Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin eigentlich nicht in der Absicht hierhergekommen zu sprechen, sondern habe mich spontan gemeldet, und zwar aus einem Grunde. Begreiflicherweise ist hier in sehr starkem Maße der Eindruck erweckt worden, daß das Lesen der einzige Schlüssel zur Kultur und zur gesellschaftlichen Teilhabe in unserer Zeit ist. Herr Kollege Duve hat bereits auf einen ganz wichtigen Punkt hingewiesen, den mir vor einigen Jahren einmal ein Tuareg im Niger aufgezeigt hat. Er hat mir gesagt: Ich verstehe gar nicht, warum man der Krücke des Lesens bedarf, um seine Ahnen zu kennen; die muß man auswendig wissen. — Hier war der Gedanke, daß das Menschsein etwas mit der Gedächtnisleistung zu tun hat und es ein minderes Menschsein ist, wenn man sich dieser Krücke des Lesens bedienen muß.
Ich glaube, daß wir in der Tat mit der Lesekultur, so hoch wir sie auch zu veranschlagen haben, ein bißchen etwas einbezogen haben, was das Menschsein beeinträchtigt hat. Ich habe das in sehr vielen Jahren der Tätigkeit als Landeselternbeiratsvorsitzender und Bundeselternratsvorsitzender bei einer Gruppe von Menschen kennengelernt, die, aus welchen Gründen auch immer, extreme Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Die Schwierigkeit der Gruppe nennt man isolierte Lese- und Rechtschreibschwäche oder Legasthenie.
Die Ursachen sind seit dem letzten Jahrhundert in der Literatur immer wieder beschrieben worden. Sie reichen von frühkindlichen Hirnschädigungen bis hin zu schulinternen Gründen, die deshalb eine so starke Demotivierung verursachen, weil man immer wieder auf dieselben Fehler festgeschrieben wird. Denn ein Legastheniker, der im Diktat 60 Fehler gemacht hat, bekommt, auch wenn er dann nur noch 55 Fehler macht, immer noch eine sechs. Selbst wenn er nur 50 Fehler macht, hat er immer noch eine sechs. Wenn man aber immer nur eine sechs bekommt, dann macht es zum Schluß überhaupt keinen Spaß mehr. Es entsteht ein inneres Widerstreben gegen das ganze Kompendium, was mit Lesen und Schreiben zu tun hat.
Mein spontanes Anliegen — obwohl ich weiß, daß wir uns hier schon wieder auf dem berühmten Grat der Länderkompetenzen bewegen — ist einfach dies: Wir haben im Bundesministerium zumindest die Möglichkeit der Modellversuche. Mein Anliegen ist, nicht nachzulassen, in diesem Bereich weitere Anstrengungen zu unternehmen, das Schicksal der Kinder zu verbessern, die an dieser isolierten Lese- und Rechtschreibschwäche leiden.
Die große Schwierigkeit in der Diskussion über dieses Thema ist, daß auf der einen Seite alle die, die mit Schulrecht zu tun haben, sagen: Das ist im Grunde genommen ja nur ein Versuch, Kindern, die dem steigenden Konkurrenzdruck nicht mehr gewachsen sind, nun eine zusätzliche Chance, etwa durch Nichtbenotung, zu schaffen. Das ging soweit, daß ich einmal einen Fall hatte, in dem ein Kind überprüft werden sollte, ob man nicht die Noten wegen des Vorliegens einer solchen isolierten Lese- und Rechtschreibschwäche aussetzen solle. Das zuständige Schulamt schrieb, es könne gar nicht sein, daß ein Arbeiterkind eine isolierte Lese- und Rechtschreibschwäche habe, weil es ja ein Phänomen bürgerlicher Kinder sei, die versuchten, sich unter diesem Leistungsdruck einen Vorteil zu ergattern.
Es sind absurde Begründungszusammenhänge, die aber immer wieder darauf hinauslaufen, daß letzten Endes das Kind das geschädigte ist, das nicht die Möglichkeit hat, seine Persönlichkeitsentfaltung vorzunehmen.
Mein Anliegen an das Ministerium ist, weiterhin im Bereich isolierte Lese- und Rechtschreibschwäche forschend tätig zu sein und Modellversuche zu fördern, die eine Erleichterung des Schicksals solcher Kinder mit sich bringen.
Herzlichen Dank.