die dortigen Ausbildungsanforderungen ohne Schwierigkeiten und mit guten Ergebnissen bewältigen, ihre anschließenden Beschäftigungschancen sind aber deutlich geringer als die ihrer männlichen Altersgenossen, auch deshalb, weil in diesen Männerdomänen das weitere Eindringen von Frauen häufig als ungewohnte Zumutung abgewehrt wird. Umgekehrt ist vereinzelte Berufsarbeit von Frauen in traditionell männerdominierten Bereichen auch eine Zumutung für Frauen. Neben männlichem Imponiergehabe sind sie auch sexistischer Anmache und Übergriffen ungeschützter ausgesetzt. Wohlgemerkt: Ich meine hier nicht alle Männer, aber die, die sich so verhalten, und das sind viele.Abhilfe und Veränderung ist hier nur möglich durch die gesetzliche Verpflichtung zur Frauenförderung. Hierzu gehört das verbindliche Ziel der 50 %igen Quotierung in allen Bereichen und auf allen Ebenen ebenso wie verbindliche Umsetzungspläne und Frauenbeauftragte mit weitreichenden Kompetenzen. Dies muß begleitet sein von der ebenfalls gesetzlich und möglichst auch tarifvertraglich abzusichernden familienfreundlichen Gestaltung der beruflichen Weiterbildung, ihrer Öffnung für Quereinstiege und letztendlich ihrer Struktur als individuell kombinierbares Baukastensystem.Ab sofort müssen die Frauen benachteiligenden Ausbildungssackgassen, wie die verkürzten Ausbildungen im Büro- und Einzelhandelsbereich, abgeschafft werden, und es müssen erhebliche Anstrengungen und Mittel aufgewandt werden für die Werbung und Qualifizierung von Frauen zu Ausbilderinnen und Berufsschullehrerinnen, insbesondere im gewerblich-technischen Bereich.Kurz — meine Redezeit ist leider zu Ende — noch zur Berufsorientierung: Die Berufsorientierung von Mädchen und Jungen befördert nur dann die berufliche Chancengleichheit von Mädchen, wenn sie die Auseinandersetzung mit den Zwängen des geschlechtlich geteilten Arbeitsmarktes in für Mädchen parteilicher Weise einbezieht, und wenn sie bewußt das Ziel verfolgt, die individuelle und kollektive Handlungskompetenz von Mädchen zu erweitern.
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Frau HillerichIch danke Ihnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Lammert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts knapper Redezeit für zwei unterschiedliche Themen mich auf nur eines zu beschränken, wie das einige meiner Vorredner getan haben, würde vermutlich die Enttäuschung wegen unzureichender Auskünfte der Bundesregierung nicht halbieren, sondern verdoppeln. Deswegen bitte ich gleich im Vorgriff um Nachsicht, daß der Versuch, zu beiden Themen doch wenigstens einige Bemerkungen zu machen, notwendigerweise unvollständig und stichwortartig bleiben muß.In der Beschlußempfehlung, die der federführende Ausschuß dem Deutschen Bundestag heute zur Entscheidung vorlegt, soll die Bundesregierung aufgefordert werden, „die bewährte Förderung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungsstätten aus dem Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf der Grundlage der von ihr erarbeiteten Konzeption fortzusetzen". Dabei wird besonderer Wert auf drei Akzente gelegt: erstens auf das Ausbauziel von 77 100 Plätzen, zweitens auf die Sicherung einer ständigen Modernisierung der überbetrieblichen beruflichen Ausbildungsstätten und drittens auf eine angemessene Entlastung der kleinen und mittleren Betriebe von den Betriebskosten überbetrieblicher Ausbildungsmaßnahmen, jedenfalls für einen begrenzten Zeitraum.Bezüglich dieser Empfehlung besteht ganz offensichtlich — dies machen sowohl der Bericht des Ausschusses als auch der Verlauf der heutigen Debatte deutlich — ein hohes Maß an Übereinstimmung auch über die Koalition hinaus, und ich bin dem Kollegen Rixe dankbar, daß er das in seinem Beitrag, unbeschadet weiterführender Wünsche, auch ausdrücklich deutlich gemacht hat. Ich möchte der Opposition auch ausdrücklich für die Souveränität danken, ganz offensichtlich heute einer Beschlußempfehlung zustimmen zu wollen, die nicht alle die Anregungen berücksichtigt, die die Opposition, jedenfalls die SPD, darüber hinaus im Ausschuß vorgetragen hat.Ich empfinde dies insofern als wirklich hilfreichen Beitrag, weil es uns in die Lage versetzt, deutlich zu machen, daß wir in den Grundsatzfragen der Berufsausbildung, gerade auch was die Notwendigkeit und die Ausstattung überbetrieblicher Ausbildungsstätten betrifft, hier mit einem hohen Maß an Übereinstimmung den Weg gemeinsam fortsetzen wollen, den wir schon über viele Jahre gemeinsam gegangen sind. Dies ist besonders wichtig vor dem Hintergrund der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft mit den zusätzlichen Wettbewerbseffekten, denen sich damit natürlich auch unsere Volkswirtschaft und alle diejenigen, die in ihr praktische Berufe ausüben, ausgesetzt sehen.Meine Damen und Herren, wir halten in dieser Konzeption an der Verantwortung der Wirtschaft für die betriebliche Berufsausbildung und damit selbstverständlich auch an der Verantwortung der Wirtschaft für die Finanzierung dieser Berufsausbildung fest. Wir ziehen aber die praktische Schlußfolgerung aus der Erkenntnis, daß für einen Großteil der Betriebe, vor allem der kleinen und mittleren Betriebe, notwendige Ergänzungen in Form überbetrieblicher Ausbildungsstätten gegeben sein müssen, bei deren Finanzierung man diese kleinen und mittleren Betriebe nicht alleinlassen darf, weil der Nutzen dieser Einrichtungen und Ausbildungen über einzelbetriebliche Effekte weit hinausgeht und der gesamten Volkswirtschaft zugute kommt. Deswegen ist es durchaus angemessen, daß sich die Gesellschaft an diesen Kosten beteiligt, was in der vorliegenden und von den Ausschüssen ja auch gebilligten Konzeption ausdrücklich vorgesehen ist.Die Bundesregierung wird folgerichtig, da das Ausbauziel inzwischen nahezu erreicht ist — es sind weniger als 2 000 Plätze, die noch geschaffen werden müssen und für die im übrigen ja auch die bewährten, bislang vorgesehenen Finanzierungsverfahren nach wie vor zur Verfügung stehen — , ihre Investitionszuschüsse künftig auf Modernisierungsmaßnahmen konzentrieren und dabei sicherstellen, daß diese überbetrieblichen Ausbildungsstätten nicht nach der erstmaligen Ausstattung im Laufe der Zeit immer stärker an Leistungsfähigkeit verlieren, weil die Einrichtungsgegenstände mit der technologischen Entwicklung nicht Schritt halten konnten.Wir halten allerdings unter Bezugnahme auf den genannten Grundsatz der Verantwortlichkeit der Wirtschaft für die Berufsausbildung daran fest, daß auch die Finanzierung durch sie sichergestellt werden muß und daß die Sonderregelungen für den teilweisen Ausgleich des Defizits bei neu errichteten überbetrieblichen Ausbildungsstätten auf einen Anlaufzeitraum begrenzt bleiben müssen. Es wäre im übrigen, wenn man von der Sondersituation der besonders starken Jahrgänge der jüngsten Vergangenheit absieht, auch ein verhängnisvolles Zeichen, wenn man signalisieren wollte, daß Defizite für unbegrenzte Zeit, wenn sie denn nur ausgewiesen werden, in einem bestimmten Anteil oder überwiegend von öffentlichen Händen übernommen würden. Dies wäre eine geradezu leichtfertige Auslobung von öffentlichen Mitteln für Einrichtungen, die in vielen Fällen nach einer Anlaufphase, wie die Erfahrung zeigt, sehr wohl kostendeckend oder jedenfalls mit zumutbaren Beiträgen der Träger finanziert werden können.Deswegen, Herr Kollege Rixe, hat sich die Bundesregierung in der Tat nicht zu einigen weiterführenden Vorschlägen verstehen können, die Sie in die Beratung eingebracht haben. Dies gilt auch für Anträge in bezug auf eine Ausweitung von Mitbestimmungsregelungen, weil nach unserer Auffassung — wir haben das kontrovers ausgetragen — die auch aus unserer Sicht erforderliche Mitwirkung aller am Berufsausbildungssystem Beteiligten, einschließlich der Sozialpartner, durch die bereits vorhandenen Einrichtungen und gesetzlichen und sonstigen Regelungen hinreichend sichergestellt ist.
— Beispielsweise in den Ausbildungsordnungen, inden Vereinbarungen über die Abstimmung von Trä-
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Parl. Staatssekretär Dr. Lammertgern, Herr Kollege Kuhlwein, etwa in den paritätisch besetzten Ausschüssen der Berufsschullehrer und der Vertreter der Sozialpartner.Daß es hier unterschiedliche Auffassungen über zweckmäßige Regelungen gibt, ist doch unbestritten, aber es ist nur fair, daß wir an dieser Stelle den einen wie den anderen Akzent in der Debatte noch einmal verdeutlichen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben gemeinsam und in den vergangenen Jahren verstärkt im Bereich der Berufsausbildung im allgemeinen einen besonderen Akzent auf die Verbesserung der Chancengleichheit von Jungen und Mädchen gesetzt. Dies ist eine Aufgabe, der sich alle Parlamente, alle Regierungen, alle, die in dieser Gesellschaft Verantwortung tragen, gemeinsam unterziehen müssen. Im allgemeinen haben sie sich auch tatsächlich gemeinsam dieser Aufgabe unterzogen. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat beispielsweise schon seit Ende der 70er Jahre — ich gehe ganz bewußt über die Amtszeit dieser Regierung hinaus — mit ganz konkreten Maßnahmen zur Erweiterung des Berufsspektrums beigetragen.
Frau Kollegin Hillerich, wenn man hier ein Defizit diagnostiziert, dann ist dem nicht mit der Kultivierung von Verschwörungstheorien abzuhelfen, sondern nur dadurch, daß man sich gezielt und kontinuierlich um die Behebung der Mißstände praktisch bemüht, die wir ja nicht nur gemeinsam beklagen dürfen, sondern um deren Behebung wir uns auch durch Maßnahmen bemühen müssen.
Das findet nun in der Tat seit vielen Jahren und verstärkt seit der Amtszeit dieser Bundesregierung statt. Deswegen nutze ich die letzten mir verbleibenden Minuten meiner Redezeit auch gerne, um zu diesem Teiltagesordnungspunkt so etwas wie eine Zwischenbilanz dieser Bemühungen vorzutragen.Sie macht nämlich zweierlei deutlich: erstens daß solche Bemühungen, wenn man sie über Jahre hinweg kontinuierlich und seriös betreibt, durchaus Spuren hinterlassen, daß sie nicht überflüssig sind, und zweitens daß sie fortgesetzt werden müssen, weil das, was wir mit diesen Bemühungen in den letzten Jahren erreicht haben, immer noch nicht den Ansprüchen genügt, die keineswegs nur Sie, sondern vermutlich alle hier im Haus an die tatsächliche Umsetzung von Chancengleichheit von Jungen und Mädchen, von Frauen und Männern im Bereich der Berufsausbildung haben.Es gibt, wie Sie wissen, eine große Zahl von Modellversuchen. Wir stimmen natürlich auch den Aufforderungen des Europäischen Parlaments für Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft in diesem Bereich gerne zu, an denen im übrigen ja die Bundesregierung und die Bundesrepublik in vielfacher Weise beteiligt ist und aktiv mitwirkt.
Wir haben in den vergangenen Jahren über eine ganze Reihe unterschiedlich gelagerter, teilweise regional und branchenmäßig differenzierter Modellprojekte und Modellvorhaben ein ganzes Maßnahmenbündel mit dem Ziel der praktischen Beseitigung von Startungleichheiten und der Beseitigung von Chancenungleichheiten auf den Weg gebracht.Wir haben ergänzend dazu im August dieses Jahres eine großangelegte bundesweite Informationskampagne zur Ausweitung des Berufsspektrums für junge Frauen gestartet. Sie richtet sich an diese jungen Mädchen selbst; sie richtet sich insbesondere aber auch an Elternhaus, an Freundeskreise und nicht zuletzt an die Arbeitgeber, die unbestritten natürlich auch von einer über Jahre und Jahrzehnte in der Gesellschaft gewachsenen verengten Perspektive beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten für junge Frauen und Mädchen geprägt sind.Es gibt ergänzend dazu auch Förderprogramme der Bundesländer, die ihrerseits bestrebt sind, beispielsweise durch die Bereitstellung weiterer betrieblicher Ausbildungsplätze für Mädchen in gewerblich-technischen Berufen diese Bemühungen zu unterstützen.Wenn wir heute die Bemühungen zwischenbilanzieren, dann stellen wir fest, daß die Konzentration der jungen Frauen auf die Ausbildung in sogenannten frauentypischen Berufen noch immer bei etwa 40 liegt. Aber sie hat damit gegenüber 47 % im Jahre 1977 in den letzten zehn Jahren immerhin abgenommen. Dies ist nicht ausreichend; aber es ist eine Entwicklung in die richtige Richtung.Der Anteil der Frauen in gewerblich-technischen Berufen ist im gleichen Zeitraum von 2,5 % auf 8,4 % gestiegen. Wenn man die absoluten Zahlen betrachtet, dann hat sich die Zahl der Mädchen in gewerblich-technischen Berufen in diesem Zehn-Jahres-Zeitraum sogar verfünffacht.Meine Damen und Herren, ich sage nicht, damit sei das Klassenziel erreicht. Aber ich denke, wir können heute gemeinsam sagen, wir sind einen wichtigen Schritt zu diesem Ziel vorangekommen.
Deswegen können wir heute sagen, es macht Sinn, diese Aktivitäten fortzusetzen; es gibt erkennbare Erfolge; es gibt Spuren, die den Erfolg der Bemühungen signalisieren, die vor vielen Jahren gemeinsam begonnen worden sind und von denen ich deswegen überzeugt bin, daß wir sie auch in den nächsten Jahren im Parlament und insbesondere im federführenden Ausschuß mit einem großen Maß an wechselseitiger Kooperationsbereitschaft weiterführen können.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Böhme.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte gleich beides aufgreifen: das, was die Kollegin Hillerich gesagt hat, die in vielen Punkten recht hatte — aber ganz so einfach wie die soziologische Erklärung ist es vielleicht auch
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Dr. Böhme
nicht — , und auch das, was der Staatssekretär gesagt; Spuren sind vielleicht ein bißchen zuwenig.
Ich möchte eine ganz kleine Geschichte erzählen. Eine kleine Prinzessin möchte Hofnarr werden. Ihre Mutter erklärt ihr jedoch, daß nur Knaben Hofnarr werden können. Als der bisherige alte Hofnarr seine Stelle aufgibt, finden Bewerbungsspiele statt, an denen sich unerkannt die kleine Prinzessin beteiligt. Weil sie die Narrenkunst so gut beherrscht, wird sie vom König als neuer Hofnarr auserwählt. Wie erstaunt ist der König, als er erfährt, daß es sich hierbei um ein Mädchen, ja um seine eigene Tochter handelt.Meine Damen und Herren, diese Geschichte wurde 1985, als die Frau Präsidentin noch Familien- und Frauenministerin war, in dem Kinderbilderbuch „Der beste Hofnarr" veröffentlicht und soll die Mädchen dazu ermutigen, sich bei der Berufswahl nicht von der herkömmlichen Rollenerwartung leiten zu lassen. Das gibt es nämlich auch noch.
Wie maßgebend noch heute das traditionelle Rollendenken ist, zeigt ein Blick in das Statistische Jahrbuch 1989 — da muß ich Herrn Staatssekretär ein bißchen widersprechen — unter der Rubrik „Auszubildende in den 20 am stärksten besetzten Ausbildungsberufen". Noch immer gehören zu den begehrtesten Mädchenberufen Friseuse, Sekretärin, Verkäuferin, Arzthelferin und ähnliche. Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung hat im vergangenen Jahr festgestellt, daß sich knapp 70 % der Frauen auf nur 15 Ausbildungsberufe konzentrieren, und, Herr Staatssekretär, weniger als 2 % der Frauen wählten zum Beispiel einen Metall- oder Elektroberuf, also zum Beispiel Fernsehtechnikerin, Industriemechanikerin oder ähnliches.Dabei gibt es — ich gebe Ihnen da völlig Recht — positive Erfahrungen, auf denen man aufbauen könnte. Ich nenne nur die Ergebnisse aus Modellversuchen, die das Bundesinstitut für Berufsbildung vor einem Jahr mitgeteilt hat. Die Teilnehmerinnen an diesen Modellversuchen in sogenannten Männerberufen sind mit ihrer Arbeit zufrieden, sind auch mehrere Jahre in ihrer Arbeit geblieben, sehen den Arbeitsplatz als gesichert an, beurteilen ihre Aufstiegschancen mit gut bis sehr gut. Fast 68 % waren mit ihrer Tätigkeit zufrieden bis sehr zufrieden. Nahezu 77 würden ihren Beruf noch einmal wählen. Ich denke, wir sollten also diese Modelle zur allgemeinen Wirklichkeit umbauen.Daß sich Mädchen mit ihren männlichen Kollegen messen können, zeigen nicht nur ihre guten Prüfungsergebnisse, sondern nachgewiesenermaßen auch ihre besonders gute Kommunikationsfähigkeit, ihr Teamgeist, ihre Beobachtungsgabe und ihr Durchhaltevermögen. Nach Aussage der Bund-Länder-Kommission sind in diesen Qualifikationen die Frauen den Männern sogar oft überlegen und insofern beispielsweise für den Umgang mit moderner Technologie besonders geeignet.
Die noch immer vorherrschende Technikdistanz zeigt sich aber zum Beispiel in der Tatsache, daß zwar fast jeder zweite Junge, aber nur jedes achte Mädchen zu Hause einen Computer besitzt oder daß naturwissenschaftliche Fächer von Mädchen meist früher abgewählt werden als von Jungen. Die Jungens machen noch immer weitaus häufiger Abitur in diesen Fächern.Das ist nicht nur bei uns so, das ist auch ein europaweites Problem. Deshalb ist es außerordentlich zu begrüßen, daß das Europäische Parlament diese Entschließung zur Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung verabschiedet hat. Die in dieser Entschließung vorgenommene Beschreibung der Chancenungleichheit, deren Grundlagen oft bereits in frühkindlichem Alter gelegt werden, trifft leider zu, wie wir das auch am Beispiel der Mutter unserer kleinen Prinzessin gesehen haben.Hervorheben möchte ich vor allem die zentrale Forderung dieser Entschließung nach einer — ich zitiere — Sensibilisierung der Gesamtheit der mit der Erziehung befaßten Personen, vor allem im Hinblick auf die ganze Bandbreite der Ausbildungs- und beruflichen Möglichkeiten, die Mädchen und jungen Frauen über die traditionell weiblichen Berufe hinaus offenstehen. Ausdrücklich wird auch die Bereitstellung angemessener Kindertagesstätten gefordert, die es Frauen ermöglichen, Berufsausbildungskurse zu besuchen.Unsere heute zu diskutierende Beschlußempfehlung des Ausschusses geht noch über die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Chancengleichheit hinaus, weil hier Gesichtspunkte berücksichtigt werden sollen, bei denen noch besonderer Handlungsbedarf besteht. Die Bundesregierung soll das Europäische Parlament dahin gehend unterstützen, daß ein Bericht über die Durchführung der in der EG-Entschließung genannten Maßnahmen vorgelegt wird, wie schon ausgeführt wurde. Den folgenden vom Europäischen Parlament angeregten Maßnahmen soll sich die Bundesregierung anschließen. Das Programm des Rates von 1986 zur Chancengleichheit sowie die Empfehlung der EG-Kommission zur beruflichen Bildung sollen verwirklicht werden. Die vielen geschlechtsspezifischen Rollenbilder, die noch immer in vielen Schulbüchern, in den Programmserien des Schulfernsehens und des Schulfunks zu finden sind, müssen endlich abgebaut werden.
Bei den verschiedenen Stellen für schulische und berufliche Orientierung und den verschiedenen Arbeitsvermittlungsdiensten sollen Berater für Chancengleichheit eingesetzt werden.Meine Damen und Herren, das Europäische Parlament schlägt vor, das Jahr 1990 zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit von Mädchen und Jungen und von Frauen und Männern in der schulischen und beruflichen Bildung zu erklären. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich diesen Vorschlägen anzuschließen. Dieses Europäische Jahr der Chancengleichheit kann, ja muß bewußtsseinsbildend wirken, nämlich erstens daß Mädchen weder in der Schule noch in der Ausbildung benachteiligt werden, zwei-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12889
Dr. Böhme
tens daß eine Berufswahl, die sich nicht von der herkömmlichen Frauenrolle leiten läßt, die Arbeitsmarktchancen der Frauen erheblich erhöht und drittens daß Mädchen selbstbewußter werden und sich mutig für das entscheiden, wofür sie geeignet sind, wie unsere kleine Prinzessin.Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft fordert den Bundestag zur Annahme dieser Beschlußempfehlung auf, weil diese ein wichtiger Beitrag zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Mädchen im Schul- und Berufsleben darstellt.Mädchen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, können mehr, als ihnen viele Eltern oder Erzieher oft zutrauen. Mädchen können auch mehr, als sich eine ganze Reihe von ihnen leider selber zutrauen. Es muß ja nicht unbedingt der Beruf des Hofnarren sein.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Ich sage „leider", weil die beschlossene Redezeit beendet ist.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 11/4143. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9 b, und zwar zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5454. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 11/5050 ab. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. I nach Kenntnisnahme der Unterrichtung auf Drucksache 11/2824 die Annahme eines Entschließungsantrags. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/5050 unter Nr. II Ziffer 1, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2728 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt darüber hinaus unter Nr. II Ziffer 2, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3075 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Wiedereinführung des Weihnachts-Freibetrags
— Drucksache 11/5370 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Poß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 1. Januar 1990 soll das sogenannte Steuerreformgesetz in Kraft treten.
Das ist dann der vorläufige Höhepunkt der unsozialen und ungerechten Steuerpolitik der Bundesregierung.
Die Bezieher hoher und höchster Einkommen erhalten eine Steuersenkung, die, Herr Kollege Rind, um ein Vielfaches größer ist als die Entlastung der Normalverdiener.
Die Hauptlast der Finanzierung der Steuerreform müssen dagegen die Arbeitnehmer tragen.Durch das letzte Steuerreform-Reparaturgesetz ist die soziale Schieflage der Steuerpolitik noch weiter verschärft worden. Der ohnehin geringe Finanzierungsbeitrag der Großunternehmen und der Bezieher hoher Kapitaleinkünfte wurde aus dem Steuerpaket 1990 herausgenommen. Spitzenverdienern wurden sogar neue großzügige Steuerprivilegien gewährt. Für die Arbeitnehmer hingegen haben die Reparaturen nichts gebracht. Im Gegenteil, durch die Beibehaltung sämtlicher Steuererhöhungsmaßnahmen für Arbeitnehmer und durch das sture Festhalten an der Streichung des Weihnachtsfreibetrages müssen die Arbeitnehmer insgesamt in noch größerem Umfang als bisher die Last der Finanzierung des Steuerpaketes 1990 tragen.Besonders schlimm ist es, daß durch die Beseitigung des Weihnachtsfreibetrages die Arbeitnehmer ausgerechnet zu Weihnachten für die ungerechten Steuergeschenke an Wohlhabende zur Kasse gebeten werden. Die Streichung führt dazu, daß die Steuerbelastung des Weihnachtsgeldes auf eine neue Rekordhöhe ansteigt. Sie ist bei Ledigen um 70 % und bei Verheirateten um 85 % höher als die Steuer auf den laufenden Arbeitslohn. Zusammen mit den Sozialversicherungsbeiträgen ergibt sich eine Gesamtbelastung von knapp 45 % für Ledige und von 35,5 % für Verheiratete.
Das bedeutet für die Steuerzahler: Verheiratete müssen mehr als ein Drittel und Ledige fast die Hälfte
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12890 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Poßihres Weihnachtsgeldes in Form von Steuern und Abgaben abführen.
Die Bundesregierung selbst hat dargestellt, wie sich die Streichung des Weihnachtsfreibetrages im Einzelfall auswirkt. Zu lesen war das im Bulletin der Bundesregierung vom 13. April 1988, als sie mit diesen Zahlen die unzumutbare sogenannte Dreizehntelung rechtfertigen wollte, mit der jedem Arbeitnehmer Monat für Monat mehr Lohnsteuer einbehalten werden sollte, als er tatsächlich schuldet. Die Dreizehntelung konnte verhindert werden; bei der Streichung des Weihnachtsfreibetrages ist es dagegen bis heute geblieben.Nehmen wir den ganz normalen Fall eines verheirateten Arbeitnehmers mit zwei Kindern. Bei einem Weihnachtsgeld in Höhe eines Bruttolohns von 2 500 DM beträgt seine steuerliche Belastung 380,40 DM im Jahre 1989. Im Jahre 1990 wird die Steuerbelastung DM 438,40 betragen. Sie können jeden anderen Fall nehmen, einen ledigen Arbeitnehmer, einen verheirateten Arbeitnehmer ohne Kinder oder einen mitarbeitenden Ehegatten, das Ergebnis ist immer eindeutig: Für alle Arbeitnehmer mit normalem Einkommen wird das Weihnachtsfest im nächsten Jahr etwas bescheidener ausfallen.
Die eigenen Zahlen der Bundesregierung über die Belastung des Weihnachtsgeldes belegen zudem eindeutig die soziale Schieflage der Steuerreform 1990. Für Bezieher von Spitzeneinkommen wird die Streichung des Weihnachtsfreibetrages durch die Steuersenkung infolge der Tarifänderung mehr als ausgeglichen. So sinkt die Steuerbelastung für ein Weihnachtsgeld von 12 000 DM bei einem verheirateten Arbeitnehmer, der auch ein Monatsgehalt von 12 000 DM bezieht, um genau 862 DM. Steuererhöhungen für die große Mehrheit der Arbeitnehmer, Steuersenkungen für die kleine Zahl der Spitzenverdiener, und dies ausgerechnet zu Weihnachten, das ist das wahre Gesicht Ihrer Steuerpolitik!
Es gehört schon ein erstaunliches Maß an sozialer Ignoranz dazu — aber das ist ja auch das Markenzeichen dieser Bundesregierung —,
wenn Sie, vertreten durch den heute nicht anwesenden Bundesminister Waigel, weiterhin darauf beharren, für die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages bestehe kein Bedarf. Das Wort „Steuergerechtigkeit" ist für Sie offenbar zu einem Fremdwort verkommen.Was ist das für eine Schizophrenie, wenn die bayerische Landesregierung
— Entschuldigung, wenn die Staatsregierung — vielen Dank für die Belehrung — im Frühjahr dieses Jahres einen Beschluß faßt, mit dem sie erreichen will, daß der Arbeitnehmer-Weihnachtsfreibetrag wiedereingeführt wird, und der bayerische CSU-Parteivorsitzende — in diesem Falle: der Landesvorsitzende, nicht wahr? — erklärt, dafür bestehe kein Bedarf! Gleichzeitig erklärt der Bundesfinanzminister Dr. Waigel, er gehe davon aus, daß das sogenannte Bayern-Modell zur Steuerpolitik Grundlage der steuerpolitischen Beschlüsse der Bundesregierung für die nächste Legislaturperiode werde! Es fällt offensichtlich Herrn Dr. Waigel schwer, seine Aufgaben als Bundesfinanzminister und seine Funktion als CSU-Parteivorsitzender in seiner Person in Übereinstimmung zu bringen.
Es ist auch ein schwieriges Unterfangen, sich von Freitag bis Montag als bayerischer Politiker zur Wiedervereinigung und zur deutschen Staatsgrenze zu äußern und am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag als Bundesminister in Bonn finanzpolitisch tätig zu sein.
Die Bürger in der Bundesrepublik und nicht nur die Wähler in Bayern haben aber, so meine ich, einen Anspruch darauf, zu erfahren, ob Herr Dr. Waigel in seiner Eigenschaft als Bundesfinanzminister nun einen Bedarf für eine Korrektur der neuen Besteuerung des Weihnachtsgeldes sieht oder nicht.Angesichts der langen Liste der Reparaturmaßnahmen am Steuerpaket 1990 zugunsten der Besserverdienenden ist es geradezu zynisch, daß Sie ausgerechnet die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages mit dem lapidaren Hinweis ablehnen: Es muß endlich Ruhe an der Steuerfront einkehren. Herr Minister — er ist nicht da; Herr Staatssekretär, richten Sie es bitte dem Herrn Minister aus — : Wenn Sie meinen, Sie müßten jetzt endlich Standfestigkeit beweisen, dann sollten Sie nicht ausgerechnet dort beginnen, wo es um die Sache der Arbeitnehmer geht.
Es gibt andere Beispiele, wo Sie diese beweisen können.Deswegen können wir dieser Bundesregierung, dem Bundesfinanzminister, nur dringend raten: Kommen Sie beim Weihnachtsfreibetrag auf den Pfad der Klarheit und Redlichkeit zurück.Ich möchte Sie daran erinnern — die Kollegen saßen alle hier — : Am 9. September 1987 hat der Amtsvorgänger, Dr. Stoltenberg, erklärt, daß der Arbeitnehmer- und der Weihnachtsfreibetrag durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschützt seien. Die Gründe, die das Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen zum Arbeitnehmer- und zum Weihnachtsfreibetrag als Rechtfertigung für die Freibeträge genannt hat, nämlich die zeitnahe Besteuerung der Arbeitnehmer und geringere steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten, bestehen nach wie vor.Zur Finanzierung: Der Beschluß der Bayerischen Staatsregierung zur Steuerpolitik sieht die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages zur Bemäntelung eines 26-Milliarden-Steuersenkungsvorschlags
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12891
PoBvor, mit dem die Unternehmensteuern 1993 in gewaltigem Umfang abgesenkt werden sollen.
Noch gigantischer ist der FDP-Vorschlag zur Unternehmensteuerreform 1992: Die FDP verspricht für 1992 Steuersenkungen in der Größenordnung — man höre und staune — von 40 Milliarden DM, davon alleine 27 Milliarden DM für die Senkung der Unternehmensteuer.Nun sollten doch einmal die Kollegen von der Union und von der FDP hier vor dem Deutschen Bundestag erklären und erläutern, warum das Steueraufkommen zwar ausreicht, in zwei oder drei Jahren so riesige Steuersenkungen für die Unternehmen zu finanzieren, daß aber 1990 kein Geld für die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages vorhanden sein soll, weil es sich nur um Arbeitnehmer handelt. Diese Erklärung werden wir ja wohl gleich von Ihnen bekommen.Die Abschaffung des Weihnachtsfreibetrages ist ein Symbol für die arbeitnehmerfeindliche Steuerpolitik dieser Bundesregierung. Mit unserem Gesetzentwurf zur Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages wollen wir jetzt in einem ersten Schritt die soziale Schieflage des Steuerpakets 1990 korrigieren. Weitere Schritte müssen in der nächsten Legislaturperiode folgen. Hierzu gehört vor allem eine deutliche Verbesserung des steuerlichen Grundfreibetrages, mit dem das Existenzminimum von der Lohn- und Einkommensteuer freigestellt wird. Das wäre gleichzeitig ein wirksamer Beitrag, um den Marsch in den Lohnsteuerstaat zu stoppen, der sich nach der von Ihnen beschlossenen Steuerpolitik in den Jahren nach 1990 — entgegen den Aussagen, die Sie vorher getroffen haben — noch weiter beschleunigen wird.Wir fordern die Bundesregierung auf: Beenden Sie endlich die arbeitnehmerfeindliche Steuerpolitik. Stimmen Sie für unseren Gesetzentwurf und damit für mehr Steuergerechtigkeit.Vielen Dank.
Jetzt hat Herr Meyer zu Bentrup das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr Gesetzentwurf, den Weihnachtsfreibetrag wieder einzuführen, soll gegenwärtig Verwirrung stiften.
Ende Oktober, wenige Tage vor den ersten Zahlungen des Weihnachtsgeldes, sollen die arbeitenden
Menschen verunsichert werden. Deshalb stelle ich
fest, daß sich an der Besteuerung des Weihnachtsgeldes in diesem Jahr nichts ändert.
— Lieber Herr Huonker, lassen Sie mich diesen Gedanken erst einmal zu Ende führen; dann lasse ich Ihre Zwischenfrage zu. — Ab 1990 werden auf der Grundlage eines neuen Reformsteuertarifs besonders Arbeitnehmerhaushalte und Familien umfangreich und drastisch entlastet. Ich habe mit Genugtuung gelesen, daß Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, den Reformtarif 1990 begrüßen und erklärt haben, daß dieser linear-progressive, sanft ansteigende Tarif jetzt auch Inhalt Ihrer Steuerpolitik sei,
und daß Sie auch die Philosophie unterstützen, lieber wenige Ausnahmetatbestände im Steuerrecht
mit niedrigen Steuersätzen als immer neue Ausnahmetatbestände bei hohen Steuersätzen zu fordern.
Sie sind eben nicht mehr leistungsgerecht und sozial. Auch die Finanzministerin von Schleswig-Holstein hat sich so erklärt, wenn ich das Interview in der „Wirtschaftswoche" richtig gelesen habe.
Was ist mit Ihren Steuer-Männern, Frau Matthäus-Maier in Ihrer Partei?
Wie wir soeben gehört haben, wird ja wieder ein neuer Freibetrag gefordert.
Wenn ich die Begründung Ihres Gesetzentwurfes richtig gelesen habe, dann muß ich sagen: Das neue Denken ist bei den Steuer-Männern noch nicht eingetreten.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Ja, bitte sehr. — Sie rechnen es mir liebenswürdigerweise nicht auf meine Redezeit an?
Nein, wir halten die Uhr an.
Herr Kollege, nachdem Sie mit markigen Worten erklärt haben, daß der Weihnachtsfreibetrag für dieses Jahr nicht eingeführt wird, frage ich Sie: Würden Sie das mit denselben bestimmten markigen Worten auch für das Wahljahr 1990 tun?
Nun greifen Sie doch nicht vor. Ich komme noch dazu. Sie haben sich gleich nach der ersten Minute aufgeregt gemeldet. Lassen Sie mich meine Gedanken einmal entwickeln,
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12892 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. Meyer zu BentrupHerr Huonker. Ich werde sehr deutlich sagen, wo intelligentere Möglichkeiten sind.
Im Januar 1990 wird ein Arbeitnehmerhaushalt, ein Familienvater mit zwei Kindern, der Durchschnittsverdiener 1990 mit einem Einkommen von 3 500 DM, auf der Grundlage des neuen Reformtarifs monatlich über 200 DM weniger Lohnsteuern als im Januar 1985 zu zahlen haben, nach dem letzten SPD-Steuertarif.
Herr Kollege Huonker, das sind im Jahre 1990 für einen Durchschnittsverdiener 2 480 DM weniger an Lohnsteuern, als wenn man Ihr Steuerrecht von 1985 zugrunde legt. Das ist eine Steuersenkung um 44 %. Das ist eine arbeitnehmerfreundliche Steuerreform.
Für eine Familie mit vier Kindern verdoppelt sich 1990 das steuerfreie Einkommen. Mit dem Kindergeld sind hier — Sie haben ja soeben behauptet, unsere Steuerpolitik sei unsozial — 67 500 DM Einkommen belastungsfrei. Das ist eine familienfreundliche Reform.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier? — Bitte.
Herr Meyer zu Bentrup, da Sie vergleichen, darf ich Ihnen folgende Frage stellen: Können Sie mir bestätigen, daß — nach Ihren eigenen offiziellen Papieren — ein Lediger, der 2 800 DM brutto im Monat verdient, von 1988 auf 1990 eine Steuerentlastung von 72 DM im Monat bekommt, wovon er eine Menge durch die kräftigen Verbrauchsteuererhöhungen in diesem Jahr bereits vorfinanziert hat, während ein Alleinstehender mit einem Monatseinkommen von 15 000 DM — das ist eine Menge Geld für einen Alleinstehenden — eine Steuerentlastung von fast 900 DM im Monat bekommen wird? Können Sie diese Zahlen — 72 DM im Vergleich zu 900 DM — bestätigen?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich habe den Durchschnittsverdiener von 1990 zur Grundlage meiner Berechnung gemacht. Ich vergleiche die Steuerersparnis dieses Durchschnittsverdieners von 1990 mit der Steuerbelastung auf der Grundlage des Steuerrechts, für das Sie verantwortlich waren.
Nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten sollt ihr sie messen! Dabei komme ich zu einer jährlichen Entlastung von 2 500 DM im Jahre 1990. Das ist eine gute Zahl und eine soziale Tat.
— Wir wollen nicht mit irgendwelchen Phantomzahlen,
sondern mit den Durchschnittszahlen für 1990 operieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Uldall? — Die Uhr wird angehalten.
Ja.
Herr Kollege, kann es sein, daß Frau Matthäus-Maier bewußt immer nur halbrichtige Fragen stellt, um damit zu verhindern, daß deutlich wird, daß man bei den genannten unteren Einkommensschichten fast eine totale Entlastung, nämlich um 80 bis 90 % der Steuerlast, vornimmt?
Es werden — das können wir feststellen — im Jahre 1990 eine halbe Million Steuerzahler aus der Besteuerung herausfallen.
Diese soziale Tat wurde gerade von Herrn Kollegen Uldall angesprochen.Mit dem Reformtarif 1990 wird eine neue Arbeitnehmerpauschale von 2 000 DM eingeführt.
Sie ergibt sich aus dem Arbeitnehmerfreibetrag, aus dem Weihnachtsfreibetrag und aus dem Werbungskostenpauschbetrag. Sie ist eine bedeutende Vereinfachung des bestehenden Besteuerungsverfahrens. Etwa 75 % der Arbeitnehmer werden davon befreit, ihre Werbungskosten gesondert zu ermitteln und nachzuweisen. Viele Rechtsstreitigkeiten werden vermieden.
Wir erhöhen dazu die Kilometerpauschale. Auch dieses kann keine unsoziale Politik für Arbeitnehmer sein, Herr Kollege Poß.
Die SPD hat mit ihrem Gesetzesantrag eine einseitige Argumentation aufgebaut, wenn sie für 1990 nur die temporäre Höherbelastung beim Weihnachtsgeld, nur die zeitliche Höherbelastung eines Monats herausgreift, ohne die Gesamtentlastungen zu bewerten.
Herr Kollege Poß, bei intelligenteren Lösungsvorschlägen hätte ich gerne mit Ihnen gestritten, aber nicht über einen Rückgriff in die Vergangenheit. Wenn Sie eingangs polemisieren, dann frage ich Sie: Warum sind Sie immer gegen Kinderfreibeträge mit ihren Wirkungen, während Sie Ihre eigenen Einwen-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12893
Dr. Meyer zu Bentrupdungen beim Arbeitnehmerfreibetrag und beim Weihnachtsfreibetrag nicht gelten lassen wollen?
Rechnen Sie einmal aus, was der Weihnachtsfreibetrag in Höhe von 600 DM für den Bundespräsidenten im Vergleich zu seinem Chauffeur bedeutet.
Können Sie da noch so polemisieren?
Herr Abgeordneter Meyer zu Bentrup, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?
Ja, gerne. Das ist aber dann die letzte; die Zeit ist längst vorüber.
Herr Kollege, wie beurteilen Sie den Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung, neben dem jetzigen Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 2 000 DM einen Weihnachtsfreibetrag in Höhe von 600 DM wiedereinzuführen?
Ich habe eben doch deutlich gesagt, daß ich mich gegen einen Rückgriff in die Vergangenheit ausspreche.
Im Finanzausschuß können wir dann all die Möglichkeiten diskutieren, die Sie jetzt in Frageform ansprechen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Hüser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe manchmal den Eindruck, daß die von Ihnen sogenannte größte Steuerreform aller Zeiten als ein effektives Beschäftigungsprogramm für dieses Hohe Haus inszeniert worden ist.
Der Bevölkerung, gerade den Bevölkerungsgruppen mit unteren und mittleren Einkommen, ist schon seit langem klar, daß es sich hierbei nicht um eine große Steuerreform handelt, sondern um die größte Fehlsteuerung, die diese Regierung produziert hat, obwohl ich zugestehen muß, daß Herr Blüm mit seiner Gesundheits-Reform dem in nichts nachsteht.
Wir wissen, daß der Steuermann die Brücke verlassen mußte, um einen anderen gescheiterten Minister zu ersetzen. Doch die Korrekturen des neuen, der leider hier nicht anwesend ist, haben dasselbe Ziel im Auge, vielleicht auf einer etwas anderen Route, nämlich der Umverteilung von unten nach oben.Wie wir uns erinnern, ist schon wieder einiges aus dem Gesetz herausgenommen und geändert worden. Von dem ursprünglichen Entwurf liegen immer noch einige Restanten, also Überbleibsel, im Ausschuß.Zunächst hat sich die Bundesregierung das Geld zur Finanzierung ihrer Steuergeschenke von allen Bürgerinnen und Bürgern zurückgeholt. Obwohl der Nettofinanzierungsanteil des Bundes nur 8 Milliarden DM beträgt, wurden die Verbraucher und Verbraucherinnen mit 11 Milliarden DM zur Kasse gebeten. Und bezeichnenderweise traten diese Steuererhöhungen bereits ein Jahr vor den Senkungen in Kraft.Es kann in diesem Zusammenhang nur als Unverschämtheit bezeichnet werden, wenn gerade mit dem Hinweis auf die Verbrauchsteuererhöhungen der Bundesregierung der rheinland-pfälzische Landtagspräsident Dr. Volkert, CDU, dem Landtag eine drastische Diätenerhöhung empfiehlt und diese selben Politiker im gleichen Atemzug den Gewerkschaften in unverfrorener Weise maßvolle Tarifabschlüsse vorschreiben wollen.Zurückgenommen wurde auch die Steuerbefreiung für Flugbenzin, die zuvor mit massivem Druck auf Abweichler in den Koalitionsreihen durchgeboxt worden war. Hier hatte wohl selbst die Regierung gemerkt, daß das so nicht geht, und kalte Füße bekommen. Zurückgenommen wurde auch die Quellensteuer und damit jener zaghafte Ansatz, zumindest einen geringen Steuersatz auf Kapitaleinkünfte zu erzielen. Geblieben ist jedoch die Verschärfung des Verbots für Finanzbeamte, bei Banken zu ermitteln. Auf jede Form der Kontrolle wird hier verzichtet. Besser hätte kaum eine Regierung ihre Aufmunterung zur Hinterziehung der Steuern auf Zinsen ausdrücken können.
Zurückgenommen wurde auch die ohnehin schon zurückhaltende Minderung der Steuervorteile bei Veräußerung von Unternehmen. Die Begrenzung des sogenannten Flick-Privilegs wurde auf Druck der Wirtschaft weitgehend aufgehoben.Steuerverzicht in Milliardenhöhe zugunsten der Kapitalbesitzer, Steuergeschenke in Millionenhöhe zugunsten von Unternehmern, aber zusätzliche Steuerbelastung in Milliardenhöhe für alle Verbraucherinnen und Verbraucher!
— Wenn Sie dazu eine Antwort haben wollen — Sie wissen, daß meine Redezeit begrenzt ist — , dann stellen Sie eine Zwischenfrage. Die würde ich Ihnen gern beantworten.Ich denke, der Skandal hierbei ist, daß auch das Drittel der Bevölkerung von der Verbrauchsteuererhöhung betroffen ist, das von der Steuerreform in gar keiner Weise profitiert. Die von Anfang an unübersehbare Umverteilung von unten nach oben wird dadurch augenfällig verstärkt. Ich darf daran erinnern, daß durch das Steuerreformgesetz 1990 die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen fast zweieinhalbmal so stark belastet wurden wie Unternehmer. 1 % der Steuerentlastung wurde auf die 20 % der Bezieher der unteren Einkommen verteilt. Das oberste Fünftel hat 56 % dieser Entlastung bekommen.
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12894 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
HüserHeute geht es endlich um einen Antrag, der die Steuerreform zugunsten des Durchschnittsbürgers und nicht schon wieder zugunsten von Spitzenverdienern und Privilegierten verändern soll. Die GRÜNEN unterstützen die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags, der den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen von der Bundesregierung gestohlen wurde. Wir wissen alle, daß es ein offenes Geheimnis ist, daß das Finanzministerium schon seit langem prüfen soll, wie der Weihnachtsfreibetrag wiedereingeführt werden kann, ohne daß das als Erfolg der Opposition erscheint. Denn auch Minister Waigel hat allmählich mitbekommen, daß die Auswirkungen des Wegfalls des Weihnachtsfreibetrags kurz vor der Bundestagswahl 1990 spürbar werden.
In Anbetracht der Tatsache, daß schon jetzt viele unzufriedene Wählerinnen und Wähler der CDU zu den Republikanern laufen, soll jede weitere Verunsicherung vermieden werden. Allerdings haben wir hier gehört, daß Sie wider Ihre bessere Erkenntnis, die Sie haben prüfen lassen, zurückweichen. Ich kann Herrn Waigel nur auffordern, daß er sich einen Ruck gibt und offen sagt, daß die Entscheidung, den Weihnachtsfreibetrag zu streichen, ein Fehler war und daß auch die CDU/CSU und die FDP diesen Antrag unterstützen sollten. Damit verliert die Steuerreform zwar nicht ihren unsozialen Charakter, aber es wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eigentlich müßig, uns die zehnmal und tausendmal ausgetauschten Argumente zur Steuerreform, hier, wo wir unter uns sind, wiederum gegenseitig vorzuhalten. Für mich ist der politische Erfolg dieser Steuerreform unzweifelhaft. Das zeigt sich darin, daß der Kern der Steuerreform, nämlich der geradlinige Tarif, von der Opposition, jedenfalls von der SPD, anerkannt wird und daß die SPD sagt, sie wolle diesen Tarif im wesentlichen nicht verändern. Das heißt, die Steuerreform findet bereits vor Inkraftsetzung Zustimmung auf allen Seiten des Hauses.
Die GRÜNEN werden dem dann noch folgen.
Die alten Argumente mit der Umverteilung können Sie vergessen. Sie wissen selbst, daß von dem Volumen von 50 Milliarden DM, das bewegt wird, 1 Milliarde DM auf die Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes entfällt.
Das ist nun wirklich kein wesentlicher Betrag. Die Argumente, warum das sein muß und warum das noch weiter gesenkt werden muß, sind Ihnen bekannt.
Worum handelt es sich beim Weihnachtsfreibetrag? Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß wir dieses Thema im nächsten Jahr noch sehr oft austauschen werden. Das liegt im Wahljahr einfach zu nahe,
insbesondere, Herr Huonker, wenn der Wahltag näherrückt.
— Wir werden uns damit also noch oft beschäftigen.
Worum geht es in Wirklichkeit? In Wirklichkeit geht es darum, daß wir zur Finanzierung der Steuerreform über 60 Ausnahmeregelungen abgeschafft haben. Dazu gehören der Arbeitnehmerfreibetrag, der Weihnachtsfreibetrag und die Werbungskostenpauschale. Technisch sind sie abgeschafft. Aber ökonomisch haben wir sie in eine neue Arbeitnehmerpauschale von über 2 000 DM zusammengefaßt, die weit höher ist, als die drei alten Freibeträge zusammengerechnet.
Das heißt natürlich nicht nur, daß die Arbeitnehmer insoweit mehr entlastet werden als vorher, sondern daß heißt natürlich auch, daß wir einen erheblichen Vereinfachungseffekt bei der Steuerveranlagung haben, nämlich 75 % der Arbeitnehmer werden keine zusätzlichen Werbungskosten mehr im Ausgleichsverfahren beantragen müssen. Das ist eine Entlastung in Millionen von Fällen. Darum ging es uns auch immer. Steuerentlastung war ein Ziel auf allen Seiten des Hauses. Wenn man dieses Ziel verwirklichen will, muß man natürlich auch die Konsequenzen tragen.
Herr Abgeordneter Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Herr Solms, wollen Sie mir zustimmen, daß ein Arbeitnehmer, der 2 000 DM Werbungskosten hat, nach Ihrer famosen Steuerreform genau 1 080 DM durch den Verlust von Arbeitnehmerfreibetrag und Weihnachtsfreibetrag verliert, weil er die 2 000 DM ja ohnehin nachweisen kann? Es ist ein echter Verlust von über 1 000 DM, über 600 DM allein beim Weihnachtsfreibetrag. Wollen Sie das bestreiten?
Sie werden auch von mir nicht verlangen, Frau Matthäus-Maier, daß ich jetzt Ihre Rechnung im Kopf ohne Tabelle nachvollziehen kann.
Aber ich werde Ihnen zugestehen — da besteht gar kein Zweifel— , daß ein Teil der Arbeitnehmer, aber es ist der kleinere Teil, dadurch keinen Vorteil erzielt, sondern sogar Nachteile hat. Aber dies müssen Sie natürlich immer vor dem Hintergrund einer durch den gradlinigen Tarif insgesamt enorm gesenkten Steuerlast sehen. Die Mehrzahl der Arbeitnehmer, die, wenn sie nur diesen Ausschnitt nehmen, belastet werden, sind in der Regel die, die beim Tarif am stärksten entlastet werden. Insoweit gleicht sich das natürlich mehr
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12895
Dr. Solmsals aus, und die Steuerentlastung ist dann doch immer größer.Liebe Freunde, es ist nun einmal so: Sie können so ein Steuerpaket natürlich nur insgesamt beurteilen und nicht durch Herausgreifen von Mosaiksteinen. Ich bin ganz sicher, daß diese Steuerreform bei den Arbeitnehmern und bei allen Steuerpflichtigen im nächsten Jahr positiv aufgenommen werden wird und daß sie dazu beitragen wird, auch das wirtschaftliche Klima positiv zu beeinflussen. Wir werden dann ins achte Jahr des Aufschwungs kommen, in der heute schon längsten wirtschaftlichen Aufschwungphase in der Bundesrepublik Deutschland.Aus all diesen Gründen kann ich für die FDP-Fraktion sagen: Der Weihnachtsfreibetrag wird nicht wieder eingeführt. Wir wollen ein einfaches, gerechtes, nicht zu stark belastendes Steuersystem, und das haben wir mit dieser Tarifreform geschaffen.Danke schön.
Das Wort hat der Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Voss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Poß, für Sie gilt wie auch für Sie, Herr Kollege Hüser, daß Ihre pauschalen Vorwürfe gegen die Steuerreform ad eins nicht neu sind, sie werden auch durch ständige Wiederholung nicht origineller
— sie sind unrichtig, Frau Kollegin — , und sie bleiben ad zwei unzutreffend.
Und, Herr Kollege Poß, Sie machen sich ganz unnötige Sorgen, wenn Sie glauben, daß der jetzige Bundesfinanzminister seine beiden wichtigen Aufgaben als Parteivorsitzender und als Bundesfinanzminister nicht hervorragend miteinander verbinden könnte.
Sie haben ganz, ganz falsche Vorstellungen von dem, was hier vor sich geht.
Im übrigen, meine Damen und Herren von der SPD, behaupten Sie in dem vorliegenden Gesetzentwurf, der Weihnachtsfreibetrag würde ab 1990 ersatzlos wegfallen.
— Das ist unrichtig und irreführend, Herr Kollege Huonker. Richtig ist, daß im Rahmen der dreistufigen Steuerreform der bisherige Weihnachtsfreibetrag von 600 DM zusammen mit dem Werbungskostenpauschbetrag und dem Arbeitnehmerfreibetrag in den neuen Arbeitnehmerpauschbetrag von 2 000 DM jährlich
einbezogen wurden. Dieser Arbeitnehmerpauschbetrag ist ebenso wie der bisherige Werbungskostenpauschbetrag in die Lohnsteuertabelle eingearbeitet worden. Das hat zur Folge, daß er beim Lohnsteuerabzug vom Arbeitslohn monatlich mit einem Anteil von einem Zwölftel berücksichtigt wird. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies.
Darf ich vorher fragen, Herr Staatssekretär, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Huonker gestatten?
Bitte schön.
Stimmen Sie mir zu, Herr Kollege Voss — wir haben darüber schon ein paar Mal gesprochen, zum letzten Mal bei der zweiten Lesung des Steuerreformgesetzes — , daß der Arbeitsnehmerpauschbetrag etwas mit Werbungskosten und formal und materiell überhaupt nichts mit dem Weihnachtsfreibetrag zu tun hat, weil nämlich derjenige, der
2 000 DM Werbungskosten hat, die er heute von der Steuer absetzen kann, von dem Arbeitnehmerpauschbetrag null Mark Steuersenkung hat, aber den Verlust des Weihnachtsfreibetrags voll spürt?
Ich kann Ihnen nicht voll zustimmen, Herr Kollege. Es ist zwar zutreffend, daß der Arbeitnehmerpauschbetrag von 2 000 DM auch etwas mit Werbungskosten zu tun hat, aber nicht nur damit. Wenn die anderen Freibeträge da nicht hineingenommen worden wären, hätte man nicht zu einem Pauschbetrag von 2 000 DM und damit nicht zu der großen Steuervereinfachung und dem Bürokratieabbau kommen können, was wir damit erreicht haben.
Das wäre sonst nicht zu machen gewesen.
Das, was ich soeben ausgeführt habe, meine Damen und Herren, verdeutlicht folgendes Beispiel: Bei einem Bruttomonatsverdienst von beispielsweise3 000 DM und gleichhohem Weihnachtsgeld ist dieLohnsteuer zu Weihnachten 1990 in Steuerklasse I um55 DM geringer als 1989 und in Steuerklasse III— ohne Kinder — um 48 DM geringer als 1989. In einzelnen Fällen — das muß zugegeben werden — kann die Lohnsteuerbelastung im Weihnachtsmonat 1990 allerdings auch höher als 1989 ausfallen.
— Sehr richtig, Herr Kollege Friedmann. — Bei einem Bruttomonatsverdienst von beispielsweise 1 500 DM und gleichhohem Weihnachtsgeld ist die Lohnsteuerbelastung in Steuerklasse I und III im Dezember 1990 jeweils um 39 DM höher als 1989. Das ändert aber nichts daran, daß die monatliche Steuerbelastung in den übrigen elf Monaten des Jahres 1990 in Steuer-
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12896 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär Dr. Vossklasse I um 55 DM und in Steuerklasse III — ohne Kinder — um 47 DM geringer ist als in diesem Jahr.
— Für die sachgerechte Beurteilung, Herr Kollege Friedmann, der Lohnsteuerbelastung ist die Jahresbelastung, wie Sie soeben richtig gesagt haben, und nicht die eines einzigen Monats maßgeblich.Im übrigen, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie sich doch immer lautstark gegen Freibeträge ausgesprochen; der Kollege Meyer zu Bentrup hat das soeben schon gesagt. Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, haben sich beim Kinderfreibetrag doch immer besonders hervorgetan.
— Freibetrag ist Freibetrag, Frau Kollegin. Sie haben doch immer behauptet, ein Freibetrag sei vor allem deshalb unsozial und ungerecht, weil er den Bürger mit höherem Einkommen stärker entlaste als Geringerverdienende.
Sie verschweigen dabei aber bewußt die systemimmanente Wirkung eines progressiven Steuertarifs, der den Höherverdienenden auch stärker belastet als den Geringerverdienenden. Dies alles soll nun beim Weihnachtsfreibetrag nicht mehr gelten. Das zeigt erneut Ihre zerrissene und unplausible Argumentation.
Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, daß Sie die Wiedereinführung zu diesem Zeitpunkt— auch das ist soeben schon gesagt worden — just for show betreiben und inszenieren. Das machen wir nicht mit. Ich bitte Sie daher, meine Damen und Herren, den Entwurf der SPD abzulehnen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5370 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Esters, Dr. Däubler-Gmelin, Matthäus-Maier, Kühbacher, Horn, Conrad, Diller, Jungmann , Nehm, Purps, Sieler (Amberg), Dr. Struck, Waltemathe, Walther, Dr. Wegner,
Wieczorek , Zander, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung
— Drucksache 11/5009 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Verteidigungsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Esters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung will die sozialdemokratische Bundestagsfraktion eine Gesetzeslücke schließen, die bei der parlamentarischen Beschlußfassung über das Bundesrechnungshofgesetz 1985 einvernehmlich festgestellt worden ist. In dem damaligen Bericht des Haushaltsausschusses an das Plenum hieß es, daß die Prüfung der Selbstkostenpreise durch den Bundesrechnungshof bei öffentlichen Aufträgen in Unternehmen vornehmlich im Verteidigungsbereich eine regelungsbedürftige Frage der Finanzkontrolle sei.Der Vorsatz war löblich, doch es fehlten die Taten. Bis heute ist es den Koalitionsfraktionen nicht gelungen, den gordischen Knoten durchzuschlagen und gemeinsam mit anderen Fraktionen ein eigenes Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofes im genannten Bereich gesetzlich zu normieren. Nach mehr als vier Jahren fruchtloser Beratungen und nicht eingelöster Schwüre und Bekenntnisse wollen wir Sozialdemokraten mit unserer Initiative das Satyrspiel beenden. Die Koalitionsfraktionen müssen endlich Farbe bekennen.
Dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen, müßte Ihnen eigentlich leichtfallen; denn er deckt sich mit dem Beschluß, den der Rechnungsprüfungsausschuß am 22. Juni 1988 einvernehmlich gefaßt und den der Haushaltsausschuß am 29. September 1988 ebenso einvernehmlich bestätigt hat. Die Bundesregierung wird in diesem Beschluß aufgefordert, darauf hinzuwirken, daß der Bundesrechnungshof in den Fällen von Selbstkostenpreisen bei Auftragnehmern Erhebungen vornehmen kann. Daß die Aufforderung an die Bundesregierung gerichtet wurde, bedeutete lediglich die auch in anderen Fällen gebräuchliche Bitte um technische Hilfestellung für eine rechtsförmlich einwandfreie Fassung der Initiative, hinter der die politische Autorität aller Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses stand.Ab hier begann dann das Ganze zur Farce zu werden. In der Sphäre der Bundesregierung angelangt, verwandelte sich die Initiative — um es plastisch aus-
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Esterszudrücken — in einen Nasenring, an dem der Haushaltsausschuß bzw. dessen Mehrheit bis zur Stunde im Kreis herumgeführt wird, ohne sein Ziel zu erreichen.Der federführende Bundeswirtschaftsminister befindet, daß die in Rede stehenden Erhebungen des Bundesrechnungshofes in den Unternehmen — ich zitiere — „mit den ordnungspolitischen Grundsätzen der Marktwirtschaft, die auch für das öffentliche Auftragswesen gälten, und mit dem Schutz berechtigter Interessen der Industrie unvereinbar seien". Da er die höchsten Güter der Nation bedroht sah, hat er einen vorbeugenden Beschluß des Bundeskabinetts herbeigeführt.Er will allenfalls zulassen, daß der Bundesrechnungshof nach der Art eines päpstlichen Sängers die Arbeit der Preisprüfungsbehörden der Länder begleitet und ihnen gleichsam über die Schulter schaut, ob sie ihre Arbeit korrekt verrichten; eine Vorstellung, die der gesetzlich garantierten Unabhängigkeit und Freiheit des Bundesrechungshofes in Prüfungsverfahren widerspricht.
Lassen Sie mich die Ex-cathedra-Sprüche des ministeriellen Liberalismus an dem messen, was der Haushaltsausschuß bislang wollte und was die vorliegende Gesetzesinitiative meiner Fraktion aufnimmt. In der Sache geht es darum, daß auf Grund der Haushaltsbewilligungen dieses Parlaments die Bundesverwaltung, namentlich der Bundesverteidigungsminister, alljährlich im Wert von 10 Milliarden DM Beschaffungen von speziellem Gerät oder von besonderen Entwicklungen vornimmt, die nicht marktgängig sind und deren Preis nicht im Wettbewerb, sondern nach Selbstkosten mit Gewinnaufschlag ermittelt wird. Die Preisprüfung nehmen die Preisprüfungsstellen der Länder vor, die, vornehm formuliert, von Haus aus nicht das drängendste Interesse daran haben können, Preiskämpfe für den Bund zu führen, zumal wenn das betreffende Unternehmen seinen Hauptsitz auch noch in dem betreffenden Bundesland hat. Die Preisprüfung, die im Verteidigungsbereich das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung durchführt, ist durch dessen Zugehörigkeit zum Verteidigungsressort und die damit verbundenen Vorgaben eingeschränkt. Ich verweise dazu im einzelnen auf die Begründung unseres Antrags.Dem ordnungspolitischen Phrasenschatz des Bundeswirtschaftsministeriums ist entgegenzuhalten, daß die Überprüfung der für die Selbstkostenpreise maßgebenden Kostenangaben der Unternehmen durch den Bundesrechnungshof sich ausschließlich auf Fälle beschränkt, in denen die Bundesverwaltung selber zulässigerweise prüft, ferner, daß diese Prüfung nach öffentlich-rechtlichen Maßstäben erfolgt, und schließlich, daß ein Prüfungsrecht für den allgemeinen Güter- und Leistungsaustausch, der sich schließlich privatwirtschaftlich und im Wettbewerb vollzieht, also der Kontrolle durch den Markt unterliegt, nicht begründet werden soll.Der Haushaltsausschuß hat dies den tauben Ohren des Bundeswirtschaftsministeriums vergeblich gepredigt, obwohl hochstehende Persönlichkeiten in diesem Geschäftsbereich, so der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl, ihm versichert haben, daß sie persönlich ein solches Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofs sehr wohl befürworten würden. Dabei ist doch gerade Erich Riedl als Koordinator für die Luft- und Raumfahrtindustrie mit den Industrieunternehmen der Kronzeuge dafür, wie er auch vor dem Ausschuß betont hat.
Er betonte deutlich, daß der Drang der Industrie, gegenüber dem politischen Bereich jede Forderung durchzusetzen, seine Grenzen finden müsse, daß speziell der Jäger 90 nicht dazu bestimmt sei, der Industrie Gewinne zum Ausgleich anderweitiger Verluste zu verschaffen, und daß er in seiner Amtseigenschaft die betreffende Industrie auffordern werde, zunächst die Selbstkostenkalkulation offenzulegen, um erst daraufhin glaubhaft über den Gewinnzuschlag verhandeln zu können. Dr. Riedl, der bekanntlich eine offene Sprache liebt, wird mir die Zitate aus den Ausschußsitzungen sicher nicht verübeln. Er betonte deutlich und faßte es auch so zusammen, daß ein Prüfrecht des Bundesrechnungshofs Transparenz und Akzeptanz schaffe und verhindere, daß die Vorhaben wie Jäger 90, Panzerabwehrhubschrauber II und der Transporthubschrauber MA 90 in Verruf gerieten.Es wirft ein merkwürdiges Bild auf die Sacharbeit der Bundesregierung, wenn urteilsfähige Personen im Führungsbereich Maßnahmen, die sie für richtig erkannt haben, nicht umsetzen können und sich statt dessen an ordnungspolitischen Leerformeln totlaufen müssen.
Das ist doch die Schizophrenie dieser Gralshüter desLiberalismus mit Minister Haussmann an der Spitze:
Auf der einen Seite fördern sie aktiv die enorme Konzentrationsbewegung in unserer Wirtschaft — der jüngste Fall ist ja bekannt —, oder sie lassen solche Prozesse unter dem Signum „Europäischer Binnenmarkt" ungehindert laufen. Auf der anderen Seite lehnen sie Kontrollmöglichkeiten in den genannten Unternehmensbereichen, die infolge öffentlicher Aufträge weithin ohne Risiko arbeiten und monopolähnliche Stellungen besitzen, ausgerechnet mit dem Hinweis auf die reine Lehre von der Marktwirtschaft ab.
Wir sind hier an einem entscheidenden und hochpolitischen Punkt. Daß der Bundesrechnungshof die in Rede stehende Prüfzuständigkeit erhalten soll, ist doch nicht das Ziel dieses Gesetzentwurfs, sondern ist ein Mittel zum Zweck. Ziel ist, daß der Deutsche Bundestag, der jährlich die sehr hohen Haushaltsmittel für die Selbstkostenpreisaufträge an die monopolartig strukturierten Unternehmen bewilligt, über das unabhängige Organ der Finanzkontrolle gemäß dem Unterstützungsauftrag des Bundesrechnungshofgesetzes Informationen über seine Entscheidungen erhält.
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EstersEine solche Transparenz für den Deutschen Bundestag ist für die betreffenden Unternehmen, die im wesentlichen oder ausschließlich durch öffentliche Aufträge existieren, auch durchaus zumutbar. Sie wäre zugleich Bestandteil eines gewissen Gewaltengleichgewichts zwischen dem Parlament als Volksvertretung auf der einen und der sich ständig erweiternden Machtzusammenballung in der Wirtschaft auf der anderen Seite.Ohnehin hat sich dieses Gleichgewicht zum Nachteil der Volksvertretung durch die europäischen und internationalen Rüstungsprojekte verschoben,
für die wir hier in voller Verantwortung zwar Mittel bewilligen, jedoch kaum Kontrollmöglichkeiten haben, weil der Bundesrechnungshof, wenn überhaupt, nur die durchführenden Agenturen prüfen kann.Der vorliegende Gesetzentwurf ist — das wird deutlich, wenn Sie Text und Begründung aufmerksam lesen — keine Kampfansage, sondern ein Angebot an die Koalition,
die bereits gefaßten Beschlüsse im Haushaltsausschuß endlich gesetzgebungswirksam umzusetzen.Befreien Sie sich aus der Bevormundung durch den Bundeswirtschaftsminister oder vom Druck einer Industrie, die doch nur ihre erheblichen Gewinne aus Selbstkostenpreisaufträgen zu Lasten des Steuerzahlers erhalten will. Verweigern Sie die Ihnen zugemutete Gefälligkeitspolitik. Die Rechnungshöfe in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz, Staaten, die über jeden marktwirtschaftlichen Zweifel erhaben sind, besitzen die hier geforderten Rechte längst.
Der Kollege Borchert hat als verantwortlicher Obmann Ihrer Fraktion, Herr Kollege Friedmann, noch vor der Sommerpause im Haushaltsausschuß versichert, eine zum Zwecke der Erprobung zeitlich befristete Regelung des Erhebungsrechtes für den Bundesrechnungshof im Haushaltsgesetz 1990 vorzusehen. Dies wäre wenigstens ein Schritt, doch abermals scheint sich jetzt die Bundesregierung bei Ihnen mit einem weiteren wenig stichhaltigen Bedenken, dem sogenannten Bepackungsverbot für das Haushaltsgesetz, durchgesetzt zu haben. Was uns die Haushaltsgruppen jetzt zur Beschlußfassung vorgelegt haben, ist knieweich, und das Prüfrecht des Bundesrechnungshofs wird tatsächlich auf die schwächliche Funktion des bloßen Begleitens exekutiver Preisprüfer beschränkt. Dies ist das, was man eine sogenannte Kurschattenlösung nennen kann.
Das ist dann allerdings die vollständige Kapitulation, Herr Kollege Friedmann, vor dem Bundeswirtschaftsministerium und — erlauben Sie mir, es so zu sagen — auch eine Düpierung der Kollegen anderer Fraktionen im Haushaltsausschuß selbst, die immerhin lange Zeit ein gewisses Vertrauen in Ihre früheren Aussagen gesetzt haben und die nun offenbar auch genasführt worden sind.Um so richtiger ist es, daß die SPD-Bundestagsfraktion Ihnen mit der Vorlage ihres Gesetzentwurfs nun ein eindeutiges Bekenntnis in der Sache abverlangt. Ich weiß zwar, daß Sie, Herr Kollege Friedmann, dann leider nicht mehr dasein werden, aber ich hoffe sehr, daß es noch gelingt, dieses Verfahren in dieser Legislaturperiode haushaltsrechtlich einwandfrei umzusetzen. Dann wären viele Dinge, die jetzt in einer Grauzone sind, durchschaubar, und das Parlament hätte dadurch wieder etliches zurückgeholt, was wir in immer stärkerem Maße abgegeben haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Friedmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Eigentlich wollte ich nicht mehr vor diesem Hohen Hause sprechen, da sich meine Berufung zum Europäischen Rechnungshof abzeichnet.
Da aber in der Koalition zumindest das Prüfrecht für den Bundesrechnungshof bei Rüstungsfirmen mit meinem Namen verbunden ist, bin ich gebeten worden, doch noch einmal zu sprechen.
Ich bitte sie also, mich nochmals zu ertragen.In der Sache — da hat unser Kollege Helmut Esters recht — ist es problematisch, wenn öffentliche Aufträge des Bundes zu sogenannten Selbstkostenpreisen vergeben werden. Unsere Soziale Marktwirtschaft beruht auf dem Wettbewerbssystem. Selbstkostenpreise sind nun einmal keine Marktpreise; sie sind deshalb ein Fremdkörper in unserer Wettbewerbswirtschaft.Dabei geht es um beachtliche Größenordnungen. Allein beim Verteidigungsminister geht es jährlich um 6 bis 8 Milliarden DM, hinzu kommen beachtliche Größenordnungen u. a. beim Bundespostministerium und bei der Bundesbahn.Wir haben also im Augenblick keine befriedigende Lösung. Wenn aber der Wettbewerbspreis als ideale Lösung hier nicht zum Tragen kommt, dann müssen wir tatsächlich suchen, ob es eine zweitbeste Lösung gibt. Eine solche zweitbeste Lösung wäre ein Erhebungsrecht des Bundesrechnungshofs bei Rüstungsfirmen.Nun wird dagegen eingewandt, es gebe schon eine ganze Reihe von Prüfungen bei Rüstungsfirmen, bei den Firmen der Wehrwirtschaft. Daran ist etwas. So hat z. B. das BWB — das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung — ein vorkalkulatorisches Prüfungsrecht, wenn es um Aufträge zu Selbstkostenfestpreisen geht, und ein nachkalkulatorisches Prüfungsrecht, wenn es um Aufträge zu Selbstkostenerstat-
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Dr. Friedmanntungspreisen geht. Letzteres ist aber eingeschränktauf Firmen des Zellenbaus in der Flugzeugindustrie.Neben diesen eingeschränkten Prüfrechten des BWB gibt es auch noch die Preisprüfungen durch die Länder auf der Grundlage der vielzitierten Verordnung 30/53. Ich möchte aber ausdrücklich feststellen, daß es bei dieser Preisprüfung durch die Länder um etwas ganz anderes geht als bei der Prüfung des Rechnungshofes.
Die Preisprüfer haben darauf zu achten, ob die Preise nach den einschlägigen Vorschriften zustande gekommen sind; hingegen hat der Bundesrechnungshof zu prüfen — ich bitte, darauf genau zu achten — , ob der Bund die Grundsätze einer sparsamen Haushaltsund Wirtschaftsführung beachtet.Wenn man also über ein Erhebungsrecht des Bundesrechnungshofes bei Rüstungsfirmen spricht, dann geht es nicht darum, die betreffenden Firmen zu prüfen, sondern es geht darum zu prüfen, ob der Bund seine Grundsätze einer sparsamen Haushalts- und Wirtschaftsführung richtig anwendet. Dies wird in der Diskussion oft übersehen.Die jetzige Gesetzeslage gibt ein dauerhaftes Prüfungsrecht des Rechnungshofes nicht her. Bei dem, was ich bisher geschildert habe, sind wir uns mit der Opposition einig. Ab dem jetzigen Punkt beginnen wir uns zu unterscheiden. Lieber Kollege Helmut Esters, wir sind der Meinung, daß eine gesetzliche Regelung, die nötig wäre, um dem Rechnungshof ein dauerndes Erhebungsrecht zu geben, Hand und Fuß haben muß, d. h. auf festen Boden verankert sein muß.Um ein niet- und nagelfestes Gesetz machen zu können, müssen entsprechende Erfahrungen vorliegen. Uns in der Koalition geht es deshalb darum, zunächst einmal in einem zeitlich befristeten Probelauf in einer begrenzten Anzahl von Fällen die nötigen Erfahrungen durch den Rechnungshof sammeln zu lassen, sie also zu erarbeiten.Wir hatten in der Tat zuerst daran gedacht, die Grundlage für ein solches vorübergehendes Erhebungsrecht des Rechnungshofes durch Vertragsrecht zu schaffen. Dies hätte bedeutet, daß in den Verträgen mit Selbstkostenpreisen ein Prüfrecht des Rechnungshofes verankert wird. Im Grundsatz ist dies auf freiwilliger Grundlage möglich. Dies ergibt sich aus dem § 104 der Bundeshaushaltsordnung.Dann aber hat sich die Bundesregierung durch einen Kabinettsbeschluß selbst gebunden, in dem sie festgestellt hat, daß das für sie nicht gelten solle,
weil ein solches direktes Erhebungsrecht nach Meinung der Bundesregierung ordnungspolitischen Bedenken begegnen würde. Teilweise kam das Argument, es sei auch sittenwidrig, wenn der Bund mit seiner Macht als Auftraggeber hier ein Recht erzwingen würde, das er sonst so nicht bekäme.Wir versuchten daraufhin, nachdem sich das Kabinett durch einen Kabinettsbeschluß so festgelegt hatte, den Weg des Haushaltsgesetzes zu gehen. Dagegen spricht allerdings das sogenannte Bepackungsverbot, das wir nicht überbewerten, das aber letztlich doch bedeutet hätte, daß der Beschluß jährlich hätte neu gefaßt werden müssen. Denn das Haushaltsgesetz gilt immer nur für ein Jahr. Im übrigen hätten wir damit die Verabschiedung des Bundeshaushalts möglicherweise in eine prekäre Situation gebracht.
Daraufhin haben wir in der letzten Sitzungswoche mit den Stimmen der Koaliton im Haushaltsausschuß einen Beschluß gefaßt, der folgendes besagt: Die Bundesregierung wird aufgefordert, bis Ende März nächsten Jahres die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß der Rechnungshof bis Ende 1993 ein direktes Erhebungsrecht hat.Um diesem Nachdruck zu verleihen, haben wir im Haushalt des Verteidigungsministeriums beim Kapitel der NATO-Infrastruktur 150 Millionen DM qualifiziert gesperrt.
Wir haben bewußt diesen Titel genommen — das habe ich mir lange überlegt, Herr Kollege Esters —, weil Brüssel dieses Geld benötigt und daher die NATO von Brüssel her auf die Bundesregierung einwirken wird, die Voraussetzung für die Entsperrung zu schaffen. Diese wird nur zu haben sein, wenn es ein Prüfungsrecht des Rechnungshofes gibt. Außerdem sind dann viele Firmen betroffen, die sich ihrerseits mit Sicherheit an den Wirtschaftsminister wenden werden.Das Instrument, dessen sich die Regierung dann bedienen kann, ist nach wie vor der § 104 der Bundeshaushaltsordnung, der, wie gesagt, vorsieht, daß auf vertraglicher Grundlage ein solches Prüfungsrecht zwischen der betreffenden Firma und dem Rechnungshof vereinbart werden kann. Wir werden auf diese Art das fundierte Material bekommen, um dann, falls es notwendig erscheint, auf gesetzlicher Grundlage das Prüfrecht des Rechnungshofes zu zementieren.Ich möchte aber nochmals sagen: Wir wollen dies mit Sicherheit nicht verhindern. Am liebsten wäre es uns, wenn die Preise durch einen freien Wettbewerb zustande kämen.
Aber es kann niemandem dienen, wenn der jetzige Zustand beibehalten wird. Denn wenn der Eindruck entstünde, es gäbe ausgerechnet in diesem Bereich eine Grauzone, dann würde dies weder den beteiligten Firmen noch der öffentlichen Hand als Auftraggeber noch sonst jemandem dienen. Nur wollen wir die präzisen Erfahrungen haben, die uns dann in die Lage versetzen, die entsprechende gesetzliche Regelung entweder durch eine Ergänzung des § 91 der Bundeshaushaltsordnung oder aber durch eine verstärkte Anwendung des § 104 der Bundeshaushaltsordnung zu schaffen.Ich möchte darum bitten, daß wir in dieser Weise zusammenarbeiten. Ich möchte vor allen Dingen die Bundesregierung bitten, daß sie ihrerseits mitzieht, diesen einvernehmlichen Weg zu gehen.
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12900 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Dr. FriedmannSchönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vennegerts.
: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD scheint auf den ersten Blick eher technisch zu sein. Sein Titel „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung" wird bei der überwiegenden Zahl der Bürgerinnen und Bürger draußen, aber auch bei vielen Kollegen und Kolleginnen leider eher Gähnen hervorrufen. Dies ist sehr bedauerlich; in Wahrheit geht es, wie Sie gerade auch gehört haben, um eines der spannendsten und auch innerhalb der Koalitionsfraktionen am heißesten umstrittenen Themen. Hier geht es um die Gewinne der Rüstungsindustrie im Zusammenhang mit der Abwicklung öffentlicher Beschaffungsaufträge. Bis vor wenigen Jahren ist dieses Thema von den Altparteien — auch von der SPD — als Tabu behandelt worden. Während ihrer Regierungszeit hat sie sich jedenfalls nie dazu aufraffen können, diese jetzt in Gesetzesform gekleidete Kritik an den unverhältnismäßigen Profitmöglichkeiten der Rüstungsindustrie in die Tat umzusetzen. Um so mehr erfreut sind wir, daß sich dies zwischenzeitlich geändert hat.
Eine Regelung, die dem Bundesrechnungshof ein eigenständiges Prüfungsrecht hinsichtlich der Kosten- und Preiskalkulation bei Rüstungsaufträgen einräumt, war längst überfällig. Wenn ich Sie, Herr Kollege Friedmann, heute hier höre, müßte die Regierungskoalition eigentlich dem Gesetzentwurf der SPD zustimmen. Sie haben kein Argument gefunden, das aus meiner Sicht diesem Gesetzentwurf widerspricht.
Frau Vennegerts, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Esters?
Aber gern.
Frau Kollegin Vennegerts, können Sie sich vorstellen, daß diese Idee nach Verabschiedung des neuen Gesetzes über den Bundesrechnungshof auch für uns wesentlich spannender geworden ist, als es früher nach dem alten Gesetz der Fall war?
Ich kann es mir selbstverständlich vorstellen, daß das heute wesentlich spannender ist, weil gerade in der Rüstungsindustrie natürlich auch die Konzentration zugenommen hat. Aber diese hat es, lieber Kollege Helmut Esters, auch früher, während eurer Regierungszeit, gegeben. Ich denke, die FDP hat euch da möglicherweise gehindert, diesen Gesetzentwurf einzubringen.
— Das war nur der Rechnungshof? Das ist ja das Allerneueste, was ich höre.
Wieviel Geld durch das Fehlen einer derartigen Regelung ungerechtfertigterweise tatsächlich an die Rüstungsbetriebe geflossen ist, läßt sich kaum abschätzen. Das kann man nur vermuten. Keine der bisherigen Bundesregierungen hat es gewagt, einmal in diesen Dschungel einzudringen, um zu ermitteln, wie hoch denn die Profitraten im Zusammenhang mit Rüstungsaufträgen sind.
Im Gegensatz zu den USA spielt die Profitabilität von Rüstungsprojekten bei uns anscheinend keine Rolle. — Kollege Weng, reg dich nicht so auf. — Bislang wurden weder vom Verteidigungsministerium noch vom Finanzministerium umfassende Untersuchungen vorgelegt, ob die in der Rüstungsproduktion herrschenden Gewinnspannen auch nur annähernd denen von zivilen Unternehmen entsprechen. Von diesen Untersuchungen gab es keine Spur. Dies zeigt, daß der Beschaffungsbereich in der Bundesrepublik mit einem Schleier der Verschwiegenheit und Geheimhaltung überzogen wird. Das soll sich jetzt ändern. Daß dies überhaupt möglich war, ist ein krasser Fall von Politikversagen. Kein normaler Mensch wird von der Rüstungsindustrie erwarten, daß sie freiwillig auf überhöhte Gewinnchancen verzichtet und Preisprüfung durch außenstehende Dritte zuläßt. Um so wichtiger wäre es, daß die Politik für einen gesetzlichen Rahmen sorgt, der Preismanipulationen durch die Industrie möglichst ausschließt.
An sich hätte jede Bundesregierung, jeder Finanz- und jeder Wirtschaftsminister hocherfreut sein müssen, wenn die Mitglieder des Haushaltsausschusses eine strenge Kontrolle bei der Vergabe und Abwicklung von Rüstungsaufträgen verlangen. Das Gegenteil war indessen der Fall. Mit allen nur erdenklichen Finessen und Ausreden hat das federführende Bundeswirtschaftsministerium versucht, ständig neue Hindernisse zu errichten, und dies seit gut einem Jahr. So war vom Bundeswirtschaftsministerium ein Prüfrecht des Bundesrechnungshofes u. a. mit dem Argument abgelehnt worden, daß der Staat als Auftraggeber von Rüstungsaufträgen nicht zugleich darüber richten dürfe, ob die Kosten- und Preiskalkulation korrekt verlaufen sei oder nicht. Als Beteiligter sei die öffentliche Hand befangen.
Meine Damen und Herren, diese Argumentation der Bundesregierung läßt deutlich erkennen, welche absurde Vorstellung sie über Stellung und Aufgabe des Bundesrechnungshofes innerhalb der Finanzverfassung hat.
Der Abgeordnete Weng hat eine Zwischenfrage.
Frau Kollegin Vennegerts, ist Ihnen bewußt, daß nicht nur das Bundeswirtschaftsministerium, sondern auch Teile des Parlaments, nämlich der Wirtschaftsausschuß einerseits und der Rechtsausschuß andererseits, erhebliche
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12901
Dr. Weng
Zweifel an einer solchen gesetzlichen Regelung geäußert haben
und daß das bei unseren Überlegungen, zunächst den Weg, den der Kollege Friedmann geschildert hat, zu beschreiten, eine wesentliche Rolle spielte?
Lieber Kollege Weng, ich weiß, daß sich sowohl der Wirtschaftsausschuß als auch der Rechtsausschuß immer noch dagegen aussprechen — das ist ein totaler Schwachsinn — , daß der Rechnungshof ein eigenständiges Prüfrecht bekommt, obwohl das Finanzministerium in seinen Ausführungen, die auch Sie bekommen haben, darstellt, daß ein vertragliches Prüfrecht rechtlich zulässig ist. Da kann ich nur sagen: Warum nehmen Sie nicht Einfluß auf Ihren FDP-Wirtschaftsminister — er gehört doch Ihrer und nicht meiner Partei an — und fragen ihn: Wie kann er so etwas Sinnvolles blockieren? Da verstehe ich Sie nicht; Sie sind doch sonst so mutig.
— Ja, da siehst du, es ist furchtbar mit der FDP; es ist wirklich schlimm. Aber jetzt machen wir einmal mit dem Bundesrechnungshof weiter.
Dem Bundesrechnungshof obliegt — das wissen wir alle — nach Art. 114 des Grundgesetzes und auch nach § 88 der Bundeshaushaltsordnung die Prüfung der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes. Der Bundesrechnungshof ist bewußt zwischen Regierung und Parlament angesiedelt. Seine Mitglieder genießen richterliche Unabhängigkeit. Damit soll eine sachorientierte, von Partei- und Wirtschaftsinteressen freie Kontrolltätigkeit gesichert werden. Die Pflicht zur Objektivität ist geradezu das Gütezeichen der Arbeit des Bundesrechnungshofes. Es ist völlig abwegig, den Bundesrechnungshof als verlängerten Arm der Verwaltung oder als Büttel des Staates einzuordnen.
Wenn die Rüstungsunternehmen nichts zu verbergen haben, brauchen sie eine eigenständige Kontrolle durch den Bundesrechnungshof nicht zu fürchten.
Wirtschaftliche Leistung, die nach ordentlichen betriebswirtschaftlichen Grundsätzen erfolgt, steht nicht im Widerspruch zum Grundsatz der sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung. Ich behaupte, genau das Gegenteil ist der Fall.
Wenn sich die Mitglieder des Haushaltsausschusses an die Empfehlung der mitberatenden Ausschüsse, des Rechts- und des Wirtschaftsausschusses gehalten hätten — was wir schon gerade diskutiert haben —, könnte der Bundesrechnungshof bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf Prüfungsmöglichkeiten bei Rüstungsfirmen warten. Gerade die Verzögerungs- und Verschleppungstaktik seitens des Bundeswirtschaftsministeriums, vor allen Dingen der FDP, macht deutlich, daß es unbedingt erforderlich ist, die Rechte des Bundesrechnungshofes in dieser Angelegenheit zu stärken und auf eine sichere Grundlage zu stellen.
Der letzte Woche im Haushaltsausschuß auf Antrag der Koalitionsfraktionen gefaßte Beschluß geht uns
nicht weit genug, da u. a. die Prüfungsmöglichkeiten des Rechnungshofes bis 1993 begrenzt sind. Einen Probelauf, Herr Kollege Friedmann, haben wir nach den Erfahrungen in den USA und in der Schweiz nicht nötig. Das wissen eigentlich auch Sie. Aber Sie müssen ja irgendwie auf Koalitionslinie bleiben.
Ich schätze Sie sehr, das wissen Sie; Sie sind ein ganz aufrechter Parlamentarier. Aber Sie können damit eigentlich nicht zufrieden sein, wenn Sie ganz ehrlich sind. Da meine ich Sie doch besser zu kennen.
— Der Rechnungshof ist zufrieden, weil er gesehen hat, daß im Moment nicht mehr durchzubringen war.
Nichtsdestotrotz wäre es schon längst möglich gewesen, vertragliche Vereinbarungen zu treffen, was die GRÜNEN wiederholt gefordert haben und was vom Finanzministerium auch bestätigt wurde. Es ist einfach so. Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD sorgt für Klarheit und Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Er bildet ein solides Fundament und macht die Prüfungsmöglichkeit aus meiner Sicht wasserdicht. Er wird deshalb unsere Zustimmung finden. Herr Friedmann, machen Sie doch einmal innerhalb der Koalition ein bißchen Druck. Vielleicht können Sie sich doch noch durchringen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Zywietz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den anfänglichen Attacken von beiden Seiten des Hauses auf die FDP war ich erst einmal etwas eingeschüchtert, zu diesem Thema noch zu sprechen. Aber vielleicht habe ich mich zwischenzeitlich leidlich erholt.
Ich möchte für die FDP nach dem, was ich von den Sprechern der GRÜNEN und auch der SPD, von den geschätzten Kolleginnen und Kollegen gehört habe, einmal sagen, daß es nach unserem Verständnis nicht um Grundsatzfragen der Marktwirtschaft geht. Hier geht es auch nicht um Vermutungen unbegründeter Art über überdurchschnittliche Gewinne der Rüstungsindustrie. Hier geht es im Kern eigentlich um das Selbstverständnis des Parlamentarismus, wie wir als Parlamentarier unsere Haushaltsaufgabe, die ein Kernstück der demokratischen Ordnung ist, interpretieren.
Nun kann man dabei schrittweise vorgehen, es zu reformieren, oder man kann dabei auch in eine stolpernde Hektik verfallen. Man muß ja nicht Mitglied im Haushaltsausschuß sein, um gelernt zu haben, daß selbst das Bauen eines Plenarsaals ein sehr dynami-
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12902 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Zywietzscher Prozeß sozusagen ohne Redaktionsschluß sein kann.
Wenn ich dieses Bild einmal auf die Ausformung von Demokratie übertrage, dann würde ich sagen: Es sollte ein evolutionärer Prozeß sein. Dabei sind wir ja alle: Zu dem Haushaltsrecht gehört nicht nur das Setzen der Ausgabeposition durch den Parlamentsbeschluß, sondern auch die Kontrolle über den Fluß, über die Verwendung des Geldes. Beide Dinge gehören zusammen, und wir sprechen hier über den zweiten Teil, über die Kontrolle der Verwendung der Mittel.Das Ganze, was ich bislang gehört habe, möchte ich nun einmal von der anderen Seite betrachten. Wir hatten im Haushaltsausschuß und auch hier im Grunde viel Übereinstimmung hinsichtlich der Tatsache, daß — ich sage es einmal vorsichtig — das demokratische Kontrollrecht des Parlaments nicht nur weiterentwikkelt werden kann, sondern auch weiterentwickelt werden muß. Darin besteht Übereinstimmung.
Es geht jetzt nur um die Frage des Wie. Die Frage des Wie allerdings beantworten wir anders. Wir möchten nicht gleich ohne hinreichende Erfahrung eventueller Folgen ein Gesetz ändern, sondern erst einmal Erfahrungen machen. Ich meine, der Demokratie würde es häufig gut zu Gesicht stehen, wenn man Dinge, die man regeln will, erst einmal empirisch untersuchte, wenn man erst einmal Erfahrungen sammelte und die Ergebnisse überprüfte, bevor man Gesetze macht; dann muß man diese nicht so häufig novellieren.Ich muß sagen, auch dieser Gesetzentwurf scheint mir nicht vollkommen zu sein.
Denn hier wird nur auf den Verteidigungsbereich abgehoben. In der Diskussion, die wir einvernehmlich geführt haben, wurde das Problem etwas weiter gefaßt. Es ist hier ja gesagt worden, daß solche Aufträge auch in den Bereichen der Bundespost und der Bundesbahn vergeben werden. Hier enthält also der Gesetzentwurf eine gewisse Verengung, er ist eigentlich nicht komplett und ausgereift. Das ist genau der Punkt, auf den wir uns beziehen.Wir sagen immer: nicht so viele Gesetze machen, und wenn Gesetze, dann vernünftig bedachte, damit man hinterher nicht soviel reparieren muß. Hier wollen wir ein Stück weiterkommen — das ist unbestritten — , aber wir wollen das auf vertraglicher Basis machen. Nach meinen Erfahrungen auch aus dem Wirtschaftsleben ist dieses Prinzip durchaus in gewisser Weise auf diesen Bereich übertragbar. Wenn ich an Unternehmen, an Konzerne in diesem Staat denke, die sich an einem anderen Unternehmen nur mit 10 % beteiligen, dann ist in dem Vertrag, wenn Geld hingegeben wird, immer eine Revisionsklausel enthalten. Die Unternehmen behalten sich selbstverständlich vor, das Zahlenwerk der Gesellschaften, an denen sie sich beteiligen, zu untersuchen — bis hin zu Untersuchungen vor Ort —, um zu wissen, was dort geschieht.Dieses Bild möchte ich einmal hierauf übertragen. Ich meine, daß wir dieses Modell, wo es anwendbar und vergleichbar ist, in den staatlichen Bereich übernehmen müssen, nur, bitte schön, auch zunächst einmal auf vertragliche Weise. Machen wir das doch nicht so schlecht; es ist ein erheblicher Fortschritt, den wir hier — wie mir scheint, sehr gemeinschaftlich — erarbeitet haben. Probieren wir es doch also durch, und dann werden wir in zwei oder drei Jahren zu Beurteilungen kommen, die entweder zu der Aussage führen, das habe nicht viel gebracht, oder aber zu der Erkenntnis: Das ist ein guter Ansatz, den man ausformen oder in andere Formen überleiten muß.Das Thema bleibt also auf der Tagesordnung, und zwar zu Recht; aber dieser Schnellschuß, hier gleich eine Gesetzesänderung vorzunehmen, scheint mir der Problematik nicht adäquat zu sein.
— Nein, das ist kein Herunterspielen. Ich bin ja hier auch heftig attackiert worden, die FDP ist attackiert worden, aber so zimperlich bin ich ja gar nicht.
— Wir eiern nicht, wir denken sehr nüchtern und gradlinig und handeln auch so.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Esters?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Zywietz, können Sie sich daran erinnern, daß die SPD-Fraktion mit diesem Gesetzentwurf einer Bitte der Bundesregierung nachkommt, die uns im Haushaltsausschuß ein paarmal erzählt hat, wir müßten eine Gesetzesänderung machen, um die Prüfungsrechte des Rechnungshofes haushaltsrechtlich einwandfrei abzusichern?
Es sind zu diesem Thema eine Menge Vorschläge gemacht worden. Bei allem Respekt: Niemand ist unfehlbar, auch Regierungen nicht. Die Diskussion und die Untersuchung des Themas haben dazu geführt, daß ein praktischer Schritt derzeit sinnvoll und machbar ist und daß sich daraus zur rechten Zeit alles Weitere ergeben wird.Ich möchte mit einem gewissen Nachdruck sagen: Wir wären in der Politik besser beraten, wenn wir Dinge, die man erst einmal beobachten und überprüfen kann, zuweilen auch etwas sorgfältiger überprüfen und empirisch untersuchen würden. Dann könnten wir Gesetze machen, die man nicht so häufig reparieren muß. Die Gesetze wären dann dauerhafter. So sehe ich es auch hier bei diesem Themenbereich.Ich möchte hinzufügen: Die ganze Problematik können wir insofern etwas reduzieren, indem wir alle daran mitwirken, daß wir bei der öffentlichen Vergabe möglichst viel Wettbewerbspreise haben. Auch
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Zywietzhier möchte ich einmal den positiven Ansatz herausstellen: Wir alle sind als Marktwirtschaftler hochauf zufrieden, daß, wenn Staatsaufträge vergeben werden, diese ausgeschrieben werden und daß über den Wettbewerb Preise ermittelt werden.
Das ist der bessere Fall.Aber wir sehen auch die Wirklichkeit. Gerade im Forschungs- und Entwicklungsbereich kann man ein Gerät, vor allem aufwendige Geräte, nicht mehrfach entwickeln. Man kann da also nur einen Auftrag erteilen, hat keinen Wettbewerbspreis und muß jetzt nachfassen, daß das Geld des Steuerzahlers vernünftig verwandt wird. Da sind wir Treuhänder, und wir müssen diesem Geld hinterherschauen.Bei allem Respekt vor dem, was uns als Hilfestellung durch die Länder entgegengebracht wird — das ist dargelegt worden — : Hier muß es im Kern um eigene Überprüfungsmöglichkeiten des Bundes gehen. Es handelt sich hier um Bundesgeld, das in seinem Ansatz vom Deutschen Bundestag verantwortet wird. Dieses Geld muß zumindest stichprobenweise und in den wesentlichen Ausgabenblöcken verantwortlich überprüft werden. Das ist sozusagen die Kehrseite des Budgetrechts, der Budgetmedaille.Insofern fühle ich mich eigentlich ganz zufrieden, daß wir diese Form des Vorgehens gefunden haben. Ich möchte deswegen dafür plädieren, daß wir den pragmatischen Schritt, wie er vom Kollegen Friedmann dargelegt worden ist, gehen. Das ist in der Tat die bessere Alternative. Wir sollten nicht übereilig und ohne die empirische Grundlage in ein Gesetzgebungswerk verfallen.Aber eines möchte ich mit Nachdruck sagen: Dieses Thema wird weiter beobachtet, und es bleibt auf der Tagesordnung, sozusagen ergebnisoffen. Wir werden es uns nach einer gewissen Phase anschauen und dann weitere Schlüsse zu ziehen haben.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Staatssekretär Dr. Voss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Esters, damit hier keine Mißverständnisse entstehen: Es hat zu keiner Zeit eine Bitte der Bundesregierung an die Fraktion der SPD gegeben, in diesem Falle hier ein Gesetz vorzulegen.
— Ich habe es aber so verstanden.
— Das bin ich in gewissen Punkten auch, Herr Kollege. Ich wollte nur darauf hinweisen: So ist das nicht gewesen. Wenn die Bundesregierung Gesetze vorlegen will, dann vermag sie das aus eigener Kompetenz zu machen.
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf strebt die Fraktion der SPD an, dem Bundesrechnungshof — es ist eben schon gesagt worden — ein Prüfungsrecht in den Unternehmen einzuräumen, die öffentliche Aufträge zu Selbstkostenpreisen im Verteidigungsbereich erledigen. Wir können diesem sehr weitgehenden Vorschlag aus mehreren Gründen jetzt, Herr Kollege Esters, nicht folgen:Erstens. Der Bundesrechnungshof prüft die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes. Er prüft sie bei der Verwaltung selbst. Eine Überprüfung der Verwaltungstätigkeit durch Erhebung bei Dritten ist bisher nur in wenigen Ausnahmefällen vorgesehen, etwa wenn Dritte Zuwendungen erhalten oder Bundesmittel verwalten.Hier liegt es auf der Hand, daß die Finanzkontrolle dann auch bei Dritten erfolgen muß, um Gewißheit über die ordnungsgemäße Verwendung der gewährten öffentlichen Mittel zu erhalten. Damit ist die Beschaffung von Wehrmaterial nicht zu vergleichen.Zweitens. Auch im Verteidigungsbereich werden Aufträge grundsätzlich im Wettbewerb zu Marktpreisen vergeben. Soweit Wettbewerb möglich ist, besteht also kein Regelungsbedarf. Wegen der Eigenart des zu beschaffenden Wehrmaterials ist allerdings ein beachtliches Auftragsvolumen vorhanden, bei dem die Aufträge mangels Wettbewerb nicht zu Marktpreisen vergeben werden können.Nach den geltenden Preisvorschriften obliegt die Prüfung der zwischen öffentlichem Auftraggeber und privatem Unternehmer vereinbarten Selbstkostenpreise den für die Preisbildung und Preisüberwachung zuständigen Ländern. Deren Prüfungsstellen können von den Unternehmen verlangen, ihnen das Zustandekommen des Preises nachzuweisen. Zu diesem Zweck können die Landesbehörden die Unterlagen der Unternehmen an Ort und Stelle, d. h. in den Betrieben, einsehen. Die Preisprüfungsstellen der Länder sind bewußt als neutrale Stellen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer eingesetzt.Drittens. Zusätzlich zu diesem hoheitlichen Prüfungsrecht hat sich das für die Beschaffung von Wehrmaterial zuständige Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung seit langem vertraglich das Recht einräumen lassen, vor der Auftragsvergabe die Angemessenheit der Selbstkostenpreise durch eine Prüfung in den Unternehmen festzustellen. Seit gut einem Jahr — das ist soeben bereits erwähnt worden — hat das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung die Beschaffungsverträge darüber hinaus so ausgestaltet, daß für den Bundesrechnungshof das Recht besteht, in Begleitung der Bediensteten des Bundesamtes Erkenntnisse für die Festlegung von Selbstkostenpreisen zu gewinnen.Da der Bundesrechnungshof nach seiner Aufgabenstellung das Verwaltungshandeln und in diesem Fall die vorkalkulatorische Prüfung durch das Bundeswehrbeschaffungsamt nachträglich prüft, hat der
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Parl. Staatssekretär Dr. VossHaushaltsausschuß des Deutschen Bundestages — Sie, Herr Kollege Friedmann, haben das auch erwähnt — der Bundesregierung in der letzten Woche aufgegeben, dem Bundesrechnungshof für einen Probelauf ein eigenes Prüfungsrecht in den Unternehmen auf vertraglicher Grundlage zu verschaffen.Viertens. Die Entwicklung macht deutlich, daß vor einer gesetzlichen Neuregelung mit einer damit verbundenen Funktionsausweitung für den Bundesrechnungshof behutsam vorgegangen werden muß. Der bisher eingeschlagene Weg trägt dem Rechnung. Wir wollen ihn weiterverfolgen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5009 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen gemäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 für die Jahre 1987 bis 1990 (Zwölfter Subventionsbericht)
— Drucksache 11/5116 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat erneut der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Voss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits im „Sachsenspiegel" steht: Wen's trifft, der trägt's.
Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag zusammen mit dem Haushaltsentwurf 1990 den Zwölften Subventionsbericht vorgelegt, wie es das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorsieht. Die Vorlage dieses Berichts bietet stets Veranlassung, darüber zu diskutieren, welche Fortschritte auf dem Weg, Subventionen abzubauen, inzwischen erreicht worden sind. Je nachdem, welche Basis für einen Zahlenvergleich gewählt wird, stellen sich die Ergebnisse günstiger oder weniger günstig dar.Für die Bundesregierung gelten jedoch folgende Grundsätze:Erstens. Subventionsabbau ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, marktwirtschaftliche Kräfte freizusetzen, Bürgern und Unternehmen mehr Freiheitsspielräume für eigene Verantwortung und Entscheidungen zu überlassen.Zweitens. Sozialpolitische Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen sind Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Sie sollen aber möglichst zeitlich begrenzt als Hilfe zur Selbsthilfe und zur Vermeidung bruchartiger struktureller Entwicklungen dienen.Drittens. Die Daten des Zwölften Subventionsberichts dokumentieren durchaus erfolgreiche Anstrengungen der Bundesregierung seit 1982. Mit dem Abbau des Staatsanteils durch die Begrenzung der Ausgabenexpansion ist es gelungen, auch die Haushaltssubventionen einzuschränken. Von 1982 bis 1990 steigen diese im Jahresdurchschnitt nur um 2,2 v. H. an,
also nicht nur langsamer als das Bruttosozialprodukt, sondern auch deutlich geringer als das Budgetvolumen. Der Subventionsanteil im Bundeshaushalt ist damit gesunken. Im Zeitraum von 1969 bis 1982 stiegen die Finanzhilfen in gleicher systematischer Abgrenzung noch jahresdurchschnittlich mit einer Rate von 5,6 v. H.Viertens. In drei Jahren des Berichtszeitraumes — 1986 bis 1990 — waren die Finanzhilfen rückläufig. Auch die mittelfristige Finanzplanung des Bundes sieht einen Rückgang der Finanzhilfen um über 3 Milliarden DM vor.Fünftens. Das vorgelegte Gemeinschaftsgutachten der fünf großen Forschungsinstitute bewertet die aktuelle Subventionsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland wie folgt. Zum Thema qualitative Konsolidierung stellen die Wirtschaftsforscher fest, daß im Staatssektor nach der von ihnen verwendeten Abgrenzung in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 1989 die Subventionen um 2,5 v. H. zurückgingen. Ursachen hierfür waren vor allem die konjunkturell gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und niedrige Agrarstützungen. Diese Entwicklung vollzog sich bei gleichzeitigem Anstieg der Investitionsausgaben des Staates um über 71/2 v. H.Sechstens. Seit der Regierungsübernahme im Oktober 1982 hat die Bundesregierung die jährliche Zuwachsrate bei den Steuervergünstigungen im Durchschnitt bei 3,3 v. H. halten können. Die Zuwachsraten lagen, durch Inflation und die damals hohe Steuerprogression beeinflußt, in den 70er Jahren demgegenüber weit über 7 v. H. Vor allem das Jahr 1990 bringt im Zusammmenhang mit der Steuerreform den Einstieg in einen umfassenden Abbau steuerlicher Son-
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Parl. Staatssekretär Dr. Vossderregelungen. Dies wird im Zahlenwerk der folgenden Jahre erst richtig deutlich werden.Siebtens. Für Finanzhilfen und Steuervergünstigungen zusammen ist festzustellen, daß ihr Anteil am Bruttosozialprodukt, als Subventionsgrad der Volkswirtschaft bezeichnet, seit 1982 tendentiell rückläufig war. Er sank von 1,5 v. H. auf 1,3 v. H. Auch im internationalen Vergleich liegen wir eher im unteren Mittelfeld.
Dabei sollte allerdings nicht außer Ansatz bleiben, daß ein Drittel der Steuervergünstigungen des Bundes die Berlin-Förderung betreffen und sich auch die Hilfen für das Zonenrandgebiet im Zahlenwerk auswirken. Diese Sonderfaktoren sind durch die deutsche Teilung bedingt. Sie müssen in globalen Vergleichen mit anderen Industriestaaten beachtet werden.Achtens. Der im siebten Jahr anhaltende Wirtschaftsaufschwung basiert auf einer umfassenden Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, durch die die Rahmenbedingungen für Investitionen und Leistungen grundlegend verbessert wurden. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft wurde gleichzeitig zurückgedrängt und Freiheitsspielräume für die Bürger geschaffen.
Wir werden auf diesem Weg fortfahren, meine Damen und Herren. Weiterer Abbau von Subventionen bleibt natürlich notwendig, Herr Kollege Wieczorek.
Aber spektakuläre Erfolge sollten von einer Subventionspolitik mit Augenmaß, meine Damen und Herren Kollegen, wie sie die Bundesregierung für richtig hält, nicht erwartet werden.
Wer sich mit Subventionsabbau ernsthaft beschäftigt und nicht nur verbale Forderungen erhebt, der wird feststellen, daß seine Anstrengungen den Leiden des Sisyphos nicht unähnlich sind.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Wieczorek .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Debatte über den Subventionsbericht beantragt, weil dringender Handlungsbedarf für eine grundlegende Kurskorrektur in der Subventionspolitik der Bundesregierung besteht. Die Subventionen sind zu hoch. IhreStruktur ist falsch. Und ihre Ausrichtung ist nicht zukunftsgerecht.
Diese Debatte ist auch deshalb notwendig, weil der von der Bundesregierung vorgelegte Subventionsbericht nicht das ist, was er sein sollte, nämlich ein Rechenschaftsbericht, der eine objektive Information über den Stand der Subventionspolitik vermittelt und die Marschroute für die nächsten Jahre darstellt. Stattdessen ist dieser Subventionsbericht ein Paradebeispiel regierungsamtlicher Desinformationspolitik,
in dem wesentliche Fakten verschleiert werden.
Der Zwölfte Subventionsbericht erschöpft sich auf 255 Seiten in seit Jahren breitgetretenen Unverbindlichkeiten, in der gewohnten Schwarzweißmalerei von bösen roten und guten schwarzen Subventionen
und in den an Roßtäuscherei grenzenden Bemühungen, durch zweideutige und unklare Formulierungen die ernüchternde Wahrheit über Ihre Subventionspolitik ins Gegenteil zu verkehren. Kurzum: viel Ideologie, wenig Wahrheit und kein Konzept!
Zur zukünftigen Rolle der Subventionspolitik bei der Bewältigung der großen Aufgaben, vor denen wir in den 90er Jahren stehen, kein Wort! Eine von ideologischem Ballast befreite Subventionspolitik, die sich auf die wirklich notwendigen Aufgaben konzentiert,
kann viel für den Strukturwandel in der Bundesrepublik tun.
Zielgenaue Maßnahmen können wichtige Hilfestellungen für den Umweltschutz und den ökologischen Umbau geben, den die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung befürwortet. Natürlich kann die akute Wohnungsnot ohne staatliche Hilfen nicht gelöst werden.
Als Grundlage für eine Neuorientierung brauchen wir dringend eine ehrliche Bestandsaufnahme und Analyse. Ich fasse deshalb die Fakten kurz zusammen, die der Subventionsbericht unterschlägt.Erstens. 1989 und 1990 werden mehr Subventionen gezahlt als je zuvor. Mit rund 30 Milliarden DM, Herr Kollege Voss, liegt das Subventionsvolumen 1990 um 25 % höher als 1982.
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Wieczorek
— Ich werde auf die Einzelheiten eingehen, Herr Kollege. Hören Sie erst einmal zu.
Zweitens. Seit 1982, Herr Kollege Weng, wurden insgesamt 50 Subventionen im Umfang von 4,8 Milliarden DM jährlich neu eingeführt. Das sind die Hauptursachen für den dramatischen Anstieg.Drittens. Der von allen gewollte Abbau der Subventionsquote ist seit 1982 nicht mehr vorgekommen. Von 1970 bis 1982 haben wir die Subventionsquote — jetzt komme ich zu den Relativzahlen; hören Sie gut zu — von 2,1 % auf 1,5 % des Bruttosozialprodukts abgesenkt,
also um rund ein Drittel. Seit 1982 hat sie mehr oder weniger stagniert. Es ist eine grobe Verdrehung der Tatsachen, wenn der Bundesfinanzminister hier im Bundestag wiederholt die Erfolge der SPD-geführten Regierungen für sich reklamiert.
Entsprechend zweideutige Formulierungen finden sich auch im Subventionsbericht. Ich sage hier nur: Billige Polemik und Wahlkampfmunition, zumal Blindgänger, gehören nicht in amtliche Dokumente.
Viertens. Die Subventionsstruktur stimmt nicht mehr. Sie ist nicht zukunftsgerecht. Anstelle von klaren konzeptionellen Überlegungen wird hier nur Nachgiebigkeit gegenüber Gruppeninteressen deutlich.
Seit 1982 werden die Subventionen für den Agrarbereich und die gewerbliche Wirtschaft massiv ausgebaut. Ihr Anteil ist von weniger als 50 % auf 65 gestiegen. Die Kehrseite der Medaille sind massive Kürzungen zu Lasten der Arbeitnehmer und des Wohnungsbaus. Wohin hat das geführt? Das Sterben der bäuerlichen Familienbetriebe, von mir hier immer wieder angesprochen, ist trotz höherer Zuschüsse nicht gestoppt worden, weil die Subventionen an den Falschen gezahlt wurden.
150 000 Betriebe sind seit 1982 der verfehlten Agrarpolitik zum Opfer gefallen — das waren durchweg kleinere Betriebe —,
während sich die Zahl der großen kräftig erhöht hat. Das ist unsozial.
Das bedeutet, daß ein wachsender Teil unserer Nahrung industriell und mit hohem Chemikalieneinsatz erzeugt wird. Das wiederum hat Folgen für unser Wasser, von der Vergiftung des Trinkwassers bis hin zum großen Nordseesterben.Die Wohnungsnot, die Sie gerade angesprochen haben, die sich in den Ballungsgebieten dramatisch zuspitzt, ist nicht einfach über uns gekommen. Sie geht auf die ideologisch gewollte Kahlschlagpolitik im sozialen Wohnungsbau zurück.
Weil insbesondere der Neubau von Mietwohnungen völlig zum Erliegen gekommen ist, müssen Hunderttausende im kommenden Winter in unzumutbaren Notwohnungen überleben. Das ist der Nachlaß, den uns der Wohnungsbauminister Schneider und der Finanzminister Stoltenberg hinterlassen haben. Deshalb mußten die beiden auch gehen. Seien Sie doch ehrlich.
Auch wenn der Wohnungsbau jetzt zur Chefsache des Bundeskanzlers erklärt wurde: die Reparatur der Schäden am Wohnungsmarkt, der Wiederaufbau zerstörter Baukapazitäten wird Jahre dauern. Ihr Dachkammern- und Scheunenprogramm ist purer Aktionismus und Augenwischerei. Staatssekretär Echternach mußte gestern zugeben, daß das Fertighausprogramm, das tagelang durch die Presse geisterte, überhaupt nicht existiert. Die Chefsache Wohnungsbau ist in Wahrheit das Eingeständnis eines politischen Scherbenhaufens. Sie ist auch ein Reflex auf die wachsenden sozialen Spannungen und nicht zuletzt die anhaltende Serie von Wahlniederlagen.Fünftens. International, Herr Dr. Voss, stehen wir schlechter da als 1982. Damals hatten wir nicht zuletzt durch das Subventionsabbaugesetz von 1981 eine vorbildliche Position. Trotz zweier schwerer Ölpreiskrisen und weltweiter Rezession haben wir den Subventionswettlauf, der in den 70er Jahren weitgehend einsetzte, nicht mitgemacht. Das war eine großartige Leistung. Seit 1982 hat sich dieses Bild radikal gewandelt. Während die OECD-Statistiken für unsere Partnerländer einen allgemeinen Rückgang der Subventionsquoten ausweisen, ist die Subventionsquote der Bundesrepublik drastisch gestiegen: von 1983 bis 1987 um rund 25 %. Ohne Not leistet die Bundesregierung damit einer neuen Runde im internationalen Subventionswettbewerb Vorschub. Subventionskonkurrenz, meine Damen und Herren, ist eine Belastung für den europäischen Integrationsprozeß. Es ist für die Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung verheerend, wenn der Wirtschaftsminister zu Hause das Gegenteil dessen praktiziert, was er seinen Kollegen in der EG predigt. Niemand kann bestreiten, daß wir international die Subventionen abbauen müssen und daß dies weitgehend nur im Gleichschritt mit unseren Partnerländern gelingen kann.In besonderem Maße gilt das für Kohle und Stahl, wo wir ungeachtet der momentanen Entspannung in schwierigen Anpassungsprozessen stehen. Um so schwerer wiegt, daß die Bundesregierung immer noch
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kein verträgliches Konzept für den Kohlebergbau vorgelegt hat. Der Wirtschaftsminister war mit dieser Aufgabe offensichtlich überfordert und hat seine Zuständigkeit im Sommer an das Bundeskanzleramt abtreten müssen. Die Kohlepolitik wurde wie der Wohnungsbau zur Chefsache erklärt und liegt im Kanzleramt auf Wiedervorlage.
Soll ich Ihnen sagen, wie lange das auf Wiedervorlage liegt? Bis zum Termin nach der nächsten Wahl wird das liegenbleiben, fürchten wir.Das Bild der deutschen Subventionspolitik ist ernüchternd. Ihre Subventionsbilanz ist von Perspektivlosigkeit und Passivität gegenüber Lobbyinteressen und der Wirtschaft geprägt. So ist ein subventionspolitischer Flickenteppich entstanden, der immer unübersichtlicher wird. Meine Damen und Herren, wir brauchen einen. Neuanfang. Wir müssen das Wohin diskutieren. Das ist mein Anliegen in dieser Debatte. Wir müssen das Ziel und den Weg, auf dem wir es erreichen können, beschreiben. Dazu muß zunächst einmal, Herr Dr. Weng, ideologischer Ballast aufgegeben werden. Subventionen sind nicht per se schlecht; ich sage das nicht. Sie können richtig oder falsch sein. Richtig ist, wenn wir den Strukturwandel fördern, indem wir mit Subventionen Impulse für zukunftsweisende Entwicklungen geben.
Dazu gehört auch, den Betroffenen durch soziale Flankierungsmaßnahmen Chancen für eine Neuorientierung zu eröffnen. Genauso wichtig ist es, daß es keine Erbhöfe geben darf. Deshalb müssen wir Subventionen befristet geben und regelmäßig überprüfen.In der gleich anschließenden Debatte werde ich noch ausführlich auf die Strukturverbesserungshilfen für die Stahlindustrie eingehen. Das war eines der erfolgreichen Strukturprogramme. Übrigens wurde es noch von der Regierung Schmidt auf den Weg gebracht und unter einer mir sehr willkommenen Veränderung der Überschrift dann von Ihnen umgesetzt. Aber die Mittel, die wir seit 1983 für die Strukturverbesserung bereitstellen, haben ihren Zweck erfüllt und werden von den Unternehmen heute zurückgezahlt. Nun müssen wir dafür sorgen, daß sie erneut für zukunftsweisende Aufgaben eingesetzt werden. Wir beantragen — das begründe ich gleich noch im Detail — , daß damit Altlasten bei den alten Stahlstandorten beseitigt werden und so die Voraussetzungen für Strukturveränderungen geschaffen werden.Dieses Beispiel zeigt, daß Subventionen mit den übrigen finanz- und wirtschaftspolitischen Instrumentarien sinnvoll verknüpft werden können. Sie dürfen nicht, wie es derzeit der Fall ist, losgelöst vom Rest des politischen Geschehens zur Befriedigung von Gruppeninteressen eingesetzt werden. Genau aus diesem Grunde ist die regelmäßige Berichterstattung über die Subventionspolitik im Gesetz vorgeschrieben. Sie soll eine ehrliche und offene Rechnungslegung sein, aber sie ist es heute leider nicht.Wir müssen die Subventionspolitik wieder auf eine neue, konzeptionelle Grundlage stellen. Konkret müssen wir die Subventionen danach beurteilen, ob sie unsere Zukunftschancen verbessern helfen oder nicht. Subventionspolitik muß sich an den Aufgaben orientieren,
die unser politisches Handeln in den nächsten Jahren bestimmen werden.
Zu den dringend anzugehenden Schwerpunkten gehört neben der Erhöhung des Angebots an Wohnraum die Bekämpfung der ökologischen Krise. Wir stehen in den kommenden 10 bis 15 Jahren vor der enormen Aufgabe, unsere Wirtschaft und unser Wachstum umweltverträglich umzustellen. Je schneller wir handeln und je energischer wir das tun, desto größer sind unsere Chancen. Je länger wir warten, desto schwieriger wird die Aufgabe. Die Bürger in unserem Lande haben den Ernst der Lage begriffen; davon bin ich fest überzeugt. Unsere Pflicht ist, endlich konkrete Konzepte vorzulegen und umzusetzen.Das Ziel des ökologischen Umbaus muß sich auch in der Subventionspolitik niederschlagen. Subventionen, die helfen, daß wir das Angebot an umweltfreundlichen Produkten möglichst schnell erhöhen, sind richtig. Ich freue mich in diesem Zusammenhang über die späte Einsicht des Bundesfinanzministers, der mit der Einrichtung einer Umweltstiftung endlich einen ersten — wenn auch zaghaften — Schritt in diese Richtung wagt.
Ich hoffe, daß das nicht eine von wahltaktischen Überlegungen bestimmte Alibiveranstaltung bleibt.
Subventionen, die helfen, vor allem in den Ballungsgebieten, mehr Menschen schneller vom Auto auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen zu lassen und die Städte so vor dem Verkehrsinfarkt zu retten, sind ebenfalls richtig. Wo wir das Angebot an Bussen und Bahnen kurzfristig nicht erweitern können, können auch einfachere und billigere Tarife und der Verzicht auf komplizierte Beförderungsscheinautomaten ein erster Schritt sein.
Die Autofahrer, die umsteigen wollen, meine Damen und Herren, dürfen nicht durch hohe Tarife abgeschreckt werden, die nur deshalb so hoch sind, weil Busse und Bahnen oft leer bleiben. Eine befristete Tarifsenkung kann die Initialzündung für eine neue Verkehrspolitik in den Städten sein.Subventionen, meine Damen und Herren, die helfen, daß unsere Energieversorgung sparsamer und sauberer wird, entlasten unsere Umwelt von CO2- und anderen Schadstoffemissionen. Die Verweigerungshaltung der Bundesregierung ist gerade hier völlig absurd, wenn man die vergleichsweise kleinen Beträge, die notwendig wären, mit den mindestens
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30 Milliarden DM vergleicht, die bisher für die Förderung der Atomenergie aufgewandt werden mußten.Abwegig ist auch die Blockade beim Ausbau der Fernwärmeversorgung und der Kraft-Wärme-Koppelung.
Die Bundesregierung hat erst vor wenigen Tagen auf Anfrage zugegeben, daß der Ausnutzungsgrad der eingesetzten Primärenergie von 38 % auf 80 % verdoppelt werden kann. Das heißt: Wir könnten ein und dieselbe Energiemenge doppelt so effektiv nutzen. Gleichzeitig könnten wir die Luftqualität in den Ballungsgebieten entscheidend verbessern und einen wirksamen Beitrag gegen die Klimakatastrophe und den Treibhauseffekt leisten.
Die Bundesregierung erklärt aber, daß sie keine Förderung beabsichigt, weil das Fernwärmepotential bundesweit im wesentlichen ausgeschöpft sei. Diese Aussage, meine Damen und Herren, ist nachweislich falsch. Die Bundesländer, die ich bisher abfragen konnte, haben mir alle bestätigt, daß sie — im Gegenteil — ein erhebliches Entwicklungspotential sehen und ein neues Programm begrüßen würden.
Genauso wichtig wie die Verstärkung der ökologischen Subventionen ist der Abbau der umweltschädigenden Förderungen. Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 1990 sind 109 Millionen DM an weiteren Forschungsmitteln für die gescheiterten Projekte Schneller Brüter und Hochtemperaturreaktor vorgesehen.
Die Bürger wollen das nicht, die Industrie will keine neuen Reaktorlinien, und die Stromkonzerne haben sich von der Wiederaufbereitung endgültig verabschiedet.
Die Bundesregierung will aus ideologischen Gründen etwas anderes.
Statt einzulenken, soll sogar der 50. Topf bei den Subventionen aufgemacht werden. Für den großflächigen Anbau von Elefantengras und anderen Industriepflanzen will die Bundesregierung von 1990 an mit einem 150-Millionen-Programm nachhelfen. Jeder weiß, daß sich ein Faß ohne Boden auftut, bis hin zu teuren Spezialitäten wie die Entwicklung von Grünflächen-Entholzungs-Ernte-Maschinen zum Stückpreis eines Eigenheims. Mit diesem Unfug muß Schluß sein.Die Subventionspolitik braucht Perspektive. Sie muß zukunftsgerecht umgestaltet werden. Sie muß den Menschen und der Umwelt dienen. Der ideologische Ballast muß abgeworfen und mit der Interessenhuberei Schluß gemacht werden. Wir verlangen einenNeuanfang und bieten dafür unsere Zusammenarbeit an.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Will-Feld.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, wir könnten den ganzen Abend damit verbringen, die Einzelsubventionen, Begriffsbestimmungen, Zahlenwerte durchzuhecheln und durchzusprechen. Das wäre ein abendfüllendes Programm. Man könnte weiter sagen, was ich jetzt tue: Die Kokskohlebeihilfe ist nach wie vor die größte Einzelmaßnahme. Ihr Volumen ist bis zum Jahre 1989 auch kräftig gestiegen. Wir könnten weiter sagen: Der Anstieg der Finanzhilfen 1989 um 2,2 Milliarden DM ist vor allem durch die Umstellung eines Teils des umsatzsteuerlichen Einkommensausgleichs auf direkte Einkommenshilfe in der Landwirtschaft bedingt. Wir könnten weiter sagen: Auch der Anteil der Finanzhilfen an private Haushalte ist zurückgegangen usw. usf. Aber um mit den Worten des alten Goethe zu sprechen — ich ergänze das — : Mit Zahlen und Statistiken läßt sich trefflich streiten, Herr Kollege.
Ich gebe ja gerne zu, daß die Ziele, die wir uns beim Subventionsabbau gesetzt haben, sehr ehrgeizig sind.
Nur, jetzt den mangelnden Fortschritt beim Subventionsabbau zu beklagen und zu jammern, daß mehr als 60 % der Subventionen an die Unternehmen in Form von Finanzhilfen geflossen seien: Was haben wir denn damit gemacht? Wir haben Arbeitsplätze erhalten, vor allen Dingen im Bergbau, bei der Eisenbahn und auch im Agrarbereich.
Natürlich sind die Subventionen zu hoch.
Aber in den letzten Jahren hat sich doch zunehmend herausgestellt — ich will einmal auf ein anderes Problem hinweisen — , daß der Subventionsabbau — dafür liegen eine Fülle mutiger Vorschläge und auch Konzepte auf dem Tisch — nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere Seite der Medaille ist doch die, daß es bisher nicht gelungen ist, die Subventionsmentalität unserer Anspruchsgesellschaft zu brechen.
Die Subventionsmentalität ist das eigentliche Politikum. Das haben die Erfahrungen bei der Steuerreform 1990 gezeigt, wo das Sankt-Florians-Prinzip fröhliche Urständ feierte.
Lassen Sie mich einen Moment bei den Steuervergünstigungen verweilen. Der Bundesregierung und der Koalition ist mit der Steuerreform 1990 ein nachhaltiger Abbau von Steuervergünstigungen
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Frau Will-Feld— die sind ein Teil der Subventionen — gelungen. Der Abbau der Steuerfreiheit beispielsweise bei Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschlägen hat doch bewiesen — das war vorher im ganzen Ausmaß überhaupt nicht sichtbar — , wie ungerecht sich Vergünstigungen auswirken können, wie ungleich Polizei und Krankenschwestern auf der einen Seite und andere gesellschaftliche Gruppen auf der anderen Seite kassiert haben.
Diese Steuerreform hat aber auch gezeigt, daß in den Nischen von Vergünstigungen steuerliche Vorteile zu Lasten Dritter durch eine ausgetüftelte Rechtsgestaltung möglich sind. Ich muß sagen: Daran ist die Steuerberatung nicht alleine schuld, sondern daran sind auch die Steuerabteilungen von Großorganisationen schuld.Dabei hat sich auch herausgestellt, daß in vielen Bereichen Übergangslösungen gesucht werden mußten, um Härten zu vermeiden, oder — ich sage das frank und frei — in dem einen oder anderen Fall sogar vorübergehend der Abbau einer Vergünstigung ganz zurückzunehmen ist, weil die Nischen der Steuerfreiheit zwar durchaus legal, aber doch sehr ausgeweitet genutzt worden sind und der plötzliche Wegfall der Vergünstigung durch die Tarifentlastung bei einzelnen gesellschaftlichen Gruppen — da es überhaupt nicht überschaubar war — nicht immer aufgefangen werden konnte. Das war vorher nicht in diesem Umfang absehbar. Dies spricht nicht gegen unsere Politik. Denn die vorangegangene Regierung hat es nur einmal geschafft, 800 Millionen DM an Subventionen abzubauen, während wir ja zweistellige Milliardenzahlen erreichen.
— Der Abbau allein an Steuervergünstigungen, Herr Kollege!Aber es stellt sich in diesem Zusammenhang eine ganz andere Frage — und das ist mir am heutigen Abend ein Anliegen — : Wie reformfähig ist unser Parlament, sind unsere Parteien noch,
wenn die Opposition uns in Bonn den Vorwurf macht, wir hätten keinen Mut zum Subventionsabbau bewiesen und uns fehle das politische Durchsetzungsvermögen, gleichzeitig aber diese selbe Opposition landauf, landab umherläuft und den Bürger mit Parolen wie „soziale Demontage " und „Gefährdung der Arbeitsplätze " verunsichert?
Subventionen im Bergbaubereich sind doch zur Erhaltung der Arbeitsplätze vorgesehen.Wir teilen auch nicht ein in schlechte rote und gute schwarze Subventionen, Herr Kollege. Es hört sich aber beispielsweise bei Ihnen so an, es gebe gute und schlechte Subventionen und die Hilfen für die Landwirtschaft seien sowieso des Teufels — dies sagen Sie natürlich nicht in Bauernversammlungen —;
und dann sagen Sie noch, den Reichen gibt man und den Armen nimmt man mehr, als diese tragen können.
Das Problem ist also nicht ausschließlich: Subventionsabbau — ja oder nein; wie hoch oder wie niedrig? Das Problem ist: Wie kann die Subventionsmentalität in unserem Land gebrochen werden?
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien haben bei den Steuervergünstigungen den ersten Schritt des Subventionsabbaus gewagt und durchgesetzt.Wenn ein Steuerwissenschaftler vor einigen Wochen vor einem Gremium von Fachkundigen zum Thema „Lehren aus der Steuerreform 1990" sagte, er habe der Politik diesen mutigen Schritt deshalb nicht zugetraut, weil er nicht daran glauben könne, daß das politische Durchstehvermögen ausreiche, um den Abbau von Steuervergünstigungen durchzuhalten, dann ist das ein hohes Lob, denn es ist eine schwierige Arbeit.
Ich sage auch folgendes: Der Abbau der Subventionsmentalität ist eine gemeinsame Aufgabe der Politik. Denn wenn wir in den nächsten Jahren nicht mehr zu gemeinsamem Handeln fähig sind, wird die jetzt schon zu hörende Stimme derer, die da meinen, die Politik und die Parteien seien nicht fähig, den Subventionsabbau zu leisten, immer lauter. Und das richtet sich gegen alle Parteien, die in diesem Parlament vertreten sind. Ich zitiere eine Stelle:Um eine kritische Kontrolle der Subventionspolitik in den Parlamenten zu ermöglichen, sollten alle Subventionen einer sachlichen Überprüfung— und nun höre und staune man —durch unabhängige Begutachtung unterzogen werden.
Das sollte eine Herausforderung für uns alle sein, Herr Kollege. Schimpfen wir uns nicht gegenseitig an! Packen wir es an! Bauen wir zuerst die Subventionsmentalität ab und anschließend die Subventionen!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vennegerts.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Zwölfte Subventionsbericht der Bundesregierung ist ein Dokument gescheiterter Haushalts- und Finanzpolitik. Entgegen den seit Amtsantritt der Bundesregierung und auch heute vorgebrachten wortreichen Versicherungen, für einen Abbau von Subventionen zu sorgen, erreichen die neuen Finanzhilfen des Bundes jährlich neue Rekordmarken und übertreffen alles, was in der Vergangen-
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12910 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Frau Vennegertsheit je an Finanzhilfen gewährt wurde. Da beziehe ich die SPD ein. Sie haben sie in dem Punkt übertroffen. Das können Sie nicht abstreiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
1987 lagen die Finanzhilfen noch bei 28,2 Milliarden DM, 1988 bereits bei 29,1 Milliarden DM, und 1989 werden sie sogar bei 31,3 Milliarden DM liegen. Das sind also 2 Milliarden DM mehr als im Jahr zuvor. Das können Sie nicht abstreiten, das ist eine Tatsache.
Dabei richtet sich unser Vorwurf gar nicht grundsätzlich gegen Subventionen und auch nicht gegen den Anstieg bei sinnvollen Projekten. Subventionen haben in bestimmten Bereichen durchaus ihre Berechtigung, und da nenne ich auch die Krisenbranchen Kohle, Stahl und Werften. Aber noch mehr Berechtigung haben sie bei der Beschleunigung struktureller Anpassung, also bei planerischer Strukturpolitik. Zum Teil haben sie auch ihre Berechtigung bei der Forschungsförderung, z. B. für kleine und mittlere Unternehmen. Bloß werden die kleinen und mittleren Unternehmen — das sei auch in Richtung FDP gesagt — von dieser Regierung als Stief- bzw. Kellerkinder behandelt, denn dort sind die Subventionen rückläufig. Das kann man nicht vom Tisch wischen.
Unsere Kritik richtet sich auf zwei Punkte. Erstens gilt es, den Widerspruch zwischen Wort und Tat der Bundesregierung aufzuzeigen. Wir messen Sie nur an Ihren eigenen Ansprüchen. Die Bundesregierung wird nicht müde, den Subventionsabbau zu verkünden; jetzt wird hier von Ihnen, verehrte Frau Kollegin, von Subventionsmentalität gesprochen. Gleichzeitig geben Sie einem Industriekonzern, einer Fusion MBB/ Daimler, ohne Not Hilfen, und das ist das Gegenteil von dem, was Sie sagen.
Sie haben sich erpressen lassen; man muß sich auch erpressen lassen können. Sie, Herr Kollege Weng, sagen jedes Jahr, daß Sie Subventionen abbauen wollen. Lächerliche 100 Millionen DM haben Sie im letzten Haushaltsjahr geschafft, und jetzt halten Sie gleich wieder eine große Rede.
Zweitens. Wir kritisieren weiterhin, daß der Subventionsbericht keine Förder- und Zielprioritäten nennt und über die Erreichung bzw. Nichterreichung der vorgegebenen Ziele jede Aussage schuldig bleibt. Ein Subventionsbericht, der diesen Titel wirklich verdient, müßte Aussagen über die Effizienz der Subvention für die einzelnen Wirtschaftszweige enthalten, er müßte klare politische Vorgaben für den Abbau bzw. den Umbau von Subventionen nennen. Wenn man mit Subventionen Industriepolitik betreibt, muß man prüfbare und transparente Kriterien angeben. Davon
ist jedenfalls in diesem Bericht — das muß man sagen — nicht die Rede. Da sind wir uns, denke ich, einig, daß das verbessert werden muß.
Zur Verdeutlichung der Widersprüche der Regierung möchte ich einige Beispiele aufführen. Kaum eine Debatte zur Umweltpolitik im Parlament vergeht, ohne daß sich alle Parteien einig sind, daß Energieeinsparung und rationelle Energienutzung zu den wichtigsten Zielen einer effektiven und umweltschonenden Energiepolitik gehören. Auch die Regierung bekennt sich ausdrücklich dazu. Wohlgemerkt: Sie bekennt sich dazu. Man sollte an sich erwarten können, daß die Regierung, wenn dies eines ihrer Ziele ist, dieses auch mit dem erforderlichen Nachdruck, insbesondere mit dem entsprechenden finanziellen Aufwand, fördert und voranbringt. Die Regierungspraxis beweist jedoch genau das Gegenteil: Die Zuschüsse zum Ausbau der Fernwärmeversorgung in städtischen Schwerpunktbereichen werden systematisch abgebaut, und die Förderung wird 1992 gänzlich eingestellt. Die gleiche Entwicklung ist beim BundLänder-Programm zur Heizenergieeinsparung festzustellen. Die Zuweisungen und Darlehen an die Länder sind von 77,5 Millionen DM im Jahr 1987 auf 27,2 Millionen DM im Jahr 1990 zurückgefahren worden. Das sind die Fakten.
Im Gegenzug dazu werden die energiewirtschaftlich und ökonomisch geradezu hirnrissigen Projekte, wie die Förderung von nachwachsenden Rohstoffen, großzügigst gefördert, und zum Teil werden sogar Markteinführungshilfen gewährt, z. B. beim Biosprit. Davon kann man bei der Unterstützung regenerativer Energien nur träumen. Da gibt es nämlich keine Markteinführungshilfen; das wird abgelehnt.
Insgesamt bleibt festzustellen: Nicht nur die selbst gesetzten Ziele der Regierung werden verfehlt, sondern Subventionen werden als finanzielle Manövriermasse zur Bedienung der eigenen Klientel verwendet. Erforderlich wären demgegenüber Finanzhilfen für den ökologischen und sozialen Umbau der Industriegesellschaft. Von dieser Bundesregierung und auch von Ihnen, Herr Kollege Weng, wird man jedoch vergeblich auf eine Initiative in diese Richtung warten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weng.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Volksmeinung handelt es sich bei Subventionen um hohe Geldzuwendungen an irgendwelche Dritte, die dieses Geld nicht benötigen. Jeder vertritt deswegen sehr gerne ihre Ablehnung. Die öffentliche Meinung über Subventionen ist also: Subventionen werden abgelehnt. Im politischen Raum kann man sich trefflich damit profilieren, daß man pauschal den Abbau von Subventionen fordert, natürlich ohne Konkretisierung.
Wir haben beim Vortrag des Kollegen Wieczorek wieder die tyische Oppositionsrede zum Subventionsthema gehört: Zunächst einmal ist global über die
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Dr. Weng
Höhe geschimpft worden, dann wurde etwas nebulös gesagt, sie gingen an die Falschen, und dann ist ein wunderschönes Bild gemalt worden, wie man mit mehr Subventionen in allen Bereichen Subventionen abbauen könnte. Es darf gelacht werden.
— Das ist für diejenigen, die hier waren, genau die Abwicklung gewesen, Herr Kollege Wieczorek, die Sie uns hier vorgeführt haben. Es läuft immer nach diesem Schema.
— Also auf den Einwurf mit dem Abbau der Subventionen ist zu sagen: Ich schreibe mir wenigstens zu, daß im letzten Jahr diese 100 Millionen DM im Haushaltsverfahren abgebaut worden sind. Ich habe dabei die Unterstützung der Opposition vermißt, denn es waren natürlich wieder die falschen Subventionen, die abgebaut worden sind. Im Gesamtvolumen war das sicher nicht furchtbar viel, aber es war immerhin ein Schritt.
Herr Kollege Wieczorek, was die Methode angeht, wissen Sie ganz genau — auch dies wird im politischen Raum trefflich immer in gleicher Weise dokumentiert — , daß die einen sagen, es müsse gezielt an der richtigen Stelle abgebaut werden — Sie sagen dann nicht, welche — , die anderen sagen, es müsse global überall um einen bestimmten Prozentsatz gekürzt werden. Das wird dann auch nicht gemacht, weil man sagt, es sei ja eigentlich nicht sehr sinnvoll, bei einer gerade eingeräumten Subvention sofort wieder eine Kürzung um einen bestimmten Prozentsatz vorzunehmen.Die Argumente sind vermutlich bei jedem Subventionsbericht in gleicher Weise trefflich ausgetauscht worden. Heute und hier sprechen wir über den Zwölften Subventionsbericht der Bundesregierung. Bei ihm wird es nicht anders sein.Erlauben Sie mir einige wenige Worte zu dem Sinn eines solchen Berichts.
Herr Abgeordneter Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wieczorek?
Wenn der Präsident dies nicht auf meine vier Minuten Redezeit anrechnet, dann mache ich das gerne, sonst nicht; denn andernfalls kann ich überhaupt nichts sagen.
Wir wissen doch, daß es nicht angerechnet wird.
Herr Kollege Weng, würden Sie mir bestätigen, daß Sie im vorigen Jahr vollmundig verkündet haben, Sie wollten erheblich in den Subventionsbereich einschneiden, und daß dann von Ihnen ein knapper und unqualifizierter Kürzungsvorschlag von 100 Millionen DM gekommen ist, wo jeder von Ihnen i Milliarde erwartet hat?
Der von mir damals angekündigte und in Angriff genommene Umfang betraf etwa das Vierfache dessen, was dann erreicht wurde. Das, was dann erreicht wurde, als unqualifiziert zu bezeichnen zeigt nur Ihre Mentalität, eben nicht mit einem eigenen Vorschlag zu kommen, sondern das der anderen negativ zu beleuchten, Herr Kollege Wieczorek.
Ich kann das nicht anders feststellen. Sie haben auch hier und heute wieder als Mitglied einer politischen Partei, die an vielen Stellen hohe Subventionen fordert, einen Abbau von Subventionen gefordert, ohne einen einzigen konkreten Vorschlag zu machen.
Sie haben zusätzlich — das muß ich Ihnen auch sagen — den Eindruck erweckt, Subventionen, die die Bundesregierung und die Koalition beschlossen haben, würden nicht helfen, Arbeitsplätze zu erhalten und zu sichern. Die Subventionen für den Agrarbereich, die Sie beklagt haben, helfen aber selbstverständlich, dort auch Arbeitsplätze zu erhalten und zu sichern. Im Bergbau ist es nicht anders. Sie kennen ja die drei B, wo die großen Brocken hingehen: Bauern, Bergbau, Berlin. Sagen Sie, wo Sie kürzen wollen. Wir werden uns dann darüber unterhalten. — Ich habe aber schon klargemacht, daß das Rollenspiel immer das gleiche ist. Ich finde, wir sollten das jetzt nicht vertiefen, weil es schade ist um die Zeit, die wir damit verbringen.
Meine Damen und Herren, der Subventionsbericht soll eine umfassende Darstellung der Finanzhilfen und der Steuervergünstigungen geben, dies deshalb, weil Subventionen dem Wohl der Allgemeinheit und nicht nur dem Wohl einzelner dienen sollen und weil auch die Transparenz, der der Subventionsbericht dient, dafür sorgt, daß neben der Darstellung nach außen hin auch ein Druck auf die Verantwortlichen in Regierung und Parlament ausgeübt wird, immer wieder über die Notwendigkeit der jeweiligen Maßnahmen nachzudenken.Finanzhilfen sind Geldleistungen des Bundes — ich will es hier nicht im einzelnen vertiefen — , Steuervergünstigungen Ausnahmeregelungen von der allgemeinen Steuerpflicht, die zur Verminderung von Einnahmen für die öffentlichen Hände führen. Aus den Definitionen wird klar: Eine ständige Überprüfung ist notwendig.Aber ich sage auch das: Es ist äußerst schwierig, eine einmal eingegangene Verpflichtung wieder zurückzuführen, nicht zuletzt deshalb, weil im politischen Raum eben die Betroffenen — meist mit „argumentativ" guten Gründen — lauthals wehschreien, wenn sie schlechter gestellt werden sollen. Wir haben das bei dem hier schon erwähnten Abbau von Steuersubventionen erlebt im Zusammenhang mit der großen Steuerreform, die Anfang kommenden Jahres in Kraft treten wird. Meine Damen und Herren, auch da hatten wir keinerlei Unterstützung von seiten der Opposition; da sind wir alleingelassen worden, weil sich das Gros der Menschen natürlich nicht bewußt ist, daß
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Dr. Weng
Steuersubventionen überhaupt Subventionen sind. Man freut sich über die Vergünstigungen, die man hat. Aber daß man hier gegenüber anderen Ausnahmevergünstigungen hat, das bedenkt man dabei nicht.Ich gebe zu: Manches von dem, was wir im vorliegenden Bericht haben, nehmen wir auch mit einem gewissen Zähneknirschen zur Kenntnis, weswegen wir ja den Subventionsbericht im Ausschuß auch noch intensiver diskutieren werden.Die Wünsche, Subventionen degressiv zu gestalten, d. h. von vornherein so anzulegen, daß sie abnehmen, und sie zeitlich zu begrenzen, sind bekannt. Meine Partei bekennt sich hierzu. Wir haben unsere dahin gehenden Beschlüsse erneuert. Ich gebe aber zu, diesen Beschlüssen immer zur Durchsetzung zu verhelfen ist nicht ganz einfach. Wir werden über konkrete Fälle im laufenden Haushalt noch zu diskutieren haben. Ich weiß noch nicht, wie es ausgeht. Auch hierüber muß an der entsprechenden Stelle diskutiert werden. Die Überlegungen, im Agrarbereich lang anhaltende Subventionen zur Bioethanolherstellung vorzusehen, müssen meines Erachtens gegenüber dem, was die Regierung bisher vorlegt, noch verändert werden. Denn sonst haben wir hier wirklich eine wachsende Dauersubvention, wie wir sie eigentlich nicht wollen können.Ich will zum Subventionsbericht sagen: Es gibt einen positiven Aspekt, und zwar daß im nächsten Jahr der höchste Punkt überwunden ist, daß es im kommenden Jahr in der Planung in beiden Bereichen, bei Finanzhilfen und ebenso bei den Steuersubventionen, abfällt. Das ist eine erfreuliche Tendenz. Ansonsten ist bei Finanzdebatten bekannt: Jeder hat seine Tabellen und seine Wahrheit. Darüber braucht man sich nicht weiter zu unterhalten.Wer den Subventionsbericht konkret angeht, wer die größten Finanzhilfen, wer die größten Steuervergünstigungen sieht, der wird erkennen, daß ein schneller Abbau zum Teil unmöglich ist, daß er zum Teil politisch auch nicht erwünscht ist. Ich möchte an die Berlin-Förderung erinnern. Niemand wird sagen, daß sie eingestellt werden kann. Hier sind wir in der Pflicht gegenüber der alten Reichshauptstadt.Wir werden deshalb den Bericht, den die Regierung hier vorgelegt hat und den wir im Plenum nur in aller Kürze diskutieren können, im Ausschuß vertiefend debattieren. Die Fraktion der FDP stimmt deshalb natürlich auch der Überweisung an den Haushaltsausschuß und an die mitberatenden Ausschüsse zu.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Zwölften Subventionsbericht der Bundesregierung auf Drucksache 11/5116 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wieczorek , Esters, Roth, Dr. Jens, Conrad, Dr. Diederich (Berlin), Diller, Hasenfratz, Jungmann (Wittmoldt), Kühbacher, Lohmann (Witten), Müller (Pleisweiler), Müntefering, Nehm, Purps, Schluckebier, Schmidt (Salzgitter), Sieler (Amberg), Dr. Struck, Urbaniak, Walther, Walthemathe, Dr. Wegner, Weiermann, Westphal, Würtz, Zander, Zeitler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Verwendung der von der Stahlindustrie zurückzuzahlenden Strukturhilfe zum Abbau von Standortnachteilen der Stahlstandorte
— Drucksache 11/5156 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind 30 Minuten dafür vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wieczorek.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wegen der lang andauernden Stahlkrise haben der Bund und die Länder 1983 ein Stahlstrukturhilfeprogramm über 3 Milliarden DM beschlossen. Angemerkt sei — das habe ich eben schon gesagt — , daß dieses Programm von der sozialliberalen Regierung im Kern bereits erarbeitet war.Ziel des Programmes war, den Stahlunternehmen den Strukturwandel zu erleichtern, der durch den dauerhaften Nachfragerückgang und den damit verbundenen Preiseinbruch und den Subventionswettbewerb innerhalb der EG entstanden war. Das Stahlprogramm bestand aus zwei Teilen, erstens aus der Gewährung von rückzahlbaren Zuschüssen in Höhe von insgesamt 1,8 Milliarden DM und zweitens aus der Gewährung von steuerfreien Investitionszulagen von insgesamt 1,2 Milliarden Mark. Die rückzahlbaren Zuschüsse wurden zu rund zwei Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von den betroffenen Bundesländern bezahlt. Entsprechend der Wirtschaftsstruktur des Bundesgebietes flossen etwa 64 % dieser Mittel den in Nordrhein-Westfalen beheimateten Stahlunternehmen zu. Die mit den Stahlunternehmen vereinbarten Vertragsklauseln sahen die Rückzahlung von grundsätzlich 40 % der erzielten Gewinne vor. Bis 1988 wurden die Ansprüche auf Rückzahlung nicht geltend gemacht, wenn soweit die entstandenen Jahresüberschüsse thesauriert wurden. Nach diesen Regelungen könnten allein für die in Nordrhein-Westfalen ansässigen Stahlunternehmen Rückzahlungsverpflichtungen bis zu rund 1,1 Milliarden DM entstehen.In den letzten Jahren wurde bei der Rohstahlerzeugung eine erhebliche Kostensenkung mit der Folge deutlicher Gewinne erzielt. Für die deutschen Stahlunternehmen bedeuten Stahlgewinne auch Rückzah-
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Wieczorek
lungsverpflichtungen. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministeriums haben dort bereits zwei Stahlunternehmen Rückzahlungen von rund 244 Millionen DM geleistet. Rechnerisch wären also dort noch 290 Millionen DM für das Land und 580 Millionen DM für den Bund zu erwarten.Diese Einnahmeerwartungen dürfen jedoch nicht den Blick für die vielen ungelösten Probleme verstellen. Die langfristige Entwicklung auf dem Stahlmarkt ist ungewiß. In den USA geht es in diesem Jahr schon wieder deutlich abwärts. Nach den bisherigen Erfahrungen werden Japan und Westeuropa dieser Entwicklung folgen. Nicht ohne Grund mahnt der Präsident der Düsseldorfer Wirtschaftsvereinigung Stahl, auf schlechte Zeiten gefaßt zu sein.'Viele durch diesen Strukturwandel verlorene Arbeitsplätze konnten bisher nicht durch neue ersetzt werden. Mit Arbeitsplatzverlusten durch Rationalisierungsmaßnahmen bei den Stahlunternehmen wie auch bei den Kohleunternehmen muß weiterhin gerechnet werden. Die mit dieser Entwicklung entstandenen Dauerarbeitslosigkeitsprobleme konnten bisher nicht bewältigt werden. Die Altlastensanierung, die Revitalisierung von Industrie-, Gewerbe- und sonstigen Brachflächen konnte bisher nicht in dem erforderlichen Umfang durchgeführt werden. Nach Feststellung des Umweltbundesamtes gibt es in der Bundesrepublik rund 50 000 nicht definierte Verdachtsflächen von Altlasten, wovon allein ein Drittel in den Montanstandorten liegt.Ich möchte hier nicht die große Palette der noch anstehenden Probleme aufzählen. Erkennbar ist jedoch, daß der erforderliche Strukturwandel erst begonnen hat.Bei diesen Gegebenheiten darf nicht zugelassen werden, daß auch nur eine zurückgezahlte D-Mark in den großen Haushaltstopf verschwindet. Deshalb haben wir den Antrag über die Verwendung der von der Stahlindustrie zurückzuzahlenden Strukturhilfen zum Abbau von Standortnachteilen der Stahlstandorte in den Bundestag eingebracht.
Dieser Antrag wird von namhaften Vertretern der Wirtschaft, der Verbände sowie der politischen Parteien getragen. Der Vorstandsvorsitzende der Hösch AG, Herr Rohwedder, hat bereits im vorigen Jahr den Vorschlag gemacht, die von den Stahlunternehmen zurückzuzahlenden Mittel zur weiteren Förderung des Strukturwandels in der Montanregion einzusetzen.
Der Kollege Vondran, der gerade hier ist, hat in seiner Eigenschaft als Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl in seiner Pressekonferenz anläßlich der diesjährigen Hannover-Messe ausgeführt — ich zitiere —Wäre es nicht sinnvoll, diese Gelder wenigstens in den betroffenen Revieren zu belassen, beispielsweise um alle Industrieflächen aufzuarbeiten, einen Wagnisfonds für junge Unternehmen zu schaffen oder andere Starthilfen zu geben?Die Industrie- und Handelskammern des Ruhrgebietes unterstützen ebenfalls — in modifizierter Form — diesen Vorschlag. Darüber hinaus haben die Parteien CDU, FDP und SPD im Landtag von Nordrhein-Westfalen sowie die dortige Landesregierung sich ebenfalls für diesen Vorschlag ausgesprochen. Dabei möchte ich nicht verschweigen, daß es in der Vorgehensweise zwischen CDU, FDP und meinen Parteifreunden in Nordrhein-Westfalen einen Dissens gibt. Während CDU und FDP ein Regelungsmodell vorschlagen, nach dem nur die Landesmittel in ein Sonderprogramm einfließen sollen, plädieren meine politischen Freunde für ein Modell, in dem die Landes- und Bundesmittel eingebracht werden sollen. Aber ich möchte noch einmal hervorheben, daß es bis auf diese Frage keine Probleme gibt.Wir schließen uns den Ausführungen des CDU-Abgeordneten Dautzenberg im nordrhein-westfälischen Landtag an. Er sagt — ich zitiere — :Dabei erscheint es mir durchaus legitim, daß sowohl einzelne Stahlunternehmen als auch eine Region des Landes, das Ruhrgebiet, den Einsatz wiederum bei sich selbst fordern. Ich halte das für legitim.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich noch den Zusammenhang bringen, dann bin ich dazu gerne bereit.
Er hat weiter ausgeführt:
Ferner sollten wir uns gemeinsam bemühen, den Bund zu bewegen, seinen Rückzahlungsanteil in Nordrhein-Westfalen zu belassen.
Dem ist nichts hinzuzufügen. — Herr Kollege Vondran.
Bitte schön.
Herr Kollege Wieczorek, Sie haben mich richtig zitiert. Ich würde Ihnen aber gerne die Frage stellen, ob die SPD in Nordrhein-Westfalen in dieser Frage nicht einen rechten Schlingerkurs fährt, indem sie dem Konzernchef, Herrn Rohwedder, auf seinen Vorschlag hin eine Absage durch ihren Ministerpräsidenten gegeben hat, indem sie mit der CDU im Landtag dann gemeinsam argumentiert hat und indem Ministerpräsident Rau zuletzt in einem Schreiben vom 6. Juni dieses Jahres — das letzte, das ich dazu kenne — die Frage völlig offenläßt, ob das Land Nordrhein-Westfalen seinen Drittelanteil tatsächlich zur Verfügung stellen will. Ich wiederhole: Das scheint mir ein rechter Schlingerkurs zu sein.
Herr Vondran, ich kann nicht beurteilen, wie sich die Regierung von Nordrhein-Westfalen in ihren direkten Kontakten mit der Industrie verhält. Fest steht nur, daß die Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen bereit ist, ihren Anteil zur Finanzierung mit einzusetzen, wenn wir den
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Wieczorek
Bonner Anteil stellen. Es käme mir sehr darauf an, daß wir das hier gemeinsam tun.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Wieczorek, können Sie mir erklären, warum, wenn Sie hier einen CDU-Abgeordneten aus dem Landtag zitieren, die CDU-Kollegen im Bundestag nicht klatschen?
Frau Kollegin, ich war selber etwas überrascht, zumal ich das Schwergewicht meiner Ausführungen so gelegt hatte, daß deutlich wurde, daß ich hier einen CDU-Kollegen zitierte. Ich bin über die Reaktion der Regierungskoalition sehr enttäuscht.
Herr Präsident, lassen Sie mich meine letzten Sätze zu Ende bringen. Neben den Bemühungen der nordrhein-westfälischen Landesregierung hat auch die SPD-Bundestagsfraktion ihre Bemühungen durch den vorliegenden Antrag dokumentiert. Ich gehe auch von der Unterstützung der CDU/CSU und der FDP — die leider nicht mehr hier ist — im Deutschen Bundestag aus. Es wäre schier unverständlich, wenn sich die Koalitionsparteien im Deutschen Bundestag gegen den politischen Willen der CDU und der FDP in Nordrhein-Westfalen stellen würden, wenn der Landesvorsitzende der CDU in Nordrhein-Westfalen, Herr Kollege Blüm, den politischen Willen seiner Landtagsfraktion nicht im Bundestag und in der Bundesregierung durchsetzen könnte und wenn die Abgeordnete im nordrhein-westfälischen Landtag und Mitglied der CDU, Frau Christa Thoben, nicht durchgreifenden Einfluß auf die Bundesebene ihrer Partei als stellvertretende Parteivorsitzende hätte.
Die SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen — ich bin autorisiert, das zu sagen — ist bereit, ein Sonderprogramm aufzulegen, wenn der Bund seinen Anteil aus den zurückfließenden Stahlhilfemitteln für ein solches Vorhaben bereitstellt. Dies haben der Fraktionsvorsitzende im Landtag und auch der Wirtschaftsminister im Mai dieses Jahres ganz deutlich erklärt. Im übrigen lassen die derzeit sprudelnden Steuereinnahmen bei Bund und Ländern ein solches Modell zu. Der Ministerpräsident ist bereit, auch diese Forderung seiner Fraktion mit durchzusetzen.
Ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Unland.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Kollege
Wieczorek hat eben schon überzeugend dargelegt, daß der Antrag der SPD-Fraktion nicht gerade besonders originell ist.
Er hat freundlicherweise schon denjenigen Kollegen benannt, der erstmals öffentlich über diese Dinge nachgedacht hat, nämlich unseren Kollegen Vondran,
was ja alles dokumentarisch belegt werden kann: „Süddeutsche Zeitung" vom 6. April, „WAZ" vom 8. April usw.
Ich glaube, auch die fünf nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammern haben, wie Sie zu Recht ausgeführt haben, diese Idee unseres Kollegen Vondran aufgegriffen.
Parlamentarisch ist diese Problematik erstmalig von der Unionsfraktion im Düsseldorfer Landtag aufgegriffen worden,
nämlich in ihrem Antrag 10/4420 am 30. Mai dieses Jahres.
Das muß ganz deutlich festgehalten werden.
In diesem Antrag wird nicht nur das gefordert, was Sie gesagt haben, nämlich daß die Landesmittel in einen Sondertopf eingestellt werden, sondern es wurden darüber hinaus die Landesregierung und alle im Landtag vertretenen Parteien aufgefordert, in Verhandlungen mit Bundesregierung und Bundestag darauf hinzuwirken, daß auch der Zweidrittelanteil des Bundes an den Rückzahlungsbeträgen diesen Zwecken zugeführt wird.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hat die in beiden Anträgen enthaltenen Vorschläge mit dem Hinweis darauf abgelehnt, das Land Nordrhein-Westfalen könne — ich glaube, das muß man bei den maroden Finanzen dort verstehen — auf den Rückfluß dieser Mittel nicht verzichten;
so in einem Brief an Herrn Rohwedder und so sinngemäß auch in einem Brief an Herrn Pieper von der Industrie- und Handelskammer in Duisburg.
Im Gegensatz dazu hat Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl mit großer Sympathie und Aufgeschlossenheit auf diese Pläne reagiert, so nachzulesen in der „Westfälischen Rundschau" vom 27. Mai dieses Jahres.
Gestatten Sie zwei Zusatzfragen der Abgeordneten Kühbacher und Esters? — Bitte.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12915
Herr Kollege Unland, sind Sie bereit, zu akzeptieren, daß wir eine ausdrückliche Lobpreisung der Initiative Ihrer CDU-Kollegen im nordrhein-westfälischen Landtag durch die Rede des Kollegen Wieczorek vorgenommen haben und daß wir die Worte des Bundeskanzlers als ganz hilfreich empfunden haben, und würden Sie mir die Frage beantworten, was denn Sie persönlich als Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses und was Ihre CDU-Kollegen in dieser Angelegenheit zur Beförderung der Sache tun werden und ob Sie bereit sind, einem solchen Antrag im Haushaltsverfahren zuzustimmen?
Herr Kollege Kühbacher, ich werde darauf im Verlaufe meiner Rede natürlich noch eingehen; ich hatte gerade erst begonnen.
Herr Kollege Dr. Unland, im Grunde müßten Sie uns doch dafür dankbar sein, daß wir diesen Antrag inhaltlich weitgehend von der CDU-Landtagsfraktion übernommen haben;
ich sehe darin sogar eine große Übereinstimmung hier im Deutschen Bundestag hinsichtlich des Erfordernisses, daß wir dies tun. Ich bin ganz sicher, daß dann auch die Landesregierung das ihre tun wird, um das zu ermöglichen.
Herr Kollege Esters, Sie werden sehen, daß ich auch dazu gleich noch etwas sage.
Meine Damen und Herren, ich darf darauf hinweisen, daß gerade in Nordrhein-Westfalen vorrangig die Montanstädte in den nächsten Jahren mit einer Reihe schwerwiegender Probleme konfrontiert sein werden, die sie aus eigener Kraft nicht werden lösen können. Ich nenne beispielhaft nur die Wiedernutzung von Altlastflächen und die Anpassungsprobleme im Steinkohlebergbau. — Soviel zu Nordrhein-Westfalen.
Die Mittel, die die Bundesregierung der Stahlindustrie insgesamt zur Verfügung gestellt hat, sind beträchtlich. Denken wir an die Hilfen für Saarstahl Völklingen, denken wir an die Hilfen für Stahlunternehmen im Bereich der Regionalförderung, denken wir an die 1,5 Milliarden DM Investitionszulagen. Dies alles sind Hilfen, die nicht an den Bund zurückgeführt werden müssen, die also in voller Höhe in den betreffenden Regionen verbleiben.
Die Leistungen, über die wir beim vorliegenden Antrag sprechen, belaufen sich auf 1,67 Milliarden DM, die den deutschen Stahlunternehmen von 1983 bis 1985 für Strukturverbesserungsmaßnahmen zur Sicherung bedrohter Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt wurden. Jetzt, da sie den gewünschten Erfolg erzielt haben, jetzt, wo die Arbeitsplätze gesichert und die Auftragsbücher gefüllt sind, jetzt, wo die Stahlunternehmen wieder Gewinne — beträchtliche Gewinne — erzielen, sind sie vereinbarungsgemäß zur Hälfte zurückzuzahlen.
Es gibt durchaus bedenkenswerte Argumente dafür, diese Mittel nicht einfach wieder in die Haushalte einzustellen, sondern sie auch künftig für strukturverbessernde oder Sondermaßnahmen zu verwenden,
um einen akuten Bedarf zu decken.
Wie dies im einzelnen auszusehen hätte, darüber muß allerdings gründlich nachgedacht und beraten werden. Denn eines muß ganz klar sein: Über die Mittel, die der Bund in den Jahren von 1983 bis 1985 zur Verfügung gestellt hat, zwei Drittel der Gesamtmittel, kann nur vom Bund — sprich: von diesem Haus — entschieden werden.
Die Bundesländer, in denen diese Hilfen zur Verfügung standen, haben keinesfalls einen Anspruch auf die jetzt rückzuzahlenden Mittel.
Die CDU/CSU-Fraktion stimmt der Ausschußüberweisung zwecks eingehender Beratung — ich betone: eingehender Beratung! — zu. Die SPD ist aufgefordert, die Zeit zu nutzen, um den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Rau ihrem eigenen Antrag entsprechend umzustimmen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Wenn der seltene Fall eintritt, daß die CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion einmal gemeinsam in die richtige Richtung marschieren, dann werden wir GRÜNEN nicht beiseite stehen.
Deswegen möchte ich am Anfang sagen, daß wir sowohl den SPD-Antrag als auch den Vorschlag von Herrn Vondran und der CDU/CSU für einen Schritt in die richtige Richtung halten.
— Den Zwischenruf zu Protokoll!Wir halten es für notwendig, die zurückfließenden Mittel — sollten sie denn zurückfließen — für den regionalen Umbau in den Stahlregionen einzusetzen. Ich möchte betonen, daß das, was hier in überfraktioneller Gemeinsamkeit für die rückfließenden Stahlsubventionen gilt, meines Erachtens ebenfalls für die Kohlesubventionen gelten sollte. Das heißt, wenn die Kohleförderung zurückgeht und dann ebenfalls die Kohlesubventionen zurückgehen können, sind wir der Ansicht, daß die eingesparten Kohlesubventionen für den ökologischen und sozialen Umbau der Kohlereviere eingesetzt werden sollen. Wenn wir dem-
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Stratmannnächst darüber debattieren, möchte ich doch einmal prüfen, ob dann die Gemeinsamkeit noch hält.Zur Kritik an dem Vorschlag der SPD möchte ich folgendes sagen. Herr Wieczorek, in Ihrem Vorschlag wird als eine konkrete Maßnahme ausdrücklich genannt, daß die zurückfließenden Stahlsubventionen u. a. zur Altlastensanierung eingesetzt werden können. Weil insbesondere die Stahlkonzerne zu den Produzenten von Altlasten in der Vergangenheit und Gegenwart gehören, ist unsere Befürchtung, daß sich mit Hilfe dieses Mittels die Stahlkonzerne aus ihrer Verantwortung gemäß dem Verursacherprinzip herausstehlen möchten, d. h. daß die zurückgezahlten Stahlsubventionen dann zur Sanierung von verseuchtem Thyssen-Gelände, Hoesch-Gelände, Klöckner-Gelände genutzt werden. — Das ist unsere erste Kritik. — Daß dieses Interesse z. B. bei Thyssen besteht, deren Geschäftsführung Sie selbst angehören, wissen wir ganz genau aus der Auseinandersetzung auch um das Triple-Five-Gelände in Oberhausen.Zweite Kritik: Derzeit gibt es keine in großem Maßstab anwendbare Technologie zu einer ökologisch verträglichen Altlastensanierung.
— Sie gibt es nicht. — Wir haben Konsens, daß Altlastensanierung ein dringendes Erfordernis ist; aber alle dazu derzeit vorliegenden Techniken — auch soweit aus Rotterdam und anderswo bekannt — sind im großtechnischen Maßstab nicht anwendbar. Aus diesem Grunde halten wir das, was Sie als konkrete Maßnahme vorschlagen, für einen vorschnellen Schuß in den Ofen.
Ich möchte eine andere konkrete Maßnahme vorschlagen: Zum Beispiel könnte es sinnvoll sein, zurückfließende Stahlsubventionen zu Konzepten der Abwärmenutzung von Stahlkonzernen einzusetzen, wie bei Hoesch geschehen, wie bei Krupp in Duisburg geschehen. Es gibt auch in vielen anderen Konzernen sinnvolle Abwärmepotentiale, die zur Raumwärme im Nahwärmebereich genutzt werden können.
Die Problematik, daß jetzt Stahlsubventionen zurückfließen können, verweist allerdings auf grundlegende Defizite der Stahlpolitik insgesamt. Wenn wir uns an die Debatten zur Stahlpolitik vor anderthalb Jahren zurückerinnern, fällt uns ein, daß das Lamento insbesondere bei Krupp-Rheinhausen groß war: angebliche Überkapazitäten, angeblich notwendige Stahlsubventionen. Just nachdem die Stillegung von Krupp-Rheinhausen beschlossene Sache war, kippte die Stahlkonjunktur um und zeigte es sich, daß die behaupteten Überkapazitäten überhaupt keine waren, sondern daß von den Belegschaften das Abkloppen von Überstunden verlangt wurde. Dieser Zustand hält bis heute an. — Erste Kritik.
— Das ist schlecht, wenn zu dem damaligen Zeitpunkt Überkapazitäten behauptet wurden und auf der Basis dessen Stillegungen durchgesetzt und Subventionen angefordert wurden.Der zweite Kritikpunkt ist: Die Stahlkonzerne Hoesch, Klöckner, Thyssen haben insofern auf die Notwendigkeit der Rückzahlungen reagiert, als sie ihre Stahltöchter ausgegliedert und dafür Sorge getragen haben, daß die zu zahlenden Dividenden von den Konzernmüttern und nicht von den Stahltöchtern gezahlt werden mußten, mit der Folge, daß die notwendige und vereinbarte Rückzahlung von Stahlsubventionen zeitlich verzögert wurde. Das war ein ganz klarer gesellschaftsrechtlicher Trick, um sich der vereinbarten Rückzahlung von Stahlsubventionen zu entziehen. Wir kritisieren das.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lammert?
Ja.
Herr Kollege Stratmann, Sie haben gerade die Auseinandersetzungen um Rheinhausen wegen der angekündigten Kapazitätsreduzierung auf dem Hintergrund der dann sehr viel besseren Stahlkonjunktur heftig kritisiert. Könnten Sie mir, um meinem Gedächtnis nachzuhelfen, sagen, in welcher Ihrer zahlreichen Reden im Deutschen Bundestag Sie damals diese Stahlkonjunktur vorausgesagt und deswegen diese Kapazitätsreduzierung für überflüssig erklärt haben?
Da wir keine Propheten sind, habe ich erstens nichts vorausgesagt. Zweitens habe ich allerdings in mehreren, in fast allen meinen Reden, denen ja auch Sie zugehört haben, gesagt, daß die behaupteten Überkapazitäten nur dann Grundlage für politische Entscheidungen werden können, wenn die empirischen Grundlagen dafür von den Belegschaften kontrolliert werden können. Dies war nicht der Fall, und dies ist auch heute nicht der Fall. Deswegen haben wir die behaupteten Überkapazitäten immer in Frage gestellt, und deswegen haben wir auch die politischen und unternehmerischen Entscheidungen, die auf dieser Behauptung basierten, in Frage gestellt.Meine Zeit reicht noch für einen letzten Satz. Herr Wieczorek und liebe Kollegen von der SPD-Fraktion, ich hoffe, daß hinsichtlich einer anderen Initiative, die man als Antrag im Bundestag einbringen könnte, Konsens besteht. Wir, SPD und GRÜNE, haben damals gemeinsam gefordert, daß angesichts der Stahlkrise und des notwendigen Umbaus der Stahlkonzerne und auch der Stahlregionen Beschäftigungsgesellschaften gegründet werden sollen und daß Konzernmittel zur finanziellen Ausstattung dieser Beschäftigungsgesellschaften zugeführt werden sollen, um eine Strukturveränderung und eine Veränderung der Produktpalette in dem Konzern zu bewirken. Das ist damals per Willenserklärung von den Stahlkonzernen zugesagt worden. Bis heute ist in keinem einzigen Stahlkonzern auch nur ein kleiner Schritt in Richtung von Beschäftigungsgesellschaften und deren großzügiger finanzieller Ausstattung unternom-
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Stratmannmen worden. Ich fände es gut, wenn wir vielleicht eine gemeinsame Initiative ergreifen, um gerade in Zeiten eines Stahlbooms auf die Notwendigkeit von Beschäftigungsgesellschaften hinzuweisen. Wenn in Zeiten eines Stahlbooms nicht Vorsorge für die nächsten bösen Jahre, die der Stahlbranche ja bevorstehen, getroffen wird, dann wird es in einigen Jahren düster aussehen.
Ein letzter Satz. Die Fusion von Salzgitter mit Preußag und die Privatisierung von Salzgitter stehen an, auch wenn wir GRÜNEN dagegen sind. Ich möchte darauf hinweisen, daß der Salzgitter-Konzern 90 Millionen DM an Strukturverbesserungshilfen bekommen hat und bisher nur 17 Millionen DM zurückgezahlt hat.
— Nach den Zahlen, die wir vom Finanzministerium bekommen haben, sind es 90 Millionen DM. Ich lasse mich aber gerne belehren, wenn es zuverlässigere Zahlen gibt. — Ich erwarte, sollte es nach dem Willen des Kabinetts zu einer Privatisierung von Salzgitter kommen, daß vorher die notwendigen Rückzahlungen des Salzgitter-Konzerns an die Staatskasse erfolgt sind. Ich fände es gut, wenn wir gemeinsam auf diese Notwendigkeit hinweisen könnten.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon sehr beachtlich, daß Herr Wieczorek in einem Beitrag zu dem vorhergehenden Tagesordnungspunkt, der den Subventionsbericht der Bundesregierung zum Gegenstand hatte, den Abbau von Subventionen forderte und jetzt — wenige Minuten später — im Grunde genommen eine Rücksubventionierung fordert. Das finde ich, was die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokraten angeht, schon sehr beachtlich.
— Doch, ich habe sehr genau zugehört.
— Ach so, bei Ihnen gibt es gute und schlechte Subventionen.
— Ich glaube, es lohnt nicht, darauf einzugehen, Herr Wieczorek.
— Nein, das überfordert mich überhaupt nicht.
— Herr Wieczorek, Sie haben gemeinsam mit anderen Parteien zu Recht z. B. Forderungen zur Werftsubventionierung erhoben. Die haben wir mitgetragen, weil sie auch notwendig
— sinnvoll war. Es gibt aber natürlich auch Subventionen, die nicht sinnvoll sind. Die hat der Kollege Dr. Weng angegriffen.
— Es gibt Subventionen, die schlicht der Erhaltung dienen.
Einen solchen Unterschied kann man doch nicht machen, sondern man muß doch trennen zwischen reinen Erhaltungssubventionen und der Subventionierung zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Bundesrepublik Deutschland.
Die staatlichen Beihilfen an die deutsche Stahlindustrie waren als Hilfen zur Überwindung der Stahlkrise gedacht. Die Stahlkrise ist, für jedermann ersichtlich, überwunden. Die Stahlkonzerne erwirtschaften gute Gewinne. Die Aktienkurse sind gestiegen. Es gibt keinen Grund, warum an der von Anfang an vorgesehenen Rückzahlbarkeit für den Fall des Eintretens in die Gewinnzone nicht festgehalten werden sollte. Der Staat, aber auch das Parlament, Herr Wieczorek, würde sich unglaubwürdig machen, wenn er nachträglich Änderungen vornähme.
Zweitens. Die Stahlbeihilfen waren in der Stahlkrise auch als ein Mittel zur Gegensubventionierung gegen unsere hochsubventionierten europäischen und auch überseeischen Konkurrenten gedacht. Es ist uns— und ich darf an dieser Stelle an die Verdienste des Wirtschaftsministers a. D. und jetzigen EG-Kommissars Bangemann erinnern —
gelungen, den Subventionswettlauf in der EG glücklich zu beenden.
Unser Anliegen ist es, die Kommission anzuhalten,strikte Subventionsdisziplin auch weiterhin durchzusetzen. Wenn wir jetzt eine nachträgliche Rücksub-
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Funkeventionierung vornähmen, wie Sie das offensichtlich gerne wollen, wäre dies auch gegenüber der EG-Kommission kontraproduktiv.
Drittens. Es gibt keinen Grund, den Stahlstandorten in der gegenwärtigen guten wirtschaftlichen Situation zusätzlich staatliche Hilfen über die bereits bestehenden Programme hinaus zukommen zu lassen. Ich erinnere daran, daß der Bund bereits im Rahmen des Sonderprogramms Montanregionen, des Sonderprogramms Aachen/Jülich und des Strukturhilfegesetzes erhebliche Mittel in die Montanregionen überweist. In diesen Programmen sind auch jene Vorhaben bereits berücksichtigt, die die SPD zur Rechtfertigung ihres Antrages heranzieht, nämlich die Sanierung verseuchter Industrieflächen zur Ansiedlung neuer Unternehmen. Darüber hinaus zahlt die Europäische Gemeinschaft erhebliche Subventionen.Viertens. Auch rechtliche und verfassungsrechtliche Gründe sprechen gegen Ihren Antrag, rechtliche wegen §§ 58 und 59 der Bundeshaushaltsordnung, verfassungsrechtliche, weil eine Finanzierung von Länderaufgaben außerhalb der Art. 91 a und 104 a des Grundgesetzes nicht zulässig ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher?
Abschließend lassen Sie mich sagen: Es ist die ureigenste Aufgabe der Montanregionen Saar und Nordrhein-Westfalen,
— ich lasse sie gerne zu; darum geht es nicht — im Rahmen einer geeigneten Landespolitik selbst dafür zu sorgen, daß eine Strukturverbesserung in diesen Gebieten erreicht wird.
— Ja.
Sie gestatten eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Funke, hätten Sie, wenn Sie vorhin mitbekommen hätten, daß einer Ihrer Kollegen unseren ehrenwerten Kollegen Wieczorek während Ihrer Rede einen „Quatschkopf" genannt hat, das zurückgewiesen?
Nur, Herr Kollege Wieczorek selbst hat zu meinen Ausführungen „Quatsch" gesagt. Er ist in keiner Weise besser als der Kollege, der das geäußert hatte.
Vielen Dank.
Herr Abgeordneter Kühbacher, das ist eine ganz neue Methode in diesem Hause,
daß Sie etwas auffangen, was im Protokoll überhaupt nicht festgehalten ist und das als eine fremde Meinung wiedergeben, wobei Sie für alle erkennbar, das unterstreichen, was Sie als fremde Meinung vorgetragen haben.
Herr Präsident, ich entschuldige mich ausdrücklich, falls Sie das als Kritik an Ihrer Präsidentschaft verstanden haben sollten.
Damit ist die Angelegenheit aus der Welt.
Ich erteile das Wort dem Herr Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Riedl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Vertreter des volkswirtschaftlichen Wohlstands in Nordrhein-Westfalen! Ich darf in dieser durchaus entspannten und angenehmen Atmosphäre zu dem Antrag der SPD-Fraktion namens der Bundesregierung vier Anmerkungen machen.
— Ich habe mich sowieso genötigt gesehen, Herr Abgeordneter, die mir vorgelegten sieben Punkte auf vier zusammenzustreichen. Ich bitte, dies entsprechend zu würdigen.
Eine Vorbemerkung. Die Bundesregierung ist selbstverständlich gerne bereit, in den zuständigen Ausschüssen, vor allem im federführenden Wirtschaftsausschuß, mit den Fraktionen — bei denen es offensichtlich ein breites Spektrum der Übereinstimmung gibt — diesen Antrag zu erörtern und zu besprechen. Ich darf aber bei allem Ernst über das durchaus beachtliche und wichtige Thema doch darum bitten, vier Gesichtspunkte nicht aus dem Auge zu verlieren.Erstens. Ziel der Strukturverbesserungshilfen für die Stahlindustrie ist die dauerhafte Sicherung einer leistungsfähigen deutschen Stahlindustrie. Zwischen Bund und Ländern einerseits und den Stahlunternehmen andererseits wurden Zuwendungsverträge geschlossen, daß die Rückzahlung der Beihilfen bei entsprechender Ertragslage vorsehen. Allen Beteiligten, Herr Kollege Wieczorek, war somit die Rückzahlungsverpflichtung bekannt. Der Bundestag ist stets von der Rückzahlung ausgegangen. Darüber können wir, glaube ich, Übereinstimmung erzielen.Zweitens. Der Antrag der SPD verlangt, daß die zurückgezahlten Bundesmittel im Land verbleiben, bei gleichzeitiger Festlegung eines neuen Verwendungszwecks. Ich kann an dieser Stelle natürlich nicht
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Parl. Staatssekretär Dr. Riedlverhehlen, daß ich dem Kollegen Funke von der FDP recht gebe, wenn er einen Zusammenhang zwischen dem, was wenige Minuten vorher zum Zwölften Subventionsbericht hier im Hause gesagt wurde, und dem, was zu diesem Punkt gesagt worden ist, hergestellt hat. Ich konnte mich auf der Regierungsbank eines gewissen Gefühls der inneren Schizophrenie durchaus nicht entziehen.Ein Erlaß der Rückzahlung bei gleichzeitiger Festlegung eines neuen Verwendungszwecks würde nämlich eine entsprechende Änderung der Richtlinie über die Strukturverbesserungshilfen voraussetzen. Ferner bedürfte es der Zustimmung des Bundestages, also von Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, da für einen neuen Verwendungszweck die Veranschlagung der Mittel für die neuen Maßnahmen in einem entsprechenden Ausgabetitel im Bundeshaushalt erforderlich wäre.
— Das war meine Feststellung Nummer 2. Herr Abgeordneter, bitte sehr.
Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Dr. Riedl, Parl. Staatssekretär: Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß weder die Regierung noch sonst jemand in diesem Hause damit gerechnet hat, daß die Stahlindustrie in diesem Zeitraum die Mittel überhaupt zurückzahlen konnte und daß die finanzielle Situation des Bundeshaushalts einen Verzicht auf diesen Einnahmetitel durchaus ermöglichen würde?
Dr. Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter Wieczorek, es ist vorhin schon einmal erklärt worden
— ich glaube, vom Kollegen Stratmann — , daß wir alle keine Propheten sind. Ich erinnere mich an die Stahldebatten hier ganz genau, insbesondere über Rheinhausen. Es war natürlich keiner da — auch nicht, als wir die Probleme mit der Maxhütte hatten — , der diesen erfreulichen Stahlboom, so möchte ich fast sagen, vorhergesagt hat. Wenn es einen solchen gäbe, säße er nicht mehr im Deutschen Bundestag. Er würde eine hochdotierte Spitzenposition irgendwo in den Gremien der Weltstahlunternehmen einnehmen.
— Sie schaffen es nicht, Herr Abgeordneter. Das sage ich Ihnen heute schon voraus.
— Ich bedanke mich für diese Zustimmung. Herr Abgeordneter, wir sind uns aber, obwohl wir zugeben müssen, daß wir keine Propheten sind, hoffentlich alle miteinander darüber einig, daß diese Entwicklung von uns begrüßt wird und wir durch die Rahmenbedingungen der Politik alles tun sollten und müssen, damit diese erfreuliche Entwicklung so lange wie möglich anhält. Ich habe mir schon notiert, was Sie
gesagt haben: Die langfristige Entwicklung ist ungewiß. Natürlich kann keiner vorhersagen, was in den Jahren 1995 und 1996 ist. Aber so wie es bisher läuft und geht, können wir zufrieden sein. Angesichts dieser Entwicklung sollten wir auch keine übereilten Entschlüsse fassen, sondern alles gut überlegen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Unland, Herr Staatssekretär?
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, würden Sie denn nicht in Ergänzung Ihrer Auskunft an den Kollegen Wieczorek noch darauf hinweisen wollen, daß die hervorragende Stahlkonjunktur nicht zuletzt darauf beruht, daß wir eine insgesamt glänzende Wirtschaftskonjunktur haben, was ja auf die Politik der von Ihnen vertretenen Bundesregierung zurückzuführen ist?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, heute abend versuchen schon die noch nicht so alten Hasen alle Tricks anzuwenden, die es überhaupt nur gibt. Auch die Dreiecksfrage des Herrn Abgeordneten Unland ist in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen. Aber es ist angekommen. Sie brauchen darauf nicht zu antworten.
Herr Präsident, da ich wie das Hohe Haus weiß, bei Ihnen in die Schule gegangen bin, weiß ich die Tricks der Damen und Herren Abgeordneten dieses Hohen Hauses natürlich besonders zu würdigen.
Herr Abgeordneter Unland, ich stimme Ihnen natürlich zu, daß alles Positive in unserer Republik allein der guten Politik der Bundesregierung zu verdanken ist.
Ich kann dies gar nicht oft genug wiederholen.
Nun komme ich, hoffentlich auch zu Ihrer Befriedigung, zu meiner dritten Feststellung. Zentraler als diese eher technischen Probleme ist jedoch — wir müssen darüber diskutieren — , daß der Vorschlag auf den erneuten Einsatz der dem Bund zustehenden Mittel für die weitere regionalpolitische Flankierung der Anpassungsprozesse in Nordrhein-Westfalen, dem Hauptnutznießer dieses SPD-Vorschlags, nämlich 66 % Anteil, hinausliefe. Hierfür liegen jedoch — Herr Abgeordneter Wieczorek, das muß man einmal ganz objektiv feststellen — derzeit keine neuen Fakten vor. Der Strukturwandel wird dort bereits durch umfangreiche Maßnahmen gestützt. Ich darf sie ganz kurz stichwortartig nennen:
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Parl. Staatssekretär Dr. RiedlAus Sonderprogrammen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" erhält Nordrhein-Westfalen für die Jahre 1989 bis 1993 insgesamt 560 Millionen DM vom Bund. Nach dem Strukturhilfegesetz nach Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes stehen Nordrhein-Westfalen für den Zeitraum 1989 bis 1998 jährlich 765 Millionen DM — das sind 31 % der Mittel in Höhe von 2,4 Milliarden DM — per anno zur Verfügung. Im Rahmen des EG-Gemeinschaftsprogramms zur Umstellung von Stahlregionen sind Nordrhein-Westfalen für die Jahre 1988 bis 1990 135 Millionen DM in Aussicht gestellt. Die EG-Kommission hat eine Reihe von Gebieten in Nordrhein-Westfalen als förderbedürftig nach Ziel 2 der reformierten EG-Strukturfondsverordnung eingestuft. Von den für die Bundesregierung vorgesehenen EG-Regionalfondsmitteln für Ziel-2Gebiete dürfte Nordrhein-Westfalen annähernd 60 erhalten. Über den absoluten Betrag hat die EG-Kommission, wie Sie wissen, noch nicht entschieden. Beantragt sind EG-Regionalfördermittel von 1989 bis 1991 in Höhe von über 300 Millionen DM.Viertens. Die Zahl der Programme zugunsten Nordrhein-Westfalens, die ein sehr beachtliches Mittelvolumen erreichen, macht deutlich, daß es in den nächsten Jahren an ausreichenden finanziellen Mitteln von Bund und EG für die notwendige Umstrukturierung nicht mangelt. Meine Damen und Herren, ich sage das jetzt ganz im Ernst: Es kommt vielmehr darauf an, daß diese Mittel wirksam und effizient eingesetzt werden. Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen gar nicht weiß, was sie mit dem vielen Geld anstellen soll.
— Selbstverständlich, Herr Abgeordneter Gerstein. — Ich möchte Sie herzlich darum bitten, in den zuständigen Ausschüssen nicht nur darüber zu diskutieren, ob weiteres Geld nach Nordrhein-Westfalen fließt, sondern wie das bisher bereitgestellte Geld sinnvoll eingesetzt wird.Herr Abgeordneter Wieczorek, daß Sie uns heute abend noch das Vergnügen eröffnet haben, Ihre charmante Gattin auf der Tribüne zu sehen, dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken.
Ich glaube, daß Ihre Gattin erkannt hat, daß Ihr Kampf für Nordrhein-Westfalen auch einen entsprechenden familiären Niederschlag findet.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5156 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Beer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Die sexuelle Denunziation von tatsächlichen oder vermeintlichen „Urningen" als Mittel der politischen Auseinandersetzung
— Drucksachen 11/3901, 11/5107 —
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Zulassung Umgangs- und hochsprachlicher Begriffe in Überschriften von Vorlagen des Deutschen Bundestages
— Drucksache 11/5421 —
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5482 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache mit zehn Minuten für jede Fraktion durchzuführen.
— Zu Tagesordnungspunkt 14b wollen Sie sprechen?
— Sie wollen also jetzt ganz kurz das Wort zur Begründung. Aber im Ältestenrat war das nicht abgesprochen. — Also, Sie versprechen, sich ganz kurz zu halten, ja? — Bitte sehr.
— Gut, wir sind so weit. Bevor ich also die Aussprache eröffne, hat Ihre Fraktion das Wort zur Begründung.
Danach kommen wir dann zur Aussprache. Bitte schön.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Seitdem sich der CSU-Abgeordnete Wittmann im Mai 1988 beim Kollegen Jenninger, dem damaligen Bundestagspräsidenten, über die Verwilderung der Sprachkultur beklagt hat, beschäftigen sich die Gremien dieses Hohen Hauses mit einer für sie offensichtlich entscheidenden Frage: Wann darf die Selbstbezeichnung der Lesben und Schwulen verwendet werden und wann nicht?Die Abneigung gegen die Wörter „Lesben" und „Schwule" rührt daher, daß diese Begriffe mitunter als Schimpfwörter verwendet und zur Beleidigung betroffener oder auch nicht betroffener Menschen benutzt werden.Zur Politik der Lesben- und Schwulenorganisationen gehört es jedoch, die negative Befrachtung dieser Begriffe abzulegen und sie als Bestandteil der Emanzipation von Lesben und Schwulen offensiv und stolz zu verwenden.
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Frau Oesterle-SchwerinDadurch bringt die Lesben- und Schwulenbewegung zum Ausdruck, daß sie sich nicht mit einer Duldung ihrer Lebensform zufriedengeben will, sondern vielmehr eine Akzeptanz ihrer Lebensform fordert. Die Begriffe „Lesben" und „Schwule" sind Programm der Lesben- und Schwulenbewegung. Sie stehen für Emanzipation und Akzeptanz statt bloßer Integration und Duldung. Darum geht es auch heute, wenn wir über die Zulassung dieser Begriffe hier reden.Es geht aber auch darum, ob jeder Fraktion gestattet wird, ihre Haltung gegenüber den Lesben und Schwulen in den Überschriften ihrer Vorlagen zum Ausdruck zu bringen. Es geht darum, ob GRÜNE den Anspruch der selbstbewußten Lesben- und Schwulenbewegung auf Emanzipation unzensiert auf die Tagesordnung setzen und ebenso unzensiert in ihre schriftlichen Anträge aufnehmen können oder ob die Mehrheit dieses Hauses ihre Haltung zu diesem Thema der Minderheit schon bei der Formulierung ihrer Anträge aufzwingen kann. Darum geht es.Der Begriff „homosexuell" ist nicht etwa wertneutral, wie einige hier vielleicht meinen. „Homosexuelle Handlungen" heißt die Überschrift des § 175 StGB. Der Begriff „homosexuell" schafft Distanz. Er beschreibt Opfer, denen man im besten Fall helfen will. Wer „homosexuell" sagt, meint damit aber sicher zunächst keine selbstbewußten Schwulen, die für ihre Gleichstellung in dieser Gesellschaft selbstverständlich kämpfen.
Der Begriff „Lesbierin", den Philipp Jenninger seinerzeit an Stelle des Wortes „Lesbe" vorschlug, wird von den Lesben nicht verwendet. Die „Lesbierin" ist die weibliche Bewohnerin der Insel Lesbos. Das männliche Gegenstück dazu ist der „Lesbier" . Der Dachverband der Lesben in der Bundesrepublik Deutschland aber heißt „Lesbenring". Wir organisieren „Lesbenwochen". Wir haben Lesbencafés. Wir haben Lesbenzeitschriften. Wir machen „ Lesbenpolitik" und nicht „Lesbierinnenpolitik".Ich bitte Sie, nicht weiterhin in der Terminologie des 19. Jahrhunderts Zuflucht zu suchen. Aus „Urningen" und „Urninden" sind mittlerweile längst „Schwule" und „Lesben" geworden.Der Bayerische Landtag und das Berliner Abgeordnetenhaus haben damit längst keine Probleme mehr.
— Bayern hat keine Probleme damit. — Bei der Zulassung dieser Begriffe geht es im übrigen nicht nur um die Betroffenen, es geht auch um die Frage der parlamentarischen Rechte der Opposition in diesem Haus.
Das war ein Beitrag, der doch in die Aussprache hineinreichte.
— Ich bitte für die Zukunft nur darum, daß das im Ältestenrat angegeben wird.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin. — Es hat sich erledigt? In Ordnung.
— Hat sich nicht erledigt?
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mehr als berechtigte Zweifel an der Aussage der Bundesregierung in der Beantwortung unserer Großen Anfrage, die lautet — ich zitiere — : „Die Bundesregierung mißbilligt jede Art der Denunziation, auch im politischen Leben. " Ich will Ihnen erklären, warum wir Zweifel haben.Über die Frage, ob die Denunziation von tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Verhaltensweisen ein sinnvolles Mittel der politischen Auseinandersetzung ist, wurde in der schleswig-holsteinischen CDU schon 1986 öffentlich diskutiert. Damals schrieb ihr Pressesprecher Günter Kohl im „Schleswig-Holstein-Kurier" über ein Mitglied der Arbeitsgemeinschaft sozial-demokratischer Juristen folgendes — ich zitiere — : „Einer dieser Juristen ist der Lübecker Rechtsanwalt und ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete ...," — der volle Name folgt natürlich in dem Artikel — „der vor drei Jahren wegen homosexueller Beziehungen zu Jugendlichen rechtskräftig verurteilt wurde. " Und er fragt sich — ich zitiere weiter — : „Soll dies von uns aufgepickt werden?"Das war eine Denunziation in Form einer Frage. Daß die Frage schließlich auch bejaht wurde, zeigt der weitere Verlauf der Ereignisse in Schleswig-Holstein. Barschel habe den Auftrag erteilt, das angeblich ausschweifende Sexualleben seines angeblich homosexuellen SPD-Gegenspielers Björn Engholm auszuspionieren, heißt es am 14. September 1987 im „Spiegel". Nicht mehr und nicht weniger.Auch die grüne Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Homo- und Heterosexualität wurde von der CDU im Wahlkampf damals demagogisch als „Legalisierung von Sex mit Kindern" bezeichnet. Gerichtlich mußte ihr die Verbreitung dieser Lüge untersagt werden.Sind das Einzelfälle? Sind das Einzeltäter? Nein, das sind keine Einzelfälle; denn Barschels Strategie der Denunziation als Mittel der Politik wurde vorher öffentlich in der Mitgliederzeitschrift der CDU dort erörtert und offensichtlich für gut befunden. Der damalige Landesvorsitzende der CDU Schleswig-Holsteins, der das alles zu verantworten hatte, sitzt weiterhin unbeschadet in dieser Regierung.Seither hat sich auch nichts geändert. Im Kölner Kommunalwahlkampf forderten die Republikaner die Schließung des Lesben- und Schwulenzentrums „SCHULZ". In Münster republikanerte die CDU selbst. Die grüne Forderung nach einer kommunalen Gleichstellungspolitik für Lesben und Schwule kommentierte sie mit der Aussage: „Es soll keiner sagen,
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Frau Oesterle-Schweriner habe es nicht gewußt. " Sie rückte damit diese Politik der GRÜNEN in die Ecke faschistischer Politik. Daher rühren unsere Zweifel.Angesichts der schleswig-holsteinischen Chronologie der Ereignisse und der Fortsetzung derart hetzerischer antischwuler und antilesbischer Propaganda bleibt die Verurteilung von Denunziation durch die CDU/CSU-FDP-Regierung nach unserer Meinung eine nichtssagende Phrase.Auch aus der Wörner-Kießling-Affäre hat die Bundesregierung nichts gelernt. Die Bewertung der Homosexualität als Sicherheitsrisiko hat wesentlich zu der Wörner-Kießling-Affäre beigetragen. Aber auch nach dem Erlaß der jetzt gültigen Fassung der Sicherheitsrichtlinien, die die Homosexualität nicht explizit erwähnt, hat sich die Praxis offensichtlich nicht geändert. Das Bundesministerium für Verteidigung hält Schwule als Vorgesetzte für ungeeignet. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat diese Auffassung nicht gerügt. Durch diese Benachteiligung müssen Schwule bei der Bundeswehr ein Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung befürchten. Gerade dies verursacht die Erpreßbarkeit, die nach den Sicherheitsrichtlinien dann eben als Sicherheitsrisiko gewertet wird. So und nicht umgekehrt verläuft das.Die Denunziation von Engholm und Kießling als Schwule blieb und bleibt für die Bundesregierung und wohl auch für die Schlammschlachten der künftigen Wahlkämpfe folgenlos.Wir meinen: Die einzige Antwort auf diese miesen politischen Methoden der Pfeiffers in den Wahlkampfbüros der Parteien und die einzige wirksame Methode dagegen wären die Nominierung offen schwuler Politiker und lesbischer Politikerinnen auf den Kandidatenlisten der Parteien für die Parlamente und eine aktive Gleichstellungspolitik für Lesben und Schwule, wie wir sie in unserem Entschließungsantrag gefordert haben.5 bis 10 % offen schwule oder lesbische Abgeordnete im nächsten Bundestag — und die Sache sähe ganz anders aus.
Es fehlt zwar nicht an schwulen Abgeordneten im Deutschen Bundestag der 11. Wahlperiode — bei den Lesben sieht die Situation wegen des geringen Frauenanteils etwas schlechter aus —,
aber nicht einer meiner schwulen Kollegen aus den drei anderen Fraktionen wagt ein öffentliches Coming-out. Warum eigentlich nicht? Vielleicht haben sie zu Recht Angst. Denn wie unliebsame schwule Kollegen in der Politik abgeschossen werden können, zeigte in den letzten Monaten der Fall des SPD-Linken Dietmar Zierer, eines Abgeordneten des Bayerischen Landtags. Weil er sich nach einem Saufgelage angeblich am Hosenlatz eines Burschen vergriffen haben soll, wurde er von seiner Partei zur Aufgabe aller seiner Ämter genötigt. Saubere Sozialdemokraten, kann ich dazu nur sagen.
Im 19. Jahrhundert hatte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in diesen Fragen mehr Standvermögen und mehr Zivilcourage.
Lasalle, der damalige Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, schrieb 1863 über seinen späteren Amtsnachfolger Johann Baptist von Schweitzer, der wegen homosexueller Handlungen mit einem Minderjährigen verurteilt worden war, an die Mitglieder seiner Organisation:Meinerseits stelle ich an Sie die Aufforderung, sich alle Mühe zu geben, um durch Aufklärung der Köpfe die Vorurteile gegen Schweitzer zu beseitigen. ... Ich habe mich nicht erhoben, um dem Vorurteil die Füße zu küssen, und es ist nicht seine Fahne, die ich schwinge.Ich wünschte mir, ich hätte Vergleichbares von Herrn Engholm während der Barschel-Pfeiffer-Affäre oder von Herrn Vogel jetzt im Fall Zierer gehört. Damit die SPD bei zukünftigen Affären vielleicht nicht mehr dem Vorurteil die Füße küßt, sondern sich mutig und emanzipiert vor die angegriffenen Lesben und Schwulen stellt, habe ich meinen sozialdemokratischen Kollegen und Kolleginnen eine Plastikhülle für ihren Vorsitzenden mitgebracht. Inhalt ist der LasalleBrief von 1863, einzuordnen unter „Sozialdemokratie und Homosexualität".
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich überlege mir, was die Leute draußen im Lande sagen würden, wüßten Sie, daß wir uns hier in dieser vorgerückten Stunde allen Ernstes mit der Frage beschäftigen, ob in Überschriften von Vorlagen des Deutschen Bundestages Homosexuelle als solche oder vielmehr als Schwule oder vielleicht als Urninge, Polyhymnia oder Tribaden bezeichnet werden können, müssen oder dürfen.
Die harmloseste Reaktion wäre sicherlich die Bemerkung: Haben die nichts Besseres zu tun? Die meisten Reaktionen wären allerdings so formuliert, daß sie ganz sicher nicht in die Überschrift einer Vorlage kommen könnten.Aber wenn es denn sein muß, will ich mich nun auch mit diesem Thema auseinandersetzen und mich zunächst einmal einem Kunstgriff zuwenden, den die GRÜNEN ja gern anwenden. Immer wenn bei Ihnen die Realität und die Vorstellung über die Realität auseinanderklaffen, dann passen Sie nicht Ihre Vorstellungen der Realität an, nein, Sie gehen umgekehrt vor, Sie versuchen, sich eine neue imaginäre Wirklich-
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Eylmannkeit zu schaffen, nach Maßgabe Ihrer politischen Vorstellungen.
Sie sagen, meine Damen und Herren, das medizinisch klingende Wort „homosexuell" diffamiere die Homosexuellen wegen seiner pathologisierenden Konnotationen. Sie haben gewisse Schwierigkeiten, die Sprache des Volkes zu sprechen, das weiß ich. Ihre weitere Schlußfolgerung ist: Da nun aber die Mehrheit der Bevölkerung Homosexuelle „Homosexuelle" nennt,
diffamiert die Mehrheit der Bevölkerung die Homosexuellen und lehnt sie als kranke, sündige und kriminelle Subjekte ab. Damit haben Sie nun das Verfolgungsszenario, das Sie brauchen, um nach dem Gesetzgeber und nach dem Richter zu rufen. Denn, so sagen Sie, diese Hetze gegen die Homosexuellen müsse auf jeden Fall eingedämmt werden.
Ich halte das — mit Verlaub gesagt — für groben Unfug. Für mich sind Worte, wie „homosexuell", „bisexuell" oder „heterosexuell" wertfreie, mehr wissenschaftlich klingende Bezeichnungen sexueller Orientierungen, und ich glaube, die meisten gebrauchen diese Worte so,
und sie empfinden keine pathalogischen Konnotationen.
Ich weiß natürlich, daß es Witze über Homosexuelle gibt. Es gibt auch abfällige Bemerkungen in der vulgären Umgangssprache. Wer wüßte das nicht? Es gibt auch Witze und abfällige Bemerkungen über andere Minderheiten in unserer Gesellschaft. Es gab, es gibt, und es wird immer vereinzelte Versuche sexueller Denunziationen geben, nicht nur homosexueller, sondern auch heterosexueller Art. Dem müssen wir entgegentreten — da sind wir völlig einig — , wenn Grenzen überschritten werden, auch mit den Mitteln des Strafrechts.
Aber wir wissen doch alle, daß man dem Klatsch nicht mit dem Strafrichter beikommen kann.Grundtugend eines freiheitlichen Staates ist die Toleranz, zum Ausdruck gekommen in klassischer Weise in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Aber nun ist das Problem, daß Sie diese Toleranz nicht anerkennen. Sie sagen, auch heute wieder: Wir wollen nichtToleranz und Integration der Homosexuellen, nein, wir wollen Emanzipation und Akzeptanz.
Ob diese Gegenüberstellung sprachlich stimmig ist, wage ich zu bezweifeln, aber Sie wollen doch wohl sagen, es reiche nicht aus, daß man Homosexuelle toleriert, erträgt, nein, man müsse sie akzeptieren, also doch wohl annehmen oder übernehmen. So haben Sie sich auch schon früher — ich glaube, es war in Berlin — dafür eingesetzt, daß im Schulunterricht eine gleichwertige Darstellung homo- und heterosexueller Lebens- und Liebensweisen erfolge.
Damit wird — das scheinen Sie nicht zu erkennen — Ihr Ansatz höchst intolerant gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung, die nämlich homosexuelle Lebens- und Liebensweisen vielleicht toleriert — das muß sie auch —, aber nicht für sich selbst annehmen und übernehmen will.
Aber das verlangen Sie doch.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gern, wenn es nicht angerechnet wird.
Herr Kollege, wenn es um die Toleranz geht, können Sie dann nicht auch der Meinung sein, daß wir in unseren Vorlagen in den Überschriften die Worte „Schwulen" und „Lesben" benutzen, und wenn Sie zu diesem Thema Vorlagen bringen, können Sie durchaus weiterhin das Wort „Homosexueller" in der Überschrift benutzen? Damit wäre doch der Toleranz Genüge getan. Nichts anderes wollen wir mit diesem Antrag erreichen.
Sie wollen nicht sehen — das darf ich darauf antworten — , daß Sie mit Ihrem militanten Kreuzzug für die Verbreitung der Homosexualität in der Bevölkerung gerade das Gegenteil bewirken. Sie provozieren nämlich Ablehnungshaltungen, die Sie verhindern wollen.
Der Versuch, nun unbedingt gegen das Präsidium durchzusetzen, daß diese Worte in die Überschriften kommen, ist dafür ein typisches Beispiel. Ich sage Ihnen sehr offen, daß wir das ablehnen. Überschriften von Vorlagen müssen — so hat auch der Geschäftsordnungsausschuß mit breiter Mehrheit entschieden — sprachlich so gefaßt werden, daß sie als amtliche Formulierungen von Tagesordnungspunkten geeignet sind. Wir sind sicher, daß das Bundestagspräsidium bei der Entscheidung des Einzelfalles sowohl die Sprachkultur wahren als auch darauf achten wird, daß in Überschriften keine Formulierungen auf-
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12924 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Eylmanntauchen, die als eine Diffamierung von Personen oder Gruppen verstanden werden.
Ich habe in den letzten Tagen einmal die Probe gemacht und eine bunte Anzahl von Leuten gefragt, was für sie diffamierender sei, das Wort „homosexuell" oder das Wort „schwul" . Die Antwort war völlig eindeutig.Sie sehen nur den Sprachgebrauch einer Minderheit. Sie maßen sich an, den Bürgerinnen und Bürgern und auch den Mitgliedern des Bundestages vorschreiben zu wollen, welche Konnotationen, um in Ihrer Sprache zu sprechen, sie mit den Worten „Lesbe" und „Schwuler" zu verbinden haben. Die Sprache geht aber ihren eigenen Weg; sie läßt sich von Ihnen nicht kommandieren.Karl Kraus hat einmal geschrieben, die Sprache habe ihren Sprechern voraus, sich nicht beherrschen zu lassen. Lesen Sie das einmal nach! Sie vergewaltigen ohnehin fortlaufend unsere Sprache. Es ist aber tröstlich zu wissen, daß die Sprache sich eben nicht beherrschen läßt.
Es wird Ihnen nicht gelingen, wollen Sie auch noch sohäufig „man/frau" schreiben, die deutsche Sprachezu einem feministischen Esperanto zurechtzubiegen.
Aber nicht nur Ihr Umgang mit der deutschen Sprache ist höchst liederlich, sondern Sie mißbrauchen auch das Strafrecht ungeniert zu Ihrer politischen Intention, und zwar nach dem Motto:
Was sozialschädlich und was strafwürdig ist, bestimmt sich nach den Bedürfnissen unserer Klientel. — Deren Verhalten muß entkriminalisiert werden. Die staatliche Strafverfolgung ist für Ihre Klientel eine besonders lästige und deshalb überflüssige Erscheinungsform des staatlichen Repressionsapparates. So ungefähr drücken Sie das doch aus.
Sie fordern in Ihrem Thesenpapier mehr Menschlichkeit im Umgang mit Alltagsdelikten. Mit besonderer Hartnäckigkeit verfolgen Sie Ihr Ziel, sexuelle Handlungen mit Kindern und Jugendlichen ab 14 vornehmen zu können.
— Das ist doch richtig. Das verlangen Sie doch. Sie wollen, daß Jugendliche und Kinder ab 14 sexuelle Handlungen mit Erwachsenen vornehmen können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder?
Aber gern, wenn es nicht angerechnet wird.
Herr Kollege, unter Bezugnahme auf das Kraus-Zitat, das Sie gebracht haben, wonach sich ja durchsetzt, was Vernunft will, frage ich Sie: Warum sollten wir eigentlich nicht das Unvernünftige zulassen, bis sich das Vernünftige letztlich bewährt hat? Konkret: Warum müssen wir per Mehrheitsbeschluß den Antrag auf Drucksache 11/5421 ablehnen, wenn sich im Laufe der Zeit zeigen wird, daß diese Begriffe vielleicht kommen oder nicht kommen? Man muß ja nicht alles praktizieren, wofür wir uns einsetzen.
Ich war ja schon bei einem anderen Thema, nämlich beim Mißbrauch des Strafrechts. Ich gebe Ihnen recht, daß sich die Sprache vielleicht ändern wird. Sie müssen aber immer berücksichtigen, was die Mehrheit — die Mehrheit liest unsere Vorlagen — mit diesen Worten verbindet. Dazu kann ich nur sagen, daß ich der festen Überzeugung bin, daß bei der Mehrheit unserer Bevölkerung die Worte „Schwule" und „Lesben" negativer besetzt sind als das Wort „homosexuell" . Wenn wir also für eine Tolerierung eintreten wollen, dann ist es kontraproduktiv, wenn wir diese Worte in die Überschriften unserer Vorlagen nehmen. Sehen Sie doch ein, daß die Vorlage nicht schon ein Schauplatz des politischen Kampfes sein soll, sondern daß sie den Leser nur unterrichten soll über das, was in der Vorlage steht!
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ich gestatte noch eine Zwischenfrage, wenn sie nicht angerechnet wird.
Herr Kollege, sind Sie sich im klaren darüber, daß nach der Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland die Kindheit bis zum 14. Lebensjahr geht, und sind Sie sich im klaren darüber, daß die GRÜNEN, wenn sie die Abschaffung des § 175 fordern, nicht der Meinung sind, daß der Schutz von Kindern unter 14 Jahren angegriffen werden soll?
Ich habe die Grenze von 14 Jahren ausdrücklich genannt. Infolgedessen ist es ein Spiel mit Worten.
Aber es ist doch wohl richtig, daß Sie es erreichenwollen, daß Jugendliche ab 14 Jahren homosexuelle
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12925
Eylmannund heterosexuelle Handlungen mit Erwachsenen vornehmen können, wie umgekehrt.
Das wollen Sie erreichen, und das halte ich für eine ganz schlimme Geschichte.Lassen Sie mich zum Strafrecht zurückkehren. Sie denken sogar daran, jede negative Äußerung über Homosexualität als Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassenhaß zu bestrafen. Andererseits — das haben wir heute gehört — kann man jemanden, der eine von unserer Verfassung gebotene Pflicht wie die Wehrpflicht erfüllt, ruhig als potentiellen Mörder beschimpfen. Das ist nach Ihrer Meinung durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Diese Differenzierung ist zwar Tollheit; aber sie hat Methode. Denn Sie wollen ja das Strafrecht zur Durchsetzung Ihrer politischen Ziele einsetzen; Sie wollen es wirklich für Ihre politischen Intentionen instrumentalisieren. Das ist eine zu durchsichtige Methode, als daß sie Erfolg haben könnte.Ein Rat zum Schluß: Ein bißchen weniger eifernde Agitation und ein bißchen mehr gelassene Toleranz wäre für die Homosexuellen wesentlich besser.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den letzten Satz von Herrn Eylmann möchte ich aufgreifen, weil er uns vielleicht zu einer Unterhaltung, zu einer Debatte und nicht zum Umgang mit festgefügten Meinungen als Keulen oder, wie auch immer, als Beinahe-Waffen zurückführt.Ich habe bei diesem heiklen Thema manche klare Meinung, aber auch in vielen Bereichen keine festgelegte Meinung, sondern ich bin daran interessiert, wie wir hier den Diskussionsprozeß vorantreiben und wie wir voneinander lernen können, unsere Gesellschaft ein Stückchen voranzubringen. In vielen Bereichen ist das nötig.Wir haben uns heute abend mit drei Vorlagen unterschiedlichen Gewichts zu befassen. Ich will zunächst auf den Antrag der GRÜNEN über die Zulassung Umgangs- und hochsprachlicher Begriffe in Überschriften von Vorlagen des Deutschen Bundestages eingehen. Es hört sich grausam an; ich kann es nicht anders sehen.
Der Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages ist bislang der Meinung, daß Formulierungen in Bundestagsdrucksachen unzulässig sind, falls sie als Ordnungsverletzungen anzusehen wären, würden sie im Plenum des Bundestages vorgetragen. Im Falle der Überweisung — wir werden ja überweisen — wirdder Geschäftsordnungsausschuß Gelegenheit haben, die anstehenden Fragen sorgfältig zu prüfen. Wir werden das auch, denke ich, mit der notwendigen sprachlichen Sensibilität tun. Das sichere ich Ihnen zu. Diesen Stil haben wir im Geschäftsordnungsausschuß. Herr Eylmann ist dort Kollege, und er wird sicherlich auch auf seine Weise gewährleisten, daß wir das tun.Wir haben in der SPD-Fraktion in dieser Frage bislang noch keine feste Haltung, weil die Vorlage einfach zu spät gekommen ist. Wir werden darüber beraten und dann auch eine sorgfältig abgestimmte Meinung äußern. Deswegen will ich diesem Meinungsbildungsprozeß überhaupt nicht vorgreifen. Wir werden aber, wenn es soweit ist, eine Meinung dazu haben.Im übrigen ist Sprache im Wandel begriffen. Ich denke, jeder ist für seinen Sprachgebrauch in erster Linie selber verantwortlich; das ist meine persönliche Meinung. Es mag auch da Grenzen geben, wo Sprache verletzt, wo Sprache verhetzt. Aber innerhalb dieser Grenzen, die sehr weit sein sollten, ist jeder für seinen eigenen Sprachgebrauch verantwortlich. Vielleicht kommen wir in unserer Haltung, wie wir mit Sprache in Drucksachen umgehen, auch dahin.Wir stimmen als SPD-Fraktion ebenfalls der Überweisung des Entschließungsantrages zu. Dieser Antrag liegt mir erst seit wenigen Stunden vor, so daß ich Sie bitte, nicht zu erwarten, daß ich zu diesem Antrag heute abend inhaltlich Stellung nehme.Von nicht unerheblichem Gewicht sind die Große Anfrage der GRÜNEN zur sexuellen Denunziation und die darauf erfolgte Antwort der Bundesregierung. Ich will für die SPD-Fraktion hervorheben, daß wir den emanzipatorischen menschlichen Ansatz der Großen Anfrage ausdrücklich anerkennen. Die Denunziation von tatsächlichen oder vermeintlichen Homosexuellen als Mittel der politischen Auseinandersetzung gehört zu den übelsten Methoden politischer Vernichtungsstrategien. Ja, dieses Verfahren muß man wohl als menschenverachtend bezeichnen.Diese Vernichtungsstrategie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist in der Vergangenheit von verschiedenen politischen Gruppierungen benutzt worden. Wir wissen, sie ist in der aktuellen Gegenwart angewandt worden. Dabei fallen uns allen bestimmte Namen ein. Es gibt Opfer, und es gibt Täter, und es wird wieder geschehen. Deshalb ist es wichtig, daß wir darüber reden, und heute sicher nicht das letztemal darüber reden.Eine kleine, nicht rechthaberisch gemeinte Fußnote: Die GRÜNEN beginnen ihre Anfrage mit einem trefflichen Zitat aus dem Aufsatz „Über den Denunzianten" von Heinrich Heine. Der ist ein ganz aktueller, unser vielleicht lebendigster Klassiker, der große Dichter der Emanzipation. Er liebte die Menschen und das Leben, und ganz besonders liebte er die Liebe. Er hat sich gleich zweimal in wichtigen literarischen Werken des Mittels der sexuellen Denunziation bedient. Börne und Platen waren damals die Opfer. Darunter leiden heute noch die Freunde Heinrich Heines. Ich will das hier nur mal verdeutlichen, weil er ein Klassiker ist, den ich ganz besonders schätze und der mich eigentlich seit Jahren immer wieder begleitet.
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12926 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
WiefelspützIch will einen wichtigen Ansatz Ihrer Anfrage, liebe Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN, kritisieren. Sie machen einen Fehler, denke ich, den auch andere Fraktionen dieses Hauses gelegentlich machen. Wenn die Schmerzgrenze überschritten ist, ruft man nach dem Strafrecht. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen.Um Mißverständnissen zu begegnen: Die Verschärfung von bestehenden Straftatbeständen oder die Schaffung neuer Straftatbestände kann im Einzelfall sinnvoll oder sogar geboten sein. Häufig ist es aber doch so: Wenn sich die Emotionen gelegt haben, wird klar, daß das Strafrecht kein geeignetes Instrument zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der GRÜNEN, setzen mit Ihrer Anfrage zu sehr auf strafrechtliche Lösungsbeiträge, sicher in allerbester Absicht. Vielleicht denken Sie darüber noch einmal sorgfältig nach, ob mehr Strafrecht wirklich geeignet ist, der sexuellen Denunziation Einhalt zu gebieten.Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, unser Strafrecht reiche aus, um die sexuelle Denunziation als Mittel der politischen Auseinandersetzung strafrechtlich zu ahnden. Es spricht nach meiner Auffassung sehr viel dafür, daß dies zutrifft. Gleichwohl, die strohtrockene Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist enttäuschend. Da fehlt es an Sensibilität, an Nachdenklichkeit, an der Bereitschaft, neue Wege der Aufklärung zumindest zu suchen und sie dann gegebenenfalls auch zu beschreiten.Nach Auffassung der Bundesregierung leben wir, soweit sexuelle Diskriminierung und Denunziation in Rede stehen, offenbar in einer weitgehend problemlosen Welt nach dem Motto: Wir haben ein ausreichendes Strafrecht und sonst keine Sorgen. Es gibt in der Antwort der Bundesregierung einen, wie ich finde, sehr schönen Satz. Ich zitiere:Im übrigen hat die Bundesregierung stets bekräftigt, daß es ein Wesensmerkmal unserer freiheitlichen Gesellschaft sei, das Maß an Toleranz zu entwickeln, das gerade jene vor Benachteiligung und Herabwürdigung schütze, die ihr Leben anders als die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gestalten möchten.Der Zielsetzung dieses Satzes stimmen wir hoffentlich alle zu. Der Antwort der Bundesregierung vermag ich aber nicht zu entnehmen, daß die Bundesregierung auf der Grundlage dieser Zielsetzung ein differenziertes Regierungshandeln entwickelt hat oder entwikkeln will. Notwendig wären praktische Handlungsansätze.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der GRÜNEN unterstellt, daß es in der Bundesrepublik Deutschland möglich sei, daß Personen wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Neigung diffamiert würden, ohne daß der Staat in angemessener Weise reagiert. Die Bundesregierung ist dieser Unterstellung in ihrerAntwort vom 30. August 1989 zu Recht entschieden entgegengetreten. Generell ist zunächst zu sagen, daß die strohtrockene Antwort der Bundesregierung durchaus angemessen gewesen ist. Ich habe sie als wohltuend empfunden. Ich glaube auch, daß unsere strafrechtlichen Vorschriften, so wie die Bundesregierung das dargelegt hat, und zwar die Vorschriften des § 185 ff., also Beleidigung, und gegebenenfalls des § 130 des Strafgesetzbuches, voll ausreichen, um die in Frage stehenden Verhaltensweisen zu ahnden.Politische Auseinandersetzungen, in denen andere Personen bezichtigt werden, sich in bestimmter Weise sexuell zu verhalten, können nun einmal Beleidigungen sein, die durch unsere strafrechtlichen Vorschriften voll geahndet werden können. Sie wissen, daß die Rechtsprechung auch auf diesem Gebiete eindeutig ist und daß insoweit kein Handlungsbedarf besteht.Aber ich räume ein, daß es sich hier nicht so sehr um strafrechtliche Fragen handelt, sondern auch um ein gesellschaftliches Problem, das sich nicht nur auf den Vorwurf angeblicher sexueller Neigung bezieht. Vielmehr geht es auch um Beleidigungen sonstiger Art, um Gewalttaten und Erpressung, die alle als Mittel der politischen Auseinandersetzung verwandt werden.Das gilt im übrigen auch für Formulierungen wie, Soldaten seien potentielle Mörder. Dieselben Bürger und leider auch Parlamentarier, die sich zu Recht gegen die Diffamierung von Homosexuellen wenden, finden überhaupt nichts dabei, Soldaten als potentielle Mörder zu bezeichnen. Da frage ich mich schon, wo eigentlich die politische Glaubwürdigkeit bleibt.
Diese Beleidigungen, Gewalttaten und Erpressungen — das, was ich soeben angeführt habe — sind Ausdruck dafür, daß in unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht alle Bürger das notwendige Maß an Zurückhaltung und Toleranz üben. Wir Liberalen haben uns stets bemüht, dieses Maß an Toleranz auch in diesen Bereichen zu üben. Das Parlament ist sicherlich auch dazu aufgerufen, seinerseits ein Vorbild für Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer abzugeben und Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu üben.
Ob wir diesen Maßstäben immer gerecht werden — dies gilt auch für die Abgeordneten der Fraktion, die diese Große Anfrage gestellt haben — , wage ich hier zu bezweifeln. Die Diffamierung Andersdenkender ist — auch das sollten wir bei all diesen Fragen bedenken — der Nährboden für Radikale. Daß wir diese Radikalen nicht wollen, darin bin ich sicherlich mit allen Kollegen in diesem Hause einig.
Die Einstellung der Bevölkerung zu Homosexuellen kann durch Gesetze nur sehr bedingt beeinflußt werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12927
Funke— Lassen Sie mich das doch ausführen; ich will ja etwas dazu sagen.Hier handelt es sich um langfristige Einflußnahmen unterschiedlichster gesellschaftlicher Erscheinungsformen. Die Bundesregierung und wir alle sind aufgefordert, gegenüber allen Andersdenkenden Toleranz zu wahren und vorzuleben und andere Menschen nicht zu verurteilen, weil sie anders denken oder zusammenleben als man selbst.Die Zulassung umgangssprachlicher Begriffe und Überschriften von Vorlagen des Deutschen Bundestages, wie Sie sie fordern, würde allenfalls ein Kurieren an den Symptomen sein und einer Verflachung des deutschen Sprachgutes Tür und Tor öffnen. Ein Parlament hat gegenüber der Öffentlichkeit eine gewisse Vorbildfunktion. Nicht alles, was man umgangssprachlich am Biertisch ausspricht, muß auch schriftlich in Parlamentsvorlagen erscheinen.
Im übrigen gibt es eine Reihe von sprachlichen Entwicklungen, die früher als umgangssprachlich zu werten waren, heute aber in den hochsprachlichen Bereich übernommen worden sind. Ich meine, wir können in Ruhe die Entwicklungen abwarten und müssen nicht immer gleich aufgeregt nach der Übernahme umgangssprachlicher Begriffe rufen. Eine gewisse Geduld, Entwicklungen abzuwarten, steht auch diesem Hause gut an.
— Wir sind ja etwa gleichaltrig, und wir haben in vielen Dingen die gesellschaftlichen Entwicklungen im gleichen Maße mitverfolgt. Es hat sich eben doch in diesen 40 Jahren vieles geändert, und viele Dinge werden heute anders angesprochen als vor 10 oder 20 Jahren. Nun lassen Sie uns diese gesellschaftlichen Entwicklungen doch einmal abwarten, und versuchen Sie nicht mit Parlamentsanfragen, die Dinge zu überstürzen!Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort zu Recht auch darauf hingewiesen, daß sie keinen Anlaß sieht, die Einführung eines Benachteiligungsverbots im Grundgesetz hinsichtlich der sexuellen Orientierung vorzuschlagen oder ein Gesetz gegen die Diskriminierung von Homosexuellen vorzulegen, wie Sie es im Blick auf Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes gefordert haben. Durch Art. 3 des Grundgesetzes ist bereits ein Diskriminierungsverbot vorgesehen. Auch die GRÜNEN haben bei ihrer Anfrage in meinen Augen nicht darlegen können, daß aus der sexuellen Orientierung für den betroffenen Bürger durch den Staat Nachteile entstehen.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß sich in der Bevölkerung und sicherlich auch in der Politik insgesamt schon ein großer Wandel in der Einstellung gegenüber Homosexuellen vollzogen hat, den wir nur begrüßen können.Die Bundesregierung hat auch im Zusammenhang mit der AIDS-Bekämpfung an die Bevölkerung und die Vertreter gesellschaftlicher Institutionen appelliert, jegliche Form von Diskriminierung und Ausgrenzung zu unterlassen, und hat alle politisch Verantwortlichen gebeten, die Menschenrechte zu schützen und Infektionen und überhaupt Krankheiten nicht zum Anlaß zu nehmen, Menschen zu diskriminieren, ganz gleich, welche Lebensweise und welchen Lebensstil sie pflegen oder welcher Gruppe sie angehören.Nur der Geist der Toleranz und der Humanität wird dazu führen, daß andersdenkende und anderslebende Menschen nicht mehr diffamiert werden, und hierzu können wir alle beitragen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Jahn das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Große Anfrage der GRÜNEN bei kleiner Präsenz der GRÜNEN: wenn ich es richtig sehe, drei weibliche Kollegen und ein männlicher Kollege. Der Blick auf eine andere Seite des Hauses lehrt — —
— Die Bundesregierung ist vertreten,
aber bei Großen Anfragen ist es schon richtig, daß man feststellt, wie die Präsenz ist.
Frau Oesterle-Schwerin, Sie haben in Ihrer Rede auf eine Wahlzeitung in meiner Heimatstadt Münster angespielt. Ich sage noch einmal: Sie haben recht. Dort hat es eine Wahlzeitung gegeben. Die letzte Seite dieser Wahlzeitung war mit „Sage keiner, er habe es nicht gewußt" überschrieben, und dann kamen die Originalforderungen der GRÜNEN im Kommunalwahlkampf: erstens Forderung eines Schwulen- und Lesbenreferats,
zweitens die Forderung nach Abtreibungskliniken. Und das Fazit? Die Wähler in Münster haben den GRÜNEN ihre Quittung dafür gegeben: minus 3 %.
Sie haben für Ihre Anliegen zu diesem Thema keine Mehrheit, und wo Sie das vortragen, schwinden sogar Ihre Mehrheiten. Es ist das Recht der Bürger, über Ihre Forderungen zu entscheiden. Wenn wir es für richtig halten, Ihre Forderungen noch mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu bringen, dann ist es das gute Recht, damit die Bürger auch wirklich wissen,
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12928 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär Dr. Jahnwas Sie wollen, damit sie sich ein sachgerechtes Urteil bilden können.
— Bitte schön.
Können Sie mir sagen, wieviel Prozent die CDU verloren hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die CDU hat landesweit — —
— Sie hat in Münster ebenfalls 3 % verloren; das ist richtig.
Aber im Trend lag sie 3 % besser als im allgemeinen Landesdurchschnitt.
Daß Denunziationen wegen tatsächlicher oder angeblicher sexueller Verhaltensweisen verachtenswert und zu mißbilligen sind, Frau Kollegin Oesterle-Schwerin, und dies gerade auch im Bereich der politischen Auseinandersetzungen, ist selbstverständlich. Das wird in diesem Hause auch nicht bestritten. Das kann ein Thema für eine parlamentarische Debatte sein, braucht es aber nicht zu sein.
Anlaß zu Bemerkungen bietet allerdings die Behauptung, die Sie aufstellen, in der Bundesrepublik Deutschland seien solche Denunziationen möglich, ohne daß der Staat hierauf angemessen reagiere. Die Bundesregierung weist diese Behauptung zurück; in ihrer Antwort auf die Große Anfrage ist dies auch belegt.
Das geltende Strafrecht gewährt den erforderlichen Schutz gegen sexuelle Diffamierung. Niemand ist ehrverletztenden Angriffen — das wissen Sie — nach unserer Rechtsordnung schutzlos preisgegeben. Mit welchen Themen oder Mitteln die Herabwürdigung eines anderen vorgenommen wird, spielt für die rechtliche Bewertung dabei keine Rolle. Aus diesem Grunde brauchen wir keine besonderen Rechtsvorschriften für bestimmte Bereiche, in denen Ehre und Menschenwürde gegen rechtswidrige Angriffe zu schützen sind.
Wann eine strafbare Handlung in diesem Sinne, eine Beleidigung oder gar eine Volksverhetzung
— davon sprechen Sie ja — angenommen werden kann, ist und bleibt eine Frage des Einzelfalles. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen stets unter Berücksichtigung und Würdigung aller Umstände eines konkreten Vorganges eine Entscheidung treffen. Generelle Aussagen sind hierzu einfach nicht möglich, und eine allgemeine Diskussion ist nach meinem Empfinden auch nicht sinnvoll.
Auf die beiden Vorgänge, die Ausgangspunkt der Großen Anfrage sind, möchte ich heute abend nicht näher eingehen;
Sie kennen sie. Die sich aus ihnen ergebenden Sachfragen sind an anderer Stelle — das wissen Sie ebenso — bereits ausführlich erörtert worden. Ich möchte aber festhalten, daß diese beiden Fälle keine Lücke des strafrechtlichen Ehrenschutzes aufgezeigt haben.
Im übrigen sollten wir uns davor hüten, in diesem, aber auch in anderen Fällen die Erwartungen an das Strafrecht zu überspannen; das klang heute abend mehrmals an. Der strafrechtliche Ehrenschutz ist kein Allheilmittel gegen Diffamierung und Diskriminierung. In einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft ist ein gedeihliches Miteinander nur möglich, wenn gegenüber anderen Verhaltensweisen, die sich im Rahmen des geltenden Rechts halten, Toleranz herrscht und auch Toleranz geübt wird. Toleranz also ja; aber Akzeptanz durch die Mehrheit können Sie nicht verordnen. Es ist den Bürgern im Lande, im liberalen freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, vorbehalten, ob sie etwas akzeptieren. Ich bitte diese Unterscheidung, die Herr Kollege Eylmann hier heute eingeführt hat, doch mehr in Ihr Bewußtsein zu nehmen, nämlich daß man Toleranz und Akzeptanz scharf voneinander trennen muß.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, es gibt doch einige Auffälligkeiten, die man doch zur Kenntnis nehmen muß. Wie kommt es beispielsweise, daß hier alle betonen, Schwule und Lesben sollten nicht diskriminiert werden, aber daß es so lange, wie ich hier im Bundestag bin, noch nie einen Antrag beispielsweise aus der FDP, aus der CDU/CSU oder von den Sozialdemokraten gegeben hat, in dem man sich für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzt? Wie kommt es, daß, wenn wir im Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit einmal einen Antrag behandeln, der dies zum Inhalt hat, die Emotionen hochsteigen, die Familie hochgelobt wird und jeder Angst davor hat, daß jetzt das Chaos ausbricht? Das ist doch Fakt hier im Bundestag, und darüber muß man sich auseinandersetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie geben mir Gelegenheit, noch einmal zu betonen, was ich soeben sagte: Die anderen Seiten des Hauses diffamieren andere Gemeinschaftsformen, Geschlechtsformen in keiner Weise. Das ist eben die Frage der Toleranz, die hier angesprochen worden ist. Wenn aber die anderen Seiten des Hauses eine Akzeptanz auf diesem Gebiet verneinen, haben Sie im Grunde gar keine Veranlassung, hier im Deutschen Bundestag Anträge auf diesem Gebiet einzubringen.
— Da machen Sie einen ganz großen Fehler. Dasmöchte ich abschließend sagen. Das haben wir in anderen Debatten hier mehrmals erlebt. Wenn die anderen Fraktionen dieses Hauses nach Art. 6 Grundge-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989 12929
Parl. Staatssekretär Dr. Jahnsetz Ehe und Familie besonders fördern, weil Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen,
dann tun sie das nicht nur, weil das Grundgesetz es befiehlt, sondern weil es ihre eigene Politik ist. Dann fördern sie Ehe und Familie ideell und materiell. Daraus schließen Sie dann, daß die Förderung von Ehe und Familie auf einem Gebiet gleichzeitig eine Diffamierung der anderen Lebensgemeinschaften sei. Diesem Trugschluß, der Ihnen mehrmals unterlaufen ist, sollten Sie in diesem Hause in Zukunft nicht mehr unterliegen,
denn wenn Ehe und Familie gefördert werden, wie die Verfassung es vorsieht, dann liegt in diesem Tatbestand nicht gleichzeitig eine Diskriminierung anderer Lebensformen. Das sollten wir in unserer Politik künftig immer wieder zum Ausdruck bringen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5482. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zur federführenden Beratung und an den Rechtsausschuß, den Innenausschuß und den Verteidigungsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5421 an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu überweisen. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Physiotherapie
— Drucksache 11/5418 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind dafür 30 Minuten zur Aussprache vorgesehen. — Auch damit ist das Haus einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Bundesminister Lehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenden wir uns nun zu später Stunde dem Masseur- und Krankengymnastengesetz zu. Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis einer insgesamt achtjährigen intensiven fachlichen und politischen Diskussion über die Neuordnung der Berufe in der Massage und der Krankengymnastik. Der Vorläuferentwurf konnte 1986 wegen der zu Ende gehenden Legislaturperiode parlamentarisch nicht mehr zu Ende gebracht werden. Die vor der Wiedereinbringung in der gegenwärtigen Legislaturperiode neu aufflammende Diskussion um fachliche Details wie Zugangsvoraussetzungen, Dauer und Aufbau der Ausbildung der beiden verwandten, jedoch auf traditionell unterschiedliche Tätigkeitsschwerpunkte ausgerichteten Berufe machte weitere intensive Erörterungen mit den Beteiligten, insbesondere mit den betroffenen Berufskreisen und mit den Ländern erforderlich.Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf sieht wichtige Neuordnungen für die beiden Berufe vor. Die neuen Regelungen sind im Interesse der Patienten und auch im Interesse der beteiligten Berufskreise notwendig geworden. Sie sollen den gestiegenen beruflichen Anforderungen gerecht werden und auch dem medizinischen Fortschritt Rechnung tragen.Für die Ausbildung zum Masseur und medizinischen Bademeister oder zur Masseurin und medizinischen Bademeisterin ist statt der bisher zweieinhalbjährigen Ausbildung nun eine dreijährige Ausbildung vorgesehen, die sich in einem 18monatigen Lehrgang an entsprechenden Schulen und ein 18monatiges Berufspraktikum gliedert. Dem Vorschlag des Bundesrates, entsprechend dieser Ausbildungsstruktur auch ein zweistufiges Prüfungsverfahren einzuführen, kann die Bundesregierung zustimmen.Für den Beruf des Krankengymnasten bzw. der Krankengymnastin wird die schon bisher drei Jahre dauernde Ausbildung inhaltlich wesentlich verbessert. Das bisherige berufspraktische Anerkennungsjahr wird künftig in einen einheitlichen theoretischen und praktischen Anteil umfassenden Lehrgang der Krankengymnastikschulen integriert. Er schließt mit der staatlichen Prüfung ab.Dem Anliegen einiger privater Krankengymnastikschulen, welche Übergangsschwierigkeiten bei der Integration des Praktikums in den Lehrgang befürchten, wird durch eine befristete Sonderregelung Rechnung getragen.Um den Beteiligten rechtzeitig Gelegenheit zu geben, sich auf die neue Rechtslage in beiden Berufen nach der Verabschiedung des Gesetzes einzustellen, werden bereits während des Laufs des Gesetzgebungsverfahrens die auf Grund des Gesetzes zu erlassenden Ausbildungs- und Prüfungsordnungen vorbereitet. Sie werden mit den Ländern und insbesondere mit den beteiligten Berufskreisen sorgfältig abgestimmt werden.Lassen Sie mich zu den Forderungen der Berufskreise noch einige Anmerkungen machen: Die Befürchtungen der Krankengymnasten, die Unterschiede zwischen den beiden Berufen auf dem Gebiet der Massage einerseits und der Krankengymnastik andererseits würden durch den Gesetzentwurf verwischt, treffen nicht zu. Der Gesetzentwurf unterscheidet vielmehr sorgfältig im Hinblick auf das Be-
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12930 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Bundesminister Frau Dr. Lehrrufsziel und auch die Berufsausbildung zwischen beiden Berufen. Dies bringt auch die Überschrift insbesondere in der vom Bundesrat beschlossenen klarstellenden Fassung zum Ausdruck. Dieser redaktionellen Änderung stimmt die Bundesregierung zu.Die Besorgnis, ausländische Physiotherapeuten könnten vermehrt in der Bundesrepublik Deutschland Fuß fassen, ist ebenso unbegründet. Diese Personen müssen, um hier tätig zu sein, bei gleichwertiger Ausbildung die Berufsbezeichnung Krankengymnast oder Krankengymnastin nach der von den Ländern zu erteilenden Anerkennung führen.Lassen Sie mich abschließend feststellen, daß sich die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bemüht hat, auf nationaler Ebene Bedingungen zu schaffen, die den Angehörigen der Berufe bessere Chancen bei der Anerkennung in anderen Mitgliedstaaten eröffnen. Dies wird insbesondere durch eine Anhebung der Gesamtausbildungsdauer auf den vergleichbaren europäischen Durchschnitt von drei Jahren sowie durch eine gründliche Aktualisierung der Ausbildungsinhalte erreicht.Der Bundesrat hat diese Konzeption gebilligt. Den vier zum Teil redaktionellen Änderungsvorschlägen des Bundesrates hat die Bundesregierung zugestimmt.Mit der vorgesehenen Neuordnung werden für beide Berufe gute Voraussetzungen geschaffen, um die Anforderungen der Zukunft zu erfüllen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wittich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt grundsätzlich die Tatsache, daß heute der Entwurf eines Gesetzes über die physiotherapeutischen Berufe in der Massage und in der Krankengymnastik in den geregelten Gesetzgebungsprozeß einmündet. Die gesetzlichen Regelungen aus dem Jahre 1958 sind längst überholt und bedürfen dringend der Reform. Hier gilt es, durch eine Neuregelung der medizinisch-technischen und gesundheitspolitischen Entwicklung, aber auch der berechtigten Forderung der Auszubildenden und der in diesen Berufen Tätigen nach einer breiten beruflichen Qualifizierung auf hohem Niveau Rechnung zu tragen. Das liegt nicht zuletzt und vor allem im Interesse der Menschen, die dringend der Hilfe bedürfen, z. B. der Verletzten, der Verunglückten, der Behinderten, der an Parkinson oder an multipler Sklerose Erkrankten.In diesem Zusammenhang begrüßen wir die Verlängerung der Ausbildungszeit auf drei Jahre. Dadurch erfolgt zweifelsohne eine qualitative Anhebung des bisherigen Leistungsniveaus. Aber diese Steigerung der Qualität ist nicht optimal, weil die Struktur der Ausbildung gravierende Mängel enthält. Wir vermissen die Klammer zwischen dem theoretischen und dem praktischen Teil der Massageausbildung. Durch einen sinnvoll abgestuften Lernprozeß im Wechsel von schulischer und praktischer Ausbildung, von Schule und Klinik, könnte diesem Defizit begegnet und die enge Verzahnung von Theorie und Praxis herbeigeführt werden. Den Auszubildenden muß die Chance gegeben werden, das einmal erlangte Wissen in der Praxis anzuwenden, zum anderen aber auch, praktische Erfahrung als Motivation in den theoretischen Unterricht einzubringen. Nur unter dieser Bedingung ist optimales Lernen möglich.Noch eine Anmerkung zur Prüfung in Verbindung mit der Ausbildung zur Masseurin und zum Masseur. Die Plazierung der Prüfung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Teil macht einfach keinen Sinn. Sie führt geradewegs zur Abwertung des Praktikums. In diesem Zusammenhang hat die Bundesregierung richtigerweise ihre Bereitschaft erklärt, die Vorschläge des Bundesrates bei der Überarbeitung des Entwurfs zu berücksichtigen.Daß das Praktikum bei der Ausbildung zum Beruf der Krankengymnastin und des Krankengymnasten jetzt Bestandteil des Lehrgangs ist, findet unsere Zustimmung. Das entspricht einer zentralen Forderung der Sozialdemokraten. Integration kann aber nicht bedeuten, daß das Praktikum lediglich angehängt wird. Integration von Theorie und Praxis heißt für uns: ständiger Wechsel von theoretischer und praktischer Ausbildung als durchgängiges Prinzip. Nur das macht Sinn. Gerade diesen wichtigen Grundsatz vermissen wir an Ihrem Entwurf.Für uns inakzeptabel ist in Verbindung mit der Eingliederung des Praktikums in den Lehrgang die Tatsache, daß mit diesem Schritt der Wegfall der Praktikantenvergütung verbunden und die Auszubildenden durch Schulgeldzahlung in unerträglicher Weise finanziell belastet werden. Auf diesen Skandal komme ich später noch einmal zu sprechen.
Im Zuge des weiteren Beratungsverfahrens werden wir die Frage restlos klären müssen, ob dieser Entwurf den Kriterien der EG-Richtlinie vom Dezember 1988 entspricht. In unseren europäischen Nachbarländern ist in der Regel das Abitur Zugangsvoraussetzung für die berufliche Ausbildung, die zudem an einer Hochschule bzw. Fachhochschule absolviert werden muß. Angesichts dieser unterschiedlichen Entwicklung bezüglich des Ausbildungsniveaus zu diesem Beruf — in den EG-Ländern gibt es nur den Beruf des Physiotherapeuten — ist zu befürchten, daß die deutschen Masseurinnen und Masseure als Physiotherapeuten den Sprung in den gemeinsamen Markt nicht schaffen.
Deshalb sind wir in die Pflicht genommen, die Voraussetzungen dafür zu erarbeiten, daß die berufliche Mobilität und die Freizügigkeit für die deutschen Masseurinnen und Masseure in Europa nicht in Frage gestellt werden. Daher bedarf es einer Sonderregelung. Diese Regelung führt meines Erachtens nur dann zum Erfolg, wenn sie von der Bundesregierung aktiv und engagiert betrieben wird und die beiden in der Bundesrepublik gesetzlich geregelten Berufe wenigstens gleiche Zugangsvoraussetzungen aufweisen.
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WittichIn diesem Zusammenhang sollten wir uns für eine Lösung stark machen, die sicherstellt, daß Hauptschüler von diesem Berufsweg nicht ausgeschlossen werden und unseren blinden Mitbürgerinnen und Mitbürgern weiterhin die Möglichkeit erhalten, diesen Beruf auszuüben, in dem sie schon bislang Hervorragendes geleistet haben.
Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Entwicklungen in den europäischen Ländern werden wir uns auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die gravierenden Unterschiede bezüglich der Struktur der beiden Berufe gerechtfertigt sind oder ob es der Sache angemessen ist, die Ausbildungsgänge unter Beibehaltung der historisch gewachsenen Schwerpunkte stärker anzugleichen. Hier werden wir die Ergebnisse der Anhörung in unsere Meinungsbildung einzubeziehen haben. Das gilt auch für unsere abschließende Bewertung der Ausbildungsziele, wie sie in den §§ 3 und 8 beschrieben sind.Der vorliegende Entwurf ordnet den Auszubildenden den Status des Schülers zu. Dieser Sozialstatus schließt die arbeitsrechtliche und soziale Absicherung der Teilnehmer aus und ist mit erheblichen Nachteilen für die Auszubildenden verbunden. Wir dürfen es einfach nicht länger hinnehmen, daß junge Menschen, die bereit sind, durch ihre Berufsentscheidung eine wichtige gesundheitspolitische Leistung für die Gesellschaft zu erbringen, zur Kasse gebeten werden. Wir dürfen nicht akzeptieren, daß in einer Zeit, in der Spitzenverdiener im Gesundheitswesen immense Gewinne erwirtschaften, künftige Krankengymnastinnen und Krankengymnasten 18 Millionen DM zusätzlich für ihre Ausbildung aufwenden müssen, weil das Praktikantenentgelt entfällt.
Wir halten es für einen Skandal, daß in einem Gesetz, das eine qualifizierte Berufsausbildung regeln soll, heute noch die Möglichkeit festgeschrieben wird, Schulgeld zu verlangen. Schulgeldzahlung heißt Auslese. Diese Auslese geht eindeutig zu Lasten der Jugendlichen aus der Arbeitnehmerschaft und aus dem Kreise einfacher Leute.
Selbstverständnis und Tradition unserer Partei nehmen uns in die Pflicht, für eine Ausbildung zu kämpfen, die allen Jugendlichen, gleich welcher Herkunft, gleiche Bildungschancen eröffnet.
Deshalb fordern wir, die soziale und rechtliche Absicherung der Auszubildenden durch die Anwendung des Berufsbildungsgesetzes zu verwirklichen.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt den Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung ab, weil er die Entwicklung in den EG-Ländern nicht berücksichtigt, gravierende Mängel in der Struktur der Ausbildung enthält und weil er die Auszubildenden sozial und rechtlich nicht absichert.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich habe mir gerade überlegt, daß, wenn man bei uns hier während der Sitzungswoche die 35-Stunden-Woche im Bundestag einführen würde, wir dann unter Umständen nach zwei Tagen nicht mehr wüßten, was wir tun sollten, da wir hier noch um 22 Uhr hocken, um dieses Gesetz zu beraten.Die Ziele, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbunden werden, hat Frau Ministerin Lehr bereits ausführlich dargestellt. Um Ihnen und mir Wiederholungen zu ersparen, aber auch, weil die heutige Debatte zweifellos die ungeteilte Aufmerksamkeit der betroffenen Berufsangehörigen finden wird, möchte ich im folgenden auf die Knackpunkte eingehen, die uns im Gesetzgebungsverfahren noch intensiv beschäftigen werden.Bereits der Titel des Gesetzes ist von den Krankengymnasten in einer umfänglichen Briefaktion massiv angegriffen worden. Das Argument, daß die Physiotherapie den Krankengymnasten vorbehalten sei und die physikalische Therapie das Tätigkeitsfeld der Masseure beschreibe und deshalb eine begriffliche Differenzierung erfolgen müsse, hat auf den ersten Blick einiges für sich. Würden wir uns mit diesem Gesetz ausschließlich auf die Belange beider Berufsgruppen innerhalb der Bundesrepublik konzentrieren, könnte ich dem Anliegen der Krankengymnasten durchaus zustimmen. Angesichts der Situation in der EG ist dies jedoch nicht möglich; denn wir müssen aufpassen, daß wir mit dem Gesetz nicht sozusagen zwangsläufig Wettbewerbsnachteile für die deutschen Masseure in der EG schaffen.Weitere Bedenken wurden gegen die Vorschriften in den §§ 3 und 8 des Entwurfs vorgetragen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung stellt man fest, daß sich die Tätigkeitsfelder nicht nur ähneln, sondern daß sie sich zu einem erheblichen Teil überschneiden. Das wäre weiter nicht tragisch, wenn wir zu einer Vereinheitlichung beider Berufe kommen wollten. Aber dies ist von uns nicht geplant — wie ich meine, aus guten Gründen: Die Berufe der Masseure und Medizinischen Bademeister einerseits und der Krankengymnasten andererseits haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr auseinanderentwickelt. Hierfür sind die veränderten Lebensgewohnheiten mit den daraus resultierenden veränderten Krankheitsbildern in unserer Gesellschaft ebenso verantwortlich wie der medizinische Fortschritt.An beide Berufe sind heute andere Anforderungen zu stellen als noch vor 20 oder 25 Jahren. Daher halten wir es für wichtig, die Anforderungen und Ausbildungsqualifikation innerhalb jeder Berufsgruppe zu erhöhen und damit der beschriebenen gesellschaftlichen und medizinischen Entwicklung Rechnung zu tragen. Ich bin auch überzeugt, daß sowohl die Masseure als auch die Krankengymnasten in ihren jeweiligen Berufen segensreich wirken.Das Fazit daraus: Wir werden im Gesetzgebungsverfahren prüfen, ob wir die Ausbildungs- und Tätigkeitsmerkmale — mehr als dies im Entwurf bisher geschehen ist — entzerren können. Ich will, daß so-
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Frau Würfelwohl die Masseure als auch die Krankengymnasten ihren Beruf qualifizierter ausgebildet als bisher ausüben können.Ein weiterer Aspekt bedarf der Klärung: Ich bin von mehreren Seiten darauf angesprochen worden, daß die Masseure eine Verlängerung des Lehrgangs auf insgesamt zwei Jahre wünschen. Unter der Voraussetzung, daß damit nicht der Versuch verbunden ist, Tätigkeitsfelder, in denen Krankengymnasten heute arbeiten, an sich zu ziehen, stehe ich diesem Ansinnen grundsätzlich positiv gegenüber.Allerdings bin ich auch darauf hingewiesen worden, daß die Ausbildungsstätten keinesfalls in der Lage seien, eine doppelt so lange Lehrgangsdauer wie bisher personell, finanziell und organisatorisch zu verkraften. Ich gehe davon aus, daß wir im Beratungsverfahren hierüber noch weitere Klarheit gewinnen können.Meine Damen und Herren, die Eingangsvoraussetzungen für die Ausbildung werfen zweifellos die schwierigsten Fragen auf. Und dies nicht etwa deshalb, weil sich die Gesundheitspolitiker scheuen würden, der tatsächlichen Entwicklung an den Masseur-und Krankengymnastikschulen Rechnung zu tragen. Dort weist die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler weitaus höhere Qualifikationen auf, als in dem Gesetzentwurf gefordert wird. Vielmehr liegen die Schwierigkeiten, die wir an dieser Stelle zu lösen haben, in der Abstimmung mit den Bildungspolitikern.Die Ausbildungsvoraussetzungen der nicht akademischen Gesundheitsberufe sind nach einem schlüssigen Konzept geregelt. Die Einhaltung dieses Konzepts ist durchaus ein Wert an sich. Andererseits zwingt uns die EG, darüber nachzudenken, ob nicht eine höhere Schulbildung als Voraussetzung sinnvoll ist, wenn wir wiederum Wettbewerbsnachteile der deutschen Berufsangehörigen in der EG vermeiden wollen. Auch hierzu erhoffe ich mir im parlamentarischen Beratungsverfahren weitere Informationen, um sachgerecht entscheiden zu können.Die Integration des ehemaligen Praktikums bei den Krankengymnasten in die Gesamtausbildung ist für mich unverzichtbar, um diese Berufsgruppe höher zu qualifizieren. Die Sorgen, die die privaten Schulen damit verbinden, verstehe ich durchaus. Angesichts der Zwänge, die die EG uns auferlegt, aber auch angesichts der bereits beschriebenen Entwicklung in der Medizin — zusammen mit der Länge der Übergangsfristen — halte ich die vorgeschlagene Regelung für sachgerecht. Um es deutlich zu sagen: Ich bin weder bereit, einer nochmaligen Verlängerung der Übergangsfristen zuzustimmen, noch dazu, den Gesetzentwurf an dieser Frage scheitern zu lassen.Liebe Kollegen, ich wünsche mir, daß wir bei diesem Gesetz im Ausschuß zu dem gleichen Einvernehmen kommen wie bei dem Orthoptisten-Gesetz. Im Interesse der Schülerinnen und Schüler würde ich dies sehr begrüßen und versichere Ihnen, daß ich mich darum bemühen will.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schoppe.
Meine Damen und Herren! Ich springe für meine Kollegin Frau Wilms-Kegel ein, die heute abend nicht kommen kann, und trage hier vor: Schon 1988 sagte das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit den GRÜNEN in Beantwortung einer Kleinen Anfrage zu, einen Gesetzentwurf über Berufe in der Massage und in der Krankengymnastik, noch im selben Jahr den gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten. Über ein Jahr hat seither vergehen müssen, bis wir uns heute — unserer Meinung nach viel zu spät — an dieser Stelle mit dem Gesetz auseinandersetzen.Die GRÜNEN befürworten grundsätzlich eine Novellierung der Berufe in der Physiotherapie. Wie Sie wissen, fordern wir für alle Heilberufe eine dreijährige Ausbildung, eine engere Verzahnung von Theorie und Praxis, eine Integration des dritten Ausbildungsjahres in den schulischen Ausbildungsgang und grundsätzlich den Wegfall von Schulgeldzahlungen. Wenn die eben angesprochene Zeitspanne wirklich ausreichende qualitative Verbesserungen des Berufsgesetzes in dieser Richtung erbracht hätte, wäre die Zeit sinnvoll genutzt worden. Was wir heute zu beraten haben, reiht sich allerdings in großen Zügen in die Serie politischer Halbwahrheiten dieser Regierungskoalition ein.
Außerordentlich unbefriedigend bleiben auch die Aussagen, die sich auf die Trennung der einzelnen Berufsbereiche beziehen. Hier wird in dem Entwurf keine klare Linie vertreten, was nur beweist, daß innerhalb der Koalition selbst keine klare Linie zu finden ist. Auf der einen Seite soll eine Trennung beibehalten werden, damit die Berufsgruppen ihre jeweiligen Interessen vertreten sehen. Auf der anderen Seite werden die Berufsgruppen durch Titelzusätze vereinheitlicht und schon durch die Überschrift „Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie " eine integrative Ausbildung von Masseuren und Krankengymnasten vorgetäuscht.Auf der einen Seite finden sich für beide Berufsgruppen separate Ausbildungsziele, auf der anderen Seite unterscheiden sich diese Ziele in so geringem und unwesentlichem Ausmaß, daß sie ohne Schwierigkeiten austauschbar sind. Wenn schon eine Trennung beibehalten werden soll, so muß die Bundesregierung eine klare Differenzierung vornehmen. Es darf aber nicht Sinn einer Überschrift oder auswechselbarer Ziele sein, Tatsachen zu verschleiern oder den EG-Mitgliedstaaten ein falsches Bild zu liefern.In keinem anderen Land der Europäischen Gemeinschaft gibt es die Zweiteilung der Berufe in den Masseur und Medizinischen Bademeister einerseits und die Krankengymnasten andererseits. Diese Trennung erscheint uns künstlich und willkürlich. Deshalb sprechen wir GRÜNEN uns gegen eine solche Trennung aus und fordern eine integrierte Ausbildung und konsequente Vereinheitlichung der Berufe.Im Hinblick auf den Gemeinsamen Markt gehören dazu auch Zugangsvoraussetzungen europäischen Zuschnitts. Eine nur zehnjährige schulische Ausbil-
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Frau Schoppedung vor der beruflichen Ausgangsbildung entspricht den EG-Rahmenbedingungen eben nicht. Die Mehrzahl unserer Nachbarn verlangt den Nachweis einer mindestens zwölfjährigen Schulausbildung.Ohne Veränderungen können der europäische Standard und das Berufsbild im europäischen Ausland von deutschen Physiotherapeuten nicht erreicht werden. Wir GRÜNEN beziehen ganz eindeutig Stellung: Wir wollen EG-Einheitlichkeit. Wir wollen ein einheitliches Berufsbild des Physiotherapeuten und keine willkürliche Trennung.Diese Ziele können mit dem vorliegenden Gesetzentwurf jedoch nicht erreicht werden. Im Gegenteil: Mit diesem Gesetzentwurf wird eine Sonderregelung für die Bundesrepublik festgeschrieben.Meine Damen und Herren, ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kossendey.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf begrüßen, weil wir damit endlich eine Anpassung der Ausbildung an die Fortschritte im Bereich der Physiotherapie vornehmen können.Meine Vorredner haben bereits viele Probleme angesprochen. Das Wiederholen erübrigt sich. Ich will auf ein paar Dinge eingehen, die mir am Herzen liegen und die nicht so deutlich genannt worden sind.Ich glaube, wir sollten in der Anhörung noch einmal genau prüfen, ob wir auch wirklich alles getan haben, um nicht die Zukunft der privaten Schulen für Krankengymnasten zu gefährden, die ja immerhin 50 % der Krankengymnasten ausbilden.
— Ich halte es für gut, daß auch die SPD zustimmt. Hoffentlich helfen Sie uns dann im Zweifelsfall.Ich glaube, ein zweiter Punkt ist mindestens genauso wichtig. Das ist die Frage, die von allen angesprochen worden ist und die ich mit EG-Verträglichkeit überschreiben will. Wer heute Berufsbilder neu normiert, ist es denjenigen, die in diesen Berufen tätig sind, schuldig, daß wir alle Vorsorge dafür treffen, daß EG-weit die Anerkennung der von uns neu normierten Berufsbilder gewährleistet ist. Nach meiner festen Auffassung ist es so, daß die Masseure, wenn wir dieses Gesetz verabschieden, im Augenblick keine Chance hätten, auf dem EG-Markt, europaweit arbeiten zu können.Nun sollten wir uns allerdings auch nicht dem Irrtum hingeben, daß wir durch eine Anhebung der Eingangsvoraussetzungen alle Probleme aus der Welt schaffen. Ich sehe zwar, daß einiges in dem Bereich zu tun ist. Aber ich warne auch vor der Vorstellung, daß eine erhöhte Eingangsvoraussetzung — Frau Schoppe sprach soeben von zwölf Jahren Schulausbildung — die Probleme heilen könnte. Wir sollten auch einmal einen Augenblick Gedanken darauf verschwenden,was eigentlich ein Hauptschüler in unserer Nation an Berufen noch ergreifen soll, wenn wir überall gezwungen sind, die Eingangsvoraussetzungen nach oben zu setzen.
Ich will ganz deutlich sagen, daß zwei Punkte im Rahmen der EG-Verträglichkeit noch genauer zu überprüfen sind. Zum einen geht es um den vorgesehenen Lehrgang von 18 Monaten nach § 4. Da sollten wir den Gedanken aufgreifen, den auch Frau Würfel angedacht hat, ob wir da nicht mit zwei Jahren besser beraten sind. Zum anderen geht es — ich sagte es schon — um die Frage der Eingangsvoraussetzungen. Es darf nicht der Eindruck entstehen — das sage ich an beide Berufsgruppen, an die Krankengymnasten wie an die Masseure — , daß wir die Krankengymnasten gern europäisiert sehen wollen, während wir die Masseure sozusagen auf das Reservat Bundesrepublik beschränken.Ich will noch ein paar Anmerkungen zu dem machen, was Herr Wittich gesagt hat. Herr Wittich hat die engere Verzahnung zwischen Praxis und Theorie zur Sprache gebracht. Das werden wir im Rahmen der Ausbildungsverordnung klären. Wir werden im Ausschuß — hoffentlich gemeinsam — dafür Sorge tragen, daß diese Ausbildungsverordnung uns parallel zu den Beratungen des Gesetzentwurfs vorgetragen wird, damit wir nicht hinterher Überraschungen erleben, die wir nicht gern möchten.Zur Frage der Schulgeldfreiheit nur eine Bernerkung. Das ist eine Angelegenheit der Länder. Da könnten die sich immer sehr sozial gerierenden SPD-Länder natürlich Beispiele und Signale setzen. Ich würde das begrüßen. Aber das sollten wir dann gemeinsam auf Bundesebene machen.Die Frage der Blinden — die Sie hier erwähnt haben —, die den Beruf des Masseurs weiter ausüben können sollten, ist in dem Gesetzentwurf wohl ziemlich eindeutig geregelt. Wir müssen im Ausschußverfahren darauf achten, daß das darin bleibt. Auch ich halte das für etwas ganz Wichtiges.Was das andere betrifft, das Sie erwähnt haben, sind wir zum Teil einer Meinung, zum Teil werden wir darüber im Ausschuß sicher unterschiedlich abstimmen.Ich bitte Sie, die Chancen, die in der Anhörung am 6. Dezember enthalten sind, zu nutzen und dort alle Probleme, die wir hier angesprochen haben, noch einmal zu überprüfen.Ich meine, wenn wir uns bei diesem Verfahren beeilen, werden wir den Krankengymnasten und den Masseuren hoffentlich ein Berufsbild bescheren, das beiden Gruppen eine europaweite Anerkennung sichert und für die Versorgung der Patienten, die das bitter nötig haben, einen Fortschritt bringt.Ich bedanke mich und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
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12934 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 11/5418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Stratmann, Frau Saibold, Hoss und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Umweltbeauftragte und Umweltberichterstattung in Unternehmen
— Drucksache 11/5362 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Im Ältestenrat ist für die Beratung eine Redezeit von je zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Also angesichts dieser parlamentarischen Freundlichkeit beginne ich meine Rede diesmal mit: Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger!
Die Tatsache, daß der Entwurf unseres Gesetzes über Umweltbeauftragte und Umweltberichterstattung zu nächtlicher Stunde seine erste Lesung erfährt, steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dessen politischer Bedeutung. Darauf möchte ich nur hinweisen. Herr Kollege Bohl, ich gehe davon aus, daß, dieser Tatsache Rechnung tragend, die zweite und die dritte Lesung zu morgendlicher Stunde an einem Donnerstag oder Freitag stattfinden wird — in Übereinstimmung — .Wir GRÜNEN haben diesen Entwurf eines Gesetzes über Umweltbeauftragte und Umweltberichterstattung in Unternehmen eingebracht. Wir wollen damit einen weiteren Baustein für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft setzen, insbesondere neben unseren Konzepten und auch parlamentarischen Anträgen zum Thema „Umweltsteuern und Umweltabgaben" . Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf auch politisches Neuland betreten, nämlich die ökologische Orientierung und das Umweltinteresse im Unternehmensrecht und in der Unternehmensverfassung selbst verankern.
Wir haben uns zu diesem Gesetzentwurf entschlossen, weil das Hauptfeld bisheriger Umweltpolitik, nämlich Umweltpolitik auf dem Weg über staatliche Intervention, also Gebote, Verbote, Auflagen, zwar unbestritten notwendig ist — darüber brauchen wir nicht zu streiten — , aber angesichts fortschreitender Umweltbelastungen aus Unternehmen heraus offenkundig an Grenzen stößt. Das hängt damit zusammen, daß sich angesichts des brutalen Vollzugsdefizits in der Unternehmenspolitik gegenüber staatlichen Vorgaben zeigt, daß sowohl auf der Ebene der staatlichen Vorsorge zum Abbau der Vollzugsdefizite Erhebliches getan werden muß, daß wir aber auch schon vor der staatlichen Intervention ansetzen müssen, nämlich in der Unternehmenspolitik selbst, und schon bei der Formulierung von Unternehmenspolitik den Umweltschutz ansiedeln müssen.
Aus diesem Grunde versuchen wir, mit Hilfe unseres Gesetzentwurfes drei Elemente in Unternehmen zu institutionalisieren, erstens einen Umweltbeauftragten oder eine Umweltbeauftragte einzurichten, zweitens Umweltausschüsse in den Unternehmen einzurichten und drittens eine jährliche Umweltberichterstattung zu etablieren.Ich möchte kurz etwas zur Vorgeschichte dieses Gesetzentwurfs sagen, weil wir damit auch politisches Neuland betreten haben. Ich glaube, es ist das erste Mal, daß GRÜNE einen ökologisch orientierten Gesetzentwurf eingebracht und damit auf die politische Initiative einer Gewerkschaft, in diesem Fall der IG Metall, reagiert haben. Die IG Metall hat im Januar 1988 ihren Zukunftskongreß zum Thema „Mit uns für sinnvolle Arbeit und bessere Umwelt" in Frankfurt abgehalten, auch unter Beteiligung von GRÜNEN. Als ein Ergebnis dieses Zukunftskongresses hat sie ein Positionspapier zum Thema „Umweltschutz im Betrieb" vorgelegt, und dieses Positionspapier hat in wesentlichen Grundlinien bei der Ausformulierung unseres Gesetzentwurfs Pate gestanden. Ich möchte das ausdrücklich hervorheben.Während sonstige Umweltaktivitäten von GRÜNEN oft in scharfer Auseinandersetzung auch mit gewerkschaftlichen Interessen und Gewerkschaftspolitik formuliert und auch durchgesetzt werden, ist das hier genau umgekehrt gewesen: GRÜNE reagieren auf politische, auf ökologische Initiativen der IG Metall. Wir haben dann auch bei der Ausformulierung des Gesetzentwurfs in sehr enger Beratung mit der entsprechenden Bundesvorstandsreferentin der IG Metall gestanden und in bezug auf weiteste Bereiche unseres Gesetzentwurfs Konsens erreicht.Ich möchte ebenfalls betonen — das ist auch Neuland, bei uns allerdings unumstritten — : Wir haben bei der Ausformulierung des Gesetzentwurfs ebenfalls Fachleute, in diesem Fall Fachfrauen, der Unternehmerarbeitsgruppe „Future" — das ist eine Arbeitsgruppe zur Förderung des Umweltschutzes in Unternehmen — herangezogen.
Diese Arbeitsgruppe ist Teil des BundesverbandesJunger Unternehmer. Ich möchte das sagen, um deut-
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Stratmannlich zu machen: Wir GRÜNEN haben bei der Formulierung unserer Politik nicht die geringsten Hemmungen, sowohl mit kooperationsbereiten und ökologisch aufgeschlossenen Unternehmergruppen als auch mit Gewerkschaften zu kooperieren. Ich betone, das ist in dieser Kontinuität für uns Neuland.
— Ich spreche doch gerade von uns, Herr Vahlberg. Das Ergebnis spricht für sich.Ich möchte im einzelnen die wesentlichen Punkte unseres Gesetzentwurfs darstellen. Der Umweltbeauftragte bzw. die Umweltbeauftragte soll in allen Unternehmen eingeführt werden, die Umwelteinwirkung zeitigen, also unabhängig von der Größe. Von interessierter Seite wird darauf hingewiesen, daß solche Vorkehrungen nur in großen Unternehmen getroffen werden sollten. Aber wenn wir uns Unternehmen auf ihre Umweltbelastung hin anschauen, zeigt sich, daß selbst Unternehmen mit beispielsweise fünf Beschäftigten im Gentechnologiebereich, im Abwasserbereich — oder in welchem Bereich auch immer — ihrem Produktionsumfang entsprechend, mindestens genauso die Umwelt belasten können wie Großunternehmen. Deswegen ist es dringend erforderlich, wenn man an Umweltschutz im Unternehmen denkt, den Beauftragten unabhängig von der Größe des Unternehmens zu etablieren.Wir mußten uns ebenfalls damit auseinandersetzen, daß es ja schon nach drei Fachgesetzen — Bundes-Immissionsschutzgesetz, Wasserhaushaltsgesetz und Abfallbeseitigungsgesetz — die sogenannten Betriebsbeauftragten für Umweltschutz in den Unternehmen gibt. Die Erfahrung zeigt allerdings, daß diese Betriebsbeauftragten auf Grund der Konstruktion, daß sie nämlich von den Vorständen der Unternehmen eingesetzt werden, also ihre Tätigkeit in Abhängigkeit von den Unternehmen wahrnehmen, zwangsläufig in einen Interessenkonflikt zwischen ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Tätigkeit und ihrer Abhängigkeit zum Unternehmen geraten. In der Regel stellen sie im Konfliktfall den Umweltschutz hinter das Unternehmensinteresse. Aus diesem Grunde war es notwendig, den Umweltbeauftragten bzw. die Umweltbeauftragte völlig unabhängig vom Unternehmen einzusetzen, d. h. sowohl unabhängig vom Kapital als auch von der Arbeit. Wir haben ganz bewußt die Einsetzung und Berufung der Umweltbeauftragten aus den Mitbestimmungsrechten der Belegschaft herausgehalten, weil wir in diesen Fragen eine ausgesprochene Skepsis gegenüber der ökologischen Verantwortung von Belegschaften haben.Deswegen soll nach unserer Auffassung der/die Umweltbeauftragte von der Landesbehörde eingesetzt werden, die nach dem jeweiligen Landesrecht für die Gewerbeaufsicht zuständig ist. Das Verhältnis von Umweltbeauftragten und Betriebsbeauftragten soll so aussehen, daß der/die Umweltbeauftragte dann die Koordinationsinstanz für die verschiedenen Betriebsbeauftragten ist und Leitungsfunktion hat.Ich merke, die Zeit läuft mir davon.
Die Aufgaben des Umweltbeauftragten liegen in folgendem: Er hat erstens die Einhaltung der staatlichen Umweltschutzvorschriften in der Unternehmenspolitik zu kontrollieren. Er hat zweitens auf eigene Initiative hin Umweltverträglichkeitsprüfungen anzuordnen und durchzuführen. Er hat schließlich Vorschlags-, Beratungs- und Mitwirkungsrechte bei der Formulierung und Durchführung der Unternehmenspolitik, soweit sie von Umweltrelevanz ist.
Dazu wird der/die Umweltbeauftragte auf Vorstandsebene angesiedelt, hat also Zugang zu allen Vorstandssitzungen, ohne allerdings
Mitbestimungs- und Abstimmungsrechte im Vorstand zu haben.
— Selbstverständlich hat er Antragsrecht.
Schließlich hat der/die Umweltbeauftragte die Pflicht, einen jährlichen Umweltbericht über die Einhaltung bzw. Nichteinhaltung von Umweltschutzvorschriften im Unternehmen zu erstellen. Er hat Informationspflichten über seinen Tätigkeitsbereich gegenüber der Behörde, dem Betriebsrat und den Betriebsangehörigen.Die Bestellung des/der Umweltbeauftragten erfolgt durch die Landesbehörde. Das habe ich bereits dargestellt. Vorschlagsberechtigt sind allerdings alle Betriebsangehörigen und — das ist auch eine Neuigkeit — Gewerkschaften und Umweltverbände, d. h. externe gesellschaftliche Gruppen, die für Umweltschutz Verantwortung tragen.
— Herr Bohl, die Qualität Ihrer Zwischenrufe zeigt Ihr Interesse und Ihre Verantwortung für diesen Politikbereich. Das zeigt sich deutlich.
Ich hoffe, daß Sie diesen Fehler wiedergutmachen — das wird mir ja von der Redezeit abgezogen, wenn ich auf solche unqualifizierten Zwischenrufe eingehen muß — , indem Sie dafür Sorge tragen, daß die zweite und dritte Lesung am frühen Morgen stattfindet.Die Vergütung und die Arbeitsausstattung der Umweltbeauftragten erfolgen auf Kosten der Unternehmen, also nicht auf Kosten des Staates. Wir wissen, daß dies erhebliche Kosten verursacht, wenn auch ein erheblicher personeller Stab zur Unterstützung der Tätigkeit der Umweltbeauftragten finanziert werden muß. Die finanziellen Aufwendungen sind ebenfalls sehr hoch, wenn wir an die notwendige instrumentelle Ausstattung der Umweltbeauftragten denken, z. B. an einen Umweltbeauftragtenstab zur Kontrolle von Großunternehmen wie Hoechst, Bayer oder anderen.Ich möchte noch kurz etwas zu dem jährlichen Umweltbericht sagen: Der Umweltbeauftragte hat auf der einen Seite die Pflicht, jährlich einen Bericht über die
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12936 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
StratmannEinhaltung bzw. Nichteinhaltung der Umweltschutzvorschriften im Unternehmen zu veröffentlichen. Das Unternehmen ist allerdings auch selbst verpflichtet, eine jährliche Ökobilanz über die Stoff- und Energiebilanzen zu erstellen,
verbunden mit Produktionsverfahrensvorschlägen zur Unterschreitung von staatlich festgesetzten Geboten, Auflagen oder Grenzwerten.Da meine Redezeit abgelaufen ist, danke ich Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lattmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, zusätzlich zu dem bereits vorhandenen Betriebsbeauftragten für Immissionsschutz, dem geplanten Störfallbeauftragten, dem Betriebsbeauftragten für Abfall und dem Betriebsbeauftragten für Gewässerschutz einen zusätzlichen Umweltbeauftragten einzuführen. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zur BlmschG-Novelle einen zumindest verbal ähnlichen Vorschlag gemacht, und zwar unter der Bezeichnung Umweltbevollmächtigter. Mit dieser Konstruktion sollte und soll wohl auch hier dem bereits vorhandenen bzw. geplanten Beauftragten so etwas wie ein Oberbeauftragter aufgepfropft werden.Nun ist es gar keine Frage: Unsere Unternehmen sind in ihrer Gesamtheit eine beachtliche Quelle von Umwelteinflüssen der unterschiedlichsten Art. Deshalb ist es logisch und richtig, ökologische Überlegungen hier zu konzentrieren. Dies wird im übrigen inzwischen auch von der Mehrzahl der Unternehmen in Deutschland so gesehen. Neben unverändert bestehenden und nicht zu bestreitenden Mängeln kann die Wirtschaft dabei allerdings auf eine zunehmende Zahl von Erfolgen im Umweltbereich hinweisen, die oft nicht oder zumindest nicht nur auf staatliche Initiativen und Vorschriften, sondern zunehmend auch auf freiwillige Leistungen zurückzuführen sind.Dies ist eine Entwicklung, die verstärkt werden muß. Sie wurde auch deshalb möglich, weil die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ausgesprochen positiv verläuft und dadurch der Spielraum für strukturelle Veränderungen in Richtung einer besseren Umweltverträglichkeit geschaffen wurde.Diese Entwicklung gilt es auszubauen. Mit anderen Worten: Neben in manchen Bereichen notwendigen staatlichen Vorgaben, die sich unserer Ansicht nach allerdings auf ein unverzichtbares Mindestmaß beschränken sollten, muß das Eigeninteresse der Wirtschaft zu umweltgerechtem Verhalten weiter verstärkt bzw., wo nötig, geweckt werden.
— Seien Sie nicht ungeduldig, Herr Stratmann; ich komme gleich darauf.Je besser es uns gelingt, Umweltbelange zu einem kostenrelevanten Produktionsfaktor zu machen, destostärker wird die in den Unternehmen vorhandene Kreativität in diese Richtung mobilisiert. Dies ist ein erheblich erfolgversprechenderer Vorschlag als reglementierende Eingriffe des Staates, die selten zu den gewünschten Ergebnissen, dafür fast immer aber zu überflüssiger Bürokratie führen.Der vorliegende Antrag — Herr Stratmann hat dies ja deutlich gemacht — zielt in eine andere Richtung. Er geht davon aus, daß die Umweltbeauftragten von einer unternehmensfremden Institution ernannt werden. Dies ist neben allen anderen kritischen Punkten, die dazu anzumerken sind, keine besonders gute Grundlage für eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Eine zusätzliche Motivation der Unternehmensleitung und der Mitarbeiter, mehr für den Umweltschutz zu tun, ist dadurch kaum zu erreichen, im Gegenteil: Es ist eher zu befürchten, daß eine derartige Institution zu einer Aufsplitterung der Aktivitäten und zu einem Gegeneinander führt. Die entscheidende Zielsetzung, Umweltschutz zu einem integrierten Bestandteil der gesamten Unternehmensstrategie zu machen, wird dadurch zumindest gefährdet.
Nach dem Text des Gesetzentwurfes und auch nach dem, was Sie hier eben ausgeführt haben, Herr Stratmann, ist mein Eindruck im übrigen, daß es bei diesem Gesetz weniger oder nicht nur um die Durchsetzung von Umweltbelangen geht, sondern vielmehr um den erneuten Versuch, den Einfluß staatlicher Bereiche auf den privaten Sektor zu verstärken. Daß Sie dabei die Unterstützung von IG Metall und anderen finden,
ist völlig klar. Unsere Absicht ist dies allerdings nicht. Wir wollen genau das Gegenteil.Natürlich müssen die Unternehmen — daran kann es keinen Zweifel geben — die umweltrechtlichen Vorschriften einhalten. Dies muß auch überwacht werden. Aber dazu gibt es andere außerbetriebliche Institutionen. Innerbetrieblich sollten wir die Einrichtung des bereits genannten Betriebsbeauftragten nutzen und, soweit erforderlich, fortentwickeln. Dadurch wird die volle Verantwortung der Unternehmensleitung auch für den Umweltbereich aufrechterhalten. Das Unternehmen kann sich dann nicht mehr hinter einem ferngesteuerten Umweltbeauftragten verstekken, sondern ist selbst unmittelbar verantwortlich. Dies dient gleichermaßen dem Umweltschutz wie der Erhaltung anpassungsfähiger und leistungsfähiger Unternehmen.Abzulehnen ist aus den gleichen Gründen auch die Übertragung einer Garantenstellung für die Einhaltung der Genehmigungsbedingungen auf die Beauftragten. Dies entspricht auch einem Vorschlag des Bundesrates. Die Betreiberpflichten sollten weiterhin der Unternehmensleitung obliegen.Nach dem vorliegenden Entwurf sollen dem Umweltbeauftragten — Sie haben das ausgeführt — öffentlich-rechtliche Pflichten übertragen werden. Einem ähnlichen Vorschlag des Bundesrates hat die
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LattmannBundesregierung begründet widersprochen. Ich muß deshalb nicht näher darauf eingehen.Im § 11 wird, wie Sie hier auch beschrieben haben, ein Umweltbericht gefordert. Bereits nach geltendem Recht haben die Beauftragten Berichte über ihre Tätigkeit zu liefern. Über die emittierten Stoffe wird in den Emissionserklärungen eine umfassende Darstellung gegeben. Dies ist sicherlich noch auszubauen, aber nicht durch neue Instrumente zu ersetzen.Die geforderte Ökobilanz bedeutet in dieser Form nach unserer Auffassung lediglich zusätzlichen bürokratischen Aufwand, denn den Behörden liegen alle diese Daten ja bereits vor. Die Information der Öffentlichkeit erfolgt im übrigen von den meisten Unternehmen auch heute bereits auf freiwilliger Basis. Hier sind keine perfektionistischen zusätzlichen Berichte erforderlich.
— In der Realität der Bundesrepublik, so wie sie ist, und nicht so, wie Sie sie gerne hätten. Sie müssen ja immer ein Szenarium aufbauen, damit die Rezepte, die Sie präsentieren, dann auch passen.
Wenn Sie sich gelegentlich etwas genauer in den Betrieben umsehen, Herr Stratmann, dann werden Sie feststellen, daß vieles von dem, was Sie hier fordern, mit der Realität in der Bundesrepublik nicht sehr viel zu tun hat.Besonders interessant an Ihrem Gesetzentwurf ist im übrigen, daß in Art. 2 die gültigen und bewährten Vorschriften beibehalten und lediglich durch die Einführung eines Kontrollbuches erweitert werden sollen. Dies bestätigt eindrucksvoll, daß der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf überflüssig ist.Ich kann also zusammenfassend sagen, daß wir— die CDU/CSU — nicht der Meinung sind, daß dieser von Ihnen vorgelegte Entwurf Umweltbelange weiterbringt. Im Gegenteil, er ist geeignet, sie zu behindern. Er ist geeignet, freiwillige Initiativen, auf die es entscheidend ankommt, einzuschränken oder gar nicht erst möglich zu machen und deshalb das Gegenteil dessen zu erreichen, was Sie unter umweltpolitischen Gesichtspunkten vorgeben. Was Sie möglicherweise damit erreichen könnten — und das ist ja der Punkt, den Sie hier nicht so deutlich ansprechen wollten — , ist das, was in vielfältiger anderer Form schon häufiger in der Diskussion war — ich denke etwa an Strukturräte und was es sonst noch alles an Marterwerkzeugen gegeben hat — , nämlich den Einfluß und die Steuerungsmöglichkeiten staatlicher Institutionen auf private Prozesse zu vergrößern. Das ist exakt das, was wir verhindern möchten.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiermann.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Es gibt auch Überlegungen seitens des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Herr Stratmann, in der gleichen Sache. Auch die IG Chemie hat neben der IG Metall hierzu Gedanken entwickelt. Es gibt also eine Vielfalt an Gedankenabläufen. Wir wissen aber auch, daß es seit Mitte der 70er Jahre den gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsbeauftragten für Umweltschutz gibt. Seine Aufgaben werden vom Bundes-Immissionsschutz-, Wasserhaushalts- und Abfallbeseitigungsgesetz definiert. Das heißt, der Betriebsbeauftragte ist innerhalb seines Betriebes für die Bereiche Immissionsschutz, Gewässerschutz und Abfallbeseitigung zuständig. Häufig gehört dazu auch noch, wie Sie wissen, die Überwachung der Arbeitsplatzsicherheit. Darüber hinaus soll er — so will es der Gesetzgeber — sowohl auf die Verfahrens- als auch auf die Produktionsentwicklung Einfluß nehmen, wobei sein Augenmerk der Verträglichkeit von Verfahren und Produkt mit den Zielen des Umweltschutzes gelten soll.Die Schaffung der Institution des Betriebsbeauftragten ist eine Konsequenz der Umweltgesetze der 70er Jahre und war zu der Zeit sicherlich ein entsprechender Fortschritt in der Realisierung des Umweltschutzgedankens.Nun sind 15 Jahre vergangen und es gab viele Industrieunfälle seither. Dadurch wissen wir, daß es mit der Einflußmöglichkeit des Betriebsbeauftragten, mit seinen Rechten und Pflichten, mit der Potenz des Amtes nicht allzuweit her ist, weil Unternehmen — auch das muß an dieser Stelle kritisch festgestellt werden — am Beauftragten häufig bewußt vorbeigearbeitet haben. Anspruch und Wirklichkeit decken sich aus diesem Grunde nicht. Der Grund dafür — das dürfen wir feststellen; das ist Hauptproblem der bestehenden Institution „Betriebsbeauftragter für Umweltschutz" — liegt in der unklaren juristischen Konstruktion des Amtes, in der rechtlichen Zwitterstellung sei' nes Inhabers und seiner Einflußlosigkeit. Es läuft vieles an ihm vorbei, weil das Gesetz seine Aufgaben nicht genau beschreibt und weil er dem Unternehmen nach der jetzigen Konstruktion loyal gegenüberstehen muß. Sein Einfluß beschränkt sich also darauf, die Unternehmensleitung beraten zu dürfen.In der Rolle des Beraters besitzt er aber tatsächlich keine Möglichkeiten, entscheidend auf Investitionen, Produktionsverfahren und Arbeitsbedingungen Einfluß zu nehmen. Der Betriebsbeauftragte muß so notgedrungen das Ziel seines Amtes verfehlen.Nachdem der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bereits Mitte des vorigen Jahres eine Gesetzesnovelle angekündigt hatte, hat nun die Fraktion DIE GRÜNEN einen Entwurf— wie wir soeben gehört haben — hier auf den Tisch gelegt. Der Kern des vorliegenden Gesetzentwurfes ist, daß in allen umweltrelevanten Unternehmen— das ist eine recht unklare Definition, meine ich — auf der Ebene der Unternehmensleitung die Stelle eines Umweltbeauftragten geschaffen werden soll, dessen Aufgabe u. a. die Überwachung der Einhaltung der Umweltschutzvorschriften sein soll.Darüber hinaus soll er Vorschlags-, Beratungs- und Mitwirkungsrechte hinsichtlich aller unternehmerischen Planungen, Vorhaben und Maßnahmen mit Auswirkungen auf die Umwelt haben.
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12938 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Oktober 1989
WeiermannDas Vorschlagsrecht — lassen Sie mich dies einmal aufgreifen — soll u. a. bei Umweltverbänden liegen. Als Kriterien für die Bestellung gelten Fachkunde und ökologische Zuverlässigkeit. Herr Stratmann, hier, scheint mir, wird der Entwurf zumindest gegenwärtig unrealistisch. Der Sinn für die Realität ist nach meiner Meinung hier nicht feststellbar.Glauben Sie wirklich, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, daß es durchsetzbar sein wird, einem Unternehmen Kontrolleure von außen, also Betriebsfremde, aufzuzwingen, die Zugang zu den wichtigsten Betriebsinterna haben?
Glauben Sie, daß das machbar ist? Das ist die Frage, die wir anschließend in den Ausschüssen in den weiteren Beratungen noch einmal diskutieren können.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der 10. Legislaturperiode mit dem Antrag „Konzept für eine umwelt- und gesundheitsverträgliche Chemiepolitik" vom März 1986 und dann erneut im August 1987 mit dem Antrag „Vorsorge gegen Schadensfälle in der chemischen Industrie" sehr detaillierte Forderungen zur Rolle eines Umweltbeauftragten erhoben. Wir werden dies in den Ausschußberatungen weiter konkretisieren.Ich mache nun einige Vorschläge, nur grob skizziert, die wir in die Beratungen einbringen werden. Es gilt nun, die Rechte und Pflichten dieser Instanz eindeutiger zu fassen, als dies bisher für den Betriebsbeauftragten geschehen ist, und ihr zugleich auch die Möglichkeit zur Durchsetzung ihres Auftrages zu verschaffen.Verstöße gegen den Umweltschutz sind zumeist auch innerbetriebliche Verstöße gegen den Arbeitsschutz; Herr Stratmann, da werden Sie mir zustimmen. Deswegen ist Umweltschutz sicherlich nicht mehr allein eine Sache der Betriebsleitungen, sondern elementares Interesse der Arbeitnehmer und ihrer gewählten Vertretungen.Deswegen bedarf es dringender und notwendiger denn je Regelungen im Betriebsverfassungsrecht — was Sie, glaube ich, nicht vorgesehen haben —, indem dem Betriebsrat Mitbestimmungsrechte und Zuständigkeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes zuerkannt werden. Es bedarf Regelungen, die die Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Umweltbeauftragten verankern, z. B. des Mitbestimmungsrechts bei Bestellung und Abberufung des Beauftragten.Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Entwurf der SPD zum Betriebsverfassungsrecht. Rechte und Pflichten des Umweltbeauftragten müssen in einem eigenständigen Gesetz niedergelegt werden. Eine Möglichkeit wäre — darüber müssen wir in unserer Fraktion allerdings noch beraten — , die ehemalige Funktion der Betriebsbeauftragten als Umweltbeauftragte in einer eigenständigen Einrichtung innerhalb der Organisationsstruktur des Unternehmens zusammenzufassen und neben dieser eigenständigen Einrichtung ein für Umweltpolitik zuständiges Mitglied der Geschäftsführung oder des Vorstandes benennen zu lassen. Das müßte erörtert werden.
— Insofern besteht Übereinstimmung.
Wir begrüßen eine jährliche Umweltberichterstattung des Beauftragten mit der entsprechenden Bilanz. Des weiteren ist im Umweltbeauftragtengesetz festzuhalten, daß Vorschläge, die der Beauftragte im Rahmen seiner Aufgaben dem für Umweltpolitik zu benennenden Mitglied der Geschäftsleitung oder des Vorstandes unterbreitet, nur begründet abgelehnt werden können und eine solche Ablehnung gleichzeitig der zuständigen Behörde und dem Betriebsrat mitzuteilen ist. Wir werden daher für bestimmte Betriebsgrößen Ausnahmeregelungen, etwa Kleinbetriebsregelungen, treffen müssen. Aber dies ist ein Punkt, den wir noch sehr sorgfältig bedenken müssen.Der Umweltbeauftragte im Betrieb sollte so umfassende Informationsrechte und -pflichten wahrnehmen, daß er auch effektiv werden kann. Verhandlungspartner für die Betriebsleitung sollte aber nach wie vor die legitimierte Institution des Betriebsrates sein, bei der auch die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte bei allen die Umwelt berührenden Fragen im Betrieb liegen sollen.Der Umweltbeauftragte ist nach unserem Verständnis eine Kontroll-, Informations- und Beratungsinstanz mit besonderer Absicherung — ich spreche hier die Frage des Kündigungsschutzes an — , die ihn in einem bestimmten Maß unabhängig sowohl von Betriebsleitung als auch von Betriebsrat macht, ihn jedoch zugleich zu einer guten Zusammenarbeit mit den eben genannten Gremien verpflichtet.Ich habe hier nur sehr allgemein andeuten können, in welche Richtung unsere Überlegungen gehen. Bei den anstehenden Beratungen in den Ausschüssen werden wir weiter ins Detail gehen können, und ich sage hier, daß meine Fraktion, die SPD-Fraktion, auch entsprechende Anträge stellen bzw. Vorschläge unterbreiten wird.Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN ist in unseren Augen insgesamt — obwohl wir einige Ansätze sehen, die auch wir vertreten — nicht ganz befriedigend. In den weiteren Beratungen wird es um die weitere Ausgestaltung gehen, und wir werden dabei unsere Vorstellungen einbringen und entsprechende Anträge stellen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir befassen uns in der heutigen Debatte mit einem von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf über Umweltbeauftragte und Umweltberichterstattung in Unternehmen. Die GRÜNEN wollen wieder einmal die Bürokratie aufblähen und den Einfluß des Staates auf die
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Frau Dr. SegallUnternehmen ausweiten. So soll nach § 3 des Gesetzentwurfes der Umweltbeauftragte von der für die Gewerbeaufsicht der Unternehmen zuständigen obersten Landesbehörde bestellt werden.Da die Landesbehörden den Umweltschutzbeauftragten bestellen und die Höhe seiner Vergütung durch einen Verwaltungsakt festlegen, ist völlig ungeklärt, welche Art von Arbeitsverhältnis für den Umweltbeauftragten geschaffen werden soll. Dies würde einen unannehmbaren Eingriff in die Tarifautonomie darstellen — ich nehme einmal an, daß die Gewerkschaften das auch so sehen werden —
und auch einen Eingriff in die selbständige Entgeltbestimmung der Unternehmen bedeuten. Solchen staatlichen Eingriffen in die Selbständigkeit der Unternehmen müssen wir Liberale eine klare Absage erteilen.
Welche Vorstellungen haben Sie von den GRÜNEN denn zu der Frage, wie ein von außen fixiertes Gehalt in die Lohn- und Gehaltsstruktur eines Unternehmens eingefügt werden soll?Schlimmer noch als diese Verletzung der Verhandlungsfreiheit zwischen den Sozialpartnern ist für uns Liberale aber das Einsetzen eines Kontrollbeamten von außen in das Unternehmen hinein. Wir haben schon die einzelnen Betriebsbeauftragten nach dem Immissions-, dem Wasser- und dem Abfallrecht. Diese sollen nach § 10 des Gesetzentwurfes der GRÜNEN den Umweltbeauftragten unterstützen. Der Umweltbeauftragte wiederum — so Ihre Vorstellung — überwacht und leitet die Tätigkeit dieser Betriebsbeauftragten.Darüber, ob und von welcher Betriebsgröße an ein betriebsinterner Koordinator sinnvoll ist, ließe sich diskutieren. Das sollte aber als reine Organisationsfrage in das Belieben der Unternehmen gestellt werden.Nun fordern die GRÜNEN auch noch einen Umweltausschuß in den Unternehmen. Dies würde nur ein Mehr an Bürokratie in den Unternehmen bedeuten, ohne eine positive Auswirkung für den Umweltschutz zu haben. Sinnvoll ist es dagegen, die Stellung der bestehenden Betriebsbeauftragten zu festigen und auszubauen, wie es auch in der dritten Novelle zum Bundes-Immissionsschutzgesetz vorgesehen ist, u. a. durch den dort festgelegten Kündigungsschutz.
Die Intention des Gesetzentwurfes der GRÜNEN, das Interesse der Unternehmen an umweltverträglicher Unternehmenstätigkeit zu fördern, wird durch staatliche Gängelei in Form eines von der Behörde eingesetzten Umweltbeauftragten wahrlich nicht erreicht. Auch wenn der Gesetzentwurf auf eine über den gesetzlich vorgeschriebenen Umfang hinausgehende Umweltvorsorge in den Betrieben zielt, würde er nicht erreicht. Gleichzeitig würde die Institution des Umweltbeauftragten, der auf der Ebene der Unternehmensleitung berät, aber auch entscheidet, eineVermischung der haftungs- und auch strafrechtlichen Verantwortlichkeiten in Betrieben bedeuten. Der Unternehmer hätte dann eine Exkulpationsmöglichkeit, indem er die Verantwortung dem Umweltschutzbeauftragten zuschiebt. Inwieweit dieser aber gesetzlich belangt werden könnte, wäre noch zu klären. Deswegen ist es sinnvoll, daß die Verantwortung wie bisher bei der Geschäftsleitung bleibt.In der Rechtsprechung wird die Haftung zunehmend auch für solche Fälle anerkannt, bei denen ein sogenanntes Organisationsverschulden vorliegt. Das heißt, die Geschäftsleitung ist auch für Fehler in der betriebsinternen Organisation verantwortlich. Haftungs- und strafrechtlich relevantes Verhalten von Mitarbeitern wird als Organisationsverschulden der Geschäftsleitung angelastet. Dies hat zur Folge, daß es schon im Eigeninteresse des Unternehmens liegt, Umwelthaftungsaspekte in seine unternehmerischen Entscheidungen einzubeziehen. Das halte ich für die sinnvollere Lösung.Die Idee der Ökobilanz hat auch für mich etwas Bestechendes. Es wäre schon wichtig, Kosten, Ressourcenaufwand und Umweltbelastungen für die ganze Prozeßkette zu kennen. Bei einigen schon durchgeführten Untersuchungen ist man allerdings zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen; ich denke z. B. an die Untersuchungen über Getränkeverpakkungen, erneuerbare Energien oder auch an das Verhältnis von Papier zur Plastiktüte.
— Ich weiß, daß Sie das Ergebnis nicht akzeptieren wollen; das kenne ich, das ist ein alter Streitpunkt.Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg. Einzelne Unternehmen sind hier zur Zeit sicherlich überfordert, wenn man von ihnen eine Ökobilanz verlangt. Aber es besteht sicherlich noch ein großer Forschungsbedarf, um eine sinnvolle Methodik der ökologischen Bilanzierung zu entwickeln. Hier sind Universitäten und Bundesbehörden gefordert.Wir haben noch ein weiteres Problem, das gerade für kleinere und mittlere Unternehmen darin besteht, daß sie durch die komplizierte Technologie einerseits und die immer umfassenderen Gesetzeswerke andererseits umweltrelevante Aspekte oft nicht einschätzen oder erkennen können. Deswegen muß die Beratungsförderung besonders hinsichtlich Fragen des Umweltschutzes weiter ausgebaut werden. Für eine richtige und gute Beratung bedarf es aber qualifzierter Fachkräfte. Daher sollte man die Universitäten auffordern, innerhalb bereits bestehender Studiengänge, z. B. im betriebswirtschaftlichen Bereich, ein Wahlpflichtfach Umweltunternehmensberatung einzuführen; das wäre ein sinnvoller Weg.Ich danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Meine Damen und Herren, die Idee eines Umweltbeauftragten hat — trotz der Ausführungen aus der FDP- und der CDU/CSU-
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WüppesahlFraktion — angesichts der Bilanzen, die wir augenblicklich im Bereich der Umweltpolitik aufstellen müssen, etwas Bestechendes an sich.
Auch wenn Sie recht haben, Frau Segall, daß eine weitere Analytik betrieben werden muß, wie die Analyse betriebsintern vorangetrieben werden kann, wie Ökobilanzen methodisch aufgestellt werden können et cetera pp.: Es ist doch einfach Tatsache, daß wir vor einem Desaster in der Umweltpolitik stehen.Der Kollege der SPD hat völlig zu Recht gesagt, daß der Betriebsbeauftragte, der vor 15 Jahren eingeführt wurde, nicht dem Anspruch gerecht wird, den auch Sie damals bei der Einführung an diese Institution gehegt hatten.Ich denke, daß auf diesen Nebenkriegsschauplätzen, die Frau Segall in aller Ausführlichkeit aufgezählt hat — Exkulpationsmöglichkeit für die Unternehmensführung; als wenn es Ihnen darum besonders ginge; Sie können den Bereich der Wirtschaft- und Umweltkriminalität gar nicht voneinander trennen; wenn in der Umwelt irgendwelche Schweinereien gemacht werden, ist das in der Regel sofort auch wirtschaftskriminell — , kaum nennenswerte Sanktionen durchgesetzt werden können. Das ist doch überhaupt kein ernsthafter Gesichtspunkt! Das ist ein Nebenkriegsschauplatz, den Sie mit der Exkulpationsmöglichkeit — das hört sich so toll an — für die Geschäftsführung anführen.Ein bißchen ernster nehme ich Ihren Gesichtspunkt des Widerspruches zwischen Bürokratie, Bürokratisierung auch des Umweltschutzes, des Gedankens, der dahintersteht, und einer effizienten Art und Weise, wie man arbeiten kann. Das muß seine Gültigkeit auch für die Unternehmen in dieser Republik haben. Auch ich bin in der Tat der Auffassung, daß in bezug auf den in sich völlig schlüssigen und notwendigen Vorstoß, den die Bundestagsfraktion DIE GRÜNEN unternommen hat, nämlich einen Umweltbeauftragten auf Gesetzesebene zu installieren, mit Sicherheit noch die eine oder andere Änderung in den weiteren Beratungen vonnöten sein wird.Als nicht nur bürokratisch empfinde ich allerdings den Vorschlag, die Bestellung durch die Landesbehörden vorzunehmen. Wenn ich in meinem Wahlkreis Firmenbesuche mache
oder Umweltschutztrupps der Polizei spreche oder bei der Staatsanwaltschaft oder beim Generalstaatsanwalt vorstellig werde und von den verschiedensten Stellen — selten offiziell, aber doch informell — gesagt bekomme, daß die Gewerbeaufsichtsämter — das ist ja der verlängerte Arm der Landesbehörde, jedenfalls in Schleswig-Holstein — in der Regel mit den Firmen unter einer Decke stecken, daß da überhaupt keine Kontrolle ausgeübt wird, dann bin ich allein auf Grund der Analyse der Menschen, die vor Ort mit diesen Institutionen arbeiten müssen, mehr als skeptisch, daß diese Vorgehensweise — Bestellung durch die Landesbehörde — der geeignete Weg ist. Ich würde mir auch in dem Bereich im Grunde ein bißchen mehrMut zur Demokratie wünschen, damit die Mitarbeiter in den Betrieben sehr wohl eine Mitbestimmungsmöglichkeit haben, wer Umweltbeauftragter wird.
Herr Wüppesahl, ich darf Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen. — Dem wird stattgegeben.
Herr Kollege Abgeordneter, ich gebe zu, daß uns bei der Formulierung dieses Punktes der Mut zur Demokratie verlassen hat, denn der erste Vorschlag war, die Umweltbeauftragten durch tatsächlich ökologisch verantwortliche Personen ernennen zu lassen. Dabei dachten wir an die GRÜNEN selbst. Da das aber schlecht per Gesetzentwurf ging, sind wir auf diese Möglichkeit gekommen.
Jetzt aber frage ich dich ernsthaft: Daß das ein problematischer Vorschlag ist, sei zugestanden. Nur, welche Institution ist ökologisch verantwortlicher und ökologisch berufener? Eine andere externe Institution kann es schlecht machen. Man kann es auf gesetzlichem Wege nicht von Umweltverbänden machen lassen. Die einzige Alternative ist, daß es der Unternehmensvorstand selbst macht.
Wie wäre es, wenn Sie zu einer Frage kämen?
Ich kleide es jetzt in Form einer Frage: Ist es da nicht verständlich, daß einen der Mut zur Demokratie spätestens dann verläßt, wenn man einen Unternehmensvorstand als Einstellungsbehörde nennt?
Ich gehöre nicht mehr der Fraktion an, Herr Bohl, wie Sie wissen. — Die Antwort hat zwei Teile.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, ich möchte Sie aber doch herzlich bitten, wenigstens auf einen Teil der Frage noch eine Antwort zu geben, denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bitte Sie! — Ich gehe davon aus, daß Frage und Antwort natürlich von meiner Redezeit abgezogen werden.
Die Spielregeln in diesem Haus — sprich: die Geschäftsordnung — besagen eigentlich, daß die Frage
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Wüppesahlund die Antwort nicht auf die Redezeit angerechnet werden.
Mein Redekontingent zeigt jetzt schon minus eins an.
Sie haben den Wunsch nicht geäußert.
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Diese dauernde Austauscherei von Floskeln, wenn Fragen gestellt werden — „aber nur, wenn es nicht auf die Redezeit angerechnet wird " —, können wir uns doch wirklich sparen.
Die Antwort lautet folgendermaßen:
Der Mut zur Demokratie birgt immer irgendwelche Mängel in sich, und zwar auf allen Gebieten. GRÜNE oder auch ich sind diejenigen, die bereit sind, auch ein Wagnis einzugehen.
Die staatliche Ebene kann es aus meiner Sicht nicht sein, und zwar nicht nur auf Grund der aktuellen Analyse, die ich eben zum Teil dargestellt habe, sondern auch von meinem ordnungspolitischen Verständnis her.
Der Vorstand soll es natürlich auch nicht sein, weil dessen Interessenlage im Unternehmen eindeutig ist. Für mich bleibt also nur übrig, daß die Belegschaft insgesamt eine solche Bestimmung durch demokratische Wahl
eines Umweltbeauftragten vornehmen könnte.
Das ist das Wagnis der Demokratie. Da werden wir qualitative Abstriche machen müssen, selbstverständlich. Wir werden bei unseren sehr radikalen Forderungen auch dadurch so weit zurückgeworfen werden, daß es dann wieder irgendwie mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen ist. Revolutionäre Schritte — das ist der Umweltbeauftragte wäre quasi solch ein Schritt auf solch einem Feld — können wir in dieser Republik nicht durchsetzen. Politik hat etwas mit Wirklichkeit zu tun. In diesem Fall ist es wirklich so, daß wir Schritt für Schritt vorgehen müssen.
Das stimmt, Frau Geiger.
— Ich habe bei Ihnen ebenfalls den Eindruck, daß Sie die Wirklichkeit, nämlich Ihre Müdigkeit, gewaltig eingeholt hat.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, das gehört aber nicht mehr zur Beantwortung der Frage.
Deshalb bitte ich darum, daß Sie wirklich zum Schluß kommen.
Das war der Luxus meinerseits, auf den Zwischenruf einen Teil meiner Redezeit zu verwenden.
Der heutige Abend ist ein Abend der Tricks. Auch Sie versuchen einen Trick. Sie lassen sich eine Frage stellen, oder: Es wird eine Frage gestellt — —
— Sie haben gar nichts zurückzuweisen.
— Das haben Sie nicht.
Ich mache jetzt den letzten Satz.
Ich will nur noch sagen: Es wird eine Frage gestellt, Sie haben Ihre Redezeit längst überschritten und gehen dann noch einmal die doppelte Zeit auf diese Frage ein. Das kann doch nicht der Sinn eines Stoppens hier sein. Ich wollte Ihnen das hier heute nur noch einmal in aller Freundschaft sagen.
Wir verstehen uns ja im allgemeinen sehr gut.
Bitte schön, kommen Sie jetzt wirklich zum Schluß.
Ja, diese Freundschaft weiß ich auch wirklich zu schätzen.Letzter Punkt: Soll das wirklich alle Unternehmensgrößen betreffen? Auch da, denke ich, muß man überlegen. Ein Betrieb mit fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird das finanziell in der Tat nicht verkraften können. Da wird man — —
Da wird man an Modelle wie auch im Datenschutz denken müssen, daß eine Person das mitmacht, auch wenn dadurch qualitative Mängel in Kauf genommen werden müssen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen eine gute Nacht.
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Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5362 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann wird so verfahren wie ausgedruckt.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Oktober 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.