Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Der Gesetzentwurf zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes und sonstiger dienst- und versorgungsrechtlicher Vorschriften auf Drucksache 11/5136 wurde in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages dem Innenausschuß zur federführenden Beratung überwiesen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, Art. 4 dieses Gesetzes nunmehr dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur federführenden Beratung und dem Innenausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Die weiteren mitberatenden Ausschüsse bleiben unverändert.
Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, die Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN zur Altersversorgung der Abgeordneten auf Drucksache 11/5338 zu erweitern.
Sind Sie mit diesen Regelungen einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 3 bis 5 sowie den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
ZP3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
— Drucksache 11/5303 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Haushaltsausschuß
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
— Drucksache 11/5304 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Unruh und der Fraktion DIE GRÜNEN
Sterbegeld für Abgeordnete
— Drucksache 11/3109 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
ZP6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
zur Änderung des Abgeordnetengesetzes: Altersversorgung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages
— Drucksache 11/5338 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Auch damit ist das Haus einverstanden. Es wird so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Rüttgers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle wissen, daß uns die Öffentlichkeit in dieser Debatte kritisch begleitet; das ist selbstverständlich und richtig, auch angesichts der Regelung des Grundgesetzes, wonach wir hier aufgerufen sind, Entscheidungen auch in eigener Sache zu treffen.Richtschnur war der Beschluß des Bundestages, Änderungen in der Beamtenversorgung auf die Versorgung der Mitglieder des Deutschen Bundestages sinngemäß zu übertragen. Einschnitte durch die Gesundheits- und Rentenreform erfordern auch von uns Solidarität. Darüber waren wir uns von Beginn an alle einig. Es ist daher eine Selbstverständlichkeit, wenn
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12510 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989
Dr. Rüttgersdie Abgeordneten die notwendigen Konsequenzen auch für ihre eigene Altersversorgung ziehen.Die offene Diskussion der letzten Tage hat, glaube ich, eines ganz deutlich ausgewiesen: Für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages spielt es bei dieser Debatte eine große Rolle, daß in den letzten Jahren das Bild der Parlamentarier in der Öffentlichkeit Einbußen erlitten hat. Ich bin mir darüber im klaren, daß ein solcher Vorgang sich natürlich nicht durch eine einzige Gesetzesinitiative umkehren läßt.Aber ihre Beratung legt eine politische Kernfrage offen. Wer seine Aufgabe als freigewählter Vertreter des ganzen Volkes ernst nimmt, muß natürlich immer wieder fragen: Welchen Wert und welchen Stellenwert hat die Leistung des Abgeordneten für die Öffentlichkeit?Nach unserem Grundgesetz sind die Abgeordneten Repräsentanten des ganzen Volkes, sie sind Repräsentanten unserer Gesellschaft, aber ihre Leistung bleibt vielfach anonym. Die 60- oder 70-Stunden-Woche ist für den Wähler nicht faßbar, wenn dies weit entfernt in Bonn geschieht. Die Arbeit in den Ausschüssen, die Terminjagd, der persönliche Einsatz für den einzelnen Bürger, die Gesetzgebungsarbeit — das alles bleibt dann für den Bürger abstrakt, wenn abends über das Fernsehen 30 Sekunden das Bild eines schwachbesetzten Plenarsaals geht,
obwohl jeder in Bonn weiß, daß die Abgeordneten gleichzeitig in vielen Sitzungen gefordert werden.Transparenz, ist ein wesentliches Strukturelement unserer Demokratie. Der Satz „Der Bundestag hat beschlossen ... " mag zwar für den Rechtstheoretiker ausreichend sein, für den Bürger und seinen Abgeordneten genügt er nicht. Dies gilt auch — vielleicht sogar insbesondere — für das Recht der Abgeordneten.Wir haben uns die Frage, wie die materielle Stellung des Abgeordneten künftig gestaltet werden soll, nicht leichtgemacht. Wir beraten hier nicht nur über eine maßvolle Erhöhung der Diäten, sondern auch über Kürzungen, Streichungen und Absenkungen im Bereich der Altersversorgung, der Rentenanrechnung, des Sterbegeldes.Die tariflichen Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer sind von 1977 bis 1988 um mehr als 50 % gestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Abgeordnetenentschädigung um 20,17 % erhöht. Die Löhne und Gehälter für die wichtigen Tarifbereiche in Industrie und Handel werden in diesem Jahr voraussichtlich zwischen 2 % und 3,5 % steigen. Die Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung wurden ab Juli 1989 um effektiv 2,4 % angehoben. Deshalb erscheint mir der Vorschlag der Präsidentin des Deutschen Bundestags sachgerecht, für Abgeordnete eine Erhöhung von 2,3 % vorzunehmen.Die Fraktionen von SPD, FDP und CDU/CSU, die den hier vorliegenden Antrag gestellt haben, werden gleichzeitig die Reform der Abgeordnetenversorgung in Angriff nehmen. In der Öffentlichkeit ist in besonderem Maß über die Sterbegeldregelung für Abgeordnete diskutiert worden. Wir werden dafür sorgen, daß sich das Sterbegeld für Abgeordnete nach der entsprechenden Regelung der Gesundheitsreform richtet. Vom Sterbegeld zu unterscheiden ist ein Überbrückungsgeld für Hinterbliebene. Solche Überbrükkungsgeldregelungen gibt es in 90 % aller tarifvertraglich geregelten Beschäftigungsverhältnisse. Dieses Überbrückungsgeld dient der materiellen Sicherung von Hinterbliebenen. Hinterbliebene eines Abgeordneten werden in Zukunft ein Überbrückungsgeld von einer bzw. einer anderthalbfachen Monatsentschädigung erhalten.Kernstück der hier vorgelegten Reformanträge ist die Neuregelung der Altersentschädigung. Es muß ja das strukturelle Problem berücksichtigt werden, daß es einen Abgeordneten auf Lebenszeit nicht gibt, nicht geben kann und nicht geben darf.Daraus haben wir folgende Konsequenzen gezogen: Der Anspruch auf Altersversorgung entsteht zwei Jahre später als bisher. Der Steigerungssatz wird um 1 % auf 4 % abgesenkt. Die bisherige Höchstversorgung kann erst nach einer Mitgliedschaft von 18 Jahren erreicht werden. Zugleich wird die Altersversorgung für Mitglieder, die dem Bundestag weniger als acht Jahre angehört haben, abgeschafft.
— Bitte zuhören, Frau Unruh! Das waren Zahlen. —
: Bringen Sie doch
einmal ein paar Zahlen ans Volk!)In Zukunft werden auch Renten auf die Abgeordnetenversorgung angerechnet.
Dies sind alles wichtige Schritte, mit denen wir die Konsequenzen aus der Gesundheitsreform, der Rentenreform und der Reform der Beamtenversorgung ziehen. Wir werden diese Vorschläge im Rahmen der Ausschußberatungen noch einmal intensiv diskutieren und prüfen. Wir regen bei der Präsidentin des Deutschen Bundestages gleichzeitig an, zu einer Überprüfung der materiellen Regelungen den Rat von unabhängigen Fachleuten aus allen gesellschaftlichen Gruppierungen einzuholen. Natürlich enthebt uns das nicht der Notwendigkeit, selber Konsequenzen zu ziehen, selber Beschlüsse zu fassen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen uns künftigen Diskussionen in eigener Sache genauso selbstbewußt und offen stellen, wie wir heute diese Anträge der drei Fraktionen einbringen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Becker .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im allgemeinen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989 12511
Becker
wird uns vorgeworfen, daß wir, wenn wir über unsere eigenen Probleme reden, das bei Nacht und Nebel tun. Das ist heute ganz gewiß nicht der Fall; wir tun es am frühen Morgen. Für den Nebel sind wir leider nicht zuständig.Meine Damen und Herren, im Ernst: Herr Kollege Rüttgers hat vorgetragen, was wir hier heute morgen beraten wollen, daß wir in drei wesentlichen Dingen, nämlich beim Sterbegeld, bei der Versorgung der Abgeordneten und schließlich bei der Rentenanrechnung Änderungen vornehmen müssen, die wir sinngemäß an die Bestimmungen und Regelungen in Gesetzen und Verordnungen anpassen, die in der Gesundheitsreform, in der beabsichtigten Rentenreform und der Beamtenversorgung ihren Niederschlag finden.Jeder von uns kennt die großen Schwierigkeiten, die wir bei der Regelung dieser Probleme haben, weil für uns ganz naturgemäß weder das Tarifrecht noch das Beamtenrecht gelten kann. Wir können auch nicht Regeln für Parlamentarische Staatssekretäre und Minister einfach auf uns übertragen. Wir können auch nicht die Regeln, die sich bei Handwerk und Gewerbe vor allen Dingen bei Betriebsinhabern und im Management durchgesetzt haben, ohne weiteres auf uns übertragen. Wir können auch nicht das übertragen, was unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen in der Republik für ihre Arbeitsweise und für ihre Verhältnisse beschlossen haben.Es bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als daß wir für die jeweils in den Wahlperioden hier anwesenden Abgeordneten Regeln finden, die auch in der Bevölkerung eine breite Akzeptanz finden und die vor allen Dingen eines gewährleisten: daß aus den unterschiedlichen Gruppen des Volkes Vertreter hierherkommen können, ohne daß sie die berufliche Existenz aufs Spiel setzen, oder daß andere, die meinen, sie könnten als Abgeordnete hier ihre Lebensverhältnisse verbessern, eines Besseren belehrt werden. Dazwischen liegt ein großes Problemfeld. Deswegen ist das nicht so einfach. Trotzdem hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgetragen, daß wir unsere Verhältnisse selber regeln; das versuchen wir nun.Wir haben dazu — das ist ganz selbstverständlich — unterschiedliche Vorstellungen. Wir haben auch ganz unterschiedliche Interessenlagen. Das kann für Fraktionen gelten, das kann aber auch für den jeweils einzelnen gelten. Nun haben wir uns die Mühe gemacht, all das, was in den soeben angedeuteten Regelungen und Bestimmungen beabsichtigt ist, auf unsere Verhältnisse zu übertragen.Ich will zum Sterbegeld — die Kollegin Unruh hat schon einen entsprechenden Zwischenruf gemacht — Daten, Fakten
und Zahlen auf den Tisch bringen.
Das möchte ich gerne tun. Deswegen will ich das aufgreifen, was Herr Kollege Rüttgers allgemein gesagt hat: Es gibt das anderthalbfache Überbrückungsgeld für diejenigen, die länger als acht Jahre hier sind. Lassen Sie mich einmal so beginnen.Ich glaube, von Anfang an war die Diskussion falsch und von Anfang an ist der Begriff „Sterbegeld" sehr zweifelhaft gewesen, der nicht nur bei uns, in unserem Gesetz vorkommt, sondern auch bei der Beamtenversorgung. Ich will schon an dieser Stelle sagen: Bei den weiteren Beratungen sollte man auch einmal darüber nachdenken, ob das der richtige Begriff ist; denn er deckt sich überhaupt nicht mit dem, was wir darunter verstehen. Es sind zwei ganz verschiedene Paar Stiefel.Beim Sterbegeld müssen diejenigen in diesem Hause, die unter die Beihilferegelung oder die Krankenkassenregelung fallen, davon ausgehen, daß in Todesfällen bei einer Beihilfe Aufwendungen bis zur Höhe von 1 300 DM gewährt werden. Aber wenn jemand 2 000 DM aus anderen öffentlichen Kassen bekommt, reduziert sich die Beihilfe sofort auf 650 DM. Wenn jemand mehr als 4 000 DM aus anderen öffentlichen Kassen bekommt, gibt es überhaupt keine Beihilfe. Dies war immer so. Nur, das ist nie so klar ausgesprochen worden. Wir müssen uns das einmal vor Augen führen. Ein Abgeordneter hat Sterbegeld noch nie über Beihilfe bekommen.Jetzt geht es um den Punkt Überbrückungsgeld. Da will ich wieder das aufgreifen, was Herr Rüttgers gesagt hat. Wir haben Tarifverträge für 80 bis 90 % der hier im Land beschäftigten Arbeitnehmer, und wir haben Bestimmungen für Beamte. Um der Kollegin Unruh wieder entgegenzukommen, ein paar Zahlen dazu:Es ist so, daß nach den Tarifverträgen beispielsweise ein Chemiker, betraut mit schwierigen Entwicklungsaufgaben, einen Sterbegeldanspruch — da heißt es noch immer „Sterbegeld" — von zwei Monatsgehältern hat, Das sind 10 278 DM. Und es ist so, daß beispielsweise der Leiter einer kleinen Betriebs- und Antragsabteilung ab 14. Berufsjahr einen Sterbegeldanspruch von drei Monatsbezügen hat. Das sind 15 456 DM. Wir wollen uns nun mit dem beschäftigten, was im Beamtenverhältnis gewährt wird. Wir haben im mittleren Dienst einen Sterbegeldanspruch von rund 6 000 DM. Das sind zwei Monatsbezüge. Wir haben im gehobenen Dienst einen Durchschnitt von 10 000 DM. Auch das sind zwei Monatsbezüge.Was ziehen wir jetzt für Konsequenzen? Wir sagen: Wenn Abgeordnete bis zu acht Jahren hier gewesen sind, dann gibt es ein Überbrückungsgeld von einem Monatsbezug. Das sind 9 000 DM. Und ich glaube nicht, daß wir hier gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen irgendeine Bevorzugung oder ein Privileg erzielt haben.
Nur muß man mal klar aussprechen, worum es sich eigentlich handelt.
— Frau Kollegin Unruh, natürlich sagen wir das auch den Rentnern. Wir arbeiten hier 70 Stunden. Wir sind noch keine Rentner. Deswegen sage ich auch den Rentnern, daß das für uns so geregelt ist. — Wir sind
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Becker
keine Rentner! Ich glaube, wir können das auch den Rentnern klarmachen.
Nun lassen Sie mich noch eine bemerkenswerte Feststellung treffen: In diesem Hause sind zur Zeit 200 Abgeordnete, die überhaupt noch keine acht Jahre da sind. Für die trifft das also alles zu. Erst für diejenigen, die länger als acht Jahre hier sind, gibt es den anderthalbfachen Bezug. Auch da klare Zahlen: Das sind im Augenblick rund 13 000 DM. Wir liegen da im Durchschnitt des gehobenen Dienstes.
Nun lassen Sie mich zu einem zweiten wichtigen Thema kommen. Das ist die Anrechnung von Renten. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts können nicht nur Versorgungsbezüge für ehemalige Beamte angerechnet werden, sondern es müssen auch Renten bei solchen Doppelversorgungen angerechnet werden. Diesen Versuch machen wir jetzt. Alle freiwillig eingezahlten Rentenbeiträge bleiben außer Betracht — das bleiben sie übrigens woanders auch. In der gesetzlichen Rente machen wir jetzt den Versuch einer Angleichung. Nun kann man darüber streiten, was man da zugrunde legen muß — ich habe vorhin darauf hingewiesen — : das Tarifrecht, das Beamtenrecht, eigene Entwicklungen in der Rentenversicherung, in der Beamtenversorgung? Wir haben lange hin und her überlegt, darüber nachgedacht, ob wir alle Interessen aus allen diesen Richtungen berücksichtigen können. Wir können das nicht. Wir haben den Weg gewählt, den wir im Abgeordnetengesetz — das ist ja ein eigenes Gesetz — auch für andere Fälle gegangen sind. Wir machen die Anrechnung nach diesen Regeln. Das ist die Anrechnung, von hundert Prozent ausgehend — das ist richtig — , während wir in dem berühmten immer wieder völlig fälschlicherweise herangezogenen § 55 von 75 % ausgehen. Aber dieser § 55 hat etwas ganz anderes als Hintergrund als das, was wir hier machen. Wir werden trotzdem — und meine Fraktion hat mich beauftragt, dies noch einmal sehr genau zu prüfen — eine Überprüfung vornehmen, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, noch eine bessere Konstruktion zu finden. Ich muß Ihnen sagen: Wir haben in den letzten Tagen mehrere Versuche gemacht, bisher keinen erfolgreichen.
Wir setzen uns aber dafür ein, dies noch einmal durchzudeklinieren.Nun noch zur Frage der Diäten: Es sind übrigens seit 1976 gar keine Diäten mehr, das ist alles falsch, es sind Bezüge für Bundestagsabgeordnete, es ist eine Kostenpauschale, die zur Ausübung des Mandats vorgesehen ist. Das ist die Konstruktion. Die ist ja damals extra so gewählt worden. Und wir haben in den letzten sieben Jahren jährlich eine Anpassung vorgenommen. Wir haben dafür Regeln aufgestellt, uns selbst gegeben, gesagt: Wir wollen möglichst nahe an dem bleiben, wie sich das Volkseinkommen entwickelt. In die Berechnung der Erhöhung der Abgeordnetenbezüge, diese berühmten 2,3 %, geht die Veränderung bei der Unterstützung für Arbeitslose ebenso ein wie die Veränderungen im Tarifrecht. Die Präsidentin hat sich über das Statistische Bundesamt jährlich diese Angaben geben lassen. Aus diesen Angaben ist der Erhöhungsprozentsatz für die Anpassung der Bezüge entwickelt worden.Wir haben bei der Kostenpauschale — jeder von uns muß für seinen Wahlkreis Briefe schreiben, jeder von uns muß in seinem Wahlkreis Nachrichten übermitteln, er muß etwas drucken lassen — überall dort, wo sich etwas verteuert hat, die Durchschnittsbeträge bei der Erhöhung — ich habe nur ein paar Beispiele genannt — berücksichtigt. Ich meine, daß dieses Verfahren annehmbar ist und daß wir mit diesem Verfahren auch bestehen können.
Aber nun sind wir, auch angeregt durch Initiativen aus dem Parlament, dazu gekommen, daß wir gesagt haben: Vielleicht sind wir alle gar nicht so schlau. Vielleicht gibt es Leute, die uns das alles noch viel besser sagen können. Deswegen beschließen wir heute, daß wir der Präsidentin empfehlen, einen Rat von Sachverständigen aus Industrie, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft einzuholen.
Das soll nicht ein besonderer Rat werden, der hier konstituiert wird. Dann müßte man nämlich schon fragen, ob das mit dem, was uns das Verfassungsgericht auferlegt, überhaupt noch übereinstimmt. Dann hätten wir nämlich eine Kommission, die möglicherweise doch etwas beschließt und uns das auf den Tisch legt. Sicher könnten wir am Ende immer noch etwas anderes beschließen. — Wir wollen, daß die Präsidentin die Wahl hat, im Einvernehmen mit den Fraktionen Fachleute aus den von mir genannten Bereichen heranzuziehen.Wenn wir das alles tun, dann, meine ich, leisten wir einen wesentlichen Beitrag zu dem, was wir hier alle wollen, nämlich eine lebendige Demokratie. Wir wollen keine Extremisten. Wir wollen, daß die Bürgerinnen und Bürger ihre Abgeordneten als die Vertreter ihrer Interessen
und als Sachwalter ihrer Interessen ansehen. Dann müssen wir neben der politischen Arbeit auch unsere Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen in der Offentlichkeit erörtern und in der Öffentlichkeit diskutieren. Das tun wir heute morgen wieder, und das werden wir auch weiter tun.Wir werden uns bemühen, bei diesen Beratungen den notwendigen Konsens herbeizuführen, den ich eben beschrieben habe. Wir sind für neue und bessere Vorschläge offen. Unser Ziel ist, unter optimalen Arbeitsbedingungen für uns hier auch optimale Leistungen — darauf hat der Bürger einen Anspruch — nach außen zu erbringen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989 12513
Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine beiden Kollegen Dr. Rüttgers und Helmuth Becker haben hier in sehr sachlicher Weise dargestellt, wie wir zukünftig unsere Altersversorgung regeln wollen, wie wir die Berechnung der Diäten für das kommende Jahr vorschlagen.
— Liebe Frau Unruh, wir hatten eigentlich das Gefühl, daß die Entfernung aus Ihrer Fraktion bei Ihnen das Zeitalter einer neuen Nachdenklichkeit eingeleitet hat. Sie waren in der letzten Zeit so erfreulich ruhig. Bleiben Sie doch dabei, und hören Sie erst einmal zu, was ich zu sagen habe.
CDU/CSU, SPD und FDP legen heute Vorschläge zur Altersversorgung in der klaren Erkenntnis vor, daß auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihren Anteil an den Belastungen aus der Gesundheits- und Rentenreform tragen müssen. Wir kommen hiermit einer Verpflichtung aus dem März dieses Jahres nach. Mit der Streckung der Zeiten für die Erlangung der Voraussetzungen für eine Altersentschädigung in Höhe von dann 75 % der Grundentschädigung ziehen wir einen Schritt nach, den wir in der Beamtenversorgung vorgegeben haben. Künftig werden nicht nach 16, sondern erst nach 18 Jahren die Höchstsätze erreicht werden können. Das heißt, daß der Höchstsatz erst nach einer fünften Wiederwahl erreicht werden kann. Das, meine Damen und Herren, stimmt uns nicht besonders freudig, weil der angestrebten Fluktuation hier im Deutschen Bundestag damit nicht gedient ist. Aber ob viele Kollegen eine fünfte Wiederwahl an ihrer Basis durchsetzen und diese von der Notwendigkeit einer fünften Periode hier in Bonn überzeugen können, wollen wir dahingestellt sein lassen. Wir werden es sehen.Bemerkenswert ist weiterhin, daß mit der Heraufsetzung der Mindestzeit von bislang sechs auf nunmehr acht Jahre, um überhaupt eine Altersentschädigung als Abgeordneter zu bekommen, die Voraussetzungen erschwert worden sind.
Das sogenannte Sterbegeld für Abgeordnete hat die Gemüter so in Wallung gebracht, daß darüber der klare Blick für das, was Tatbestand war, verstellt wurde. Ich bin Helmut Becker ausgesprochen verbunden dafür, daß er dies hier auch mit Zahlen dargestellt hat.Es ist richtig und war bislang schon so, daß ein Sterbegeld für Abgeordnete — vergleichbar mit dem Sterbegeld in der gesetzlichen Krankenversicherung — faktisch nicht existent war. Daß für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung geblieben sind, die Regelung der Gesundheitsreform gilt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das gilt natürlich auch für die Regelung der Altfälle. Dieses Sterbegeld wurde immer in der Diskussion — und oft hat man den Eindruck gehabt, absichtlich, möglicherweise auch böswillig — vermischt und vermengt mit dem Überbrückungsgeld für Hinterbliebene im Fall des Versterbens eines Abgeordneten oder eines ehemaligen Abgeordneten.Mit der von uns nun vorgeschlagenen Neuregelung bleiben wir weit hinter dem zurück, was in der Systematik anderer Versorgungssysteme gewährt wird. Beispiele: Im Bereich der Beamtenversorgung erhalten die Hinterbliebenen zwei Monatsgehälter der aktiven Dienst- oder der Versorgungsbezüge. In der Rentenversicherung wird das berühmte Sterbequartal dem überlebenden Ehegatten eines Rentenberechtigten zugestanden.Bei der Neuregelung, die nur eine Monatsentschädigung, bei längerer Mitgliedschaft die anderthalbfache Monatsentschädigung als Überbrückungsgeld vorsieht, sollte uns wirklich nicht mehr der Vorwurf der Eigenbegünstigung gemacht werden können.Die weiterhin vorgesehene Einführung der Rentenanrechnungen im Bereich der Altersentschädigung für Abgeordnete bleibt in der Anrechnungssystematik des Abgeordnetengesetzes. Wir vollziehen insofern einen Auftrag, den uns das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben hat.Abschließend noch ein Wort zur Diätenerhöhung: Wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen in der Außendarstellung dieser Regelung Wert darauf legen, daß die Diätenerhöhung wegen ihrer Zusammenfassung mit der Neuregelung der Altersversorgung der Abgeordneten draußen nicht als Ausgleich für die Beschränkungen in der Abgeordnetenversorgung mißverstanden wird.Sonst hätten wir uns mit unserer Entscheidung, beide Fragenkreise zusammen zu verhandeln, einen außerordentlich schlechten Dienst erwiesen. Sicher ist nur: Der von der Präsidentin vorgeschlagene Erhöhungssatz von 2,3 % ist angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere der Entwicklung der Entschädigungen in den Landesparlamenten, außerordentlich maßvoll; er liegt am unteren Ende der Skala.Diese Diätenrede gehört in jedem Jahr zu den weniger beliebten Pflichten der Geschäftsführer. Wer redet schon gern über seine eigenen Bezüge? Jedoch einerseits verpflichtet uns das Gesetz dazu, und andererseits ist die nun gefundene Berechnungsformel unter den unbefriedigenden Regelungen noch die beste, die wir offen und mit guten Gründen vertreten können. Ich denke, die vorgeschlagene Kommission wird die Präsidentin zusätzlich beraten und auch in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, daß diese Dinge klar in der Öffentlichkeit diskutiert werden und daß das bezahlt wird, was angemessen ist. Allerdings sollten wir noch mehr darum bemüht sein, die Öffentlichkeit mehr und besser über die tatsächlichen Verhältnisse der Parlamentarier hier im Deutschen Bundestag aufzuklären und manches, was an dem Bild der Abgeordneten in der Öffentlichkeit schief ist, zurechtzurücken.
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Frau Seiler-AlbringIch fürchte allerdings, daß es in der vor uns liegenden Zeit so sein wird wie immer: Die meisten von uns werden heute in ihre Wahlkreise zurückfahren, der Familie einen freundlichen Gruß entbieten, dem Hund — so vorhanden — im Vorübergehen den Kopf tätscheln und sich dann der Vorbereitung der diversen Veranstaltungen des Wochenendes zuwenden, Veranstaltungen, in denen das Thema Diätenerhöhung natürlich eine Rolle spielen wird, Veranstaltungen, in denen man einmal wieder erklären wird, was man eigentlich tut, um dieses zu rechtfertigen, und in denen man immer wieder einen verblüffenden Erfolg dann erzielt, wenn man darauf hinweist, daß die möglicherweise ebenfalls anwesenden höheren Beamten der Verwaltung, der Landrat oder der Bürgermeister, längst an den Abgeordnetenbezügen vorbeigezogen sind. Am Montag packt man dann den Koffer und fährt einer neuen Sitzungswoche in Bonn entgegen in der klaren Erkenntnis, daß es niemanden gibt, der einen dazu zwingt, daß man andererseits eine Tätigkeit ausübt, die man gern tut, die wichtig ist, die Verantwortung für die Bürger auferlegt, der man gern gerecht werden möchte, auch wenn es manchmal ärgerlich ist, daß dieses Bemühren nicht so recht vermittelbar ist.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Häfner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jedes Jahr erhöht der Bundestag seine Diäten, jedes Jahr entfernt er sich damit noch weiter von der Realität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und der Arbeitslosen, der Millionen wirklich Armen in dieser Gesellschaft.
— Herr Becker, das ist die schlichte Wahrheit. Vergleichen Sie doch einfach einmal die Größenordnungen, und versuchen Sie bitte, einmal zuzuhören.Wir lehnen diese Diätenerhöhung wie übrigens auch schon die vorangegangenen Diätenerhöhungen ab.
Wir sind der Meinung, daß die Einkünfte der deutschen Bundestagsabgeordneten — übrigens auch der Europaabgeordneten, über die wir hier meines Erachtens unrichtigerweise mit verhandeln —
zu weit über dem Durchschnitt der Einkünfte derer liegen, die wir hier vertreten und deren Schicksal wir in unseren politischen Entscheidungen ernst nehmen sollten.Wer, wie dies die Mehrheit des Deutschen Bundestages in dieser Legislaturperiode getan hat, ziemlich kaltschnäuzig und rücksichtslos von den Bürgerinnen und Bürgern draußen verlangt, sie sollten den Gürtel enger schnallen, kann nicht für sich selbst diesen immer weiter machen, sondern muß mit der Verwirklichung dieser Appelle bei sich selbst anfangen. Wir jedenfalls machen das nicht mit. Es geht aber in der heutigen Debatte aus meiner Sicht noch um Wichtigeres als um die alljährliche Diätenerhöhung.Mit dem vorgelegten interfraktionellen Antrag soll die Altersversorgung der Abgeordneten des Bundestags völlig neu geregelt werden, wenn auch nur ungern und gezwungenermaßen. Doch die alte Regelung müßte schließlich weg, weil nicht nur die Bevölkerung, sondern auch das Bundesverfassungsgericht die darin enthaltene Ungleichheit und Privilegierung gegenüber der übrigen Bevölkerung nicht längst hinzunehmen bereit waren. Also gelobte der Bundestag Besserung und nahm sich in einer gemeinsam gefaßten Entschließung vor, die Regelungen der Rentenreform in vergleichbarer Weise auch auf die Versorgung der Abgeordneten zu übertragen.Was geschah — es tut mir leid, daß ich das so sagen muß — , ist das Gegenteil. Die Reform ist keine; sie hat den Namen nicht verdient. Ich meine sogar, es ist noch schlimmer: Sie ist ein Schritt in die verkehrte Richtung. Sie führt zu einer erneuten massiven Selbstbegünstigung, und sie ist eine offene Brüskierung von Beamten, Angestellten und Arbeitern, denen zur gleichen Zeit ja erhebliche Einschränkungen abverlangt werden.Nachdem das Sterbegeld im Rahmen der völlig zu Unrecht so genannten Gesundheitsreform für die Normalsterblichen gestrichen worden war, ließ es sich nach den entsprechenden Proteststürmen und unserem Antrag auch für die Abgeordneten nicht mehr halten. Das Sterbegeld wurde also gestrichen. Wir halten diese Gleichbehandlung für richtig, obwohl wir lieber gehabt hätten, daß es für alle, auch für die allgemeine Bevölkerung erhalten bleibt.Statt dessen aber gibt es ein neues, Überbrückungsgeld für Hinterbliebene genanntes Sterbegeld, das sich auf ca. 9 000 bis 14 000 DM beläuft. Millionen Menschen, die nach der Blümschen Gesundheitsreform auf das Sterbegeld ganz verzichten müssen und auch keine betriebliche Zusatzversorgung haben, werden dies nur schwer verstehen.Auch der Auftrag, die Rentenbezüge auf die Altersentschädigung anzurechnen, wie er hier im Bundestag beschlossen und durch die Entscheidung des BVG unterstrichen wurde, ist meines Erachtens nur formal verwirklicht, aber nicht real. Ich bin nicht sicher, ob dieser Effekt tatsächlich gewollt war. Ich unterstelle es aber, weil ich ein Versehen hier schlecht annehmen kann. Denn es heißt in dem uns vorgelegten Antrag, daß die Anrechnung erst auf Beträge erfolgt, die die Entschädigung nach § 11 Abs. 1 des Abgeordnetengesetzes übersteigen. Logisch und richtig wäre hier der Verweis auf Entschädigungen nach § 20 des Abgeordnetengesetzes gewesen, also auf die Altersentschädigung, nicht auf die Diäten, die die aktiv tätigen Abgeordneten beziehen. Durch eine Anrechnung von Renten erst oberhalb der Höhe der Diäten aus § 11 des Abgeordnetengesetzes läuft diese Regelung praktisch leer.Wir können uns sofort darüber verständigen — das kann jeder nachvollziehen, der rechnen kann — , daß
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Häfnerdiese Regelung nicht ein einziges Mal greifen wird; denn selbst wenn Sie durch die Mitgliedschaft im Bundestag die Höchstbezüge von 75 % bekommen, erreichen Sie erst nach etwa 30jähriger zusätzlicher Einzahlung des Höchstbetrags in die Rentenversicherung überhaupt diese Grenze. Sie können aber natürlich, weil die Regelung ja erst zukünftig gilt, jederzeit in private Sicherungssysteme und nicht in die Rentenversicherung einzahlen, um so der Anrechnung aus dem Weg zu gehen. Das ist also Augenwischerei.
Aber eines — Herr Bohl, ich habe nicht mehr viel Zeit; sonst würde ich Ihnen antworten — ist mir sehr viel wichtiger. Die fast vollständige Anlehnung der Abgeordnetenentschädigung an die Beamtenversorgung ist nicht nur sozialpolitisch und finanziell ein falscher Weg, sondern es ist auch unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten ein Weg in die völlig verkehrte Richtung. Das, was als Verbesserung ausgegeben wird, nämlich einen Anspruch auf Altersentschädigung erst mit acht Jahren Zugehörigkeit zum Bundestag zu begründen und diese dann progressiv zu steigern, halte ich vor allem dann für einen Schuß nach hinten, wenn man — wie ich — eine lebendige Demokratie und ein lebendiges Parlament wünscht.
Denn Abgeordnete sind keine Beamten!
— Richtig. Auch das nicht. Aber, Frau Matthäus-Maier, Regelungen, die eigentlich für Lebenszeitbeamte geschaffen sind und die vor allem mit der besonderen Treuepflicht zum Staat und dem lebenslangen Dienstverhältnis begründet werden, können nicht die angemessenen für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sein — jedenfalls nicht,
wenn wir uns darauf verständigen, daß Abgeordneter kein Lebenszeitberuf ist, sondern — wie auch das Bundesverfassungsgericht gesagt hat — ein atypischer Lebensabschnitt außerhalb der eigentlichen beruflichen Laufbahn.
Was nicht mehr möglich ist oder nur in Einzelfällen möglich zu sein scheint, nämlich die horizontale Verbindung von Mandat und Beruf, also die gleichzeitige Ausübung von beidem, muß dann eben vertikal möglich bzw. verwirklicht werden. Das wird aber dadurch erschwert, daß wir Regelungen schaffen, die festlegen, daß man überhaupt erst nach zwei Legislaturperioden in die Altersversorgung hineinkommt.
— Früher und niedriger. Wir wollen eine Regelung, die sich an den Rentenregelungen orientiert, wie sie für die allgemeine Bevölkerung gelten. Wir habenIhnen deshalb einen Antrag vorgelegt, der genau das in knapper, aber klarer Form enthält.
Ich nenne Ihnen die Kernpunkte. Erstens. Die Abgeordneten bleiben in ihren aus der Berufstätigkeit mitgebrachten Altersversorgungssystemen. Zweitens. Es wird nicht unterschiedlich eingezahlt, wodurch es — je nach hergebrachtem Beruf — Abgeordnete erster und zweiter Klasse gäbe, sondern es wird in je gleicher Höhe eingezahlt, wobei die jeweils politisch zu bestimmende Höhe der Diäten die gemeinsame Berechnungsgrundlage darstellt. Wo dies— etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung durch das Erreichen des Höchstbetrages nicht zur Gänze möglich ist, kann ähnlich einer auch jetzt schon vorgesehenen Regelung der überschießende Betrag in ein anderes Sicherungssystem eingezahlt werden.
— In eine private Altersversicherung. Das ist doch kein Problem, Herr Bohl.So bleiben die Abgeordneten weiterhin als Ausübende ihres Berufs versichert. Sie können nach der Mandatszeit in ihren Beruf zurückkehren und haben für die Zeit hier eine wirklich angemessene Absicherung auch für das Alter. Und diese Regelung vermeidet zugleich, was ich als Wirkung Ihres Antrags sehe, nämlich die noch stärkere Tendenz zu sesselklebenden Lebenszeitparlamentariern, die, meine ich, nichts im Sinne einer lebendigen Demokratie verbessern können.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ich danke für die drei Minuten Redezeit, die ich als Fraktionslose bekommen habe.Die Mindestpension der Abgeordneten soll nach acht Jahren ab dem 65. Lebensjahr 3 227 DM betragen.
— Mit dem 65. Lebensjahr. Nun nennen Sie mir einmal einen Arbeiter oder Angestellten aus der Rentenversicherung, der das hätte, selbst wenn er 45 Jahre eingezahlt hätte. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis —das sind die neusten Daten — , daß nur 31,6 % der Versicherten in der Arbeiter- und Angestelltenversicherung — nur 31,6 %! — überhaupt 45 Versicherungsjahre haben.
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Frau UnruhDann können Sie sich doch vorstellen, daß das, was Sie hier wieder zur Schau ausfechten, draußen bestimmt nicht ankommt.30 % der Arbeiter — das sind Zahlen, die Sie natürlich alle kennen — können überhaupt nur bis zum 65. Lebensjahr arbeiten. Genau denen nehmen Sie mit der neuen Rentenreform — weil sie langzeitkrank, weil sie langzeitarbeitslos sind — auch noch 20 % der Rente wieder weg. Das heißt, man muß tatsächlich bis zum 65. Lebensalter arbeiten, ob man will oder nicht; denn nur dann bekommt man ohne Abzüge seine Rente.Nach dem 18. Abgeordnetenjahr gibt es aber bereits ab dem 55. Lebensjahr 6 916 DM ohne eigene Einzahlung.
Mit welchem Recht nehmen Sie den einen das Geld aus der Lohntüte, mit dem sie ihre spätere Rente finanzieren müssen, und bei Ihnen in der Abgeordnetentüte bleibt alles schön drin, und Sie haben dadurch auch einen viel, viel höheren Lebensstandard? Frauen erreichen nur zu 2,8 % 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre.Jetzt reden Sie immer alle: Wir wollen irgendwo gleichwertige Verhältnisse schaffen. Und was haben Sie wieder gemacht? Sie haben nicht dafür gesorgt, daß Beamte, daß wir einzahlen müssen; nein, Sie haben sich noch besondere Privilegien gegenüber dem Beamtenstand verpaßt. Sie sind nämlich gar nicht bereit, auf 100 % zusätzlicher Renten zu den Pensionen zu verzichten; nein, auch da haben Sie sich schnell mal wieder über den § 55 ein Privileg gesucht, damit Sie um Gottes willen auch noch diese doppelte Rente kassieren können. Das soll einer draußen verstehen! Was meinen Sie, wie froh ich bin, daß es die Grauen gibt.
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe lange überlegt, ob ich nicht diesem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP zustimmen kann.
Dieser Gesetzentwurf mit seinen vorgesehenen Regelungen ist wirklich christlich, sozial und liberal, wobei das, was die GRÜNEN vorgeschlagen haben, sicherlich immer noch meilenweit von dem entfernt ist, was die Menschen draußen leisten müssen.
Ich bin mir auch im Gegensatz zu der Kollegin Unruh sicher, daß jeder draußen verstehen wird, daß sich die Bonzen, die sich acht Jahre hier den Hintern blank sitzen, auch noch in diesem Maße selbst bedienen.
Ich bin mir genauso sicher, daß draußen jeder verstehen wird, und zwar nicht nur im Wahlkampf — —
Herr Abgeordneter Wüppesahl, ich lasse mir das Protokoll kommen und werde danach meine Ordnungsmaßnahmen, wenn sie nötig sind, treffen.
Walten Sie Ihres Amtes, Herr Präsident, selbstredend.Ich denke, jeder wird, nicht nur im Wahlkampf, auch verstehen, was Sie hier regeln, vor allen Dingen Gruppen wie Behinderte, Sozialhilfeempfänger, die Verfolgten Nazi-Deutschlands und andere Benachteiligte. Es ist also richtig ausgewogen und sozial. Ich kann zum Glück auf Grund meiner beiden Vorrednerinnen sehr pointiert und auf den Kern zugespitzt formulieren.
— Jawohl, Herr Duve, ausgewogen und sozial, und Sie wollen verkleistern, was Sie sich hier selber in die Tasche scheffeln.
Ich finde es aber auch gleichzeitig entlarvend. Oder handelt es sich hier vielleicht um ein vorgezogenes Rentenmodell für alle?
Meine Damen und Herren, um das jetzt noch einmal abschließend klarzustellen: Die Vorteile und die Begünstigungen, die Sie sich hier verschaffen, sind kolossal:Erstens. Die Übergangsregelung für Abgeordnete ist erheblich günstiger als bei Rentenversicherten.Zweitens. Die Anrechnung überschießender Beträge aus anderen Einkommen ist nicht vergleichbar mit dem, was die Menschen draußen in die Rentenversicherung zahlen müssen.Drittens. Die Tatsache, daß Sie nach acht Jahren 3 227 DM bekommen wollen, ist einfach ungeheuerlich. Da fehlt jeder Maßstab; jeder Realitätsbezug ist da verlorengegangen. Und dann wollen Sie für jedes zusätzliche Jahr Abgeordnetentätigkeit weitere 4 bekommen. Da fällt einem wirklich nichts mehr ein.
Viertens. Die Wahlfreiheit zwischen Beihilfe und gesetzlicher Krankenversicherung ist ebenfalls ein Privileg, das Sie sich hier weiter erhalten möchten.Fünftens. Die Möglichkeit freiberuflicher Tätigkeit ohne Abzüge bei der Abgeordnetenpension ist ein weiteres Privileg, das Sie den Menschen draußen nicht zugestehen wollen.Sechstens. Das gilt schließlich auch für die vorgezogene Altersgrenze von 55 Jahren nach mindestens viereinhalb Wahlperioden.
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WüppesahlUnd dann schreien Sie hier aus der linken Ecke, also Sie Sozialdemokraten, sogar noch,
wenn ich die angemessene Wertung und Bewertung dieses ungeheuerlichen Entwurfs in das Protokoll des Deutschen Bundestages bringe.
— Herr Duve, warum machen Sie nicht, wie es dem parlamentarischen Brauch entspricht, eine Zwischenfrage, oder warum melden Sie sich hier nicht zu Wort, so daß die Diskussion so stattfinden kann, wie sich das üblicherweise gehört?
Herr Abgeordneter, Herr Duve kann sich nicht zu einer Zwischenfrage melden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ich bin am Ende.
Einen Moment, bitte. Sie wissen ganz genau, daß das bei mir nicht so durchläuft. Herr Duve kann sich nicht mehr zu einer Zwischenfrage melden, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich bitte darauf Rücksicht zu nehmen. Das ist die Vereinbarung.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte zunächst gar nicht vor, hier noch das Wort zu ergreifen. Aber nach den Beiträgen der letzten drei Redner komme ich nicht umhin, aus der Sicht unserer Fraktion und aus eigener Beurteilung etwas anzumerken.Ich finde es wirklich schon sehr, sehr merkwürdig, wenn man über diese Vorschläge nicht einigermaßen sachlich diskutiert — man kann auch das eine oder andere als nicht so geglückt empfinden und beurteilen — , sondern wenn dieses Thema in erster Linie ganz offenkundig dazu mißbraucht wird, hier Wahlkampf zu machen, oder wenn man meint, sich persönlich in abwertender Weise gegenüber anderen äußern zu sollen, um sich selbst zu profilieren. Ich finde das ganz, ganz merkwürdig. Wenn man mit dem Flugzeug 1. Klasse fliegt, obwohl es nach unseren Bestimmungen auch mit der 2. Klasse ginge, dann wirkt es irgendwie sehr, sehr komisch, wenn man dann anderen hier vorwirft und vorhält, sie würden in die eigene Tasche wirtschaften. Ich finde das sehr, sehr merkwürdig.
Ich finde es zwar nicht schön, daß man sich das gegenseitig vorhalten muß
— so ist es, Herr Kollege Jahn — , aber ich mußte das in diesem Zusammenhang doch einmal loswerden.Jetzt noch einmal zu dem Sachverhalt. Ich will gern einräumen, daß auch wir noch weiter lernfähig sind. Deshalb hat — Kollege Becker hat es mehrfach betont — diese Arbeitsgruppe gesagt: Wir wollen einen bei der Präsidentin anzusiedelnden Sachverständigenrat — ich nenne ihn jetzt einmal so — bilden, der das, was sonst noch an Anregungen kommt, hier einbringt. Wenn es dann eine gute Idee, einen guten Vorschlag gibt, werden wir ihn natürlich gerne aufgreifen, warum eigentlich nicht?
So war es auch 1976, als wir damals umstellen mußten. Auch da hat es einen Sachverständigenrat gegeben; ich glaube, der DGB-Vorsitzende Rosenberg war damals dabei. Es war also eine breite personelle Palette. Wir können das in abgewandelter Form natürlich auch jetzt noch einmal überprüfen.Wir verkleistern doch nichts. Ich weiß nicht, wer es gesagt hat; ich meine, es war Herr Häfner, aber ich kann mich täuschen. Wieso verkleistern wir hier etwas? Hier findet die erste Lesung vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit statt, jeder kann in das Gesetz hineinschauen, Sie können Ihre — wie ich finde, sehr unsachliche — Kritik äußern. Was wollen Sie eigentlich noch mehr? Wir stehen zu dem, was wir erarbeitet haben.Jetzt können wir die Punkte im einzelnen durchgehen. Machen wir das in aller Ruhe! Wir ändern § 24 des Abgeordnetengesetzes, der als „Sterbegeld" durch die Öffentlichkeit geht. Wir sagen, wir wollen nicht bessergestellt werden als andere Bürger auch. Deshalb gibt es im Sterbefall die normale Regelung wie für jeden anderen Bürger auch. Wer in der AOK versichert ist, bekommt sein Sterbegeld, für diejenigen, die in der Beihilfe sind, gibt es eine andere Regelung.Nun standen wir vor folgender Frage: Wenn hier ein, ich darf so sagen, „amtierender Abgeordneter" stirbt, haben die Witwe oder die Hinterbliebenen noch besondere Verpflichtungen. Wir haben hier alle in Bonn unsere Wohnungen, wir haben im Wahlkreis Büros angemietet, und dergleichen mehr. Wo ist eigentlich die Ungerechtigkeit, wenn wir wie ansonsten
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Bohlauch in der Privatwirtschaft, in der Industrie, im öffentlichen Dienst ein Überbrückungsgeld zahlen? Nun können Sie sagen: Wir sind der Meinung, das soll nicht eine Monatsentschädigung sein, sondern nur eine dreiviertel Monatsentschädigung. — Über dies alles kann man ja reden. Aber so zu tun, als würden wir mit der Zahlung des Überbrückungsgelds uns in die eigene Tasche wirtschaften, kann ich einfach nicht nachvollziehen. Seien Sie doch wirklich mal ganz ohne Scheuklappen, ganz nüchtern und ganz sachlich. Dann können Sie doch zu einem solchen Urteil bei Gott nicht kommen.Wir sagen: Wer länger als zwei Legislaturperioden im Bundestag ist — dann sind die Verpflichtungen zum Teil länger eingegangen — , dem geben wir eine anderthalbfache Monatsentschädigung. Ich kann daran nichts Vorwerfbares finden.Nun zu dem, was Sie hier zur Anrechnung der Renten vortragen. Wie ist die Sachlage? Die gegenwärtige Rechtslage ist, daß jemand, der 75 % und zusätzlich eine Pension bekommt, den Betrag, der über die monatliche Entschädigung hinausgeht, also 9 000 DM, zu 50 % gekürzt bekommt.Diese Regelung ist vor dem Bundesverfassungsgericht — wie Sie vielleicht wissen — angegriffen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, es ist keine Ungleichbehandlung gegenüber anderen. Es ist ein eigenständiges System der Abgeordnetenversorgung, ist verfassungsgemäß, ist in Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat gleichzeitig einen Hinweis gegeben und hat gesagt: Daß ihr aber die Renten nicht einbezieht — ich sage es jetzt mit meinen Worten; ich habe den Text nicht im Kopf — , ist bedenklich, weil Renten auch Zahlungen aus öffentlichen Kassen sind. Ihr dürft nicht die Pensionen anrechnen, aber die Renten nicht.Dann haben wir gesagt: Wenn das so ist, dann machen wir das. Wenn uns dann noch etwas Besseres einfällt — Herr Becker hat es schon gesagt — , reden wir darüber. Also wird das gemacht, was uns das Bundesverfassungsgericht sagt, was rechtmäßig und korrekt ist. Was ist daran vorwerfbar? Was rechtfertigt Ihre Kritik in der Form, wie Sie sie vortragen? Ich kann das beim besten Willen nicht sehen.Es ist auch nicht so, wie Herr Häfner sagt, daß das niemanden trifft. Wenn jemand 75 %, eine Pension und eine Rente hat, kann ihn das durchaus voll zu 50 % bezüglich der Rente treffen. Es ist also die Unwahrheit, zu sagen — —
— Herr Häfner, seien Sie mir nicht böse! Sie sind ja sonst so sachkundig, daß ich fast nicht glauben kann, daß Sie jetzt sagen, was Sie meinen.Der § 55 und die Anrechnungsregelung des § 29 des Abgeordnetengesetzes sind zwei völlig verschiedene Dinge, sie haben miteinander nichts zu tun.
Bitte nicht den § 55 mit dem § 29 in Verbindung bringen; das ist wirklich etwas anderes.
— Frau Unruh, ungleiche Tatbestände können nach dem Grundgesetz — das wird Ihnen Herr Häfner gerne bestätigen —, auch ungleich behandelt werden. Gleiche Tatbestände müssen gleichbehandelt werden.
— Dann haben Sie vielleicht nicht richtig zugehört, weil Sie immer so lautstark sprechen und dann nicht hören, was andere sagen.
— Ja, ich habe noch genau sieben Minuten.
Das zu diesem Punkt. Auch das ist eine klare Regelung.Jetzt zu dem nächsten Punkt. Ich will Ihnen gerne einräumen, Herr Häfner — das hat auch in unserer Fraktion eine gewisse Rolle gespielt — , daß die Verlängerung auf 18 Jahre unserem Anliegen, mehr Flexibilität hineinzubringen, nicht ganz gerecht wird. Es gab auch in unserer Fraktion Bedenken. Das ist völlig richtig. Nur, wir standen vor folgender Situation: Wir muten sowohl bei der Beamtenversorgung wie auch bei der Abgeordnetenversorgung dem Bürger etwas zu. Wenn wir angleichen, dann müssen auch wir da Opfer bringen.
Wir müssen gegenüber der Regelung, die wir jetzt haben, eine Veränderung vornehmen. Deshalb sind wir von 16 auf 18 Jahre gegangen.
— Frau Unruh, wenn Sie jetzt nicht zuhören, dann verstehen Sie es wieder nicht. Das ist dann Ihr Problem.
Wir haben die jährliche Zuwachsrate von 5 auf 4 % abgesenkt. Wir bleiben bei der Linearisierung. Auch das ist eine Regelung, die synchron zu der sonstigen Neuordnung der Versorgung vorgenommen wird. Man kann natürlich auch darüber diskutieren und sagen: Ihr solltet nicht 18, sondern 19 oder 17 Jahre nehmen. Oder: Ihr solltet mit sieben Jahren anfangen. Das sind alles Argumente, über die man reden und auch diskutieren kann. Aber so zu tun, als wäre das keine Anpassung an das, was wir auf anderen Feldern tun, ist schlicht und einfach die Unwahrheit.
— Natürlich ist es eine Veränderung. Frau Unruh, Sie müssen einfach mal zu Kenntnis nehmen, daß die Regelung bisher so war, daß sie nach 16 Jahren 75
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Bohlbekamen und daß sie in Zukunft nach 16 Jahren 67 bekommen. Das sind 8 % weniger nach 16 Jahren. Wenn das keine Veränderung ist, dann weiß ich nicht, wo Sie während Ihrer Schulzeit Mathematik gelernt haben. Das müßte Ihnen wirklich irgendwie mal eingehen. Also auch das ist ein klarer Punkt.Ich will deshalb aus meiner Sicht wirklich noch einmal versuchen, hier deutlich zu machen, daß alle fünf Punkte, die der Kollege Rüttgers, der Kollege Becker, Frau Seiler-Albring hier vorgeschlagen haben, der ernsthafte Versuch sind — ich bitte, uns das auch mal abzunehmen — , dieser schwierigen Materie gerecht zu werden; etwas zu tun, was den berechtigten Anliegen der Abgeordneten entspricht, aber was ohne jeden Zweifel auch den Anforderungen, die die Öffentlichkeit an uns haben darf und muß, gerecht wird.
Das ist eine vielleicht im Einzelfall schwierige Wegstrecke, die hierbei zu gehen ist, aber ich finde, wir haben uns da Mühe gegeben. Wenn wir vielleicht auch noch nicht der Weisheit letzten Schluß gefunden haben, wir lassen uns von Ihnen bei diesem Bemühen jedenfalls nicht diffamieren. Das sollten Sie mal zur Kenntnis nehmen, Frau Unruh! Ich finde das eine Unverschämtheit, wie Sie hier gegen uns agieren.
Herr Abgeordneter Bohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Eine Sekunde noch, Herr Präsident.
— Sie können alles erklären.
Ich will Ihnen mal folgendes sagen. Ich bin jetzt neun Jahre Bundestagsabgeordneter, war zehn Jahre vorher Mitglied eines Landesparlaments, ich bin jetzt 19 Jahre Abgeordneter. Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich finde es wirklich unerträglich, daß Sie
— Sie machen ja anschließend wieder eine Pressekonferenz — ständig versuchen, uns Abgeordnete in eine ganz bestimmte Ecke zu drängen, daß Sie ständig versuchen, den Abgeordneten und damit auch das deutsche Parlament zu diskreditieren.
Ich finde, das ist eine bodenlose Unverschämtheit, weil Sie damit den Kräften in unserer Gesellschaft Vorschub leisten,
die gegen unsere parlamentarische Demokratie eingestellt sind, und das ist der Punkt, der hier auch mal deutlich gesagt werden muß.
Herr Abgeordneter Bohl, es gibt zwei Wortmeldungen zu Zwischenfragen.
Bitte.
Herr Bohl, meinen Sie nicht auch, daß es den Abgeordneten dieses Hauses gut anstünde, angesichts der Tatsache, daß die Abgeordneten ab 1990 durch die Steuerreform einen Nettogewinn von ca. 6 700 DM im Jahr haben, auf die Diätenerhöhung zu verzichten?
Zunächst einmal ist ja wohl festzustellen, daß es um die Erhöhung geht, die die Frau Präsidentin vorgeschlagen hat, die der allgemeinen Einkommensentwicklung entspricht. An diesen Zahlen rühren Sie offensichtlich selbst nicht; das ist erfreulich. Das soll zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten.
Die Steuerreform, von der Sie sprechen, ist ein davon völlig getrennter Sachverhalt. Wenn Sie Bedenken gegen die Steuerreform haben, die Sie schon immer wieder artikuliert haben, dann bemühen Sie sich, in diesem Rahmen Mehrheiten zu besorgen. Das ist Ihr gutes Recht, das hat aber mit der Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung wirklich nichts zu tun.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Häfner.
Herr Bohl, wollen Sie zur Kenntnis nehmen und einräumen, daß wir uns alle um eine möglichst optimale Lösung bemühen — deshalb haben wir auch einen Antrag vorgelegt und nicht nur Kritik geäußert — , daß es aber bei einer solchen möglichst optimalen Lösung verschiedene Kriterien gibt? Das Kriterium der Ausrichtung an dem, was andere Bürger sozusagen in der Rentenkasse haben, ist ein solches legitimes Kriterium, das gegenüber anderen Kriterien, z. B. dem Wunsch, auch Leute aus der Wirtschaft oder Leute, die mehr verdienen, in den Bundestag zu bekommen, abgewogen werden muß. Wollen Sie mir unter dieser Vorbedingung zustimmen, daß die jetzt gefundene Lösung tatsächlich, wie von mir behauptet, den Lebenszeitparlamentarier fördert und gerade nicht den Wechsel, wie wir es eigentlich im Sinne einer lebendigen Demokratie wünschen sollten?
Ich habe Ihnen schon gesagt, Herr Häfner, daß Ihr Grundanliegen durchaus auch bei uns gewisses Verständnis und gewisse Sympathie findet. Nur erscheint uns der Lösungsvorschlag nach dem ersten Prüfen wenig hilfreich. Sie bleiben nach Ihrem Vorschlag in Ihrer eigenen Versorgung und müssen anschließend dennoch eine eigene zusätzliche Abgeordnetenversorgung schaffen, um den überschießenden Versorgungsanteil zu erreichen, also eine Lösung, die damals auch diskutiert worden ist, was dazu geführt hat, daß wir zu einer eigenständigen Abgeordnetenversorgung gekommen sind. Deshalb kann ich nicht sehr viel Sympathie für Ihren konkreten Lösungsvorschlag empfinden.Aber ich will noch einmal im Klartext sagen: Was wir jetzt hier vorschlagen, ist ja nichts grundsätzlich Neues, sondern es paßt unsere bisher bestehende Abgeordnetenversorgungsregelung an die veränderten Daten an, die sich durch die Renten- und Beamtenver-
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Bohlsorgungs-Änderungen ergeben. Sie schlagen nicht etwas grundsätzlich Neues vor. Das gibt — sicherlich wird das im einzelnen zu prüfen sein — keinen Anlaß und keine Berechtigung, diese von Ihnen hier so maßlos überzogene Kritik vorzutragen.
Herr Präsident, ich möchte versuchen, einen Schlußsatz zu sagen. Wir haben uns in diesem Hause — ich sage das noch einmal mit allem Nachdruck — sehr viel Mühe bei der Erarbeitung dieses Konzepts gegeben, und ich glaube, wir können auch in der Öffentlichkeit — wenn man die Argumente vernünftig abwägt — durchaus bestehen.Wenn die GRÜNEN hier wieder versuchen, ihr parteipolitisches Süppchen zu kochen, dann muß ich nach dem, was ich vor dem Bundesverfassungsgericht bei der Darlegung ihrer Fraktionsfinanzen erlebt habe, sagen,
daß sie doch wirklich einmal etwas zurückhaltender sein sollten, wenn sie anderen bestimmte Dinge in die Schuhe schieben wollen. Wir stehen zu diesem Gesetzentwurf und glauben, daß in den parlamentarischen Beratungen weiter gute Verbesserungen erzielt werden können, so daß wir dann zumindest seitens der drei großen Fraktionen hier im Bundestag einvernehmlich zu einer Verabschiedung kommen können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Abgeordnete Wüppesahl hat sich gemäß § 30 unserer Geschäftsordnung zu Wort gemeldet. Ich unterstelle, daß sich seine Ausführungen insbesondere auf den vierten Satz, zweiter Halbsatz, beziehen, in dem es heißt: ,,...eigene Ausführungen richtiggestellt werden; ...".
Dazu erteile ich ihm das Wort.
Das war schon eine ungewöhnliche Einführung meines Redebeitrags nach § 30 der Geschäftsordnung! Ich werde sowohl den Anlaß, den Herr Stücklen unterstellt, als auch einen weiteren, nämlich eine Äußerung zu meiner Person, zum Gegenstand dieses Geschäftsordnungsbeitrages machen.
Ich fange mit dem Beitrag zu meiner Person an, wobei schon bezeichnend ist, wie an bestimmten Stellen hier plötzlich Interna, die üblicherweise nicht im Plenum verhandelt werden — z. B. eben die Äußerungen von Herrn Bohl in bezug auf die Fraktionsfinanzierung der GRÜNEN — , auftauchen.
Das gilt aber auch im besonderen — deswegen rede
ich ja jetzt hier — für Herrn Duve und einige andere,
die mir vorwerfen, daß ich gelegentlich erster Klasse in der Lufthansa sitze.
Meine Damen und Herren, ich sitze da auch gelegentlich. Dazu stehe ich auch.
Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Sie haben hier die Mehrheit, und ich kann nicht einmal einen Antrag einbringen, der diesen Zustand abschafft.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, ich stoppe die Zeit.
Ja, danke.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, daß es einen Antrag im Deutschen Bundestag gibt, der die Mehrheit abschafft, ist in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen.
Das habe ich nicht gesagt, und das Lachen ist im Grunde wieder entlarvend.
Bringen Sie einen Antrag ein, der das Privileg für Bundestagsabgeordnete, erster Klasse fliegen zu können, abschafft. Dann habe ich kein Problem damit, auch in der zweiten Klasse zu sitzen.
Daß ich das gelegentlich mache, liegt schlicht und einfach daran, daß Sie mir hier Arbeitsbedingungen verschaffen, die im Vergleich zu dem, was Sie alles an Vorteilen haben, wirklich hohnsprechen. Bei meiner hohen Arbeitsbelastung nehme ich mir dieses Privileg, weil es mir geboten wird.
— Regen Sie sich doch wieder ab und hören sich einfach das an, was ich zu sagen habe.Nun zu dem Wort „Bonzen": Meine Damen und Herren, das ist von mir sicherlich mißverständlich formuliert worden. Es ist im folgenden Sinne gemeint gewesen. Viele Menschen draußen sprechen schlecht über uns, weil z. B. auch in dem Änderungsgesetz, das von den drei großen Fraktionen eingebracht worden ist, Privilegien enthalten sind, von denen sie nur träumen können.Ich füge ein weiteres zu den sechs genannten Beispielen hinzu: Nehmen Sie die Aufwandspauschale. Es gibt im gesamten Steuerrecht keine Berufsgruppe, die das Privileg hat, nicht nachweisen zu müssen, welche Aufwandskosten man tatsächlich hatte.
Solche Dinge bringen natürlich den Geruch des Bonzentums für Abgeordnete in die Diskussion. Ich bitte, diese Formulierung in diesem Sinne zu verstehen, nicht aber als pauschale Diffamierung gegenüber jedem Kollegen — —
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Herr Abgeordneter Wüppesahl, Sie haben nicht das Wort bekommen, um über diesen Gesetzentwurf zu diskutieren, sondern Sie haben die Möglichkeit bekommen, eine persönliche Erklärung abzugeben. Ich bedaure, daß diese persönliche Erklärung so vage und unzureichend ausgefallen ist. Ich dachte, ich könnte auf jegliche Ordnungsmaßnahme verzichten.
Ich würde den letzten Satz gern noch zu Ende ausführen.
Ich wollte damit natürlich keine pauschale Diffamierung jedes Kollegen und jeder Kollegin als nicht arbeitsam oder nicht dienstbeflissen, als nicht seriös wirkend und ähnliches mehr zum Ausdruck bringen,
sondern genau das, was ich soeben noch einmal differenziert und akzentuiert formuliert habe. Ich denke nach wie vor, daß die Erregung an solchen Punkten sehr viel mehr Beleg für die Berechtigung bestimmter Äußerungen von mir ist, als so mancher Satz es auszudrücken vermag, den ich darauf verwendet habe.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich werde im Laufe dieser Sitzung darauf zurückkommen.
Die Aussprache ist geschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/5303, 11/5304 und 11/3109 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Herr Abgeordneter Wüppesahl, bleiben Sie doch bitte hier im Saal! — Außerdem soll der Antrag auf Drucksache 11/5338 an dieselben Ausschüsse wie der Antrag auf Drucksache 11/5304 überwiesen werden. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Es ist dann so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, darf ich der Öffentlichkeit den Zustand hier verständlich machen.
Es ist gänzlich ausgeschlossen — das spricht eben für die Verantwortung und die Pflicht eines Abgeordneten —, daß sich ein Abgeordneter hier in unqualifizierter Weise äußert und die Chance, die ihm gegeben worden ist, nicht nutzt, um sich für seine Entgleisung zu entschuldigen. Entgleisen kann jeder Abgeordnete hier, wie wir wissen. Aber jede Entschuldigung bereinigt diese Entgleisung. Dann jedoch den Saal demonstrativ zu verlassen, das entspricht nicht der Aufgabe eines Abgeordneten. Die Pflichterfüllung erfordert mehr.
Wenn ein Abgeordneter nicht mehr seine Pflicht erfüllt, so kann er über die ihm zustehende Vergütung dafür, daß er seine Pflicht erfüllt, überhaupt nicht kompetent reden.
Da der Herr Abgeordnete Wüppesahl jetzt nicht mehr anwesend ist, will ich meine Kritik an seinen Äußerungen auch gar nicht überziehen und diese auch nicht überbewerten. Ich weise sie mit aller Entschiedenheit als ungerechtfertigt zurück.
Meine Damen und Herren, ich glaube, damit sollten sich die Abgeordneten, die ihre Pflicht erfüllen, begnügen.
Ich rufe Punkte 6 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Odendahl, Dr. Penner, Kastning, Dr. Böhme , Kuhlwein, Dr. Niehuis, Rixe, Weisskirchen (Wiesloch), Duve, Bernrath, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Leseverhalten und Lesekultur
— Drucksache 11/3286 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Innenausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über Maßnahmen im Bereich des Buches
— Drucksache 11/5005 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weisskirchen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Schweiz wurden kürzlich die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens von 35 000 Rekruten untersucht. Das Ergebnis war erschreckend: Vor 75 Jahren war das Niveau höher als heute.In „Le Monde" wird in der Ausgabe vom 25./26. Juni über eine Umfrage des Instituts Insee berichtet. Danach haben über 3,3 Millionen Erwachsene in Frankreich erhebliche Lese- und Schreibschwächen. Das sind 9 % der Bevölkerung. Es wird dabei differenziert zwischen denen, die in Frankreich geboren sind — davon sind es immerhin 1,9 Millionen —, und denen, die aus verschiedenen Ländern, insbesondere aus Nordafrika, nach Frankreich gekommen sind; von denen sind es 1,4 Millionen. Aber diejenigen, die in Frankreich geboren sind und die nicht lesen und schreiben können, jedenfalls erhebliche Schwächen haben, sind 6 To der gesamten Bevölkerung.
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Weisskirchen
Daniel Boorstin hat in einem Bericht an den amerikanischen Kongreß über das Ausmaß des Analphabetismus in den USA vor fünf Jahren festgestellt, daß mindestens 23 Millionen in den USA davon betroffen sind und daß man jährlich rund drei Millionen Menschen hinzurechnen müsse.Der Erziehungsministerrat Kanadas veröffentlichte im März 1988 eine Erklärung zur Leseunfähigkeit Erwachsener. Nach diesem Dokument müssen fast fünf Millionen Kanadier als funktionale Analphabeten eingestuft werden.Die Universität von Lancaster hat alle in der Woche vom 3. bis 9. März 1958 in Großbritannien Geborenen im Laufe der letzten Jahre mehre Male auf ihre Lesefähigkeit getestet. Diese Längsschnittstudie — das ist die einzige wirkliche, die eine gesamte Jahrgangskohorte in industrialisierten Ländern untersucht hat — hat ermittelt, daß von 12 500 Menschen 13 % beträchtliche Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben.Weltweit, so sagt die UNESCO, sind ein Viertel der Erdbevölkerung — das sind rund 900 Millionen Menschen — Analphabeten.Wovon ist die Rede? Die Rede ist von Angst und Scham, die es auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Sie bleiben verborgen. Solange wir sie zudecken, verdrängen wir das Leid von vielen. 1981 stellte das Bildungsministerium fest, daß es drei Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland sein könnten, die funktionale Analphabeten genannt werden müssen.Sprachfähigkeit, Lesefähigkeit und Schreibfähigkeit produzieren Kultur. Wo sie geschwächt sind, wird ungenauer über sich selbst nachgedacht, schwinden die Fähigkeiten zur Kritik und finden möglicherweise Irrationalismus und Barbarei die Einbruchstelle, durch die sie Humanität und Demokratie unterspülen können.Unser Antrag zielt darauf ab, daß Bund und Länder gemeinsam eine Konzeption vorlegen, damit die Offentlichkeit über das Ausmaß und die Bedeutung dieses Problems aufgeklärt wird, die Betroffenen angeregt werden, sich bewußt und aktiv damit auseinanderzusetzen, unzureichend lesen und schreiben zu können, die Volkshochschulen und andere Träger der Erwachsenenbildung ermutigt werden — auch materiell besser unterstützt werden — , ihre Arbeit in diesem Feld zu intensivieren, und schließlich die Hemmungen überwunden werden, um mit dem Abbau des Defizits zugleich neue Handlungskompetenzen aufbauen zu können.Lassen Sie mich an dieser Stelle — auch an das Ministerium gerichtet — ganz deutlich unterstreichen: Es hat durch Modellprojekte gute Feldarbeit gegeben. Es wäre gut, zu überlegen, in welcher Form die Modellarbeit, die dort geleistet worden ist, fortgesetzt werden kann. Man kann sich auf viele Fachleute stützen, zum Beispiel auf das Adolf-Grimme-Institut und viele andere, oder auf die Pädagogische Arbeitsstelle in Frankfurt. Da ist Hervorragendes geleistet worden.Unser Antrag zielt natürlich auch darauf ab, diese Arbeit dem Bundestag besser zur Kenntnis zu bringen, damit wir uns überlegen, wie wir gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen versuchen können, Leid, Angst und Probleme — was möglicherweise drei Millionen Menschen betrifft — aufzudecken, und wie wir mit ihnen gemeinsam versuchen können, diese Krankheit, an der sie leiden, zu bekämpfen.Unser Antrag will also die Möglichkeit schaffen, daß sich die zuständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages auch mit der Frage befassen, welchen Zusammenhang es — das ist ja an einer Stelle angemerkt — zwischen dem Konsum neuer elektronischer Medien und dem offensichtlichen Rückgang der Leseintensität gibt.In der 1986 veröffentlichten Studie „Jugend und Medien" ist für die Gruppe der Zwölf- bis Neunundzwangzigjährigen ermittelt worden, daß jeder fünfte nie ein Buch zur Hand nimmt, jeder sechste nie eine Zeitschrift und jeder achte nie eine Zeitung.Das Verschwinden der Sprache im Bildschirm mag eine unbegründete Horrorvision unverbesserlicher Zivilisationspessimisten sein. Aber die wachsende Wissenskluft zwischen gut und schlecht informierten Bürgern ist eine Quelle der Gefahr für den Bürgerdialog, und den braucht die Demokratie wie die Luft zum Atmen.Wenn die Lesekultur zugunsten der verführerischen Anstrengungslosigkeit zurückginge, sich vom Strom der Fernsehbilder dahintreiben zu lassen — es ginge mehr verloren als nur ungenutzte Zeit. Die Fähigkeit zur Kritik, zur neuen Sicht der Dinge, zu einem anderen Lauf dessen, was geschieht — diese Fähigkeit wird von der überschnellen Bilderfolge leicht zugeschüttet.Die Gegenthese zu dieser Kritik hat Vilèm Flusser formuliert und sie zugespitzt mit seiner Frage, ob die Schriftkultur überhaupt noch eine Zukunft in der Moderne hat. In der Tat — ich denke, es lohnt, sich darüber zu streiten — ist es spannend — vielleicht können wir diese Debatte im Ausschuß auch einmal führen —, ob nicht unsere lineare alphabetische Schrift durch ihre Abgeschlossenheit das Verlangen nach dem Aufbrechen ihrer nach innen gewendeten Struktur möglicherweise sogar provoziert.Der wachsende Wunsch nach Bildern und Musik, das Verschwimmen von Lebenswirklichkeit und Medienwirklichkeit kann auch gelesen werden als Wunsch nach Korrektur einer in Formeln erstarrten und nur noch aufs Instrumentelle verkümmerten Aufklärung, die sich von ihrem Ganzheitsanspruch losgelöst hat.Herr Kollege Neuhausen, schon Platon hat gesagt,
Lesen und Schreiben bedeute das Ende der Phantasie. Hans Magnus Enzensberger hat in seiner Polemik ein verborgenes Motiv aufgedeckt: Der Kampf gegen den Analphabetismus könnte ja auch zu einer neuen Form des Kampfes gegen widerständige Kulturen werden — der letzte Versuch des Kolonialismus.Ich meine, daß wir darüber streiten können und streiten sollen und daß es darauf ankommt, personale und soziale Kompetenzen zu entfalten und weiterzu-
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entwickeln. Das ist eine Voraussetzung, um Demokratie entstehen zu lassen und zu erneuern. Aber vielleicht sollten wir auch der Frage nachgehen, ob unsere Grammatik des Sehens gegenüber der Grammatik des Sprechens nicht noch unterentwickelt ist. Solange das so ist, ist das geschriebene Wort bedroht.Ich finde, wir könnten das, was im Europarat, in der EG-Kommission und in der UNESCO geleistet wird, mit unserem eigenen aktiven Beitrag mit Blick auf das nächste Jahr unterstützen, das das erste Jahr eines Jahrzehnts des Kampfes gegen den Analphabetismus in der Welt werden soll. Mit der Arbeit an unserem Antrag können wir die Chance nutzen, Mut zu machen und, falls die Beratungen das ergeben, auch neue Konzepte zu entwickeln, damit die letzten Reste des Analphabetismus auch bei uns abgebaut werden können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daweke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fritz Wirth, der Korrespondent der „Welt" in Washington, hat kürzlich in einer Sonntagszeitung, in der „Welt am Sonntag", berichtet, wie einer der großen Spitzensportler der USA, ein Football-Spieler, vor den amerikanischen Senat zitiert wurde — ich glaube, es ging um Doping — und wie der Vorsitzende ihn bat, etwas zu seiner Person zu sagen und seinen Namen zu buchstabieren. Da brach dieser Mann, der 750 000 Dollar im Jahr dafür bekommt, daß er Football spielt, und der an einer amerikanischen Universität zugelassen ist, in Tränen aus und mußte gestehen, daß er nicht in der Lage ist, seinen Namen zu buchstabieren und weitere Angaben zur Person zu machen.Diese Bilder — die im amerikanischen Fernsehen immer wieder gezeigt wurden — , wie dieser Koloß von Spieler dann weinend zusammenbrach, haben in Amerika eine Diskussion um die vielleicht 20 Millionen Analphabeten ausgelöst, die dieses Land hat.Fritz Wirth hat nicht geschrieben, daß wir auch in unserem Land vielleicht 2 bis 3 Millionen Analphabeten haben. Darüber hinaus gilt es, glaube ich, selbst bei denjenigen, die lesen, festzustellen, daß auch sie im Grunde genommen auf dem Weg zum funktionalen Analphabeten sind. Wenn ich das in diesem Hause selbstkritisch sagen darf: Ich glaube, daß auch viele Abgeordnete diesen Weg schon längst beschritten haben. Ich lese beispielsweise Belletristik nur noch, wenn mir meine Frau besonders schöne Stellen aus irgendwelchen Büchern hinlegt. Ansonsten lesen wir die Zeitung, und selbst die Zeitung lesen wir nur noch quer.Seriöse Untersuchungen sagen: Es gibt ungefähr ein Drittel Leser, es gibt ein Drittel Nichtleser, und es gibt ein anderes Drittel, das so wie wir funktionales Analphabetentum darstellt, also Leute, die eigentlich nur noch ganz begrenzt in der Lage sind, Texte zu verarbeiten, komplizierte, intellektuelle oder lange Texte aber gar nicht mehr lesen können.Ich finde, insofern hat die Anfrage der SPD ihren Sinn. Auch der Bericht der Bundesregierung enthält viele interessante Aspekte. Aber man muß auch sagen — das zeigt ja die Motivationsforschung —, daß die erste Zuständigkeit für all diese Fragen natürlich bei den Ländern liegt. Nach allen Untersuchungen ist völlig klar, daß Leser, wenn sie im Alter lesen, als Schüler zum Lesen gekommen sind. Insbesondere die Zeit von neun bis zwölf Jahren spielt im Leben eines Menschen ja eine ganz besondere Rolle.Es ist eigentlich sehr widersprüchlich, was hier festzustellen ist: Es gibt in der Bundesrepublik jährlich 60 000 neue Titel, davon immerhin 20 % Belletristik. Gleichzeitig drängt sich dieses Thema sozusagen immer mehr in den Vordergrund der Kulturpolitik.Die Bertelsmann-Stiftung hat kürzlich ein Buch vorgelegt, wo systematisch Leseforschung betrieben wird, übrigens eines der ersten.Dazu hat im letzten Jahr am 4. März Heinz Steinberg in der „Zeit" bedauernd festgestellt:Nicht eben günstig steht es bei uns um die Voraussetzungen eigener Leseforschung. Diese aber ist unerläßlich, will man das Lesen nicht weiterhin ungefördert lassen. Die Psychologie z. B. ist uns eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Lesemotivation noch schuldig, und die Soziologie hat weder die motivierten noch die unmotivierten Gruppen der Bevölkerung ausreichend untersucht. Vor allem aber dürfen alle anderen Disziplinen, in denen immerhin Ansätze sichtbar wurden, energischer zusammenarbeiten: Pädagogik und Folklore, Ökonomie und Literaturgeschichte, Kommunikations- und Medienwirtschaft.Das wäre nach dieser Einleitung auch aus meiner Sicht die erste Forderung, die man stellen müßte. Hier, denke ich, könnte auch der Bund mehr tun, nämlich tatsächlich Leseforschung mit zu fördern, damit wir Anhaltspunkte über Motivation, über die Zusammensetzung der Gruppen und dergleichen mehr bekommen.Nun noch einige Bemerkungen im Detail. Ich habe soeben von der Motivation vor allen Dingen der Neun- bis Zwölfjährigen gesprochen. Es ist aus meiner Sicht interessant, daß z. B. von der Gruppe der Sechs- bis Siebzehnjährigen fast die Hälfte angibt, daß sie täglich um die 30 Minuten liest. Die Frage ist: Was passiert eigentlich hinterher, und wo geht die Motivation zu lesen — sie sagen, daß es sehr schön ist, zu lesen — verloren?Seit Neil Postman diskutieren wir die These, ob das wohl mit den neuen Medien zusammenhängt. Ich glaube das, ehrlich gesagt, nicht. Die gleichen Leute nämlich, die lesen, benutzen auch andere Medien sehr intensiv. Es gibt also offensichtlich eine Entwicklung hin zum genutzten Medienverbund.
— Ich sage das; es kann sein, daß Sie da anderer Auffassung sind.Es ist ja auch ganz interessant, daß diejenigen, die sich Bücher kaufen, weil sie sie lesen wollen und nicht, um sie sich hinzustellen, auch diejenigen sind,
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12524 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989
Dawekedie in großem Umfang öffentliche Leihbibliotheken nutzen. Es ist also nicht etwa so, daß derjenige, der es sich nicht erlauben kann, ein Bauch zu kaufen, weil es in Deutschland nun einmal sehr teuer ist, in die Bibliothek geht und sich ein Buch leiht. Vielmehr leiht sich derjenige, der sich Bücher kauft, in erhöhtem Umfang Literatur aus. Das spricht dafür, daß es die große Gruppe — das Drittel, von dem ich gesprochen habe — der Motivierten gibt. Aber wir erreichen die anderen eigentlich nicht.Ich frage noch einmal: Was passiert, wenn es denn die Kinder und die Jugendlichen sind, die motiviert sind, bei den Erwachsenen, daß diese Motivationen verdrängt werden?Meine Fraktion veranstaltet gelegentlich kulturpolitische Dämmerschoppen.
— Kulturpolitische Dämmerschoppen sind eine alte westfälische Tradition. Übrigens diskutiert es sich beim Dämmerschoppen auch besser.
— Das würde ich nicht sagen. Ich komme gleich noch auf ein paar gute Beispiel für das, was aus diesen Gesprächen herauskommt. Sie haben den Vorteil, daß man in einer solchen Runde ohne eine Tagsordnung diskutieren kann. Da braucht auch keiner Angst zu haben, daß er hinterher zitiert wird. Deswegen werde ich auch keine Namen nennen.Dort ist kürzlich berichtet worden, daß die Deutschen, wenn sie gefragt werden, auf welches ihrer Medien sie am wenigstens verzichten wollten, nicht das Fernsehen zuerst nennen, sondern 60 % sagen, auf die Tageszeitung wollten sie am wenigsten verzichten. Das kann doch angesichts der elektronischen Dauerpräsenz in den Haushalten nur ermutigen. In der Bundesrepublik hat inzwischen doch fast jeder Haushalt einen Fernseher. Übrigens sind die Haushalte mit den meisten Büchern diejenigen, wo die wenigsten Fernseher stehen. Das ist auch ganz interessant. Da gibt es eine Korrelation. Aber trotzdem ist festzustellen, daß 60 % am wenigsten auf ihre Tageszeitung verzichten wollen, nicht etwa auf das Buch. Also im Grunde genommen auch hier die gleiche Entwicklung, die ich schon vorhin angesprochen habe.Bei dieser Gelegenheit möchte ich herzlich den drei großen Gruppen danken, die sich um Leseförderung kümmern: dem Börsenverein, mit dem wir ständig auch hier in Bonn in Kontakt sind, der uns auf den Buchmessen betreut, die ein riesiger Publikumserfolg sind, dem Literaturfonds und der Deutschen Lesegesellschaft.Da Sie eben riefen, Herr Duve, es dämmere vor sich hin, will ich sagen: Ich finde es vorzüglich, daß der Bundespräsident nun die Schirmherrschaft über die Deutsche Lesegesellschaft
— die Stiftung Lesen, Entschuldigung — übernommen hat. Das ist ja ein Signal, das er mit seiner Autorität im Lande setzen kann.Ich kann auch berichten, daß der Bundeskanzler kürzlich gesagt hat: Wenn es dieser Stiftung gelingt, mehr privates Geld zu aktivieren, gebe er für jede Mark, die sie zusammensuchte, eine Mark Bundesmittel dazu.
1,5 Millionen DM stehen schon jetzt im Haushalt. Auch das ist ein wichtiger Schritt.Schließlich müßte auch erwähnt werden, daß eine ganze Reihe gemeinsamer Projekte von Bund und Ländern existieren, die sich dieser Fragen annehmen, beispielsweise das Bund-Länder-Projekt, das Schleswig-Holstein und der Bundesbildungsminister gemeinsam durchführen. Dort geht es darum, wie man das Leseverhalten von Kindern, die schlecht oder wenig lesen, auch aus Familien kommen, in denen Lesen keine Tradition hat, fördern kann, also ihnen Literaturanregungen und Eltern, Lehrern, Erziehern Hilfestellung für die Leseförderung an die Hand geben kann. Es geht auch darum, Zugangswege und Materialien zur Leseförderung — auch nicht neu — zu erfinden und bestehende Maßnahmen der Träger zu vernetzen. Es geht auch darum — das halte ich für das Allerwichtigste — , wie man den Spaß am Lesen fördern kann. Da hat sich gerade auf der Buchmesse der Börsenverein eine Menge einfallen lassen — auch mit diesem Schiff, das kürzlich durch die Bundesrepublik gefahren ist.Ich will ein paar persönliche Wünsche — die kann ich jetzt nicht für uns alle vortragen — hinzufügen: Es gibt immer wieder Versuche, die Buchpreisbindung aufzuheben. Das wird uns auch im Zusammenhang mit dem Thema EG noch lange beschäftigen. Wir sollten die Buchpreisbindung erhalten.
Sie ist ein wichtiges Instrument, die Vielfalt im Verlagswesen zu stärken. Es tut mir furchtbar leid: Aber das ist ein Markt, der nicht typisch ist. Deshalb hat er auch seine besonderen Bedingungen.Wir haben kürzlich alle ein Video mit „ 14 Prozent" drauf ins Büro bekommen, daneben ein Buch, auf dem der Film basierte. Damit haben die Video-Leute, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, darauf hingewiesen, daß die Medien unterschiedlich behandelt werden. Ich glaube, es sollte auch im Binnenmarkt in Europa bei dem ermäßigten Steuersatz für Bücher bleiben.
Es ist dringend erforderlich, die Freigrenzen für den grenzüberschreitenden Verkehr von Buchsendungen zu erhöhen. Die Bücher werden permanent teurer. Die Freigrenzen sind nicht oder nur unzureichend angepaßt worden.Schließlich wollen wir die bundesweit tätigen Schriftstellerverbände weiterhin fördern. Ich denke, daß wir über das hinaus, was ich eben zu den BundLänder-Projekten gesagt habe, die organisierte Lese-
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Dawekeförderung vom Bund aus weiterhin unterstützen sollten.Ich habe einen letzten Wunsch. Ich weiß, daß deutsche Bücher sehr teuer sind, weil sie in der Regel nur kleine Auflagen erreichen. Aber könnte man sich nicht etwas mehr einfallen lassen, um Bücher billiger zu produzieren? Es muß nicht immer die sehr, sehr schicke Hardcover-Ausgabe sein. Könnte man nicht, wie z. B. in Ostblockländern anderes Papier nehmen?
— Ich gebe zu, die „rororo"-Reihen waren billiger. Aber daran können Sie nun auch nichts mehr machen.Wenn Sie in Ostblockländern, etwa in Prag, oder auch in Frankreich in öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, können Sie sehen — das finde ich auffällig —, daß die Leute schmökern; so sage ich das einmal. Das sieht aber nur so aus. In der Regel handelt es sich um Romane oder auch Sachbücher,
die oft auch weitergereicht werden. So etwas ist bei uns offensichtlich sehr schwer zu organisieren. Ich rege nur an, zu überlegen, ob es nicht möglich ist, günstiger zu produzieren. Der Inhalt ist wichtig, nicht so sehr die Form.
Herr Abgeordnete Daweke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Duve?
Ja, ja, sehr gern.
Herr Kollege Daweke, sind Sie bereit, jene Bedingungen, die die osteuropäischen Verlage haben — etwa Ungarn mit seiner ungeheuer hohen Lesekultur — , die Zuwendungen, die diese Verlage aus öffentlichen Haushalten bekommen, auch hier in der Bundesrepublik einzuführen?
Ich fürchtete, daß Sie das fragen würden. Ich habe eben gesagt: Ich bin gern bereit, die Privilegien im Steuerrecht, vor allen Dingen bei der Umsatzsteuer, die wir Verlagen geben, weiterhin zu verteidigen. Nur glaube ich nicht, daß man zu einer direkten Subvention kommen sollte.
Das halte ich nicht für gut.
Mein Ansatz ist eher ein anderer: ob es nicht möglich ist, tatsächlich günstiger zu produzieren, und ob wir nicht die Möglichkeiten nutzen sollten, die sich jetzt bieten, in einem größeren Markt möglicherweise zu anderen Bedingungen beim Verkauf zu kommen. Ich gebe jedoch zu, ich habe keine Patentrezepte. Ich meine aber, daß hier die Preispolitik anzusprechen ist.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir sollten den Antrag und auch den Bericht der Bundesregierung in den zuständigen Fachausschüssen ausführlich diskutieren. Vielleicht ist es möglich, gemeinsam einige Anregungen zu geben.
Zum Schluß möchte ich gerne noch anmerken: Ich habe mich meiner üblichen Art entsprechend hier relativ frei geäußert. Das sollten Sie aber bitte nicht so verstehen, daß ich nicht auch alles hätte vorlesen können, was ich hier gesagt habe.
Schönen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hillerich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zu den Bereichen Leseverhalten und Lesekultur und zum Antrag der SPD äußern.Beim Blick auf das Datum 9. November des vergangenen Jahres und auf das Ziel dieses Antrags, die Bundesregierung möge bis Mitte diesen Jahres berichten, habe ich mich gefragt, wie ernst der Antrag in Ihrer Fraktion genommen wird.Es geht um Ernstes. Es geht um die wachsende Gefahr des funktionalen Analphabetismus, und es geht um Leseverhalten und Lesekultur im Land der Dichter und Denker. Von einem Bericht der Bundesregierung verspricht man sich offenbar Abhilfe. Inzwischen ist offenbar auch die Fraktion der SPD der Ansicht, daß eine ausführlichere Anhörung in unserem Ausschuß ein geeigneteres Vorgehen wäre.Was von diesem Bericht erwartet wird, verstärkt meine Zweifel in den Antrag, vor allem, wenn Konzepte zur Bewältigung des funktionalen Analphabetismus erwartet werden, um „eine zuverlässige Bewertung von Schriftkultur, Lesekultur und Leseverhalten vornehmen zu können".Daraus spricht erstens eine merkwürdige Auffassung über eine omnipotente staatliche Bewertungskompetenz, die ich schlicht für abwegig halte. Zweitens werden hier und im gesamten Antrag — darüber sollten wir noch ausführlicher sprechen — die Bewältigung des funktionalen Analphabetismus und die Förderung von Leseverhalten und Lesekultur in einer Weise zusammengerührt, als ob es sich um gleichartige Probleme mit gleichen Ursachen und gleichartigen Lösungsstrategien handeln würde. Das ist meines Erachtens nicht der Fall.Funktionaler Analphabetismus ist mehr als Leseschwäche oder mangelnde Leseintensität. Funktionaler Analphabetismus liegt vor, wenn Menschen höchstens ihren Namen und einzelne Buchstaben schreiben können. Manche können, wie Herr Daweke vorhin ausgeführt hat, noch nicht einmal ihren Namen schreiben. Funktionaler Analphabetismus besteht auch bei Personen, die zwar lesen können, aber über so mangelhafte Rechtschreibkenntnisse verfügen, daß sie Situationen, in denen sie schreiben müssen, gezielt vermeiden. Funktionaler Analphabetismus hat natürlich psychische und soziale Auswirkungen für die Betroffenen, weil die damit zusammenhängenden
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Frau HillerichSelbstwertprobleme ihnen beispielsweise die Suche nach einem Arbeitsplatz erschweren.Funktionaler Analphabetismus ist also insgesamt ein gravierender Mangel an elementarer Bildung, dem nicht durch Leseförderung allein beizukommen ist, sondern nur durch Angebote umfassender elementarer Bildung, die auf die soziale Lebenssituation derer zugeschnitten sind, die nicht — meistens nicht mehr — schreiben und lesen können.Ich meine, auch hierzu benötigen wir keinen Bericht der Bundesregierung, sondern wir sollten die Erkenntnisse und sehr verdienstvolle Arbeit des Adolf-Grimme-Instituts und der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbands — beide werden mit Bundesmitteln gefördert — ernst nehmen, um politischen Handlungsbedarf zur Bewältigung des funktionalen Analphabetismus formulieren zu können.Für das kommende Internationale Jahr der Alphabetisierung bietet sich z. B. an, die Möglichkeit zu schaffen, daß die Teilnahme an Alphabetisierungskursen vom Arbeitsamt gefördert und finanziert wird. Es sind nämlich häufig Erwerbsarbeitslose, die wegen ihrer Lese- und Schreibunkundigkeit nicht vermittelbar sind. Alphabetisierung und elementare Bildung müssen zu einem Bestandteil von Strategien und Maßnahmen insbesondere zur Bewältigung von Langzeitarbeitslosigkeit werden. Auch die 1,5 Millionen, die in den 80er Jahren ohne Berufsausbildung geblieben sind und sich jetzt bestenfalls in ungesicherter Beschäftigung oder aber in Arbeitslosigkeit befinden, sowie die 8 bis 9 % eines jeden Jahrgangs, die jährlich ohne Hauptschulabschluß bleiben, weil sie vornehmlich an Lese- und Rechtschreibschwäche scheitern, werden derartige elementare Bildungshilfen benötigen.Bisher fehlen aber flächendeckende Angebote für die Vermittlung elementarer Bildung und fehlt insbesondere die finanzielle Förderung speziell für diesen Adressatenkreis. Ohne den Erwerb bzw. Wiedererwerb des Lesens und Schreibens sowie weiterer elementarer Kompetenzen für die eigene Lebensbewältigung erreichen diese Menschen gar nicht die hohe Lernbereitschaft und Lernfähigkeit, die für berufliche Qualifizierungsmaßnahmen und damit für ihre Integration in Beschäftigung erforderlich sind.Nötig ist auch, die fachliche Qualifikation und die Fortbildungsmöglichkeiten derer zu gewährleisten, die Alphabetisierungskurse und elementare Bildungsmaßnahmen leiten. Es handelt sich hierbei um anspruchsvolle pädagogische Arbeit, die entsprechende Qualifikation und Kontinuität erfordert. Vielfach wird sie von stundenweise bezahlten Honorarkräften und von auf ABM-Basis eingestellten Kursleitern und Kursleiterinnen geleistet. Auch das ist der pädagogisch geforderten Kontinuität dieser Arbeit abträglich.Frühzeitige Leseerziehung und die Pflege des Leseverhaltens tragen sicher dazu bei, funktionalen Analphabetismus gar nicht erst aufkommen zu lassen. Nur wer lesen kann, kann auch lesen wollen. In diesem Sinn bauen Leserziehung und Lesekultur auf Alphabetisierung im Rahmen elementarer Bildung auf.Aber Lese- und Schreibförderung im Sinn von Pflege und Kultur des Lesens und Schreibens geht über den eher funktionalen Aspekt des Lesen- und Schreiben-Könnens im Sinn elementarer Lebensbewältigung hinaus und zielt auch auf einen anderen bildungs- und kulturpolitischen Handlungsbedarf.Die Arbeit der Deutschen Lesegesellschaft — Herr Daweke hat sie erwähnt — , die hoffentlich in der jetzigen Stiftung Lesen auf breiter Grundlage fortführt und weiterentwickelt wird, hat hierzu wertvolle Anregungen und Einsichten geliefert.Inzwischen darf als gesicherte, auch von der Bundesregierung geteilte Einsicht gelten, daß Leseerziehung d i e Grundlage für einen selbstbestimmten und kompetenten Umgang mit den neuen elektronischen und visuellen Medien ist.Einig sind sich Medienpädagogik und Kommunikationsforschung auch darin, daß Lesen als selbsttätiger Aneignungsprozeß Nähe und Distanz zum Gelesenen der Entscheidung der Leserin und des Lesers überläßt und dadurch Raum für Urteilsfähigkeit und eigene Bewertung des Lesestoffs im Prozeß der Aneignung selbst geschaffen wird. Deshalb ist eine entwickelte Lesefähigkeit eine Schlüsselkompetenz für gezielte und selbstbestimmte Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, und deshalb ist sie für die Informationsmündigkeit in einer demokratischen Gesellschaft so außerordentlich wichtig.Wir sind uns sicher auch darin einig, daß Leseförderung schon beim Erwerb der Kulturtechniken des Sprechens, Lesens und Schreibens einsetzen sollte, nicht nur als organisierte pädagogische Veranstaltung, aber durchaus in dem Sinn, daß Anregungen für die Eltern und die Arbeit im Kindergarten gegeben werden. Hierzu gehören sicher das vielfach praktizierte Vorlesen sowie viele Möglichkeiten des spielerischen Spracherwerbs, um die Phantasieentwicklung zu fördern.Dies muß selbstverständlich in der Grundschule, beim Erstleseunterricht fortgesetzt werden, wo die Vermittlung der Freude am Lesen im Vordergrund stehen muß. Die Deutsche Lesegesellschaft hat dies gefordert, und sie hat sehr recht damit.Freude am Lesen wird es nur geben, wenn das Lesen als ganzheitliche und selbstbestimmte Aneignung erfahren wird. Hieraus begründet sich die Forderung nach einem verstärkten Einsatz von Ganzschriften in der Grundschule, nach möglichst vielen selbstbestimmten Lesegelegenheiten in Schulen sowie einem entsprechenden Angebot an Kinder- und Jugendbüchern in Schul- und Gemeindebibliotheken. Zur selbstbestimmten Aneignung gehört auch, daß Kinder lernen, unter Büchern auszuwählen und Vorlieben zu entwickeln.Ich denke, wir Bundestagsabgeordneten können uns zu diesen in der Zuständigkeit von Ländern und Gemeinden liegenden Aufgaben genauso deutlich äußern, wie der Bundesbildungsminister dies z. B. auf der „Interschul" tut. In diesem Bereich werden von ihm ja auch Modellprojekte gefördert.Ich möchte noch kurz auf das Problem des Verhältnisses zwischen Lesen und elektronischen Medien eingehen. Ich glaube nicht, daß es sich hier um eine
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Frau HillerichKonkurrenz handelt. Ich halte diesen Begriff auch für unpassend, weil es hier nicht um das Konkurrieren verschiedener Anbieter geht. Die kulturellen Kompetenzen der Menschen haben mit der Struktur eines Marktes nichts gemein.Es geht um die Frage, welche Medien eine selbstbestimmte Aneignung des durch sie vermittelten Inhalts erleichtern oder erschweren. Es geht darum, inwieweit durch Mediengewohnheiten Informationsmündigkeit und die Entwicklung von Phantasie und Kreativität als Eigentätigkeit verhindert oder gefördert werden. Das sind auch die zentralen Fragen der Medienpädagogik und der kulturellen Bildung.Um deren Arbeit zu unterstützen, benötigen wir, glaube ich, nicht einen weiteren Bericht der Bundesregierung, wohl aber die gesellschaftliche Auseinandersetzung und gesellschaftliche und politische Mehrheiten auf Bundes- und Länderebene und auf kommunaler Ebene dafür, daß die vielfältigen Initiativen in diesem Bereich ihre Arbeit verstetigen und weiterentwickeln können. Neben einer breiten kulturellen Infrastruktur brauchen wir Lebens- und Arbeitsbedingungen, die allen Menschen in unserer Gesellschaft Zugang zu kultureller Bildung, zu kulturellem Genuß und zu kultureller Eigentätigkeit ermöglichen.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte unterscheidet sich von manch anderen Debatten dadurch, daß auf sie nicht das zutrifft, was die Dichterin Rose Ausländer in einem Gedicht mit der Überschrift „Einverstanden" einmal so formulierte:Ich binmit allem einverstanden sagt eine Minutedie nächste sagtNeindie nächsteJaach, diese zanksüchtige Zeit.Das ist heute morgen hier in unserer Debatte jedenfalls nicht so. Ich finde das auch für die künftige Arbeit im Ausschuß wichtig, wo wir uns ja mit den hier angeschnittenen Themen zu beschäftigen haben.Die SPD nimmt mit ihrem Antrag „Leseverhalten und Lesekultur" den Titel einer Großen Anfrage wieder auf. Ich habe es immer bedauert, daß wegen des Ablaufs der Legislaturperiode über diese Anfrage und über die Antwort der Bundesregierung nicht debattiert werden konnte.Die Verquickung in dem gemeinsamen Tagesordnungspunkt mit einer Drucksache, die ein sprachliches Ungeheuer als Titel hat — „Bericht über Maßnahmen im Bereich des Buches" — , finde ich nicht so glücklich. Dieses Ungeheuer hat sich von der ursprünglichen EG-Vorlage bis auf die heutige Tagesordnung durchgekämpft.Ich bedaure ein wenig die Einschränkung — da stimme ich Frau Hillerich zu —, die jetzt entstanden ist, indem der große Titel „Leseverhalten und Lesekultur", der die heutigen Rundfunknachrichten dazu verführte, zu sagen, hier werde heute über das Leseverhalten der Bundesbürger gesprochen, hauptsächlich auf den Begriff des funktionalen Analphabetismus beschränkt worden ist.Zu diesem Begriff habe ich ein etwas gespanntes Verhältnis, nicht allein wissenschaftlich, sondern ich habe es auch in der Politik. Ich habe auch ein gespanntes Verhältnis — gerade unter politischen Voraussetzungen — zu der Definition, die in Ihrem Antrag enthalten ist. Ich kritisiere das jetzt nicht nachhaltig, sondern sage das nur; das ist auch ein bißchen Selbsterkenntnis.Es heißt dort nämlich, es handele sich um die fehlende Fähigkeit, aus einem Text Einsichten und Schlußfolgerungen zu ziehen. Wenn nun einer käme und vor „Einsichten und Schlußfolgerungen" „die richtigen" schriebe, dann hätte das eine Bedeutung, die wir, glaube ich, alle nicht wollen.Wir müssen uns also bemühen, sehr sauber zu definieren.Auf der anderen Seite — darauf hat Frau Hillerich hingewiesen — umfaßt der Begriff des funktionalen Analphabetismus eigentlich viel mehr als nur eine Leseschwäche, von der im Antrag die Rede ist.Klaus Daweke hat bereits auf die Studie der Bertelsmann-Stiftung hingewiesen, in der sehr interessante Ergebnisse enthalten sind, über die auch zu diskutieren wäre. Zu den wesentlichen Hinderungsgründen gegenüber dem Lesen wird dort neben dem Unvermögen, das bereits erwähnt worden ist, auch die Unlust am Lesen gezählt. Allerdings glaubt die Studie — das ist sehr merkwürdig — daß im Vergleich zu einer ähnlichen Untersuchung 1978 ein positiver Trend „zu mehr Buch" , insbesondere bei jungen Menschen, in der Bundesrepublik festzustellen sei. Auch da müssen wir überlegen: Sind das schon Früchte dessen, wofür eben auch vielfach gedankt worden ist?Wichtig scheint nach dieser Untersuchung zu sein, daß in der Kindheit ein gutes, ein positives Leseklima geschaffen wird, d. h. in Elternhaus und Schule. Aber es gibt auch andere Anregungen, durch die man veranlaßt wird, überhaupt zu lesen. In der Studie sind vier Anregungsschwerpunkte genannt — es gibt mehr, aber das sind die wichtigsten — , und zwar in der Reihenfolge: Das Thema interessiert mich besonders; das Buch ist von Freunden oder Bekannten empfohlen worden; ich habe das Buch als Geschenk erhalten; ich habe das Buch in einer Buchhandlung oder im Kaufhaus gesehen.Ich meine, daß gerade vor dem Hintergrund der im Antrag erhobenen Forderung nach Stärkung der Motivation buchungewohnter Leserinnen und Leser diese mehr informellen Anregungen eine ganz beson-
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Neuhausendere Wichtigkeit haben. Wenn es wirklich der zweit- bzw. drittwichtigste Grund ist, ein Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen, daß es von Freunden oder Bekannten empfohlen worden ist oder daß man es als Geschenk bekommen hat, dann sollten wir neben den zu organisierenden und bereits bestehenden Leseförderungsmaßnahmen auch diesen mehr informellen Bereich deutlich unterstreichen.Lesen informiert, füllt Wissenslücken auf und vermittelt beruflich verwertbare Kenntnisse. Es ist aber schon darauf hingewiesen worden: Es gibt allerdings auch eine Wechselbeziehung zwischen Lesestoff und Leselust oder Leseunlust:Papier ist geduldig,— sagt der Dichter —wäre es anders, wirkönnten sein Wehgeschrei schwerlich ertragen.Also muß neben dem Lesen auch die Auslese geübt werden.Aber es gehört natürlich noch mehr dazu. Es ist schon darauf hingewiesen worden; ich weiche ein wenig ab, aber es gehört in den Zusammenhang. In einer Rede über die Bibliothek sagt Umberto Eco:Die Fotokopie ist etwas sehr Nützliches, aber oft stellt sie auch nur ein geistiges Alibi dar: Wer die Bibliothek mit einem Stapel Fotokopien verläßt, hat in der Regel die Gewißheit, daß er sie nie alle wird lesen können, ja er wird sie nicht einmal alle wiederfinden, da sie leicht durcheinandergeraten, aber er hat das Gefühl, sich den Inhalt der Bücher angeeignet zu haben. Vor dem Aufkommen der Xerozivilisation hatte er sich lange handschriftliche Exzerpte in riesigen Lesesälen gemacht, und davon war stets etwas in seinem Kopf hängengeblieben. Mit der Fotokopierneurose wächst die Gefahr, daß man ganze Tage in Bibliotheken vergeudet, um Bücher zu fotokopieren, die man nie lesen wird.Wenn ich den Begriff des funktionalen Analphabetismus sehr weit fasse, fällt dieses Verhalten, das uns ja nicht fremd ist, durchaus darunter.Sehen Sie es mir nach, wenn ich zum Schluß in diesem Zusammenhang auf die besondere Bedeutung der Lyrik für die Leseförderung und die Lesekultur hinweise. Ich tue das auch aus einem ganz pragmatischen Grund. Zu den Faktoren, die Unlust am Lesen erzeugen, gehört nach der Studie der BertelsmannStiftung die Unlust, lange Sätze lesen zu müssen. Ein Drittel aller Befragten äußerte, das sei die größte Schwierigkeit für sie zu lesen; lange Sätze erzeugten bei ihnen ein Unlustgefühl. Ich glaube, gerade die Lyrik — klassisch oder modern, ernst oder heiter — könnte hier in ihrer Knappheit eine wichtige Brückenfunktion erfüllen.Wir werden die beiden Drucksachen an die Ausschüsse überweisen. Wir werden uns in den Beratungen darum bemühen, mannigfache Gefahren gar nicht erst aufkommen zu lassen, also aus Texten wirklich Einsichten und Schlußfolgerungen zu ziehen, und nicht der Versuchung zu verfallen, die Hoffmann von Fallersleben einmal so formulierte — das kommt mir immer in den Kopf, wenn ich an die Diskussion über Maßnahmen denke — :Ein Deutscher muß recht gründlich sein, Denn anders tut er's nie.Hat er am Ärmel einen Fleck,Studiert er die Chemie.Und er studierte Jahr und TagBis er herausgebracht,Wie man aus Leinwand, Seid' und Tuch Die Kleck's und Flecke macht.Und wenn er endlich alles weiß, Dann ist es einerlei,Zwar ist der Fleck noch immer da, Doch ist der Rock entzwei.Das wollen wir mit unserem wichtigen Thema nicht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns einig; das ist gut. Plato, der von meinem Kollegen Weisskirchen zitiert worden ist, war gegen das Lesen, und zwar aus einem bestimmten Grunde, weil nämlich in jener Zeit und bis etwa in das 12. Jahrhundert die Technik der Aufbewahrung von Wissen über das Gedächtnis lief. Es war eine Technik. Diese ist sehr präzise beschrieben und auch untersucht worden. Diese Technik haben alle schriftlosen Völker zum Teil bis heute. Es sind unendliche Leistungen von Gedächtnisaufbewahrung.Wir befinden uns zur Zeit in dem Kulturbruch, daß das Gedächtnis, das wir seit Eintreten der Schriftlichkeit im 11., 12. und 13. Jahrhundert — später gab es noch einmal den Schub in Verbindung mit der Buchdruckerkunst — den Büchern überantwortet haben, jetzt aus den Büchern verschwindet und in die elektronischen Medien geht. Das heißt, das enorme gesellschaftliche Gedächtnis in der Form von Bibliotheken wird immaterialisiert und verschwindet sozusagen in unendlichen Quantitäten, aber nicht mehr sinnlich wahrnehmbar in der Elektronik. Dies ist der zweite Kulturbruch, der in der Tiefe sicher genauso dramatisch ist wie jener.Ich will Ihnen hier einmal etwas vorlesen. Es gibt einen schönen Dialog zwischen Karl dem Großen und seinem berühmten Berater Alcuin.Karl fragt:Und was kannst du uns vom Gedächtnis, diesem bedeutenden Teil der Rhetorik, sagen?Unsere Wortkultur tut ja immer noch so, als würden wir hier frei reden. Daweke hat diese bildungsbürgerliche Koketterie hier eben auch noch einmal genannt. Alcuin sagt darauf — und das ist sehr technisch gemeint — :Das Gedächtnis ist eine Schatzkammer aller Dinge. Wenn sie nicht verwendet wird, in allem, was wir gedacht und gefunden haben, Sachen und Wörtern, sind diese uns zu keinem Nutzen, auch wenn sie noch bedeutend wären.Karl:Gibt es denn Regeln, wie man das Gedächtnis erwerben oder vermehren kann?
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DuveAlcuin:Wir haben keine Regeln außer diesen: Übung im Sprechen, Gewohnheit im Schreiben, eifriges Nachdenken und Vermeiden des Suffes, der nicht nur dem Körper die Gesundheit nimmt, sondern auch dem Geist seine Unversehrtheit.Es gibt eine hervorragende Beschreibung dieses Gedächtnisses von den Lehrern. Es gab richtige Schulen der Mnemotechnik, also der Gedächtnistechnik, in der die Schüler jahrelang trainiert wurden, wie eine Schatzkammer — so wurde es auch genannt — alle Wissensteile der Welt in ihrem Kopf aufzubewahren, und zwar in einer räumlichen Anordnung. Dies wurde räumlich trainiert.Heute haben wir das, was ich eben beschrieben habe. Ich denke, darüber werden wir immer mehr diskutieren.Die Europäer wollen jetzt — das sagt der Bericht — Leseförderung betreiben und das Buch retten. Aber wenn wir uns über diese Grundlagen nicht klar werden, wird es eine ziemlich schwierige Aufgabe sein.
Das Lesen hat ja eine merkwürdige Vorbedingung, und die kann der Staat nicht schaffen. Das heißt, das Lesen und das Vorlesen, beide brauchen einen Raum der Stille, also auch eine Kultur der Stille, weil andere Geräusche, jedenfalls die Art von anderen Geräuschen, mit denen wir in unseren Häusern, wenn wir Kinder haben, die alt genug sind, oder wo auch immer konfrontiert werden, beides unmöglich machen. Wir sind ununterbrochen von Geräuschen umgeben, die es vor 50 oder 100 Jahren noch nicht gab. Unsere ganzen phantasievollen Vorstellungen und unsere ganzen Sehnsüchte nach dieser Lesekultur sind aber von Begriffen und Bildern des 19. Jahrhunderts bestimmt, als es eine relativ geräuschfreie Welt gab.Jürgen Manthey hat einmal wunderbar geschildert, wie die bürgerlichen Hausfrauen, die später die großen englischen Romane geschrieben haben, eigentlich ihre Romane geschrieben haben. Sie haben sie in einem Wohnraum, in dem die ganze Familie zusammen war, geschrieben. Da hat der eine gelesen und die andere gelesen, und die Kinder haben gelesen, und die Mutter hat dort ihren Roman geschrieben. Solche Räume gibt es bei uns gar nicht. So kann sich auch kaum jemand noch verhalten, denn wir sind permanent von irgendeinem musikalischen oder unmusikalischen Krach umstellt.Ich halte das, was Frau Hillerich für die Schulen gesagt hat, Lesebedingungen zu erzeugen, daß Kinder lernen, es gut zu finden, in einem Raum der Stille zu lesen, für außerordentlich wichtig. Denn wir in den Haushalten können das gar nicht mehr herstellen, wir sind nicht kräftig genug gegen die elektronischen Medien.Insofern glaube ich doch, daß die elektronischen Medien einen enormen Einfluß auf das Verhalten haben und eben auch sehr viel an Informationsbedürfnis befriedigen. Ich glaube nicht, daß das Buch noch sehr lange der Informationsträger sein wird. Es wird andere Qualitäten — Lyrik ist genannt worden — stärker übernehmen, aber Informationen werden immer stärker durch die elektronischen Medien übertragen, zu denen dann auch das computerisierte Informationssystem gehört.Ich bin nun ein leidenschaftlicher Anhänger des Buches. Ich werde Ihnen einen längeren Artikel von mir schicken, Herr Daweke, in dem die Kalkulation des Buches sehr genau ausgeführt ist.
Die Bücher sind nach wie vor sehr billig. Billige Bücher sind deshalb billig, weil die Erstausgabe teuer war. Sonst könnte das andere nicht billig sein, es sei denn, wir kommen zu einem System der Subventionierung von Erstausgaben; das ist sehr problematisch. Aber die Kalkulation ist insgesamt wirklich gut durchgerechnet.Mein Vorschlag ist — dies kommt in dem Bericht der Bundesregierung etwas zum Ausdruck — , daß wir auf europäischer Ebene einen Übersetzungsfonds organisieren, um jedem übersetzten Autor oder Autorin die Chance zu geben, zu gleichen Marktbedingungen in jedweder anderen Sprachkultur veröffentlicht zu werden.
Ein Buch, das aus dem Französischen übersetzt wird, kostet dann rund 15 000 bis 20 000 DM mehr; dies muß auf jedes einzelne Exemplar umgelegt werden. Dies führt dazu, daß ein Buch eines relativ unbekannten ausländischen Autors in der Bundesrepublik — auch wegen der niedrigeren Auflage, die man sich nur erlauben kann — dann manchmal doppelt so viel kostet wie ein Buch eines deutschen Autors. Ich bin also dafür, einen großen europäischen Übersetzungsfonds zu schaffen.
Die Erstausstattung sollte so sein, daß sie die Hälfte derjenigen Kosten umfaßt, die Brüssel tagtäglich braucht, um die gesamten Akten in die vielen Amtssprachen der EG zu übersetzen.
Bei diesem Fonds gibt es eine zweite Bedingung — es handelt sich ja nur um Herstellung von gleichen Chancen, der Verleger muß genau wie bei einem eigensprachlichen Autor dann immer noch das volle Risiko tragen — : Es darf keine Auswahlbehörde geben. Wer garantiert, daß er ein Buch publiziert, bekommt diese Subvention, ohne daß irgendein Gremium sagen kann: Wir wollen aber dieses Buch nicht fördern, sondern ein anderes. Sonst funktioniert das nicht. Es geht nur um die Herstellung gleicher Chancen. Es wird eine unserer großen Aufgaben sein — das gilt auch in bezug auf das östliche Europa — , die vielen von der großen europäischen Kultur nicht wahrgenommenen Kulturen, die sich hauptsächlich über Sprache vermitteln, endlich einmal ins Bewußtsein von uns hochnäsigen Franzosen und Deutschen, Italienern und Engländern zu bringen. Das geht nur übe] das Buch. Lange Gespräche mit ukrainischen Autoren
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12530 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989
Duvezeigen, es gibt eine ukrainische Literatur, von der wir aus den genannten Gründen keine Ahnung haben.
Ein paar Dinge kann man wirklich machen. Ich bin froh, daß die Bundesregierung dies auf europäischer Ebene auch vorgebracht hat.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil. Herr Graf, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin eigentlich nicht in der Absicht hierhergekommen zu sprechen, sondern habe mich spontan gemeldet, und zwar aus einem Grunde. Begreiflicherweise ist hier in sehr starkem Maße der Eindruck erweckt worden, daß das Lesen der einzige Schlüssel zur Kultur und zur gesellschaftlichen Teilhabe in unserer Zeit ist. Herr Kollege Duve hat bereits auf einen ganz wichtigen Punkt hingewiesen, den mir vor einigen Jahren einmal ein Tuareg im Niger aufgezeigt hat. Er hat mir gesagt: Ich verstehe gar nicht, warum man der Krücke des Lesens bedarf, um seine Ahnen zu kennen; die muß man auswendig wissen. — Hier war der Gedanke, daß das Menschsein etwas mit der Gedächtnisleistung zu tun hat und es ein minderes Menschsein ist, wenn man sich dieser Krücke des Lesens bedienen muß.
Ich glaube, daß wir in der Tat mit der Lesekultur, so hoch wir sie auch zu veranschlagen haben, ein bißchen etwas einbezogen haben, was das Menschsein beeinträchtigt hat. Ich habe das in sehr vielen Jahren der Tätigkeit als Landeselternbeiratsvorsitzender und Bundeselternratsvorsitzender bei einer Gruppe von Menschen kennengelernt, die, aus welchen Gründen auch immer, extreme Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Die Schwierigkeit der Gruppe nennt man isolierte Lese- und Rechtschreibschwäche oder Legasthenie.
Die Ursachen sind seit dem letzten Jahrhundert in der Literatur immer wieder beschrieben worden. Sie reichen von frühkindlichen Hirnschädigungen bis hin zu schulinternen Gründen, die deshalb eine so starke Demotivierung verursachen, weil man immer wieder auf dieselben Fehler festgeschrieben wird. Denn ein Legastheniker, der im Diktat 60 Fehler gemacht hat, bekommt, auch wenn er dann nur noch 55 Fehler macht, immer noch eine sechs. Selbst wenn er nur 50 Fehler macht, hat er immer noch eine sechs. Wenn man aber immer nur eine sechs bekommt, dann macht es zum Schluß überhaupt keinen Spaß mehr. Es entsteht ein inneres Widerstreben gegen das ganze Kompendium, was mit Lesen und Schreiben zu tun hat.
Mein spontanes Anliegen — obwohl ich weiß, daß wir uns hier schon wieder auf dem berühmten Grat der Länderkompetenzen bewegen — ist einfach dies: Wir haben im Bundesministerium zumindest die Möglichkeit der Modellversuche. Mein Anliegen ist, nicht nachzulassen, in diesem Bereich weitere Anstrengungen zu unternehmen, das Schicksal der Kinder zu verbessern, die an dieser isolierten Lese- und Rechtschreibschwäche leiden.
Die große Schwierigkeit in der Diskussion über dieses Thema ist, daß auf der einen Seite alle die, die mit Schulrecht zu tun haben, sagen: Das ist im Grunde genommen ja nur ein Versuch, Kindern, die dem steigenden Konkurrenzdruck nicht mehr gewachsen sind, nun eine zusätzliche Chance, etwa durch Nichtbenotung, zu schaffen. Das ging soweit, daß ich einmal einen Fall hatte, in dem ein Kind überprüft werden sollte, ob man nicht die Noten wegen des Vorliegens einer solchen isolierten Lese- und Rechtschreibschwäche aussetzen solle. Das zuständige Schulamt schrieb, es könne gar nicht sein, daß ein Arbeiterkind eine isolierte Lese- und Rechtschreibschwäche habe, weil es ja ein Phänomen bürgerlicher Kinder sei, die versuchten, sich unter diesem Leistungsdruck einen Vorteil zu ergattern.
Es sind absurde Begründungszusammenhänge, die aber immer wieder darauf hinauslaufen, daß letzten Endes das Kind das geschädigte ist, das nicht die Möglichkeit hat, seine Persönlichkeitsentfaltung vorzunehmen.
Mein Anliegen an das Ministerium ist, weiterhin im Bereich isolierte Lese- und Rechtschreibschwäche forschend tätig zu sein und Modellversuche zu fördern, die eine Erleichterung des Schicksals solcher Kinder mit sich bringen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Lammert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Nur eine Gesellschaft, die liest, ist eine Gesellschaft, die denkt." Dieser Satz soll von Frau Noelle-Neumann stammen. Ich hoffe, sie hat für diese Beoachtung auch stabile empirische Belege; denn es gibt ja auch Spötter, die behaupten, es gebe viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht zu denken brauchen.Jedenfalls wird die große Liebe und Leidenschaft für das Lesen, die heute morgen diese Debatte gekennzeichnet hat, keineswegs von jedem geteilt. Bei Georg Christoph Lichtenberg habe ich die Bemerkung gefunden: „Vieles Lesen macht stolz und pendatisch. Viel Sehen macht weise, vernünftig und nützlich. "
— Nun wird der Herr Lichtenberg in der Tat, denke ich, lieber Kollege Daweke, das Fernsehen nicht gemeint haben. Es ist völlig richtig, daß wir uns nicht nur, aber auch in dieser Diskussion mit dem Zusammenhang auseinandergesetzt haben, der durch die Vervielfachung von Medien mit den sich daraus ergebenden Implikationen für die kulturelle Entwicklung unserer Gesellschaft entstanden ist.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989 12531
Parl. Staatssekretär Dr. LammertEine mögliche Verdrängung des Lesens durch sogenannte neue Medien wäre gewiß eine Veränderung, ganz sicher aber nicht eine Bereicherung unserer Kulturlandschaft. Nun ist das Verhältnis zwischen diesen Medien — ich denke, auch darin stimmen wir überein, Herr Kollege Duve — viel komplizierter, als daß man es auf ein bloßes Wettbewerbsverhältnis der Inanspruchnahme von Medien reduzieren könnte. Immerhin ist auffällig, daß etwa in der Shell-Studie von Mitte der 80er Jahre Jugendliche wie Mitte der 50er Jahre Lesen als ihre liebste Beschäftigung angeben, und dennoch teile ich Ihre Skepsis, ob hinter solchen vordergründigen empirischen Befunden nicht doch möglicherweise tiefgreifend veränderte Verhaltensmuster stehen
— beispielsweise — , was sicherlich auch einen Teilaspekt, aber nicht die ganze Erklärung für die Veränderungsprozesse darstellt, mit denen wir hier zu tun haben. Ich nehme jedenfalls gern den Aspekt auf, den Sie vorhin angesprochen haben, intensiver darüber nachzudenken und vielleicht auch in geeigneter Weise darüber zu forschen, inwiefern sich nicht hinter möglicherweise quantitativ sogar nur marginal veränderten Verhaltensmustern in der Nutzung von Medien doch sehr relevante Veränderungen in der Funktion dieser Medien, beispielsweise für Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung, verstekken.Mehrere Kollegen haben in der Debatte darauf hingewiesen, daß sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren immer wieder über Modellprojekte um diesen Sachverhalt bemüht hat. Selbstverständlich nehmen wir die Aufforderung aus dieser Debatte gern auf, dies auch in Zukunft weiter so zu handhaben, weil es an relevanten Sachverhalten in der Tat nicht fehlt, die hier weiter verfolgt und aufgearbeitet werden müssen. Dabei wird sicherlich niemand die Empfehlung geben wollen, das Problem, über das wir heute morgen miteinander gesprochen haben, auf funktionalen Analphabetismus beschränken zu wollen, aber genauso unstreitig ist, daß dies ein wichtiger Aspekt dieses gesamten Problemkreises ist.Vielleicht wird im übrigen der unauflösbare Zusammenhang zwischen Bildung im engeren Sinne und Kultur im weiteren Sinne nirgendwo deutlicher als gerade bei diesem Thema Leseverhalten, Informationsgewohnheiten und kulturelle Befindlichkeit einer Gesellschaft. Insofern haben wir hier auch — vielleicht sogar mit besonders guten Gründen — mit einer komplizierten Zuständigkeitsverteilung zu tun, nicht nur einer Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen politischen Instanzen, sondern auch zwischen den verschiedensten Teilen unserer Gesellschaft weit über den Bereich politischer Gremien hinaus.Ich setze daß die Antworten der Bundesregierung auf die verschiedenen Drucksachen, die auch Grundlage dieser Debatte sind, als bekannt voraus. Wir werden uns insbesondere mit Nachdruck im Rahmen der EG um die Verfolgung der Ziele weiter bemühen, die in dieser Debatte einmal mehr zur Stabilisierung dieser kulturellen Perspektive angesprochen worden sind, also Stichworte: Buchpreisbindung, ermäßigte Umsatzsteuer, Urheberrecht, Übersetzungsfonds und andere Dinge mehr.Es gibt ganz gewiß, wenn wir uns um den Bereich weiter intensiv bemühen, über den wir hier reden, unterschiedlich begründete Traditionen, unterschiedliche Verhaltensmuster und Gewohnheiten, die auf ihre Leistungsfähigkeit und auf ihre Berechtigung jeweils kritisch überprüft werden müssen. Insofern entspricht es dem selbstkritischen Unterton auch dieser Debatte, daß zu Recht darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß auch der Bundestag selbst, in dem im allgemeinen Reden nicht gehalten, sondern gelesen werden, insoweit einen zwar meist liebenswürdigen, aber gelegentlich doch fragwürdigen Beitrag zur Lesekultur in unserer Gesellschaft leistet.Meine Damen und Herren, ich fand wichtig, was zuletzt auch in der ganz spontanen Intervention des Kollegen Graf von Waldburg-Zeil noch einmal an Relativierung zum definierten Thema dieser Debatte gesagt worden ist. Wir sollten in der Tat auch nicht allzu voreilig Lesen für den einzigen Schlüssel zur Kultur und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben halten und hier andere, ähnlich wichtige Kulturtechniken nicht völlig verschütten lassen, wenngleich wir gewiß auch darin, denke ich, übereinstimmen, daß das, was diese Gesellschaft an Informationen aufzuarbeiten, zu verarbeiten, an Problemlösungen zu entwickeln und an Selbstverständnis zu vermitteln hat, durch Gedächtnis alleine nicht zu transportieren wäre, wenn die Lesekultur vollständig verlorenginge.In diesem Sinne sage ich gerne für die Bundesregierung eine Fortsetzung unserer Bemühungen um eine konsequente Förderung und Erforschung dieses Sachverhalts zu. Wenn Frau Hillerich in diesem Zusammenhang angemerkt hat, hier bedürfe es nicht eines Berichtes der Bundesregierung, dann nehme ich das mit besonders großer Sympathie auf. Die Bundesregierung ist im allgemeinen für jeden Bericht dankbar, den sie nicht erstatten braucht.
Aber wenn Sie an der Mitwirkung der Bundesregierung an der Debatte dieses Sachverhalts interessiert sind, könnte und möchte ich Ihnen dies gerne zusichern.
Damit sind wir am Ende dieser Debatte.Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/3286 und 11/5005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ergeben sich andere Vorschläge aus dem Plenum? — Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Götte, Schmidt , Dreßler, Jaunich, Adler, Becker-Inglau, Dr. Böhme (Unna), Gilges, Rixe, Seuster, Weiler, Dr. Martiny, Müller (Pleisweiler), Wittich, Kretkowski, Dr. Niehuis, Sielaff, Dr. Klejdzinski, Faße,
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12532 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989
Vizepräsident CronenbergIbrügger, Duve, Büchner , Dr. Vogel und der Fraktion der SPDSoziale Lage von Familien und Kindern — Drucksachen 11/4301, 11/5106 —Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/5337 vor.Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 90 Minuten vor. Erhebt sich Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Götte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD ist — wie Sie sicher wissen — dabei, im Rahmen ihrer Programmarbeit „Fortschritt '90" auch den Familienlastenausgleich gerechter zu regeln. Es geht nicht nur darum, die Privilegien der Bessergestellten zugunsten derer, die es nötiger haben, abzubauen, sondern auch darum, Familien mit besonderen Belastungen gerecht zu werden. Weil wir für diese Beratungen eine Menge Daten brauchen, haben wir eine Große Anfrage zur sozialen Lage von Familien und Kindern eingebracht. Leider konnte die Bundesregierung die meisten Fragen nicht beantworten. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß eine Bundesregierung, die so viel über die Familie redet, so wenig von der Familie weiß.
Häufig gibt es überhaupt keine Antworten. Häufig gibt es Schätzungen, bei denen schon jeder normale Mensch — also auch jeder Mensch draußen — erkennen kann, daß diese Schätzungen sehr unrealistisch sind. Oder glauben Sie etwa, daß ein Student heute mit 622 DM auskommen kann, wenn er kein BAföG bekommt und von diesem Geld Wohnung, Fahrgeld, Lebenshaltungskosten, Lernmaterial, Krankenversicherung und Kleidung finanziert werden sollen? Man braucht kein Wissenschaftler zu sein, um zu sehen, daß diese Zahlen nicht stimmen können. In dieser Antwort gibt es eine ganze Reihe solcher Schätzungen, mit denen wir wirklich nichts anfangen können.Über Daten, die nicht vorliegen, die uns nicht vorgelegt wurden, können wir also auch heute nicht diskutieren.Immerhin ist eine solche Große Anfrage ein guter Anlaß, wieder einmal eine Grundsatzdebatte zum Thema Familienpolitik zu führen. Wenn man Protokolle früherer Debatten liest, fällt auf, daß es immer emotional geladene Debatten waren, bei denen mit Tiefschlägen von allen Seiten nicht gespart wurde. Warum eigentlich?Der Streit ums Geld allein kann es wohl nicht sein, zumal hier eine gewisse Übereinstimmung insofern festzustellen ist, als die jeweilige Opposition stets der jeweiligen Regierung vorwirft, sie täte zu wenig für die Familie, während die jeweilige Regierung dann hier stets erklärt, sie täte immer noch sehr viel mehr als die vorherige Regierung. Das ist heute so, und das war auch 1975 schon so, als der familienpolitische Sprecher der CDU — damals Oppositionspartei — der SPD/FDP-Regierung vorwarf, der mangelhafte Familienlastenausgleich sei die Ursache für den Geburtenrückgang. Darauf konterte Ministerin Focke von der SPD: „Unsere Leistungen können sich sehen lassen, insbesondere, wenn ich berücksichtige, daß frühere CDU/CSU-Regierungsmehrheiten Jahre benötigen, ehe sie ein kümmerliches Kindergeld in Höhe von 25 DM für Familien mit drei oder mehr Kindern eingeführt haben. "Das war also wohl schon immer so. Der Streit ums Geld allein kann es wohl nicht sein.Da waren, und vielleicht sind auch, ideologische Motive im Spiel, die Fragen der Familienpolitik nicht nur unter Politikern, sondern auch in der Gesellschaft zu einem Reizthema werden ließen. Die nicht berufstätigen Mütter stempelten berufstätige Frauen zu „Rabenmüttern", worauf diese die Hausfrauen als „Nur-Hausfrauen" bezeichneten und mit Verachtung straften. Treusorgende Familienväter sahen in den Mitgliedern von Wohngemeinschaften potentielle Kriminelle, während die Wohngemeinschaften die traditionelle Familie als Horte von Spießertum und überholter Herrschaftsstruktur abtaten.Der Wandel der Gesellschaft spiegelt sich immer im Wandel der Familie. Politiker stehen dabei vor der Frage, ob sie diesen Wandel akzeptieren, respektieren oder gar fördern sollen oder ob sie sich diesem Wandel, so gut es überhaupt möglich ist, entgegenstemmen wollen.Sozialdemokraten haben immer versucht, mit der Zeit zu gehen und die Gesellschaft so zu nehmen, wie sie ist, und sie nicht nach eigenen Vorstellungen umzukrempeln. Vieles, was Sozialdemokraten damals aus ihrer Sicht für die Familie unternahmen, erschien den Konservativen als Aktion gegen die Familie. Dazu zählten die Modellversuche „Tagesmütter" ebenso wie der Kampf um Ganztagsschulen oder das neue Ehe- und Familienrecht in den '70er Jahren, von dem die Opposition damals sagte, daß es „schäbige Treulosigkeit begünstige". Dazu gehörte auch die Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge — davor hieß es ja Recht der „elterlichen Gewalt" —, auf die Sozialdemokraten mächtig stolz waren, während FranzJosef-Strauß am 11. Mai 1979 sagte, dieses Gesetz trage „Unfrieden in die Familie" und „vergifte das Verhältnis von Eltern und Kindern".Heute würde die Mehrheit der CDU/CSU sicher dem zustimmen, was Familienministerin Focke damals fast beschwörend der aufgebrachten Opposition entgegenhielt. Sie sagte in der damaligen Debatte: „In Wahrheit zerstört die Familie, wer sie als Herrschaftsordnung in der Nußschale erhalten will, anstatt sie für Partnerschaft zu öffnen. "
Heute würde sie wohl für einen solchen Satz den Beifall des ganzen Hauses bekommen. Damals gab es heftigen Widerspruch.Ich glaube, daß wir uns in den verschiedenen Parteien — vor allem wir Frauen — trotz Kindermädchenregelung, trotz unterschiedlicher Auffassung in der Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, trotz BAföG und anderer kontrovers
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989 12533
Frau Dr. Göttediskutierter Themen inzwischen sehr viel nähergekommen sind, was die Einstellung zur Berufstätigkeit von Müttern, zu Kindergärten, Kinderkrippen und -horten, zur Partnerschaft in der Familie angeht.Ich lasse mich auch nicht dadurch von dieser Überzeugung abbringen, daß Kollege Hoffacker noch im September 1988 hier an diesem Pult glaubte, den CDU-Standpunkt von 1975 noch einmal vortragen zu müssen. Er sagte nämlich wörtlich:Sie von der SPD haben in den 70er Jahren jahrelang die Familie demontiert. Sie haben die Demontage betrieben, indem Sie glaubten, an die Stelle von Familien die Kommunen, die Wohngemeinschaften setzen zu müssen ... Unter Ihrer SPD-geführten Bundesregierung war die Familie eine Sozialisationsagentur für unsere Gesellschaft.
Da gab es kein Elternrecht. Der Herr Hoffacker sagte weiter:Sie betreiben weiter eine Polemik gegen die Ehe und Familie. Sie setzen sich ein für die nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften, um auf diese Weise ganz klar und deutlich die Familie zu unterminieren und sie damit wieder überflüssig zu machen .. .
Ich glaube, ein solcher Text spricht für sich, aber, so hoffe ich, nicht für die CDU.Wir sollten endlich zu einer sachlicheren Diskussion kommen und aufhören, uns gegenseitig vorzuwerfen, der jeweils andere habe nichts für die Familie getan oder wolle sie gar zerstören, was absurd ist. Wir Sozialdemokraten erkennen an, daß in diesem Jahr und vor allem im nächsten Jahr zusätzliche Leistungen für die Familie erbracht werden. Aber wir erwarten von Ihnen, von der CDU/CSU, auch, daß Sie nicht länger bestreiten, daß die Wende der Regierung Kohl zunächst mit enormen Einsparungen zu Lasten der Familie begonnen hat und daß es — das ist nun einmal die Wahrheit — bis 1987 gedauert hat, bis die Ausgaben für die Familie wieder das Niveau der Regierung Schmidt erreicht haben.
Wir hätten, nachdem einige ideologische Barrieren inzwischen überwunden sind, jetzt eine Chance, uns gemeinsam zu bemühen, wie wir das Geld aus dem Familientopf gerechter verteilen als bisher. Es ist doch nicht in Ordnung, daß für das erste Kind seit 1975, also seit nunmehr 14 Jahren, nur 50 DM an Kindergeld bezahlt werden. Es kann doch nicht richtig sein, daß Familien mit höherem Einkommen für ihr Kind bei der Steuer zweieinhalbmal mehr entlastet werden als Kinder aus einkommensschwachen Familien.
Es kann doch unmöglich im Sinne dieses Parlaments sein, daß auch in diesem Haushalt der Staat durch das Ehegattensplitting bei der Steuer für den Tatbestand Ehe mehr Geld ausgibt als für den Tatbestand Kind.Es darf doch nicht so bleiben, daß für rund 2,5 Millionen Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren nur 1,5 Millionen Kindergartenplätze zur Verfügung stehen. Ich kann nicht verstehen, warum die Koalitionsparteien angesichts dieser Lage darauf verzichtet haben, im Jugendhilferecht einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz festzuschreiben. Wir müssen doch aktiv werden, wenn für 523 000 berufstätige Mütter mit Kindern im Alter von eins bis drei Jahren nur 28 000 Krippenplätze zur Verfügung stehen. Vor allem aber müssen wir solchen Familien helfen, die mehr als andere belastet sind, insbesondere denen, die Pflegeleistungen erbringen.Wie steht es mit der Chancengleichheit der Kinder von Arbeitslosen? Wie viel Schwerpflegebedürftige werden eigentlich in Familien versorgt? Wie steht es mit dem Wohnraum für Sozialhilfeempfänger mit Kindern? Was müssen Eltern für die Ausbildung von Kindern ausgeben, und wie unterschiedlich sind in den verschiedenen Bundesländern die staatlichen Hilfen, die sie dafür bekommen?Um diese Fragen beantworten zu können und um die entsprechenden politischen Konsequenzen daraus zu ziehen, haben wir diese große Anfrage — leider weitgehend vergeblich — an die Bundesregierung gestellt. Die Bundesregierung weiß nicht — man kann das fast nicht glauben, aber es ist einfach so — , was Eltern für ein Kind heute aufwenden müssen. Sie kann nur auf eine Schätzung des Statistischen Bundesamtes verweisen, die längst überholt ist und weit unter dem liegt, was in früheren Schätzungen vorgelegt worden ist.Es ist wichtig zu wissen, was das erste Kind im Vergleich zum zweiten oder dritten Kind kostet, wenn wir die Frage klären wollen, ob das Kindergeld für jedes Kind gleich hoch sein soll oder ob man für das erste Kind weniger und für das zweite mehr bekommt. Die Bundesregierung weiß aber nicht, was das erste Kind im Vergleich zum zweiten oder dritten Kind kostet. Sie hat auch keine Antwort auf die Frage, wie sich die Lebenshaltungskosten mit dem Alter der Kinder verändern.Für absolut unverantwortlich und unverständlich halte ich die Unwissenheit der Regierung über die Lage der Familien, denen es besonders schlecht geht. Auf die Frage, in wie vielen Familien pflegebedürftige Angehörige versorgt werden müssen, verweist die Regierung in diesem Jahr auf Daten von 1978! Ich wollte das nicht glauben, angesichts all der Diskussionen um Pflegefinanzierung durch die Gesundheitsreform, und habe drei weitere schriftliche Fragen nachgereicht. Das Ergebnis war das gleiche: Die Bundesregierung tappt völlig im dunkeln.Sie, Frau Ministerin, sollten unsere Anfrage zum Anlaß nehmen, sich schnellstmöglich die fehlenden Daten zur sozialen Lage der Familie zu beschaffen und sie uns vorzulegen.
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12534 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989
Frau Dr. GötteWir, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten dann die längst überfälligen Beschlüsse fassen, um in Zukunft Familienpolitik gerechter zu gestalten, Überforderungen der Familie abzubauen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter zu erleichtern.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Männle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Der Inbegriff der Politik eines Volkes ist die Frage: Was habt ihr euren Kindern zu bieten? Eine solche Politik führt an den Ursprung zurück; sie beginnt bei der Familie."Dieser Bewertung von Gertrud Bäumer, einer bekannten Frauenrechtlerin der Weimarer Zeit, ist nur noch eines hinzuzufügen: Und eine solche Politik fordert alle.Es wäre verfehlt, den realitätsverzerrenden Klagen der SPD über den Untergang der Familie schönfärberische Lobeshymnen entgegenzusetzen.
— Ich erinnere an die Haushaltsdebatte, liebe Frau Schmidt.
— Doch, sehr. Ich habe mir Ihre Rede noch einmal durchgelesen.Der Streit um die angemessene Familienpolitik darf meines Erachtens nicht zum verbalen Schlagabtausch verkommen. „Familie — Lebensform mit Zukunft" , so lautet die Überschrift des familienpolitischen Programms der CSU aus dem Jahre 1984. „Familie — Lebensform mit Zukunft" , das ist nicht nur ein wohlklingender Bekenntnissatz, sondern — wie Umfragedaten der letzten Jahre belegen — auch Ausdruck der Hoffnung und konkreter Lebensplanung vieler junger Frauen und Männer.Die Familie ist keine historische Konstante, die vom wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel abzukoppeln ist. Sie ist keine Festung für veraltete Traditionsbestände, keine Festung, in der Patriarchen, gut beschützt, thronen können. Familienformen haben sich verändert und werden sich verändern. Die innere Struktur von Familien wird auf Grund der berechtigten Interessen von Frauen an partnerschaftlicher Arbeitsteilung zunehmend in Frage gestellt. Neue Verhaltensmuster werden eingefordert. Auch das Verhältnis der Familie zur Arbeitswelt bedarf der Reorganisation.Von diesem gesellschaftlich-kulturellen Wandel sind wir alle betroffen. Sollen die Leistungsfähigkeit und die Stabilität der Lebensform Familie garantiert werden, sind wir alle gefordert: die Familienmitglieder durch aktive Teilhabe an den Familienaufgaben; der Staat durch eine wertorientierte, gestalterische Politik; die Wirtschaft durch mehr Kreativität und Flexibilität, d. h. durch familiengerechte Arbeitszeiten sowie Arbeitsplatzgestaltung. Warum kann ein Arbeitgeber es sich heute immer noch erlauben, einer Mitarbeiterin, die Mutter wird, einen Rückzug auf eine betriebliche Außen- oder Randposition nahezulegen?Die Lebensform Familie darf nicht auf eine bloße Abendveranstaltung verkürzt werden, gedacht zum emotionalen Auftanken, zum Regenerieren bzw. zum Abreagieren des täglichen Frusts am Arbeitsplatz. Familienarbeit, Arbeit in der und für die Familie, ist mehr als eine Privatsache im Freizeitbereich; sie ist gesellschaftlich nützliche Arbeit.Der Staat hat keinen Anspruch auf Familien, er hat keinen Anspruch auf Kinder. Unsere Familien sowie unsere Kinder haben aber einen Anspruch auf staatliche Hilfe. Frauen und Männer, die die wichtige Funktion der Kindererziehung übernehmen und Familienleistungen erbringt, besitzen ein Recht auf gesellschaftliche Achtung, auf ideelle und materielle Anerkennung ihrer Arbeit.CDU und CSU haben ihr Versprechen eingelöst und zentrale Elemente ihrer Familienpolitik, das Bundeserziehungsgeldgesetz und die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, durchgesetzt — und dies vor 1987, Frau Dr. Götte; Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld wurden erst kürzlich erweitert. Die Aufforderung von Frau Schmidt während der Haushaltsdebatte, es müsse nun endlich gehandelt werden,
ist angesichts dieser eindeutigen Fortschritte wohl nur an die Adresse ihrer Genossen und Genossinnen in den SPD-regierten Ländern gerichtet. Während in Berlin im Bereich des Erziehungsgeldes Mittel gekürzt werden, sich in Nordrhein-Westfalen der Ministerpräsident in familienpolitischen Predigten übt, wird im Bund — und ich füge hinzu: auch in Bayern — familienpolitisch gehandelt.Zur finanziellen Entlastung und Förderung von Familien tragen wesentlich bei: die Erhöhung des Kinderfreibetrages, der Kindergeldzuschlag für geringverdienende Familien, die Kindergeldzahlung für Jugendliche zwischen 18 und 21 Jahren, die keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden, die Kindergelderhöhung ab Juli 1990, die Anhebung des Haushaltsfreibetrages für Alleinstehende mit haushaltszugehörigen Kindern, die steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten bei Alleinerziehenden — und, und, und. Ich könnte noch einiges hinzufügen; die Liste ließe sich fortsetzen. Und es wurde ja gerade auch von Frau Dr. Götte lobend erwähnt, daß etwas geschehen ist.Die Forderung der SPD, ein einheitliches Kindergeld in Höhe von 200 DM zu zahlen und dies durch erhebliche Streichungen beim Ehegattensplitting zu finanzieren, ist meines Erachtens entlarvend. Hier zeigt sich eine typische sozialdemokratische Logik. Solidarität in der Gesellschaft wird eingeklagt, finanzielle Verantwortung von Ehepaaren füreinander aber als Instrument der Abhängigkeit diffamiert, ausgenommen die Ehefrau erweist sich auch als Kinderfrau. Ich würde sagen: ein gefährlicher Zynismus. Soll sich der Wert einer Frau wirklich nur nach ihrem generativen Verhalten bemessen? Das laute Nachden-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989 12535
Frau Männleken über neue Formen der Arbeit und über gesellschaftliche Anerkennung nicht erwerbstätiger Arbeit, mit dem vor allen Dingen der saarländische Aspirant auf die Vogel-Nachfolge gerne einen großen Medienwirbel veranstaltet, ist ein nettes Versprechen, ist, ich würde sagen: eine Seifenblase, die aber sehr schnell zerplatzt. In diesem Zusammenhang muß man auch einmal überlegen, was diese Versprechungen Wert sind.Der zeitliche Stellenwert der Familientätigkeit im Gesamtlebensverlauf ist auf Grund der höheren Lebenserwartung wesentlich reduziert. Kindererziehung ist heute für die Mehrzahl der jüngeren Frauen kein lebenslanger Full-time-Job mehr. Familie ist auch nicht mehr ausschließlicher Orientierungspunkt und einzige berufliche Identifikationsmöglichkeit für viele Frauen. Bessere schulische und berufliche Ausbildung, Veränderungen im sozialen Umfeld und der Wunsch nach mehr sozialen Kontakten erhöhen das Interesse an einer außerhäuslichen Berufstätigkeit.Die Bedeutung konkreter Hilfen für eine bessere Vereinbarkeit von Familientätigkeit und außerhäuslicher Erwerbstätigkeit nimmt daher zu. Der Ausbau familienunterstützender und familienergänzender Einrichtungen insbesondere für die steigende Zahl alleinerziehender Mütter und Väter ist eine unabdingbare Voraussetzung zur Erfüllung ihrer familiären Erziehungsaufgabe und muß in den kommenden Jahren auf der Prioritätenliste kommunalpolitischer Aufgaben ganz oben stehen.So wichtig Projekte wie Sportplätze, Gemeinschaftshallen und Schwimmbäder für das soziale Leben in den Gemeinden auch sind, ist doch kritisch nachzufragen. Was antworten wir den Frauen mit kleinen Kindern, wenn sie uns die bedrückenden Probleme bei der oft hoffnungslosen Suche nach einem Krippen- oder Kindergartenplatz schildern?
Glaubwürdigkeit ist gefordert, d. h. praktisches Handeln. Ich gestehe — Frau Götte, ich komme darauf —, daß ich den Referentenentwurf zur Reform des Kinder- und Jugendhilferechtes persönlich präferiere und mich auch für den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für alle 3- bis 6jährigen ausgesprochen habe.Gemessen an der Ideallösung läßt der nun erzielte Kompromiß sicherlich zu wünschen übrig. Die Kritik darf aber nicht dazu führen, daß die Verabschiedung der notwendigen Gesamtreform — es sind wesentliche Inhalte in diesem Entwurf zum Jugendhilferecht, die durchgesetzt werden müssen — torpediert wird. Ich hoffe aber — das, was wir schon erreicht haben, nämlich eine Bewußtseinsänderung und eine lebhafte Diskussion über die Probleme der Kinderbetreuung, ist sehr positiv — , daß wir im Verlauf der Beratungen vielleicht noch ein bißchen mehr erreichen können.
Bedauerlicherweise ging die Diskussion über ein bedarfsgerechtes Angebot an öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen vielfach am eigentlichen Problem vorbei. Öffentliche Kinderbetreuung ist kein Ersatz für familiäre Erziehung. Öffentliche Kinderbetreuung sichert auch nicht, wie uns, vor allen Dingen uns Frauen, einige glauben machen wollen, das Ausleben irgendwelcher — ich verwende einmal das Wort — Egotrips von Frauen, die sich leichtfertig ihren Erziehungsaufgaben entledigen wollen, sondern sie dient den Interessen unserer nachwachsenden Generation, die eine umfassende Persönlichkeitsförderung und soziale Kontakte mit Kindern gleichen Alters beanspruchen darf und soll.
— Frau Schmidt, ich wende mich an alle, die zuhören, und an diejenigen, die draußen sind und die es nachlesen können. Es richtet sich dies nicht an eine ganz spezielle Gruppe. Wir wissen doch, wie die öffentliche Diskussion über dieses Thema geführt wird.Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, Einstieg in die familiäre Berufstätigkeit bedeutet heute nicht mehr den endgültigen Ausstieg aus der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit. Die von der CDU und CSU geführte Bundesregierung hat wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, daß Teilzeitarbeit der Vollzeitbeschäftigung rechtlich gleichgestellt ist. Sie hat mit dem Arbeitsförderungsgesetz die berufliche Reintegration für Frauen erheblich erleichtert,
durch das 300-Millionen-DM-Programm zur Wiedereingliederung eine neue Beschäftigungsinitiative für Frauen gestartet
— ich meinte jedenfalls 30 Millionen — , große Taten, die auch nicht durch nette Wortspielchen von Ihnen, liebe Renate Schmidt, durch das Reden von „Milliönchen-Programmen'' — ich erinnere nur an die Haushaltsdebatte — geschmälert werden können.
Die materielle Situation der Familien — dies ist unbestritten — hat sich durch das familienpolitische Maßnahmenpaket der Bundesregierung während der vergangenen Jahre entscheidend verbessert. Das hat sogar Frau Dr. Götte lobend anerkannnt. Die soziale Lage der Familien läßt sich aber nicht allein auf die materielle Situation reduzieren.
Hier stimme ich mit Ihrer Anfrage überein. Familienpolitik ist Querschnittspolitik.Die Gesamtbilanz unserer Politik kann sich sehen lassen: In der Abrüstungspolitik sind ungeahnte Fortschritte erzielt worden. In der Umweltpolitik wurden notwendige Zeichen der Umkehr gesetzt mit Vorbildfunktion für Europa. Die Arbeitsmarktentwicklung
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12536 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Oktober 1989
Frau Männleverläuft positiv. Jugendliche schöpfen angesichts eines günstigeren Verhältnisses zwischen Angebot und Nachfrage nach Ausbildungsplätzen wieder neue Hoffnung. Die Gesamtsituation stimmt.Der Erfolg der staatlichen Hilfen für die Familien hängt wesentlich davon ab, in welcher gesellschaftlichen Atmosphäre sie leben müssen. Die Lebensform Familie braucht eine kinder- und familienfreundliche Kultur, mehr gesellschaftliche Toleranz, mehr praktische Solidarität, mehr Nachbarschaftshilfe. Und damit ist Familienpolitik Politik aller für alle.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Schoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher ist es richtig, was Rose Götte gesagt hat, daß man sich nicht gegenseitig vorwerfen könne, man habe überhaupt nichts für die Familien getan. Natürlich hat immer jede Regierung etwas für die Familie getan. Nur wenn man Vergleiche anstellt, beispeilsweise zwischen Leistungen, für die Familie und dem, was für Rüstung ausgegeben wird, oder zwischen dem, was die Familie an finanzieller Unterstützung erhält, und dem, was für unsinnige und ökologisch sehr fragwürdige Großprojekte ausgegeben wird, muß man fragen, ob das, was an Familienpolitik gemacht worden ist, wirklich ernsthaft verteidigt werden kann. Das ist für mich immer die Frage.Zu der Großen Anfrage: Als ich sie gelesen habe, ist mir eingefallen: Was ist eigentlich Familie heute? Ich denke, wir sind allesamt noch nicht so weit, einen richtigen Familienbegriff gefunden zu haben. Ich glaube, es gibt da noch bestimmte Vorbehalte. Diese Vorbehalte müssen überwunden werden.Daß es inzwischen 1,2 Millionen Einelternfamilien gibt, das wissen wir jetzt alle. Auch daß es 880 000 Stieffamilien gibt, in denen eine Million Kinder leben, das wissen wir. Auch daß es Wohngemeinschaften gibt, ohne daß das jemand propagiert, weil die Menschen einfach für sich entscheiden, ob sie in Wohngemeinschaften wohnen wollen oder nicht, wissen wir. Aber wenn beispielsweise in Berlin zwei schwule Männer ein AIDS-krankes Kind adoptieren und mit diesem Kind in einer Familie leben wollen, dann müssen diese beiden Männer doch unsere Unterstützung erwarten können, auch wenn es sich viele von uns nicht vorstellen können, in einer Schwulen-Gemeinschaft leben zu wollen.
Ich meine, daß wir einfach zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Lebensformen der Menschen sehr vielfältig geworden sind, daß wir einen Prozeß der Ausdifferenzierung von Lebensweisen haben und daß überall dort, wo sich Menschen entschlossen haben, mit Kindern zusammenleben zu wollen, die Menschen unterstützt werden müssen.
Wenn wir aber über die soziale Situation der Familie reden — da gebe ich Ursula Männle recht — , kann es nicht nur um die finanzielle Lage der Familie gehen. Bei einer Diskussion um die soziale Lage derFamilie dürfen wir nicht vergessen, daß Familie für viele Kinder Gewalterfahrung bedeutet. Wir wissen, daß es viele Kinder gibt, die in der Familie — gerade dort findet es statt — von ihren Vätern sexuell ausgebeutet werden. Wir wissen, daß viele Kinder in der Familie mißhandelt werden und daß es auf Grund von Mißhandlungen in der Familie pro Jahr über hundert tote Kinder gibt. Wir müssen auch sehen, es gibt Familien, die so überlastet sind, daß sie Kinder vernachlässigen und daß Kinder an dieser Vernachlässigung nicht nur krank werden, sondern daß sie daran sterben. Das muß einfach hinein, wenn man über die Familie nachdenkt.Ein anderer Punkt, der mir der wichtigste zu sein scheint, ist: Wenn wir über die soziale Lage der Familie nachdenken, müssen wir auch darüber nachdenken, daß die Emanzipationsprozesse bei Männern und Frauen sehr unharmonisch verlaufen. Ich glaube, daß sich die Frauen im Laufe der Nachkriegszeit neue Räume erobert haben, daß die Frauen neue Lebensentwürfe entwickelt haben, daß sie mit Nachdruck beides wollen: Sie wollen Kinder haben, sie wollen aber auch einen Beruf haben. Man läßt die Frauen in diesem Emanzipationsprozeß allein, weil die Männer bei ihrer Emanzipation noch nicht so weit sind. Die Männer kleben an der stinklangweiligen Erwerbsbiographie — so nenne ich das immer — , wo man sich stetig weiterentwickelt und ein bißchen mehr Geld verdient. Die Männer haben auch Kinder. An der Entstehung waren sie allemal beteiligt. Aber der Wille der Männer, den Kindern Zeit zu schenken und dafür woanders Abstriche zu machen, dieser Wille ist bei Männern bisher noch nicht ausgeprägt.
— Die Männer, die eine wirklich aktive Vaterschaft ausüben — es gibt Männer, die sich in Männergruppen und in Gruppen von aktiven Vätern zusammenschließen — , die gibt es. Aber in der Landschaft der Bundesrepublik sind diese Männer Exoten. Wir können uns freuen, daß es sie gibt. Denn sie sind Vorbilder. Aber sie sind weiterhin Exoten.Weil man mit Bestrafung oder mit vielen Appellen an diese wirklich patriarchalischen Männer, die wir in unserer Gesellschaft haben, nicht herankommt, müssen wir uns Programme überlegen, die es den Männern ermöglichen, ihre Rolle in der Familie mit den Kindern aktiv anzunehmen.Da kann es natürlich nicht angehen, daß wir einen Erziehungsurlaub haben, den zwar Väter in Anspruch nehmen können, aber nur verheiratete Väter. Denn wir wissen, daß die Ehe rückläufig ist, daß wir viele Kinder haben, die unehelich geboren werden, wie man so schön sagt. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe unehelicher Väter. Wir müssen diese unehelichen Väter in das Erziehungsgeldgesetz einbeziehen.
Ich denke auch, daß wir noch viel soziale Phantasie entwickeln müssen. Warum kann es nicht zum Bil-
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Frau Schoppedungsurlaub gehören, daß Männer dort einfache Kulturtechniken erlernen
wie Haushaltsreinigung, wie Kindererziehung. Solche Sachen wissen sie überhaupt nicht. Sie sind in ihrem Wissen doch etwas sehr
eingeschränkt. Das muß man hier einfach einmal sagen.Ich möchte zum Schluß noch auf die Kindergartengeschichte eingehen, weil es mich ärgert, daß die Diskussion darüber so eng läuft. Von vielen Seiten kommt: Wir brauchen die Kindergartenplätze, weil die Mütter erwerbstätig sein wollen. Natürlich brauchen wir sie auch aus diesem Grunde. Aber ich denke, wir brauchen die Kindergartenplätze und alle möglichen Betreuungsarten hauptsächlich wegen unserer Kinder.
Die Zahl der Einzelkinder in der Gesellschaft wächst ständig. Das heißt, es kann doch nicht unser Bestreben sein, daß man diese kleinen Zwerge zu Hause allein zwischen zwei übermächtigen Erwachsenen läßt
und nicht dafür sorgt, daß sie die Möglichkeit haben, sich in Gruppen von Gleichaltrigen soziale Kompetenzen anzueignen. Das ist mir ein wichtiger Grund.
— Das ist kein Konflikt. Aber der Konflikt liegt jetzt beim Rechtsanspruch.
Alle sind für einen Rechtsanspruch; und keiner kann das Scheitern auf den anderen schieben.
Wir können nicht sagen: Die CDU allein hat dafür gesorgt, daß der Rechtsanspruch kippt.
Denn wir wissen alle: Aus den Landesregierungen — ich erwähne als Beispiel nur NW — ist der Widerstand gegen einen Rechtsanspruch
— auch aus Schleswig-Holstein — genauso groß. Das heißt, die Länder wollen es nicht.
Sie wollen diesen Ausbau nicht haben,
und das finde ich sehr verwerflich.
Ein letzter Punkt. Ich habe ja nur zehn Minuten. Es ist zu schade.
Der Ulrich Beck hat in seinem Buch über die Risikogesellschaft die Frage gestellt, ob die derzeitgen Institutionen, die uns zur Verfügung stehen, in der Lage sind, den ökologischen Schäden, die wir angerichtet haben, so zu begegnen, daß es keine weiteren ökologischen Schäden gibt, und daß wir zweitens versuchen, sie zu reparieren.Ich finde, wir sollten diese Frage der Institutionen auch auf all die Institutionen anwenden, die mit Pädagogik und Erziehung zu tun haben. Der Kindergarten ist ja eine in sich abgeschlossene Institution, irgendwie ein Ghetto. Die Fachleute reden von der Verinselung der Kindheit. Das heißt, Kinder schwirren nicht überall umher, sondern sind in Inseln zu Hause: beim Musikunterricht, beim Sportunterricht, in der Schule, im Kindergarten. In der Gesellschaft sind sie gar nicht mehr zu sehen. Ich frage mich, ob die derzeitige Form des Kindergartens als in sich abgeschlossene Institution noch das leisten und den Kindern vermitteln kann, was sie heute und für die Zukunft an Kompetenzen brauchen. Ich glaube, daß sich Kindergärten zur Gemeinde öffnen müssen
und daß Kinder rausgehen müssen. Die wollen wissen: Was macht der Bürgermeister? Sitzt er nur auf seinem Stuhl? Oder macht er wirklich etwas? Und was macht er, wenn er etwas macht? Was machen unsere Eltern am Arbeitsplatz? Das wollen die Kinder wissen.
Und vieles andere gibt es da.Auf der anderen Seite muß man sehen: Warum haben wir Institutionen, die — wie Schulen — zeitweise, vielleicht vormittags, genutzt werden, aber nachmittags und abends leerstehen? Warum kommen wir nicht dazu, diese Institutionen auch für die Gemeinde zu öffnen? Auf dem Land hat es in der Nachkriegszeit einen kulturellen Kahlschlag gegeben. Es gibt überhaupt keine Zentren mehr, wo kulturelle Begegnungen stattfinden. Warum macht man die Kindergärten dann nicht offen und macht sie zu kulturellen Zentren für Eltern und für Kinder?Ein letzter Punkt, bevor der Präsident hinter mir böse wird.
Der Präsident wird nicht böse. Er bemüht sich, immer großzügig zu sein, Frau Schoppe. Lassen Sie sich nicht aufhalten!
Gut, sehr gut, Herr Präsident.Ein letzter Punkt, über den wir, wie ich meine, nachdenken müssen, ohne daß wir sogleich wieder in Streß geraten, ist: Wir müssen auch über die Frage nachdenken, ob es in diesen Institutionen wie beispielsweise dem Kindergarten nicht eine Versöhnung zwischen Fachkräften und Laienkräften geben kann.
Warum soll nicht ein Maler, der in der Nähe wohnt,einmal in der Woche kommen und seine Kompetenzden Kindern zur Verfügung stellen? Warum soll nicht
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Frau Schoppeeine Oma, die wunderbar stricken kann, einmal in der Woche hinkommen und den Kindern das Stricken zeigen? Das wäre für diese Erwachsenen sehr schön. Das wäre für die Kinder sehr schön. Alles Wissen, das wir haben, könnten wir auf unsere Kinder verteilen. Sie sind ja schließlich unsere Hoffnung.
Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Ausführungen über die allgemeinen Grundsätze zur Familienpolitik versuche ich, mich näher an die Große Anfrage der SPD zu halten. Die Große Anfrage zur Lage von Familien und Kindern ist keine große Leistung; die Antwort der Bundesregierung, soweit sie sich auf die Fragen der SPD bezieht, auch keine. Ich kann das mit wenigen Ausnahmen der Regierung nicht einmal ankreiden.
Sie hat das beantwortet, wonach gefragt war. Die Fragen waren nicht sehr gut durchdacht. Sie waren konzeptionslos.
Das Beste an der Antwort ist ohne Zweifel die Vorbemerkung der Bundesregierung. Denn über zwei Seiten wird eine knappe, aber übersichtliche und inhaltsschwere Darstellung der familienpolitischen Leistungen der Bundesregierung aufgelistet. 18 Milliarden DM wurden für Familien mit Kindern mehr ausgegeben.Auf einer weiteren knappen Seite ist aufgeführt, was noch in dieser Wahlperiode gemacht werden soll. Diese drei Seiten zeigen mehr als alles andere die soziale Lage von Familien und Kindern und vor allem die Veränderungen in unserem Land durch diese Koalition. Diese Leistungen zeigen aber auch, welchen Stellenwert Familie und Familienpolitik für die Regierung und die sie tragenden Fraktionen hat.Die Opposition hat nach vielen Zahlen gefragt und hat sie erhalten. Aber mit diesen Zahlen kann man nicht allzuviel anfangen. In der Statistik nennt man das einen Zahlenfriedhof.Das, wonach die SPD gefragt hat, kann man zum großen Teil im Statistischen Jahrbuch finden oder beim Statistischen Bundesamt nachfragen. Dazu braucht man keine Große Anfrage, dazu braucht man nicht die Bundesregierung.
Ich wiederhole: Eine politische Leistung war diese Große Anfrage nicht; ein konzeptioneller Ansatz ist dahinter nicht einmal erkennbar.Ich will dies durch einige Beispiele deutlich machen. Es wurde nach Kinderkrippen und Kindergärten gefragt. In beiden Fällen sind die Zahlen gestiegen. Wir wissen aber, daß es gar nicht darauf ankommt, wieviel Kinderkrippen und Kindergärten wir haben, sondern wir müssen wissen, ob Angebot und Nachfrage übereinstimmen. Das heißt, wir brauchen auch Zahlen über den Bedarf und darüber, wievielKindertagesstätten fehlen. Merkwürdigerweise hat die SPD danach nicht gefragt. Das wäre in der Tat sehr viel wichtiger gewesen.
Gefragt wurde nach den Tagespflegestellen für Kinder. 1982 waren es knapp 18000, 1986 über 25 000. Diese Tabelle ist ein ganz typischer Zahlenfriedhof. Warum werden diese Zahlen nicht durch Prozentangaben transparenter gemacht? 43 % sind doch eine ganze Menge. Die Regierung verkauft sich schlecht.Gefragt war auch nach den Jugendfreizeiteinrichtungen. Von 1980 auf 1986 sank diese Zahl um 9 %. Vergleiche ich aber die Zahl von 1980 mit den Zahlen bis zum Ende der sozialliberalen Koalition 1982, so stelle ich fest, daß diese Zahl um 44 % gesunken ist. Von da an stieg sie bis 1986 um 62 % an.Sie sehen, meine Damen und Herren: Man kann die ausgewiesenen Zahlen sehr viel besser darstellen und verkaufen, als dies die Regierung tut. Auch in diesem Fall prahlt sie nicht mit der Entwicklung, sondern zeigt eine betonte Zurückhaltung. Ja, sie zeigt sich offensichtlich eher erschrocken, daß dies so gut ein soll, und nimmt Erfassungsfehler an.Eine andere Regierung wäre da nicht so bescheiden gewesen. Diese Regierung beschönigt nichts. Ich glaube, sie braucht das auch nicht, weil die Leistungen eindeutig sind.Ein weiteres Beispiel für ein schlechtes Verkaufen von Leistungen ist die Tabelle über die finanziellen Auswirkungen familienpolitischer Maßnahmen auf Seite 20. Die Gesamtsummen der Leistungen fehlen in der Tabelle, und sie sind auch nicht prozentual umgerechnet, was einer besseren Verständlichkeit, dienlich gewesen wäre.Ich will dies tun: Das Ansteigen der Leistungen von 28 auf knapp 34 Milliarden DM bedeutet ein Mehr von 21 %. Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, daß die Zahl der Kinder abgenommen hat, von ca. 16 Millionen auf ca. 13 Millionen. Es gibt also 20 % weniger Kinder. Die Pro-Kopf-Leistung steigt dadurch zusätzlich von knapp 1 800 DM auf knapp 2 700 DM. Das sind über 50 % mehr.
— Frau Dr. Götte, dabei sind schon die Leistungen abgezogen, die gekürzt wurden, was Sie in allen Debatten kritisieren.Kritisieren möchte ich auch die Statistik über den Anteil der durchschnittlichen Wohnkosten am Einkommen; das betrifft die Seite 36. Wohnungen werden bei uns subventioniert durch Objektförderung und Subjektförderung, d. h. durch den sozialen Wohnungsbau und durch das Wohngeld. Nachdem es zwischen beiden Leistungen in der angegebenen Zeit Verschiebungen gegeben hat, sollte eine derartige Statistik so aufgebaut sein, daß dies berücksichtigt wird.Anders ausgedrückt: Das Einkommen hätte nicht um die Wohngeldzahlungen aufgestockt werden dürfen, das Wohngeld hätte von den Mieten abgezogen werden sollen. Dann wäre in allen Fällen die Subvention durch Wohngeld und sozialen Wohnungsbau in
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die Statistik gleichermaßen eingegangen, und die Zahlen wären miteinander vergleichbar gewesen.
Ein weiterer Vorteil einer derartigen Statistik wäre, daß tatsächlich erkennbar wäre, wieviel Prozent seines Einkommens ein Arbeitnehmer für seine Wohnung ausgeben muß. Diese Zahlen sind niedriger als die in den aufgelisteten Zahlenkolonnen, d. h. der Bürger zahlt tatsächlich weniger als angegeben.Man sieht auch hier: Die Bundesregierung verkauft sich schlecht. Die tatsächlichen Leistungen sind besser, als sie hier dargestellt sind.
Leider konnte die letzte Frage über die Auswirkungen der Maßnahmen zur Förderung des Wohnens mehrerer Generationen nicht beantwortet werden. Entsprechende Vorschläge wurden von mir schon einmal in der 9. Wahlperiode angeregt, scheiterten aber damals, wenn ich mich recht erinnere, am Vermittlungsausschuß. Um so neugieriger bin ich natürlich auf die Auswirkungen dieser Maßnahmen. Vielleicht können wir dazu einmal Zahlen nachgeliefert bekommen. Das wäre sicher sehr interessant.Wenn man davon absieht, daß die Zahlen, nach denen gefragt wurde, nicht das hergeben, was man zu diesem Thema hätte fragen können, und wenn man berücksichtigt, daß die Bundesregierung ihre Leistungen in dieser Übersicht nicht optimal dargestellt hat, kann man nur zu dem Ergebnis kommen, daß sich die soziale Lage von Familien und Kindern eindeutig verbessert hat.
— Warum wir keine Anfragen gestellt haben? Ich habe in meinem Büro das Statistische Jahrbuch stehen. Darin kann ich alles nachlesen. Dazu brauche ich nicht die Bundesregierung zu fragen.Aber ich bin damit nicht zufrieden. Die soziale Lage von Familien und Kindern kann noch verbessert werden. Der Familienlastenausgleich ist noch nicht optimal. Er kann und muß verbessert werden. Daran arbeitet die Bundesregierung, und daran arbeiten die sie tragenden Fraktionen.Die Vorschläge der SPD, die immer wieder gemacht werden, sind mir unter einem Gesichtspunkt sympathisch: Sie beinhalten ein einfacheres, übersichtlicheres System, das nicht so kompliziert und undurchsichtig wie der heutige Familienlastenausgleich ist. Ich habe das in all meinen Reden über den Familienlastenausgleich betont. Hier müssen sich die Regierung und die Koalitionsfraktionen noch etwas einfallen lassen. Aber das System, das die SPD vorschlägt, deckt sich politisch nicht mit meinen Vorstellungen. Es ist auch nicht finanzierbar.
Neueste Zahlen aus dem Finanzministerium belegen, daß das von der SPD angestrebte Einsparvolumen von 6 Milliarden DM durch die Kappung des Ehegattensplittings und die Abschaffung der Freibeträge nurdann zur Verfügung steht bzw. zu erreichen ist, wenn das gekappte Ehegattensplitting bereits ab 60 000 DM Bruttojahreseinkommen wirkt. Ob das die SPD wirklich will, wage ich zu bezweifeln.
— Es wäre ganz gut, wenn man die Zahlen einmal vergleichen würde. Das wäre sicherlich sehr interessant.
Die Kappung oder Abschaffung des Ehegattensplittings geht auch von einer Vorstellung von Ehe aus, die ich nicht teile. Ehe heißt Partnerschaft. Das Einkommen beider ist immer gemeinsames Einkommen; es ist nicht dein und nicht mein, sondern unser Einkommen. Dies heißt Ehegattensplitting, nichts anderes; oder eigentlich besser, nach meinen Vorstellungen wäre Familiensplitting. Der Neidkomplex der SPD geht darüber hinweg.
Die SPD geht im Steuerkonzept vom Prinzip der gleichberechtigten Partnerschaft ab.
Herr Abgeordneter Eimer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Selbstverständlich.
Herr Eimer, finden Sie es wirklich in Ordnung, von Neidkomplex zu sprechen, wenn wir kritisieren, daß im nächsten Jahr nach der sogenannten Steuerreform ein Höchstverdiener, wenn er heiratet, im Jahr einen Splittingvorteil von bis zu 22 842 DM bekommen kann, ohne daß in dieser Ehe ein Kind vorhanden ist, während der Durchschnittsverdiener für die Erziehung des ersten Kindes 1 200 DM bekommt? Ist das Neidkomplex, oder ist das nicht sehr ungerecht?
Frau Kollegin, ich teile Ihre Meinung — das habe ich oft genug gesagt — , daß die Leistungen für Kinder verbessert werden müssen. Ich teile Ihre Meinung, daß wir hier mehr tun müssen. Aber ich teile nicht Ihre und die Meinung der SPD, daß man das Ehegattensplitting kappen oder abschaffen sollte.
— Bleiben wir beim Kappen. Ich habe das ganz bewußt gesagt.Für mich ist das Einkommen innerhalb einer Familie, das Einkommen von Mann und Frau, immer gemeinsames Einkommen. Also kann ich in dieser Partnerschaft auch nur das Durchschnittseinkommen pro Kopf besteuern. Wenn ich das nicht tue, wird ein Partner — das ist meistens derjenige, der weniger ver-
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Eimer
dient, und das ist regelmäßig die Frau — nicht als gleichberechtigter Partner anerkannt.Es kommt noch etwas anderes hinzu, Frau Kollegin: Diejenigen, die in der Lage sind, das Einkommen zwischen den beiden Ehepartnern hin- und herzuschieben wie z. B. Selbständige — und das sind oft die Großverdiener — , können sich das Ehegattensplitting selbst genehmigen.
Sie brauchen diese Institution gar nicht. Das Ehegattensplitting brauchen diejenigen, die lohnabhängig sind. Die anderen brauchen es nicht, weil sie das Einkommen schön gleichmäßig verteilen können.
Ich halte das Ehegattensplitting also für notwendig, weil es erstens meinem Bild von Partnerschaft entspricht und weil es zweitens gerade für die Großverdiener ganz legale Umgehungstatbestände gibt.Ein weiterer Streitpunkt zwischen Regierung und Opposition ist auch das zur Beratung anstehende Gesetz zur Jugendhilfe. Die SPD weiß, daß hier im Hause sehr, sehr viel Sympathie für einen Rechtsanspruch besteht. Aber ich frage mich natürlich: Wo stehen denn die Kommunalpolitiker der SPD, die Landesfürsten der SPD, aber selbstverständlich auch der Union — unsere will ich gar nicht ausnehmen — in dieser Frage? Sie sind nicht auf unserer Seite; sie sind auf der anderen Seite. Wenn wir hier weiterkommen wollen, liebe Kollegen von der SPD, dann hat es überhaupt keinen Zweck, wenn man sich gegenseitig Schwarze Peter zuschiebt. Es gibt vielmehr nur eines: Wir müssen uns unterhaken und gemeinsam gegen die Kommunalpolitiker und gegen die Landespolitiker stehen. Nur so haben wir eine geringe Chance, etwas zu erreichen, sonst nicht.
Meine Damen und Herren, der Zustrom von Übersiedlern aus der DDR — vor allem sind es ja junge Leute mit Kindern — zeigt, wie wichtig es ist, daß wir mehr Kindergartenplätze und Kinderbetreuungseinrichtungen schaffen. Dies ist von heute auf morgen nicht zu erreichen. Aber die Aussiedler sind von heute auf morgen zu uns gekommen. Deswegen müssen wir uns zumindest für eine Übergangszeit schnelle Lösungen einfallen lassen.Frau Minister, Sie werden in Kürze von mir einen Brief erhalten, in dem ich Ihnen Vorschläge dazu unterbreiten werde. Ich glaube, wir sollten uns zum einen Räumlichkeiten suchen, die heute nur abends genutzt werden — ich denke dabei z. B. an Vereinsheime — , um sie für Kinderbetreuung zur Verfügung zu stellen.Wir sollten zum anderen versuchen, über AB-Maßnahmen arbeitslose Kindergärtner und Kindergärtnerinnen, Lehrer und Lehrerinnen zu gewinnen.
Wir sollten diese Leute auch aus dem Kreise der Aussiedler gewinnen, auch in dem Sinne, wie Sie, Frau Schoppe, es gesagt haben, um möglichst schnell wenigstens für eine Übergangszeit Plätze für Kinder zu bekommen und so die auftretenden gravierenden Lücken zu schließen.Ich meine, wir sollten darüber hinaus jungen Übersiedlern und ihren Kindern helfen, sich schneller bei uns einzuleben. Einen wichtigen Beitrag dazu könnten die Vereine leisten. Ich möchte die Vereine bei uns aufrufen, für ein Jahr Übersiedler aus der DDR bei sich aufzunehmen, ohne daß sie dafür Beiträge bezahlen müssen.
Ich verspreche mir davon nicht nur, daß die Übersiedler schneller Kontakt zum sozialen Leben und persönliche Bindungen bei uns finden. Vielmehr kann dadurch auch die Zeit der Eingewöhnung wesentlich verkürzt werden, und die soziale Lage von Kindern und Familien kann verbessert werden. Auch wenn wir uns über die Konzepte zur Familienpolitik streiten — über diesen Punkt sollten wir uns einig sein, und wir sollten uns noch viel einfallen lassen, damit wir möglichst schnell eine gute Lösung dafür finden.Vielen Dank.
Herr Abgeordneter, wenn Sie wollen, können Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schoppe beantworten.
Gerne.
Herr Eimer, Sie haben interessante Vorschläge gemacht, über die man sicher auch nachdenken muß. Sind Sie mit mir einer Meinung, daß man jetzt angesichts der Zahl der vielen Über- und Aussiedler, die zu uns kommen, nicht vergessen darf, daß es auch Asylsuchende gibt, und daß man diese in die Maßnahmen, die man sich überlegt, mit einbeziehen muß?
Ja, Frau Kollegin, ich glaube, daß man das immer tun muß. Wenn ich jetzt ganz speziell Sondervorschläge für eine Gruppe gemacht habe, heißt das natürlich nicht, daß ich die anderen ausgrenze.Es gibt noch einen anderen Grund: Wenn ich keine Sondermaßnahmen vorschlage, besteht natürlich die Gefahr, daß durch die Not der Über- und Aussiedler andere Leute aus den Kindergartenplätzen, die sie jetzt vielleicht bekommen würden, verdrängt werden.
Deswegen muß man es im Zusammenhang sehen. Ich glaube, wir können da ein Stück weiterkommen. Wenn hier Gemeinsamkeit in bezug auf solche Vorschläge herrscht, dann sollten wir versuchen, in unseren Kommunen solche Vorschläge vorzutragen.
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Es besteht noch ein Wunsch nach der Beantwortung einer Frage. Möchten Sie auch diesen noch erfüllen? Ihre Zeit ist nicht ganz abgelaufen; insofern ist es möglich.
Gerne.
Herr Eimer, wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchten Sie ein solches Sonderprogramm speziell für Über- und Aussiedler. Dieses müßte dann ja sicherlich aus Bundesmitteln gefördert werden. Diesbezügliche Überlegungen in den Kommunen sind zwar vorhanden; uns fehlen jedoch die Mittel in diesem Bereich. Da sehe ich immer die Schwierigkeiten.
Ich habe z. B. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorgeschlagen. Das sind Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit. Ich habe nichts dagegen, daß wir uns Gedanken machen, wie wir, ohne daß wir in Konflikt mit den Länderkompetenzen kommen, hier für eine kurze Zeit Hilfen geben. Mir geht es darum, daß geholfen wird. Darüber, wie das geschehen kann, sollten wir uns beraten. Ich glaube, darüber kann man sich sogar einigen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Frau Professor Lehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD zur sozialen Lage von Familien und Kindern ist eine unbeschönigte Darstellung der derzeitigen Situation. Sie zeigt die Leistungen der Bundesregierung in den vergangenen Jahren, wenn auch, wie Sie, Herr Eimer, eben sagten, eher untertrieben als übertrieben wird. Sie waren so nett und haben die Leistungen wenigstens in Prozentzahlen umgesetzt, damit sie manchmal noch etwas deutlicher herauskommen. Danke schön! Die Antwort macht aber auch deutlich, daß wir noch schwierige Aufgaben vor uns haben. Dazu gehört auch der Ausbau von Kinderkrippenplätzen und von Kindergartenplätzen, und zwar zum Wohle des Kindes — das möchte ich hier unterstreichen —; ich glaube, darüber besteht Einigkeit bei allen im Haus.
Frau Schoppe, Sie haben in bezug auf die Ausgestaltung des Kindergartens durchaus interessante Anregungen gegeben. Herr Eimer, ich warte auf den entsprechenden Brief von Ihnen. Wir werden dann zusammen Wege suchen.Ich muß noch etwas einfügen. Liebe Frau Dr. Götte, Sie haben mit Recht gesagt, es fehlten Daten, und Sie haben — wie auch ich seit Jahren — auf die Problematik der Sozialdata-Studie aus dem Jahr 1978 hingewiesen. Ich habe sofort versucht, eine neue Studie — allerdings eine wissenschaftlich haltbare — anzusetzen. Die Sozialdata-Studie ist nicht so schlecht, weil sie aus dem Jahre 1978 stammt, sondern weil sie die Pflegebedürftigen an Hand solcher Kriterien feststellt, ob sie ihre Fenster noch selber putzen können und als 30jährige ihr Mittagessen noch selber machen können. Letzteres konnten sie als 30jährige sicher auch nicht, deswegen waren sie aber natürlich nicht pflegebedürftig. Wir werden hier sehr bald eine neue Erhebung beginnen, eine Erhebung allerdings, die auf wissenschaftlich haltbaren Daten basiert.Insgesamt gesehen kann sich die Verbesserung der Situation der Familien in den letzten Jahren durchaus sehen lassen, vor allem gegenüber dem, was in den 70er Jahren erreicht worden ist.Die Familienpolitik ist und bleibt Schwerpunkt der Arbeit der Bundesregierung. Sie muß im Mittelpunkt der Gesellschaftspolitik stehen, da die Familie eine zentrale Funktion im Leben eines jeden Menschen hat. Familie ist aber nicht nur Kernfamilie von Eltern und Kindern. Sie ist umfassender zu sehen. Sie ist kein festes, kein statisches Gebilde, sondern ein dynamischer Prozeß, bei dem man im Kleinkind von heute den Jugendlichen von morgen, die Erwachsenen von übermorgen und die Großeltern von überübermorgen sehen sollte. Familie ist ein dynamisches, sich veränderndes Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen Generationen.Die Bundesregierung trägt mit ihrer Familienpolitik mit dazu bei, daß es Müttern und Vätern — Sie haben ganz recht, Frau Schoppe wenn Sie sagen: „und Vätern" — leichtergemacht wird, sich für Kinder zu entscheiden. Sie will gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die es erlauben, die individuellen Lebenspläne zu verwirklichen, den Wunsch nach einer Familiengründung zu realisieren. Sie will Möglichkeiten schaffen, Familie und Beruf für Väter und Mütter in die Lebensplanung einzubeziehen. Unterstützung und Hilfe muß dort gewährt werden, wo die Familie überfordert ist.Eine so angelegte Familienpolitik beschränkt sich nicht auf einige wenige Maßnahmen wie z. B. Kindergeld und Kinderfreibeträge. Eine solche Familienpolitik muß zwar finanzielle Rahmenbedingungen schaffen, sie muß jedoch umfassender angelegt sein und als Querschnittaufgabe verstanden werden, die in viele Politikbereiche hineinreicht. Der Staat muß im Sinne von Art. 6 des Grundgesetzes auf allen der Politik zugänglichen Feldern Familie unterstützen und fördern.Auf einige Aspekte unserer familienpolitischen Konzeption möche ich kurz eingehen. Den Durchbruch zu einer modernen Familienpolitik stellen neue Leistungen wie vor allem Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und die Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht dar. Mit diesen familienpolitischen Maßnahmen hat die Bundesregierung Weichen gestellt, um der Lebensplanung junger Paare, die eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf wünschen, besser gerecht werden zu können.Es ist selbstverständlich, daß wir diese Leistungen in der kommenden Legislaturperiode für einen noch längeren Zeitraum ausweiten wollen. Mir schwebt ein Erziehungsurlaub von zwei Jahren vor, den dann alle Länder um ein drittes Jahr aufstocken können.Insgesamt gesehen haben die Ausgaben bzw. Steuermindereinnahmen für die beschlossenen bzw. schon in Kraft getretenen familienpolitischen Maß-
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Bundesminister Frau Dr. Lehrnahmen im Jahre 1990 ein Finanzvolumen von etwa 18 Milliarden DM erreicht.Im einzelnen möchte ich nur auf folgende wesentliche Verbesserungen der Familienpolitik hinweisen: auf die Erhöhung des steuerlichen Kinderfreibetrages von 432 DM bis zum Jahre 1986 auf 3 024 DM ab 1990; auf die Einführung eines Kindergeldzuschlages von zur Zeit bis zu 46 DM pro Kind monatlich für geringverdienende Familien; auf die Zahlung des Kindergeldes auch für jene Kinder im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, die weder einen Ausbildungsplatz noch einen Arbeitsplatz haben — dies hatte die SPD damals gestrichen; wir haben es wieder eingeführt —; auf die Erhöhung des Kindergeldes für das zweite Kind von 100 auf 130 DM — freilich muß auch hier mehr getan werden —; auf die stufenweise Erhöhung der Mittel für die „Bundesstiftung Mutter und Kind" von 60 Millionen DM im Jahr 1985 auf 130 Millionen DM für das Jahr 1989; auf die Erhöhung der steuerlichen Ausbildungsfreibeträge ab 1986 und 1988 — auch hier hatte die SPD gekürzt.Erwähnen möchte ich die Einführung der häuslichen Pflege für Schwerpflegebedürftige in der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch die Erhöhung des Wohngeldes ist in den letzten Jahren besonders Familien mit Kindern zugute gekommen. Während für diese 1982 ca. 800 Millionen DM von Bund und Ländern zur Verfügung gestellt worden sind, haben sich die Ausgaben für Familien mit Kindern nunmehr verdoppelt und erreichten 1987 einen Betrag von 1,6 Milliarden DM.
Frau Minister, würden Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Götte zulassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn es nicht auf meine Zeit geht, bitte.
Frau Ministerin, Sie erwähnten gerade die Leistungen, die für die Familien erbracht wurden, die einen pflegebedürftigen Angehörigen haben, und meinten damit sicher die 1 800 DM, die jemand bekommt, der in Urlaub fahren möchte, der sonst einen alten oder einen schwerkranken Menschen pflegt. Wie erklären Sie sich denn die Tatsache, daß nur ein Bruchteil der Betroffenen diese 1 800 DM tatsächlich in Anspruch nehmen konnte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, dies hat sicherlich mehrere Gründe. Der eine Grund dürfte sein, daß diese Leistungen noch nicht in dem Maße bekannt sind.
Der zweite Grund dürfte sein, daß Schwerstpflegebedürftige wahrscheinlich doch nicht in dem Ausmaß vorhanden sind, wie es in der Sozialdata-Studie, die Sie auch kritisieren, behauptet wurde.
Der dritte Grund dürfte sein — auch da muß einiges getan werden — , daß noch mehr Altenheime vorhanden sein müssen, die Gästebetten und damit auch eine Ersatzkraft zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, wir sollten weiterhin nicht die Verbesserung für Familien im Bereich der Sozialhilfeleistungen übersehen. Insgesamt stiegen die Regelsätze von 1985 bis 1988 real um 12,5 %, während sie in den Jahren 1979 bis 1983 real um 5,3 To gesunken waren. Auf Initiative der Bundesregierung sind darüber hinaus die Entwicklungschancen von Kindern in Sozialhilfeempfängerfamilien durch weitere Maßnahmen verbessert worden.
Die solide Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung ist auch auf dem Arbeitsmarkt nicht ohne Wirkung geblieben und wirkt sich auf die Familien aus. Ein Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat insbesondere Frauen, die daran mit 65 % beteiligt waren, neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet. Die Ausbildungsbilanz des Jahres 1988 war mit einem bundesweiten Angebotsüberschuß von über 37 000 Ausbildungsplätzen die beste Bilanz seit Beginn der Berichterstattung durch die Bundesregierung im Jahre 1976.
Lassen Sie mich — die Zeit drängt leider — noch auf eines hinweisen. Mit dem Kabinettsentwurf eines Kinder- und Jugendhilfegesetzes wollen wir im Rahmen der Jugend- und Familienhilfe den unterschiedlichen Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen und deren Familien besser Rechnung tragen. Ziel ist, für alle Kinder und Jugendliche günstige Erziehungsbedingungen zu schaffen und Benachteiligungen abzubauen. So sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung insbesondere Hilfen für Familien in unterschiedlichen Lebenssituationen vor. Hinweisen möchte ich auf die Verbesserung der Tagesbetreuung der Kinder durch bedarfsgerechten Ausbau kindgerechter Formen der Betreuung, zunächst der besseren Entwicklung der Kinder wegen, aber dann auch als Unterstützung der Eltern und der eigenständigen Lebensgestaltung Alleinerziehender.
Immer wichtiger wird auch die Beratung von Müttern und Vätern zur Wahrnehmung der Elternverantwortung bei Trennung und Scheidung, um Kindern — möglichst unbelastet von den elterlichen Problemen — , wo immer möglich, den Kontakt zu beiden Eltern zu ermöglichen. Ferner ist die Verbesserung der Hilfen für junge Volljährige, insbesondere eine verbesserte Verknüpfung von Ausbildung und Beschäftigung mit pädagogischen Angeboten für benachteiligte junge Menschen, in die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen aufgenommen worden.
Lassen Sie mich in einem Satz zusammenfassen: Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur sozialen Lage von Familien und Kindern macht deutlich, daß die Bundesregierung die Weichen für eine moderne Familienpolitik richtig gestellt hat und daß sie schon in den vergangenen Jahren einen schrittweisen Ausbau und eine Fortentwicklung dieser Familienpolitik eingeleitet hat. Dieser Weg muß fortgesetzt werden.
Danke.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt .
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Ich möchte gern mit einem Zitat aus den familienpolitischen Informationen der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen beginnen. Dort heißt es zur Antwort auf die Große Anfrage der SPD zur Lage der Familien — deshalb, lieber Kollege Eimer, glaube ich auch, daß Ihre Beurteilung da etwas ungerecht ist — :Bei genauerer Analyse wird deutlich, daß wirklich aktuelle Zahlen selten sind. Vieles muß geschätzt und hochgerechnet werden, manche Angaben sind mehr als ein Jahrzehnt alt. Es gibt eine Reihe großer weißer Flecken, Bereiche und Lebensverhältnisse, zu denen offenbar der Zugang fehlt. Allerdings geht es dabei um Felder politischen Handelns,— das wollten wir wissen, weil wir Daten brauchen —in denen ohne Kenntnis der Situation wenig sinnvolle Entscheidungen getroffen werden können. So ist z. B. nicht bekannt, wie sich die durchschnittlichen Einkommensverhältnisse der Familien entwickelt haben, wie sich die Erhöhungen des Familienlastenausgleichs im Einzelfall oder nach Einkommensschichten auswirken, wie die finanziellen Hilfeströme zwischen den Generationen aussehen, wie sich die Situation von Familien mit arbeitslosen Familienangehörigen gestaltet.Es heißt weiter:Die Annahme der Bundesregierung, daß die Familienpolitik global den Interessen der Kinder, den Lebensvorstellungen junger Paare und den Bedürfnissen aller Mitglieder von Familien in unserer Gesellschaft gerecht werde, erscheint angesichts des lückenhaften Kenntnisstandes wenig verifizierbar.So scheint es leider auch zu sein.
Nun wundert mich etwas, sehr geehrte Frau Ministerin, daß Sie z. B. so wenig Angaben über die für ein Kind aufzuwendenden Kosten gemacht haben und dann auf ein Ergebnis von durchschnittlich 550 DM kommen. Sie hätten z. B. nur auf den 3. Familienbericht zurückgreifen müssen, veröffentlicht 1979, Mitarbeiterin u. a. Frau Professor Süssmuth, ausgewiesen im Inhaltsverzeichnis. Dort ist auf den Seiten 136 bis 138 Lesenswertes über Kosten für Kinder zu finden. Dort steht u. a., daß bereits damals der aufzuwendende Betrag für ein Kind bei 600 DM lag; und so ist Herr Professor Wingen, sozialistischer Umtriebe wahrhaftig unverdächtig, zu Recht
auf einen Betrag von heute 730 DM gekommen. Und so wundert es mich, wenn Sie dann heute auf 550 DM im Durchschnitt kommen.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir, die Politikerinnen und Politiker, haben unlängst schlechte Noten bekommen. Nur ein Viertel der Wähler und Wählerinnen ist der Meinung, daß wir zukunftsweisende Lösungen anzubieten haben. Ich meine, dies hat mit unserer Art zu diskutieren zu tun und mit der Unfähigkeit derer, die gerade an der Regierung sind — da schließe ich uns ausdrücklich ein, weil wir auch einmal an der Regierung waren und auch wieder einmal an die Regierung kommen werden — , unliebsame wissenschaftliche Erkenntnisse wahrzunehmen, aber auch damit — das ist ein Problem, das wir wohl alle haben — , daß der Dialog zwischen Politik und Wissenschaft unzulänglich organisiert ist und es von soviel Zufälligkeiten abhängig ist, was wir dann endlich, meist viel zu spät, zur Kenntnis nehmen und noch viel später in Politik umsetzen. Ich bin der Meinung, Frau Lehr, das ein wichtiger Punkt. Mich ärgert es jedes Mal wieder, wenn ich per Zufall auf ein interessantes Buch stoße und wir es alle nicht schaffen, dies dann systematisch in unsere Politik einzubinden und umzusetzen. Wenn wir uns irgendwann einmal gesagt haben, unser Konzept sah so aus und uns aber jetzt sieben Wissenschaftler sagen, daß sich das und das geändert hat, dann frage ich mich, warum wir das nicht zur Kenntnis nehmen. Deshalb, Frau Lehr, wäre es wunderbar, wenn wir jetzt endlich — und zwar vielleicht mit dem heutigen Tag wirklich endgültig — mit der familienpolitischen Vergangenheitsbewältigung aufhören könnten. Ich sage hier nochmals, und ich gebe es zu: Ja, es war ein Fehler der sozialliberalen Koalition 1982, das Kindergeld für das dritte Kind und für arbeitslose Jugendliche zu kürzen. Ja, es war ein Fehler. Genauso war es ein Fehler der derzeitigen Koalition, das Mutterschaftsurlaubsgeld damals zu reduzieren und das Schüler-BAföG abzuschaffen.
Nun machen wir doch darunter endlich einmal einen Strich und halten wir uns nicht immer mit Statistiken und irgendwelchen Dingen gegenseitig vor, daß wir Versager waren. Sie, Frau Lehr, hatten auch wieder so einen kleinen Schlenker in Ihrer Rede. Dies ist doch nicht notwendig. Und wenn wir uns das noch hundertmal vorwerfen, dann hat keine Mutter, kein Vater, kein Kind und keine Familie irgend etwas davon. Durch diese Vorwürfe ändert und verbessert sich ihre Situation überhaupt nicht. Lassen Sie uns doch lieber gemeinsam überlegen, was wir heute und in Zukunft für Familien, für Mütter, Väter, Kinder und auch Großeltern besser machen können. Dazu müssen wir erst die Veränderungen zur Kenntnis nehmen, die Veränderungen der Wünsche und Bedürfnisse und der Lebensverhältnisse von Familien.Im Unterschied zu früheren Generationen, bis in die späten 60er Jahre, ist es heute nicht mehr selbstverständlich — im Gegensatz zu damals — , daß mehr als 90 % der Bevölkerung Kinder hat.Die Schätzungen z. B. — jetzt ist der Kollege Hoffacker nicht mehr das, der mich deshalb beim letztenmal angegriffen hat — von Andreas Tewinkel — es hilft, hin und wieder einmal etwas zu lesen — in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft gehen dahin, daß in der Bundesrepublik bis zu 30 % der Bevölkerung lebenslang kinderlos sein werden. Die explosionsartige Zunahme der Single-Haushalte in den Ballungsgebieten zeigt uns die Richtigkeit dieser Rechnung. Deshalb muß ein Kinderlastenausgleich anders als bisher nicht nur dafür sorgen, die materielle Situation der Familien zu verbessern, sondern auch dafür, Gerechtigkeit zwi-
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Frau Schmidt
schen Menschen mit und Menschen ohne Kinder zu schaffen.
Wie sieht es damit aus? Mit dem dualen Familienlastenausgleich — der Meinung sind wir — haben Sie auf ein überholtes und veraltetes System zurückgegriffen, das wir, damals von seiner Unzweckmäßigkeit gemeinsam überzeugt, bereits Mitte der 70er Jahre durch ein anderes, durch ein einheitliches Kindergeld ersetzt hatten.
Jetzt steht dieses duale System wie ein sperriges altes Gepäckstück wieder im Raum. Außer Ihnen will dieses Sperrgut auch keiner mehr haben, am wenigsten die Familien selbst.
Sie können doch nicht bestreiten, daß das duale System in seiner Wirkung unübersichtlich — Herr Eimer hat es gerade noch einmal bestätigt — und in seiner Konstruktion und Beantragung kompliziert und eben darum auch bürgerfern ist.Es entsteht immer mehr der Eindruck, daß die Koalition das Ehegattensplitting deshalb für sakrosankt erklärt, weil sie sich einer sehr berechtigten Diskussion entziehen möchte. Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen Ihres Ministeriums hat — das wissen Sie, Frau Lehr — jedenfalls in seinem Gutachten nach der Steuerreform eine Überprüfung des Ehegattensplittings für geboten gehalten. Wir sind auch dieser Meinung. Wir sind der Auffassung, daß das Volumen des jährlichen Steuerausfalls durch das Splittingverfahren in Höhe von rund 24 Milliarden DM in begrenztem Umfang umgeschichtet werden sollte. Wir wollen das Ehegattensplitting doch nicht abschaffen. Jetzt lassen Sie doch einmal diese Diskussion! Stellen Sie uns doch nicht dauernd in eine Ecke, in die wir weder hinein wollen noch hineingehören! Wir wollen das Ehegattensplitting nicht abschaffen, sondern wir wollen es um 6 Milliarden DM kürzen, und das werden wir auch tun, und zwar auch deshalb — das hat nichts mit einem Neidkomplex zu tun —, weil der Splittingvorteil eines Alleinverdienerehepaares — unabhängig von der Zahl der Kinder — 1990 bei einem niedrigen Einkommen bei 1 067 DM, bei einem Spitzeneinkommen — die Kollegin Matthäus-Maier hat es gerade schon gesagt — dagegen bei 22 842 DM liegt. Das ist mehr als das Nettoeinkommen einer Verkäuferin, und das ist mehr als die Summe des Kindergeldes, die einer Familie mit zwei Kindern in zehn Jahren zusteht. Wir wollen doch nur umschichten, und wir wollen jetzt nicht irgend etwas abschaffen.Die Strukturschwächen Ihres Systems lassen sich nicht kaschieren. Wir haben es ausgerechnet. Ich habe die Zahlen hier. Ich bin sofort bereit, die Zahlen auszutauschen.
Ich habe Herrn Gattermann geschrieben. Dem Herrn Sudmann — er sitzt dort — , der mir geschrieben hat, wir könnten nur 2 Milliarden DM umschichten, ohne in den Bereich der Facharbeitergehälter zu kommen, biete ich an, die Zahlen auszutauschen.
Wir kommen zu einem Bruttoeinkommen von knapp 100 000 DM und können so einen Betrag zwischen 5 und 6 Milliarden DM herausschneiden.
Frau Abgeordnete Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne, wenn es nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Ich werde Ihnen das nicht auf Ihre Redezeit anrechnen.
Zunächst einmal hat der Abgeordnete Jäger die Möglichkeit, Sie zu befragen.
Frau Kollegin, wie erklären Sie eigentlich den inneren Zusammenhang zwischen Ihrer Forderung auf Einführung eines Familiensplittings und dem Umstand, daß Ihre Partei ja sogar Kinderfreibeträge vehement ablehnt, die ja immerhin ein Zwischenstück zwischen dem Kindergeld und dem Familiensplitting sind, die also immerhin schon eine steuerliche Entlastung darstellen? Wie paßt das zusammen?
Kollege Jäger, das haben Sie jetzt nicht richtig verstanden. Das tut mir fürchterlich leid. Sie sind wahrscheinlich kein Fachmann auf diesem Gebiet, und das werfe ich Ihnen nicht vor.
Es ist schlicht und einfach so, daß wir kein Familiensplitting wollen, sondern wir wollen das Ehegattensplitting begrenzen. Insoweit geht Ihre Frage vollkommen in die Irre. Wir wollen ein einheitliches Kindergeld ab dem ersten Kind von 200 DM einführen, und wir wollen ab dem vierten Kind noch einmal zusätzlich einen Zuschlag von 200 DM einführen.
Nun hat der Abgeordnete Eimer die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Frau Kollegin, ich will jetzt nicht über die Höhe des Betrages, um den gekappt werden soll, streiten, aber ich möchte Sie fragen: Sind Sie nicht auch der Meinung, daß, wenn gekappt wird — ganz gleich, um welchen Betrag — , nicht mehr der Grundsatz gilt, daß das Einkommen innerhalb der Ehe, also das Einkommen von Mann und Frau, gemeinsames Einkommen ist, sondern daß ein Partner, nämlich der schwächere, nur einen Teil des Einkommens des Höherverdienenden angerechnet bekommt? Sehen Sie nicht auch, daß Sie damit vom Prinzip der gleichberechtigten Partnerschaft innerhalb der Ehe abgehen?
Kollege Eimer, ich weiß nicht, was es mit Partnerschaft zu tun hat, wenn
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Frau Schmidt
die Ehefrau des Hilfsarbeiters oder des Briefträgers oder des Verkäufers 1 067 DM im Monat wert ist, während die Ehefrau des Vorstandsmitglieds 22 842 DM wert ist.
— Ich weiß schon, was Sie meinen. — Ich weiß außerdem nicht, was es mit Partnerschaft zu tun hat, wenn der Bezieher des höheren Einkommens den Steuervorteil erst einmal selber kassiert. Es ist heute ja leider so, daß viele Ehefrauen — auch wenn sie selbst verdienen — viel zu wenig Ahnung davon haben, was ihr Mann netto tatsächlich verdient.
Insoweit hat das mit Partnerschaft überhaupt nichts zu tun. Ich kann nicht einsehen, warum keine Partnerschaft mehr bestehen soll, wenn ich den Splittingvorteil auf rund 6 000 DM begrenze. Das müßten Sie mir noch erklären.
— Lassen Sie mich jetzt bitte weitermachen!Kinderlastenausgleich darf sich nicht auf Familien mit kleinen Kindern reduzieren, sondern er muß die Eltern mit Kindern in weiterführender Ausbildung ebenso berücksichtigen. Nun könnte man denken, daß Sie lernfähig sind. Die Einsicht, daß eine Reform der Ausbildungsförderung notwendig ist, schließt ja das Eingeständnis, daß der rücksichtslose Abbau der Ausbildungsförderung nach der Wende ein Fehler war, ein. Es bleibt ein Rätsel, wie die Regierung eines Landes, dessen Zukunft so sehr von der Ausbildung und der beruflichen Leistungsfähigkeit der nachwachsenden Generation abhängt, auf eine effektive Ausbildungsförderung und damit auf eine Zukunftsinvestition verzichten konnte. Es mußte Sie doch alarmieren, wenn der Anteil der Arbeiterkinder — Frau Kollegin Hamm-Brücher hat das am Mittwoch nachgefragt — an den Hochschulen auf 8,3 % und damit auf den Stand vor 1982 zurückgefallen ist.Die harrsche Ablehnung des Bundesbildungsministers zur Wiedereinführung des Schüler-BAföGs dürfen Sie als Familienministerin nicht hinnehmen.
Es darf nicht vom Portemonnaie der Eltern abhängig sein, welche Ausbildung sie ihren Kindern finanzieren können, sondern es muß ausschließlich von den Fähigkeiten der Kinder abhängig werden, nicht nur in deren, sondern in unser aller Interesse.
Meine lieben Kollegen, liebe Kolleginnen, die zweite Veränderung, die Familienpolitik heute zu berücksichtigen hat, sind die veränderten Bedürfnisse von Müttern, die hohe Zahl Alleinerziehender und die Tatsache, daß die Mehrkinderfamilie heute die Ausnahme ist. Mütter wollen beides — das ist von allen bisherigen Rednerinnen und Rednern gesagt worden — : Sie wollen Zeit für ihre Kinder haben und ihren Beruf ausüben. Alleinerziehende wollen nicht zwangsweise zu Sozialhilfeempfängerinnen werden. Deshalb muß uns die Verdoppelung der Sozialhilfeempfängerinnen bei den Alleinerziehenden, die Sie in Ihrer Antwort ausweisen, zu politischem Handeln bringen, und — auch das ist gesagt worden — Kinder brauchen den Kontakt zu anderen Kindern, zu gleichaltrigen, jüngeren und älteren.Das bedeutet für die Politik — das sind auch unsere Forderungen — :Erstens: Wir brauchen mehr familienergänzende Einrichtungen sowohl für die 0- bis 3jährigen, für die 3- bis 6jährigen und für die 6- bis 15jährigen, und wir brauchen sie nicht alle in diese Kästchen einzuordnen.Wir brauchen als ersten Schritt einen Rechtsanspruch für die Kindergartenbetreuung. Darauf möchte ich mit einem Satz noch eingehen: Ich habe den Eindruck, das wollen in der Zwischenzeit alle Fraktionen hier. Ich habe den weiteren Eindruck — das war auch wohl der Grund für das Scheitern Ihres Vorschlags —, daß es einige Länder gibt, die das nicht wollen, und zwar aus unterschiedlichen Motiven: Es gibt das Motiv des Landes Niedersachsen, das offensichtlich ein Frauenbild hat, das ein bißchen weiter rückwärts gewandt ist. Ich glaube, das Land Baden-Württemberg hat leider Gottes ähnliche Vorstellungen. Wir kennen die Diskussionen, Frau Lehr, und zwar aus Äußerungen auch von Kolleginnen der CDU/CSU-Fraktion hier, die in diesen Bundesländern geführt werden.Es gibt weiterhin Vorbehalte bei den Ländern, die in großen finanziellen Schwierigkeiten sind und die sagen: Dieses ist nicht finanzierbar. Darum sage ich, damit der Kollege Eimer nicht wieder aufstehen muß: Ich will keine Mischfinanzierung. Ich sage aber: Die Länder müssen durch einen Beitrag des Bundes in die Lage versetzt werden, diesen Rechtsanspruch zu erfüllen. Das heißt, es muß Geld über den Tisch fließen, sonst wird das nicht gehen. Wir werden Anträge in dieser Richtung stellen.Wir brauchen also als ersten Schritt einen Rechtsanspruch für Kindergartenbetreuung. Wir brauchen Ganztagseinrichtungen jeder Art, wenn wir nicht länger Schlußlicht in Europa bleiben wollen. Wir brauchen besser ausgebildete und besser bezahlte Erzieherinnen und Erzieher, kleinere Kindergartengruppen und andere Öffnungszeiten.Wenn einmal wieder die Frage gestellt wird: Wer soll das bezahlen?, dann sage ich: Bezahlen können wir das, wenn wir andere Prioritäten setzen. Prioritäten sind ein Ausdruck von Wertmaßstäben, und wir müssen endlich zeigen, daß uns unsere Kinder und ihre Mütter mehr wert sind als z. B. einige unsinnige Straßenbauprojekte, irgendwelche Rüstungsprojekte oder die Tatsache, daß Großkapitalbesitzer weiter unbestraft Steuern hinterziehen können.Zweitens. Wir brauchen über den bisherigen bezahlten Erziehungsurlaub hinaus eine dreijährige Arbeitsplatzgarantie. Frau Lehr, ich halte Ihr Konzept für richtig: Erweiterung des Bundeserziehungsurlaubs auf zwei Jahre mit zweijährigem Erziehungsgeld, das man dann sicherlich nicht bis in alle Einkom-
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mensgruppen hinein bekommt — aber den Rechtsanspruch auf den Arbeitsplatz hat man nach wie vor —, und anschließend eine Aufstockung von einem Jahr über die Länder.Ich halte das vom Prinzip her für richtig, und ich überlege mir, ob man nicht — ähnlich wie in Schweden — auch die Arbeitgeber ein bißchen über irgendeine Art von Fondslösung einbeziehen könnte. — Dieses halte ich für richtig. Nur, dann brauchen wir möglichst bald die dreijährige Arbeitsplatzgarantie. Denn dort, wo es schon Landeserziehungsgelder gibt, können die Frauen sie nur dann in Anspruch nehmen, wenn sie bereit sind, ihren Arbeitsplatz aufzugeben. Das ist ein unerträglicher Zustand. Darum fordern wir Sie auf, dieses möglichst schnell in die Tat umzusetzen, damit diese Frauen keinen Nachteil haben.
Drittens. Wir müssen den Zeitraum für die Betreuung kranker Kinder für erwerbstätige Eltern endlich erhöhen und das Alter der Kinder hinaufsetzen.Viertens. Wir brauchen bessere Chancen für Frauen, wieder in den Beruf zurückzukehren — nicht durch Modellprogrämmchen von 30 Millionen, sondern durch Ansprüche auf Qualifizierung. Und wir brauchen die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rente für alle Frauen und nicht nur für einen Teil der Frauen.Fünftens. Wir brauchen die Wiedereingliederung der Väter in die Familie, indem wir die ökonomische Situation der Frauen verbessern, z. B. durch unser Gleichstellungsgesetz und eine verbindliche Frauenförderung.
Damit schaffen wir tatsächlich Wahlfreiheit für Mutter und Vater, die dann entscheiden können, wer in welchem Umfang die Kinder betreut.Sechstens. Wir brauchen ein Pflegegeldgesetz, das die Situation der Pflegenden und der Gepflegten — eine der großen Leistungen, die nach wie vor von den Frauen in den Familien erbracht wird — endlich verbessert. Denn es hat sich ja wohl herausgestellt, daß die Ansätze im sogenannten Gesundheits-Reformgesetz absolut unzulänglich sind. Sie haben es gerade in der Antwort auf eine Zwischenfrage bestätigt.
Und wir brauchen — siebtens — einen Wohnungsbau, der endlich wieder preiswerten Wohnraum für Familien zur Verfügung stellt.
— Ach, wissen Sie, wenn die Familien und auch die Kinder uns richtig was wert wären, dann bräuchten wir kein Paradies,
sondern bräuchten dieses vergleichsweise bescheidene Programm nur umzusetzen. Dann hätten wir zwar nicht das Paradies, aber eine vernünftige Lösung. —
Mit diesen sieben Punkten würden wir die richtige Antwort auf die derzeitige Lage der Familien geben. Wir würden einen Beitrag zur Solidarität der Generationen leisten und ein Stück mehr Gerechtigkeit zwischen Kinderlosen und Familien schaffen.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage enthält neben der zu Recht aufgezeigten Bilanz von Leistungsverbesserungen seit 1985/86 viele Aussagen, die über den Anlaß der heutigen Debatte hinaus einer sorgfältigen Auswertung bedürfen und Ansatzpunkte für die Erarbeitung von Konzeptionen und deren Ausbau im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs und der Jugendhilfe bilden können.Es ist uneingeschränkt zu begrüßen, daß die Bundesregierung zum Ziel ihrer Familienpolitik gemacht hat, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so zu verändern, daß die Entscheidung für die Familie und für ein Leben mit Kindern erleichert wird und Kinder sich gemäß ihrer eigenen Personalität entwickeln können.Ich bin der Bundesregierung besonders dankbar dafür, daß sie den Schutzauftrag des Staates für die Familie an die Spitze stellt. Sie zieht damit einen klaren Strich gegenüber all jenen, die die Familie heute am liebsten nur als eine unter mehreren Lebensformen behandelt sehen wollen.
Für uns von der CDU/CSU hat die Familie Vorrang. Dies verschließt uns allerdings, Frau Schoppe, nicht die Augen für die heute teilweise recht unterschiedlichen Lebensplanungen in unserer Gesellschaft. Das heißt allerdings wiederum nicht, daß wir diese Lebensplanungen alle gleich bewerten müssen oder wollen.Über die Familie und ihre Entwicklungsformen und -chancen wissen wir eigentlich noch nicht allzuviel. Die Familienforschung steht erst am Anfang. So ist nicht verwunderlich, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage mehrmals auf die Schwierigkeiten der statistischen Erfassung hinweisen muß. Es ist zu offensichtlich, daß die Bundesregierung auch für eine umfassende Erfassung der Bedingungen, unter denen Familien, Teilfamilien und Alleinerziehende mit Kindern heute leben, und für die bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Familienpolitik auf
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zusätzliche Hilfen angewiesen ist und noch nicht allzuviel wissenschaftliches Material zur Verfügung hat. So wissen wir heute noch nicht einmal genau, wie hoch, volkswirtschaftlich gesehen, die häusliche und erzieherische Arbeit für Kinder, die unsere Familien, insbesondere die Mütter, erbringen, zu veranschlagen ist. Die Bundesregierung hat auf eine entsprechende Anfrage von mir zugesichert, daß dies spätestens 1992 geändert wird.Die Verhältnisse, in denen Kinder heute aufwachsen, ändern sich fortwährend. Es steht außer Frage, daß die notwendige Schaffung eines ausreichenden Angebots an Kindergartenplätzen mit flexiblen Betreuungszeiten nicht nur eine Folge des Erwerbsverhaltens der Frauen, sondern auch eine Voraussetzung für die Sozialisation von Kindern ist, die heute in zunehmendem Maße als Einzelkinder aufwachsen. Ebenso wichtig ist, daß die Zahl der Ganztagsbetreuungsplätze, gerade für die wachsende Zahl der Alleinerziehenden mit Kindern, entscheidend erhöht wird.Ich unterstreiche die Aussage der Familienministerin bei der Vorstellung des Jugendhilfegesetzentwurfs, daß zuallererst die Länder und die Kommunen gefordert sind. Da, liebe Frau Schmidt, war der Hinweis gerade auf Bayern und auf Baden-Württemberg im Hinblick auf die Haltung zum Jugendhilfegesetz genau der falsche Fingerzeig.
Sie sollten sich mehr in Richtung Nordrhein-Westfalen orientieren.Doch auch die Betriebe, die in Zukunft verstärkt auf weibliche Arbeitskräfte angewiesen sein werden, müssen in zunehmendem Maße eigene Kinderbetreuungseinrichtungen anbieten und so dazu beitragen, daß die strenge räumliche Trennung von Arbeitsplatz und Kinderbetreuung, zumindest bei Kleinkindern, verringert werden kann.Ich begrüße ausdrücklich, daß sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt hat, Lebensverhältnisse gerade für Frauen zu schaffen, in denen sich diese frei, d. h. ohne unangemessen hohe Schwierigkeiten, entscheiden können, ob sie die Arbeit in der Familie und im Beruf vereinbaren wollen oder nicht. Dazu gehört eben auch eine Aufwertung der häuslichen Arbeit von Müttern im öffentlichen Bewußtsein.
— Auch der gehört dazu.Für den Staat liegt eine zentrale Verpflichtung für Familie und Kind darin, den Familien solche materiellen Rahmenbedingungen zu gewährleisten, daß die Kinder möglichst optimal aufwachsen und erzogen werden können. Je besser die Familie die ihr obliegenden ureigenen Funktionen wahrnehmen kann, um so mehr kann sich die Jugendhilfe auf wünschenswerte familienergänzende Aufgaben konzentrieren, und desto weniger braucht sie ersatzweise das zu tun, was unter Umständen geschwächte Familien nicht mehr zu leisten vermögen.Wir dürfen uns der unbequemen Frage, warum die Familie heute in ihrer Kraft geschwächt ist, nicht entziehen.Die Bundesregierung zeigt die steigende Zahl der Haushalte Alleinerziehender auf. Doch wir wissen noch nicht genug über die Ursachen dafür. Warum steigt in der Tat die Zahl der Ehescheidungen? Hat dies mit der größeren Selbständigkeit der Frauen zu tun, mit der Vereinzelung des Menschen, mit der Reduzierung der Fähigkeit zur Konfliktbewältigung, mit dem Verlust von Tugenden und von Idealen, oder sind nicht auch ganz nackte materielle Notlagen wie etwa Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit dafür verantwortlich?Daß sich die relative Einkommenssituation vieler Familien bezogen auf die Kopfzahl in den zurückliegenden Jahren im Vergleich zum Verfügungseinkommen Lediger oder kinderloser Ehepaare trotz der zusätzlichen familienpolitischen Leistungen von 18 Milliarden DM nicht überdramatisch verbessert hat, liegt, glaube ich, auf der Hand und macht deutlich, daß ein weiterer Ausbau des Familienlastenausgleichs geboten ist.
Leider zeigen die Statistiken auch, daß eine wachsende Zahl von Familien mit mehreren Kindern unter die Grenze der Sozialhilfe fällt. Neben der Entwicklung der Familieneinkommen und der steigenden Scheidungsziffern hat dies etwas mit der rechnerischen Anhebung der Sozialhilfesätze zu tun. Diese Sätze sind erfreulicherweise, Frau Schmidt, gestiegen; aber sie sind als real verfügbares Einkommen im Durchschnitt rascher gestiegen als die Nettoarbeitseinkommen. Ordnungspolitisch ist dies in hohem Maße bedenklich, da zum einen die Gewerkschaften immer stärker auf Arbeitszeitverkürzungen drängen und zum anderen die Bereitschaft zu eigenem Einkommen aus Arbeit sinkt.Ich fürchte, wenn wir diese Zusammenhänge gerade im Bereich der Sozialhilfe und der Verfügungseinkommen nicht bald einmal vorurteilsfrei miteinander diskutieren, dann wird eine Entwicklung weitergehen, die letzten Endes auch zu Lasten der Familien gehen wird. Der Familienlastenausgleich — das ist unstrittig — muß verbessert werden. Warum können wir nicht z. B. endlich darüber sprechen, die Leistungen auch des Familienlastenausgleichs dort, wo möglich, zu dynamisieren, so wie wir Sozialhilfesätze immer wieder anpassen?Familiengründung darf nach meiner Auffassung nicht zum sozialen Abstieg führen. Die Familienpolitik der Regierungsparteien hat diese Gefahr erkannt. Sie hat auch Gegenmaßnahmen ergriffen, indem sie z. B. den Kinderfreibetrag und das Kindergeld erhöht hat oder erhöht. Bundesfinanzminister Waigel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß weitere Erhöhungen notwendig sind.Die SPD fordert gleichfalls weitere Verbesserungen. Doch gerade die SPD, Frau Schmidt, hat für mich auch heute nicht überzeugend darlegen können, daß sie mit der Absenkung des Familiensplittings und der Beseitigung des Kinderfreibetrages insbesondere den
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kinderreichen Familien in höherem Maße eine Hilfe anbieten kann, als dies heute geschieht.In Erinnerung an frühere Überlegungen in den Reihen der Union halte ich persönlich neben der Erhöhung des Kindergeldes zusätzliche Leistungen für die Familie etwa in Form eines einheitlichen Kindergrundfreibetrages für sinnvoll. Dies sollten wir endlich einmal im Rahmen eines kinderfreundlichen Familiensplittings in Angriff nehmen.Ich glaube, es ist angesichts von 550 bis 750 DM Kosten je Kind pro Monat unbestritten, daß der Staat mehr an Transferleistungen wird erbringen müssen, gerade auch für die Familien, die mehr als zwei oder drei Kinder haben, sofern wir nicht zulassen wollen, daß diese Familien in Zukunft eine seltene Rarität werden.Wichtig für die Familien erscheint mir heute, nicht nur vor dem Hintergrund der Zahl der Aussiedler und Übersiedler, sondern auch im Hinblick auf die Familien, die seit Jahr und Tag hier Wohnungen suchen, insbesondere die Wohnraumsituation. Die Antwort der Bundesregierung führt da zu Recht die steuerlichen Verbesserungen — ich erinnere an § 10 EStG oder das Baukindergeld — zugunsten der Familien an. Sie zeigt auch die Mietbelastungsquoten. Leider beziehen sich auch diese Angaben im wesentlichen auf den sogenannten normalen Vierpersonenhaushalt. Für mich wäre es interessant zu erfahren, warum wir bereit sind zu akzeptieren, daß beim Mehrkinderhaushalt mit drei, vier, fünf oder sechs Kindern automatisch so getan wird, als sei es eine Selbstverständlichkeit, daß sich die Wohnfläche pro Person auf 16 qm reduziert, während in Haushalten mit einem Kind 28,8 qm und bei Alleinstehenden sogar über 30 qm zur Verfügung stehen. Dies sind Fragen, die wir auch in Verbindung mit den Wohnbauprogrammen diskutieren sollten, die unsere Bundesministerin hier noch vorlegen wird.Die größeren Familien haben ganz spezielle Bedürfnisse auch und gerade im Hinblick auf Wohnraum und Wohnraumgestaltung. Dies sollte man zur Kenntnis nehmen.Schließlich plädiere ich leidenschaftlich für die Einführung eines, unter Umständen auch mit Bundesmitteln geförderten Modells von Wohn-Rent-Eigentum gerade für die junge, wachsende Familie; denn es ist eine Groteske, daß wir den Familien auf der einen Seite trotz Wohngeld hohe Mieten zumuten, sie an die Stadtränder verdrängen, und die jungen Leute auf der anderen Seite ermutigen wollen, möglichst frühzeitig auch noch eine stattliche Anzahl von Kindern ins Leben zu setzen — und dies alles zum selben Zeitpunkt und mit einem Verfügungseinkommen, das beides zur selben Zeit einfach nicht zuläßt.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch auf eine scheinbare Kleinigkeit aufmerksam machen, die aber, wie ich feststelle, viele Familien bekümmert: Wir sehen in den Kommunen eine wachsende Zahl von Auflagen und Gebühren, gerade in Verbindung mit Umweltschutz. Nichts dagegen! Auch ich bin dafür. Aber man geht dort allzuoft mit der Gartenscherenmentalität vor, indem man schlichtweg nur nach Köpfen zählt. Auch dies ist eine Benachteiligung der Familien, angefangen von der Müllentsorgung bis hin zur Berechnung der Gebühren für Strom und Wasserentsorgung und sonstiger Gebühren.Verehrte Kollegin Renate Schmidt, zur Forderung nach einer verbesserten Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenreform möchte ich sagen: Hier haben Sie unsere Herzen mit Sicherheit sofort auf Ihrer Seite. Ich warne aber davor zu vergessen, wie es um die Finanzen steht!
Und ich warne, Frau Kollegin Schmidt, auch davor, daß wir uns vorschnell und unüberlegt in eine neue Auflage der Trümmerfrauendiskussion hineintreiben lassen.
Dies würde uns allen nicht nützen, sondern, im Gegenteil, dem gemeinsamen Anliegen schaden.
Ich fasse zusammen: Eine zukunftsorientierte Familienpolitik wird in einer Vielzahl von Bereichen die Familien wirksam, ich meine, wirksamer als bisher, fördern müssen, um ihre vergleichsweise verringerte Leistungskraft auszugleichen. Eine zukunftsorientierte Familienpolitik — und das betone ich nachdrücklich — darf nicht zur Fürsorge verflachen, meine Damen und Herren.
Sie muß eigenständig gesehen werden. Erst wenn die Bedeutung ihrer Eigenständigkeit wirklich voll erkannt wird, kann sie den entscheidenden Beitrag dazu leisten, daß wir nicht nur den bestürzenden Tiefstand der Geburtenrate beklagen müssen, sondern im Rahmen einer echt zukunftsorientierten Sozial- und Gesellschaftspolitik für unsere Familien mehr, ich hoffe, dann auch das Richtige, tun können.Trotz all dieser auch von mir vorgetragenen Kritik fordere ich die Bundesregierung auf, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen; denn ich glaube, daß wir auf dem richtigen Weg sind, wiewohl wir alle offen sein müssen, jeweils punktuell über Veränderungen, in welche Richtung auch immer, die faire Diskussion miteinander zu führen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/5337. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und zur Mitberatung an den Finanzausschuß und den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Werden weitere Vorschläge aus dem
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Vizepräsident CronenbergPlenum gemacht? — Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten FrauNickels und der Fraktion DIE GRÜNENKeine Todesstrafe durch US-Militärgerichte in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksache 11/3939 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: RechtsausschußAuswärtiger AusschußHier schlägt Ihnen der Ältestenrat einen Debattenbeitrag von fünf Minuten pro Fraktion vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.Zunächst hat das Wort die Abgeordnete Frau Nikkels.
Liebe Anwesende! „Die Todesstrafe ist abgeschafft. " Knapp, kurz und ganz eindeutig ist das in Art. 102 des Grundgesetzes niedergelegt. Damit hat sich die Bundesrepublik Deutschland angesichts des barbarischen Umgangs mit menschlichem Leben, den die Staatsorgane des NS-Regimes auch mit Mitteln des Strafrechts praktizierten, aus guten historischen Gründen ohne jede Einschränkung für die Abschaffung der Todesstrafe entschieden.
Art. 102 des Grundgesetzes ist aber nicht nur eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung, sondern gleichzeitig auch Ausdruck dafür, daß hier eine besondere „verfassungsrechtliche Schutzpflicht für jedermanns Leben" besteht; so das Bundesverfassungsgericht. Das bedeutet, daß die grundsätzliche Ablehnung der Todesstrafe in allen Bereichen der Strafrechtspflege und, was ganz wichtig ist, auch in den dabei entstehenden Beziehungen zu anderen Staaten ihren Niederschlag finden muß.
Eine solche klare Entscheidung für das Ächten und Zurückdrängen der Todesstrafe ist allerdings im NATO-Truppenstatut nicht enthalten. Die Vorschriften des NATO-Truppenstatuts und seiner Zusatzvereinbarungen erlauben es nämlich den Militärgerichten der in der Bundesrepublik stationierten verbündeten Streitkräfte, gegen ihre Angehörigen hier in der Bundesrepublik die Todesstrafe zu verhängen. Von dieser Befugnis haben US-Militärgerichte in der Bundesrepublik in der Vergangenheit, selbst noch dieses Jahr, auch Gebrauch gemacht. In Rheinland-Pfalz ist ein Verfahren anhängig. Diese Situation ist unserer Meinung nach mit dem Geist von Art. 102 des Grundgesetzes unvereinbar.
Um dem abzuhelfen, haben wir den heute zur Beratung anstehenden Antrag am 30. Januar dieses Jahres eingebracht. Wir bitten darin den Bundestag, daß er „das in Artikel 102 GG ausgesprochene Verbot der Todesstrafe" bekräftigt, daß er weiterhin „für die weltweite Ächtung der Todesstrafe eintritt" und daß er die Bundesregierung auffordert, „insbesondere die Verbündeten zu ersuchen, die Todesstrafe aus ihren Rechtssystemen zu tilgen, und darauf hinzuwirken, daß auf deutschem Territorium die Todesstrafe nicht mehr verhängt werden darf " .
In diesem Sinne hat sich seit Jahren die Gefangenenhilfeorganisation „amnesty international" eingesetzt. Daß der Antrag von uns überhaupt eingebracht werden konnte, hat damit zu tun, daß sich „amnesty" schon 1985 an die Justizsenatorinnen und -senatoren der Länder und auch an die Fraktionen gewandt hat. Wir haben in dieser Debatte auch selber sehr viel gelernt und Erfahrungen gewonnen, die wir jetzt einbringen konnten.
In den Landesjustizministerien, im Bundesjustizministerium und in den rechtspolitischen Arbeitskreisen der Fraktionen und Parteien ist diese Problematik in den letzten Jahren ausführlich beraten worden, und es ist nach Möglichkeiten der Abhilfe gesucht worden. Die Art und Weise, wie beraten wurde, und auch der Verlauf der Beratungen haben jedenfalls mir ganz große Hoffnungen darauf gemacht, daß wir hier im Deutschen Bundestag in zweiter Lesung eine überfraktionelle Beschlußempfehlung vorlegen können. Es gibt dafür ganz klare Anzeichen, auch aus diesem Jahre. So haben sich z. B. das Justizministerium von Bremen und das Justizministerium von Hessen in dieser Absicht an den Bundesjustizminister mit der Bitte gewandt, hier Abhilfe zu schaffen und etwas zu tun. Der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Herr Caesar, hat erst im August dieses Jahres in einem spektakulären Einzelfall auf Ausübung deutscher Gerichtsbarkeit bestanden, weil US-amerikanische Militärdienststellen nicht förmlich ausschließen konnten, daß in einem Verfahren gegen zwei US-Soldaten auf bundesdeutschem Boden die im Grundgesetz abgeschaffte Todesstrafe verhängt werden könnte.
Abschließend will ich den Justizminister zu Wort kommen lassen. Auch seine Äußerung hat mich in der Hoffnung ermutigt, daß wir hier einen gemeinsamen Antrag hinkriegen. Herr Justizminister Engelhard hat anläßlich der Aktionswoche von „amnesty international" gegen die Todesstrafe am 20. September 1989 gesagt — ich zitiere — , die Abschaffung der Todesstrafe sei ein Bekenntnis zum Wert des Menschenlebens und damit letztlich zur Würde des Menschen, die als Eckstein des Systems der Menschenrechte Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt sei. Damit stimme ich überein. Ich hoffe, daß wir hier schnell und zügig eine vernünftige Entscheidung hinbekommen, die vom ganzen Haus getragen werden kann.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Prof. Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn die Überschrift des Antrags der GRÜNEN „Keine Todesstrafe " nicht nur von mir, von meiner Fraktion und allen Liberalen zutiefst bejaht und befürwortet wird, so trifft doch die Absicht dieses Antrags der GRÜNEN nicht den Kern des Problems, sondern soll offenbar
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Dr.-Ing. Laermannzum Vehikel für andere Absichten genommen werden. Und sie geht ja auch an den Realitäten vorbei.
Ich kann natürlich zustimmen, wenn Sie das in Artikel 102 unseres Grundgesetzes ausgesprochene Verbot der Todesstrafe erneut bekräftigen wollen; es ist ja seit langem Faktum im Rechtsbewußtsein der Bundesrepublik Deutschland.Wir als FDP treten selbstverständlich und mit allem Nachdruck für die weltweite Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe ein.
Dies war auch bisher das Anliegen aller — ich betone: aller — Bundesregierungen. Wir unterstützen weiterhin die nachdrücklichen Bemühungen der Bundesregierung, sowohl im Rahmen des Europarates als auch im Rahmen der Vereinten Nationen die Abschaffung der Todesstrafe weltweit voranzubringen.Die Bundesregierung hat, wie in der Bundestagsdrucksache 11/2521 zum Ausdruck gebracht ist, dies unter anderem durch die Einbringung eines Entwurfs eines zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte bei den Vereinten Nationen regierungsamtlich dokumentiert.Unser Bundesjustizminister Hans Engelhard hat erst im September dieses Jahres deutlich erklärt,
daß er nach Mitteln und Wegen sucht, die Verhängung der Todesstrafe auf deutschem Boden durch alliierte Militärgerichte zu verhindern. Somit bleibt seitens des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN wieder einmal die Forderung, das NATO-Truppenstatut und die Zusatzvereinbarungen mit den Partnern zu verändern.
Die Haltung der GRÜNEN zur NATO im allgemeinen ist ja bekannt.
Ich betone als Liberaler noch einmal, daß ich gegen die Todesstrafe bin. Wenden wir uns aber nüchtern den Tatsachen zu. In der zitierten Antwort der Bundesregierung vom 20. Juni 1988 auf die bereits damals von der Fraktion DIE GRÜNEN gestellte Kleine Anfrage zu den Todesurteilen wurde ausgeführt, daß seit 1961 kein Todesurteil eines amerikanischen Militärgerichts mehr vollstreckt worden ist.
Darüber hinaus wurde nie ein auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland durch ein US-Militärgericht verhängtes Todesurteil vollstreckt.
Die zwischen 1979 und 1987 verhängten fünf Todesurteile sind in drei Fällen in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt worden. Bei den anderen beiden Urteilen steht mit Kenntnisstand von gestern die endgültige Entscheidung noch aus. Der Fall Dock von 1974 ist jetzt an die erste Instanz zurückverwiesen worden. Der Fall Murphy von 1987 befindet sich im Verfahren der Überprüfung.
Bei der bisher geübten Rechtspraxis der USA gehe ich jedoch davon aus, daß auch in diesen beiden Fällen im Sinne unserer Rechtsposition entschieden wird.
Es muß auch festgestellt werden, daß unter Bezugnahme auf die Regelungen des NATO-Truppenstatuts seit 1961 nicht nur durch die USA, sondern auch durch andere NATO-Staaten keine Todesurteile mehr vollstreckt worden sind.Hiermit komme ich nun zur völkerrechtlichen Vertragslage und damit zum NATO-Truppenstatut. Das NATO-Truppenstatut und seine im Artikel VII enthaltenen Bestimmungen zur Straf- und Disziplinargerichtsbarkeit, zur Polizeigewalt und Unterstützung bei Strafverfolgung hatte bereits Rechtskraft bei den unterzeichnenden Nationen, als die Bundesrepublik Deutschland noch gar nicht Mitglied im Bündnis war. Daß bei Eintritt in das NATO-Bündnis die schon zwischen den anderen Nationen vereinbarten und wohlüberlegten Regelungen auch durch uns übernommen wurden, war logisch und selbstverständlich.Es wird gern und meist absichtlich übersehen, daß sich das NATO-Truppenstatut in diesem Punkt nicht gegen die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland richtet, sondern daß alle Partnerstaaten untereinander in der Frage der Strafverfolgung von Angehörigen ihres Militärpersonals im jeweiligen Ausland aus wohlerwogenen Gründen dieselben Rechte wahrnehmen.Ich sehe deshalb im Rückblick auf die jahrzehntelang auf der Grundlage des NATO-Truppenstatuts geübten Verfahren und vor allem wegen der Respektierung der bundesrepublikanischen Rechtswirklichkeit durch Nichtvollstreckung von Todesurteilen seitens der US-Behörden keine Notwendigkeit, deswegen in Verhandlungen über das NATO-Truppenstatut einzutreten.Ich bin im Gegensatz zu dem Antrag der GRÜNEN sogar der Auffassung, daß das Eintreten für die Abschaffung der Todesstrafe bei den US-Streitkräften viel zu kurz greift. Wir wollen nicht nur keine Drohung mit der Todesstrafe für Soldaten unserer Verbündeten oder gar ihre Vollstreckung, sondern die grundsätzliche und generelle Abschaffung der Todesstrafe.
Wir müssen die völkerrechtliche Vertragslage respektieren, wenngleich dies bei dem vorhandenen Rechtsverständnis einer unserer Partnerstaaten nicht
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Dr.-Ing. Laermannganz leicht ist. Ich bin der Auffassung, daß wir all unsere Überzeugungskraft und unsere Bemühungen international weiter darauf richten müssen, daß die Todesstrafe weltweit abgeschafft wird.Ich danke Ihnen.
Frau Abgeordnete Nikkels, wir haben uns darauf verständigt, bei Fünfminutenbeiträgen keine Zwischenfragen zu stellen.
— Wenn Sie, Frau Abgeordnete, etwas richtigstellen möchten, würde ich Ihnen nach § 30 unserer Geschäftsordnung das Wort erteilen. Sie könnten dann die Richtigstellung vornehmen.
Herr Abgeordneter de With, Sie haben nun die Möglichkeit, zu sprechen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der GRÜNEN spricht in der Tat aus, was wir Sozialdemokraten mit unserer Kleinen Anfrage vom 16. März 1988 bereits erfragt und was Sie mit Ihrer Kleinen Anfrage vom 7. März 1988 schon indirekt gefordert haben, nämlich daß die Bundesregierung in Verhandlungen mit den Alliierten treten möge, damit in Zukunft Militärgerichte nicht mehr die Todesstrafe auf deutschem Boden aussprechen.
Herr Laermann, das Thema ist zu ernst, als daß wir auf die früheren Fragen und Antworten verweisen oder durch vordergründige Argumentation den Versuch unternehmen könnten, die Sache einfach wegzudrücken. Das geht nicht.
Wir Sozialdemokraten jedenfalls unterstützen im Grundsatz diesen Antrag. Er entspricht auch unserer Forderung gemäß unserer Großen Anfrage vom 9. März 1989, wo Sie unter Ziffer 5f unter Hinweis auf die Sach- und Rechtslage eine detaillierte Darstellung finden.
Mit dieser Großen Anfrage wollen wir im übrigen geprüft wissen — und wollen später darüber debattieren — , welche Vorrechte die Alliierten insgesamt nach dem Deutschlandvertrag und nach den NATO-Verträgen haben, die nach dem heutigen Stand der Entwicklung mit unserer Position als der eines gleichberechtigten Partners nicht mehr vereinbar sind. Das muß in diesem Deutschen Bundestag einmal in Gänze debattiert werden.
Das alles hat nichts mit Antiamerikanismus zu tun.
Durch Art. 102 des Grundgesetzes wurde die Todesstrafe abgeschafft. Das wissen wir. Das ist eine Frucht von zwölf Jahren furchtbarer Hitler-Diktatur.
Auch das ist bekannt. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien stehen dazu. Das ist gut so.
Mit der Bundesregierung kämpfen wir, die Mitglieder des Bundestags, weltweit für die Abschaffung der Todesstrafe. Dennoch: Wenn auf unserem Boden nach wie vor Militärgerichte die Todesstrafe verhängen können, dann macht das die Bundesrepublik in ihrem Bemühen nicht nur unglaubwürdig, sondern es konterkariert unsere Bemühungen um weltweite Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe. Das ist der Punkt dieses Antrags.
Ich habe unsere Große Anfrage schon erwähnt. Lesen Sie sie bitte nach. Dort werden Sie finden, wie einfach durch Änderungen die erwünschte Regelung herbeigeführt werden könnte. Es genügt darüber hinaus eine Ergänzung des Zusatzabkommens, damit endlich sichergestellt wird, daß wirklich niemand mehr auf deutschem Boden die Todesstrafe verhängen kann.
Wir wissen auch, daß eine Todesstrafe bisher nicht vollstreckt wurde. Aber Sie müssen sich in die Lage derjenigen versetzen, die jahrelang im Ungewissen darüber schweben, ob schließlich ein Gnadenerweis ergeht oder ob sie auf den elektrischen Stuhl wandern. Schon das ist es wert, darüber zu sprechen.
Ich bin im übrigen davon überzeugt, daß heute, würde der NATO-Vertrag mit seinen Zusatzabkommen noch einmal geschlossen, die Verhängung der Todesstrafe durch alliierte Militärgerichte auf deutschem Boden ausgeschlossen werden könnte. Es sind ja seitdem fast 30 Jahre ins Land gegangen.
Um so mehr, meine sehr verehrten Damen und Herren, können und, wie ich meine, müssen wir die Bundesregierung auffordern — das ist nur eine Unterstützung für die Bundesregierung —, in Verhandlungen mit den Alliierten mit dem Ziel einzutreten, daß auf unserem Boden niemand mehr zum Tode verurteilt wird. Ja — füge ich leise hinzu — , ich appelliere von hier aus an den Common sense der Vereinigten Staaten von Nordamerika, schon von sich aus ein Zeichen zu setzen. Das würde die Sache sehr erleichtern.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einer Feststellung: Alle Mitglieder des Deutschen Bundestages sind verpflichtet, das Grundgesetz zu achten. Das gilt vom ersten bis zum letzten Wort.Das gilt besonders, wenn es um Menschenrechte und Menschenwürde geht. Die Bundesrepublik Deutschland verzichtet deswegen auch auf die Todesstrafe. In Art. 102 des Grundgesetzes ist diese Haltung, wie schon mehrfach gesagt, festgeschrieben. Es
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Seesingist nämlich den Müttern und Vätern des Grundgesetzes gelungen, die Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1945 in unsere Verfassung einzubringen. Der leichtfertige, oft zynische und von Haß geprägte Umgang mit dem Leben des anderen hat zu Handlungen geführt, die mit Menschenrechten und Menschenwürde nichts mehr zu tun hatten. Unser Grundgesetz beugt solchen Entwicklungen vor.Wir tun auch gut daran, uns weltweit für eine Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen. Aus unterschiedlichsten Gründen sprechen sich ja immer noch Menschen in vielen — ich meine: in zu vielen — Staaten für die Beibehaltung der Todesstrafe aus. Da gibt es religiöse Vorbehalte. In manchen Staaten ist es halt ein religiöses Gebot, den Bösen zu töten. Manche Staaten glauben fest daran, daß nur so die Gesellschaft vor Mördern und anderen Missetätern geschützt werden kann. Und manche berufen sich einfach auf den Grundsatz des Alten Testaments „Aug' um Aug', Zahn um Zahn". Das gilt ja auch für unsere amerikanischen Freunde.Ich will gerne diese Gelegenheit nutzen, die US-Amerikaner zu bitten, auf die Todesstrafe insgesamt zu verzichten.
Ein solcher Wunsch richtet sich natürlich auch an alle anderen Staaten, die bisher glaubten, auf der Todesstrafe beharren zu müssen.Nun zu dem vorliegenden Antrag. Es gibt nach den Vorschriften des NATO-Truppenstatuts und dessen Zusatzvereinbarungen die Möglichkeit, daß Militärgerichte der Bündnispartner gegen Angehörige ihres jeweiligen Staates die Todesstrafe verhängen. In der Praxis scheint es aber so zu sein, daß solche Todesurteile nicht vollstreckt werden. Wenn das Praxis ist, dann sollten vertrauliche Gespräche zum Erfolg führen können, nach deren Abschluß festgestellt wird, daß z. B. amerikanische Gerichte, auch Militärgerichte, nicht mehr zum Todesurteil kommen werden, wenn die Straftat in der Bundesrepublik Deutschland begangen wurde.Man könnte aber auch darüber nachdenken, ob alle Straftaten, die in der Bundesrepublik begangen wurden, vor deutschen Gerichten nach deutschem Recht verhandelt und die Täter von diesen Gerichten abgeurteilt werden sollen. Man könnte dazu Verträge im Rahmen der NATO abschließen. Wenn man aber diesem Prinzip der Territorialität konsequent folgt, bedeutet das, daß dann auch für deutsche Soldaten, die in einem anderen NATO-Staat Dienst tun, die Rechts- und Gerichtsordnung dieses Landes zuständig wäre. Ob das immer gut wäre, ist doch noch sehr fraglich. Ich meine, wir sollten uns in den Ausschußberatungen darüber eingehend unterhalten.Richtig ist, daß wir den Kampf für das Leben verstärken müssen. Nur eine Möglichkeit ist, daß wir uns für eine weltweite Abschaffung der Todesstrafe einsetzen. Wichtigstes Mittel bleibt für mich die Erziehung der Menschen zur Anerkennung des Lebensrechtes eines jeden. Wer sich wie wir gegen die Todesstrafe ausspricht, der muß auch den Schutz des Lebens von der ersten bis zur letzten Sekunde wollen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Dr. AdamSchwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Abschaffung der Todesstrafe ist ein vorrangiges Anliegen dieser Bundesregierung und auch der früheren Bundesregierungen. Sie setzt sich weltweit dafür ein. Das macht ihr Entwurf eines zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte deutlich, den sie in der 35. Generalversammlung der Vereinten Nationen eingebracht hat.Gerade auch im Verhältnis zu befreundeten und verbündeten Ländern tritt die Bundesregierung für ihre Grundüberzeugung in dieser Frage ein. Dazu gehört, daß sie nach Möglichkeiten sucht, die Verhängung von Todesurteilen durch amerikanische Militärgerichte im Bundesgebiet zu verhindern. Sie muß dabei von der gegenwärtigen Vertragslage ausgehen. Weil es darüber auch in der Öffentlichkeit immer wieder zu Diskussionen kommt, soll diese noch einmal kurz skizziert werden. Ich denke im übrigen, daß dabei deutlich werden wird, daß nur eine weltweite Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe das in dem vorliegenden Antrag angesprochene Problem löst.Nach dem NATO-Truppenstatut von 1951, das für alle NATO-Staaten außer Island gilt und dem der Deutsche Bundestag 1961 zugestimmt hat, ist jeder Bündnispartner, der Truppen auf dem Gebiet eines anderen stationiert, zur Ausübung der Strafgerichtsbarkeit über die seinem Militärrecht unterworfenen Personen berechtigt. Daraus folgt ja auch, daß deutsche Soldaten, die in den Vereinigten Staaten oder in einem anderen NATO-Staat üben, unserer Rechtsordnung unterliegen. Das ist etwas, was wir sicherlich nicht aufgeben möchten.Schon deshalb möchte ich hier auch ganz persönlich meine Bedenken gegen den vorliegenden Antrag der GRÜNEN anmelden. Denn in der Konsequenz zu Ende gedacht, würde er bedeuten, daß dann, wenn amerikanische Soldaten in der Bundesrepublik unserer Rechtsordnung unterworfen würden, reziproke Lösungen zumindest nicht ausgeschlossen werden könnten. Das will keiner.Daneben besteht das Recht des Aufnahmestaates zur Ausübung der Strafgerichtsbarkeit über denselben Personenkreis für Handlungen, die innerhalb seines Hoheitsgebietes begangen wurden und nach seinem Recht strafbar sind. Das NATO-Truppenstatut unterscheidet zwischen ausschließlicher Gerichtsbarkeit wegen Handlungen, die nur nach dem Recht eines Staats strafbar sind, und konkurrierender Strafgerichtsbarkeit wegen Handlungen, die nach dem Recht beider Staaten strafbar sind. Für die Fälle der konkurrierenden Strafgerichtsbarkeit gibt es Vorrechtsregelungen.Auf Ersuchen aller Entsendestaaten, d. h. Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens, Kanadas, der Niederlande und der Vereinigten Staaten von Amerika, hat
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Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzerdie Bundesrepublik Deutschland auf das ihr nach dem NATO-Truppenstatut zustehende Vorrecht allgemein vertraglich verzichtet. Dieser Verzicht kann jedoch innerhalb einer bestimmten Frist von den zuständigen deutschen Staatsanwaltschaften zurückgenommen werden, wenn wesentliche Belange unserer Rechtspflege die Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit erfordern. Die Entscheidung darüber liegt bei den Justizbehörden der Länder. Wir unterstützen die Bemühungen, die im Lande Rheinland-Pfalz in einem ganz bestimmten Fall in Gang gekommen sind.
Soweit die Militärgerichte die Strafgerichtsbarkeit ausüben, wenden sie ihr eigenes, originäres Strafrecht an.Art. 102 des Grundgesetzes verbietet die Verhänung oder Vollstreckung der Todesstrafe in Ausübung deutscher Strafgewalt, steht aber der Verhängung der Todesstrafe durch die Militärgerichtsbarkeit, die ein anderer Entsendestaat im Rahmen der Bestimmungen des NATO-Truppenstatus über eine seinem Militärrecht unterworfene Person ausübt, nicht entgegen.Die Bundesregierung hält es aus verfassungspolitischen Gründen für wünschenswert, daß im Bundesgebiet keine Todesurteile durch Militärgerichte der Verbündeten ausgesprochen werden. Die Vollstreckung von Todesurteilen in der Bundesrepublik Deutschland ist ja in jedem Fall ausgeschlossen.Die Bundesregierung prüft derzeit, wie in Fällen, in denen die USA das Vorrecht auf Ausübung der Strafgerichtsbarkeit haben, im Rahmen der bestehenden Verträge die Verhängung von Todesurteilen auf deutschem Boden verhindert werden kann. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Sie muß außer den deutschen verfassungspolitischen und humanitären Erwägungen auch beachten, daß es sich hier für die amerikanischen Verbündeten um eine Angelegenheit von grundsätzlicher rechtspolitischer Bedeutung handelt, die im Gesamtzusammenhang der Diskussion um die Todesstrafe in den USA steht.Abschließend muß ich noch einmal unterstreichen, daß von den bisher verhängten fünf Todesurteilen amerikanischer Militärgerichte keines rechtskräftig wurde. Wir hoffen und wünschen, daß es so bleibt.Insgesamt ist der Zustand unbefriedigend; das wissen wir. Die Bundesregierung bemüht sich, ihn zu ändern. Letztlich wird eine durchgreifende Änderung nur möglich sein, wenn die Todesstrafe weltweit abgeschafft wird.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die erwartete kontroverse Abstimmung darüber, wohin der Antrag der GRÜNEN überwiesen werden soll und welcher Ausschuß federführend sein soll, ist uns erspart geblieben. Denn die Geschäftsführer der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion haben mir mitgeteilt, daß sie mit einer Überweisung an den Rechtsausschuß — federführend — und an den Auswärtigen Ausschuß zur Mitberatung einverstanden sind. Wenn Sie damit einverstanden sind — Widerspruch erhebt sich nicht — , dann ist es so beschlossen.
Ich habe noch folgendes zur Verlesung zu bringen. Der heute morgen überwiesene Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes auf Drucksache 11/5303 soll nachträglich an den Haushaltsausschuß — auch gemäß § 96 der Geschäftsordnung — überwiesen werden. Ich nehme an, daß sich dagegen kein Widerspruch erhebt. Dann ist dies ebenfalls so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei allen, die bis zum Schluß ausgehalten haben. Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochende, berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Oktober, 13 Uhr ein und schließe die Sitzung.