Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich habe zunächst die Freude, dem Kollegen Dr. Gradl zum 70. und dem Kollegen Schwedler zum 60. Geburtstag die herzlichen Glückwünsche des Haues aussprechen zu dürfen.
Alles Gute, meine Herren!
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um folgenden Punkt ergänzt werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die politischen Parteien
— Drucksache 7/1878 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß, Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
— Ich sehe und höre keinen Widerspruch; das Haus ist einverstanden. Die Erweiterung der Tagesordnung ist somit beschlossen.
Es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Bericht der Bundesregierung über die Beseitigung von Autowracks
Bezug: Entschließung des Deutschen Bundestages vorn 2. März 1972
— Drucksache 7/1760 --
zuständig: Innenausschuß
Betr.: Jahresbericht 1973 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
— Drucksache 7/1765 —
zuständig: Verteidigungsausschuß
Ich frage, oh gegen die vorgeschlagene Überweisung Einwände oder Widersprüche erhoben werden. — Das ist nicht der Fall. Ich stelle fest, daß so beschlossen ist.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 22. März 1974 den nachfolgenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 3 GG nicht gestellt:
Gesetz zur Reform des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrechts
Drittes Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes Gesetz zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts Zweites Gesetz zur Änderung des Abzahlungsgesetzes
Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vorn 22. März 1974 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Gerlach , Berger, Biechele, Entrup, Ey, Freiherr von Fircks, Gerster (Mainz), handlos, Dr. Miltner und der Fraktion der CDU/CSU betr. Vernachlässigung der Zivilverteidigung — Drucksache 7/1690 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/1876 verteilt.
Entsprechend einer interfraktionellen Vereinbarung rufe ich den Zusatzpunkt auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die politischen Parteien
— Drucksache 7/1878 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Ich frage: Wer wünscht dazu das Wort? — Das
Wort hat der Herr Abgeordnete Spilker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihnen liegt der Entwurf eines Gesetzes vor, durch das das Gesetz über die politischen Parteien geändert werden soll. Es geht um das Parteiengesetz, das 1967 nach jahrelangen Beratungen und Diskussionen — zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts spielten hierbei eine große Rolle — von diesem Hohen Hause mit großer Mehrheit verabschiedet wurde.Das Gesetz, das 1969 einmal geändert wurde, hat, was die Höhe der Wahlkampfkostenerstattung angeht, in der Zwischenzeit keine Änderung erfahren. Geändert haben sich aber leider, wie wir alle wissen, die Preise und damit die Kosten, die auf die politischen Parteien in einem Wahlkampf zukommen. Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, scheint meinen politischen Freunden und mir eine Anhebung des Erstattungsbetrags von 2,50 DM auf 3,50 DM geboten zu sein.Ich beabsichtige gewiß nicht, die Debatte über das Parteiengesetz und die Parteienfinanzierung hier neu aufleben zu lassen. Die Debatte wurde in diesem Hohen Hause eingehend 1967 geführt. Aber nach meiner Meinung bedarf es auch heute eines Hinweises, vor allen Dingen wegen der Diskussionen in der Öffentlichkeit und in der Presse, die lei-
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5906 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Spilkerder teilweise von falschen Voraussetzungen ausgehen.Das Grundgesetz hat den politischen Parteien im Gegensatz zu früheren Verfassungen und auch im Gegensatz zu anderen Verfassungen eine zentrale Stellung zugewiesen, ja, sie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben versehen. Damit haben die politischen Parteien nicht nur eine zentrale Stellung erhalten, sondern sind darüber hinaus Verfassungsorgane geworden. So sprechen wir heute mit Recht vom Parteienstaat und sollten darum besorgt sein, so meine ich jedenfalls, daß dies draußen in der Offentlichkeit nicht, wie es oft vorkommt, mit negativem Akzent geschieht. Besonders bei Wahlen haben die politischen Parteien entscheidende Aufgaben zu erfüllen. Sind diese Aufgaben aber öffentlich-rechtliche, dann scheint es auch geboten zu sein, den Parteien wenigstens die Kosten zu erstatten, die sie während eines angemessenen Wahlkampfes haben. Darum geht es bei unserem Antrag, den wir gemeinsam eingebracht haben, und ich möchte wünschen, daß unsere Beratungen zu einem positiven Abschluß führen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei hat sich gestern eingehend mit den Unterlagen befaßt, die ihr vorgelegt worden sind, einschließlich des Rechenschaftsberichts 1972, den die Sozialdemokratische Partei nach dem Gesetz veröffentlicht hat. Ich bin jetzt hier nicht imstande, Einzelheiten aus dieser Debatte wiederzugeben. Ich will nur in aller Form und in aller Deutlichkeit erklären, daß sich die Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten mit großer Mehrheit für den Gesetzentwurf, der hier vorliegt und auf die Tagesordnung gekommen ist, entschieden hat. Sie erwartet, daß bei den Ausschußberatungen auch die Details, die mit der Kostenanhebung zusammenhängen, so erörtert werden, daß es möglich ist, der Öffentlichkeit ein klares Bild zu geben.
Sie werden sich wundern, daß hier der Vorsitzende einer Fraktion das Wort dazu nimmt. Ich habe es getan, weil der dazu Bestimmte nicht rechtzeitig hier war.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Es gilt, so glaube ich, noch einmal deutlich zu machen, daß die Erhöhung der Wahlkampfkostenpauschale kein Trick ist, mit dem sich die Parteien durch einen Griff in die Tasche des Steuerzahlers zu bereichern versuchen. Wäre es anders, würden die Finanzabschlüsse bei den Parteien nicht so traurig aussehen, wie es tatsächlich der Fall
ist. Von dieser Feststellung brauche ich keine der im Hause vertretenen Parteien auszunehmen.
Tatsächlich geht es denn auch um die Erstattung jenes Aufwandes, den die Parteien zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrages zu leisten haben. Mit einem ausgewogenen Maß an sachlichen Informationen haben sie die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß der zur Wahl aufgerufene Bürger seine Entscheidung zwischen den konkurrierenden Parteien als gut informierter Staatsbürger treffen kann. Die Parteien selbst werden dabei durch die öffentliche Finanzierung vor bedenklicher Abhängigkeit von anonymen Geldgebern geschützt. Dieses Ziel ist auch erreicht worden, wie die Vergangenheit und die Gegenwart beweisen. Als Empfänger dieser Beträge sind sie aber andererseits gehalten, sich bei der Verwendung öffentlicher Mittel an den Grundsätzen der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit messen zu lassen. Mit der Finanzierung des Wahlkampfes aus Steuermitteln ist ein Abkommen über die Begrenzung des Wahlkampfes und der Wahlkampfkosten deshalb keineswegs unvereinbar. Im Gegenteil, der sparsame Einsatz der Mittel muß für alle Parteien selbstverständliche Pflicht sein. Nicht als leere Formel zur Beschwichtigung der öffentlichen Kritik, sondern als praktiziertes Staatsbewußtsein muß sich eine solche Handhabung unter Beweis stellen. Wir haben die erkennbaren Grenzen zu beachten: Information, Werbung auf Aufklärung ja —sie sind nicht nur erlaubt, sondern notwendig , aber ein klares Nein zur Agitation um jeden Preis. Ebensowenig dürfen die Mittel dazu verleiten, jene Papierlawinen zu erzeugen, die eher abstoßen als überzeugen. Zur Maßlosigkeit im Aufwand gibt uns dieses Gesetz kein Recht.
Ich bin sicher, daß die Parteien ihre Verpflichtung erkennen und ihre Privilegien nicht mißbrauchen werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich schlage Ihnen vor, die Vorlage an den Innenausschuß — federführend und nach § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung des Weißbuchs 1973/1974 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr
— Drucksache 7/1505
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß
Das Wort hat der Herr Bundesverteidigungsminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5907
Bundesminister Leberdankbar dafür, daß es möglich ist, heute vor dem Deutschen Bundestag das Weißbuch 1973/1974 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr zu erläutern und zu debattieren. Dieses Weißbuch hat eine starke Resonanz gefunden. Es hat Zustimmung gefunden und auch Kritik ausgelöst. Dieses lebhafte Echo zeigt jedenfalls, daß das Weißbuch seinen Zweck schon dadurch erfüllt hat, daß es im Lande eine Debatte über Fragen unserer Sicherheit und unserer Verteidigungspolitik ausgelöst hat.Jedes Weißbuch soll Rechenschaft geben, und es soll Auskunft über die Aufgaben geben, die vor uns liegen. Dabei ist aufgefallen, daß dieses Weißbuch eine offenere Sprache führt, als dies früher der Fall war. Dies ist bewußt geschehen. Fragen der Sicherheit gehen jeden an und sollten nur dann, wenn es die Sicherheit wirklich gebietet, in verschlossenen Kammern behandelt werden. Geheimstempel mögen das Selbstbewußtsein von Leuten stärken, die solche Akten bewegen und nach ihrem eigenen Ritual verwalten und Planstellen von Aktenverwaltern rechtfertigen. Sie verbauen aber auch dem Bürger den Blick und erzeugen Unverständnis, weil ihm zwar das Geld abverlangt wird, aber ihm zugleich auch verborgen und nicht genügend erklärt wird, warum und warum so viel von ihm im Interesse seiner eigenen Sicherheit verlangt wird. Im Interesse unserer Sicherheit kommt es darauf an, die Dinge soweit als irgend möglich beim Namen zu nennen, um Illusionen zu vermeiden, Notwendigkeiten zu erkennen zu geben und Einsichten möglich zu machen, daß Verpflichtungen respektiert werden können.Damit bin ich mitten in der Sache: Ausgangspunkt für unsere Sicherheit, die wichtigste Voraussetzung dafür, daß wir im Kräfteverhältnis Ost-West bestehen können, daß Verhandlungen zur Entspannung zwischen Ost und West Früchte tragen können und daß schließlich auch das europäische Einigungswerk gesichert vorankommt, bleibt der Zusammenhalt, die Geschlossenheit des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses. Weil das so ist, bleibt die Pflege dieser Allianz und die Verantwortung, für ihre Festigkeit und Glaubwürdigkeit zu wirken, eine der wichtigen Aufgaben, der wir uns alle widmen müssen, dann, wenn es in der Welt stürmisch zugeht, noch mehr als an ihren ruhigen Tagen. Dazu ist oft auch Geduld nötig, und weil es um unsere Sicherheit geht, ist auch Selbstbeherrschung eine wichtige und nützliche Tugend. Das Kraftwort „Scherbenhaufen" jedenfalls, das wir in diesen Wochen hören konnten und mit dem die Lage des Bündnisses hierzulande völlig falsch qualifiziert worden ist, gehört zu den rhetorischen Übertreibungen, die der Sache unserer Sicherheit eher schaden als nutzen, die jedenfalls auch nicht das treffen, worum es eigentlich geht.
Sowohl unbedachte Reden als auch gefühlsstarke Reaktionen auf unbedachte Reden und unnötige Kraftmeierei dürfen uns nicht veranlassen, die Gemeinsamkeiten der Allianz aus den Augen zu verlieren. Damit meine ich alle raschen und flinken Emotionen, ganz gleich von welcher Seite des Atlantiks sie hörbar sind. Das Bündnis ist intakt und funktionsfähig, auch wenn wir wissen, daß es wegen der Konflikte, die im vergangenen Jahr entstanden sind, Belastungen ausgesetzt war.Natürlich sehen wir alle, daß sich neben der gemeinsamen Sorge um Bündnisse und Sicherheit andere Fragen nach vorn drängen, die von unterschiedlichen nationalen Interessen geprägt sind. Zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und auch zwischen den europäischen Staaten und den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es Probleme des Handels und der Währungen. Es gibt zwischen ihnen Fragen der Zusammenarbeit mit Ländern der Dritten Welt, wirtschaftlichen Wettbewerb, Probleme in Verfahrensfragen und Probleme der Konsultation, der Information und andere. Daß es solche Probleme gibt und in der Gegenwart mehr als früher gibt, ist ganz natürlich, weil es sich um unabhängige und freie Nationen handelt, die das Bündnis bilden. Aber alle diese Probleme sind lösbar, und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sie schließlich auch bewältigt werden. Wichtig ist dabei die unveränderte Überzeugung hier in Europa und jenseits des Atlantiks, daß die Sicherheit Europas mit der Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika identisch ist.Ein Verteidigungsbündnis ist nicht gleichbedeutend mit vollkommener Harmonie. Ein Bündnis ist ein Zweckverband, auf den sich unsere Freiheit gründet. Solange Unabhängigkeit und Freiheit für alle Beteiligten nur so zu gewährleisten sind und solange die Balance der Kräfte, die den Frieden erhält, nur so zu bewahren ist, solange bleibt das Bündnis existentielle Notwendigkeit für die Nationen, die es bilden, ob sie nun diesseits oder jenseits des Atlantiks angesiedelt sind.In der Diskussion über die Zukunft der Allianz gewinnt die Frage Bedeutung, wie die unverändert gültige Strategie des Bündnisses unter den gewandelten Bedingungen der globalen Strategie und mit der wirtschaftlichen Kapazität der Bündnispartner realisiert werden kann. Gespräche, die ich laufend mit amerikanischen Freunden führe, haben mir bestätigt, daß es in Amerika wie ein Trauma ist, das sich vielen aufdrängt: Dieses Europa könnte seine Anstrengungen für seine konventionellen Abwehrkräfte vernachlässigen und sich allein oder zu sehr auf die nuklearen Kräfte der Vereinigten Staaten verlassen. Dies würde bedeuten, daß Amerika dann bereit sein müßte, eine Lücke, die die Europäer in ihrer konventionellen Rüstung entstehen ließen, mit seiner nuklearen Fähigkeit auszufüllen.Angesichts der nuklearstrategischen Parität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion können wir, wenn wir logisch denken, von den Amerikanern nicht erwarten, daß sie einen solchen vermeidbaren Mangel der Europäer mit einem zusätzlichen Risiko für die amerikanische Nation auszugleichen bereit wären oder glaubwürdig bereit sein könnten auszugleichen. Die Glaubwürdigkeit der Strategie des Bündnisses setzt daher voraus, daß jedes Land seinen Beitrag angemessen leistet, und setzt im konkreten Fall voraus, daß die konventionelle Verteidigungsfähigkeit Europas nicht vernachlässigt wird.
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5908 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Bundesminister LeberIch füge der Klarheit wegen hinzu, daß der Beitrag, den die Bundesrepublik Deutschland im Bündnis leistet, angemessen ist und bleiben wird. Dies ist nicht nur unsere eigene Überzeugung, die auch in diesem Hohen Hause vorgetragen wird, sondern auch die uns gegenüber erklärte Ansicht unserer Verbündeten.Wir dürfen dabei nicht aus dem Auge verlieren: Auch ein konventioneller Krieg auf unserem engen und dicht besiedelten Territorium würde von verheerender Wirkung sein. Daher muß unsere Aufgabe darin bestehen, zu verhindern, daß ein konventioneller Krieg unterhalb der atomaren Schwelle in Europa denkbar ist. Dies wird nur gewährleistet, wenn beide Elemente, das konventionelle und das nukleare, eine nicht kalkulierbare Einheit eines strategischen Konzepts bilden und das glaubhaft bleiben.Noch einmal — und dies nicht zuerst und allein als Vorsatz für uns —: Die europäischen Verbündeten müssen mit ihren konventionellen Streitkräften die Voraussetzung dafür bewahren, daß die USA ihr strategisches Potential zum Schutz Europas bereithalten. Es steht außer Zweifel, daß bei dieser Aufgabenteilung die amerikanische Regierung unter innenpolitischen Druck geraten kann und gerät und mit der Drohung, die amerikanischen Streitkräfte in Europa zu reduzieren, auf den bilateralen Devisenausgleich und auf multinationale, d. h. NATO-Budgethilfen drängt, mit denen die Amerikaner entlastet werden könnten.Über den deutsch-amerikanischen Devisenausgleich ist seit Monaten verhandelt worden. Die Verhandlungen haben auf Grund von Gesprächen, die der Herr Bundesminister der Finanzen mit seinem amerikanischen Kollegen, Secretary Shultz, geführt hat, in der Substanz und in bezug auf die finanziellen Leistungen zu einem Ergebnis geführt. Das neue Offsetabkommen wird sich über die Jahre bis 1975 erstrecken. Im Augenblick wird von Beamten beider Regierungen über die redaktionelle Formulierung des Abkommens beraten. Wir können heute hier davon ausgehen, daß damit dieses schwierige Problem eine für beide Seiten vertretbare Lösung gefunden hat.Die Bündnisverhandlungen über das sogenannte burden sharing gehen indes .weiter. Ich füge hier mit aller Deutlichkeit hinzu, daß wir uns dabei nicht noch einmal angesprochen fühlen. Es ist nicht unsere Sache, und wir können auf Grund unserer geographischen Lage nicht allein für die amerikanische Präsenz einstehen, von der die Sicherheit aller Bündnispartner in Europa abhängt. Wir sind bereit, unseren Anteil an den gemeinsamen Verteidigungslasten zu tragen. Wir müssen ein Gleiches aber auch von unseren europäischen Verbündeten annehmen. Die amerikanische Truppenpräsenz in Europa ist für das Funktionieren der gesamten Allianz — nicht nur für unser Land — unersetzlich. Diese Präsenz muß daher auch gemeinsam erleichtert werden, nicht einseitig zu unseren Lasten, schon gar nicht etwa zu Lasten unserer eigenen Verteidigungsanstrengungen.Abgesehen von den strategischen Problemen, die sich aus der strategischen Parität zwischen den USA und der Sowjetunion ergeben, berührt das amerikanisch-europäische Verhältnis natürlich auch den europäischen Einigungsprozeß. Kontroversen, die sich hier ergeben, müssen ausgetragen werden, wie das unter Freunden möglich ist; sie dürfen aber nicht das Bündnis und seine Leistungsfähigkeit in Frage stellen oder gar an seine Wurzeln gehen. Es darf keinen Zweifel geben, daß der Weg zu einer politischen Einigung Europas nicht in einer Abwendung Europas und der USA voneinander gefunden werden kann.
Das bedeutet natürlich, daß die Europäer als unabhängige Nationen diesen Einigungsprozeß nach ihrem eigenen Gusto anzustreben haben und dazu auch von niemandem Vorschriften entgegenzunehmen haben.Manchmal hat es den Anschein, als ob die französische Regierung dies nicht so sieht wie wir. Sie betont zwar, daß die NATO fortbestehen, daß sie reaktionsfähig bleiben muß und daß die amerikanische Truppenpräsenz in Europa erforderlich bleibt. Aber in Frankreich fehlt es nicht an gewichtigen Stimmen, die eine Distanz Europas von den USA als europäischen Fortschritt ansehen, der mit der Sicherheit Europas nach unserer Vorstellung nicht leicht in Einklang zu bringen ist.Hier muß unsere Position auch für die Zukunft klar sein: Wir dürfen uns nicht von dem Bundesgenossen lösen, dessen Stärke und Entschlossenheit das entscheidende Gegengewicht zur sowjetischen Weltmacht bildet.
Wir müssen darauf bestehen, daß die NATO derRahmen bleibt, aus dem sich die europäische Sicherheit zuverlässig auch in der Zukunft ableiten kann.Hier darf es kein Schwanken und kein Entweder-Oder geben, sondern allenfalls ein Sowohl-Als-auch, und wir müssen das so deutlich machen, daß niemand — auch niemand in Europa — vermuten kann, wir könnten uns vielleicht in eine solche Position bewegen lassen. Europa bleibt für die absehbare Zeit auf das Atlantische Bündnis und auf den transatlantischen Bündnispartner USA angewiesen, so wie Amerikas Sicherheit von der Sicherheit Europas nicht zu trennen ist. Dies bleibt die Position der Bundesregierung.Grundsätze unserer Politik sind, und damit fasse ich zusammen: Die Sicherheit aller Bündnispartner bleibt trotz der nuklear-strategischen Parität zwischen den beiden Weltmächten unteilbar. Für die gesamte Sicherheit ist ein ausreichendes Streitkräfteniveau der europäischen Bündnispartner ebenso Voraussetzung wie die Fortdauer der für eine wirksame Abschreckung notwendigen konventionellen und nuklearen Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa.Ich halte es für angebracht, diese Grundsätze gerade heute hervorzuheben, weil das Bündnis in diesen Tagen seinen 25. Geburtstag feiert. Zusammenhalt und Vertrauen haben dieses Bündnis in einem
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5909
Bundesminister LeberVierteljahrhundert befähigt, allen seinen Mitgliedern Sicherheit zu gewähren. Wir dürfen nicht vergessen, daß dies auch der wesentliche Beitrag des Bündnisses ist: daß Europa die größte Strecke in Frieden und ohne Krieg in diesem Jahrhundert durchlebt. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß es auch in der Zukunft so bleibt.Diese Haltung wird auch nicht durch die Tatsache beeinträchtigt, daß es bilaterale Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion gibt, die z. B. zu dem bekannten Abkommen von San Clemente geführt haben. Hier ist etwas weniger Mißtrauen und etwas mehr Vertrauen, wie es unter Bündnispartnern notwendig ist, am Platz.
Die zweiseitigen Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion beeinträchtigen nicht die Interessen der Allianz und hindern das Bündnis nicht, bei einem Angriff auf Westeuropa, das Gesamtspektrum aller seiner Waffen für die Verteidigung Europas einzusetzen. Dieses Abkommen ist angelegt, Kriege zu verhindern. Deshalb ist das Abkommen auch in unserem Sinn.Diese Zusammenarbeit zwischen den Staaten Europas und Nordamerikas im Bündnis schafft die Basis und gibt allen Entspannungsbemühungen den notwendigen Rückhalt. Diese Bemühungen sind nur auf der Grundlage einer gemeinsamen Politik der NATO und der Europäischen Gemeinschaft möglich, gleichviel ob Entspannungsverhandlungen bilateral zwischen den USA und der Sowjetunion oder ob sie multilateral geführt werden.Das gilt für die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Rüstung, die sogenannten SALT-Verhandlungen, ebensosehr wie für MBFR oder KSZE. In der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sehen wir ein Instrumentarium, das die vielfältigen Entspannungsversuche koordinieren, ihre Ergebnisse für jeden Menschen erfahrbar machen und die Staaten und die Völker Europas in den Entspannungsprozeß einbeziehen kann.Bei den MBFR-Verhandlungen in Wien werden wir gemeinsam mit unseren Bündispartnern dafür wirken, daß es möglich wird, für alle Beteiligten gleiche Sicherheit bei vermindertem Aufwand zu gewinnen. Dies ist eine schwierige und eine mühevolle Arbeit. Wir werden dabei ebenso allen Bestrebungen entgegentreten, die unsere Sicherheit beeinträchtigen oder die europäische Handlungsfähigkeit am Ende behindern könnten.Daß sich noch kein Verhandlungsergebnis abzeichnet, ist für uns kein Grund zur Sorge. Wir stehen nicht unter Erfolgszwang, und wir stehen auch nicht unter Zeitdruck. Wir sind in einer Situation, die für einen Erfolg nicht ungünstig ist. Die in Wien bisher gezeigte Solidarität der Bündnispartner — dies ist das, was ich damit meine — ist eine erfreuliche und positive Erfahrung für die Allianz. Die Bundesregierung sieht deshalb auch keinen Grund, ihre Zielsetzungen zu verändern, sondern wird weiter nachhaltig und beharrlich dahin wirken, daß diese Bemühungen Erfolg bringen.Ein Gleichstand der Landstreitkräfte in Mitteleuropa auf einem niedrigeren Niveau der Mannschaftsstärken beider Seiten kann nach unserer Auffassung eine für alle Beteiligten gute Grundlage für die künftige Sicherheitsstruktur in Europa sein. Die sowjetischen Vertreter zeigen zunächst andere Vorstellungen, als wir sie haben. Dies ist auch ganz natürlich. Dem können wir aber nicht die Hand reichen, weil es bei den ungleichen Ausgangszahlen die Substanz unserer Verteidigungsfähigkeit berühren würde.Außerdem geht es um die Frage, ob auch die Luftstreitkräfte und die nuklearen Kampfmittel Gegenstand von Verhandlungen sein sollen. Wir vertreten die Auffassung, daß die hohe Mobilität der Luftstreitkräfte, ihre schnelle Verlegbarkeit von einem Platz auf dieser Erde zum anderen die Verhandlungen zwar komplizieren, am Ende aber nicht zur Stabilität in Europa beitragen würden. Das gilt auch für nukleare Kampfmittel, die — auch wenn sie außerhalb des Reduzierungsgebiets, Europa, gelagert würden — minutenschnell wieder im Reduzierungsgebiet zur Wirkung gebracht werden könnten.Bedrohlicher dagegen ist die Konzentration konventioneller Kräfte, mit deren Einsatz ein militärischer Konflikt beginnen würde. Diese konventionellen Kräfte bilden den eigentlichen Kern der Konfrontation; sie ausgewogen zu reduzieren muß deshalb auch die wichtige Aufgabe sein.Wir alle sollten uns dabei vor schnellen und vor hochgespannten Erwartungen hüten. Um Erfolge zu erzielen, brauchen wir Zeit, brauchen wir Geduld und Zähigkeit. Dabei müssen wir an unserem Prinzip der Stabilität festhalten und das Gleichgewicht der Kräfte bei jedem Entspannungsresultat Stufe für Stufe auf jeder Ebene aufrechterhalten.Die NATO-Streitkräfte mit ihrer gegenwärtigen Stärke und Ausrüstung sind in der Lage, ihren Auftrag zur Verteidigung des NATO-Territoriums zu erfüllen. Es sollte auch niemand versuchen, daran zu zweifeln.
Aber dieses Kräfteverhältnis ist nicht statisch.Die bei den sowjetischen Streitkräften in den letzten Jahren erkennbare Tendenz gibt uns Anlaß zur Wachsamkeit. Trotz aller öffentlich erklärten Bereitschaft zur Entspannung und Rüstungsbegrenzung baut die Sowjetunion ihr militärisches Potential systematisch weiter aus. Die NATO muß das zur Kenntnis nehmen und darauf bedacht sein, keine schiefe Ebene entstehen zu lassen. Dies ist auch ein Grund, warum wir unsere Bundeswehr der Zukunft anpassen müssen. Dies ist ein Grund, warum wir nach einer neuen Struktur der Bundeswehr streben. Detaillierte Untersuchungen der Struktur der Bundeswehr haben uns inzwischen weitergebracht, als wir bei der Formulierung des Weißbuchs vor einigen Monaten sein konnten.Ich möchte vier Fragen, die auch öffentlich erörtert worden sind, aufgreifen, die Frage nach der Kampfkraft, die Frage nach der Präsenz, die Frage nach den Kosten und die Frage nach den Reaktionen der NATO.
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5910 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Bundesminister LeberDie NATO mißt unseren Arbeiten über Wehrstrukturprobleme große Bedeutung bei und hat nach gründlichen Konsultationen in der Zwischenzeit dazu auch Stellung genommen. Diese Stellungnahme, meine Damen und Herren, ist sowohl, was die Prozedur unserer Konsulationen angeht, wie auch, was den Inhalt betrifft, in jeder Beziehung positiv. Der Internationale Stab der NATO-Spitze sagt hierzu — ich zitiere —: „Der Einsatzwert der Bundeswehr wird nicht vermindert, im Gegenteil ...". Das, was folgt, möchte ich mir hier ersparen; es ist die Begründung.Die neue Struktur der Streitkräfte entspricht den Bereitschaftsnormen der NATO. Die Kampfverbände haben einen hohen Präsenzgrad und sind aus dem Stand abwehrbereit. Alle Teilstreitkräfte halten Kampf- und Unterstützungsverbände bereit, die ohne personelle und materielle Ergänzung eingesetzt werden können. Daneben gibt es Verbände, deren Einsatzbereitschaft erst nach zwei bis vier Tagen erforderlich ist. Es handelt sich vornehmlich um Truppenteile mit unterstützenden Aufgaben. Im Sinne der NATO-Normen sind aber auch sie präsent.Die neue Wehrstruktur reduziert nicht die Einsatzbereitschaft, im Gegenteil, sie stellt sicher — und dies bestätigt uns auch das Bündnis —, daß alle Hauptwaffensysteme der Teilstreitkräfte schneller als bisher einsatzbereit sind, völlig unabhängig von einer Mobilmachung oder von der Verfügungsbereitschaft.Ein klärendes Wort zu dieser Verfügungsbereitschaft: Sie darf nicht im Zusammenhang mit der Warnzeit gesehen werden, die erst nach dem Erkennen militärischer Angriffsvorbereitungen beginnt und zu Mobilmachungsmaßnahmen führt. Verfügungsbereitschaft ist ein Teil des Friedensumfangs unserer Streitkräfte. Wehrpflichtige, die der Verfügungsbereitschaft unterliegen, sollen im Frieden die Einsatzbereitschaft der Truppe in kürzester Frist erhöhen, wann immer dies auf Grund der politischen Entwicklung angezeigt erscheint.Diese Wehrpflichtigen sind vorgesehen für nicht ständig besetzte Dienstposten — nicht für den Dienst an Waffen —, vorwiegend als Regiepersonal, für Teileinheiten und Einheiten, die nicht sofort einsatzbereit sein müssen, außerdem für 20 zusätzliche Jägerbataillone, die gekadert sind und die zu den Panzergrenadierbrigaden, den Jägerbrigaden und den Luftlandebrigaden gehören, wo sie Grundausbildung für die Brigaden betreiben.Vor allem die neue Heeresstruktur ist ein großer Schritt nach vorn in die Zukunft. Mit der Verschmelzung von Feldheer und Territorialheer zum deutschen Heer werden aus den drei Korps und aus fünf Wehrbereichskommandos drei Generalkommandos gebildet. Analog dazu entsteht in Schleswig-Holstein aus dem Territorialkommando Schleswig-Holstein und der 6. Panzergrenadierdivision das Kommando Hamburg/Schleswig-Holstein.Die Brigaden des Heeres, deren Zahl sich zur Erfüllung der NATO-Forderungen von 33 auf 36 erhöht, werden so ausgestattet sein, daß sie mit dentechnischen Möglichkeiten der Führungstechnik, ihrer Feuerkraft und Beweglichkeit eine flexible und bessere Kampfführung erreichen, die den technischen Bedingungen in den achtziger Jahren gerecht wird. Die Bataillone werden kleiner, ihre Zahl wird größer. Die Bataillone in den Brigaden des Heeres werden materialintensiver, die Effektivität pro Mann und Waffe wird größer. Die Kompanien werden von Bürokratie und administrativen Aufgaben entlastet. Der Kompaniechef wird frei für seine Hauptaufgaben. Er kommt weg vom Schreibtisch, wird freier für die Führung von Menschen und für deren Ausbildung.Zum Kostenpunkt: Die Berechnungen der Kosten der neuen Wehrstruktur beruhen auf der neuen Personalstruktur, auf dem neuen Personalumfang und einer entsprechenden Ausstattung.Gegenüber dem Finanzbedarf, der bei Fortdauer der jetzigen Struktur eintreten würde, ergeben sich auf dem gleichen Lohn-, Preis- und Rechtsstand Einsparungen an Betriebskosten in Höhe von 4,4 Milliarden DM für die Zeit von 1978 bis 1985. Dies sind rund 550 Millionen DM pro Jahr. Das ist auch für den Verteidigungsminister sehr viel Geld. Davon entfallen 340 Millionen DM allein auf die Personalkosten.Dies erlaubt uns, den Investitionsanteil gegenüber den Betriebskosten zu erhöhen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß wir einen angemessenen Anteil der Investitionen am Verteidigungshaushalt bis in die achtziger Jahre halten können; ich sage dazu: natürlich immer unter der Voraussetzung, daß die mittlere jährliche Wachstumsrate des Verteidigungshaushalts der mittleren jährlichen Wachstumrate der Betriebskosten entsprechen wird. Aber dies ist auf allen Feldern der Ausgabenpolitik nicht anders.Der Verteidigungshaushalt 1974 stellt sich heute noch anders dar als in der Zeit, in der das Weißbuch geschrieben wurde. Die Daten des Weißbuchs wurden inzwischen durch den Verteidigungs- und den Haushaltsausschuß beraten, und der Haushaltsentwurf von damals ist überholt.Im NATO-Vergleich läßt dieser Verteidigungshaushalt der Bundesrepublik sich vertreten; ich sage dazu: gut vertreten.Gegenüber den Angaben im Weißbuch hat sich auch das Verhältnis der Investitionen zu den Betriebsausgaben verbessert, und zwar real ohne irgendwelche Buchungstricks.Wir haben einen Investitionsanteil von 33 % an den Gesamtausgaben, dies ist eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Das ist ein Punkt, mit dem wir unsere Haushaltspolitik auch im Bündnis allen Bündnispartnern gegenüber offen zeigen können. Ich wäre froh, wenn jeder Bündnispartner uns mit dem Verweis auf diesen Punkt seinen Haushalt auch so zeigen könnte, wie wir ihn zeigen können.
Zu Buche schlagen hier vor allen Dingen die Ansatzsteigerungen für militärische Beschaffungen. Wirhaben 1974 — ich weiß, das sieht nicht jeder mit
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5911
Bundesminister Leberso viel Genugtuung, wie ich es hier sage — fast eine Milliarde DM oder 20,9 % mehr für Beschaffungen zur Verfügung.Unsere Rüstungsplanung bis 1985 zeigt, daß die Bundeswehr ihren Verteidigungsauftrag auch künftig erfüllen kann. Er ist dem Verteidigungsausschuß vorgetragen. Diese Aussage bleibt aber nur dann gültig, wenn wir die von konstanten Preisen ausgehende Planung in Anpassung an die tatsächliche Entwicklung fortschreiben können und wenn entsprechende Mittel bereitgestellt werden, auch zum Ausgleich einer überproportionalen Erhöhung der Betriebskosten. Dies ist die Auffassung der Regierung, und sie wird so 'handeln, meine Damen und Herren.
Wir sollten uns dabei auch nicht beirren lassen von Zahlen einer mittelfristigen Finanzplanung, die sowieso jedes Jahr neu überholt werden müssen. Der Rüstungsplan hat allerdings keinen finanziellen Spielraum mit großen Margen, daher ist ein Ausgleich innerhalb des Planes auch nicht möglich.Meine Damen und Herren, dies waren meine Anmerkungen zur Finanzierung unserer Aufgaben. Ich möchte ein paar Bemerkungen zu einem gerade hinter uns liegenden Ereignis, zum Nahost-Konflikt, machen.Wir haben den Nahost-Konflikt natürlich während seines Verlaufs und auch nach seinem Ende aufmerksam verfolgt. Es ist wichtig, daß ich hier dazu feststellen kann, daß wir mit dem, was wir hier in unserem Lande unternehmen, nach Maßgabe aller Erfahrungen, die der Nahost-Konflikt machen ließ, in allen Fällen auf dem richtigen Wege sind. Die Richtigkeit unserer Rüstungsplanung ist bestätigt worden, soweit sich die Bedingungen im Nahen Osten überhaupt auf mitteleuropäische Verhältnisse auch nur annähernd übertragen lassen. Das wird besonders deutlich in den beiden wichtigen Bereichen: bei der Panzerabwehr und bei der Luftverteidigung.Für die Abwehr von Panzerangriffen ist ein Verbund von Panzern, ungepanzerten und fliegenden Panzerabwehrsystemen notwendig. Dieser Erkenntnis entspricht die Einplanung von PanzerabwehrRaketen-Systemen und von Kampfpanzern für die Panzerabwehr, wie das im Weißbuch bereits ausgeführt worden ist.Es waren komplizierte Flugabwehrsysteme und Abfangjäger, denen im Nahost-Konflikt die Masse der Flugzeugverluste zuzuschreiben war. Auch diesem Erfahrungswert entspricht unsere Planung, die für die Luftverteidigung fliegende Waffensysteme und die Modernisierung der bodengestützten Flugabwehrraketensysteme vorsieht. Einzelheiten darüber finden Sie im Weißbuch.Die Effektivität der Verteidigung ist nach meiner Überzeugung nicht nur eine Frage der Qualität und der Zahl der Waffen. Sie hängt im Falle der Gefahr nicht zuletzt von der Entschlossenheit von Menschen, von der Entschlossenheit der Soldaten ab, unser Land zu verteidigen. Ich möchte hier schlicht und einfach, aber auch klar und deutlich feststellen, daß ich davon überzeugt bin, daß unsere Soldaten ihre Pflicht tun und daß wir uns auf unsere Soldaten verlassen können.
Diese unsere Soldaten brauchen kein Feindbild. Damit komme ich zu einem Thema, an dem sich in den letzten Wochen vieles hochgehäkelt hat. Diese Feststellung des Weißbuchs hat in der Offentlichkeit Beachtung gefunden, sie hat Mißverständnisse ausgelöst, zum Teil auch deswegen, weil hier Begriffe miteinander verwechselt worden sind.
Der Wille zum Widerstand gegen eine Störung unseres Friedens und gegen Gewalt ist begründet in der Überzeugung, daß dieses unser Land es wert ist, daß wir uns schützend vor es stellen, wenn es gefährdet sein sollte.
Auf diesem Boden haben, seit dieser Boden Menschen trägt, Menschen noch nie so frei, noch nie so gut und noch nie so sicher auf dem Boden des Rechts gelebt wie in unserer Gegenwart.
Das ist wahr und unanfechbar vor jeder Kritik, auch wenn wir alle wissen, daß es immer, auch im fortschrittlichsten Gemeinwesen, noch Mängel und Aufgaben gibt, die uns verpflichten, weiter zu gestalten und uns um mögliche Vollkommenheit zu bemühen. Das ist nicht zuletzt auch immer Aufgabe von Parlamenten, deswegen ist auch die Aufgabe von Parlamenten nie erfüllt. Weil das so ist, brauchen wir auch nicht zu beschönigen, was in diesem Lande ist. Dieses unser Land zählt in den Augen der ganzen Welt zu den stabilen und soliden Ländern auch jetzt in unserer Gegenwart mit hoher Lebensqualität. Drei Viertel der Menschheit würde sich glücklich schätzen und sähe es als die Erfüllung einer großen Sehnsucht an, wenn sie eine Chance hätte, so zu leben, wie wir in diesem unserem Lande gegenwärtig leben.
Wir, die Alteren, sollten uns angewöhnen, das alles, was wir alle miteinander geschaffen und alle miteinander gestaltet haben, auch im politischen Tageskampf nicht zu zerreden und mies zu machen.
Selbst dann, wenn wir nur den politischen Gegner meinen: Wir treffen in Wirklichkeit die Brust junger Menschen, wir lösen Zweifel in ihnen aus, und wir zerren an den Wurzeln, die dort keimen und die das Gemeinwesen tragen und das Verhältnis des jungen Bürgers zum Staat ausmachen. Das müssen
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5912 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Bundesminister Leberwir wissen bei dem, was wir in diesem Lande miteinander tun.
Ich bin sicher, daß die große Mehrheit unserer Jugend so denkt und so empfindet und daß die Mehrheit unserer jungen Männer weiß, daß die Freiheit, in der wir leben, es auch uns allen und ihnen zur Pflicht macht, daß wir alle bereit sind, uns schützend vor dieses Land zu stellen.
Ich weiß, daß es bequemer ist, Haß in die Herzen junger Menschen zu säen gegen etwas, was uns bedroht oder bedrohen kann. Feindbild, das ist ein ideologischer Begriff, der in Diktaturen der Verteufelung des Gegners dient. Das Feindbild, das ist die absolute Alleingültigkeit, mit der Dogmen begründet werden; es soll von inneren Schwierigkeiten, von Fehlern und Mißständen ablenken, es soll die Herrschaft stabilisieren, es soll Bürger disziplinieren und militarisieren. Das Feindbild nach außen, das Mängel im Inneren überlagern soll, baut Spannungen auf, die für die außenpolitischen Beziehungen und das Miteinander der Völker gefährlich sind.Auf die Erziehung zu solchem Haß können wir verzichten und verzichten wir, und dies ist nicht ein bißchen weniger Bereitschaft, für die eigene Sicherheit einzutreten. Die eigene Sicherheit auf die Verantwortung bewußter und mündiger Bürger gründen, die den Staat in ihre Fürsorge nehmen, dies ist mehr für unsere Sicherheit, als Haß gegen etwas in ihre Herzen zu flößen, und ist auch mehr für die Festigkeit des Staates, wenn wir an seine Zukunft denken. Sich so zu verhalten, das ist auch Ausdruck des Vertrauens auf das Verhalten mündiger Bürger und ihr Verständnis zu ihrem Staat. Eine FreundFeind-Ideologie zum Gegenstand der Erziehung junger Männer zu machen, wäre auch ein Widerspruch zur Politik der Bundesregierung. Diese Politik beruht in Übereinstimmung mit dem Atlantischen Bündnis auf der Entschlossenheit zur Verteidigung und zugleich in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen auf dem Willen zur Entspannung und zu internationaler Zusammenarbeit.Unser Grundgesetz gebietet unsere Verteidigung. Wir bedrohen niemanden in der Welt und wollen niemanden bedrohen. Wir müssen aber alle unsere Anstrengungen am Ausmaß gegebener militärischer Bedrohung orientieren. Wir sind nicht Schrittmacher, aber wir müssen Schritt halten; dies tun wir. Aus diesem Grunde ist eine ungeschminkte Darstellung des Kräfteverhältnisses auch gerade gegenüber den Soldaten nötig; das ist das Darstellen der Feindlage, nicht eines Feindbildes. Es ist nötig, dieses Kräfteverhältnis dem Soldaten und einer nüchtern und realistisch denkenden Öffentlichkeit zu unterbreiten und zu erläutern, um das Ausmaß unserer Verteidigungsanstrengungen darzulegen.Diese Verteidigungsanstrengungen sind für unsere Bevölkerung, unsere Steuerzahler eine schwere Last. Die Bundesregierung ist sich dessen wohl bewußt. Wir wissen auch, daß wir von den dienstpflichtigenjungen Männern einen Dienst verlangen, der ein Opfer ist, und wir wissen es zu würdigen. Aber unser Volk muß Vorsorge treffen und muß gewappnet sein, damit sein Friede gesichert bleibt. Die Verteidigungsanstrengungen, die wir Seite an Seite mit unseren Verbündeten im Atlantischen Bündnis unternehmen, sind Voraussetzung für unsere Sicherheit, Voraussetzung auch für Fortschritte in der Entspannung zwischen Ost und West und damit Voraussetzung für vieles, was unseren Frieden auch in den nächsten Jahren sichern und festigen kann.
Ich danke Ihnen, Herr Minister. Wir treten in die Aussprache ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wörner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An Ihrer Rede, Herr Bundesminister, ist deutlich geworden — ich darf das dankbar feststellen —, daß es noch eine Reihe gemeinsamer Grundüberzeugungen, zumal auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik, zwischen uns gibt. Ich möchte ganz ausdrücklich feststellen, daß wir für die Klarheit des Bekenntnisses zu diesem Staat, zu seiner Wertordnung dankbar sind. Herr Bundesminister, nur kann ich mir nicht vorstellen, daß wir die Adressaten dieses Bekenntnisses waren.
Wir wären dankbar, wenn Sie das in dieser Klarheit einmal vor Ihrer Partei sagen und in Ihre Partei hineinsagen würden.
Und wir wären noch dankbarer, wenn das etwa in den Richtlinien für den Gemeinschaftskundeunterricht in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen,
in Hessen seinen Ausdruck finde könnte. Dort vermissen wir ein so. eindeutiges Bekenntnis.
Und noch eine kritische Bemerkung drängt sich mir auf. Sind das nicht die Geister, die Sie selbst geweckt haben — nicht Sie persönlich; ich nehme Sie ausdrücklich davon aus —, als Sie beispielsweise 1969 der jungen Generation sagten, dies sei ein reaktionäres, ein finsteres Land und das müsse jetzt erst einmal anders werden in diesem Land?
Das ist jetzt die Folge davon.
Ich will noch etwas sagen, und zwar sehr offen. Ich glaube, daß Ihre Rede mit ihrem sehr optimistischen Grundtenor der sicherheitspolitischen Lage unseres Landes nicht ganz gerecht wird. Man könnte über diese Rede — und das gilt auch für das Weißbuch — das Motto schreiben: Lieb Vaterland, magst ruhig sein! Dabei ist die sicherheitspolitische Landschaft unserer Tage von unheilvollen Widersprüchen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5913
Dr. Wörnerbeherrscht, die auch Ihnen nicht entgangen sein können. Europa steht vor einer geschichtlichen Herausforderung und ist kraftloser und uneiniger als je zuvor. Das Atlantische Bündnis — unbestreitbar die erfolgreichste Allianz der freien Welt, die es je gegeben hat — ist auf einem Tiefpunkt angelangt, und zwar in einem Augenblick, in dem seine Geschlossenheit und seine Solidarität angesichts einer sich wandelnden Welt dringlicher wären als je zuvor.Und dazu kommt: Die Entwicklung in Ost und West ist in vielen wichtigen Punkten gegenläufig, geradezu entgegengesetzt. Während das Zerwürfnis zwischen den Vereinigten Staaten und Europa die Fundamente der NATO erschüttert, festigt die Sowjetunion in ihrem Machtbereich ihre Vorherrschaft weiter. Während der Warschauer Pakt immer überlegener wird, seine Kräfte zusammennimmt, aufrüstet — in Mitteleuropa —, lassen die europäischen Staaten, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, in ihren Verteidigungsanstrengungen fortlaufend nach. Während die Sowjetunion in ihrem Machtbereich durch eine konsequente Politik der Abgrenzung die Politik der Entspannung zu hintertreiben versucht, untergraben bei uns — hier in der Bundesrepublik und anderswo im Westen — Illusionen und gutgemeinte Hoffnungen zunehmend die Bereitschaft, Opfer für die Verteidigung zu erbringen. Mit einem Satz — und das muß so deutlich gesagt werden, weil es so stimmt —: Der Warschauer Pakt wird stärker und die NATO wird schwächer, und wenn sich diese Entwicklungen fortsetzen, dann werden wir, und zwar sehr bald, an einem Punkt angelangt sein, an dem Verteidigung und Abschrekkung nicht mehr wirksam sein werden.
Ich meine, es wäre die wichtigste Aufgabe der Bundesregierung, unserem Volk dies in der gebotenen Deutlichkeit zu sagen, d. h. unser Volk darauf aufmerksam zu machen, wie gefährlich diese Entwicklung ist, ihm klarzumachen, daß wir eben nicht in einer ruhigen und sicheren Landschaft leben, sondern daß wir in einer Landschaft leben, in der es Gefahren gibt und in der sich die Gefahren eher verstärken als abschwächen; statt dessen hören wir diese Erklärungen.Wenn man das Weißbuch in die Hand nimmt, wenn man es liest: am Ende legt man es mit dem beruhigenden Gefühl aus der Hand, daß es mit unserer Sicherheit letztlich doch in Ordnung sei.
— Herr Pawelczyk, soeben habe ich einige Tendenzen aufgezeigt. Vielleicht werden Sie die Chance haben, zu reden, dann kommen Sie her und sagen Sie, daß ich auch nur in einer dieser Tendenzen übertrieben hätte. Wenn Sie das nicht zu sagen vermögen, dann müssen Sie mir recht geben, wenn ich sage, wir haben keinen Anlaß, uns hier in Ruhe mit diesem Zustand abzufinden. Wir müssen unsere Anstrengungen vergrößern, meine Damen und Herren!
Herr Abgeordneter Wörner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pawelczyk?
Herr Präsident, unter der Voraussetzung — wenn ich das so sagen darf —, daß mir das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Ja.
Herr Dr. Wörner, leisten Sie einen Beitrag für die Sicherheit der westlichen Welt, wenn Sie sie geradezu zerreden, indem Sie Formulierungen gebrauchen wie „Zerwürfnis der NATO", „tiefe Krise", „Kräfte untergraben die Sicherheit"? Dies wird doch der tatsächlichen Situation überhaupt nicht gerecht.
Herr Pawelczyk, hier zeigt sich ein sehr unterschiedliches Verständnis der Funktion eines Politikers.
Wir sind der Auffassung, die Rolle des Politikers bestehe nicht darin, schönzufärben, sondern die Wahrheit zu sagen.
Ich sage Ihnen noch etwas: Sie unterschätzen dieses unser Volk, wenn Sie glauben, daß es die Wahrheit nicht vertrage und nicht in der Lage sei, daraus die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen.
Ich sage noch einmal: In den wenigen Punkten, wo im Weißbuch die Lage ungeschminkt dargestellt wird, etwa bei der Aufrüstung, zieht man keine Konsequenzen, und damit tritt im Grunde genommen das Dilemma der Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung unverhüllt zutage: Während man auf der einen Seite die wachsende Überlegenheit des Warschauer Pakts ausdrücklich anspricht, läßt man es auf der anderen Seite bei der einfachen, schlichten Feststellung, daß der Anteil der Verteidigungsausgaben an den Gesamtausgaben des Bundes sinke, ohne jede weitere Konsequenz.Die Sicherheitspolitik — ich glaube, das wird jeder objektive Betrachter der Lage gleichermaßen sehen — durchläuft eine besonders kritische Phase, und zwar nicht nur hier in der Bundesrepublik, sondern in der gesamten westlichen Welt, nicht zuletzt deswegen, weil wir in einer Welt des Umbruchs leben, in einer Welt, die „neue Strukturen des Friedens" — um diesen Ausdruck von Kissinger zu nehmen — sucht. Das hat zur Folge, daß diese Welt ein sehr zwiespältiges Gesicht zeigt. Auf der einen Seite wird sie geprägt vom Bemühen, die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten aus der starren Konfrontation zu lösen, auf der anderen Seite aber besteht die Rivalität und der politische und
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5914 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Wörnerideologische Gegensatz der beiden Supermächte in ungebrochener Schärfe fort. Beidem muß die deutsche Politik Rechnung tragen. Wir müssen und wir werden uns am Prozeß der Normalisierung beteiligen, aber wir müssen auf der Hut bleiben vor jedem Versuch, die Machtverhältnisse in Europa so zu verändern, daß Westeuropa in den Machtbereich der UdSSR gerät.Der Nahostkrieg hat uns — ich glaube, in recht dramatischer Form — gezeigt, daß die Sowjetunion selbst in der vom strategischen Gleichgewicht geprägten Phase des Bilateralismus nichts unversucht läßt, um das regionale Kräfteverhältnis überall dort, wo es ihr möglich ist, unter dem Dach der nuklearen Parität zu ihren Gunsten zu verschieben.
Alles deutet darauf hin, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die Sowjetunion das, wenngleich mit anderen Mitteln, auch in Westeuropa versucht. Anders ist die konsequente Aufrüstung der Sowjetunion in Mitteleuropa, das heißt unmittelbar an unseren Grenzen, überhaupt nicht zu erklären. Wer meint, das gelte China, der geht an den militärischen und politischen Realitäten meilenweit vorbei, um das einmal sehr deutlich zu sagen.
Man muß sich doch fragen: Was kann denn die Absicht der Sowjetunion nur sein, wenn sie beispielsweise die erste Staffel ihrer Streitkräfte geradezu dramatisch verstärkt in der Absicht, sie zum Angriff aus dem Stand zu befähigen. Es kann doch im Grunde genommen nur eine Vorstellung dahinterstecken, die etwa so aussieht: das militärische Potential des Warschauer Pakts an unseren Grenzen so mächtig zu machen, daß durch Druck von außen Veränderungen bis hin zum Umsturz im Bereich der Staaten Europas gefördert oder mindestens ausgenützt werden könnten. Die Zielsetzung dieser Rüstungspolitik — das ist etwas, was diese Bundesregierung nicht mehr ausspricht — kann nur offensiv sein, nicht zwangsläufig militärisch, aber sicher politisch offensiv.
Warum trauen Sie sich nicht mehr, das auszusprechen? Warum brechen Sie statt dessen — ich sage, sehr zum unrechten Zeitpunkt — wieder die alte Feindbild-Diskussion vom Zaun?
Das, was Sie sich hier in der verzerrten Darstellung dessen, was Feindbild sein kann, geleistet haben, kann ich für meine Fraktion nicht akzeptieren.
Wer Ihnen zugehört hat, der mußte den Eindruck erhalten, als ob es in der Bundeswehr jemals üblich gewesen wäre, zum Haß zu erziehen.
Sie wissen ebensogut wie wir, daß Sie wie alle IhreVorgänger, insbesondere auch diejenigen, die derCDU/CSU angehörten, alles darangesetzt haben, nicht zum Haß in dieser Bundeswehr zu erziehen.
Wenn Sie also heute gegen ein Feindbild losziehen, dann ziehen Sie los gegen einen Buhmann, den es nicht gibt. Wir in der Bundesrepublik Deutschland hatten weder gestern noch haben wir heute ein Feindbild nötig, das vom Haß geprägt ist oder das ideologisiert wäre.
— Herr Kollege Wehner, es muß auch gesagt werden: Wir könnten auf das Bild genauso wie auf den Feind selbst verzichten; den brauchen wir wahrlich in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Wir wollten, wir hätten beides nicht. Aber das, was wir an Aufrüstung an unseren Grenzen erleben, richtet sich doch nicht gegen die Fidschi-Inseln und richtet sich nicht gegen Hawaii, sondern das richtet sich auch gegen die Bundesrepublik Deutschland, und deswegen muß diese Bedrohung beim Namen genannt werden.
— Ich sage Ihnen: dann hören Sie auf, so zu tun, als ob es, mindestens zu der Zeit, als wir regiert haben, ein von Haß geprägtes Erziehungsbild in der Bundeswehr und in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hätte.
— Herr Kollege Wehner, ich kann Ihnen nur sagen— ich hoffe, das noch sagen zu können —: Hier in der Bundesrepublik Deutschland einigt die Menschen und die Parteien, mindestens die hier im Bundestag vertretenen Parteien, immer noch eines, nämlich die aufrichtige Sehnsucht, Frieden zu haben und Frieden zu halten. Worüber wir gelegentlich Meinungsverschiedenheiten haben, ist nur, welches der bessere Weg zu diesem Ziel ist.
Natürlich ist die sowjetische Strategie — das muß man bei einer solchen Debatte einmal sagen — umfassender und vielschichtiger. Sie umgreift politische, wirtschaftliche und soziale ebenso wie geistige und psychologische Faktoren. Allerdings bleibt für die UdSSR die militärische Macht eine, wenn nicht gar die bedeutendste Komponente ihrer weltumspannenden Strategie. Die russische Gesamtstrategie ist geradezu gekennzeichnet vom politischen Gebrauch militärischer Macht.
Darum liegt die Bedrohung Europas gar nicht sosehr in der Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung, obwohl auch diese nicht völlig ausge-
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Dr. Wörnerschlossen werden kann. Sie liegt viel eher in der politischen Gewichtsverlagerung auf Grund einer Verschiebung militärischer Machtgewichte.Ich bin davon überzeugt: die sowjetischen Führer wollen nicht den Krieg mit Europa; aber sie wollen die politische Vorherrschaft über Europa. Wenn es ihnen gelingt, die militärische Überlegenheit des Warschauer Pakts auszubauen und die Widerstandskraft des Westens weiter zu schwächen, dann gleitet Europa, vor allem wenn es geteilt bleibt und wenn seine Bindungen zu den USA schwächer werden, langsam, aber unaufhaltsam in den sowjetischen Machtbereich ab. Das ist ganz offensichtlich das Ziel der sowjetischen Strategie. Die Sowjetunion — das ist es eben, was uns nicht nur nachdenklich, sondern besorgt macht — hat Erfolg mit dieser Strategie, und vor allen Dingen deswegen, weil der Westen gegenwärtig dabei ist, dieser Strategie geradewegs in die Hände zu arbeiten.
Theo Sommer, ein Publizist, der nicht im Verdacht steht, uns näher zu sein als Ihnen, hat sich erst unlängst veranlaßt gesehen, warnend auf einen Zusammenhang aufmerksam zu machen, der in der Bundesrepublik Deutschland immer mehr in Vergessenheit gerät, und zwar den Zusammenhang zwischen Entspannung und der Stärke des Westens. Er schreibt — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —:Entspannung war von Anbeginn ein Konzept, das den Sowjets bloß durch die Demonstration westlicher Stärke aufgezwungen werden konnte.Und weiter:Nicht darauf, was die Sowjets wollen, kommt es an, sondern vornehmlich darauf, was ihnen der Westen erlaubt, wozu er sie durch Schwäche verführt, woran er sie durch Stärke hindert.Und schließlich:Wenn der Kreml sich eine Chance ausrechnen darf, daß die westlichen Gesellschaften vor der Herausforderung der Stunde versagen, wenn er darauf zu spekulieren vermag, daß die Gemeinschaft der westeuropäischen Neun sich allmählich wieder aufdröselt, wenn er ferner auseinander treibt, dann kann nichts ihn daran hindern, von der Minimalstrategie des vergangenen Jahres wieder zurückzuschalten auf jene Maximalstrategie, von der Moskaus Ideologen ja nur unter dem Zwang der Fakten abgerückt waren.Ich glaube, deutlicher und richtiger kann man diesen Zusammenhang nicht ausdrücken. Ich wollte, daß die Bundesregierung stärker, als sie das bis jetzt getan hat, nach innen wie nach außen deutlich macht, daß sie begreift, daß eine erfolgreiche Politik der Normalisierung zweierlei voraussetzt, eine nüchterne Sicht der Entspannung zum einen und zum anderen die ungebrochene politische und militärische Stärke des Westens. An beidem hat esdie Bundesregierung nach unserer Auffassung gerade in den letzten Jahren fehlen lassen. Anstatt zu einer nüchternen und illusionslosen Sicht der Entspannung beizutragen, hat sie Illusionen nicht nur entstehen lassen, sie hat sie, wenn ich das recht sehe, aus sehr durchsichtigen innenpolitischen Gründen — denken Sie an die Wahlen des Jahres 1972 — geradezu gefördert. Entspannung besteht eben nicht nur im Austausch unverbindlicher Freundlichkeiten und auch nicht im bloßen Warenaustausch, so nützlich, so notwendig, so richtig er sein mag. Entspannung heißt — und das darf nicht in Vergessenheit geraten — Überwindung politischer und militärischer Spannungen und Gegensätze. Davon aber sind wir heute noch meilenweit entfernt. Solange wir diesen Zustand nicht erreicht haben, gibt es keinen Anlaß, die Rüstungspolitik der Sowjetunion mit Hilfe von verbilligten Krediten aus der Bundesrepublik Deutschland zu finanzieren.
Es kennzeichnet doch — ich sage das sehr, sehr milde — die Naivität dieser Bundesregierung, daß sie allen Ernstes über Kredithilfe an die Sowjetunion nachdenkt, während diese Sowjetunion nach ihren eigenen Feststellungen ihr militärisches Machtpotential an unseren Grenzen fortlaufend ausbaut. Ich erlaube mir zu sagen, diese Politik der Großzügigkeit nach Osten hin kontrastiert merkwürdig mit der Härte, mit der sie mit unserem größten Bündnispartner über Geldfragen verhandelt hat.
Wir hätten uns da manchmal eine ähnliche Großzügigkeit gewünscht.
Herr Leber hat, wie manchmal, mit seinem Wort: „Keinen Pfennig ..." ich brauche das nicht fortzusetzen die Wahrheit getroffen; nur ich sage das sehr offen und hoffentlich nicht allzu verletzend —, Herr Bundesminister Leber hat das Pech, daß er in seiner Partei nicht immer gehört wird. Man hat auch den Eindruck, daß er sich nicht immer durchsetzt, sonst könnte das ja alles nicht möglich gewesen sein, was sich nach diesem Ausspruch in der Bundesrepublik Deutschland und in dieser Bundesregierung ereignet hat.
Man muß doch eines sehen: das offensichtlich überragende Interesse der Sowjetunion an technologischer Hilfe aus dem Westen hängt damit zusammen, daß die forcierte Rüstungspolitik der UdSSR einen großen Teil ihrer Ressourcen schluckt und damit ihren technologischen Rückstand zum Westen immer weiter verstärkt.Ich möchte auch noch etwas zur Entwicklung in der NATO, sagen. Wir sind nicht der Meinung, Herr Bundesminister Leber, daß es in dieser NATO so aussieht, und zwar so harmlos aussieht, wie Sie
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Dr. Wörnerdas eben geschildert haben. Ich möchte hier ganz ausdrücklich feststellen: diese Bundesregierung hat wenig oder, besser gesagt, nichts dazu getan, um die sich seit längerem anbahnende Krise in der NATO zu verhindern. Außer beschönigenden Erklärungen kam von dieser Bundesregierung nichts Konstruktives.
Niemand wird so töricht sein — das möchte ich eingangs feststellen —, der Bundesregierung diese Krise allein oder überwiegend anzulasten,
aber schuldlos, Herr Wehner, ist sie daran nicht. Sie hat durch ihr eigenes Verhalten und vor allen Dingen durch ihren schwankenden Kurs dazu beigetragen, daß die NATO in dem 25. Jahr ihres Bestehens auf dem tiefsten Punkt seit ihrer Gründung angelangt ist.
— Ich werde Ihnen diesen Vorwurf begründen. Es fing damit an — und gleich am Anfang stehen Sie mit, Herr Wehner! —, daß die Vorstellungen, die Anregungen und die Vorschläge des amerikanischen Außenministers zur Erarbeitung einer atlantischen Deklaration von der Bundesregierung und von ihren Parteien mit einer frostigen, abweisenden Kühle aufgenommen wurden.
Und, Herr Wehner, Sie persönlich haben diese Erklärung Kissingers als „Monstrum" bezeichnet.
Halten Sie das für einen Beitrag?
Es folgte dann — ich kann es Ihnen nicht ersparen —
die offenkundige Verletzung der Bündnissolidarität in der Nahost-Krise.
Dann haben Sie sich wieder davon distanziert, umkurz danach die Erklärung vom 6. November — —
Ich wäre dankbar, wenn Sie, Herr Präsident, diese Zeit abzögen, in der ich mich kaum mehr bemerkbar machen kann, weil der Herr Wehner — —
Herr Kollege, Sie irren! Das Mikrophon ermöglicht es Ihnen, sich voll bemerkbar zu machen.
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident! — Es folgte dann, Herr Kollege Wehner, jene Erklärung vom 6. November 1973, die doch die USA vor den Kopf stoßen mußte. Und als man merkte, was man angerichtet hatte, distanzierte sich hier der Bundeskanzler in sehr vorsichtiger Form. Dann ging man nach Washington auf die Energiekonferenz, hat dort nach anfänglichem Zögern eine USA-freundliche Politik eingenommen, kam zurück, und kurz darauf machte man — ohne jegliche Konsultation der USA — nun wiederum den Versuch, mit den Europäern die arabische Zusammenarbeit voranzutreiben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Wörner?
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit der für die deutsche Politik sicherlich notwendigen Funktion des Brückenschlags zu tun. Das ist genau das, was der Herr Leber als unmöglich bezeichnet hat. Das ist eine Politik des Schaukelns nach dem Motto, mal jenem und mal diesem zu gefallen.
Mit dieser Politik setzt man sich zwischen alle Stühle.
Bitte, Herr Wehner!
Sehr geehrter Herr Kollege! Darf ich Sie, da Sie hier Daten aneinanderreihen, bitten, in diese Datenreihe den 3. Mai 1973 mit den Entschließungen und der Erklärung des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa, an denen die führenden politischen Personen der Parteien aller demokratischen Richtungen der neun Länder beteiligt waren, einzugliedern und sich zu vergegenwärtigen? Der Herr Barzel war — wenn ich mich richtig entsinne — damals auch noch dabei.
Herr Kollege Wehner! An schönen Erklärungen haben es die Europäer selten fehlen lassen.
Was die Amerikaner verärgern mußte, war die Tatsache, daß die Taten der Regierungen den schönnen Worten der Parteien nicht folgten.
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Dr. WörnerKeiner verkennt die schwierige Position der Bundesrepublik Deutschland zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich. Wir brauchen die USA, aber wir brauchen auch Europa, und das heißt Frankreich.
Darum dürfen wir uns weder in eine Frontstellung gegen die USA noch in eine Frontstellung gegen Frankreich drängen lassen.
Wir dürfen uns nicht in Atlantiker und in Europäer teilen lassen. Europäer kann man auf die Dauer nur als Atlantiker und Atlantiker auf die Dauer nur als Europäer bleiben.
Gerade aber wenn die deutsche Politik dieser Aufgabe gerecht werden will, dann kann sie das nur, wenn sie einen geradlinigen Kurs steuert, der auf beiden Seiten Vertrauen schafft.
'er in schönem Wechselspiel mal den einen und mal den anderen Partner vor den Kopf stößt, der wird sich mit einem solchen Zickzack-Kurs nur Mißtrauen, nicht aber Vertrauen einhandeln. Darum geht es.
Diese Bundesregierung ist doch einmal mit dem Anspruch angetreten, den Handlungsspielraum der deutschen Politik auszuweiten.
— Heute, Herr Wehner, ist das Verhältnis zu den USA schlechter. Europa ist von seiner politischen Einigung weiter entfernt als je zuvor, und Ihre viel gerühmte Entspannungspolitik läuft sichtbar auf Grund. Wo bleibt da der Handlungsspielraum der deutschen Politik, den Sie so oft beschworen haben?
Es muß ,die Frage erlaubt sein, ob sich hier nicht der tiefe und unauflösliche Widerspruch offenbart, der zwischen den ostpolitischen Konzeptionen und der Europa- und Bündnispolitik der Bundesregierung besteht. Wer wie diese Bundesregierung all seine Energien in die Ostpolitik investiert, braucht sich nicht zu wundern, wenn letztlich die Westpolitik darüber in eine Krise gerät.Ich weiß nicht, ob Sie gelesen haben, was Golo Mann, auch wieder ein unverdächtiger Zeuge, dieser Tage in ,der Vierteljahresschrift „Neue Rundschau" mit sehr scharfem analytischen Verstand herausgearbeitet hat. Er schreibt:Wußte man in Bonn genau und klar, was man mit den Ostverträgen wollte? Verfolgte man ambivalente, schwankende Ziele? Dies will ich gestehen: Hätte ich zur rechten Zeit den großen Plan Egon Bahrs gekannt, jene Fallstudie, jenes historisch unsagbar unwissende Projekt eines Ost-Locarno, hätte ich dieses Knabenwerk gekannt, meine Befürwortung ,der Ostverträgewäre noch vorsichtiger umschrieben gewesen, als sie es war.Und jetzt kommt der Passus, warum ich das hier zitiere:Keine Außenpolitik kann beliebig viele Energien in beliebig vielen Richtungen verbrauchen. Indem man seit Herbst 1969 Osteuropa/Rußland wählte, hat man Europa als Nebensache behandelt trotz aller Konferenzen und ihrer dem Schein nach verheißungsvollen Resultate.Das ist die Betrachtung eines Mannes, der nun wirklich nicht in dem Geruch steht, Ihnen in irgendeiner Weise besonders skeptisch gegenüberzustehen.
Nun zur Bewertung der atlantischen Allianz. Hier stimmen wir voll überein. Der Schutz der USA und des atlantischen Bündnisses ist für uns von der CDU/CSU — ich brauche das fast nicht mehr zu sagen — durch nichts und niemanden zu ersetzen. Ein Mächtegleichgewicht kann es in Europa nur mit, nicht ohne und schon gar nicht gegen die USA geben.
Darum hat auch für uns das atlantische Bündnis Vorrang. Zu ihm sehen wir keine Alternative.
Ohne amerikanischen Nuklearschutz — auch das muß hinzugefügt werden — und ohne hinreichende Präsenz von US-Truppen lassen sich weder die Bundesrepublik noch Europa verteidigen.
— Herr Pawelczyk, zu beurteilen, was die Auffassung der gesamten Opposition ist, überlassen Sie besser uns. Bei alledem, was Sie dazu normalerweise zu sagen pflegen, haben Sie wahrscheinlich keinen unverstellten Blick.
Ich meine aber, daß es von uns, den Europäern und unserem Verhalten weitgehend abhängt, ob dieser amerikanische Nuklearschutz und die amerikanische Präsenz aufrechterhalten bleiben.Darum die Frage: Was muß geschehen?Erstens. Die Festigung des atlantischen Bündnisses muß im Vordergrund unserer Bemühungen stehen. Dazu gehört zunächst einmal, daß die große, ich meine, vom geschichtlichen Bewußtsein getragene Herausforderung der USA zu einer neuen Fundierung der atlantischen Allianz eine europäische, d. h. auch eine deutsche Antwort in gleichem Geist verdient hat und daß sie eine solche Antwort erhält. Dazu gehört, daß in einer solchen Erklärung die wechselseitige Abhängigkeit Europas und der USA eindeutig zum Ausdruck kommen muß. Wir Europäer können uns nicht länger sträuben, den Zusammenhang zwischen den politischen, den militärischen und den wirtschaftlichen Problemen anzuerkennen.
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Dr. WörnerDas heißt nicht, daß einem formellen Junktim zugestimmt werden müsse, sondern bedeutet, daß die wirtschaftlichen, handels- und währungspolitischen Probleme zwischen Europa und den USA im Geist der Partnerschaft und nicht der Rivalität angepackt und gelöst werden müssen. Handelskrieg auf der einen Seite und Sicherheitspartnerschaft auf der anderen Seite mit ein und demselben Verbündeten lassen sich nicht vereinbaren. Deswegen ist auch ein gerechter Lastenausgleich im Bündnis unverzichtbar. Ich unterstreiche hier alles, was der Herr Bundesverteidigungsminister gesagt hat.Auch unsere Position ist es, die europäischen Verbündeten jetzt aufzufordern, sich an diesem Lastenausgleich zu beteiligen. Wir begrüßen es, daß es möglich war, das Devisenausgleichsabkommen abzuschließen. Ich darf hier sagen: Jede Verbesserung des Konsultationsverfahrens in der NATO wird unsere Unterstützung finden.Zweitens. Auch Europa darf sich nicht mit seiner Ohnmacht abfinden. Ein neuer Anlauf auf dem Gebiet der gemeinsamen Verteidigung sollte versucht werden, obwohl wir uns über die Schwierigkeiten wohl im klaren sind. Dazu muß zunächst einmal der Versuch gemacht werden, die bilaterale Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und Frankreich auf dem Sektor der Verteidigungspolitik voranzutreiben. Wenn man den deutsch-französischen Vertrag nachliest, stellt man fest, daß in ihm eine ganze Reihe unausgeschöpfter Möglichkeiten liegen. Wir sollten es wenigstens versuchen, dieses Instrumentarium zu nützen.Drittens. In den Konferenzen über Sicherheit und Abrüstung gilt es, unbeirrt am Konzept der Ausgewogenheit und der unverminderten Sicherheit festzuhalten und sich davon nicht abbringen zu lassen. Ich bin dankbar für die Erklärung, daß wir uns nicht unter Zeit- und Erfolgsdruck setzen lassen. Ich hoffe nur, daß die Praxis dieser Regierung so sein wird wie das, was hier gesagt wurde.Ich möchte hier nur einen zusätzlichen Gedanken vortragen. Bei allen diesen Verhandlungen und Vereinbarungen dürfen wir der Sowjetunion kein Instrument in die Hände spielen, mit dem sie die europäische Einigung erschweren oder gar verhindern könnte.
Viertens. Auf militärischem Gebiet gilt es, die Glaubwürdigkeit der Abschreckung aufrechtzuerhalten. Zur Doktrin der sogenannten „flexible response" gibt es keine Alternative. Diese allerdings bleibt nur solange wirksam, als auf jeder Stufe konventionell, taktisch-nuklear und strategisch-nuklear —hinreichende Fähigkeiten vorhanden sind und an der Bereitschaft der NATO zur Eskalation nicht gezweifelt werden kann. Das heißt zum einen: Der Zusammenhang zwischen taktisch-nuklearer und strategisch-nuklearer Ebene darf nicht durchschnitten werden. Europa muß an den strategischen Schutz der USA angeschlossen bleiben. Auch ein auf den europäischen Schauplatz begrenzter Krieg muß ausgeschlossen bleiben. Ich sage das im Blick auf eine Diskussion, die man jetzt gelegentlich auf wissenschaftlichem Gebiet erlebt.Ich möchte hier für unsere Fraktion die von Verteidigungsminister Schlesinger angekündigte Verfeinerung der Nukleardoktrin ausdrücklich begrüßen, weil sie die Möglichkeiten des US-Präsidenten erweitert, also dazu angetan ist, die Glaubwürdigkeit der Abschreckung zu erhöhen.Die eigentliche Schwäche unseres Verteidigungssystems liegt auf konventionellem Gebiet. Hier droht eine gefährliche Lücke. Schon heute bestünde — das muß ausgesprochen werden — im Konfliktfall ein unerträglich früher Zwang zum nuklearen Ersteinsatz. Jede weitere Verminderung konventioneller Kampfkraft müßte diesen Zeitraum noch weiter nach vorn rücken. Damit finden sich aber die USA immer weniger ab, und zwar aus guten und, wie ich meine, verständlichen Gründen, weil sie bestrebt sein müssen, das nukleare Risiko einzuengen und nicht auszuweiten. Man kann und darf von ihnen nicht erwarten, daß sie das Nachlassen der europäischen Verteidigungsanstrengungen mit höherem nuklearen Risiko bezahlen. Das heißt aber — dies ist eine Konsequenz, die wir endlich ziehen müssen —, daß wir unsere konventionelle Kampfkraft nicht noch weiter schwächen dürfen, daß die weitergehende Verringerung der Verteidigungsfähigkeit aus dem Stand ein Ende haben muß.Es muß allerdings auch den Amerikanern gesagt werden, daß der Abzug konventioneller Truppen der Amerikaner aus Europa natürlich gleichbedeutend wäre mit einem Herabziehen der sogenannten nuklearen Schwelle und daß man das eine oder das andere, aber nicht beides zusammen haben und tun kann.
Das heißt vor allem, daß die Einsatzbereitschaft und die Kampfkraft der Bundeswehr aufrechterhalten und verbessert werden müssen. Ich sage ganz ausdrücklich: Die Bundeswehr ist unbestreitbar eine gute — ich sage: noch eine gute —, eine modern ausgerüstete und kampfkräftige Armee. Ich darf mich hier für meine Fraktion dem Dank an die Soldaten anschließen. Wir verlassen uns auf die Soldaten der Bundesrepublik Deutschland.
Aber Schwächen in unserem Verteidigungssystem sind unübersehbar. Die Verkürzung der Wehrdienstzeit ist nicht ohne Auswirkung auf die Qualität der Ausbildung, auf den Ausbildungsstand geblieben. Jeder Soldat draußen, den Sie fragen, wird Ihnen das bestätigen. Ich sage auch ganz offen, Herr Minister, wir haben erhebliche Zweifel, ob die Wehrstrukturänderung, die Sie aufs neue hier propagiert haben, nicht eben doch eine Reduzierung von Kampfkraft bedeutet.Lassen Sie mich eine Bemerkung machen! Wir halten es für einen ganz schlechten Stil, daß wir am 5. Dezember — um diesen Tag herum muß es gewesen sein — im Verteidigungsausschuß Dutzende von kritischen Fragen stellten, aber darauf bis heute keine Antwort haben und daß Sie jetzt wieder Zahlen nennen, die Sie uns noch nicht einmal in den internen Beratungen geliefert haben. Solange wir nicht von Ihnen ganz klare und lückenlose Aus-
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Dr. Wörnerkunft darüber haben — nicht in ein paar Statements, die Sie hier abgeben —, wie sich nun die Einsparung errechnet, solange wir nicht wirklich nachgeprüft haben, ob nicht die Zusammenlegung beispielsweise der territorialen Verteidigung, die Auflösung des Wehrbereichskommandos viel mehr Nachteile haben muß, solange wir nicht nachgeprüft haben, ob das kleinere Kompanie-Modell beispielsweise nicht mehr Nachteile als Vorteile hat, werden Sie eine gründliche parlamentarische Diskussion darüber nicht haben können. Warum also dieser erneute Versuch, Dinge zu präjudizieren, die nach Ihrer Meinung in diesem Parlament sachlich vorher, und das heißt wohl im Ausschuß, ausdiskutiert sein müssen?Wer diese Mängel, die unsere Verteidigung hat, beseitigen will, muß bereit sein, die finanziellen Anstrengungen zu erhöhen. Er muß einfach zu dieser Konsequenz bereit sein. Natürlich haben Sie recht, Herr Bundesminister, wenn Sie sagen, wir wünschen uns, daß andere Bündnispartner mehr täten, aber Maßstab für unsere Aufwendungen kann eben nicht das sein, was neben uns geschieht, wo wir im übrigen im Vergleich gar nicht so gut abschneiden, wenn man den Querschnitt der NATO nimmt. Maßstab für unsere finanziellen Aufwendungen kann doch nur das gegnerische Potential, kann doch nur die Bedrohung und sonst nichts sein. Und es ist einfach ein Faktum, daß seit einem Jahrzehnt — ich sage das ausdrücklich die Zuwachsraten des Verteidigungsbudgets hinter den Steigerungsquoten des Bundeshaushalts zurückbleiben, auch nach den verbesserten Quoten, die Sie uns vorgetragen haben; denn der Bundeshaushalt wird eine Steigerungsquote von insgesamt über 14 % haben, wahrscheinlich sogar noch mehr. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Auffassung: ein fortlaufend sinkender Verteidigungsaufwand, gemessen am Bruttosozialprodukt und gemessen am gesamten Haushalt, darf nicht zum Naturgesetz unserer Sicherheitspolitik werden. Darum muß die mittelfristige Finanzplanung revidiert und muß die sinkende Tendenz der Verteidigungsausgaben gebrochen werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt ?
Ich bitte Sie, zu Ende kommen zu dürfen; meine Redezeit nähert sich dem Ende.Fünftens. Wer unserem Volk diese Anstrengungen abverlangen will, muß ihm, so meine ich, ein ungeschminktes Bild der Sicherheitslage zeichnen und darf sich nicht mit der wachsenden Gleichgültigkeit den Streitkräften gegenüber abfinden oder diese wachsende Gleichgültigkeit gar noch, wie es mit abenteuerlichen Wendungen im Weißbuch geschehen ist, in Vertrauen umdeuten. Gleichgültigkeit gegenüber den Streitkräften bedeutet nicht Vertrauen zu den Streitkräften, aber wir brauchen Vertrauen zu den Streitkräften, wenn sie ihrer Aufgabe genügen wollen.
Ich spare mir einiges von dem, was ich mehr in ironischem Ton über das soziologische Kauderwelsch zu sagen vorhatte, das man in den entsprechenden Kapiteln zum Teil findet.
Ich sage deshalb nur noch:Für sehr gefährlich halte ich die Aussage des Weißbuches zum Verhältnis des Bürgers zum Staat. Wer sich mit der distanzierten Haltung des Bürgers zum Staat und der Bundeswehr als einer Selbstverständlichkeit abfindet, der wird eines Tages ein ganz böses Erwachen erleben. Der Staat braucht mehr als Distanz seiner Bürger, vor allen Dingen dann, wenn er in Krisenzeiten bestehen will.
Ich sage Ihnen ebenso deutlich wie zum finanziellen Kapitel: Die schwindende Verteidigungsbereitschaft ist auch kein Naturgesetz, mit dem wir uns abfinden müssen. Die Kraft einer politischen Führung muß sich darin ausweisen, die Bedeutung der Streitkräfte gerade in einer Zeit des Wandels und der Entspannung der Bevölkerung zu verdeutlichen.Eine letzte Bemerkung: Politische Führung darf es nach unserer Auffassung auch nicht zulassen, daß aufs neue eine Mauer des Mißtrauens zwischen Bundeswehr und Gesellschaft errichtet wird. Den ständigen Verdächtigungen der Bundeswehr durch Mitglieder und Anhänger der SPD muß entschlossener von der Führung der SPD entgegengetreten werden.
Die schönsten Bekenntnisse zur Bundeswehr, die der Herr Verteidigungsminister abgibt, die schönsten Bekenntnisse zur Bundeswehr, die wir im Weißbuch von seiten des Bundeskanzlers lesen, nützen nichts, wenn dahinter noch nicht einmal die Kraft steht, klare Verhältnisse in der eigenen Partei und klare Verhältnisse im Volk zu schaffen.
Die Bundeswehr ist Teil unserer Gesellschaft. Sie ist offen gegenüber dieser Gesellschaft, und sie unterliegt der Kontrolle durch die berufenen Organe in unserer Demokratie.Aber nicht nur die Bundeswehr hat Pflichten gegenüber dem Staat und der Gesellschaft. Auch der Staat und die Gesellschaft haben Pflichten gegenüber der Bundeswehr. So wie sich die Bundeswehr von der Gesellschaft nicht abkapseln darf, so muß sich auch die Gesellschaft der Bundeswehr gegenüber offenhalten. Der Pflicht der Bundeswehr zur Loyalität gegenüber dem Staat entspricht ihr Recht auf Vertrauen der Bürger, solange sie diese Demokratie schützt.
Der englische Historiker Toynbee hat einmal gesagt:Völker und Kulturen gehen zugrunde, wenn sie auf die Herausforderung der Geschichte falsch oder nicht antworten.
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5920 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. WörnerDie geistigen und die materiellen Kräfte Europas reichen aus, Europa zu einem selbständigen Partner der USA in der Weltpolitik zu machen. Die 260 Millionen Westeuropäer müssen die Schicksalsfrage beantworten, ob sie neben der Kraft auch den Willen aufbringen, ihrem Gewicht entsprechend an der Gestaltung einer neuen Weltordnung mitzuarbeiten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich für den Ablauf der Debatte noch drei Bemerkungen machen.
Zunächst einmal bitte ich die Damen und Herren des Hauses, davon überzeugt zu sein, daß sie die Redezeit eines Redners durch Zwischenfragen nicht verkürzen können.
Zweitens. Der amtierende Präsident wird, weil ja Zwischenfragen und ihre Beantwortung die Debatte beleben, selbstverständlich für einen angemessenen Ausgleich am Ende einer Redezeit sorgen.
Drittens möchte ich die Damen und Herren auf den Tribünen darauf hinweisen, daß nach der Ordnung des Hauses dort Mißfallens- oder Beifallskundgebungen nicht gestattet sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Buchstaller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch das dritte Verteidigungsweißbuch der sozialliberalen Bundesregierung gibt nüchtern und offen Auskunft über die militärische Situation in der Welt und in Mitteleuropa, den Zustand der Bundeswehr und die sicherheitspolitischen Absichten der Bundesregierung. Die Durchführung und Fortschreibung der sicherheitspolitischen Grundsätze der vorangegangenen Regierungserklärungen von Bundeskanzler Willy Brandt finden darin ihren Niederschlag.In den meisten Stellungnahmen in der Offentlichkeit, auch des Auslands, wurde die klare und ungeschminkte Sachaussage des Weißbuchs 1973/74 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr positiv gewürdigt. Es blieb ausschließlich der Opposition in diesem Hause vorbehalten, im Hinblick auf das Verteidigungsweißbuch von konzeptioneller Unergiebigkeit und sachlicher Enttäuschung zu sprechen. Damit ist die Opposition auch auf diesem Gebiet ihrer Strategie der totalen Negation treu geblieben.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Herausgabe des Verteidigungsweißbuchs 1973/74. Mit diesem Weißbuch wird die Regierungserklärung vom 18. Januar vergangenen Jahres zur äußeren Sicherheit konkretisiert. Zugleich ist es ein Rechenschaftsbericht über die bisherigen Leistungen, verbunden mit einem Ausblick auf die Zukunft, und eine klare Aussage über die Ziele der deutschen Verteidigungspolitik im Rahmen des westlichen Bündnisses.Das neue Weißbuch verdeutlicht die enge Verzahnung von Außen- und Sicherheitspolitik und führt den Beweis für die Richtigkeit des praktizierten Konzepts dieser Regierung, die Sicherheitspolitik von den Eckpfeilern Verteidigungs- und Entspannungspolitik tragen zu lassen. Mit dem Vorwort von Bundeskanzler Willy Brandt wird die Wichtigkeit der Sicherheitspolitik als ein Instrument der Friedenssicherung unterstrichen und die Leistung und Zuverlässigkeit der Soldaten der Bundeswehr gewürdigt.Die SPD-Bundestagsfraktion würde es begrüßen, wenn alle Länder, vor allem aber die Staaten, die in die MBFR-Verhandlungen einbezogen sind, einen so offenen militärischen Zustands- und Absichtsbericht abgäben, wie das deutscherseits durch dieses Weißbuch geschieht. Das könnte schon als eine vertrauensfördernde Maßnahme im Rahmen der MBFR-Verhandlungen gewertet werden. Verteidigungsminister Georg Leber beweist jedenfalls, daß die Bundesrepublik Deutschland nichts zu verbergen hat.Oberstes Ziel der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland ist es, im Rahmen des Bündnisses einen angemessenen Beitrag dafür zu leisten, daß durch ein ausgewogenes militärisches Kräfteverhältnis zwischen Ost und West das Risiko für den Fall eines militärischen Konflikts für alle Teile so groß und unübersehbar ist, daß jeder militärische Angriff sinnlos wird.Sinn der Verhandlungen für eine ausgewogene und gleichwertige Reduzierung der Truppen und Einschränkung der Rüstung ist es, dieses Ziel auf einem niedrigeren Niveau zu erreichen, um endlich der uferlosen Truppen- und Waffenkonzentration in Mitteleuropa Einhalt zu gebieten. Das ständige Drängen der Opposition nach verstärkter Anpassung an den Rüstungswettlauf allein hilft uns hier nicht weiter.
Die Bemerkung von Dr. Wörner, daß man das Standbein der Sicherheitspolitik wieder in der Verteidigungspolitik, in den Verteidigungsansstrengungen sehen müsse, geht an der Tatsache vorbei, daß eine Eskalation der militärischen Konfrontation den Frieden nicht sicherer macht, sondern immer neue militärische Konfliktsituationen schafft.
Deshalb ist die SPD-Bundestagsfraktion nicht bereit, die Verteidigungspolitik und die Entspannungsbemühungen in eine Rangordnung zu zwängen. Beides sind gleichwertige und lebensnotwendige Instrumente für eine Sicherung des Friedens auf Dauer.Ausgangspunkt für erfolgversprechende Verhandlungen ist nicht nur der beiderseitige gute Wille, sondern die weitestgehend gemeinsame Interessenlage gleichwertiger Verhandlungspartner. Dabei kann Dr. Wörner doch wohl nicht davon ausgehen, daß ein Bündnis, das sich so darstellt, wie er es sieht, von der Sowjetunion und den Warschauer-Pakt-Staaten ernst genommen wird.Nach den Darlegungen von Dr. Wörner ist das Verhältnis zwischen Amerika und Europa tief gestört, Europa zerstritten und kraftlos und befindet
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5921
Buchstallersich politisch eher auf dem Rück- als auf dem Vormarsch. Das Europabild des Dr. Wörner gipfelt in der Feststellung: Europa arbeitet den Zielsetzungen der sowjetischen Politik in die Hände. Ich kann dazu nur bemerken, daß mit einer so überspitzten Schwarzmalerei die Verhandlungsposition des Westens unterminiert und den Interessen der sowjetischen Politik tatsächlich Vorschub geleistet wird.
Wenn er zuvor noch einmal unterstrichen hat, Aufgabe der Opposition könne es nicht sein, in der Politik Schönfärberei zu betreiben, dann kann es doch aber auf der anderen Seite nicht so sein, daß Opposition zwangsläufig zur Schwarzmalerei und zur Überspitzung führen muß.
Man kann die Sicherheit Europas und den Wert des westlichen Bündnisses auch zerreden.
Niemand wird die vielfältigen Schwierigkeiten in einem Bündnis mit verschiedenen nationalen Interessen verharmlosen wollen. Sie haben auch im Weißbuch und in den einleitenden Worten von Verteidigungsminister Georg Leber ihren Niederschlag gefunden. Es ist natürlich eine ständige und schwierige Aufgabe, der Notwendigkeit gemeinsamer Verteidigungsanstrengungen andere Interessenbereiche unterzuordnen. Gerade auf diesem Gebiet ist aber die Bundesregierung zäh und unentwegt tätig, was z. B. auch in den positiven Bemühungen der Europa-Gruppe im Rahmen der NATO Ausdruck findet. Ich weise deshalb, Herr Dr. Wörner, im Namen der SPD-Bundestagsfraktion Ihre Bemerkungen zurück, daß die Bundesregierung mit ihrer Politik nicht nur nichts getan habe, um den Zustand, wie er zur Zeit in der NATO ist, zu verbessern, sondern dazu beigetragen habe, ihn zu verschlechtern.
Wenn überhaupt jemand in positiver und beispielhafter Weise auch für das Bündnis einen Beitrag beigesteuert hat, ist es die Bundesrepublik Deutschland.Diesen Bemühungen, die durch die Bundesrepublik Deutschland und durch die Bundesregierung manifestiert werden, wird weder durch die resignierenden Darstellungen des Kollegen Dr. Wörner noch durch die Bemerkung des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Dr. Schröder, daß man gegebenenfalls auf eine nationale Verteidigung zurückgreifen müsse, ein guter Dienst erwiesen.
Anstatt einzelne Schwierigkeiten ständig lauthals zu bejammern, verlangt praktische Politik geduldige und zähe Schritte, um diese Schwierigkeiten zu überwinden.
Von dieser Notwendigkeit läßt sich die Politik der Bundesregierung leiten, und diese Politik wird voll und ganz von der SPD-Bundestagsfraktion unterstützt.Mißverständnisse, die zu Spannungen zwischen den europäischen Partnern der NATO und den USA geführt haben, werden ausgeräumt, der Konsultationsmechanismus wird verbessert. Die Bundesregierung läßt keinen Zweifel daran, daß die Sicherheit Europas nur durch den nuklearen Schutzschirm der USA und die ungeminderte Präsenz amerikanischer Truppen in Europa gewährleistet werden kann. Dabei weiß sie, daß man Amerika für die Verteidigung Europas nicht größere Anstrengungen abverlangen kann, als Europa selbst bereit ist aufzubringen. Die Bundesrepublik erfüllt deshalb ihre Bündnisverpflichtungen voll: personell, materiell und finanziell. Sie erwartet allerdings von allen anderen NATO-Partnern das gleiche Maß gemeinsamer Anstrengungen.
Was den deutschen Beitrag dazu anbetrifft, bedarf es, Herr Dr. Wörner, keiner Mahnung durch die Opposition. Er ist für die Bundesregierung und für die SPD-Bundestagsfraktion eine Selbstverständlichkeit.Ebenso selbstverständlich ist die Notwendigkeit eines engen Kontaktes mit Frankreich. Die Binsenwahrheit Dr. Wörners, daß wir weder mit Frankreich gegen die USA noch mit den USA gegen Frankreich Front machen dürfen, braucht weder der Bundesregierung noch der SPD-Bundestagsfraktion aufgetischt zu werden. Hilfreicher wäre es allerdings, wenn sich die Opposition so verhielte, wie das durch diesen Leitspruch zum Ausdruck kommt, d. h., daß sie sich auch im Einzelfall so verhielte, daß man nicht einmal für und einmal gegen Amerika oder Frankreich Front zu machen braucht. Sie hat z. B. — wie soll das verstanden werden? — im Konfliktfall zwischen den arabischen Staaten und Israel und in der Ölkrise dieser Regierung vorgeworfen und vorgehalten, daß sie sich nicht einseitig, eindeutig und vorbehaltlos hinter Amerika gestellt hat.
Aber ein Dr. Dregger tönt in Ankara und spricht sich für eine europäische Atomstreitmacht unter Führung von Frankreich aus.
Das nenne ich schwankende und ständig wechselnde Politik.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird jedenfalls alle Anstrengungen unterstützen, das Vertrauensverhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den USA zu stabilisieren und die Zusammenarbeit mit Frankreich zu verstärken. Nur so kann die Abschreckung als Mittel zur Verhinderung eines Krieges auch weiterhin funktionieren.Zu diesem Funktionieren gehört auch, daß die Verteidigungsanstrengungen der europäischen Partner ebenso glaubwürdig bleiben wie die Sicherheitsgarantien der USA. Die Bundesregierung scheut keine Anstrengungen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Das wird auch durch die Entwicklung der Bundeswehr und die Leistungen der Bundeswehr unterstrichen.
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5922 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
BuchstallerDie Entwicklung der Bundeswehr in dem Zeitraum, auf den sich das Weißbuch 1973/74 erstreckt, ist gekennzeichnet durch die Umstellung auf eine Wehrdienstdauer von 15 Monaten, die Vorbereitung und Verabschiedung der Grundsätze für die neue Wehrstruktur, die im Weißbuch sehr ausführlich behandelt wird, durch wesentliche Schritte bei der Verwirklichung des neuen Ausbildungskonzepts und entscheidende Maßnahmen zur Anhebung des Investitionsanteils im Rahmen des Verteidigungshaushalts.Die Schwierigkeiten der Umstellung von der 18monatigen auf die 15monatige Wehrpflichtzeit konnten weitestgehend gemeistert werden. Das war sicherlich für die Truppe und ist für einzelne Bereiche auch heute noch nicht einfach. Trotzdem kann man sagen, daß sich diese Umstellung bewährt hat, wenn auch offensichtlich die verantwortliche militärische Führung Herrn Dr. Wörner noch nicht davon überzeugt hat, daß diese Mängel überwunden werden konnten.
So verdient die Feststellung Nachdruck, daß wir die Herabsetzung gemeinsam beschlossen haben, daß wir uns dafür gemeinsam eingesetzt haben, daß wir gemeinsame Maßnahmen erarbeitet haben und daß bis heute noch nichts von einem Antrag der CDU/ CSU zu hören war, die Wehrpflichtzeit wieder auf 18 Monate zu erhöhen.
Wir wissen, daß auch diese Herabsetzung, wie alle Umstellungen, selbstverständlich nicht leicht zu verkraften war. Aber wir wissen heute — und die militärische Führung bestätigt uns das —, daß durch diese Umstellung die Schlagkraft der Bundeswehr nicht geschwächt, sondern gestärkt worden ist.
— Dann setzen Sie sich doch mit den Erfahrungen der militärischen Führung auseinander! Herr Dr. Wörner, sagen Sie doch endlich, was Sie wollen, und nicht immer nur, was Sie zu kritisieren haben! Sagen Sie, was Sie wollen!
Wahrscheinlich stehen Sie auf dem Standpunkt, daß man eigentlich 24 Monate Wehrpflichtzeit brauchen würde. Man kann ja über alles diskutieren, man muß nur wissen, was die Opposition tatsächlich will.
Genauso wie diese Maßnahme sind die Wehrstrukturmaßnahmen, die eingeleitet worden sind, angetan, die Schlagkraft der Bundeswehr effektiver zu gestalten. Der Leitgedanke dabei ist, durch Einsparungen bei den Personal- und Betriebskosten den Anteil der Investitionen zu erhöhen, die Präsenzstärke der Bundeswehr voll zu erhalten und denDefensivcharakter der Streitkräfte zu unterstreichen. Nach den heutigen Ausführungen des Verteidigungsministers ergäbe das ein Verlagerungsvolumen von über einer halben Milliarde D-Mark. Damit wird der Anteil der Investitionen wesentlich erhöht und bei ungefähr 30 % der gesamten Verteidigungsausgaben gehalten werden können. Im Verteidigungshaushalt 1974 macht das sogar 33 v. H., also rund ein Drittel, aus. Das ist, verglichen mit den anderen europäischen NATO-Partnern, die weitaus größte Investitionsquote.Die SPD-Fraktion begrüßt die Grundsätze der neuen Wehrstruktur und wird sich für eine zügige Realisierung einsetzen.Neben den Fragen der Wehrstrukturreform wird das Problem der Wehrgerechtigkeit, das wegen der anstehenden starken Geburtenjahrgänge neue Aktualität erlangt, im Mittelpunkt der Beratungen der nächsten Zeit stehen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt es, daß jetzt schon ein Kabinettsausschuß mit diesem Fragenkomplex befaßt ist und eine entsprechende Vorarbeit leistet. Naturgemäß konnte dazu nicht schon jetzt im Weißbuch eine Aussage getroffen werden. Wie umfassend und komplex die damit anstehenden Fragen sind, wird sich bei den Beratungen erweisen. Jedenfalls ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der lapidaren Forderung nach Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion der Weisheit letzter Schluß noch nicht gefunden.
Die Personalsituation in der Bundeswehr hat sich verbessert. Das ist ohne Zweifel eine Auswirkung der getroffenen Maßnahmen. Im Bereich des Offiziersnachwuchses ist das ein Ergebnis der eingeleiteten Ausbildungsreform. Anfänglich von der Opposition leidenschaftlich bekämpft, hat sie sich nun auch zu diesem Konzept durchgerungen. Die SPD-Bundestagsfraktion hält es für gut, daß nun auch zügig an die Ausbildungsreform für die Unteroffiziere gegangen wird. Gerade der Bildungs- und Ausbildungsstand des Unteroffizierskorps ist für die Bundeswehr von elementarer Bedeutung.Und dann hat Kollege Wörner — wie könnte es anders sein! — auch die Finanzen und den Verteidigungshaushalt angesprochen. Es gibt keinen Bereich in der Politik und innerhalb der Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern, bei dem die Finanzen voll ausreichend wären. Die finanziellen Ansprüche sind immer größer als die finanziellen Möglichkeiten. Um so erfreulicher ist die Aussage des Verteidigungsministers, daß die Mittel für die äußere Sicherheit zwar als eng, aber als ausreichend zu bezeichnen sind. Immerhin sind 27,9 Milliarden DM im Bundeshaushalt 1974 eine beachtliche Größenordnung. Wer über diesen Betrag hinausgehen will, muß deutlich sagen, von welchen anderen Ausgaben er die Summe abzweigen oder in welcher Form er die Staatseinnahmen erhöhen will. Bis heute haben wir sowohl im Verteidigungsausschuß als auch im Plenum konkrete Anträge hinsichtlich des Volumens des Verteidigungshaushalts vermißt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5923
BuchstallerDie allgemeine Feststellung, daß mehr ausgegeben werden müßte, hilft nicht das Problem lösen. Letztlich gibt es kein Gebiet, auf dem nicht noch mehr getan werden könnte.Immerhin konnte Verteidigungsminister Georg Leber feststellen, daß der Verteidigungshaushalt der Bundesrepublik Deutschland im NATO-Vergleich zur Spitzengruppe der Verteidigungsleistungen aller Bündnisstaaten zählt. Das sollte endlich einmal auch von der Opposition erkannt werden! Dies nicht dem Bundesminister der Verteidigung, nicht der SPD zuliebe, sondern um endlich auch einmal dem Steuerzahler gerecht zu werden.
Wenn wir uns hier in diesem Hause alle zu den Leistungen dieser Bundeswehr und ihrer Soldaten bekennen, dann ist das nicht nur eine Angelegenheit des Vorworts des Herrn Bundeskanzlers oder der Ausführungen des Bundesverteidigungsministers, ,sondern auch ein geschlossenes Anliegen der gesamten Fraktion der SPD.
Ich bin davon überzeugt, daß es verschiedene Punkte kritisch zu durchleuchten gibt. Und was soll es, Herr Dr. Wörner! Sie selbst haben zu Recht gesagt: Integration in die Gesellschaft heißt, daß wir die Bundeswehr nicht anders als andere Teile unserer Gesellschaft behandeln können. Das heißt, sie ist nicht nur mitten hineingestellt in unsere Gesellschaft, sie ist auch mitten hineingestellt in die kritischen Auseinandersetzungen in unserer Gesellschaft. Sie ist — das ist für militärische Einrichtungen natürlich neu und nicht ganz selbstverständlich — selbst mit einbezogen in die kritische Betrachtung. Sie wird genauso mit einer kritischen Elle der Öffentlichkeit, der Träger der öffentlichen Meinung, Rundfunk und Fernsehen, gemessen wie wir alle, weil ,sie wie wir und andere Institutionen Verantwortung für diesen Staat trägt, die Politik dieser Bundesregierung zu erfüllen hat und weil sie sich nach besten Kräften bemüht, dies zu tun, nach bestem Leistungsvermögen und nach bester Gegebenheit.Deshalb schuldet die SPD-Bundestagsfraktion diesen Soldaten, vor allen Dingen aber den jungen Menschen, die als Wehrpflichtige tagtäglich ihren schweren Dienst zu leisten haben, Dank und Anerkennung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krall.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Kollege Dr. Wörner hat das Weißbuch 1973/1974, über das wir heute sprechen, in seiner ersten Stellungnahme im Januar dieses Jahres unter anderem als enttäuschend, als konzeptionell unergiebig und als nicht aufschlußreich für die Zukunft unserer Sicherheit bezeichnet.In Ihrem heutigen Beitrag, Herr Dr. Wörner, war Ihre Kritik zwar differenzierter als bei der erstenLesung, Sie haben dabei aber insgesamt ein düsteres Bild westlicher Verteidigungsbemühungen aufgezeigt,
ja, ich möchte behaupten, Sie haben insgesamt die Handlungsfähigkeit dieses Bündnisses in Frage gestellt.
Das, Herr Kollege Dr. Wörner, stimmt nicht überein mit der Wertung der Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung durch meine Fraktion.
Wir halten diese Wertung für abwegig und überflüssig. Das NATO-Bündnis hat bisher funktioniert, und es wird auch in Zukunft funktionieren.
Wer dieses Weißbuch liest, der weiß und begreift — allerdings guten Willen vorausgesetzt —, was diese Bundesregierung sicherheitspolitisch im Grundsatz und in vielen Einzelheiten für notwendig erachtet hat und inzwischen auch deutlich realisiert hat. Ich gehe darüber hinaus so weit, zu behaupten, daß dieses Weißbuch wegen der ausgewogenen Darstellung unserer sicherheitspolitischen Absichten selbst einen Beitrag zur Entspannung nach außen und wegen der anschaulichen Information über Grundfragen unserer gesellschaftspolitischen Entwicklung ein Stück Demokratie im Innern unserer Republik darstellt.Wer hier in der Aufeinanderfolge von Weißbüchern verlangt, daß jedes Mal sensationell Neues vorgetragen wird, und wer kritisiert, es wiederhole sich vieles Wesentliche, der verkennt entweder in unverzeihlicher Ignoranz die Gebote der Kontinuität in Fragen unserer Sicherheit und unserer Streitkräfte oder der ist einfach ein Nörgler, über den man zur Tagesordnung übergehen sollte.
Wir Freien Demokraten, meine Damen und Herren, möchte der Bundesregierung und dem Bundesminister der Verteidigung jedenfalls für die schlüssigen Darstellungen der Sicherheitspolitik danken.
Wir meinen, daß mit solchen Weißbüchern in einer Sprache und Motivation, die vor allem auch draußen im Ausland verstanden werden dürften und die sich wohltuend abheben von Bemerkungen früherer deutscher Militärpolitik, Meilensteine gesetzt werden, vielleicht auch Fundamente gelegt werden für eine neue Militärtradition im demokratischen deutschen Staat, dessen Streitkräfte in der Gnade der Stunde Null mit dem Aufbau begonnen haben, gleichzeitig aber Streitkräfte praktisch ohne Tradition und Vergangenheit sind.Lassen Sie mich, ohne diesen Gedanken an dieser Stelle besonders vertiefen zu wollen, doch einmal die Frage an uns alle richten: Ist es nicht an der Zeit, daß die politischen Parteien in unserem Lande
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5924 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Krallund auch andere Kräfte dieses Landes durch historisch-kritische Beiträge helfen, die militärische Vergangenheit aufzuarbeiten? Ist es nicht ganz wesentlich unsere eigene Aufgabe, die Aufgabe unserer Generation — Sie wissen, wir diskutieren derzeit über Friedenserziehung und Friedenssicherung im Unterricht —, in der kritischen Analyse unserer Militärgeschichte und -tradition voranzugehen? Müssen wir, von unserer heutigen Demokratie und unserem Gesellschaftsverständnis herkommend, nicht einmal ernsthaft prüfen, ob wir den historischen Gestalten eines Scharnhorst, Blücher, Gneisenau, Moltke, Schlieffen — ich nenne auch Ludendorff und Hindenburg, ich nenne Seeckt, Rommel oder Stauffenberg, um hier nur einige Namen anzuführen — den ihnen gemäßen Platz einräumen? Wäre es nicht eine allmählich unerläßliche Diskussion, die vielleicht manchen abstrakten Grundsatz der Inneren Führung mit Leben und Inhalt füllen würde? Wären dies nicht wertvollere Beiträge zur Erziehung unserer Streitkräfte und ihrer Soldaten, aber auch der jungen Generation? Das wäre besser als etwa pauschale Verdächtigungen demokratischer Unzuverlässigkeit. Oder sollen wir die Bezugnahme auf solche Namen ausschließlich der DDR überlassen, die dann solche Gestalten deutscher Militärgeschichte für die Herausbildung ihres Feindbildes bei ihren Soldaten bzw. ihrer Jugend mißbraucht?Hier bliebe offenbar ein weites Feld, dem wir uns gemeinsam stellen sollten. Natürlich ist diese Aufgabe nicht in erster Linie Sache von Weißbüchern. Wenn ich aber die Weißbücher, die bisher erschienen sind, überschlägig werte, so entsteht bei mir doch der Eindruck: eine gewisse Lücke in der Darstellung unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik und in der Wertung der Bundeswehr besteht im Verzicht auf Auseinandersetzung mit deren tatsächlichen oder vermeintlichen Geschichtsbezügen und Traditionen.Insgesamt würdigen wir Freien Demokraten das Weißbuch als einen nüchternen, im ganzen positiven und überzeugenden Beitrag sozialliberaler Sicherheitspolitik.In seinem ersten Hauptteil nennt das Weißbuch 1973/74 die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den atlantischen Partnern und die Funktionsfähigkeit des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses als vorrangige, ja, fundamentale Ziele unserer Sicherheitspolitik. Für die aktive Mitgliedschaft unseres Landes im Bündnis besteht auch für die FDP keinerlei Alternative. Mit diesen Feststellungen wird jeder Verdächtigung der Boden entzogen, die Bundesregierung steuere etwa einem abenteuerlichen Neutralismus entgegen.Neben die militärischen Vorkehrungen zum Schutz unserer freiheitlichen Lebensordnung gegen äußere Bedrohung setzt die sozialliberale Bundesregierung gleichgewichtig ihre ernsthaften Bemühungen um Abrüstung und Verminderung des militärischen Potentials in Europa. Diese sicherheitspolitische Doppelstrategie der Erhaltung der Verteidigungsfähigkeit ist von dieser Regierung sorgfältig mit dem Bündnis abgestimmt, und sie wird von den demokratischen politischen Kräften unseres Landes, aber ganz sichervon den Parteien der Regierungskoalition und ihren Fraktionen ohne Meinungsverschiedenheiten in allen Grundzügen unterstützt. Dies alles, meine sehr verehrten Damen und Herren, scheint ziemlich klar zu sein.Dennoch säen Sprecher der Opposition Zweifel über Zweifel: mal ist ihnen die Bundesregierung nicht 'bündnistreu genug, mal verdächtigen sie die Bundesregierung, die Amerikaner zu kränken oder zurückzustoßen, mal fordern sie eine stärkere Verteidigung des europäischen Bündnisteils, weil sie möglicherweise gegenüber den USA nicht sicher sind, ob sich diese nicht doch substantiell aus Europa zurückzuziehen gedenken. Dies alles, meine Damen und Herren, ist so widersprüchlich, daß man ohne jede Einschränkung sagen kann — hier stimme ich meinem Vorredner, dem Herrn Kollegen Buchstaller zu —, die Opposition ist ohne sicherheitspolitische Alternative. Sie versucht, sich durch Nörgeln und Quereleien zu profilieren. Sie spricht mit mehreren Zungen,
jedenfalls hier im Hause oft anders als draußen im Lande.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einmal versuchen, die sogenannten Spannungen im Bündnis zu analysieren. Da haben wir einmal die nicht neuen Versuche von politischen Kreisen in den USA, darunter im Kongreß, die amerikanische Truppenpräsenz in Europa bis in die Substanz hinein zu vermindern. Das ist nichts Neues, das wissen wir. Demgegenüber hat Präsident Nixon wie bisher jede amerikanische Regierung bestätigt, daß er diesen politischen Forderungen nicht zu folgen gesonnen ist. Der Präsident führte noch jüngst drei entscheidende Begründungen für die substantiell unverminderte Präsenz der US-Truppen in Europa an. Er hat betont, die US-Präsenz in Europa sichert den Weltfrieden, sie sichert die Sicherheit der USA, und sie trägt bei zur Sicherheit Europas. In dieser Beurteilung gibt es also nicht die geringste 'Differenz zwischen den USA und den europäischen Bündnispartnern. Folglich, meine Damen und Herren, kann kein Anlaß für einen angeblichen Hauskrach im Bündnis bestehen, für den die Opposition immerzu Schuldige sucht. Wir Freien Demokraten stehen nicht an, den USA unser Vertrauen zu bekunden.Die tatsächlichen Probleme in der NATO und im Bündnis hat der Bundesaußenminister im Zusammenhang mit der Dringlichkeitsfrage des Kollegen Dr. Wörner in den letzten Tagen deutlich herausgestellt. Es geht einfach darum, daß im allmählichen und natürlich widerspruchsvollen politischen Zusammenwachsen der Länder der Gemeinschaft Konsultationsprobleme auftreten. Während unsere transatlantischen Bündnispartner raschere politische Antworten und Entscheidungen haben wollen, während sie häufig eine Bündelung sicherheitspolitischer, wirtschafts-, handels-, energie- und währungspolitischer Fragen anstreben, schlagen wir uns in Eu-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5925
Krallropa das muß man zugeben — mit Abstimmungsproblemen innerhalb der Gemeinschaft im Rahmen der Anfangsphase der europäischen politischen Zusammenarbeit herum und suchen mühsam nach Gemeinsamkeiten auf vorerst relativ kleinem Nenner. Diesen objektiven Tatbestand, der einfach geschichtslogisch und geschichtsnotwendig eine Entwicklungsetappe darstellt, nun dieser Bundesregierung als subjektives Versagen anlasten zu wollen, ist doch nur als perfide zu bezeichnen. Statt hier immer nur Giftpfeile abzuschießen und damit den komplizierten Prozeß des Zusammenwachsens zu erschweren, sollte sich die Opposition einmal in der Tat konstruktive Beiträge einfallen lassen.
Ich darf also hierzu feststellen: diese Bundesregierung, insbesondere ihre zuständigen Minister des Auswärtigen und der Verteidigung, tut alles in ihren Kräften Stehende, das Bündnis zu festigen und zu beleben und den Prozeß der westeuropäischen Einigung in die Aktivitäten der NATO zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit zielbewußt einzufügen. Festigung der NATO und westeuropäische Einigung sind keine Gegensätze, sondern miteinander verbundene Teilprozesse einer notwendigen Gesamtentwicklung.In ihrer gegenwärtigen Verfassung und in Würdigung ihrer widersprüchlichen Aussagen muß man der Opposition attestieren, sie hat nicht nur keine Alternative zur Politik der sozialliberalen Koalition, sie schadet vielmehr in vieler Hinsicht
dem notwendigen Interessenausgleich zwischen den USA und den europäischen Bündnismitgliedern
wie auch dem Einigungsprozeß innerhalb der Gemeinschaft.
— Bringen Sie doch endlich einmal konkrete politische Substanz zu diesem Bereich in dieses Haus.
Wir sind ja bereit, mit Ihnen darüber zu reden.Eine Fragestellung: USA oder Frankreich kann es für die Bundesrepublik nicht geben. Sich herkömmlich als Proamerikaner oder — vornehmer — als Proatlantiker und damit als Antifranzosen verstehende politische und vielleicht auch militärische Führungszirkel sollten ihr Standortbewußtsein sehr rasch im Interesse der Sicherheit des Bündnisses der westeuropäischen Einigung und der Sicherheit unseres Landes überprüfen. In ganz wesentlichen Bereichen der Bündnispolitik — etwa der KSZE- oder MBFR-Verhandlungen — funktionieren Konsultation und Meinungsbildung im Bündnis ausgezeichnet.Ein unablässiges Krisenlamento wird den objektiven Gegebenheiten nicht nur nicht gerecht,
sondern trägt dazu bei, intakte Beziehungen durch Einschleppen von Komplikationen aus anderen Sachgebieten zu infizieren.
Zu einer den heutigen Erfordernissen angepaßten Sicherheitspolitik gehört schließlich auch, daß man in einer bestimmten Situation auch einmal die Luft anhalten kann und subjektive Profilierungserfordernisse zurückstellt, um den Versuch zu unterstützen, aus der Europäischen Gemeinschaft heraus zu einer Europäischen Union zu kommen und damit die Grundlage zu schaffen, daß Europa künftig auch auf dem Gebiet der Friedenssicherung eine weltweite Verantwortung übernehmen kann.Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nun noch einige Bemerkungen zu einem anderen Schwerpunkt des Weißbuchs und damit unserer Sicherheitspolitik machen, zur Reorganisation unserer Bundeswehrstruktur. Ich sprach vorhin von der sicherheitspolitischen Doppelstrategie der Bundesregierung, die einerseits auf Entspannung und Herabstufung der militärischen Potentiale beider Blöcke in Europa, andererseits auf Gewährleistung unserer Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit abzielt. Wenn nun aus mancherlei zwingenden Gründen, die hier auch vom Bundesminister der Verteidigung eingehend klargelegt wurden, diese Regierung und die sie tragenden Parteien eine Reorganisation der Bundeswehrstruktur planen und durchführen müssen, so muß diese Reorganisation in den Rahmen dieser Doppelstrategie eingefügt sein. Schon deshalb kann es bei einer ernsthaften Strukturreform der Bundeswehr nicht um bloße quantitative Umgruppierungen gehen.Von dieser Grundkenntnis her haben die Freien Demokraten seit langem ihre eigenen Vorstellungen einer Bundeswehrstrukturreform entwickelt. Wir setzen weiter voraus, daß eine sinnvolle Strukturreform an den derzeitigen Zahlen des Umfangs der Bundeswehr bzw. der Teilstreitkräfte anknüpfen muß.Eine Strukturreform müßte festfahren, wenn man sie zum Hebel einer Veränderung nach oben oder nach unten unserer Bündnisverpflichtungen machte. Die Strukturreform macht die Bundeswehr über das Mittel der Verfügungsbereitschaft weder größer noch kleiner. Und an dieser Stelle, meine Damen und Herren, wiederhole ich einen Satz, den ich in der Debatte über die Regierungserklärung zur Bundeswehrstrukturreform schon einmal gesagt habe.
— Einen Satz, den ich hier im Hause gesagt habe, Herr Kollege Damm:Unsere Freunde können sicher sein, daß wir unsere Verpflichtungen quantitativ und qualitativ zu erfüllen bereit sind. Unsere Gegner dagegen können uns nicht vorwerfen, daß wir die Bundeswehr aufblähen und aggressiv mit dem Säbel rasseln.Auch an dieser Stelle muß ich leider auf die schlicht falschen Behauptungen der Opposition hin-
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5926 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Krallweisen, die das Instrument der Verfügungsbereitschaft nicht begreift und Krokodilstränen über einen Vorgang vergießt, in dem sie — nicht verstehen wollend oder könnend — eine Schwächung vermutet, während eine Effektuierung in der Tat geplant ist und jedem, der es klar sieht, auch deutlich wird. Tatsache ist, daß die NATO die Verfügungsbereitschaft als echten Bestandteil des Friedensumfanges der Bundeswehr akzeptiert hat, daß es sich bei den Soldaten der Verfügungsbereitschaft um Wehrpflichtige — praktisch des Beurlaubtenstandes — handelt und daß die entsprechenden Gesetzesänderungen mit der Zustimmung der FDP das Kabinett passiert haben und in Kürze den parlamentarischen Verfahrensgang antreten werden.Überhaupt enthält der Plan zur Reorganisation der Bundeswehrstruktur wesentliche Forderungen der Freien Demokraten, wie etwa Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht, endgültige Verschmelzung der Territorialverteidigung mit dem Heer, Effektuierung der Kampfverbände, die schlanker und damit besser führbar werden, Entlastung der unteren Einheiten von Verwaltungsarbeit, Einführung von Elementen der Kaderung, Einsparung von Kornmandoebenen und Kommandobehörden usw.Andere Teillösungen der Reorganisation fehlen noch bzw. erscheinen, ohne die grundlegende Richtung der Strukturreform in Frage stellen zu wollen, ergänzungs- oder verbesserungsbedürftig. Z. B. sind die Angaben über Kostenwirksamkeit noch nicht vollkommen. Es muß auch der Anschein vermieden werden, als könnte durch die jetzt einmalig erzielte, etwas günstigere Umschichtung im Verhältnis der Betriebs- zu den Investitionskosten diese Relation ein für allemal sichergestellt werden, etwa auch dann, wenn die Steigerungsraten des Verteidigungsetats weiterhin hinter den Steigerungsraten des Gesamtetats bzw. den allgemeinen volkswirtschaftlichen Steigerungsraten zurückbleiben.Unerläßlich ist auch — darauf möchte ich noch einmal besonders hinweisen, und hier fordern wir, die Freien Demokraten, die Bundesregierung zu etwas nachdrücklicheren Aktionen auf —, eine baldige Antwort auf die Frage der Wehrgerechtigkeit zu finden. Eine interministerielle Kommission, in der acht Ministerien vertreten sind, mag eine gute Sache sein. Sollten wir aber nicht von Anfang an die Vertreter der demokratischen Parteien, vielleicht auch anderer gesellschaftlicher Organisationen und Institutionen in geeigneter Form in die Diskussion einbeziehen?
— Das können Sie ja vorschlagen, Herr Kollege.Weiterhin ungelöst und in dem grünen Buch „Die neue Struktur der Bundeswehr", herausgegeben vom Führungsstab der Streitkräfte, nicht angesprochen ist die Frage einer künftigen Spitzengliederung der Streitkräfte und damit der Landesverteidigung insgesamt. Meine Fraktion hatte Ihnen, Herr Minister, entsprechende Vorschläge unterbreitet. Ich gehe davon aus, daß in Ihrem Hause Überlegungen mit dem Ziel angestellt werden, eine Entscheidung über eine künftige Spitzengliederung so rechtzeitig vorzubereiten, daß sie nach Abschluß der Stukturreform im nachgeordneten Bereich zügig vollzogen werden kann.Wir hatten ferner angeregt, unter den drei Teilstreitkräften dem Heer bzw. den Landstreitkräften erkennbar diejenige Priorität einzuräumen, die sich aus unserer geographischen Lage und dem Bündnisauftrag ergibt. Sie selbst haben dies in der Vergangenheit hier im Hause, im Ausschuß und auch an anderer Stelle mehrfach deutlich bekräftigt. Um so erstaunter war ich, in der oben zitierten Broschüre lesen zu müssen — hier zitiere ich wörtlich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —:Die wesentlichen Änderungen in der Gesamtorganisation der Bundeswehr sind die Zusammenfassung Streitkräfte gemeinsamer Aufgaben und die Änderung der Kommandostruktur des Heeres.Dem ersten stimme ich voll zu, dem zweiten stehe ich etwas skeptisch gegenüber.
Ich möchte sagen, warum. Wir Freien Demokraten können uns eine Strukturreform der Streitkräfte insgesamt allerdings nur vorstellen, wenn ernsthaft der Versuch gemacht wird, die derzeitige Struktur von Luftwaffe und Marine den modernen Führungserfordernissen anzupassen.
— Wir werden entsprechende Vorschläge machen. Es wäre schön, wenn auch Sie in der Lage wären, hier einen entsprechenden Beitrag zu leisten.
— Wir fragen nicht unseren Koalitionspartner, was er will, sondern leisten konkrete sachliche Beiträge, und wie Sie sehen, setzen wir uns dabei gelegentlich auch ganz erfolgreich durch.
— Na ja, natürlich nicht in allem, meine Damen und Herren; das ist in einer Koalition nicht möglich.Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, die Gründung der NATO jährt sich in diesen Tagen zum 25. Mal. Seit dieser Zeit haben wir Frieden, der über die Höhepunkte des Kalten Krieges hinweg bewahrt werden konnte, weil das Bündnis genügend Verteidigungs- und Abschreckungsbereitschaft glaubhaft praktiziert hat. Heute, in einer Phase, in der Rüstungswettlauf und Bemühungen um Abrüstung, gegenseitiges Mißtrauen und Bemühungen um vertrauensbildende Maßnahmen, Rufe nach höheren Verteidigungsausgaben und zaghafte Ansätze einer Entspannung parallel nebeneinander herlaufen, verzeichnen wir eine gewisse Abkehr des öffentlichen Interesses von Fragen der Sicherheit in der NATO. Gerade deshalb, meine Damen und Herren, ist eine Debatte, wie wir sie heute in diesem
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KrallHohen Hause führen, auch für unsere Bürger und die Öffentlichkeit draußen wichtig. Die Offentlichkeit hat Gelegenheit, von dieser Stelle aus die Beweggründe unserer Maßnahmen, der notwendigen Maßnahmen, zur Kenntnis zu nehmen. Sie kann verstehen, warum Sicherheit und Verteidigung viel Geld kosten, aber auch, daß wir uns seit 25 Jahren erfolgreich für die Bewahrung des Friedens eingesetzt haben und dies auch weiter tun werden.Wir Freien Demokraten würden es begrüßen, wenn wenigstens in diesem wesentlichen politischen Sachbereich Einklang bestünde, statt sich, wie auch heute wieder erlebt, in kleinkarierter Parteipolemik zu verlieren. Unsere Sicherheit, unser Verteidigungsbündnis, das den 25. Jahrestag seiner Gründung begeht, und unsere Bundeswehr haben eine bessere Behandlung verdient.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion hat vorhin die Behauptung aufgestellt, daß unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten schlechter sei als je zuvor. Ich glaube, der geeignete Zeuge, über das Verhältnis zwischen uns und den Vereinigten Staaten zu sprechen, ist der amerikanische Außenminister Dr. Kissinger. Er hat zweimal in diesem Monat, nämlich am 3./4. März hier in Bonn und zuletzt am vergangenen Sonntag, auch vor der deutschen Öffentlichkeit, eine gegenteilige Feststellung getroffen,
nämlich die Feststellung, daß es keine bilateralen Probleme zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland gibt.
Ich darf zweitens hier feststellen, daß die Entspannungspolitik — und das heißt konkret: die Aufgabe für die Bundesrepublik Deutschland, in der Ostpolitik aktiv zu werden — einem Auftrag des Atlantischen Bündnisses vom Dezember 1967 im Harmel-Bericht entspricht. Die Regierung Brandt/ Scheel hat hier also im Sinne und im Auftrag des NATO-Bündnisses und damit auch im Sinne der europäischen Gesamtentwicklung gehandelt.
Schließlich ein Drittes. Es ist hier wiederholt unser Verhalten zur Nahost-Resolution und im Nahostkonflikt überhaupt kritisiert worden. Ich darf dem Kollegen von der CDU/CSU noch einmal in Erinnerung zurückrufen, was hier an dieser Stelle vor wenigen Tagen der Bundesaußenminister hierzu gesagt hat, damit ein für allemal klar ist, wie die Bundesregierung ihre europäische Verpflichtung in diesem Zusammenhang sieht und sehen muß. Es ist in der Tat widersprüchlich, wenn man ihr einerseits vorhält, sie tue nicht genügend für die europäische Zusammenarbeit, während man ihr andererseits vorwirft, sie habe sich am 6. November einem gemeinsamen europäischen Konzept verpflichtet.
Der Bundesaußenminister hat auf die Frage des Kollegen Kiep gesagt:
Ich stimme Ihnen zu, daß diese Erklärung in den Vereinigten Staaten
— gemeint war die Erklärung der neun europäischen Staaten vom 6. November —
auf Kritik gestoßen ist. Aber ich verteidige diese Erklärung, weil sie für die Europäische Gemeinschaft ein unbezweifelbarer Fortschritt ihrer gemeinsamen Entwicklung der Außenpolitik gewesen ist. Es steht auch nichts in dieser Erklärung, was etwa dem Inhalt nach der Meinung der Vereinigten Staaten widersprechen könnte, weil sie sich ganz auf Entscheidungen der UNO stützt, die auch von den Vereinigten Staaten akzeptiert werden.
Ich muß noch einen letzten Punkt anführen. Herr Kollege Wörner hat kritisiert, daß von dieser Regierung zuviel Energie auf die Ostpolitik und zuwenig Energie auf die europäische Zusammenarbeit verwendet worden sei. Die Tatsachen sehen so aus, daß erst nach dem Amtsantritt der Regierung Brandt/ Scheel durch die Konferenz im Haag der Beitritt Großbritanniens möglich wurde, der jahrelang blockiert war. Dieser Beitritt ist heute eine vollzogene Tatsache. Es sind also gerade in der Westpolitik entscheidende Fortschritte erzielt worden.
Daß diese westeuropäische Zusammenarbeit durch Umstände, die nicht die Bundesregierung zu verantworten hat, nicht so verläuft, wie wir sie uns immer gewünscht haben und auch künftig wünschen müssen, ist völlig unbestritten; aber die Bundesregierung ist der falsche Adressat für irgendwelche Art der Kritik.
Schließlich darf ich noch hinzufügen: Wenn es stimmte, daß wir im Sinne des Atlantischen Bündnisses, zur Entspannung beizutragen, in den letzten Jahren zuviel Energie auf die Ostpolitik verwendet hätten — das stimmt ja im Zusammenhang mit der Westpolitik nicht —, könnte es möglicherweise doch wohl daran liegen, daß frühere Regierungen zuwenig Energie auf diese notwendige Aufgabe verwendet haben.
Das Wort hat der Abgeordnete de Terra.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns bisher in der Debatte über das Weißbuch den Fra-
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de Terragen der Wehrstruktur und der Außenpolitik zugewandt. Wir haben aber dabei, wie mir scheinen will, den Fragen der inneren Verfestigung der Bundeswehr in unserer Gesellschaft etwas zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Es waren außer den Ausführungen im Weißbuch — die ich gleich noch in den Blick nehmen darf — zwei Äußerungen von Ihnen, Herr Minister Leber, die hier eine gewisse Begrenzung geben. Sie sagen auf der einen Seite, es ist uns noch nie so gut gegangen, wir waren noch nie so frei und wir haben noch nie so gesichert auf dem Boden des Rechts gestanden. Aber wenn Sie von dem Recht sprachen, hätten wir, so meine ich, sofort die Pflicht dazu in Bezug zu nehmen, weil gerade dieses Auseinanderklaffen von Recht und Pflicht in unserer Gemeinschaft, in unserer Gesellschaft mir manchmal bedenkliche Formen anzunehmen scheint.
Sie haben ein weiteres gesagt, Herr Minister Leber, das wir uns alle gut merken wollen, nämlich: „Wenn wir den politischen Gegner meinen und mit ihm sprechen, dann treffen wir mit unseren Worten die jungen Menschen, in Wirklichkeit treffen wir sie in die Brust; wir lösen Zweifel aus und zerren an den Wurzeln, die dort keimen und die das Gemeinwesen tragen, das Verhältnis des jungen Bürgers zum Staate nähren." Herr Minister Leber, ich hätte mir gewünscht, daß Ihre klare, sehr holzschnittartige und einprägsame Sprache auch diejenige des Kapitels über die Landesverteidigung und Gesellschaft im Weißbuch wäre. Sie ist es leider nicht.Nehme ich den ganzen Abschnitt in den Blick, so ist er merkwürdig distanziert, merkwürdig hohl und stellt vielfach Untersuchungen und Betrachtungen den Werturteilen gleich. Das ist etwas, was wir untersuchen, was wir erfragen müssen: Erstens, ist es wirklich so? Ist hier bewußt ein Rückzieher gegenüber den Aussagen früherer Weißbücher gemacht? Ist es wirklich so, daß man nicht mehr mit der ganzen Durchsichtigkeit das Verhältnis von Demokratie und Militär, das Verhältnis des Politischen und des Militärischen, das Verhältnis der Jugend zur Bundeswehr untersuchen will?Die Leitpunkte dieses Kapitels lassen einen hoffen. Man wird neugierig, das zu lesen; aber diese Neugierde wird nicht gestillt. Ich nehme, man könnte sagen, einen Nebenpunkt zunächst: Zu sprechen ist — so heißt die Überschrift — von Freiheit und Disziplin. Wenn man liest, dann findet man den Bezug zur Freiheit erst in den letzten Zeilen dieses Abschnitts. Zunächst wird man sehr trocken damit vertraut gemacht, daß Disziplin normgerechtes und normentsprechendes Verhalten ist, und in breiter Weise, vielleicht aber auch in zu großer Verkürzung wird versucht, funktionale Disziplin und Formaldisziplin, Amtsautorität und Haltungsdisziplin in Beziehung zu setzen. Hier wird versucht, Widersprüche zu lösen; diese Lösung gelingt nicht.Darf ich es anders fassen, darf ich sagen: Disziplin ist die gewissenhafte Erfüllung aller Pflichten und der vom militärischen Auftrag jeweils gestellten Forderungen; Disziplin ist die Voraussetzung für die Wirksamkeit in der Einzelfunktion und fürdie Zusammenarbeit im Team, in der Einheit und im Verband. Disziplin erleichtert das Zusammenleben, Disziplin festigt das Vertrauen der Gesellschaft in die Bundeswehr, Disziplin umfaßt Geist, Haltung und Form.
Das sind nicht meine Worte, sondern die Worte aus der zentralen Dienstvorschrift, und ich weiß nicht, warum Sie diese einprägsamen Formulierungen nicht im Weißbuch übernehmen.
In die gesamten Bereiche des öffentlichen Lebens würde das ausstrahlen, und ich meine, auch in Ihre Partei, Herr Minister, wenn wir sagen: Disziplin umfaßt Geist, Haltung und Form.
Wir sind manchmal von der Erfüllung dieser Voraussetzung weit entfernt.Wenn ich das also als Beispiel nehmen darf, so finde ich: hier wird nicht geantwortet auf die drängenden Fragen, die beantwortet werden müssen.In dem Schlagwort, das sich in dem Kapitel über die industrielle Gesellschaft und das Militär findet, wird alles auf den Nenner gebracht: „wohlwollende Indifferenz" und „passive Zustimmung". Es wird versucht, das in soziologischer Untersuchung aus der derzeitigen Gesellschaftsform zu entwickeln, aus Vergleichen mit Gesamtorganisationen, aus Zwangsläufigkeiten; es wird gefolgert aus der Unübersehbarkeit des Gesamtkomplexes der Gesellschaft, aus der Spezialisierung der Teilgebiete und damit der Distanzprobleme. Aber ich meine: die „wohlwollende Gleichgültigkeit" ist zu wenig.Noch schlimmer wäre es, wenn wir fragten: Ist das richtig? Ich würde dem Weißbuch unterstellen, daß es hier eben Untersuchungen und Vergleiche verwechselt hat mit dem Ergebnis, daß es eben nur gefragt hat. Denn ich meine: es ist nicht so. Denn wenn wohlwollende Indifferenz, wohlwollende Gleichgültigkeit, passive Zustimmung das Grundverhältnis unseres Bürgers zu seiner Bundeswehr, der Bundeswehr zum Staat, des Staates zur Bundeswehr wäre, wäre es schlecht um uns bestellt. Dann würden wir eben nicht mehr lange so gut, so frei und so sicher auf dem Boden des Rechts leben können, wie Sie, Herr Minister, es heute doch festgestellt haben.
Die Untergrabung jeder notwendigen Autorität des Staates bedeutet es, wenn ich „wohlwollende Gleichgültigkeit" als das Grundprinzip nehme. Das würde das Absterben der Verpflichtung, des Strebens bedeuten, Pflichten gegenüber dem Staat und der Gesellschaft zu erfüllen. Vieles würde verkümmern, und dies würde sich auf alle Gebiete des Staates ausdehnen.Bei der Wertung der erreichten Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft würde die Formulierung „wohlwollende Gleichgültigkeit" wieder ins Negative führen. „Wohlwollende Gleichgültigkeit" würde zwangsläufig die Minderung der Antriebs-
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de Terrakräfte in der Bundeswehr zur Folge haben, und wir würden, meine ich, nicht mehr überzeugend die Wehrpflicht begründen können, wir würden insbesondere nicht mehr überzeugend die Gewissensentscheidung des jungen Mannes bejahen und in den Bereich unserer Gesellschaft aufnehmen, der den Dienst mit ,der Waffe ableisten will. Die Gewissensentscheidung dieser vielen jungen Menschen, scheint mir, sollte in den Mittelpunkt gerückt werden.So bleibt also, daß dieses Kapitel „Landesverteidigung und Gesellschaft" im Weißbuch zerfließt, im Fragen bleibt, keine Antworten gibt, aber auch nicht Gründe aufführt, warum es so ist. Ihm fehlt das Kraftvolle, fehlt die gebändigte Glut der Leidenschaft an diesem Thema „Landesverteidigung und Gesellschaft",
ohne die es eine kraftvolle Verteidigung nicht geben kann. Wir können nicht die Verteidigungsbereitschaft wollen, den Verteidigungswillen fordern oder hervorrufen. Wir können nicht die getroffene Gesamtentscheidung der Gesellschaft zur Verteidigung als „wohlwollende Gleichgültigkeit" hinnehmen.
Dies ist doch der Punkt, nämlich diese Frage des Verhältnisses von Landesverteidigung und Gesellschaft, aus der allein die Leuchtkraft kommt, mit der Sie, Herr Minister Leber, dann die weiteren Fragen der Bundeswehr, seien es die Fragen der inneren Struktur, sei es der Aspekt der Außenpolitik, füllen können. Wenn dieser Boden schwankt, ist alle Politik nach innen und nach außen zum Scheitern verurteilt. Deswegen müssen Sie in diesem Kapitel eine entscheidende Antwort geben.
Herr Minister, mir scheint, daß hier eine Chance vertan worden ist, daß hier entscheidende Fragen nicht gestellt oder nicht beantwortet sind und daß sich dies zum Nachteil und zum Schaden des Ganzen auswirken muß.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Horn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen de Terra scheinen mir einen Fehlschluß zu bringen, und zwar dahin gehend, daß er den Begriff „wohlwollende Gleichgültigkeit", der im Weißbuch steht, als eine Art Identifizierung einer nüchternen Analyse mit der Auffassung der Regierung herstellt. Ich glaube, hier geht es doch um nichts anderes als um eine Analyse auf dem sozialen Feld. Diese Analyse ist eben die Voraussetzung, wenn wir ein anderes Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft bekommen wollen. Ich möchte jedenfalls eindeutig erklären, daß wir die Aussagen des Weißbuchs zu diesem Kapitel auf Grund der Sachlichkeit und derdarin enthaltenen Nüchternheit vorbehaltlos begrüßen.
Wer das Prinzip der Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft bejaht, der muß davon ausgehen, daß die Bundeswehr in ihrer Gesamtheit ein Spiegelbild dieser Gesellschaft ist, von der sie getragen wird. „Das politische Bewußtsein der Soldaten in einer Wehrpflichtarmee ist der politischen Bewußtseinslage der Gesellschaft kongruent. So spiegelt die Bundeswehr weitgehend alle Schattierungen politischer Meinungen wider, die in der Bundeswehr heute vertreten sind. Dabei gibt es auf der äußersten Rechten einige Fanatiker, die zum Glück in den Streitkräften ebensowenig tonangebend sind wie die Ultralinken. Beide Gruppen arbeiten totalitären Feinden der Demokratie in die Hände, die Rechte, indem sie Vorwände für mißtrauische Ablehnung der Bundeswehr liefert, und die Linke, indem sie politischen Drahtziehern in den Streitkräften Vorschub leistet.Zusammenfassend läßt sich zu den aufgezeigten Problemen sagen, daß der Grat, auf dem die Verfechter einer rechtsstaatlichen Demokratie wandeln, sicher schmal ist. Die Gefahren von rechts und links bestehen unaufhörlich."Ich habe Ihnen eben gerade ein Zitat mitgeteilt — ich darf Ihnen sagen, dies ist ein Zitat, dem ich vollinhaltlich zustimme , und zwar aus dem Buch: „Soldat und Demokratie — Probleme der politischen Bildung" von General Carl Gero von Ilsemann. Ich glaube, die Krisenjahre von 1966/1967 haben uns gerade im Sinne dieser Ausführungen gezeigt, wie innerhalb einer solchen Situation bisher nur latent vorhandenes antidemokratisches Potential aktiviert werden kann. Wir wissen ja, daß damals extreme politische Gruppierungen gleichsam wie Pilze aus der Erde schossen. Bezeichnend war es doch, daß die NPD in fast allen Landtagen, wenn auch nur für eine Legislaturperiode, vertreten war. Es spricht für ein hohes Maß an Naivität, anzunehmen, daß sich eine solche Lage, möglicherweise unter verschärften Auswirkungen, nicht wiederholen könnte.Allerdings muß anerkennend festgestellt werden: In der Bundeswehr hat sich in den letzten vier Jahren unter der politischen Führung der Sozialdemokraten eine bemerkenswerte gesellschaftspolitische Öffnung vollzogen.
Politisches Bewußtsein darf nicht befohlen werden. Aber die durchgeführten und in Gang gesetzten Reformen im Bereich der Bundeswehr führen zweifellos zu einem verstärkten staatspolitischen Verständnis bei den Soldaten.
Ich möchte Ihnen dies an einigen Beispielen verdeutlichen.Erstens. Ein großer Teil des Schrifttums für die Bundeswehr hat heute ein erheblich anspruchsvolleres Niveau erhalten und bietet bessere staatsbürgerliche Informationen. Verherrlichungen von antidemokratischen Kräften, wie sie von der Deutsch-
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Hornnationalen Volkspartei in der Weimarer Republik ausgingen, die durch ihr Bündnis mit den Nationalsozialisten immerhin zum Sturz der Weimarer Republik beitrug, halte ich augenblicklich für ausgeschlossen. Das ist allerdings früher geschehen.Zweitens. Die Reform des Ausbildungs- und Bildungswesens in der Bundeswehr ist in ihre erste konkrete Phase eingetreten. Trotz gezielter Diffamierungskampagnen hat sich Professor Ellwein mit seiner Konzeption durchgesetzt. Ihm und allen seinen Mitarbeitern aus dem zivilen und aus dem militärischen Bereich möchte ich hiermit noch einmal ausdrücklich den Dank der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion für die von ihnen geleistete Arbeit aussprechen.
Die CDU/CSU hat sich gerade auf diesem Gebiet lange Zeit als Bremser betätigt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an den 27-Punkte-Katalog der CDU, damals in den Anfängen am 8. März 1971, an die Attacken, die der Kollege Damm im „Allgemeinen Deutschen Sonntagsblatt" gegen die Bildungskonzeption vorbrachte, oder auch an Kommentare von Ihnen, die heißen: „Schließlich brauchen wir keine Ausbildungs- und Bildungskonzeption für die Abschaffung der Armee." Den Präsidenten der Hamburger Bundeswehrhochschule, Professor Dr. Eilwein, versucht die CDU/CSU durch Diffamierung auszuschalten. Ich zitiere:Ein sozialistischer Professor und seine entsprechenden Mitarbeiter sind Persönlichkeiten, die ein sehr gespanntes Verhältnis zu diesem Staat und seiner gegenwärtigen Struktur und zur Notwendigkeit des Unterhalts von bewaffneten Streitkräften haben.
Die Bundeswehr hat nach eingehender Information diese Reform in anerkennenswerter Weise mit vollzogen. Nach den vielen persönlichen Angriffen, auch gegen mich, aus Ihren Reihen, meine Damen und Herren von der Opposition, darf ich in diesem Zusammenhang auch einmal ein deutliches Wort der Klarstellung sagen. Ich bin zu einer Zeit wie ein politischer Handlungsreisender durch die Garnisonen und Hochschulen gezogen und habe informiert und für diese Reform geworben — ich habe auch manches einstecken müssen, wie das im politischen Leben eben notwendig ist —, als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, noch im Bremserhäuschen saßen und den Zug der Bildungsreform zum Stehen bringen wollten.Erst als sich die Bundeswehr in ihrer überwiegenden Mehrheit zu unserer Bildungskonzeption bekannte, sind Sie auf das letzte Trittbrett des fahrenden Zuges gesprungen. Ausgerechnet Sie haben den verwegenen Mut, jetzt nach Volldampf zu schreien und zu bemängeln, daß die Reformen nicht zügiger durchgeführt werden. Das ist Ihr Widerspruch; den müssen Sie aufklären.
Ich brauche in diesem Zusammenhang nur auf die neun Punkte des CDU/CSU-Antrages betreffend die Aus- und Fortbildung der Unteroffiziere zu verweisen. Wir haben ja im Ausschuß schon einiges gehört. Herr Staatssekretär Berkhan und auch ich haben dazu einiges klargestellt. Das war doch im Grunde nichts anderes als eine reine Kopie dessen, was oben im Hause erarbeitet wurde, das nun als Erstgeburtsrecht von der CDU/CSU verkauft werden sollte. Ich habe gar nichts dagegen, wenn die CDU/CSU echte Kritik übt. Nur muß sie auch entsprechende Alternativen aufstellen, Herr Lenz, und die CDU/CSU darf folgendes nicht machen: mit einer Kopie der Vorlagen, die unter unserer politischen Führung und mit den Militärs erarbeitet worden sind, hausieren gehen und das als ihr eigenes Konzept verkaufen.
Wenn schon, dann müssen wir uns auf eine andere Sprachregelung verständigen, nämlich auf die entsprechende von Bert Brecht. Bitte, wenn Sie der Auffassung sind, daß es keinen geistigen Diebstahl gibt, kann man sich darüber unterhalten. Nur kann ich dann etwas nicht machen: ich kann nicht auf der einen Seite nach dem Prinzip eines marxistischen Dichters vorgehen und auf der anderen Seite diesen Marxisten ständig verteufeln.
Ich erinnere weiter daran, daß Minister Leber am 10. August 1972 die ZdV 10/1, „Hilfen für die Innere Führung", auf den Weg gebracht hat und daß am 29. Januar 1973 von Georg Leber die ZdV 12/1, „Politische Bildung in der Bundeswehr", in Kraft gesetzt wurde. Diese und andere Maßnahmen tragen zweifellos dazu bei, die Anbindung der Soldaten an den demokratischen Verfassungsstaat zu verstärken.Wer davon ausgeht, die Bundeswehr vertrage keine Kritik und in ihr sei alles hundertprozentig in Ordnung, stilisiert sie, ob er will oder nicht, zu einer Einrichtung „sui generis". Dann stünde sie nämlich außerhalb der Gesellschaft. Das wäre nicht nur für die gesamte Gesellschaft, sondern auch für die Bundeswehr außerordentlich schädlich. Die meisten Soldaten der Bundeswehr sind viel selbstbewußter und haben ein viel stärkeres Selbstdarstellungsvermögen, als ihnen von manchen zugestanden wird. Die selbsternannten Schützer der Bundeswehr stellen der Bundeswehr im Grunde genommen ein schlechtes Zeugnis aus, indem sie die Soldaten wie unmündige Kinder behandeln. Was Kirchen, Gewerkschaften, Industrielle, Lehrer und Wissenschaftler an öffentlicher Kritik aushalten müssen, können auch unsere Soldaten in der freien Diskussion ertragen.Wer davon ausgeht, daß die Bundeswehr keine geschlossene Gesellschaft bildet, sondern eben ein echtes Spiegelbild dieser Gesellschaft darstellt — wie anders könnte sie denn sonst die Verteidigungsbereitschaft für diesen Staat und diese Gesellschaft aufbringen? —, muß Stärken und Schwächen, die verfassungsmäßigen Wertbindungen und auch die Konfliktfelder einbeziehen.
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HornMeine Damen und Herren, Ihre Agitation in dieser Hinsicht erinnert mich manchmal an das Motto „Haltet den Dieb!" Denn im Grunde genommen sind es doch ein Teil Ihrer politischen Leichen, die da im Keller gelegen haben. Ich will keine Namen nennen, um das nicht erneut zu diskutieren. Aber Sie wissen es doch ganz genau — um das an wenigen Beispielen anzuführen —: Als etwa in der Hamburger Führungsakademie das schlimme Wort fiel, die Innere Führung sei eine Maske, die man vom Gesicht reißen müsse, wurde politisch nichts unternommen, wenigstens nichts, das zu klaren Konsequenzen geführt hätte. Der Wehrbeauftragte, ein Verfassungsorgan, wurde als ebenso „schädlich wie überflüssig" bezeichnet. Ich erinnere daran, daß — —
— Ich will Ihnen, Herr Kollege Rommerskirchen, folgendes sagen. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Berkhan hat damals als Parlamentarier politische Konsequenzen gefordert.
Aber nichts geschah unter Ihrer politischen Führung.
Ich will auf andere Dinge nicht eingehen; ich bin gegebenenfalls bereit, das hier noch darzustellen.Ich möchte Ihnen klar sagen, wir Sozialdemokraten und — hiervon bin ich überzeugt auch alle liberal denkenden Bürger in unserem Staat haben dazu eine ganz klare Auffassung, einschließlich der eindeutigen Mehrheit auch unserer Soldaten aller Dienstgrade. Zur Darlegung dieser Auffassung fühle ich mich ermächtigt, weil der Deutsche Bundeswehrverband in einer Presseerklärung vom 15. März 1974 folgendes feststellt ich zitiere —:In Fortsetzung eines früheren Gespräches erläuterte MdB Horn seine Ausführungen zum gesellschaftspolitischen Standort der Bundeswehr, wobei noch bestehende Mißverständnisse ausgeräumt werden konnten.An Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, liegt es nun, Ihre Position zu klären.
Wir lassen uns von Ihnen weder die konkreten Inhalte unserer äußeren Sicherheitspolitik noch die geistigen Grundlagen zerreden und zerfaseln. Sie müssen ja sagen oder entsprechende Alternativen aufstellen.
Wir Sozialdemokraten haben eine schlüssige Verteidigungskonzeption, und zwar auch gerade in bezug auf das hier erwähnte Feindbild. Wir wissen, Herr Kollege de Terra, daß heute die Probleme in dem von Ihnen genannten Kontext der Bundeswehr in einer modernen Industriegesellschaft natürlich brennender werden. Das ist gar keine Frage. Wir wissen, daß sich auf der einen Seite ein größerer Problemdruck in vielfältiger Hinsicht ergibt, der etwa das sichtbar macht, was in den zwei großenAlternativen dargestellt wurde. Ich will hier nicht Ludwig von Friedeburg mit seiner Theorie der Unvereinbarkeit von modernem Industriestaat und bewaffneter Streitmacht zitieren. Wir wissen, daß Fritz Erler 'eine ganz klare Gegenposition in bezug auf die Armee aufgestellt hat, daß es keine demokratische Armee, aber eine Armee in einer Demokratie gibt. Ich glaube, daß diese Armee in einer Demokratie natürlich anders strukturiert ist als eine Armee in einer Diktatur, in einer Monarchie oder in einem anderen Staatsgebilde, ist uns allen klar. Es muß uns darum gehen, daß die Bundeswehr wie auch die junge Generation nicht von einer Entwicklung abgehängt werden können, sondern daß das Problem Bundeswehr in die gesamte Entwicklung technischer, wissenschaftlicher Art mit einbezogen werden will, wenn sie nicht einen Anachronismus in dieser Gesellschaft bilden soll. Das ist im Grunde das Problem.
Wir Sozialdemokraten haben, wie gesagt, eine schlüssige Verteidigungskonzeption. Der Verfassungsauftrag für die Bundeswehr gerade hinsichtlich der Feindbilddarstellung lautet eindeutig, die Bundesrepublik Deutschland vor militärischer Bedrohung und politischer Erpressung zu schützen. Wir benötigen dazu kein ideologisch fixiertes Feindbild. Ich wiederhole auch ganz klar und ,deutlich: ein amtlich verordnetes, ideologisch fixiertes Feindbild hat es zweifellos in der Bundeswehr noch nie gegeben.
Aber Relikte sind genau wie in der übrigen Gesellschaft — sonst würden Sie wieder diese Ausnahmesituation statuieren — selbstverständlich auch da vorhanden. Würden wir das nicht anerkennen, so würden wir uns selbst etwas vormachen; das ist doch wohl ganz logisch.Sehr präzise hat übrigens der erste militärische Berater von Bundeskanzler Dr. Adenauer dieses Problem damals im Zusammenhang mit der Diskussion über die Denkschrift der Hauptleute von Unna in einer Leserzuschrift im „Spiegel" dargestellt. Ich kann in diesem Zusammenhang nur empfehlen, diese ausgezeichneten Ausführungen von General a. D. von Schwerin der Truppe und allen Interessierten als Informationsmaterial zugänglich zu machen.Die Notwendigkeit — ,das ist im Grunde der Tenor ,der Aussagen — einer vernünftigen Verteidigungspolitik leitet sich nicht von dem Grad ideologischer Verhärtung zwischen Ost und West, sondern von der Möglichkeit militärischer Bedrohung durch ,die Stärke eines potentiellen Gegners ab. Dabei ist es selbstverständlich das Ziel unserer Entspannungspolitik, durch den Abbau ideologischer Konfrontationen die Herstellung eines politischen Klimas der Verständigung zu erreichen, die Gefahr des militärischen Konflikts zu vermindern und eine beiderseitige Abrüstung einzuleiten.Die Bundeswehr hat in diesem Zusammenhang eine große politische Aufgabe in unserem Staat. Ihr Auftrag ist es, wie es der Bundespräsident einmal formulierte, zu verhindern, daß uns Gewaltlösun-
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Horngen von fremder Seite aufgezwungen werden. Die innere Struktur der Bundeswehr muß deshalb so beschaffen sein, daß sie Staat und Gesellschaft als verteidigenswert anerkennt, und die Gesellschaft ihrerseits muß diese unabdingbar notwendige Funktion der Bundeswehr in allen Bereichen achten. Deshalb darf die Bundeswehr, wenn sie den Anschluß an die Gesamtentwicklung weiterhin behalten soll, zur Erfüllung dieser Aufgabe weder utopische Heilsarmee noch ein konservatives Museum werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graaff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zu der hier bisher gelaufenen Diskussion einige Anmerkungen — einer Diskussion, die, so möchte ich sagen, meine politischen Freunde und mich gelegentlich etwas stutzig gemacht hat. Wenn ich höre, daß der Kollege Wörner den Bundesverteidigungsminister ob seines Bekenntnisses zur Bundeswehr und zur Verteidigungsbereitschaft lobt, um dann im gleichen Atemzuge zu kritisieren, daß die gleiche politische Repräsentanz, nämlich die SPD, alles tue, um in der Schule jede Möglichkeit einer vernünftigen Diskussion der Verteidigungsbereitschaft in Frage zu stellen,
so scheinen mir hier zwei kontroverse Dinge — etwas Lobendes und etwas Kritisierendes in eine einzige Behauptung hineingestellt zu sein.
— Wir haben auch nicht vom Kultusminister gesprochen,
sondern von dem Herrn Bundesverteidigungsminister Leber. — Ich bin nicht im Niedersächsischen Landtag. Wir sprechen hier über den Bundesverteidigungsminister und nicht über den niedersächsischen Kultusminister.
— Moment, davon haben doch Ihre Kollegen hier gesprochen, daß dem Bundesverteidigungsminister der Vorwurf gemacht werde, die SPD täte nicht genug, um die Verteidigungsbereitschaft in den Schulen zu wecken.
Das ist ja wohl jetzt nicht hier Aufgabe dieses Hauses. Ich würde mich darüber, meine Damen und Herren, gar nicht so aufregen. Ich habe doch nur festgestellt, was Sie hier behaupten, und ich wollte Ihnen darauf ja nur antworten: Sehen Sie sich docheinmal die Schriften an, die die Bundeswehr laufend veröffentlicht!
— Bitte? Moment, diese Schriften werden doch ausreichend und in großer Zahl verteilt, und nirgendwo ist darin etwas zu finden, was Ihre Behauptungen rechtfertigen könnte, die Jugend würde bewußt aus ,der Verteidigungsbereitschaft, die sie sowieso nicht hätte, ferngehalten.Ich kann auch nicht der Theorie 'zustimmen, ,die dahin geht, es würde Verteidigungspolitik nach dem Motto betrieben: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein! Wer, meine Damen und Herren, hat denn etwas Derartiges von uns und von der Regierung jemals gesagt?! Das sind doch Unterstellungen, die nirgends belegt werden können. Wenn Sie aufmerksam zuhören und wenn Sie die Diskussionen im Verteidigungsausschuß verfolgt haben, dann wissen Sie doch, daß wir uns alle gemeinsam Sorge um die Einheit im Bündnis machen. Es ist nur die Frage, ob es sehr sinnvoll ist, solche Sorgen in aller Offentlichkeit und auf ,dem Markt zu diskutieren.
— Moment! Nicht nur hier, das wird ja auch anderwärts von Ihnen behauptet, und ich beklage nur, daß das in einer Öffentlichkeit diskutiert wird, die den Bemühungen um eine Einheit im Bündnis mit Sicherheit nicht förderlich ist.
Meine Damen und Herren, Herr de Terra hat dann beklagt, daß das Weißbuch mit viel zuviel Nüchternheit belastet sei. Ich erinnere mich an Zeiten, wo wir es mit Emotionen gemacht haben. Ich bin nur nicht sicher, daß diese Zeiten für uns heute besser wären, als wenn wir nüchtern und sachlich diskutieren.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Wörner hat dann die Behauptung und die Feststellung, wie er meint, getroffen: Der Osten wird immer stärker, und der Westen wird immer schwächer. Ich will einmal dahingestellt sein lassen, inwieweit das überhaupt zutreffend ist; aber die Forderung, das müsse die Regierung dem Volke sagen, scheint mir nun doch etwas über das hinauszugehen, was man verantworten kann.
Ich bin nicht der Meinung, daß wir Verteidigungspolitik auf der Straße verkaufen sollten. Das wäre verantwortungslos. Das würde auch unserer Verteidigung — —
— Es hat sich hier um die Verteidigungspolitik und nicht um die Bereitschaft gehandelt. Es hat sich hier um Feststellungen über militärische Stärken in Ost und West gehandelt, die zur Diskussion standen, und nicht um das, was man vielleicht oder selbstver-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5933
Graaffständlich in der Jugenderziehung zur Weckung der Verteidigungsbereitschaft tun könnte. Das kann man aber nicht mit defätistischen Äußerungen in der Öffentlichkeit tun, wie sie von Herrn Wörner gerne gehört werden:
Wir sind schwach, und die anderen werden immer stärker, und wir brauchen uns im Grunde schon gar keine Sorgen mehr um unsere Zukunft zu machen, denn die haben wir mit dieser Verteidigungspolitik — so wollte man es doch wohl gerne darstellenschon verspielt.Meine Damen und Herren, nun eine letzte Bemerkung. Der Herr Kollege de Terra hat sich darüber beklagt, daß das Weißbuch in voller Nüchternheit Tatsachen und Fakten aufzählt, die zu unserer Verteidigungspolitik notwendig sind und die wir kennen sollten. Ich möchte davor warnen, in einem militärischen Weißbuch mit Emotionen arbeiten zu wollen. Das hat uns schon einmal ganz gehörig geschadet.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Löher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Horn, Sie wollen Öffnung für Demokratie bei der Bundeswehr seit 1969 festgestellt haben. Diese Feststellung scheint mir doch etwas suspekt zu sein, wenn ich Ihre Ausführungen hierüber schon wiederholt habe lesen können. Aber dazu wird noch einer meiner Kollegen Stellung beziehen.Lassen Sie mich hier zunächst einmal darauf aufmerksam machen, daß der Deutsche Bundestag sich in dieser Legislaturperiode zu den verteidigungspolitischen Fragen erstmalig in dieser Breite äußert, und zwar an Hand des Weißbuches 1973/74. Ein unbefangener Bürger könnte daraus leicht den Schluß ziehen, die Verteidigungspolitik, die wir gemeinsam hier vertreten sollten, nehme nicht mehr den Rang in der politischen Wertskala ein, wie es in den 50er und 60er Jahren der Fall war. Dennoch, meine Damen und Herren, ist der Auftrag, den dieses Hohe Haus der Bundeswehr erteilt hat, nach wie vor gültig, ein Auftrag, der nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als den Frieden militärisch zu sichern und unser Land im Falle einer Aggression von außen militärisch zu verteidigen.
Auch die Voraussetzungen hierfür sind, so meine ich wenigstens, die gleichen geblieben, die sie in dem Zeitraum waren, den ich bereits nannte, und zwar:Erstens. Die NATO bleibt uns als unabdingbare Grundlage der Verteidigungspolitik erhalten.Zweitens. Das Verbot eines Angriffskrieges, wie es das Grundgesetz festlegt, ist weiterhin für uns Verpflichtung.Drittens. Unser Verzicht auf atomare Waffen wird nicht aufgehoben.Viertens. Die Präsenz der verbündeten Streitkräfte in der Bundesrepublik ist sichergestellt.
Wenn aber diese Voraussetzungen, die ich soeben aufgezählt habe, heute noch gültig sind, dann bedeutet das für mich wenigstens, daß sich die Bundesrepublik für den Fall, daß sie militärisch angegriffen wird, a priori als Kriegsschauplatz versteht, wenn ich eine mögliche Situation einmal etwas vereinfacht darstellen darf. Wenn das aber so ist, dann wird es zwangsläufig für die Bundeswehr von Bedeutung sein, ob sie sich im Rahmen der NATO auf das Vertrauen und auf die Unterstützung der eigenen Bevölkerung verlassen kann,
weil die mögliche militärische Verteidigung in deren Mitte stattfindet. Soll diese Verteidigung aber erfolgreich sein, ist ein Zusammenwirken zwischen Bundeswehr und Bürgern, zwischen militärischer und ziviler Verteidigung, unerläßlich.Hier muß ich mich heute, im Jahre 1974, allen Ernstes fragen: Kann man diese Einsicht bei allen Betroffenen, bei den Soldaten und auch bei einem großen Teil der Bevölkerung, voraussetzen?Bei der Beantwortung dieser für unsere freiheitliche Existenz wichtigen Frage kommen mir in der Tat Zweifel, auch was den militärischen Bereich angeht. Ich stelle dies hier fest, auch wenn ich erneut den Unmut eines Teils dieses Hauses hervorrufe. Im Weißbuch ist zu lesen, daß die Fusion von Feldheer und Territorialheer fortgeführt werden soll. Diese Fusion wird u. a. damit begründet, sie würde entweder die Effizienz bei gleichen Kosten steigern oder bei gleicher Effizienz eine Kostenersparnis ermöglichen.Nun sieht die neue Wehrstruktur, die ja noch zu diskutieren und daher noch nicht gültig ist, zwar eine Verschmelzung von Kommandobehörden des Feldheeres und des Territorialheeres vor. Doch wird mit diesem Weißbuch, so meine ich, etwas präjudiziert, was das Parlament während der Diskussion einer neuen Wehrstruktur als nicht zweckmäßig und daher nicht als wünschenswert ansehen könnte,
auch wenn es zu Kostenersparnissen führt, was nach meiner Meinung noch fraglich sein dürfte.Auch die Stellungnahme des Herrn Ministers von heute morgen hat mich nicht vom Gegenteil zu überzeugen vermocht. Denn, Herr Minister, hat sich die militärische Lage tatsächlich geändert? Wir haben doch nach wie vor damit zu rechnen, unerwartet militärisch besetzt oder überfallen zu werden. Oder, Herr Minister, gehe ich von einer nicht mehr zeitgemäßen Lage aus? Wenn ich aber noch davon ausgehen muß, dann ist für mich eine perfekte Verteidigungsorganisation eine Notwendigkeit, und zwar auch im Interesse derjenigen, die mich hierhergeschickt haben. Gerade der Oktoberkrieg im Na-
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5934 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Löherhen Osten — hier stimme ich Ihnen zu, Herr Minister — hat erneut bewiesen, daß selbst bei erhöhter Wachsamkeit und bei gut organisierter Abwehrbereitschaft jederzeit die Gefahr eines überfallartigen Angriffs besteht. Diese Erkenntnis, meine Damen und Herren, sollte uns eine ständige Warnung sein.Es ist sicherlich nicht unsere Aufgabe als Parlament, ein militärstrategisches Konzept zu entwikkeln. Wir haben aber politisch Weichen zu stellen, die eine optimale Verteidigung dahin lenken, daß ein möglicher Angriff auch ohne NATO-Truppen abgewehrt werden kann. Dazu benötigen wir jedoch eine das ganze Land erfassende national verbleibende militärische und zivile Verteidigungsorganisation, wie sie noch im Weißbuch 1971/72 als dringend erforderlich zu finden ist. Diese territoriale Verteidigung soll den unmittelbaren Schutz der eigenen Bevölkerung und deren lebenswichtigen materiellen Grundlagen wahrnehmen, sie soll aber auch zur Unterstützung der NATO-Truppen eingesetzt werden.Wenn wir bisher von zwei Säulen, die unsere Verteidigung tragen, ausgegangen sind, einmal der Säule NATO-Verteidigung mit allen Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Allianz, sowohl auf dem militärischen als auch auf dem zivilen Sektor, zum anderen der Säule der nationalen Verteidigung, die die gesamten militärischen und zivilen Verteidigungsanstrengungen der Bundesrepublik in national verbleibender Verantwortung umfaßt, dann muß ich mich doch fragen, wenn ich das Weißbuch richtig gelesen habe: Was hat sich denn bis heute geändert, wenn zukünftig Kommandobehörden, die bisher den Kontakt zu der Zivilen Verteidigung zu halten hatten, z. B. zu den Länderregierungen, für unsere Verteidigung nicht mehr benötigt werden? Soweit mir bekannt ist, haben diese Zweiteilung doch alle NATO-Partner gemeinsam. Ich meine die territoriale Verteidigung mit dem Territorialheer und mit der zivilen Verteidigung.Ich muß Sie weiter fragen: Kann die auch militärisch erforderliche Zivilverteidigung ohne diese Kommandobehörden, die ich gerade aufgezählt habe, auskommen?
An Hand des Weißbuches ist für mich die nationale Verteidigung mit ihrem militärischen, aber auch mit ihrem zivilen Teil immer noch eine zwingende Ergänzung der Verteidigung im Rahmen des NATO-Bündnisses. Ich darf Sie nur daran erinnern, daß es bis heute mit zu ihren Aufgaben gehörte, z. B. dafür Sorge zu tragen, daß die Bundesregierung, daß aber auch die Länderregierungen jederzeit die notwendigen Informationen erhalten, um verantwortlich Regierungsentscheidungen rechtzeitig und folgerichtig treffen zu können.Meine Damen und Herren, ich will Ihnen nicht im einzelnen aufzählen, was nach meiner Meinung, aber auch nach Meinung meiner politischen Freunde zu einer territorialen Verteidigung gehört und auch weiterhin gehören muß. Das sollte einer späteren Diskussion über die neue Wehrstruktur vorbehaltenbleiben. Ich wollte mit meinem Beitrag in der gebotenen Kürze lediglich darauf aufmerksam gemacht haben, daß die territoriale Verteidigung für uns kein zweitrangiger militärischer Bestandteil des Heeres ist, sondern ein gleichwertiger Gesprächspartner, der von der Aufgabenstellung her die besondere Befähigung hat, aus der genauen Kenntnis militärischer Erfordernisse und Planungsvorstellungen der Streitkräfte einerseits und aus den sich damit für die deutsche Bevölkerung ergebenden Folgerungen andererseits die zivil-militärische Mittlerrolle wahrzunehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pawelczyk?
Bitte!
Herr Kollege, darf ich Sie fragen, ob das, was Sie in diesen zehn Minuten vorgetragen haben, das Konzept der Opposition wiederspiegelt.
Davon können Sie ausgehen, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, besonders von der Schnelligkeit und von der Reibungslosigkeit der personellen und materiellen Mobilmachung des Territorialheeres, die im Frieden gründlich vorbereitet und geübt werden muß — und, Herr Minister, ist das bereits bis heute geschehen? —, hängt aber für uns sehr entscheidend die Voraussetzung für die Möglichkeit ab, ob die NATO-Streitkräfte in unserem Lande überhaupt und, wenn es sein muß, in welchem Umfang sie frei operieren können, um ihren Auftrag zu erfüllen.Ein weiteres Thema, das ich im Rahmen der Weißbuch-Debatte noch gern — wenn auch nur mit einigen Sätzen — ansprechen möchte, gilt den Reservisten der Bundeswehr als integrierendem Bestandteil unserer Verteidigung. Was das Weißbuch hierüber aussagt, ist nicht viel und darüber hinaus noch enttäuschend. Bei einem 255 Seiten starken Werk weist der Herr Bundesminister der Verteidigung mit insgesamt 32 Zeilen auf den großen Einfluß des Einsatzwertes z. B. der Alarmreserve bezüglich der Kampfkraft unserer Streitkräfte oder auf die Bedeutung der Mob-Übungen geschlossener Einheiten, hier besonders wieder für Reservisten von Geräteeinheiten kurz hin.Diese Feststellungen, Herr Minister, müssen aber unglaubwürdig bleiben, wenn jede Erklärung über die inzwischen gesammelten Erfahrungen mit der wichtigen, im Weißbuch 1971/1972 angesprochenen und im Rahmen der seinerzeit von dem damaligen Bundesverteidigungsminister Schmidt im Zusammenhang mit der Verkürzung des Wehrdienstes
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5935
Löhervon 18 Monaten auf 15 Monate herausgestellten dreimonatigen Verfügungsbereitschaft fehlt. Hier vermisse ich einfach die handfesten Aussagen. Wenn diese Aussagen vorliegen, werden wir Ihnen, Herr Kollege Buchstaller, auch sagen können, was wir gerade in dieser Frage zu sagen haben.
Meine Damen und Herren, gerade der Frage der Reservisten schenken wir wegen ihrer großen Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, für die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr im Frieden, während einer Spannungszeit und im Verteidigungsfall unsere ganz besondere Aufmerksamkeit. Dies gilt zwangsläufig betont für das Heer, da dieses die überwiegende Mehrzahl der Reservisten der Bundeswehr ausbildet. Die Wirksamkeit einer erfolgreichen Verbindung der aktiven Truppe mit der Gesellschaft durch ausgebildete Reservisten im Frieden ist für uns eine Voraussetzung für die Effektivität unserer Verteidigungsbereitschaft. Aus diesem Grunde unterstützen wir die Bemühungen, den Soldaten, d. h. den späteren Reservisten, durch geeignete Ausbildung und durch Erziehung und Bildung im militärischen Bereich eine gute Grundlage und eine Weiterbildung für ihr späteres Berufsleben mit auf den Weg zu geben. In diesem Zusammenhang sehen wir auch, daß die zivilberufliche Erfahrung der Reservisten in einer modernen Industriegesellschaft eine gute Voraussetzung für die militärische Ausbildung darstellt.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf die besondere Bedeutung dieser wechselseitigen Funktion in staatsbürgerlicher und auch in berufsbezogener Hinsicht hinweisen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dieses Thema mit dem Dank meiner Fraktion an die Reservisten für ihre große Einsatzbereitschaft bei MobÜbungen, bei freiwilligen Wochend-Einsätzen und bei wehrpolitischen Veranstaltungen schließen.
Die Reservisten verdienen unsere Hochachtung. Diesen Dank möchte ich aber auch an den Verband der Reservisten der deutschen Bundeswehr weitergeben, der mit seiner wertvollen Aufbauarbeit dazu beigetragen hat und weiterhin mit dazu beitragen wird — auch wenn die Mehrheit dieses Hauses ihm die finanziellen Mittel kürzen will —, bei den nicht mehr aktiven Soldaten das Verständnis für die Notwendigkeit der Verteidigung als eine Säule unserer Friedenssicherung zu erhalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Möhring.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir noch einmal eine Zusammenfassung einiger Schwerpunkte des Weißbuchs, die sowohl einige Strukturüberlegungen des „Modells 80" als auch die territoriale Verteidigung und das Problem der Wehrgerechtigkeit streifen soll.Die Gründe für die Strukturänderung in den 80er Jahren brauche ich hier nicht mehr eingehend zu wiederholen; Herr Minister Leber hat sie bereits ausgedeutet. In geraffter Form sind es 1. die veränderten NATO-Verteidigungskonzeptionen mit der Forderung nach Stärkung der konventionellen Kampfkraft, 2. die explosionsartig gestiegenen Kosten, und zwar auf der Betriebskostenseite zu Lasten der Investitionen, 3. die NATO-Forderung nach 36 Präsenzbrigaden und 4. die notwendigen neuen Führungsorganisationen. Auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht wird also der Friedensumfang unserer Streitkräfte weiterhin 495 000 Soldaten betragen. Aber von ihnen befinden sich dann 30 000 im Status von Urlaubern, d. h. in Verfügungsbereitschaft. Sie können ohne Formalitäten auf ihre Dienstposten zurückberufen werden.Ich will nicht mehr auf die „schlankeren" Verbände, auf ihre höhere Kampfkraft und den kostensenkenden Effekt eingehen. Ich will aber andeuten, daß die Grundwehrdienstdauer nach wie vor 15 Monate betragen muß und daß ein weiteres Absenken nicht zu verantworten ist, weil sich der Anteil der Längerdiener dann überstark erhöhen würde. Die Konsequenz wären unverantwortlich hohe Personalkosten.Mein Herr Vorredner ist bereits auf die Vollendung der Fusion des Feld- und des Territorialheeres eingegangen. Gemeinsame Aufgaben werden in der Bundeswehr zentral wahrgenommen, d. h. die bisherige Wehrbereichsebene wird in die Generalkommandos eingebettet.Moderne und vereinfachte Waffensysteme sollen beschafft werden. Sie sollen in erster Linie der Panzer- und Flugabwehr dienen. Es handelt sich dabei um betont hochwirksame Verteidigungswaffen.Die Lufttransportkapazität ist zu reduzieren, und die Reserveflotte der Marine wird aufgelöst. Ich begrüße zudem das raumdeckende Sanitätsdienstnetz, das dann auch den Verbündeten in der Bundesrepublik zur Verfügung stehen kann.Soweit noch einmal punktuell die entscheidenden Aussagen der neuen Wehrstruktur.Die voreilige Kritik der Opposition, die ihre generelle Zustimmung eigentlich nicht versagen möchte, ist, wie ich meine, zum Teil doch sehr vordergründig.Der Befürchtung des Kollegen Wörner, daß unsere Verbündeten Zweifel wegen eines Präsenzabbaus zum falschen Zeitpunkt anmelden könnten, muß ich nach zwei Richtungen hin widersprechen. Erstens handelt es sich nicht um einen Präsenzabbau; die Truppe ist auch ohne die verfügungsbereiten Soldaten sofort präsent. Zweitens ist die Befürchtung, daß die NATO hier ihre Bedenken anmelden könnte, bereits dadurch widerlegt, daß die Generalinspekteure des Militärkomitees und der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte in Europa, SACEUR, ihre positive Haltung zu diesem Strukturmodell 80 geäußert haben. Meines Wissens will im Juni dieses
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5936 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
MöhringJahres auch das Defence Planing Committee — DPC — die gleiche Haltung einnehmen.Wir sind nicht vermessen genug, zu glauben, daß neue Denkmodelle sofort alle Probleme aus der Welt schaffen könnten. Deshalb werden wir die anstehenden Probleme auch sehr behutsam und kontinuierlich lösen. Wir haben bis 1977/78 dazu Zeit. Wie uns bekannt ist, sind bereits 20 Studien zu Einzelfragen in Arbeit, mit denen uns hier im Parlament Entscheidungshilfen gegeben werden sollen.Ein auf den ersten Blick nachdenklich stimmender Einwand des Kollegen Dr. Wörner, die Einberufung der 30 000 Verfügungsbereiten könnte als Teilmobilisierung verstanden werden und damit eskalierend wirken, ist nicht haltbar. Minister Leber ist in seiner Eingangsrede bereits darauf eingegangen. Es wird ausdrücklich festgestellt, daß die Rückberufung der Verfügungssoldaten durch den Verteidigungsminister zu erfolgen hat, daß es sich also um eine Maßnahme im Frieden handelt. Mobilmachungsmaßnahmen können bekanntlich nur durch den Bundeskanzler, der im Verteidigungsfall die Befehlsgewalt übernimmt, ausgelöst werden. Im übrigen werden damit nicht nur die Soldaten kurzfristig in Übung gehalten, sondern die Öffentlichkeit soll verstärkt davon Kenntnis nehmen. Sie wird sich daran gewöhnen, daß es sich hierbei um einen normalen Vorgang handelt.In diesem Zusammenhang möchte ich mich mit der kritischen Bemerkung des Herrn Dr. Wörner auseinandersetzen, daß die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt keine ausreichende Entschlossenheit beweisen würde. Herr Dr. Wörner, ich sehe in dieser Behauptung, die sehr früh erfolgt ist, nämlich in einem Beitrag der Zeitschrift „Loyal" am 2. Februar 1974, eine Diskriminierung des internationalen Ansehens unserer Bundesrepublik und ich sehe darin die Gefahr, daß der Effekt ausgelöst werden kann, die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit unserer Bundesregierung gegenüber den Verbündeten herabzusetzen.
Das könnte katastrophale Folgen haben, weil hier dem Warschauer Pakt genau in die Hände gearbeitet wird.
Wir werden es ab 1976 mit einem Problem zu tun haben, das man als Wehrgerechtigkeit bezeichnet. Solange wir die allgemeine Wehrpflicht haben, bleibt diese ein Begleitproblem. Noch ist es uns gelungen, trotz Herabsetzung der Grundwehrdienstdauer von 18 auf 15 Monate 75 % aller Tauglichen eines Musterungsjahrgangs einzuberufen. Wir haben dabei allerdings die Musterungskriterien geändert. Dies wird ab 1976 bei den stärkeren Geburtenjahrgängen problematisch. Das Bundeskabinett hat daher einen interministeriellen Ausschuß berufen, der unter Vorsitz des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem erarbeiten soll. Ich bitte also die kritische Opposition um Geduld. Wir haben dieses Problem gesehen und sofort in Angriff genommen. Die Nervosität der CDU/CSU ist also vorerst grundlos.Um unsere Streitkräfte auf den Verteidigungsumfang von 1,2 Millionen Soldaten zu bringen, mils-sen 705 000 Reservisten einberufen werden. Dies geschieht nicht nur in den drei Teilstreitkräften, sondern, wie der Herr Vorredner bereits richtig andeutete, überwiegend in der Mob-Komponente. Sie dient in erster Linie dazu, die territoriale Verteidigung der Bundesrepublik sicherzustellen. Aber ihre vorrangigen Aufgaben sind, die Operationsfreiheit der NATO herzustellen, die personelle und materielle Ergänzung sicherzustellen, die Feldtruppen zu versorgen, andere Bedarfsträger im Pilot-Dienst zu unterstützen und durch die präsenten Verbände der Heimatschutztruppe und die aufgefüllten Kaderverbände der Jägerbrigaden und der Sicherungskompanien des Territorialheeres den Objektschutz und den Kampf gegen feindliche Kräfte im rückwärtigen Gebiet aufzunehmen. Deshalb habe ich mich über die Argumentation meines Herrn Vorredners gewundert, der da meint, die Bundesrepublik Deutschland könne in diesem territorialen Bereich mit nationalen Kräften die Heimatverteidigung aufnehmen. Dies genau ist falsch. Die territoriale Komponente bleibt zwar unter nationalem Kommando. Sie steht aber natürlich in engster Verzahnung mit den hier auf unserem Boden operierenden verbündeten Präsenzverbänden. Wenn dies nicht der Fall wäre, dann würden wir ein Argument verstärken, das oft fälschlicherweise in der Öffentlichkeit entsteht: „Bundeswehr gegen Warschauer Pakt ist ja sinnlos". Genau das darf nicht bestätigt werden. Wir dürfen die territoriale Komponente nicht aus dem Gesamtverband unserer Verteidigung herauslösen.Jetzt noch ein Wort zur sinnvollen Reservistennutzung. Die Bedeutung der Reservistennutzung im Sinne einer sparsamen Verwendung von Steuermitteln und einer sinnvollen Ausbildung zur Auftragsdurchführung wird von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion vorbehaltlos bejaht, meine Damen und Herren. Allerdings werden wir jedesmal, wenn uns Finanzforderungen vorgelegt werden, über die wir zu entscheiden haben, diese Ansätze an den Kriterien messen, die ich eben aufgezeigt habe. Das wird so lange geschehen müssen, bis eine neue Wehrstruktur aufzeigt, wo Aufgabenstellung und Position der Reservisten — und unter ihnen auch des „Verbandes der Reservisten der deutschen Bundeswehr e. V." — liegen. Es kann sein, daß die Position sich — was grundlos befürchtet wird, weil noch keinerlei Anhalt dafür vorliegt — vermindert. Es kann genau so sein, daß diese Position sich verstärkt.
Sobald hier der Sinn des Auftrages erkennbar ist, wird die Sozialdemokratische Bundestagsfraktion ihr endgültiges Ja zur Reservistennutzung sagen. Bis dahin werden Sie uns gestatten, jedes Jahr bei Neuvorlage des Haushaltstitels erneut die Frage nach der zwischenzeitlich richtigen Verwendung zu stellen.Und noch eines! Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß parallel mit der Verwirklichung des Strukturmodells 80 auch eine Überprüfung der Reservistenkonzeption 71 zu erfolgen hat. Verehrter Herr Kol-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5937
Möhringlege Löher, Sie waren der Ansicht, das Weißbuch gibt für Reservisten nicht viel her. Ich würde Ihnen das Studium dieser Reservistenkonzeption 71 empfehlen, das außerhalb der Weißbücher vorgelegt und durch das Parlament beschlossen worden ist. Meines Wissens enthält es mehr als 60 Seiten über die Aufgabenstellung und Mittelverwendung, vorwiegend für den Verband der Reservisten. Nach wie vor ist diese Reservistenkonzeption 71 für uns nicht in Frage gestellt; sie ist gültige Unterlage unserer Entscheidungen. Sie muß sich aber gefallen lassen, an veränderten Umständen ständig neu überprüft zu werden, auch im wohlverstandenen Sinne des Verbandes.Herr Dr. Wörner, wenn Sie den Eindruck vermeiden wollen, daß in diesen Bereichen — Strukturmodell 80, Weißbuch-Aussagen zur Territorialkomponente und auch Wehrgerechtigkeit — durch wenig differenzierte und pauschale Kritik die Sicherheit auch hier durch die Opposition zerredet werden soll, dann seien Sie bitte durch mich aufgefordert, konstruktive Vorschläge zur Verbesserung unserer Aussagen nachzureichen. Wir werden diese Sicherheit nicht zerreden lassen. Da fühlen wir uns mit unseren Streitkräften uneingeschränkt verantwortlich und mit ihnen verbunden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Soldaten der Bundeswehr, treu zu unserem Staat und seiner Verfassung, verbunden mit allen Bürgern, tun Tag für Tag ihre Pflicht. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dankt ihnen dafür.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Tübler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich meine, wir müßten hier anmerken, daß das Wort „Wehrgerechtigkeit" in Ihrem Weißbuch nur ein einziges Mal vorkommt. Genau das ist auch schon von den beiden Vorrednern, dem Kollegen Buchstaller und Herrn Krall, angesprochen worden.Aber nun, Herr Kollege Möhring, zu Ihnen! Wenn Sie sagen, es gebe bei der neuen Wehrstruktur ein Begleitproblem Wehrgerechtigkeit und man habe sofort das Problem erkannt und habe einen interministeriellen Ausschuß geschaffen, dann muß ich allerdings etwas tun, was ich in meiner Rede hier nicht gern gemacht hätte, nämlich etwas Vergangenheitsbewältigung vielleicht einmal im positiven Sinne für uns vorzunehmen. Es ist nämlich nicht so, daß erst jetzt das Problem erkannt ist, sondern es ist bereits 1968, Herr Kollege Möhring, durch den damaligen Verteidigungsminister, Herrn Dr. Schröder, eine Kommission eingesetztworden, die sich mit diesem Problem befaßt hat. Diese Kommission ist in der Lage gewesen, der Bundesregierung und diesem Hause bereits im Juni 1968 konkrete Vorschläge vorzulegen. Ich meine, das dürften wir nicht vergessen.
Diese Adorno-Kommission, wie man sie allgemein nannte, hat festgestellt, daß daß Problem eines Pflichtenausgleichs im Wehrwesen so alt ist wie die Verpflichtung zur Dienstleistung in den Streitkräften. Angesichts dessen erübrigt es sich eigentlich, Herr Kollege Möhring, uns aufzufordern, als ungeduldige Opposition zu warten, bis dieser neue Ausschuß endlich positive Ergebnisse bringt. Ich möchte deswegen noch einiges aus den früheren Weißbüchern nennen.Im Weißbuch 1970 wurde z. B. ganz klar ausgesagt, was die Bundesregierung und was auch der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung 1969 zur Frage der Wehrgerechtigkeit gesagt haben. Man hat dafür ganze 18 Seiten benutzt und auch Überlegungen angestellt, auf welche Weise die Frage der Wehrgerechtigkeit einer tragbaren Lösung zugeführt werden könnte. Die Bundesregierung hat gleichzeitig angekündigt, eine unabhängige Kommission — auch damals war also wieder eine da — zu berufen, die diesen Fragen unter einer zweifachen Aufgabenstellung nachgehen und untersuchen soll.Diese Kommission hat am 3. Februar 1971 beachtliche Vorschläge gemacht, die dann im Weißbuch 1971/72, ein Jahr später, wieder sehr ausführlich kommentiert sind. Man hat allerdings nur die Hälfte des Raumes, nämlich genau neun Seiten, dazu verwandt, sich mit diesem Problem zu beschäftigen.Außerdem hat die Wehrstrukturkommission in ihrem zweiten Bericht am 17. November der Bundesregierung auch wieder Vorschläge gemacht, wie man mit diesem Problem fertig werden kann.
I Ich meine, wir sollten uns eines sehr genau merken. In einer Zusatzäußerung hat das Mitglied Dr. Kopf darauf hingewiesen — und diesen Satz möchte ich gern mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, zitieren —:Die in den kommenden Jahren zu erwartende Steigerung der Zahl der Wehrpflichtigen, aber auch die der Kriegsdienstverweigerer, für die eine ungenügende Anzahl von Ersatzdienstplätzen zur Verfügung steht, sowie die aus finanziellen und anderen Gründen sich ergegebende Kapazitätsgrenze der Bundeswehr behindern in zunehmendem Maße die Durchführung der Wehrgerechtigkeit und erzeugen Dienstungerechtigkeit.Meine Damen und Herren, das können wir doch nicht einfach vom Tisch wischen;
das sind Aussagen, die von Kommissionen gemachtwurden, die durch die Bundesregierung eingesetzt
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5938 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Frau Tüblerworden sind. Auch hier hat die Kommission wieder Vorschläge gemacht.Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich war sehr enttäuscht, daß ich außer der einmaligen Erwähnung des Begriffs „Wehrgerechtigkeit" zur Wehrpflicht nur noch folgende Fassung fand, die ich gern zitieren möchte, Frau Präsidentin:Grundsatz: Die Wehrpflicht bleibt Grundlage der freiwilligen intensiven Personalstruktur. Der Grundwehrdienst dauert weiterhin fünfzehn Monate. Die Einberufungsquote der Wehrpflichtigen richtet sich ausschließlich nach dem Bedarf der Streitkräfte. Die Heranziehung aller Wehrdienstfähigen ist bei stärkeren Geburtsjahrgängen und Kaderung von Verbänden nicht mehr möglich. Für die Auswahl ist das Losverfahren nicht tauglich, vielmehr schafft die bedarfsorientierte Heranziehung geeigneter Wehrpflichtiger die Voraussetzung für personalhochwertige Streitkräfte.Meine Damen und Herren, hier muß einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden — und ich meine, es ist unsere Pflicht, als Opposition darauf hinzuweisen —, daß die Bundesregierung damit die grundsätzliche Ausgangsanalyse, wie sie in den vorherigen Weißbüchern und Kommissionsberichten dargestellt ist und als wesentliche Komponente für die neue Wehrstruktur angesehen wurde, verlassen hat.
Das müssen wir ganz deutlich sehen. Wehrsystem, Glaubwürdigkeit des Wehrdienstes im demokratischen Gemeinwesen und Wehrstruktur haben nach Ansicht der Bundesregierung offenbar nichts mehr miteinander zu tun.Ich meine, wir haben nicht ohne Grund eine Kleine Anfrage gestellt; Sie haben sie ja soeben zum Teil auch für Ihre Ausführungen benutzt, Herr Kollege Möhring. In dieser Kleinen Anfrage ist uns doch ganz klar beantwortet worden, wie die Wehrungerechtigkeit in einem Maße zunimmt, das das bisher Dagewesene weit übersteigen wird. Vereinzelte Maßnahmen, die in der Vergangenheit getroffen wurden, waren entweder unüberlegt — zu diesem Schluß müssen wir kommen —, wie die Einberufung z. B. der verheirateten Wehrpflichtigen es zeigte, oder kaum spürbar — auch das muß hier in aller Deutlichkeit gesagt werden —, weil finanzwirksame Initiativen durch die inflationäre Entwicklung wieder aufgefangen wurden.Der Abstand zu den Vorteilen der Nichtdienenden wird immer größer. Wir müssen deshalb der Bundesregierung noch einige Fragen stellen.Erstens. Ist die Bundesregierung mit der Wehrstrukturkommission der Auffassung, daß die Leistungen, die den Bürgern unseres Staates im Interesse der Sicherheit abverlangt werden — und jetzt zitiere ich —, nicht gegen die Gebote der Gleichheit, Angemessenheit und sozialen Gerechtigkeit verstoßen würden? Das genau hat die Wehrstrukturkommission auf Seite 20 gesagt.Zweitens. Was gedenkt die Bundesregierung angesichts der Einberufungsquote von nur 50 % in den kommenden .Jahren zu unternehmen, um den Grundsatz der Gleichheit, Angemessenheit und sozialen Gerechtigkeit zu wahren, wenn Nichtdienende neben anderen Vorteilen auch noch einen erheblichen Verdienstvorteil haben?Drittens. Beabsichtigt die Bundesregierung, angemessene Ausgleichsleistungen für Dienstleistende vorzusehen, oder beabsichtigt sie, einen anderen Weg in der Frage dieser Entlastung zu gehen?Wir müssen weiter fragen, aus welchen Gründen die Bundesregierung die Vorschläge der Wehrstrukturkommission in ihrem Wehrstrukturbericht einfach nicht aufgegriffen hat.Wir müssen weiter fragen, was die Bundesregierung angesichts der Entwicklung der Einberufungsquote beabsichtigt; ob sie da auch die Einführung einer Dienstausgleichsabgabe vorsehen will.Damit Sie, Herr Minister, diese Fragen hier nicht im einzelnen notieren müssen, haben wir sie Ihnen der Einfachheit halber in Form einer Kleinen Anfrage vorgelegt. Wir hoffen im Interesse der jungen Generation, daß wir diesmal auf unsere Fragen eine ganz klare Antwort bekommen. Denn es ist auf die Dauer unerträglich, wenn man auf der einen Seite immer wieder sagt, die Wehrpflicht muß festgehalten werden ich glaube, da gibt es keine unterschiedliche Meinung, auch wir sind dieser Auffassung , andererseits aber immer nur ein Teil belastet wird. Es darf nicht so sein, daß ich glaube, Herr Kollege Ernesti hat es früher einmal so formuliert — der eine Teil dient und der andere verdient. So darf es für die Zukunft nicht aussehen,
Es ist uns allerdings bei dieser Lage, das meine ich noch sagen zu müssen, einfach unverständlich, warum immer dringender die Fragen hier im Plenum gestellt werden, wann endlich das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer abgeschafft werden solle. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, Herr Staatssekretär Berkhan, daß Sie in der vorigen Woche eine so klare Antwort auf die Frage des Kollegen Müller gegeben haben. Denn es ist doch so, daß wir uns über dieses Thema erst unterhalten können — es wäre auch politisch klug, das zu tun , wenn ausreichende andere Möglichkeiten des Dienens, das wir von unserer ganzen jungen Bevölkerung verlangen, gegeben sind. Wenn auch im Augenblick nach Aussage des zuständigen Amtes etwa 20 000 Ersatzdienstplätze da sind, was würde das aber bedeuten, wenn wir in Zukunft nur die Hälfte eines anstehenden Jahrgangs zum Wehrdienst einziehen? Was wollen Sie denn mit der anderen Hälfte machen? Sollen die so davon abkommen?Meine Damen und Herren! Bei allen Entscheidungen, die wir treffen, muß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland Vorrang haben. Wir müssen aber auch mehr als bisher der jungen Generation klarmachen, daß sie — dies hat vorhin schon mein Kollege de Terra etwas abgewandelt gesagt — in
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5939
Frau Tüblerdiesem Staat nicht nur Rechte hat, sondern auch Pflichten zu übernehmen hat.
Wir sind aber verpflichtet, dafür zu sorgen, daß ein Höchstmaß an Gerechtigkeit und ich möchte einfügen: durch eine Politik der Vernunft und nicht der Emotion — erreicht wird. Ich bin sehr froh, Ihnen sagen zu können, daß auch die CDU/CSU-Fraktion bereit ist, hier Maßnahmen mitzutragen, die außerordentlich unpopulär sind. Aber ich bin nicht der Meinung, daß wir wie bisher nur immer einen Teil unserer jungen Generation belasten können, uns dagegen keine Sorgen und Gedanken machen, was mit dem anderen Teil geschehen soll.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fühle mich gleich zweimal ausgezeichnet: einmal dadurch, daß ich das Vergnügen habe, nach meiner Kollegin Frau Tübler zu sprechen, und zweitens dadurch, daß ich für meine Partei, d. h. also für die Sozialdemokratische Partei, zum Abschluß noch einmal das eine oder andere zusammenfassen darf und auf das eine oder andere zurückkommen kann.
Wenn ich das für den Herrn Minister an dieser Stelle — soweit er damit einverstanden ist — und auch für die Kollegen aus meiner Partei, die gesprochen haben, sagen darf: Es ist heute wieder einmal ein eindrucksvolles Bekenntnis zum Bündnis abgelegt worden. Dabei muß auch das, was darüber hinaus gesagt worden ist, noch einmal unterstrichen werden, daß nämlich diese Bundesregierung auch Entspannung, Abrüstung und Rüstungskontrolle will. Der Verzicht auf die Massenvernichtungswaffen und die Bereitschaft zu einer Rüstungskontrolle bestätigen die Erfolge dieser Politik ebenso wie die Unterzeichnung des Grundvertrages mit der DDR und des Nichtverbreitungsvertrages, in Fortsetzung der bereits früher von unseren Partnern unterzeichneten Abkommen, ob es das Moskauer Teststoppabkommen, der Weltraumvertrag und vieles andere sind.
Ich glaube, daß die Aufweichung der starren politischen Haltung der Ostblockstaaten, die in der Vergangenheit gegeben war, auch den Abschluß der großen Verträge dieses Landes ermöglicht hat und daß dadurch auch die Atmosphäre in der ganzen Behandlung großer internationaler Fragen, auch die bilateralen Gespräche zwischen den beiden Großmächten, besser geworden ist.
Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Sicherheitspolitik jedoch den Intentionen weltweiter Entspannungspolitik nicht nur angeschlossen, sie hat diese aktiv unterstützt, ohne ihre berechtigten und existenznotwendigen Bemühungen um eigene Sicherheit zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Sie hat es nicht nur bei vokaler Bekräftigung der Unabdingbarkeit militärischen Schutzes im Rahmen der Allianz belassen, sondern durch zukünftige organisatorische Stärkung — Stichwort „Neue Wehrstruktur" — und durch Aufstellung eines ausgewogenen Verteidigungshaushaltes zur militärischen Stärke der Bundeswehr beigetragen. Mit einer Investitionsquote von zirka 33 % in 1974 liegt die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor vor allen anderen Staaten — jetzt auch vor den Vereinigten Staaten — an der Spitze der NATO-Partner.
Deswegen hilft auch, meine Damen und Herren von der Opposition, das Jammern nicht. Ich bedaure es immer etwas, wenn gesagt wird, was wir alles tun müßten und wie die Verteidigung insgesamt dabei aussehen würde. Es wird zwar die NATO angesprochen, aber die Bundesrepublik und diese Regierung werden gemeint, wenn davon die Rede ist, was noch alles zu verbessern und zu tun wäre.
Wenn ich mich nicht irre, ist von einem meiner Kollegen schon gesagt worden, daß wir auch den Verteidigungshaushalt des Jahres 1974 in erfreulicher Einmütigkeit und Einstimmigkeit verabschiedet haben. Zu all diesen Positionen haben wir ja Stellung bezogen. In diese Einmütigkeit beziehe ich auch die Opposition ein. Nicht ein Antrag ist gestellt worden, etwa Positionen zu ändern oder sogar zu sagen, daß diese Bundeswehr über die Präsenz, die jetzt vorhanden ist, hinaus verstärkt werden müßte. Das wird nicht gesagt, aber es wird über das gejammert, was alles nicht getan worden wäre.
— Sie können sicher Zwischenfragen stellen; ich bin jederzeit bereit, sie zu beantworten.
Die neue Wehrstruktur erfüllt durch die Umstrukturierung der Bundeswehr alle NATO-Forderungen nach Umfang, Kampfkraft und Präsenz. Die Anstrengungen dieser Bundesregierung und der Koalition auf diesem Gebiet fanden ihre Würdigung durch den NATO-Generalsekretär Joseph Luns, der am 5. dieses Monats den hohen Stand der Verteidigungsplanung und das vorbildliche Konsultationsverfahren der Bundesrepublik Deutschland hervorhob. Der Führungsstab des Militärkomitees der NATO, dem die Generalinspekteure der Mitgliedsländer angehören, hat zur neuen Wehrstruktur der Bundeswehr nach eingehender Prüfung eine sehr positive und ausgewogene Stellungnahme abgegeben. Diese Tatsachen stehen Behauptungen der Opposition, die Bundesregierung leiste weniger für die Sicherheit als andere NATO-Partner, eklatant gegenüber.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Damm?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Schmidt, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß der Vorsitzende dieses Militärausschusses, der vor zwei Tagen in Hamburg war, dort ohne Umschweife gesagt hat,
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5940 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dammdaß diese Wehrstruktur natürlich eine Verringerung der Bundeswehr bedeute?
Zunächst möchte ich Ihnen dazu sagen, daß, wenn ein Mitglied dieser Kommission etwas sagt, dies nur die Aussage eines einzigen Mitgliedes ist. Im übrigen hat das gesamte Komitee in dieser Weise, wie ich es gesagt habe, Stellung bezogen, und das ist entscheidend. Das zweite ist: Wenn immer wieder von der geringeren Präsenz der Bundeswehr gesprochen wird — ich habe die Zahlen zwar nicht dabei, aber ich weiß sie ungefähr —, dann müßten wir eigentlich die Zahlen über die Präsenz der Bundeswehr in den 60er Jahren hier auf den Tisch legen.
Da war sie ganz anders, nämlich viel niedriger als heute. Sie ist erst nach dieser Zeit auf die jetzige Präsenz gebracht worden. Das wissen Sie genauso gut wie ich, verehrter Herr Kollege.
— Ich hätte Ihnen gern noch für Fragen zur Verfügung gestanden.Diese Bundesregierung trägt eindeutig zur Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts in Europa bei, wie sie es auch in ihrer Regierungserklärung vom 19. Januar 1973 als eines ihrer Ziele formuliert hat. Zwar ist bekannt, daß rein zahlenmäßig das Kräfteverhältnis zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt ein Übergewicht zugunsten der Warschauer-Pakt-Truppen aufzeigt. Es soll hier aber doch auch einmal gesagt werden, daß wir ein reines Defensivbündnis sind und daß wir nicht immer wieder den Versuch machen sollten, an den potentiellen Gegner zahlenmäßig heranzukommen, wobei man dabei selbstverständlich nicht nur die Kopfzahl, sondern auch Ausrüstung und Ausstattung sehen muß. Ich kann für mich erklären — ich bin jetzt immerhin schon zwölf Jahre Mitglied des Verteidigungsausschusses —, daß noch in keinem Jahr, seit ich im Ausschuß bin, so viele moderne Waffensysteme wie 1973 für diese Bundeswehr bewilligt worden sind. Gleichzeitig begründet das die Sorge, daß diese Soldaten mit den besten Waffen ausgestattet sind.Diese Bundesregierung weiß — wahrscheinlich geht diese Erkenntnis über die Koalitionsparteien hinaus —, wie irrational, wie gefährlich auch Appelle sind, im Alleingang eine nationale Verteidigung der Bundesrepublik ins Auge zu fassen. Ich habe gedacht, das wäre ein Ausrutscher irgendeines Politikers der Opposition gewesen, aber wie ich den Kollegen Löher hier hörte, traute ich meinen Ohren nicht mehr. Er meinte gelegentlich auch die nationale Bundeswehrverteidigung ohne die NATO-Partner.
— Aber natürlich. Es ist sogar der Zwischenruf gemacht worden: Ist das das Konzept der Opposition? Das wurde bejaht
und beklatscht noch dazu.
Ich sage noch einmal: Es stehen sechs NATO-Partner mit ihren Truppen in der Vorne-Verteidigung neben der Bundeswehr in dieser Bundesrepublik. Es ist doch völlig klar, daß hier nur im Bündnis verteidigt werden kann; das kann auch nur so gesehen werden. Selbst wenn Sie es anders gemeint haben, Kollege Löher, so meine ich, schon daß es anders verstanden werden konnte, ist sehr schade, weil dadurch ein Eindruck entsteht, der draußen erst einmal wieder ausgewischt werden muß.Ganz am Rande möchte ich noch zu Ausführungen etwas sagen, die Kollege Möhring nicht mehr machen konnte und die Sie betreffen, Kollege Löher. Mir ist in diesen Tagen ein Antrag der sozialdemokrastichen Fraktion auf den Tisch gekommen, der besagt, daß die Sperre von 2 Millionen DM für den Bundeswehr-Reservistenverband nach eingehenden und auch befriedigenden Besprechungen aufgehoben werden soll. Das ist ein Antrag der Fraktion der SPD. Dieser Antrag wird in der nächsten Sitzung des Verteidigungsausschusses auf den Tisch des Hauses gelegt und, wie ich hoffe, auch beschlossen werden.Meine Damen, meine Herren, diese Bundesregierung ist sich auch bewußt, daß extrem negative Schilderungen über den derzeitigen Zustand der Allianz nur zu falschen Emotionen und zu Argwohn bei Verbündeten und Gegnern führen. Gegenwärtig geben die Schwierigkeiten der Allianz keinen Anlaß für überzeichneten Pessimismus. Das Bündnis hat Krisen noch immer überwunden und ist daraus in Fortschritt und gestärkt hervorgegangen.An dieser Stelle gestatten Sie mir zwei Bemerkungen, weil es mir ein Anliegen ist, auf das einzugehen, was der Kollege Wehner hier heute morgen in seinen Ausführungen zu der „Erklärung des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa" am 3. Mai gesagt hat. Seine Ausführungen sind hier etwas untergegangen. Sie müssen aber noch einmal wiederholt werden, weil es hier nämlich auch um die Atlantikcharta geht, von der zwischen Amerikanern und Europäern und vor allen Dingen auch Bundesrepublikanern die Rede ist. Kollege Wehner hat dabei gesagt, wir wollten den Dialog. Ich meine, daß in Amerika voll verstanden worden ist, daß nur im Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern eine Lösung gefunden wird. Die Kollegen, die Angehörige des NATO-Parlaments und auch des Militärausschusses der NATO sind, wissen, wie hart wir dort in manchen Fragen gegeneinander gesprochen und miteinander gerungen haben. Deswegen konnten wir nichts tun, um etwa das Wohlverhalten von uns besonders auf den Tisch des Hauses zu legen.
Das haben wir auch gar nicht nötig. Ich darf Ihnen sagen, daß das unsere Alliierten, vor allen Dingen die Amerikaner, gar nicht wollen.Wenn — das stimmt mich manchmal etwas bedenklich — immer wieder von der Stärke der anderen Seite, die vorhanden ist — es ist auch eine Stärke auf dieser Seite vorhanden —, hier vor diesem Publikum und auch vor dem deutschen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5941
Schmidt
Volk geredet wird, dann habe ich etwas Bedenken, ob wir damit bei jungen Menschen überhaupt Wehrfreudigkeit hervorrufen können. Diese Reden sind gerade das, was wir nicht brauchen.
Ich muß ehrlich sagen, wenn es so wäre, wie ich es von manchem Oppositionsführer draußen höre, dann könnte ich meinem Sohn, der zur Zeit gerade bei der Bundeswehr dient, nicht raten, dieser Bundeswehr weiterhin die Treue zu halten und dort seine Pflichten zu tun. Das wäre dann wohl nicht das Richtige. Ich würde also meinen, daß diese Darstellungen hier in einer ausgewogenen Form gegeben werden sollten.Das Zweite, was ich noch sagen wollte, betrifft das Verhältnis Frankreich—Bundesrepublik—Amerika. Wir werden von uns aus nicht in der Lage sein, den anderen sozusagen als der Schulmeister dieses gesamten Bündnisses mit erhobenem Zeigefinger beizubringen, was sie alles tun oder nicht tun sollen, obwohl wir sehr viel guten Rat geben können. Als heute morgen hier anklang, daß das gut wäre, hatte ich nur noch darauf gewartet, daß man uns dafür verantwortlich macht, daß die Franzosen seinerzeit — zu einer völlig anderen Zeit — das Bündnis verlassen haben. Die Ausgewogenheit ist also das Entscheidende, was wir brauchen, aber nicht die Überspitzungen.Mehr positive als negative Aspekte — das ist heute morgen hier gesagt worden — zeigen die bi- und multilateralen Verhandlungen auf. Wir haben KSZE, wir haben MBFR, und wir hoffen daß beide Konferenzen Fortschritte bringen, daß vor allen Dingen die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bald greifbare Ergebnisse bringt. Insbesondere sollte die Frage kooperativer friedlicher Koexistenz von Staaten mit verschiedener Gesellschaftsordnung lösbar sein. Die Bundesregierung gibt sich natürlich keiner übertriebenen Illusion hin, wenngleich sie einen erfolgreichen Abschluß auch dieser Verhandlungen wünscht und dazu selbst tatkräftig beizutragen bereit ist.Unverzichtbar aber — das ist Gott sei Dank von allen Seiten des Hauses wieder gesagt worden — sind für unsere Sicherheit neben eigenen adäquaten Beiträgen die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa und der Nuklearschirm der USA. Es ist erfreulich, daß sowohl Präsident Nixon als auch sein Außenminister inzwischen von gewissen Äußerungen im Hinblick auf ihre Schutzmachtfunktion wieder abgerückt sind und daß sich heraufkommende Mißverständnisse damit nicht vertieft haben. Die amerikanischen Truppen in Europa verstehen sich nicht als Stolperdraht, bei dessen Berührung automatisch der atomare Gegenschlag ausgelöst wird, sondern als Teil eines konventionellen Schildes innerhalb der NATO. Genau das, meine Damen und Herren, hat mir der Oberbefehlshaber der USStreikräfte in Europa, General Michael Davidson, bei seinem Besuch am 25. dieses Monats — es war schon sein zweiter Besuch innerhalb weniger Monate — in Bonn ausdrücklich bestätigt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hansen?
Bitte sehr!
Herr Kollege Schmidt , würden Sie die Opposition und besonders jene, die eben glaubten, die Notwendigkeit und den Sinn einer Wehrdienstzeit von 15 Monaten anzweifeln zu müssen, und dagegen polemisierten, darüber aufklären, daß der General Davidson bei der gleichen Gelegenheit auch von dem ausgezeichneten Ausbildungsstand unserer Wehrpflichtigen gesprochen hat?
Ich kann das nur bestätigen. Er hat auf eine Frage eines hier anwesenden Kollegen ausdrücklich erklärt, daß die Ausbildung hervorragend und die Truppe voll einsatzbereit sei.
Meine Damen und Herren, ohne die Amerikaner bekäme natürlich dieser Schild ein irreparables Loch. Wir wissen auch, wie empfindlich unsere amerikanischen Freunde in der Zwischenzeit gegen antiamerikanische Ressentiments geworden sind, und wir haben alles zu tun, auch von uns aus das besonders gute Verhältnis der Bundesrepublik zu Amerika in die Waagschale des Bündnisses zu werfen. Ich bin sehr froh, hier einmal sagen zu können: Wir haben von uns aus, als wir im vergangenen Jahr in Amerika waren, die amerikanischen Verteidigungsausschüsse in die Bundesrepublik eingeladen. Die Einladung wurde angenommen, und wir werden in diesem Jahr, wie wir alle hoffen, mit den Kolleginnen und Kollegen aus diesen Ausschüssen hier in der Bundesrepublik zusammen sein können. Der Besuch der Präsidentin in der nächsten Woche in Amerika, bei dem auch sicherheits- und außenpolitische Fragen anstehen, ist ebenfalls ein Glied in der Kette des guten Verhältnisses, das zwischen Amerika und dieser Bundesrepublik besteht. Auch das gerade ausgehandelte neue Offset-Abkommen, das zur Zufriedenheit beider Parteien ausgefallen ist, zeigt, wie sehr sich diese Bundesregierung bemüht, einen gerechten Beitrag zur Friedenssicherung zu leisten.Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen. Ist eine Entweder-oder-Position unter Verbündeten schon gefährlich, so kann es für die Bundesrepublik jedenfalls nur eine Sowohl-Als-auch-Maxime für alle Partner geben. Nur damit stärken wir das Bündnis, stärken wir Europa, das Gleichgewicht in der Welt und die Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluß internationaler Verhandlungen der Militärblöcke mit dem Ziel weiterer Entspannung und sicheren Friedens. Auf diesen Tatsachen und politischen Möglichkeiten ist die Politik dieser Regierungskoalition aufgebaut, und sie wird diese Politik wie bisher konsequent und erfolgreich fortführen.
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5942 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Meine Damer und Herren! Das Haus war, soweit ich sehe, der Meinung, daß wir heute vormittag die Debatte abschließen sollten. Das geht nur, wenn wir etwas überziehen. Ich bitte das Haus, damit einverstanden zu sein, daß wir etwas später mit der Fragestunde beginnen. Zugleich bitte ich die noch folgenden Redner, sich möglichst kurz zu fassen.
Das Wort hat Herr Bundesverteidigungsminister Leber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt viele Fragen, die ein Schlußwort rechtfertigten. Ich möchte mich auf einige beschränken, die nicht unwidersprochen bleiben können.
Es ist vorhin aus einer Rede, die General Steinhoff in Hamburg gehalten hat, hier die Feststellung zitiert worden, die Bundesrepublik Deutschland gerate in Widerspruch zu ihren Bündnisverpflichtungen und reduziere ihre Truppen. Ich möchte dazu drei Zitate verlesen. Dies ist die einzige Antwort, die ich geben möchte.
Ich habe hier zur Aufklärung der Fragen, die Sie in den letzten vier Monaten häufig auch in der Öffentlichkeit gestellt haben unter Zitierung der neuen Wehrstrukturvorlage und ihrer Bündniskonformität, das Attest des Bündnisses vorliegen. Dies ist gleichzeitig auch die Antwort auf die Frage, ob das stimmen kann, was Herr Steinhoff in Hamburg möglicherweise gesagt hat, denn er ist Chef des Military Committee und hat dieses Papier mit herausgegeben. Ich lese Ihnen das Attest vor; damit könnte die Debatte beendet sein.
1. Das Military Committee stellt fest, daß das von der Bundesrepublik Deutschland geübte Konsultationsverfahren als vorbildlich empfunden wurde.
So war es noch nie, sage ich dazu.
2. Das Komitee nimmt mit Genugtuung folgende Verbesserungen im deutschen Verteidigungsbeitrag zur Kenntnis:
1. Erfüllung der NATO-Forderung von 36 Brigaden,
— meine Herren, die gab es noch nie; künftig werden wir sie haben; die NATO-Forderung besteht aber, seit die Bundeswehr besteht —
— passen Sie nur auf; vertun Sie doch Ihre Milch nicht, bevor Sie am Platze sind; Sie können Antworten darauf kriegen —
2. allgemein verbesserte Einsatzbereitschaft,
— das haben Sie kritisiert; dies wird uns von Brüssel attestiert —
3. Verbesserung der Panzerabwehrfähigkeit, der Sperrkapazität, der Beweglichkeit, der Kampfkraft und der elektronischen Kampfführung.
Meine Herren, was können wir eigentlich mehr tun,
als darauf achten, daß wir das gute Gewissen vom Bündnis attestiert bekommen können?
Sie sollten endlich mit den Verdächtigungen aufhören, die Bundeswehr werde schlechter.
— Einen Augenblick, damit Sie alles erfragen können, Herr Kollege Wörner! Ich habe hier ein Papier
— Sie haben vorhin zu mir gesagt: Wir müssen offener reden —, das einen Geheimstempel hat; den hebe ich hiermit auf. Jetzt lese ich Ihnen einmal vor, damit das ein bißchen in Deutschland bekannt wird, um wieviel „schlechter" die Bundeswehr wird. Die Bundeswehr hatte 1966 einen Personalumfang von 456 000 Mann.
Verteidigungsminister waren Sie.
— Ihre Fraktion meine ich. — Das war der höchste Stand, den die Bundeswehr bis dahin überhaupt erreicht hatte. 1967 betrug der Personalumfang der Bundeswehr 461 000,
1968 455 000;
er war von 1967 auf 1968 um 12 000 zurückgegangen. Der sozialdemokratische Verteidigungsminister, der dann kam, hat die Bundeswehr wieder auf 474 000 im Jahre 1970 aufgebaut. Sie wuchs im Jahre 1973 auf 486 000 Mann und umfaßt im Jahre 1974 496 000 Mann. Der Friedensumfang — das habe ich vorhin gesagt — wird auf 495 000 Mann festgeschrieben.
Wann war die Bundeswehr jemals so umfangreich wie zu der Zeit, als Sozialdemokraten die Verantwortung im Verteidigungsressort hatten?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wörner?
Bitte sehr!
Es sind im Grunde genommen, wenn Sie mir das gestatten, zwei Fragen.Die erste: Darf ich davon ausgehen, daß es die NATO bei dieser positiven Feststellung nicht belassen und in ihrem Assessment Einschränkungen, Auflagen oder sonstige Bedingungen genannt hat?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5943
Die Antwort lautet: Nein.
Darf ich zweitens davon ausgehen wenn ich das noch einmal erweitern darf —, daß dem Verteidigungsausschuß das volle Assessment mit allen Auflagen usw. zugänglich gemacht wird, und darf ich Sie drittens fragen, ob Sie bereit sind, hier einmal vor diesem Hause zu erklären, daß es einen Zusammenhang zwischen der Personalstärke der Bundeswehr und der Verkürzung der Ausbildungszeit von 18 auf 15 Monate gibt?
Zu Ihrer zweiten Frage, Herr Kollege Wörner: Mit großem Vergnügen gebe ich dem Verteidigungsausschuß jede Auskunft, die er nur wünscht; denn das können nur gute Auskünfte über das Bündnis sein, die wir an den Verteidigungsausschuß weitergeben.
Drittens. Wir können sowohl hier im Plenum des Hohen Hauses als auch im Verteidigungsausschuß jederzeit eine Aussprache über jede von Ihnen gestellte Frage führen und jede erbetene Auskunft über Auswirkungen der neuen Wehrpflichtdauer von 15 Monaten geben.
— Das wissen wir, daß die Zahl damit zusammenhängt.
Aber wir lagen ja früher trotz längerer Wehrpflicht wesentlich darunter. Die Bundeswehr ist im ganzen besser geworden, meine Damen und Herren.
Ich will Ihnen noch etwas sagen; ich weiß, das ist für uns alle nicht sehr bequem. Hiermit hängen ein paar Fragen zusammen, die auch Bewaffnung und Ausrüstung berühren. Solche Fragen werden gestellt werden. Denen muß man dann genauso positiv gegenüberstehen, wie es bei diesen Zahlen und Daten geschieht. Sehen Sie, ich habe hier die Perspektiven vor mir liegen, das, was den wichtigsten Teil des Verteidigungshaushalts angeht. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr erstmalig bewiesen, daß es möglich ist, mit einem Investitionsanteil von 30 % —dies ist der politischste Punkt des Verteidigungshaushalts — im Haushalt 1974 anzutreten. In der Finanzplanung ist projektiert, daß das auch in den Jahren 1975, 1976 und 1977 so bleiben wird. Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen Jahr für Jahr bis 1977 und darüber hinaus beweisen, daß diese Regierung das auch einhält.
Das Wort hat der Abgeordnete Biehle.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, daß das, was Herr Minister Leber gesagt hat, durch einige Fragen des Kollegen Dr. Wörner schon aufgehellt worden ist. Nur meine ich, mit einem Zahlenspiel allein ist die Antwort nicht gegeben, denn — und das wurde zu Recht angefügt — hierzu gehört eben auch das gesamte Problem der Bewaffnung und der Ausrüstung dieser Soldaten. Darüber werden wir sicherlich noch ganz entscheidend im Ausschuß zu reden haben.Lassen Sie mich zum Abschluß dieser Runde noch ein paar Dinge zurechtrücken, die gesagt worden sind und die einfach nicht so im Raume stehenbleiben können. Der Herr Kollege Buchsteller glaubte an Hand der Rede des Kollegen Dr. Wörner feststellen zu müssen, daß die Opposition Schwarzmalerei betreibe.
Ich frage Sie und all die Verantwortlichen, die um diese Dinge wissen, vor allen Dingen wenn sie Zugang haben, wenn sie sicherheitsüberprüft sind, wie sie zu diesen Dingen stehen, wenn wir Realitäten aufzeigen, Realitäten nicht nur in diesem Lande, sondern Realitäten auf seiten des Warschauer Paktes, Dinge, die uns erst vor wenigen Tagen in sehr deutlicher Weise vorgetragen worden sind. Ich meine, auch für meine Fraktion feststellen zu können; wenn Sie Schwarzmalerei mit Realitäten verwechseln, werden wir das gerne auf uns nehmen und weiterhin die Öffentlichkeit und die Soldaten entsprechend aufklären.Die Feststellung, daß nun einstimmig im Verteidigungsausschuß die Reduzierung auf W 15 erreicht sei: nun, Herr Kollege Buchstaller, da sind von unserer Seite eine Reihe ernsthafter Bedenken vorgebracht worden, während Sie von Beginn an mit wehenden Fahnen auf dieses Ziel politisch losgesteuert sind. Wenn Sie heute Truppenbesuche machen, bekommen Sie nicht in Modelleinheiten, sondern in den Truppenteilen, wo das heute alles praktiziert wird, eine klare Antwort, und es ist eine negative Antwort.
Wir sind, so meine ich, gegen voreilige Wertungen. Sie müssen als Ausdruck der Rechthaberei verdächtigt werden. Wir legen Wert auf ein abschließendes Urteil, auf Erfahrungsberichte, aber nicht aus Modelltruppen, sondern aus der regulären Truppe, wo diese Dinge praktiziert werden und diese negativen Auswirkungen festgestellt worden sind.Der Herr Kollege Krall glaubte feststellen zu müssen, daß genau das Gegenteil von den Darlegungen des Kollegen Wörner hinsichtlich des labilen Zustandes des Bündnisses und der NATO zutreffe. Auch ich darf auf das verweisen, was General Steinhoff vor wenigen Tagen in Hamburg gesagt hat — der Kollege Damm war Zeuge der Ausführungen auf dieser Veranstaltung —, daß er nämlich in abgrundtiefer Sorge um diese NATO, um dieses atlantische Bündnis sei. Ich glaube, das ist ein Mann, der an der Spitze eines Gremiums stand,
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5944 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Biehledas tiefen Einblick in die Dinge hat, und der aus eigener Anschauung wiedergibt.
Wir sollten das sehr wohl beherzigen, was General Steinhoff zu diesen Dingen gesagt hat.Die Alternative, Herr Kollege Krall, die Sie geboten haben mit der Beibehaltung der Wehrpflicht und mit der Bestätigung des Bündnisses, war eigentlich ein bißchen dürftig und war auch nicht an unsere Adresse zu richten. Das muß man generell sagen, wenn man die Summe der Ausführungen der Redner der Koalition betrachtet, und da ist die Frage zu stellen: Wer ist eigentlich der Schöpfer dieser Bundeswehr, wer ist der Schöpfer dieses atlantischen Bündnisses, das nahezu drei Jahrzehnte lang den Frieden und die Sicherheit in unserem Lande gewährleistet hat? Das waren doch nicht Sie, meine Herren!
Wir haben das doch gegen Ihren Widerstand in den 50er Jahren durchgesetzt.
— Herr Kollege Wehner, Sie werden sich noch daran erinnern, wie gesagt worden ist: Wir werden die Wehrpflicht wieder abschaffen.
Daran sollten wir uns doch erinnern und hier nicht Dinge unterstellen, die gar nicht zutreffen.
Dazu gehört für die SPD eine Vergangenheitsbewältigung. Hier sollten wir doch gemeinsam vorangehen.Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Moersch glaubte, anläßlich des erneuten Besuches von Außenminister Kissinger feststellen zu müssen, daß alles in Butter sei — ich will es einmal so ganz lapidar darstellen —, ohne dabei hinzuzusagen, daß wenige Tage vorher Herr Kissinger und Präsident Nixon in Amerika ganz andere Töne angeschlagen hatten.
Das war kein Ausrutscher von Politikern, sondern dort wurde doch die reine Wahrheit gesagt.
Der Herr Kollege Horn glaubte sich um eine Analyse bemühen zu müssen, die die Voraussetzungen für ein anderes Verhältnis zur Bundeswehr schafft. Nun, Herr Kollege Horn und meine sehr verehrten Herren SPD-Kollegen, dieses Bündnis haben wir nicht; denn zur Bundeswehr haben wir, die CDU/CSU, von Anfang an ein gutes Verhältnis gehabt, und das wird weiterbestehen.
Wir stehen hinter diesen Soldaten und wehren uns mit ihnen gegen Diskriminierungen — auch durch Mitglieder dieses Hohen Hauses—, und wir werden das auch weiterhin tun.Wenn der Herr Kollege Horn glaubt, durch Garnisonen gezogen zu sein, um für Reformen geworben zu haben, dann muß man ihn auch wieder an vergangene Zeiten erinnern, und wenn er meint, zu seinen Äußerungen über die Verfassungstreue der Offiziere lapidar feststellen zu müssen, der Bundeswehrverband habe eine Erklärung herausgegeben, daß das ausgestanden sei, dann muß man doch hier auch sagen, Herr Kollege Horn, daß Sie nicht der einzige waren. Da wurde sinnigerweise „H-H" gesagt, aber das heißt nicht Hummel-Hummel als ein gutes Omen, sondern das heißt Hansen und Horn — und andere, muß man hinzufügen.
Vielleicht lassen Sie sich einmal von Ihrem Kollegen Wehner einen Brief zeigen, den der Präsident Volland geschrieben hat und in dem er festgestellt hat, daß es für die Behauptungen des Herrn Abgeordneten Hansen nicht den geringsten Nachweis gebe. Der Deutsche Bundeswehrverband halte es deshalb und aus den genannten Gründen für geboten, daß sich Ihre Fraktion von den Äußerungen des Herrn Abgeordneten Hansen distanziere. Das muß nun auch noch dazu ergänzend festgestellt werden. neben vielen anderen Dingen, die man anführen könnte.
Wenn Sie noch einmal den Fall Grashey in Ihrer Litanei aufgezählt haben — der Herr Kollege Rommerskirchen hat schon darauf hingewiesen, daß dies hier längst ausgestanden ist —, so muß ich sagen, daß er es doch gewesen ist, der damals, am 24. April 1969, im Verteidigungsausschuß für die CDU/CSU-Fraktion den Antrag gestellt hat, diese Dinge klarzustellen. Der Verteidigungsausschuß hat seine Vorschläge und seine Entschließung angenommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem machen, was Minister Leber zu diesem Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr gesagt hat, ohne daß ich das mit einem Fragezeichen versehen möchte, wie es durch den Bundeswehrverband geschehen ist: Mehr Sicherheit zu kleinen Preisen. Hierzu fällt mir ein abgewandeltes Wort aus dem Buch „Anfrage von Radio Hammelburg" — ein kleines Gegenstück der Bundeswehr zu „Radio Eriwan" — ein. Die Frage lautet: Wie beurteilen Sie den Zustand der heutigen Bundeswehr und der Sicherheitspolitik? Die Antwort
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5945
Biehlelautet: Großartig! — Im Vergleich zum übernächsten Jahr!
— Nun, Herr Kollege Wehner, gerade als verantwortungsbewußte Opposition in diesem Hause, die die Voraussetzungen geschaffen hat, auf denen Sie heute so großartig durch die Gegend schaukeln und in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei es ein Werk, das von Ihnen geschaffen worden ist, dürfen wir doch einmal klarstellen und müssen es immer wiederholen: Wir stehen auf diesem Boden der Bundeswehr und den sicherheitspolitischen Grundlagen, die durch nahezu drei Jahrzehnte diesen Frieden im Lande geschaffen haben.Wir sind allerdings in tiefer Sorge — auch das muß hier sehr deutlich gesagt werden —, daß die Äußerungen, die durch einen Herrn Minister Leber und von einigen seiner Kollegen hier in der Vergangenheit und auch heute wieder gemacht worden sind, nicht die absolute Rückendeckung seiner eigenen Partei haben. Wir haben in der Vergangenheit im Ausschuß und wo es auch sonst war, ja erlebt, daß eine Reihe von Dingen nicht über die Bühne gegangen wären, wenn den Minister nicht die Stimmen der Opposition gestützt hätten. Da gibt es doch ganz konkrete Beispiele von Beschaffungs-Vorlagen im Ausschuß und auch zum Verteidigungshaushalt. Wenn der Herr Kollege Schmidt hier festgestellt hat, daß der Haushalt 1974 einstimmig im Verteidigungsausschuß verabschiedet worden sei, dann hat er natürlich schamhaft verschwiegen, daß nur sieben von 13 SPD-Kollegen anwesend waren; die anderen also gar nicht dabei waren, als es um die Verabschiedung dieses Haushalts ging. Ich überlasse es jedem einzelnen in der Öffentlichkeit, darüber zu urteilen, wie die SPD zu den Dingen des Verteidigungshaushaltes steht.Die Ausführungen des Herrn Ministers in der Form, wir sollten uns angewöhnen, alles, was gemeinsam geschaffen und gestaltet worden sei, auch im politischen Tageskampf nicht miesmachen zu lassen, unterstützen wir voll und ganz. Nur, so meine ich, ist die Adresse der Opposition wiederum die völlig falsche. Das muß er seinen eigenen Parteifreunden ins Buch schreiben, weil sich hier ja sehr deutlich gezeigt hat, daß die Dinge anders liegen. Ich nehme an, daß er, indem er das hier anführte, z. B. seinen Kollegen Hansen gemeint hat, der am 14. Dezember 1973 laut einem Bericht, den das Presse- und Informationsamt herausgegeben hat, ausgerechnet über Radio Moskau erklärt hat
— ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin —:Die revanchistischen Kräfte haben sich in der CDU/CSU verschanzt, um auch künftig gegen die Entspannungspolitik anzukämpfen.Das ist natürlich der Stil, gegen den auch wir sind.Da hat Minister Leber völlig unsere Unterstützung.
Da gibt es noch eine Reihe anderer Beispiele, so Broschüren, in denen festgestellt wird: Die Gefahr der Militarisierung der Gesellschaft geht jeden an. Militarisierung schränkt die Demokratie ein, kostet Millionen, wirkt jeder Friedens- und Reformpolitik entgegen. Wer hat das unterschrieben? Es steht wörtlich darunter: ein Mitglied des Beirats für Innere Führung beim Bundesminister der Verteidigung.Oder ein anderes Beispiel. In einem Interview der „Südwest-Presse" am 1. September 1973 hat unter der Überschrift „Konsequenz der Ostverträge: Ami go home!" ein Mitglied des sicherheitspolitischen Bundesausschusses der SPD erklärt:Die Abschreckungstheorie und die Perfektionierung des internationalen Drohsystems schaffen keine Bedingungen der Friedenssicherung, sondern legen jeweils Bedingungen für organisierten Unfrieden.Dazu werden die Auflösung der NATO gefordert,
eine atomfreie Zone in Mitteleuropa und ein Einfrieren der Rüstungshaushalte. Am Ende stellt der Betreffende dann fest, daß seine Auffassung bereits in der SPD eine große Spannweite habe; denn er sehe seine Wahl in diesen sicherheitspolitischen Bundesausschuß der SPD gerade als Beweis dafür an.
— Da können Sie noch viele andere Beispiele nehmen; man könnte Ihnen eine ganze Liste vorlegen.
Ich meine, Sie sollten dafür sorgen, daß die entsprechenden Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß das, was Verteidigungsminister Leber gesagt hat, auch von Ihrer Partei, im weitesten Sinne akzeptiert wird, nicht zuletzt bis hin zu den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses.Ich war schockiert, als ich die Thesen des Herrn Kollegen Reiser lesen mußte. Herr Kollege Reiser hat in seinen elf Thesen festgestellt, daß dieses freiheitliche und demokratische Wirtschaftssystem überhaupt kein Interesse daran habe, eine Abrüstung und wirkliche Entspannung herbeizuführen.
— Herr Kollege Wehner, ich habe keine Vergangenheit wie Sie hinter mir.Ich glaube, feststellen zu dürfen, daß durch meine Fraktion seit Jahren ein Beitrag für die Sicherheit und für den Frieden in unserem Lande geleistet wurde und hier auch ein Beitrag zur Klarstellung in diesem Parlament.Ich muß zum Schluß kommen; die Lampe leuchtet auf.
Lassen Sie mich schließen mit einem bedeutendenWort, welches der amerikanische Präsident vor we-
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5946 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Biehlenigen Wochen sagte, als er den Bericht zur Lage der Nation abgab. Diese Worte sollten Grundlage allen Handelns — insbesondere Ihrer Fraktion, Herr Wehner — sein, wenn Forderungen im Hinblick auf eine Abrüstung erhoben werden. Ich darf zitieren, Frau Präsidentin:Die Frage ist nicht, ob wir es uns leisten können, die für unsere Verteidigung notwendige Stärke aufrechtzuerhalten. Die Frage ist vielmehr, ob wir es uns leisten können, sie nicht aufrechtzuerhalten.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, die Vorlage an den Verteidigungsausschuß — federführend — und an den Haushaltsausschuß — mitberatend — zu überweisen. Wer damit einverstanden ist, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksachen 7/1867, 7/1877
Der Ältestenrat hat empfohlen, abweichend von den Richtlinien in dieser Woche zwei Fragestunden von jeweils 90 Minuten Dauer einzuführen. Nach der Geschäftsordnung muß das vom Hause beschlossen werden. — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wir können somit in die Fragestunde eintreten. Es liegen zwei Dringlichkeitsanfragen auf der Drucksache 7/1877 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz vor. Diese Fragen werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet; die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zu der Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Haack zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Dr. Mertes auf:
Wie hoch ist der Anteil der Förderungsmittel für Eigenheime, die im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet werden sollen, innerhalb der vom Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau durchgeführten Zinsverbilligungsmaßnahmen für 50 000 Sozialwohnungen?
Bitte schön!
Herr Kollege Dr. Mertes, mit der Zinsverbilligungsmaßnahme der Bundesregierung soll die Förderung von etwa 50 000 dringend benötigten Sozialwohnungen ermöglicht werden. Es sind Wohnungen, die in den Wohnungsbauprogrammen der Länder für 1973 zur Förderung vorgesehen waren, aber trotz bereitgestellter Landesmittel wegen der zur Zeit sehr hohen Kapitalmarktzinsen nicht gefördert werden konnten.
Die Zinsverbilligungsmaßnahme ist ein Stützungsprogramm zur Realisierung der Wohnungsbauprogramme 1973. In welchem Umfang die Zinsverbilligung auf Eigenheime, Eigentums- und Mietwohnungen entfällt, läßt sich im Rahmen dieser Maßnahme nicht festlegen. Das Anteilsverhältnis ergibt sich zwangsläufig daraus, in welchem Umfang die einzelnen Wohnungsarten an den von den Ländern als nicht gefördert genannten ca. 50 000 Wohnungen beteiligt sind.
Nach Angaben der Länder dürfte es sich dabei überwiegend um Mietwohnungen handeln. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, daß der Zinsanstieg bei Eigentumsmaßnahmen im vorigen Jahr noch zum großen Teil auch durch Steuervorteile aus der 7 b-Abschreibung ausgeglichen werden konnte.
Eine Zusatzfrage.
Herr Kollege Haack, wie steht die Bundesregierung zu der in diesem Zusammenhang erhobenen Forderung nach einer spürbaren Erhöhung des Abschreibungssatzes nach § 7 b EStG?
Darauf kann ich Ihnen keine konkrete Antwort geben, Herr Kollege Mertes. Die Frage der 7 b-Abschreibung wird am Rande auch im Zusammenhang mit dem Dritten Steuerreformgesetz erörtert, aber es gibt hier noch keine konkreten Vorschläge.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem die Bundesregierung immer wieder darauf hingewiesen wurde, welche sozialen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen die Hochzinspolitik im Wohnungsbau zur Folge hat, darf ich fragen, was die Bundesregierung zu tun gedenkt, um hier Dauerschäden zu verhindern, insbesondere in den Branchen, die — wie etwa die Fertigbauindustrie — bisher ausgesprochen preisdämpfend gewirkt haben.
Herr Kollege Mertes, die Maßnahme, um die es in Ihrer Frage geht, die Zinsverbilligung bei diesen 50 000 Sozialwohnungen, ist eine der Maßnahmen der Bundesregierung um im Bereich des Wohnungsbaus Probleme, die sich durch die Hochzinspolitik ergeben haben, zu lösen. Wir haben noch einige andere Maßnahmen ergriffen und werden auch in Zukunft dafür sorgen, daß gerade der Wohnungsbau trotz dieser Hochzinspolitik so gefördert werden kann, wie es im Interesse des Wohnungsbaus, aber auch im Interesse der Bauindustrie notwendig ist.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Josten.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5947
Herr Staatssekretär, angesichts der Hochzinspolitik darf ich Sie fragen: Wird die Bundesregierung bei ihrem Prinzip bleiben, daß in jedem Fall der soziale Wohnungsbau dadurch soweit wie überhaupt möglich nicht getroffen wird und das Ziel, die Erweiterung des sozialen Wohnungsbaus, auch wahrgenommen wird?
Davon können Sie ausgehen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön!
Herr Staatssekretär, ist zur Stunde abzusehen, in welchem Umfang die Länder bei diesen Sonderprogrammen die entsprechenden Zinsverbilligungen für den Bau von Wohnungseinheiten in Anspruch nehmen würden?
Soweit unsere Informationen reichen, können wir davon ausgehen, daß die Länder dieses Programm, diese 50 000 Wohnungen, mit diesen Zinssubventionen, so wie wir es vorgeschlagen haben, durchführen können.
Keine weitere Zusatzfrage? Dann sind wir mit den Fragen aus diesem Geschäftsbereich am Ende. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Frage 2 — des Abg. Dr. Wittmann — aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie und für das Post- und Fernmeldewesen. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hauff zur Verfügung.
Ich rufe die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Dr. Freiherr Spies von Büllesheim auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet; die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 24 des Herrn Abgeordneten Jaunich auf:
Teilt die Bundesregierung die auf dem Kongreß Rettungswesen des DRK von Fachleuten geäußerten Befürchtungen, durch die angekündigten Gebührenerhöhungen der Deutschen Bundespost werde der plangerechte Ausbau direkter Notrufleitungen unmöglich, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, gegebenenfalls einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken?
Bitte schön.
Herr Kollege Jaunich, die Bundesregierung betrachtet es als eine wichtige Aufgabe, im Rahmen des technisch und wirtschaftlich Möglichen ihren Teil dazu beizutragen, daß der Notrufdienst zu einem gut funktionierenden Teil
innerhalb des gesamten Rettungswesens ausgebaut wird. Die Deutsche Bundespost hat das mit Rücksicht auf die Bedeutung des Notrufs, insbesondere für die Rettung von Menschenleben, bei der Gebührenkalkulation berücksichtigt. Die Notrufgebühren liegen insgesamt etwa um ein Drittel unter dem Wert, der sich bei dem sonst üblichen Kalkulationsmodus ergeben würde. Ferner ist zu bedenken, daß die Gebühren für die Notrufeinrichtungen monatliche Gebühren sind. Die Notrufträger werden also nicht mit hohen Vorleistungen belastet. Sie haben den Vorteil, daß die Amortisierung des von der Deutschen Bundespost vorgestreckten Kapitals auf einen langen Zeitraum verteilt wird.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß das, was Sie ausgeführt haben, auch für die Errichtung der Notrufanlagen gilt und nicht nur für die Betätigung des Notrufs, also die laufenden Gebühren?
Wie Sie sicherlich wissen, Herr Kollege, haben wir mit den Ländern hier vor kurzem eine Übereinkunft gefunden, die sicherstellt, daß die Errichtungsgebühren in Form von monatlichen Zahlungen zu leisten sind.
Weitere Zusatzfrage.
Wird es auf Grund dieses Tatbestands möglicherweise zu neuen Verhandlungen mit den Ländern kommen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Davon ist nicht auszugehen.
Keine Zusatzfrage. Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hauff.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Logemann zur Verfügung.Die Fragen 3, 4 und 5 sollen auf Bitten der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Fragen 6 und 7 des Herrn Abgeordneten Weber auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet; die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Fragen 8 und 9 des Abgeordneten Schmitz auf. — Der Abgeordnete ist594RMetadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Vizepräsident Frau Funckenicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich erledigt. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan zur Verfügung.Ich rufe die Frage 10 der Frau Abgeordneten Tübler auf. — Die Frau Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 11 des Herrn Abgeordneten Hansen auf:Wie viele Wehrpflichtige wurden seit dem 1. Januar 1973 einberufen, die gegen ihren rechtzeitig gestellten, aber abgelehnten Antrag auf Kriegsdienstverweigerung Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht hatten, und wie viele, deren Antrag nach der Musterung gestellt wurde und die noch keinen Einberufungsbescheid erhalten hatten?Bitte schön!
Frau Präsidentin! Herr Kollege Hansen, Ihre Frage kann ich leider nicht beantworten, weil derartige Statistiken im Zusammenhang mit der Einberufung nicht geführt werden.
Zusatzfrage! — Bitte, Herr Hansen.
Herr Staatssekretär, beabsichtigen Sie auch in Zukunft nicht, solche Statistiken zu führen, damit Sie derartige Fragen im Parlament beantworten können?
Nein, Herr Kollege. Ich habe mir überlegt, welchen Sinn eine solche Statistik haben könnte. Ich denke, eine Statistik hat nur Sinn, wenn man aus ihr Schlußfolgerungen ziehen kann. Ich will auf den immensen Verwaltungs-und Personalaufwand nicht weiter eingehen. Ich glaube aber nicht, daß wir uns entschließen werden, auf Grund dieser Fragestunde eine derartige Statistik einzurichten.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß die zwischen dem Arbeitsministerium und Ihrem Haus arbeitende Kommission solches Material braucht, um zu den Schlüssen zu kommen, die die Erfüllung ihres Auftrages beinhaltet?
Nein, ich kann nicht ganz den Zusammenhang erkennen, Herr Kollege. Sie haben gefragt:
Wie viele Wehrpflichtige wurden seit dem 1. Januar 1973 einberufen, die gegen ihren rechtzeitig gestellten, aber abgelehnten Antrag auf Kriegsdienstverweigerung Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht hatten, und wie viele, deren Antrag nach der Musterung gestellt wurde und die noch keinen Einberufungsbescheid erhalten hatten?
Diese Frage wird bei der Kommission, soweit ich das beurteilen kann, keine Rolle spielen, weil dies im Grunde genommen keine Frage der Wehrgerechtigkeit ist, sondern eine Frage des Zivildienstes und der Einberufung von Zivildienstleistenden.
Ich rufe die Frage 12 des Herrn Abgeordneten Hansen auf:
Wie viele Soldaten, über deren Antrag noch nicht rechtskräftig entschieden ist oder der rechtskräftig abgelehnt war, wurden stationär psychiatrisch behandelt, wegen Befehlsverweigerung disziplinarisch bestraft, wegen Befehlsverweigerung gerichtlich bestraft, begingen Dienstflucht, wurden wegen Dienstflucht disziplinarisch oder gerichtlich mit welcher Strafe belegt oder begingen Selbstmord?
Frau Präsidentin! Herr Kolder Lage, Ihre Frage zu beantworten. Zur Frage der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt hat oder ein solcher Antrag rechtskräftig abgelehnt wurde, ist weder ein Erfassungsmerkmal für Wehrmedizinalstatistiken noch für Statistiken über Strafoder Disziplinarmaßnahmen. Ich bin daher nicht in Lage, Ihre Frage zu beantworten. Zur Frage der Selbsttötung habe ich in der Fragestunde am 21. März 1974 Stellung genommen. Danach hat sich 1972 und 1974 jeweils ein Soldat das Leben genommen, dessen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer abgelehnt worden war.
Zusatzfrage? — Bitte!
Herr Staatssekretär, welche Stellung würden Sie zu der Behauptung der Verbände der Kriegsdienstverweigerer nehmen, daß durch den Zwang zum Waffendienst, dem seit dem 1. Januar 1974 auch die zur Bundeswehr eingezogenen Kriegsdienstverweigerer unterworfen werden, Art. 4 Abs. 3 GG verletzt wird?
Herr Kollege, es gibt darüber Gerichtsurteile. So sagt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluß vom 14. Januar 1969:Die Verpflichtung zum Wehrdienst mit der Waffe ist Bestandteil der Grundpflicht des Soldaten gemäß § 7 Soldatengesetz. Diese Pflicht obliegt auch den Soldaten, die einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt haben. Erst die positive Entscheidung über den Antrag gibt dem Soldaten das Recht, den Waffendienst zu verweigern. Bis zu diesem Zeitpunkt bestehen seine Dienstpflichten, insbesondere seine Gehorsamspflicht gegenüber Befehlen von Vorgesetzten, in vollem Umfang weiter.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5949
Parl. Staatssekretär BerkhanDiese Urteile wurden auch durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt, so daß ich davon ausgehen muß, Herr Kollege, daß in der Urteilsbegründung eine Antwort auf Ihre Frage, wenn ich sie richtig verstanden habe, beinhaltet ist.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich muß doch noch einmal eine Frage nach der Statistik stellen, natürlich im Hinblick auf eine gewisse Verwendung: Können Sie mir sagen, wie viele Soldaten trotz eingereichter Klage beim Verwaltungsgericht als nicht anerkannte Kriegsdienstverweigerer mehr als zwei Monate Dienst bei der Bundeswehr leisten mußten?
Herr Kollege Hansen, diese Frage kann ich Ihnen sicher nicht beantworten; denn ich glaube nicht, daß eine derartige Statistik vorliegt. Aber ich werde der Sache auf Grund des Protokolls dieser Fragestunde nachgehen, und sofern sich herausstellt, daß ich die Frage beantworten kann, schreibe ich Ihnen einen Brief.
Aber, Herr Kollege Hansen, eine grundsätzliche Bemerkung: Wir führen im Verteidigungsministerium soviel Statistiken, daß ich befürchte, wenn wir immer mehr Statistiken beginnen, kann am Ende kein Mensch mehr etwas mit den Statistiken anfangen, und wir drehen uns nur noch um uns selbst, weil wir ununterbrochen irgendwelche Tatbestände statistisch oder elektronisch-datenverarbeitungsmäßig aufarbeiten.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Conradi.
Herr Staatssekretär, anknüpfend an Ihre letzte Antwort: Finden Sie es nicht auch erstaunlich, daß bei der außerordentlichen bürokratischen und statistischen Aufwand, den die Bundeswehr um sehr nebensächliche Gegenstände betreibt, Zahlen zu der Frage stationär psychiatrisch behandelter Bundeswehrangehöriger und den Gründen für diese Behandlung nicht vorhanden sind?
Das hängt natürlich im wesentlichen auch mit der ärztlichen Schweigepflicht zusammen, Herr Conradi. Ich werde Ihren Hinweis aufnehmen und werde noch einmal mit dem Inspekteur des Sanitätswesens in Ruhe darüber reden. Aber ich glaube nicht, daß uns das wesentlich weiter hilft, weil wahrscheinlich diese Aussagen höchstens in den ärztlichen Statistiken, die nur den Fachleuten zugänglich sind, gemacht werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, finden Sie es angesichts der Tatsache, daß über Disziplinarstrafen sehr genaue Statistiken geführt werden, nicht erstaunlich, daß gerade das Merkmal der Befehlsverweigerung bei nicht anerkannten Kriegsdienstverweigerern nicht auftaucht, und halten Sie das, entgegen Ihren sonstigen heute gemachten Äußerungen, nicht doch für einen Aspekt, der für die Zukunft der allgemeinen Wehrpflicht oder des Zivildienstes interessanter ist als etwa Statistiken, die bei der Bundeswehr über Badehosen, Schrauben, über Truppenbesuche und sonstige Dinge geführt werden?
Ich finde das nicht erstaunlich, Herr Kollege Gansel, weil ich der Meinung bin, daß wir, an Recht und Gesetz gebunden,
in Auslegung der Grundpflichten und des Grundgesetzes den Soldaten auferlegen müssen, Befehlen gegenüber Gehorsam zu leisten und dem Dienst mit der Waffe nachzukommen;
so festgelegt im Bundesverwaltungsgerichtsbeschluß vom 14. Januar 1969, bis heute nicht aufgehoben und bis heute nicht verändert und auch vom Verfassungsgericht bestätigt. Ich will aber diese Fragestunde gern nochmals zum Anlaß nehmen, alles noch einmal sorgfältig prüfen zu lassen.
Darüber hinaus meine ich wirklich, daß die Erfassung der Kriegsdienstverweigerer schon eine große Schwierigkeit ist. Danach zu unterscheiden, ob sie nun noch eine Befehlsverweigerung begehen, bedeutet eine weitere große Schwierigkeit. Das würde ein sehr umständliches Meldeverfahren zur Folge haben, während alle anderen Verfahren, die Sie hier beanstanden, seit Jahren in einem ganz normalen statistischen Verfahren laufen.
Wir kommen zur Frage 13 des Herrn Abgeordneten Dr. Schwencke:
Welche planerischen und Auftragsvergabe-Konsequenzen hat oder wird die Bundesregierung aus der schon im Herbst vergangenen Jahrs als vor dem Abschluß stehende „Studie" zur Rüstungspolitik — dem Überangebot von Kapazitäten und dem stark reduzierten Bundeswehrbedarf — ziehen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Frau Präsident, Herr Kollege, in meiner Antwort vom 13. September 1973, auf die sich Ihre Frage bezieht, hatte ich unter anderem dargelegt, daß im Verteidigungsministerium Untersuchungen über den Grad der Kapazitätsauslastung in einigen kritischen Industriezweigen laufen und daß das Verteidigungsministerium bestrebt ist, an Hand des Ergebnisses solcher Untersuchungen die betroffenen Industriezweige und Firmen rechtzeitig über die künftige Entwicklung zu informieren, damit diese sich in ihren Planungen darauf einstellen können. In meiner Antwort vom 13. März
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5950 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Parl. Staatssekretär Berkhan1974 auf die Frage des Kollegen Gansel zum gleichen Komplex habe ich dargelegt, daß die Kapazitätsuntersuchungen eine Daueraufgabe darstellen, bei der die einzelnen rüstungswirtschaftlich relevanten Industriezweige gesondert zu betrachten sind.Ihre jetzige Frage nach den planerischen und vergabemäßigen Konsequenzen der Bundesregierung bei etwaigen Überkapazitäten nehme ich zum Anlaß, festzustellen, daß die Bemessung der Kapazitätsgrößen und damit die Frage der Kapazitätsauslastung grundsätzlich in den Verantwortungsbereich der betroffenen Unternehmungen fällt. Die Bundeswehr kann ihre Materialplanungen nicht nach den kapazitätsmäßigen Erfordernissen der Industrie richten. Grundlage ihrer Rüstungsplanung ist der militärische Bedarf, begrenzt durch das jeweilige Haushaltsvolumen. Das Verteidigungsministerium kann lediglich versuchen, die betroffenen Industriezweige durch eine rechtzeitige Unterrichtung über voraussichtliche und künftige Bedarfsentwicklungen zu einer bedarfsgerechten Kapazitätsplanung anzuregen.Überkapazitäten in der Wirtschaft können auch nicht zu einer grundsätzlichen Änderung der Auftragsvergabepolitik des Verteidigungsministeriums führen. Nach der Bundeshaushaltsordnung sind öffentliche Aufträge nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit und im Wettbewerb zu vergeben. Selbstverständlich wird versucht, gegebenenfalls kurzfristig auftretenden und nicht vorhersehbaren Schwierigkeiten zu begegnen und im Rahmen des Möglichen abrupte Arbeitsplatzgefährdungen zu vermeiden. Das gilt aber nur für kurzfristige Übergangsmaßnahmen. Mittel- und langfristig kann das Verteidigungsministerium keine Garantie für die Belegung bestimmter Kapazitäten und damit für die Sicherung bestimmter Arbeitsplätze übernehmen. Fehlplanungen der Unternehmer können nicht durch Bevorzugung gegenüber anderen Wettbewerbern ausgeglichen werden.
Eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß von der ursprünglichen Intention der Studie, nämlich zu versuchen, Rüstungsbedarf und Kapazität miteinander in Relation zu setzen, abgegangen worden ist, und daß darum keine planerischen und Auftragsvergaberesultate von Ihnen genannt werden können?
Nein, dann haben Sie mich nicht richtig verstanden. Das ist eine Planungsstudie. Das beinhaltet nicht, daß das ein Programm ist, sondern diese Studie versucht, in die Zukunft hineinzuleuchten und festzustellen, welche Entwicklungsmöglichkeiten hier oder dort eintreten könnten. Ob sie dann wirklich so eintreten, hängt von vielen anderen Faktoren ab.
Eine zweite Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich muß noch einmal nachhaken: Diese Studie ist dann offensichtlich noch nicht abgeschlossen, denn sonst hätten Sie mir doch wahrscheinlich eine präzise und für die Betroffenen brauchbare Antwort auf meine Frage geben müssen.
In meiner Antwort habe ich klargemacht, daß die Anpassung ein Dauerauftrag ist. Das wird auch nicht aufhören.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, gibt es im Bereich der Luft- und Raumfahrtindustrie Überkapazität?
Das muß ich untersuchen lassen. Das wird wieder eine komplizierte Statistik.
Das wird sehr teuer. Aber ich kann hier nur Vermutungen aussprechen.
Wenn ich die Luft- und Raumfahrtindustrie in Europa und der Welt betrachte, wird es Überkapazitäten geben. Ob es in der Bundesrepublik Deutschland Überkapazitäten gibt, hängt davon ab, wie konkurrenzfähig diese Industrie ist und wie sehr sie an den Aufträgen, die in Konkurrenz vergeben werden, partizipieren wird. Aber das vermag ich nicht zu übersehen, weil das ein langfristiger Prozeß ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, da mir immer noch nicht klargeworden ist, was das eigentlich für eine Studie ist, möchte ich noch einmal nachfragen: Handelt es sich dabei um einen Forschungsauftrag oder ein Arbeitsgebiet für einige Beamte oder wird ein Aktenordner geführt oder wird darüber nur — oder immerhin — nachgedacht oder wird vielleicht sogar eine Statistik geführt? Was ist das? Eine Studie muß doch irgendwann einmal zu einem Ende kommen. Sie wird doch nicht ewig weitergeschrieben, es sei denn, man wollte aus ihr nie Konsequenzen ziehen; dann schreibt man so etwas im allgemeinen weiter.
Herr Kollege Gansel, wir ziehen jedes Jahr im Rahmen der Verabschiedung des Haushalts Konsequenzen aus solchen Unterlagen. Ich bedaure, daß durch den Kollegen Schwenke die Vokabel „Studie" eingeführt worden ist.
Ich habe sie aufgenommen, natürlich. Ich rede hier ja sehr frei, Herr Gansel, und ich weiß natürlich, daß Sie mich in die Zwickmühle nehmen und
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5951
Parl. Staatssekretär Berkhanmich an jedem Wort aufhängen können. Dafür stehe ich ja hier, dafür werde ich ja hier aufgestellt.Ich kann Ihnen nur sagen, daß im Ministerium selbstverständlich Unterlagen geführt werden und daß wir daran interessiert sind, dort, wo es möglich und notwendig ist, unsere finanzielle Masse in Gleichklang und in Deckung zu bringen mit schwierigen industriellen Entwicklungen in den Gebieten. Wir bemühen uns sehr, das zu erreichen. Dazu bedarf es vieler Gespräche, vieler Akten. Dazu bedarf es auch Statistiken, die wir zu einem Teil gar nicht selbst erstellen; die erstellen der Wirtschaftsminister oder Verbände. Dazu bedarf es vieler Beratungen mit Wirtschaftsverbänden und mit Gewerkschaften. Dazu wird alles Mögliche herangezogen; nicht nur dieses eine Papier, über das Sie mich gerade befragt haben.
Keine weitere Zusatzfrage. Damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich danke Ihnen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Wolters zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 14 des Herrn Abgeordneten Dr. Hammans auf:
Treffen Pressemeldungen zu, nach denen Berliner Obst- und Gemüseimporteure vereinbart haben, den Import von grünen Salaten zu stoppen, weil in holländischen und belgischen Treibhäusern das Pflanzenschutzmittel Quintozen bei der Produktion dieses Salats verwendet wurde, und hält die Bundesregierung eine Änderung der Verordnungen zum Pflanzenschutzgesetz für notwendig?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident, Herr Abgeordneter Hammans, die Pressemeldungen, die Sie anführen, sind richtig. Der Verband des Berliner Frucht-Import- und Großhandels e. V. hat das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit am 14. März 1974 davon unterrichtet, daß er seine Mitgliedsfirmen mit Rundschreiben vom 12. und 14. März 1974 darüber informierte, daß der weitere Handel mit holländischem Kopfsalat Strafverfolgungen nach sich ziehen könne und er ihnen deshalb empfiehlt, den Handel mit unter Glas gezogenem Kopfsalat sofort einzustellen.
Die Bundesregierung zieht in Erwägung, eine Änderung der auf das Lebensmittelgesetz gestützten Höchstmengenverordnung „Pflanzenschutz, pflanzliche Lebensmittel" auch in bezug auf Quintozen im Rahmen der für 1974 vorgesehenen zweiten Änderung dieser Verordnung vorzunehmen.
Das Bundesministerium ist 'der Ansicht, daß auf Grund der gutachtlichen Stellungnahme des Bundesgesundheitsamtes, die sich auf neuere Ergebnisse toxikologischer Untersuchungen stützt, der Höchst-mengenwert von Quintozen für Treibhaussalat — ein Mittel gegen Pflanzenkrankheiten, die vom Boden her angreifen und vermehrt beim Anbau von Salat unter Glas auftreten — heraufgesetzt werden kann. Insoweit ist ein gesundheitliches Risiko durch
die Versorgung der Bevölkerung mit Wintersalat damit nicht verbunden.
Die im vergangenen Jahr erfolgte neue Empfehlung durch ,die Expertenarbeitsgruppe der Welternährungsorganisation über Pflanzenschutzmittelrückstände und das Expertenkomitee für Pflanzenschutzmittelrückstände der WHO sowie eingehende Erörterungen der Toxikologen des niederländischen Reichsinstituts für Volksgesundheit und des Deutschen Bundesgesundheitsamtes rechtfertigen die neue Bewertung und Heraufsetzung der QuintozenToleranz. Es hat sich herausgestellt, daß sich der Verdacht auf kanzerogene Wirkungen des Quintozen nicht bestätigte. Eine Korrektur der Toleranz ist daher bei dem für Quintozen verwendeten tausendfachen Sicherheitsfaktor vertretbar.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß sich die Bemühungen der Bundesregierung bei der Änderung der Rückstandsverordnung ausdrücklich auf die Empfehlungen der WHO beziehen werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie beziehen sich auf die Empfehlungen und die Untersuchungen sämtlicher genannter Institutionen, d. h. der WHO, der FAO und die toxikologischen Untersuchungen des Bundesgesundheitsamtes.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sollte nicht trotzdem dieser Fall, der in Berlin Aufmerksamkeit erregt hat, zum Anlaß genommen werden, die Beratungen über das Lebensmittelrecht, die in vollem Gange sind, dahin gehend zu beeinflussen, daß den Einfuhren und den Kontrollen an der Grenze ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, einerseits zum Schutze des deutschen Verbrauchers und andererseits zum Schutze der deutschen Landwirtschaft, die ja unter schwierigeren Verhältnissen produzieren muß, weil unsere Höchstmengenverordnung besonders hohe Anforderungen stellt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Hammans, in diesem Fall dreht es sich darum, daß die Untersuchungen ergeben haben, daß man einen zu strengen Maßstab angelegt hat, so daß eine Gefährdung des Verbrauchers selbst dann, wenn dieser Salat auch in größerem Umfang in den Handel gekommen wäre, nicht aufgetreten wäre. Unabhängig von diesem speziellen Fall ist die Bundesregierung aber der Auffassung, daß, wie beinahe bei jedem anderen Gesetz, so auch im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung der Vollzug des Gesetzes entscheidend ist; das trifft also auf Ihre so gestellte Frage in genau der gleichen Weise zu.
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5952 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 15 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß aus Holland nach Berlin importierter Salat 3,0 ppm Quintozen enthalten hat bei einer in Deutschland zugelassenen Menge von 0,3 ppm, und was gedenkt sie zu unternehmen angesichts der sicheren Annahme, daß auch in die übrigen Länder der Bundesrepublik Deutschland holländischer Salat eingeführt wurde, der der deutschen Rückstandsverordnung nicht entspricht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident, Herr Abgeordneter Eigen, der Bundesregierung ist bekannt, daß holländischer Salat höhere Rückstandsmengen enthielt, als sie in der Bundesrepublik seit dem 1. Januar 1974 zulässig sind. Mitte Februar haben eingehende Gespräche niederländischer und deutscher Toxikologen — ich habe das in der Antwort auf die vorige Frage bereits ausgeführt — über das Problem der QuintozenRückstände bei Salat stattgefunden. Ebenso haben Vertreter der niederländischen und deutschen Gesundheits- und Landwirtschaftsministerien in der vergangenen Woche das Problem dieser Rückstände auf unter Glas angebautem Salat eingehend erörtert. Auf Grund dieser Erörterungen sowie auf Grund ,der soeben zitierten Vorschläge ist das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zur Zeit dabei, den obersten Gesundheitsbehörden der Länder, die für die Lebensmittelüberwachung zuständig sind, mitzuteilen, daß keine Bedenken bestehen, dem Vorschlag des Bundesgesundheitsamtes zu folgen, auf Grund der Ergebnisse neuerer toxikologischer Untersuchungen für Treibhaussalat eine Höchstmenge von 3 ppm in der nächsten, in diesem Jahr erfolgenden Änderung der Höchstmengenverordnung „Pflanzenschutz, pflanzliche Lebensmittel" festzusetzen.
Eine Zusatzfrage.
Auf welche Umstände führen Sie es zurück, Herr Staatssekretär, daß in Berlin diese Mengen an Quintozen festgestellt wurden, aber in keinem anderen Land der Bundesrepublik Deutschland, obgleich wir wissen, daß in alle Länder der Bundesrepublik Salat aus Holland eingeführt worden ist, so daß normalerweise dann auch der übrige Salat in den anderen Bundesländern eine so hohe Menge an Quintozen enthalten müßte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann dazu naturgemäß nur Vermutungen anstellen. Eine wäre, daß es sich bei der Gesamtmenge des aus Holland eingeführten Salats keineswegs immer um solchen handeln muß, bei dem das angesprochene Pflanzenschutzmittel in dieser Weise verwendet worden ist. Es gäbe die andere Vermutung, daß das Netz der Kontrollen tatsächlich unterschiedlich gewirkt hat. Aber beides sind nur Vermutungen.
Eine Zusatzfrage.
Unter Annahme, daß die in Beantwortung meiner Frage gemachten letzten Ausführungen, nicht aber die ersten zutreffend sind, möchte ich Sie fragen: Was werden Sie unternehmen, damit in Zukunft sichergestellt ist, daß an der Grenze der Bundesrepublik Deutschland dahin gehende Untersuchungen durchgeführt werden, daß die Einhaltung zulässiger Höchstgrenzen solcher Pflanzenschutzmittelrückstände für unsere Bevölkerung garantiert ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da ich von Vermutungen gesprochen habe, kann ich Ihre Frage im Grunde genommen nicht beantworten. Denn Sie werden wahrscheinlich mit mir der Meinung sein, daß Vermutungen eine sehr unzureichende Grundlage sind, um irgendwelche Konsequenzen, wie Sie sie angedeutet haben, zu ziehen.
Andererseits ist es nach dieser Feststellung in Berlin sicher notwendig, daß man sich darüber unterrichtet, ob die letztere von mir ausgesprochene Vermutung tatsächlich zutrifft. Dies bedeutet eine Anfrage an die entsprechenden Landesbehörden; Sie läuft.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hammans.
Herr Staatssekretär, im Hinblick darauf, daß Sie bei der Beantwortung der Frage des Kollegen Eigen hinsichtlich der Rückstände von anderen Grenzen gesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob die Biologische Bundesanstalt und auch das Bundesgesundheitsamt angewiesen sind, laufend Untersuchungen anzustellen, ob nicht bei anderen Mitteln die Toleranzgrenzen möglicherweise herabgesetzt werden müssen, weil neuere Erkenntnisse dazu Anlaß geben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich führt das Bundesgesundheitsamt laufend solche Untersuchungen durch. Wie aus meiner Antwort auf diese beiden Fragen hervorgegangen ist, tut dies nicht das Bundesgesundheitsamt allein, sondern tun das auch eine ganze Reihe von ähnlichen Institutionen im internationalen Raum mit einem entsprechenden wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch.
Es ist völlig klar, daß es sich gerade bei den Pflanzenschutzmittelrückständen um ein Gebiet handelt, das einer ständigen Anpassung des Rechts, insbesondere der Verordnungen an neue wissenschaftliche Erkenntnisse bedarf.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Spitzmüller.
Herr Staatssekretär, muß es den Verbraucher nicht außerordentlich verwirren, wenn er von Ihnen erfährt, daß die zulässige Rückstandsmenge von jetzt 0,3 ppm im nächsten Jahr auf
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5953
Spitzmüller3,0 ppm, d. h. also auf die zehnfache Menge, erhöht wird, und entsteht hier nicht der Eindruck, daß solche Bestimmungen offensichtlich gelegentlich sehr engherzig und dann plötzlich vielleicht wieder sehr weitherzig festgelegt werden und daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse hier doch sehr fragwürdig sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbst wenn eine solche Verwirrung des Verbrauchers entstehen sollte — was ich bezweifle —, würde ich es dennoch für das einzig vertretbare Vorgehen halten, daß man, solange exakte wissenschaftliche Erkenntnisse ausstehen, den an der Meßgrenze orientierten Mindestwert als hinnehmbare Schwelle definiert. Dann kann man getrost abwarten, ob Erkenntnisse, die man sammelt, einen in die Lage versetzen, diesen Toleranzwert hochzusetzen.
Auf den speziellen Fall bezogen, darf ich noch einmal erwähnen, daß es sich um einen tausendfachen Sicherheitsfaktor gehandelt hat, zu dem man die soeben von Ihnen zitierte Relation von 1 : 10 ins Verhältnis setzen muß.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Härzschel.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß man erst negative Erfahrungen machen muß und daß von daher ein Hochsetzen dieser Grenzen gerechtfertigt sei?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben mich völlig mißverstanden. Ich habe genau umgekehrt formuliert und gesagt: Solange wissenschaftliche Erkenntnisse nicht erlauben, einen höheren Toleranzwert festzusetzen, muß der Toleranzwert so gering wie möglich angesetzt werden, d. h. er orientiert sich an der Meßgrenze.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Früh.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Möglichkeit, daß diese Bestimmungen, die bei uns erlassen werden, auch in den übrigen Ländern — mindestens der Europäischen Gemeinschaft — realisiert werden können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich beurteile diese Möglichkeiten deswegen als gut, weil auch auf diesem Gebiet ständige Bemühungen im Gange sind, um die jeweiligen Bestimmungen aneinander anzupassen. Sie kennen die Schwierigkeiten, die im Einzelfall dann auftreten, wenn Gesichtspunkte der Abwehr von Gesundheitsgefahren mit wirtschaftlichen Interessen in Kollision geraten. Unabhängig von diesem Aspekt ist es ein ständiges Bemühen, auch da zumindest im Rahmen der EG zu einer Anpassung zu kommen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Dann rufe ich die Frage 16 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß im Januar 1974 salmonellenhaltiges entbeintes Geflügelfleisch aus Italien über die holländische Grenze eingeführt worden ist, und was gedenkt sie gegen die ständige Vergiftung deutscher Verbraucher durch ausländische Lebensmittelimporte zu unternehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident, Herr Abgeordneter Eigen, der Bundesregierung ist bekannt, daß im Januar 1974 mit Salmonellen befallenes Geflügelfleisch aus Italien über die holländische Grenze verbracht worden ist.
Mit dem Geflügelfleischhygienegesetz vom 12. Juli 1973 und den dazugehörenden Folgeverordnungen wurde die Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 15. Februar 1971 zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim Handelsverkehr mit frischem Geflügelfleisch in deutsches Recht übernommen. Das Geflügelfleischhygienerecht regelt durch strenge Maßnahmen sowohl die Hygiene in den Schlachtbetrieben, bei der Lagerung und dem Transport des Geflügelfleischs als auch die amtliche Untersuchung des Schlachtgeflügels und des gewonnenen Fleisches.
Geflügelfleisch, das in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt wird, unterliegt einer Eingangsuntersuchung auf Mängel, insbesondere solche, die geeignet sein können, die Gesundheit des Menschen zu schädigen. Nur zum Genuß für Menschen taugliches Fleisch darf in den innerstaatlichen Handelsverkehr verbracht werden.
Entsprechende Vorschriften des Fleischbeschaurechts schützen davor, daß gesundheitsbedenkliches Fleisch von Rindern, Schweinen, Schafen, Ziegen und Einhufern in die Bundesrepublik Deutschland gelangt. Durch das Gesetz zur Änderung des Fleischbeschaugesetzes vom 5. Juli 1973 gilt ab 1. Januar 1975 diese Regelung auch für die Einfuhr von Wildbret.
Aus dem geschilderten Anlaß wurde den obersten Landesveterinärbehörden die Auffassung des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit zur Durchführung der Eingangsuntersuchung bei Einhufern, von frischem zerkleinertem Geflügelfleisch und zur Beurteilung bei der Feststellung eines Befalls mit Salmonellen oder eines erhöhten Knochenanteils mitgeteilt. Die obersten Landesveterinärbehörden wurden gebeten, sich diese Auffassung, daß mit Salmonellen verschmutzte Sendungen nicht zur Einfuhr oder zum Verbringen zugelassen werden können, zu eigen zu machen und die für die Durchführung der Eingangsuntersuchung zuständigen Stellen entsprechend anzuweisen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Wie verträgt sich mit diesen Ausführungen, daß die untersuchten 20 Tonnen Geflügelfleisch, die tatsächlich Salmonellen enthielten, nicht zurückgeschickt bzw. gestoßen wurden, sondern eingeführt werden durften?
Metadaten/Kopzeile:
5954 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das können Sie meinen Ausführungen nicht entnehmen; die angesprochene Sendung ist zurückgeschickt worden.
Bitte: die zweite Zusatzfrage.
Ich habe eine Antwort Ihres Kollegen Westphal auf eine Anfrage, die besagt, daß dieses Geflügelfleisch nicht gestoßen und zurückgeschickt werden konnte, weil Gerichtsurteile des Verwaltungsgerichts in bezug auf den damaligen Salmonellenbefall bei argentinischen Hasen vorliegen, die eine solche Maßnahme nicht zulassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann kann ich mich nur darum bemühen, aufzuklären, ob ein vollständiger Sachstand zu dem Zeitpunkt, als Herr Kollege Westphal Ihnen diesen Brief geschrieben hat, noch nicht erkennbar war. Jedenfalls ist dieses Geflügelfleisch zum Freihafen Hamburg zurückgebracht worden.
Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 17 des Herrn Abgeordneten Härzschel auf:
Wie hat sich die Lebenserwartung von Männern und Frauen in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten fünf Jahren verändert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Herr Abgeordneter Härzschel! Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes liegen für die letzten fünf Jahre Vergleichszahlen, aus denen sich die Veränderung der Lebenserwartung ergeben würde, im einzelnen nicht vor. Vergleicht man die für 1969/1971 ermittelte Lebenserwartung — das sind die neuesten Angaben — mit den für 1964/1966 ermittelten Werten für Neugeborene, Einjährige, 60jährige oder 65jährige, so zeigt sich, daß die Lebenserwartung der Frauen fast unverändert geblieben ist, während die Lebenserwartung der Männer fast jeden Lebensalters sich um ein knappes halbes Jahr verringerte.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Härzschel.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Untersuchungen über die Ursachen dafür angestellt, und gibt es hier unterschiedliche Entwicklungen bei verschiedenen Berufs- oder Bevölkerungsgruppen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung selbst hat umfangreichere Untersuchungen über die Ursachen nicht angestellt. Es gibt aber eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Veröffentlichungen dazu. Dies reicht ja sehr weit in die Häufigkeitsverteilung von einzelnen Krankheiten hinein,
die man natürlich auch wiederum nach Berufsgruppen aufschlüsseln könnte, was bisher aber kaum geschehen ist. Dies ist im übrigen Zeichen eines Nachholbedarfs der Sozialmedizin und der epidemiologischen Forschung. Es ist aber in diesem Zusammenhang zu sehen, daß man die von mir soeben in der Antwort auf Ihre Frage angedeutete Entwicklung im Grunde genommen schon über mehrere Jahrzehnte hinweg verfolgen kann, jedenfalls in dem Sinne, daß es zu einer größeren Öffnung der Schere zwischen der Lebenserwartung der Frauen und der Lebenserwartung der Männer kommt.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, Sie wissen sicher, daß die Entwicklung in vergleichbaren europäischen Ländern anders läuft und daß dort eine höhere Lebenserwartung zu verzeichnen ist. Finden Sie es nicht sonderbar, daß die Bundesregierung zwar ständig von der Verbesserung der Lebensqualität spricht, Sie aber nicht einmal eine Untersuchung darüber anstellen, weshalb die Lebenserwartung zurückgegangen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich finde das deswegen nicht sonderbar, Herr Abgeordneter, weil der Umfang solcher Untersuchungen verkannt wird, wenn man meint, daß sie die Bundesregierung in eigener Regie durchführen könnte. Ich glaube, man muß sich darüber im klaren sein, daß damit sämtliche Forschungsergebnisse, die im Bereich der Medizin überhaupt erhoben werden, angesprochen sind; denn Sie können davon ausgehen, daß praktisch jede Krankheit in der einen oder anderen Weise einen Einfluß auf die Lebenserwartung hat. Wenn man ein Ursachenbündel in der von Ihnen geforderten Weise zusammenstellt, verlangt man damit im Grunde genommen von der Bundesregierung, daß sie sämtliche Krankheitsfaktoren, die in der Medizin überhaupt bekannt sind, in einer bestimmten Rangordnung darstellt.
Keine Zusatzfrage? — Ich rufe die Frage 18 des Herrn Abgeordneten Fiebig auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Prüfung der Arzneimittel auf Unbedenklichkeit und Wirksamkeit nach dem Entwurf der 2. EG-Richtlinie und nach der Deutschen Prüfungsrichtlinie vom Juni 1971 nach Auffassung führender Fachwissenschaftler wissenschaftlich nicht haltbar ist, weil Tierversuche bestenfalls Anhaltspunkte, aber keine Beweise der Unschädlichkeit am Menschen erbringen können, da die sogenannte klinische Prüfung am gesunden Menschen über die Wirksamkeit am Kranken nichts aussagen kann, während schließlich eine therapeutische Prüfung am Kranken unausweichlich einen Versuch am Menschen darstellen würde, die nach der Deklaration von Helsinki nicht zulässig ist, und welche Konsequenzen wird die Bundesregierung daraus für die geplante Arzneimittelrechtsreform ziehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident, Herr Abgeordneter Fiebig, bei der Beantwortung Ihrer Frage gehe ich davon aus, daß Sie nicht den Entwurf der Zweiten Pharmazeutischen EG-Richtlinie meinen, sondern den Entwurf einer EG-Prüfrichtlinie für Arzneispezialitäten. Dieser Entwurf wurde von der EG-Kommission unter Mit-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5955
Staatssekretär Dr. Wolterswirkung von qualifizierten europäischen Wissenschaftlern ausgearbeitet. Er liegt zur Zeit dem EG-Ministerrat zur Entscheidung vor. Über ihn besteht unter den neun Mitgliedstaaten bereits weitgehendes Einvernehmen. Die von Ihnen zitierte deutsche Prüfrichtlinie beruht weitgehend auf dem Entwurf der EG-Prüfrichtlinie. Diese deutsche Prüfrichtlinie ist unter Mitwirkung anerkannter Wissenschaftler, die Mitglieder in dem vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit gebildeten Beirat für Arzneimittelsicherheit sind, ausgearbeitet worden. Außerdem sind dabei die Richtlinien der deutschen Pharmakologischen Gesellschaft und der deutschen Gesellschaft für Innere Medizin berücksichtigt worden. Die Bundesregierung ist deshalb der Auffassung, daß der Entwurf der EG-Prüfrichtlinie und die im Bundesanzeiger bekannt gemachte deutsche Prüfrichtlinie dem internationalen wissenschaftlichen Standard entsprechen.Es ist unstreitig, daß die Ergebnisse von Tierversuchen nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen werden können. Gleichwohl geben sie wertvolle Anhaltspunkte für die toxikologische Beurteilung eines neuen Arzneimittels, auf die als Voraussetzung für die Erprobung des Arzneimittels am Menschen unter keinen Umständen verzichtet werden kann. Leider machen jedoch die Tierversuche eine klinische Erprobung neuer Arzneimittel am Menschen nicht entbehrlich. In der Deklaration von Helsinki, die der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Bundesanzeiger bekanntgemacht hat, hat der Weltärztebund für die klinische Erprobung von Arzneimitteln am Menschen ethische Grundsätze verkündet. Nach diesen Grundsätzen ist entgegen der in Ihrer Anfrage aufgestellten Behauptung die Erprobung neuer Arzneimittel auch am kranken Menschen unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Die von der Bundesregierung beabsichtigte Arzneimittelrechtsreform wird sich an diesen Grundsätzen orientieren. In diesem Zusammenhang weise ich auf Art. 1 §§ 34 und 35 des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts hin, der den Fraktionen des Bundestages vorliegt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung, daß eine Prüfung von Medikamenten nur im Rahmen des Behandlungsauftrages des Patienten an den behandelnden Arzt erfolgen kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin der Auffassung und habe das, wie ich glaube, auch eben so ausgeführt, daß, orientiert an den bei der Deklaration von Helsinki niedergelegten Gesichtspunkten, zunächst eine Prüfung am Tier vorauszugehen hat, daß entsprechende andere pharmakologische und pharmazeutische Untersuchungen vorauszugehen haben und daß dann, je nachdem, um was für ein Arzneimittel es sich handelt, eine klinische Erprobung an freiwilligen gesunden oder an kranken Menschen — ebenfalls selbstverständlich auf der
Grundlage der Freiwilligkeit — unter der Voraussetzung, daß es sich bei dem, der diese Dinge durchführt, um einen entsprechend qualifizierten Arzt handelt und daß eine Einverständniserklärung vorliegt, erfolgen kann.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 19 des Herrn Abgeordneten Fiebig auf:
Entspricht es der Auffassung der Bundesregierung — wie von Staatssekretär Wolters in einen Interview geäußert — , daß die Zahl der Arzneimittel vermindert und damit die Konkurrenz der Hersteller eingeschränkt, eine Konzentration der Arzneimittelhersteller auf dem Weg des Arzneimittelgesetzes gefordert werden sollte, und ist die Bundesregierung sich darüber im klaren, daß die Verminderung der Konkurrenz und die Förderung der Konzentration zusammen mit den hohen Kosten der vorgesehenen Arzneimittelprüfungen erhebliche Preiserhöhungen auf dem Arzneimittelmarkt zur Folge haben wird, die zu weit überwiegendem Teil die Krankenversicherungen zu tragen hätten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Herr Abgeordneter Fiebig! Es ist die Auffassung der Bundesregierung, daß künftig für alle Arzneimittel der Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erbracht werden muß. Jeder Arzneimittelhersteller, dessen Arzneimittel diese Voraussetzungen erfüllen, und der den gesetzlich normierten, von der Weltgesundheitsorganisation lange geforderten Standards für den Herstellungsprozeß genügt, kann nach wie vor ungehindert am Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt teilnehmen. Es ist nicht auszuschließen, daß sich der in den letzten Jahren beobachtete Konzentrationsprozeß in der pharmazeutischen Industrie fortsetzen wird. Andererseits ist zu erwarten, daß auf Grund der von der Bundesregierung vorgesehenen Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz des Arzneimittelmarktes der Wettbewerb verstärkt wird.
Die Bundesregierung prüft bei der Vorbereitung der Neuordnung des Arzneimittelrechts, ob und gegebenenfalls in welchem Umfange sich die Erhöhung der Arzneimittelsicherheit auf die Arzneimittelpreise auswirken kann.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie amerikanische Erfahrungen, nach denen die Zahl der auf dem Markt befindlichen Arzneimittel zwar gesunken ist, aber auch der Nutzen des Verbrauchers, sprich: Patienten sich gemindert hat und der Wettbewerb zwischen den Anbietern von Arzneimitteln erheblich beeinträchtigt worden ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich beurteile Erfahrungen, die beinhalten, daß sich die Zahl der Arzneimittel verringert hat, dann als positiv, wenn es sich um einen Markt handelt, bei dem die Zahl der Arzneimittel deshalb unüberschaubar ist, weil es zu einzelnen Wirkstoffen eine riesengroße Zahl von Wiederholungspräparaten gibt. Ich halte auf der anderen Seite nachteilige Wirkungen für den Patienten, der die Arzneimittel braucht, dann für
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5956 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Staatssekretär Dr. Woltersnicht vertretbar, wenn die Erforschung neuer Wirkstoffe durch eine Arzneimittelgesetzgebung in einer vermeidbaren Weise beeinträchtigt wird, weil die Erforschung neuer Wirkstoffe natürlich eine zwingende Notwendigkeit für den Patienten ist.Ich habe den dritten Aspekt Ihrer Frage — das waren drei Fragen auf einmal — jetzt nicht mehr im Kopf. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihn wiederholten.
Wie beurteilen Sie eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs dann, wenn der Arzneimittelmarkt in der von Ihnen angekündigten Weise eingeschränkt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir ist nicht bekannt und ich bezweifle auch, daß es auf dem amerikanischen Arzneimittelmarkt durch die Arzneimittelgesetzgebung der Vereinigten Staaten tatsächlich zu einer Beeinträchtigung des Wettbewerbs gekommen ist. Soweit die Bundesrepublik Deutschland angesprochen ist, habe ich sehr eindeutig ausgeführt, daß es eine definierbare Grenze gibt, die sich daran orientiert, daß die Arzneimittelsicherheit bei der Entwicklung der Arzneimittel und bei der Herstellung der Arzneimittel ohne Einschränkungen garantiert ist und daß es keine Regelung gibt und daß auch keine Regelung vorgesehen ist, die oberhalb dieser Schwelle auch nur in irgendeiner Weise in den Wettbewerb eingreifen könnte.
Herr Kollege Fiebig, Sie haben noch eine Frage.
Darf ich noch einmal auf Ihr Interview mit der „Ärztlichen Praxis" zurückkommen: Besteht nicht die Gefahr, daß durch die geplante Arzneimittelrechtsreform die Monopolstellung der pharmazeutischen Großindustrie noch mehr gestärkt wird und daß mittelständische Hersteller von Arzneimitteln durch sehr weitgehende Auflagen vom Ruin bedroht sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter! Ich kann dazu nur noch einmal sagen, daß die Standards für die Arzneimittelsicherheit und die Arzneimittelherstellung eine unverzichtbare Schwelle darstellen, die man auch deswegen nicht aufgeben könnte, weil man damit zwar vielleicht einen Betrieb erhalten könnte, aber um den Preis, daß der Bürger in diesem Lande — und so habe ich mich in diesem Interview ausgedrückt durch unzulässig ausgewiesene und kontrollierte Arzneimittel gefährdet werden könnte. Dies ist eine Güterabwägung, und da hat zweifellos der Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes den Vorrang. Ich bin aber gar nicht der Meinung — auch wenn man die Prioritäten in dieser Weise eindeutig setzt —, daß die Folge, die Sie eben angesprochen haben, eintreten muß, weil ein mittelständischer Betrieb natürlich in der Lage sein wird und in der Lage sein muß — ich sage es noch einmal —, genau diesen Kriterien zu genügen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Immer.
Herr Staatssekretär, lassen nicht schon heute manche Gewinnspannen auf dem sogenannten Arzneimittelmarkt darauf schließen, daß hier möglicherweise eine ungerechtfertigte Ausnutzung einer menschlichen Notlage konstatiert werden muß, die ja dazu führt, daß die Pflichtversicherten durch ständig steigende Beiträge diese Gewinnexplosion immer wieder auffangen müssen und zum Teil in einzelnen Jahren eine Steigerung von 20 bis 30 % hervorgerufen wird? Was gedenken Sie — wenn Sie dem zustimmen, dagegen zu tun?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst einmal fällt es mir schwer, den Zusammenhang dieser Zusatzfrage mit der ursprünglich gestellten Frage zu erkennen. Zweitens dürfte ein wesentlicher Teil der von Ihnen erwarteten Antwort in den Aufgabenkatalog des Bundeskartellamts gehören. Und drittens ist der Öffentlichkeit bekannt — und das ist hier sicherlich auch bekannt —, daß die Bundesregierung in ihrem Stabilitätsprogramm erklärt hat, daß sie auch auf dem ja nur sehr eingeschränkt als „Markt" zu bezeichnenden Arzneimittelmarkt Maßnahmen ergreifen will, die zu einer größeren therapeutischen Transparenz und auch zu einer größeren Preistransparenz führen sollen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Habe ich Ihre letzte Bemerkung so richtig verstanden, daß Sie mit mir der Meinung sind, daß man schon heute angesichts der Konzentration in der pharmazeutischen Industrie kaum noch von einem Wettbewerb sprechen kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich weiß nicht, woraus Sie entnommen haben, daß ich so formuliert haben könnte.
Im übrigen wäre die Konsequenz aus einer Situation, wie Sie sie geschildert haben, eine Fülle von Maßnahmen, die das Bundeskartellamt bereits eingeleitet haben müßte. Da ich keinen Anlaß zu der Vermutung habe, daß das Bundeskartellamt seinen Aufgaben nicht gerecht wird — Sie wissen, daß es in jüngster Zeit eine öffentliche Anhörung in diesem Zusammenhang gegeben hat —, stimme ich der Vermutung nicht zu, zumindest nicht in dem Umfang, in dem Sie sich ausgedrückt haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schwencke.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5957
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Ihre letzte Antwort die Konsequenz hat, daß Sie das Bundeskartellamt auf diesen Sachverstand hinweisen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich gehe davon aus, daß das Bundeskartellamt diesen Sachverstand hat. Dies ergibt sich u. a. daraus, daß das Bundeskartellamt — ich wiederhole das — in der jüngsten Zeit genau zu diesem Bereich eine öffentliche Anhörung durchgeführt hat.
Keine Zusatzfrage! Die Frage 20 der Abgeordneten Frau Schleicher wird vom Bundesminister des Innern beantwortet.
Ich rufe nunmehr die Frage 21 des Herrn Dr. Warnke auf. Der Herr Abgeordnete befindet sich nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Herr Staatssekretär Dr. Wolters, damit sind wir am Schluß der Fragen angelangt, die in Ihren Geschäftsbereich fallen. Vielen Dank!
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Zander anwesend. Die Frage 25 des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann ist zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 26 des Herrn Abgeordneten Immer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß Firmen, die im Bereich der Belieferung von Schulen mit Unterrichts- und Übungsmaterial bzw. -geräten ein gewisses Monopol besitzen, auch beim Bezug großer Mengen häufig um 300 bis 400 % höhere Preise berechnen als der örtliche Handel, und wie gedenkt sie diesen Mißstand zu beseitigen?
Herr Kollege Immer, der Erwerb von Unterrichts- und Übungsmaterial obliegt nach den jeweils unterschiedlichen Länderregelungen entweder den Ländern, den Schulträgern oder den Schulen selbst. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, auf Auswahl oder Preisgestaltung Einfluß zu nehmen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, das ist mir bekannt. Dennoch möchte ich fragen: Inwieweit wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß im Rahmen ihrer Förderung schulischer Modellversuche überhöhte Preisforderungen nicht länger geduldet und die Mittel effektiver genutzt werden?
Die Bundesregierung unternimmt dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der Richtlinien für die Förderung. Aber sie kann nicht den ganzen Bereich der unterschiedlichen Träger abdecken.
Eine zweite Zusatzfrage.
Ich möchte Sie weiter fragen: Inwieweit sind Sie bereit oder haben es bereits in Gang gesetzt, eine Initiative zur Klärung bzw. Lösung dieses Problems bei der Kultusministerkonferenz zu ergreifen?
Herr Kollege Immer, ich kann nicht übersehen, ob eine solche Initiative in der jetzigen Situation sehr sinnvoll wäre. Ich bin aber gern bereit, dies prüfen und feststellen zu lassen, ob wir von uns aus in dem von Ihnen gewünschten Sinn an die Kultusministerkonferenz das würde sich aber auch auf weitere Institutionen beziehen, die hier Schulträger sind — heranzutreten. Wir werden es prüfen, und ich lasse Ihnen darüber gern eine Nachricht zukommen.
Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten Immer auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Bewilligungsbescheide für die von ihr geförderten Schulmodelle so rechtzeitig zuzustellen, daß Verlegenheitskäufe zum Ende eines Haushaltsjahrs vermieden werden?
Herr Kollege Immer, Zuwendungsbescheide für Modellversuche im Bildungswesen enthalten einen der Antragstellung entsprechenden Finanzierungsplan, aus dem hervorgeht, wofür und in welcher Höhe Anschaffungen erfolgen sollen. Verlegenheitskäufe sind demnach ausgeschlossen. In den Fällen, in denen eine Ausgabe der Mittel bis zum 31. Dezember 1973 nicht möglich war, wurde der Bewilligungszeitraum bis mindestens 31. März 1974 verlängert, so daß auch hier eine der Antragstellung entsprechende Verwendung der Mittel sichergestellt ist. Das Verfahren für 1974 sieht darüber hinaus eine frühzeitige Abschlagszahlung vor.
Zusatzfrage.
Worauf führen Sie es zurück, Herr Staatssekretär, daß dennoch immer wieder solche sogenannten Verlegensheitskäufe vorgenommen worden sind? Sind die Schulen bzw. die Schulträger über diese Möglichkeit nicht ausreichend informiert worden?
Herr Kollege, das kann ich im einzelnen nicht beurteilen. Um diese Einzelfälle, die Sie offenbar kennen, beurteilen zu können, müßte man von Ihnen die Unterlagen bekommen, damit man den Fällen nachgehen kann. Denn es ist ja durchaus nicht gesagt, daß die Mittelbewilligung seitens der Bundesregierung die Ursache dafür ist. Es können durchaus auch die Bestellzeiträume etwa der Institutionen, die die Bestellungen vornehmen, ein Grund dafür sein. Wenn Sie konkrete Fälle kennen, wäre ich dankbar, wenn Sie mir die Unterlagen zukommen ließen, damit man den Fällen nachgehen kann. Wie Sie aus dem, was ich Ihnen sagte — daß das Verfahren für 1974 eine
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5958 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Parl. Staatssekretär Zanderfrühzeitige Abschlagszahlung vorsieht — entnehmen können, sind wir selbstverständlich bereit, das, was in unseren Möglichkeiten steht, zu tun, um solche Dinge zu verhindern, wenn sie vorgekommen sein sollten.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich frage noch einmal zurück: Habe ich richtig verstanden, daß diese Programme, die für die Schulversuche aufgestellt werden und für die Mittel seitens der Bundesregierung bewilligt werden, langfristiger Natur sind, also über einen bestimmten Zeitraum abgewickelt werden? Ist davon auszugehen, daß es sich jeweils um feste Beträge handelt, die also in den Jahren nicht variieren? Oder sind es für kürzere Frist aufgestellte Programme?
Herr Kollege Immer, das kann man so generell, wie Sie die Frage gestellt haben, nicht beantworten. Das hängt von dem einzelnen Projekt ab. Manche Projekte sind in einer Vorlaufphase, in der im ersten Jahr geringe Mittel erforderlich sind. Sie kommen dann in eine Phase, in der höhere Beträge erforderlich sind. Das hängt sehr von dem einzelnen Projekt ab, so daß ich Ihnen darauf keine generelle Antwort geben kann.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 28 des Abgeordneten Vogt wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Josten auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um der ständig zurückgehenden Zahl an Lehrlingsstellen entgegenzuwirken?
Herr Kollege Josten, die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung des Angebots betrieblicher Ausbildungsplätze sehr aufmerksam. Das bisher vorliegende amtliche Datenmaterial ist zwar unvollständig, doch ist die rückläufige Tendenz des betrieblichen Ausbildungsplatzangebots erkennbar.
Die Bundesregierung hat deshalb veranlaßt, daß von den zuständigen Institutionen vollständiges Datenmaterial vorgelegt wird, um die Ursachen genauer erkennen und Maßnahmen zur Gegensteuerung und zur Verbesserung des Ausbildungsplatzangebots einleiten zu können.
In der Sondersitzung des Bundesausschusses für Berufsbildung am 26. März, also gestern, die auf Veranlassung des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft hier in Bonn stattfand, wurde die Bundesregierung in einer einstimmig gefaßten Entschließung gebeten, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auf den Ausbau einer aussagekräftigen, umfassenden, differenzierten und aktuellen Ausbildungsstatistik zu drängen, damit alle Faktoren, die zur Verknappung des Angebots an betrieblichen Ausbildungsplätzen geführt haben, ermittelt werden können.
Der Bundesausschuß stimmte außerdem dem Vorschlag des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft zu, als Beitrag zur Sicherung eines hinreichenden Angebots an qualifizierten Ausbildungsplätzen folgende Maßnahmen zu ergreifen: 1. die Übergangsfrist der Ausbildereignungsverordnung zu überprüfen, um qualifizierte Ausbilder zu erhalten; 2. die Anrechnungsverordnungen für das Berufsgrundschuljahr zu überprüfen, so daß der Übergang in die berufliche Fachbildung erleichtert wird; 3. die Ausbildungsordnungen ohne Qualitätsverlust für die Berufsbildung zu überprüfen, ob sie flexibler gestaltet werden können. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft wird diese Maßnahmen in Abstimmung mit dem Bundesausschuß für Berufsbildung durchführen.
Darüber hinaus sieht der Bundesausschuß für Berufsbildung folgende Maßnahmen als besonders dringlich an: 1. den beschleunigten Ausbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten in Abstimmung mit der betrieblichen Ausbildung, 2. berufsvorbereitende Maßnahmen für alle noch nicht berufsreifen und behinderten Jugendlichen. Außerdem bat der Bundesausschuß für Berufsbildung die Bundesregierung, alle Maßnahmen der Bundesanstalt zu einem zügigen Ausbau der Berufsberatung zu unterstützen. Die Bundesregierung wird diese Maßnahmen verstärkt fortführen, um gute Ausbildungsplätze zu sichern.
Bei den Überlegungen weiterer Maßnahmen durch die Bundesregierung ist jedoch zu berücksichtigen, daß im Berufsausbildungssystem in der Bundesrepublik das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen allein in der Verantwortung der Betriebe liegt. Angesichts dieser Alleinzuständigkeit wäre auch die rückläufige Entwicklung der vergangenen Jahre in erster Linie durch die Betriebe und die Kammern aufzufangen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß die Darstellung einiger Zeitschriften oder auch die Aussagen mündlicher Erklärungen, welche die Lehrmeister oder die Selbständigen als „Ausbeuter" darstellten, mit dazu beitrugen, daß die Bereitschaft, Lehrlinge in den Betrieb zu nehmen, zurückging?
Die Meinung, daß diese Qualifizierung als „Ausbeuter" eine eigentlich nicht zutreffende, eine zu verurteilende Qualifizierung ist, teilt die Bundesregierung. Die Bundesregierung hat selbstverständlich diese Qualifizierung auch nie vorgenommen. Sie ist aber ebensowenig verantwortlich für solche Kritik am Ausbildungssystem, wie sie verantwortlich ist für Boykottaufrufe und ähnliches, welches wir auch in Veröffentlichungen der letzten Tage lesen konnten.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5959
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, bei den eben von Ihnen genannten Bemühungen, das Angebot an Lehrlingsstellen in der Wirtschaft zu erweitern, die jüngsten Erfahrungen und Vorschläge von Fachleuten der Handwerks-, Industrie- und Handelskammern zu prüfen und deren Bemühungen tatkräftig zu unterstützen, sie gegebenenfalls mit in das von Ihnen genannte Programm zu übernehmen?
Herr Kollege Josten, Sie können aus der Tatsache, daß ich die gestern auf Initiative des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft einberufene Sondersitzung des Bundesausschusses erwähnt habe, schließen, daß wir dies tun. Im Bundesausschuß für berufliche Bildung sind ja die Vertreter der Spitzenverbände sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite sowie die Vertreter der Bundesländer und ein Vertreter der Bundesanstalt für Arbeit.
Aus dem etwas umfangreichen Katalog auf Ihre Frage können Sie ersehen, daß die Bundesregierung diesem Problem die ihm gebührende Aufmerksamkeit widmet. Die Jugendlichen und die Eltern in diesem Lande sollen wissen, daß die Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende tut, um ein ausreichendes Angebot an qualifizierten Ausbildungsplätzen zu sichern.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für möglich, daß der beunruhigende Rückgang der Zahl an Ausbildungsplätzen für Lehrlinge unter anderem auch darauf zurückzuführen ist, daß die von der Bundesregierung anvisierte Änderung des Berufsbildungsgesetzes die ausbildenden Betriebe erheblich beunruhigt und ihnen zu Befürchtungen Anlaß gibt?
Herr Kollege Dr. Fuchs, der Bundesausschuß hat gestern in seiner Entschließung, die ich teilweise zitiert und hier zur Hand habe, über die Ursachen Aussagen gemacht. Daraus ergibt sich, daß der Rückgang der Zahl von Ausbildungsplätzen bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist. Die Dinge haben sich also während eines sehr viel längeren Zeitraums abgespielt als in dem, innerhalb dessen über eine Reform der beruflichen Bildung diskutiert wird. Der Rückgang ist bereits seit dem Jahre 1970 festzustellen, er ist seitdem in Jahresraten zwischen 80 000 und 100 000 statistisch nachzuweisen. — Dies ist das eine.
Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Gründen, die ebenfalls vom Bundesausschuß gestern in seiner Entschließung, die einstimmig angenommen worden ist — ich darf das noch einmal betonen —, festgehalten worden sind. Dies sind konjunkturelle,
strukturelle Gründe, aber es sind auch bestimmte Anforderungen an die Qualität von betrieblichen Ausbildungsplätzen, die das Berufsbildungsgesetz von 1969, das, wie Sie wissen, eine Beschlußfassung der Großen Koalition war, setzte. Dies alles wird bei uns im Zusammenhang gesehen. Wir bemühen uns auch da — ich habe z. B. darauf hingewiesen, daß etwa die Fristsetzung in der Ausbildereignungsverordnung von uns überprüft wird —, wo diese Qualitätsnormen vielleicht zu schnell angesetzt haben, die notwendige Entlastung zu bringen.
Ich muß aber noch einmal betonen, Herr Kollege Fuchs, die Verantwortung in unserem Berufsausbildungssystem für die Zurverfügungstellung von Plätzen liegt bei den Betrieben. Der Einfluß der Bundesregierung ist nur mittelbar. Diesen Einfluß werden wir nutzen, um hier gegensteuern zu können.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, da die zweite Zusatzfrage des Herrn Kollegen Josten so klang, als ob jeder Lehrling in der Bundesrepublik in ein unmittelbares Ausbildungsverhältnis mit der Bundesregierung tritt, möchte ich Sie bitten, doch noch einmal sehr deutlich zu sagen, welche Möglichkeiten des direkten Einflusses auf ein vermehrtes Angebot an Ausbildungsplätzen die Bundesregierung überhaupt hat.
Sie hat keine direkte Möglichkeit. Aber selbstverständlich steht die Zahl der Ausbildungsplätze in einem gewissen Zusammenhang mit den Qualitätsanforderungen. Denn die Qualitätsanforderungen an die betriebliche Berufsausbildung schlagen sich natürlich in den Kosten nieder. Hier hat die Bundesregierung mittelbaren Einfluß. Aber die unmittelbare Verantwortung für die Zahl der Plätze trägt nicht die Bundesregierung. Da, wo der mittelbare Einfluß möglich ist, werden wir ihn im Interesse der Jugendlichen und ihrer Eltern nutzen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Nordlohne.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie auch im Hinblick auf die gerade von Herrn Hansen gestellte Frage um folgende Auskunft bitten. Können Sie sagen, ob die Bundesregierung in den eigenen Bereichen Bahn und Post für 1974 die gleiche Anzahl Lehrstellen vorgesehen hat wie in den Vorjahren oder ob eine Kürzung vorgesehen ist?
Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten, weil mir die Zahl nicht zur Verfügung steht. Aber Überlegungen der Art, wie Sie sie andeuten, die Kapazität der unmittelbar von der Bundesregierung zu beeinflussenden Ausbildungsplätze zu erhöhen, werden wir in den näch-
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5960 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Parl. Staatssekretär Zandersten Tagen mit den zuständigen Häusern auch diskutieren müssen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Wolfram.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, der Wirtschaft und der Öffentlichkeit gegenüber ganz klarzustellen, daß, wenn es solche Versuche geben sollte, über die Verminderung der Zahl der bereitgestellten Ausbildungsplätze eventuell einen Druck auf die Bundesregierung auszuüben bzw. eine notwendige Verbesserung der beruflichen Ausbildung zu verhindern, dies der denkbar schlechteste Weg wäre, weil er zu Lasten junger Menschen ginge? Teilen Sie meine Auffassung, daß dann um so mehr die staatliche Pflicht bestünde, für eine angemessene Zahl von Ausbildungsplätzen zu sorgen?
Herr Kollege Wolfram, ich teile Ihre Meinung. Die Bundesregierung will keine Verstaatlichung der beruflichen Bildung und will auch keine Verschulung. Die einzige sichtbare Tendenz, die letzten Endes doch zu einer solchen Entwicklung führen könnte, wäre in der Tat eine organisierte Ausbildungsverweigerung seitens der Wirtschaft. Ich bin deshalb sehr befriedigt darüber, daß der Bundesausschuß, der gestern tagte, einstimmig zu diesem Punkt beschlossen hat — damit auch diese Diskussion einmal ein Ende findet —: Drohungen, Boykottaufrufe sowie sachlich nicht begründete Einschränkungen des Angebots an qualifizierten Ausbildungsplätzen, wie sie vereinzelt vorgekommen sind, sind kein Beitrag zu einer sachlich geführten Auseinandersetzung. Sie sind im Gegenteil geeignet, den Ruf nach dem Staat zu verstärken. Hierin kommt genau das zum Ausdruck.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Immer.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß durch die augenblickliche Situation auch eine Schwäche des derzeitigen Ausbildungssystems deutlich herausgekehrt wird, die darin besteht, daß es eine ganze Fülle von Betrieben gibt, deren Existenz nur auf der Tatsache beruht, daß sie Lehrlinge ausbilden, daß es in Teilbereichen, in Sektoren sogar so ist, daß, wie der DGB festgestellt hat, 60 % der Ausgebildeten in ihrem Beruf später keine Anstellung finden können, daß also völlig am Bedarf vorbei ausgebildet worden ist?
Herr Kollege Immer, zum ersten Teil Ihrer Frage kann ich sagen, daß ich diese Auffassung nicht teile, daß es eine große Zahl von Betrieben ist, die, wie Sie unterstellen, ihre Existenz der Ausbildung von Jugendlichen verdanken. Die Zahl dieser Betriebe, gemessen an der Gesamtzahl der Betriebe, geht laufend zurück. Es ist, wenn ich mich richtig erinnere, gerade durch die
Untersuchungen der Sachverständigenkommission über Kosten und Finanzierung gezeigt worden, daß zur Zeit etwa im industriellen Sektor 10 % der Betriebe nur ausbilden. Die Qualitätsnormen, die hier gesetzt worden sind, haben in den letzten Jahren gewirkt und haben natürlich auch — das war ja die Absicht des Gesetzgebers — dazu geführt, daß eine Reihe von Betrieben, die nicht qualifiziert ausbilden konnten oder wollten, ausgeschieden sind.
Der zweite Tatbestand ist mir natürlich bekannt: der Wechsel von Jugendlichen aus einem Ausbildungsverhältnis in einen anderen Beruf. Dies scheint mir aber nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang damit zu stehen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Schwencke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, können Sie uns bestätigen, daß die Bundesregierung die seit 1970 eingetretene Reduzierung des Angebots an Lehrstellen selber so ernst nimmt und dadurch konkret beseitigen helfen will, daß sie prüft, ob bei Bundesbahn und bei Bundespost gegebenenfalls Lehrwerkstätten überbetrieblich genutzt werden können?
Ja, ich kann Ihnen das gern bestätigen. Wir haben gestern in der Sitzung den Auftrag bekommen, den wir sehr ernst nehmen, weil wir die Situation sehr ernst nehmen, alle erdenklichen Maßnahmen, die im Einflußbereich der Bundesregierung liegen, zu prüfen und, wenn dies möglich ist und die Prüfung ein positives Ergebnis hat, diese Maßnahmen auch zu ergreifen. Nur muß ich noch einmal darauf aufmerksam machen, daß hier nur eine mittelbare Einflußmöglichkeit gegeben ist. Entscheidend kommt es darauf an, wie die Betriebe sich in dieser Situation verhalten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Härzschel.
Herr Staatssekretär, Sie haben von einem mittelbaren Einfluß gesprochen. Sind Sie nicht der Meinung, daß eine Verschärfung der Bestimmungen dazu führen kann, daß eine Reihe von Ausbildungsplätzen wegfallen, weil die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind? Würden Sie dann notfalls auch eine gewisse Jugendarbeitslosigkeit in Kauf nehmen? Oder wie wollen Sie diesen Widerspruch auflösen?
Herr Kollege Härzschel, ich habe schon in meinen Antworten vorhin gesagt, daß es dieses Problem gibt, daß ganz offensichtlich eine Reihe von Anforderungen und Normen, die in den letzten Jahren in den Rechtsverordnungen gesetzt worden sind, zu überprüfen sind.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5961
Parl. Staatssekretär ZanderDas Ergebnis dieser Prüfung wird sicher nicht sein, daß man alles, einschließlich der Terminsetzungen der Verordnung, noch einmal bekräftigt, sondern hier sind möglicherweise Korrekturen erforderlich. Die Bundesregierung möchte alles tun, um zu vermeiden, daß es zu einer Jugendarbeitslosigkeit in diesem Lande kommt. Sie wird — das kann ich nur noch einmal wiederholen — das tun, was in ihrer Macht liegt. Aber sie braucht dazu auch die Kooperationsbereitschaft der Wirtschaft.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Seefeld.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, daß solche Betriebe, die sich bisher schon ordnungsgemäß oder — ich möchte sagen — vorbildlich bei der Lehrlingsausbildung verhalten haben, überhaupt keinen Anlaß zur Sorge haben müßten, offensichtlich aber solche Unternehmungen, die gegen die Maßnahmen der Bundesregierung Sturm laufen und sich bisher nicht so, wie eben genannt, verhalten haben?
Herr Kollege, es ist so, wie Sie es sagen. Das Hauptproblem scheint mir darin zu liegen, daß die Reformabsichten, die die Bundesregierung, gestützt auf die Markierungspunkte, hat, gerade in diesem Bereich, den Sie ansprechen, sehr verzerrt — um mich vorsichtig auszudrücken — dargestellt worden sind. Ich hoffe, nachdem sich gestern auch der Bundesausschuß mit allen Stimmen für mehr Sachlichkeit in dieser Debatte eingesetzt hat, daß diese Sachlichkeit jetzt auch von allen Beteiligten geübt wird. Dazu gehört auch, daß Wörter wie Ausbeutung — ich habe das vorhin schon einmal gesagt — und auch Boykottaufrufe aus der Debatte verschwinden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Vogelsang.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß der Bundesausschuß für berufliche Bildung gestern unter anderem auch festgestellt hat — und wie Sie wiederholt erklärt haben, einstimmig —, daß er eine zügige Beratung der Reform der beruflichen Bildung für notwendig erachtet?
Herr Kollege Vogelsang, die Entschließung, auf die ich Bezug genommen habe, nennt unmittelbare und mittelbare Gründe für die Situation, die wir hier in der Fragestunde behandeln. Es heißt darin:
Als Ergebnis dieser Diskussion ist in Bereichen der Wirtschaft eine Unklarheit über die Zukunft der Berufsbildung und eine weitreichende Verunsicherung der ausbildenden Wirtschaft eingetreten, bis hin zu Befürchtungen, die Berufsbildung könne „verschult" oder „verstaatlicht" werden. Der Bundesausschuß stellt dazu fest,
daß eine sachliche Erörterung und zügige Entscheidung über das neue Berufsbildungsrecht und die vorliegenden Finanzierungsvorschläge erwünscht und geboten sind.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, wann ist — gerade im Hinblick auf Ihre letzten Ausführungen über die Unsicherheit sowohl bei den Jugendlichen als auch bei den Betrieben — damit zu rechnen, daß die Bundesregierung ihre Vorlage einbringt?
Herr Kollege, wir haben, als das Kabinett die Markierungspunkte, die grundsätzliche politische Orientierung, beschlossen hat, auch einen Zeitplan beschlossen. Dieser Zeitplan sieht vor, daß wir die letzte Sitzung des Bundesrates vor der Sommerpause erreichen wollen. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nicht übersehen, ob die sehr umfangreichen und von uns auch gewollt gründlichen Anhörungen mit allen Betroffenen so rechtzeitig abgeschlossen werden können, daß dieser Termin zu halten ist. Aber ich hoffe, daß wir in den nächsten Wochen schon den verbindlichen Referentenentwurf des Hauses allen Interessierten zustellen können, so daß dann von daher auch die Diskussion auf das zurückgeführt wird, was eigentlich nur zur Debatte steht.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich Ihres Hauses beantwortet.
Ich rufe auf den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bayerl zur Verfügung.
Die von Herrn Abgeordneten Reiser eingebrachte Frage 65 wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe auf die Frage 66 des Herrn Abgeordneten Hussing.
Sind nach Auffassung der Bundesregierung Presseberichte richtig, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland zwei Rechtsbereiche dadurch bilden, daß die öffentliche Verwaltung bei Rechtsverletzungen gegenüber Ausländern bzw. bei der Anwendung von Schutzvorschriften bei Ausländern einen anderen Maßstab als bei Deutschen anlegt?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Hussing, Presseberichte des von Ihnen mitgeteilten Inhalts sind mir nicht bekannt. Ich bin aber davon überzeugt, daß sich in der Bundesrepublik nicht zwei Rechtsbereiche zum Nachteil der ausländischen Arbeitnehmer in der von Ihnen angesprochenen Weise herausbilden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie der Bundesre-
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Parl. Staatssekretär Dr. Bayerlgierung Einzelfälle benennen könnten, die Ihre Annahme in der von Ihnen gestellten Frage rechtfertigen.Sie wissen, daß für die Verwaltungspraxis bei Rechtsverletzungen zum Nachteil von Ausländern in erster Linie die Länder zuständig sind. Trotzdem bin ich, eben mangels tatsächlicher Anhaltspunkte, der Meinung, daß Ausländer bei gegen sie gerichteten Rechtsverletzungen nicht unter Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz gegenüber Deutschen benachteiligt oder bevorzugt werden. Wenn Sie besonders den Mietwucher ansprechen, so meine ich, daß gerade hier von einer ungerechtfertigten Differenzierung durch die öffentliche Verwaltung — anders mag es in einigen Einzelfällen durch Vermieter sein — nicht gesprochen werden kann. Es gibt eine unverhältnismäßig große Zahl von Bußgeldverfahren wegen Mietpreiserhöhungen und Strafverfahren wegen Mietwuchers zum Nachteil von Ausländern. Das Aufgreifen dieser Fälle zeigt aber gerade doch, daß es den Behörden mit dem Schutz der Ausländer sehr ernst ist.Bei der Durchsetzung der Schulpflicht ausländischer Kinder, die Sie ansprechen, stößt die öffentliche Verwaltung nach Mitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft häufig auf Schwierigkeiten tatsächlicher Art. Die Schulpflicht läßt sich nämlich oft schon deshalb nicht durchsetzen, weil die Fluktuation der ausländischen Kinder auch bei festem Wohnsitz der Eltern sehr groß ist. So werden die Kinder z. B. einfach nicht gemeldet und sind daher nicht erfaßt. Von der Anlegung eines anderen Maßstabes als bei Deutschen kann unter diesen Umständen nicht geredet werden.Ich wäre Ihnen aber trotzdem sehr dankbar, wenn Sie der Bundesregierung Einzelfälle aufzeigen könnten, die Ihre Mutmaßungen, es entstünden in der öffentlichen Verwaltung zwei Rechtsbereiche, rechtfertigen. Die Bundesregierung würde dann solche Einzelfälle zum Anlaß nehmen zu prüfen, welche gesetzgeberischen Maßnahmen erforderlich sind, um diesem von Ihnen angenommenen Mißstand wirksam begegnen zu können.
Zusatzfrage.
Darf ich, Herr Staatssekretär, davon ausgehen, ,daß die exemplarischen Fälle, die ich Ihnen gern aufweise und die nicht aus dem Raritätenkabinett stammen, von Ihnen sorgfältig geprüft werden, und würden Sie mir dann im einzelnen darüber Bericht erstatten?
Davon können Sie ausgehen, Herr Kollege.
Die nächste Frage 67 des Abgeordneten Hussing wird vom Bundesminister des Innern beantwortet.
Ich rufe auf die Frage 68 des Herrn Abgeordneten Franz. Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal; die
Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 69 des Herrn Abgeordneten Spilker auf. Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal, so 'daß diese und die weitere von ihm eingebrachte Frage 70 schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe auf die Frage 71 'des Herrn Abgeordneten Gerlach. Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Spranger auf:
Können nach Auffassung der Bundesregierung die Argumente, mit denen in einer vom Senat der Vereinigten Staaten von Amerika bereits beschlossenen Gesetzesvorlage die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte schwere Verbrechen begründet wird, Anlaß geben zu einer Überprüfung der strafrechtlichen und kriminalpolitischen Situation in der Bundesrepublik Deutschland, und beabsichtigt die Bundesregierung angesichts der Entwicklung in den Vereinigten Staaten, die gesamte Problematik vorsorglich unter Beteiligung des Parlaments durch eine Kommission prüfen zu lassen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Spranger, meine Antwort heißt nein. Die Todesstrafe ist durch Artikel 102 des Grundgesetzes abgeschafft worden. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, diese Entscheidung des Grundgesetzes, mit der nach dem Mißbrauch der Todesstrafe unter dem nationalsozialistischen Regime die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens nachdrücklich unterstrichen werden soll, in irgendeiner Weise in Frage zu stellen.
Zusatzfrage.
Liegen der Bundesregierung Meinungsumfragen vor, denen zufolge die Bevölkerung der Bundesrepublik bei bestimmten schweren Verbrechen möglicherweise eine andere Auffassung vertritt, und wie beurteilt die Bundesregierung den Meinungsstand der Bürger?
Die Meinungsumfragen sind der Bundesregierung bekannt, Herr Kollege Spranger. Aber die Bundesregierung läßt sich in dieser Frage erstens vom Grundgesetz und zweitens von dem wissenschaftlichen Tatsachenmaterial leiten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Eine Meinungsumfrage des Wickert-Instituts hat in den letzten Tagen eine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Verbrechensbekämpfung ergeben. Steht dieses Ergebnis nach Ihrer Auffassung in irgendeinem Zusammenhang zu dem angeschnittenen Problem?
Nein, Herr Kollege Spranger!
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Diese Frage stand auch nicht im Zusammenhang mit der von Ihnen eingereichten Frage, wenn ich das nachträglich noch bemerken darf.
Ich rufe die Frage 73 des Herrn Abgeordneten Blank auf. Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die nächste Frage 74 des Herrn Abgeordneten Freiherr Ostman von der Leye auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Hanns-Seidel-Stiftung in ihrer derzeit in verschiedenen deutschen Städten laufenden Ausstellung eine rote Fahne zeigt, die angeblich von der Polizei heim Sturm auf das Bonner Rathaus am 10. April 1973 beschlagnahmt worden ist, und falls ja, welche gesetzgeberischen Maßnahmen wird sie im Rahmen der Strafverfahrensrechtsreform ergreifen, um sicherzustellen, daß Beweismittel in einem noch angängigen Strafprozeß nicht Gegenstand öffentlicher Schaustellung sind?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Ostman von der Leye, der von Ihnen angesprochene Sachverhalt betrifft ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft in Köln wegen der Ereignisse am 10. April 1973 in Bonn. Wegen der Justizhoheit darf ich mich insoweit zur Beantwortung Ihrer Frage auf die Unterrichtung durch das nordrhein-westfälische Justizministerium beziehen. Dieses hat nach Rückfrage beim Polizeipräsidenten in München folgendes mitgeteilt:
Die Hanns-Seidel-Stiftung e. V. veranstaltete bis zum 8. März 1974 in München eine Ausstellung zu dem Thema: „Angriff auf unsere Demokratie". Sinn und Zweck der Ausstellung war es, „die gesamte Bevölkerung auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die aus den Aktivitäten der Verfassungsfeinde erwachsen". U. a. war eine Nachbildung der roten Fahne ausgestellt, die am 10. April 1973 von kommunistischen Studenten bei der Erstürmung des Bonner Rathauses mitgeführt wurde. Das Original dieser Fahne war der Hanns-Seidel-Stiftung vom Bund Freiheit der Wissenschaft — Herrn Peter Gutjahr-Loeser —, Bonn, Kaiserstraße 113, kurzfristig zur Verfügung gestellt worden. Es wurde in der Zwischenzeit an Herrn Gutjahr-Loeser zurückgeschickt. Angeblich soll die Fahne im Besitz eines Privatmannnes in Bonn sein, der sie bei den Vorfällen in Bonn am 10. April 1973 an sich gebracht und dem Bund Freiheit der Wissenschaft ausgeliehen hat.
Ergänzend bemerke ich, daß die in Frage stehende rote Fahne auch nach den hier getroffenen Feststellungen zu keiner Zeit von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft sichergestellt worden war. Unter diesen Umständen sieht die Bundesregierung natürlich keinen Anlaß, gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen.
Eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, muß ich dann davon ausgehen, daß
die Hanns-Seidel-Stiftung ein Asservat als echt ausgibt, was in Wahrheit nicht echt ist?
Davon müssen Sie nach meiner Beantwortung Ihrer Frage ausgehen, Herr Kollege.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich dann noch zusätzlich fragen, wie es kommt, daß ein Original, ein beschlagnahmtes Stück angeblich im Besitz eines Privatmannes verblieben ist.
Soweit ich unterrichtet bin — und das habe ich in meiner Antwort ausgeführt , war dieses Original, also die rote Fahne, von der Sie sprechen, niemals beschlagnahmt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 75 des Herrn Abgeordneten Seefeld auf:
Trifft es zu, daß die Bundesregierung einerseits Flugsportvereinen den Bezug von Benzin steuerfrei ermöglicht, andererseits jedoch den freiwilligen Hilfsorganisationen das gleiche Recht bei deren Fahrten zur Rettung von Menschenleben verweigert, und wenn ja, was veranlaßt sie dazu?
Herr Kollege Seefeld, die Luftfahrt ist nach den Bestimmungen des Mineralölsteuergesetzes von der Mineralölsteuer befreit. Das gilt auch für die Sportfliegerei.Die Steuerbefreiung wurde in den 50er Jahren eingeführt, um die deutsche Luftfahrt und die Luftfahrtindustrie zu fördern. Die Bundesregierung prüft zur Zeit, ob die Begünstigung für die Sportfliegerei noch gerechtfertigt ist. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen.Soweit freiwillige Hilfsorganisationen Hubschrauber benutzen, bleibt der verwendete Treibstoff selbstverständlich ebenfalls mineralölsteuerfrei. Soweit diese Organisationen jedoch Rettungsfahrzeuge im Straßenverkehr einsetzen, muß das Benzin ver- steuert werden. Nach der Absicht des Gesetzgebers soll die Mineralölsteuer jeden Treibstoffverbrauch im Straßenverkehr ohne Rücksicht auf die Motive belasten. An dieser Auffassung ist bisher uneingeschränkt festgehalten worden. Ausnahmen hiervon würden zu unabsehbaren Berufungen und damit zu einem verstärkten Rückgang des Steueraufkommens führen. Auch wäre ein von einer etwaigen Ausnahme abweichender bestimmungsgerechter Verbrauch nicht mehr überwachbar.Ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß die Bundesregierung die Arbeit der freiwilligen Hilfsorganisationen beträchtlich fördert. Die Orga-
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Parl. Staatssekretär Hermsdorfnisationen erhalten erhebliche Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß Sportflieger keine öffentliche Aufgabe wie z. B. die Notfallrettungsorganisationen erfüllen und bei ihnen die Frage doch sicherlich berechtigt ist, wieso solche unterschiedlichen Bewertungen, wie Sie sie soeben auch vorgetragen haben, durch den Staat vorgenommen werden, und darf ich Sie bitten, um das aus dem Weg zu räumen, daß die Untersuchungen, die Sie angekündigt haben, zügig vorangeführt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Seefeld, aus meiner Antwort ist ersichtlich, daß wir die Überprüfung durchführen. Aber ich möchte hinzufügen, daß die Steuerbefreiung in den 50er Jahren, als sie eingeführt wurde, gerechtfertigt war. Wir überprüfen jetzt, ob sie zu beseitigen ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die zahlreichen Kostensteigerungen die Arbeiten der zahlreichen Hilfsorganisationen doch sehr erschweren, daß diese ohne Zuschüsse kaum mehr auskommen — die Zuschüsse kommen aus den verschiedensten Quellen, zumeist staatlichen —, und ist es nicht etwas kurios, wenn einerseits Erleichterungen im Steuerbereich — aus den Gründen, die Sie genannt haben — nicht gewährt werden können, andererseits aber auch aus dem staatlichen Bereich immer größere Zuwendungen notwendig sind, um die Aufgaben überhaupt zu erfüllen?
Herr Kollege, Sie strapazieren das Instrument der Zusatzfrage zu sehr.
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Seefeld, es ist durchaus so, wie Sie sagen. Aber als alter Haushaltsfuhrmann sage ich Ihnen, daß die Zuschüsse für diese gemeinnützigen Organisationen, soweit sie hier angesprochen sind, auch in den letzten Jahren beträchtlich gestiegen sind. Ich halte es aber nicht für möglich, hier eine Begünstigung bezüglich der Mineralölsteuer einzuführen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil das ganze System dann sehr unübersehbar würde und weil dann auch die Gefahr des Mißbrauchs bestünde. Deshalb werden wir dort, wo Ungerechtigkeiten bestehen, versuchen, sie zu
beseitigen, aber nicht, indem man neue Vergünstigungen einführt, sondern indem man alte abbaut.
Ich rufe die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Härzschel auf:
Welche Zins- und Substanzverluste haben die Sparer der Bundesrepublik Deutschland 1973 bei den Sparguthaben und öffentlichen Anleihen gehabt?
Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter Härzschel, den Sparern in der Bundesrepublik sind 1973 bei den Sparguthaben und öffentlichen Anleihen keine Zinsverluste entstanden. Im Gegenteil: die Zinsen haben sich erhöht. Insbesondere liegen die Zinsen für 1973 herausgegebene öffentliche Anleihen über der Preissteigerungsrate, so daß in diesem Zusammenhang auch nicht von Substanzverlusten gesprochen werden kann.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß bei langfristiger Anlage zusätzlich zu den Zinsen auch die Vorteile der staatlichen Sparförderung gewährt werden. Schließlich möchte ich noch erwähnen, daß die Sparer in wachsendem Umfang Möglichkeiten zur besseren Verzinsung ihrer Ersparnisse ausnutzen. Durch eine noch bessere Beratung der Sparer könnte hier sicher noch mehr geschehen. Die Sparer sollten sich dieserhalb verstärkt an ihre Kreditinstitute wenden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß die große Zahl der normal verzinslichen Sparguthaben durch die Preisentwertungsrate einen echten Substanzverlust erfahren hat, und wie hält es die Bundesregierung mit ihrer sozialen Verantwortung gegenüber diesen Sparern, die sich vor allen Dingen aus den unteren Einkommensschichten rekrutieren?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist im Punkt soziale Verantwortung sicher stärker, als Sie ihr das zuschreiben. Ich gebe offen zu, daß Sparer, die nur vierteljährliche Kündigungsfristen haben, gewisse Verluste gehabt haben; aber der Sinn der Politik der Bundesregierung kann nur darin bestehen, den Preisauftrieb zu bekämpfen und nicht hier den Versuch zu machen, anders auszuweichen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Überlegungen angestellt, wie sie in ihrem Bereich, nämlich bei den niedrig verzinsten Anleihen mit 5 % und 6 % von früher, die ebenfalls Substanzverluste erlitten haben, Ausgleiche vornehmen könnte?
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Wir stellen tagtäglich Überlegungen an und versuchen mit Stützungskäufen und ähnlichem, auf die Entwicklung einzuwirken. Ich bezweifle nicht, daß das ein sehr ernsthaftes Problem ist, über das sich die Bundesregierung laufend Gedanken macht.
Ich rufe die Frage 77 des Herrn Abgeordneten Dr. Zeitel auf:
Ist die Bundesregierung bereit, den veränderten Wettbewerbsverhältnissen im Energieversorgungsbereich Rechnung zu tragen und die derzeitige Sondersteuer auf schweres Heizöl von 15 DM/t vor Ablauf der regulären Frist aufzuheben?
Herr Präsident, ich bin jetzt in einer schwierigen Lage und weiß nicht, ob ich die Zusatzfrage oder die Frage beantworten soll.
Nein, Herr Kollege Zeitel, ich habe Ihre Frage aufgerufen.
Herr Präsident, Ihr Wunsch ist mir Befehl.
Herr Kollege Dr. Zeitel, die Heizölsteuer in Höhe von 15 DM für eine Tonne schweres Heizöl ist seinerzeit nicht nur eingeführt worden, um die Zunahme des Heizölverbrauchs zu verlangsamen; die Steuer sollte vielmehr vor allem Mittel sowohl zur Finanzierung der unmittelbaren und mittelbaren Kohlehilfen wie auch zur Finanzierung anderer energiewirtschaftlicher Aufgaben erbringen. Dieser Mittelbedarf ist seit Beginn der Energiekrise noch erheblich gewachsen. Die Bundesregierung beasichtigt daher nicht, die Steuer für schweres Heizöl vor dem Ablauf der gesetzlichen Befristung auf den 31. Dezember 1974 aufzuheben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Überlegungen hinsichtlich von Ausnahmeregelungen und auch bezüglich der Fortführung des Gesetzes im Hinblick auf die total veränderte Wettbewerbssituation, die sich seit der Zeit der Einführung der Heizölsteuer ergeben hat, angestellt?
Das Gesetz läuft 1974 aus. Ich würde es für völlig falsch halten, bei einem Gesetz, das 1974 ausläuft, also nur noch für dieses Jahr Gültigkeit hat, nun für den Rest dieses Jahres auch noch Ausnahmeregeln einzuführen. Die Überlegungen
können nur darin bestehen, ob das Gesetz ausläuft oder ob wir aus energiepolitischen Gründen die Heizölsteuer für schweres Heizöl weiterführen müssen.
Eine Zusatzfrage? — Bitte!
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die Behandlung der Heizölsteuer auch eine Frage der Harmonisierung im europäischen Bereich ist, und können Sie bestätigen, daß die Kollegen der CDU/CSU in den Fachausschüssen nicht daran denken, hier einseitig etwas vorzunehmen?
Ich kann das nicht bestätigen, weil ich in den Fachausschüssen, insbesondere im Finanzausschuß, nicht dabeigewesen bin; ich muß mich also auf Ihre Aussage verlassen. Allerdings ist es richtig, daß diese Frage in die Harmonisierung innerhalb der EWG mit hineingehört.
Ich rufe die Frage 78 des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die häufig geäußerte Befürchtung, daß durch die Einführung der Begriffe „enger zeitlicher Zusammenhang" und „inhaltsgleich" bei der Frage der Gewährung der 7 b-Abschreibung bzw. beim Wegfall der Investitionssteuer nach erneuter Bauantragstellung eine erhebliche Rechtsunsicherheit entsteht, und läßt die Tatsache, daß darauf verzichtet wurde, diese Begriffe näher zu bestimmen, darauf schließen, daß eine solche Bestimmung auf Schwierigkeiten stößt?
Herr Kollege Fuchs, das Bundesfinanzministerium und die Finanzministerien der Länder haben die von Ihnen zitierte Formulierungen gewählt, damit den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung getragen werden kann.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs.
Herr Staatssekretär, sind dann unter dem Begriff „enger zeitlicher Zusammenhang" 10 Tage, 20 Tage, 30 Tage zu verstehen, und ist z. B. bei der Änderung eines Fensters noch von einem inhaltsgleichen Bauantrag zu reden?
Diese Zusatzfrage zerfällt in zwei Teile.Einen zeitlichen Zusammenhang sehe ich, so würde ich sagen, dann noch gewahrt, wenn ein Bauantrag heute zurückgenommen und morgen oder übermorgen unverändert wieder eingereicht wird.Von einem inhaltsgleichen Bauantrag würde ich sprechen, wenn er keine oder nur eine geringfügige Änderung erfahren hat. Das Beispiel mit dem Fenster, das Sie hier angeführt haben, würde ich hier einbeziehen.
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5966 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir erklären, welchen Sinn es hat, jemanden, der um eine Baugenehmigung nachgesucht hat, zu zwingen, seinen Bauantrag zurückzunehmen, uni ihn dann, sagen wir einmal, in 14 oder 30 Tagen wieder einreichen und erneut die erheblichen Kosten für die Baugenehmigung zahlen zu lassen, damit er dann eben doch zum Bauen kommt?
Herr Kollege, ich kann nicht über die Gesetzeslage hinaus. Dieses Hohe Haus hat — die Bundesregierung hat das vorgeschlagen — die Aussetzung zu bestimmten Zeitpunkten beschlossen. Es ist nicht zu ändern, daß die Bauanträge dann eventuell neu gestellt werden müssen.
Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Ende der heutigen Fragestunde.
Herr Staatssekretär Hermsdorf, ich danke Ihnen für die Antworten, die Sie gegeben haben.
Wir fahren in der heutigen Tagesordnung fort. Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts und des Antrags des 1. Untersuchungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU und dem Änderungsantrag der Fraktionen der SPD, CDU/ CSU, FDP betr. Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
— Drucksachen 7/780, 7/796, 7/1803 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kleinert
Abgeordneter Dr. Schäuble
Ich erteile zunächst dem Herrn Abgeordneten Kleinert als Berichterstatter das Wort. Bitte!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der schriftliche Bericht, den ich mit Herrn Schäuble zusammen zu erstatten hatte, liegt Ihnen vor. Ich will Sie keinesfalls mit einer Wiederholung aller oder auch nur der wesentlichsten Punkte hier über Gebühr aufhalten, zumal es unter Umständen reizvoller sein könnte, sich statt im Rahmen der Berichterstattung im Rahmen der Debatte mit den in einigen Punkten verschiedenen Ansichten zu befassen.Mit den Worten „in einigen Punkten" sage ich schon, daß es keineswegs als Ergebnis dieses Ausschusses und seiner Arbeit so ist, daß man immer grundsätzlich verschiedener Meinung gewesen wäre und dies womöglich gar aus politischen, parteitaktischen oder parteiegoistischen Gründen. Wir können vielmehr, wie Sie insbesondere bei der zur schnellen Ubersicht zu empfehlenden Betrachtung der Zusammenstellung der abschließend gefaßten Beschlüsse auf den Seiten 9 und 10 der Drucksache sehen können, mit Befriedigung feststellen, daß in einer Anzahl keineswegs unwesentlicher Punkte auch einstimmig gemeinsame Feststellungen getroffen worden sind. Da, wo das nicht der Fall ist, werden einige kurze Anmerkungen zu machen sein.Die Zeitdauer unserer Arbeit, die nur sehr äußerlich etwas über Art, Umfang und Nervenbeanspruchungen sagt, ist Ihnen bekannt. Die Protokolle allein über die Beweisaufnahmen und die geheimen Sitzungen des Ausschusses, besser gesagt: die nicht öffentlichen Sitzungen des Ausschusses — so geheim war es nun wieder auch nicht —, umfassen inzwischen erheblich mehr als 6 500 Seiten. Auch das sagt nichts über die Qualität der Arbeit, wie ich gern einräume, aber es sagt etwas darüber, unter welchen Beanspruchungen hier versucht worden ist, dem uns vom Hause gestellten Untersuchungsthema, und zwar zunächst ausschließlich in dem Komplex um den früheren Abgeordneten Julius Steiner, gerecht zu werden.Deshalb ist es mir eine besondere Freude, hier allen Kollegen, die aus allen Fraktionen im Ausschuß vertreten waren, und ihren Stellvertretern, insbesondere dem Vorsitzenden und dem Herrn Mitberichterstatter, zu danken für die Art, in der die Untersuchung bei zweifellos nicht immer gleichlaufenden Interessen — das zu leugnen wäre pure Heuchelei — insgesamt geführt worden ist, und für die den Umständen nach ungewöhnliche Seltenheit von bei solcher Belastung unvermeidbaren, etwas streitigeren Auseinandersetzungen.Eine Bemerkung ist vielleicht noch erforderlich zum Verständnis des Systems dieses Berichtes, obwohl wir der Presse darüber schon vorab einiges gesagt hatten. Es ist immer bei den Berichten der Untersuchungsausschüsse so gewesen, daß nach einzelnen mehr oder weniger umfangreichen Fragenkomplexen die Meinung des Ausschusses zur Bewertung dieser Fragen, meist zu der Frage, ob ein Sachverhalt als festgestellt angesehen werden kann oder nicht, dargelegt wurde und anschließend dann eine etwaige Minderheit des Ausschusses ihre Ansicht vorgetragen und zugleich die Begründung dafür gegeben hat.Es hat sich, nachdem ursprünglich der gute Wille bei allen Beteiligten vorhanden war, hier genauso zu verfahren, nach Vorlage der Entwürfe der beiden Berichterstatter herausgestellt, daß aus rein technischen Gründen es sinnvoller sein würde, den dennoch nach wie vor im Grundsatz gemeinsamen Bericht in der Weise zu erstellen, daß in dem Teil, der die Beweisaufnahme darstellt und würdigt, die Berichte in sich geschlossen als Mehrheits- und Minderheitsmeinung dargeboten werden. Wir glaubten, daß das die Lesbarkeit und Verständlichkeit in sich erhöhen würde. Ich hoffe, daß Sie bei Lektüre des Berichtes dem zustimmen können.Dafür war unter anderem maßgebend, wie Sie an Hand der Seitenzahlen unschwer feststellen können, eine erhebliche Ungleichgewichtigkeit im Umfang der Ausführungen in beiden Berichten, die sich aus einer unterschiedlichen Auffassung über das, was hier dargestellt werden sollte, und müßte, zwischen den beiden Berichterstattern ergeben hat. Ich habe mich in meinem Bericht darauf 'beschränkt, die Tatsachen darzustellen, die wir für die Bewertung
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Kleinertund Entscheidung der uns gestellten Fragen für unbedingt wichtig hielten. Wir haben dabei — so meine ich — keinen Tatbestand ausgelassen. Wir haben aber auch nicht Dinge hinzugefügt, deren Erwähnung schließlich in der weiteren gedanklichen Verarbeitung an dem Ergebnis nichts hätte ändern können.Im übrigen habe ich besonderen Wert darauf gelegt, die entscheidenden Aussagen aus dem Stenographischen Protokoll der Beweisaufnahme wörtlich zu zitieren, damit jedermann möglichst an der Aufreihung dieser wörtlichen Aussagen und nicht aus meinen Ausführungen sehen kann, warum wir zu unseren Schlüssen gekommen sind: einfach nach den blanken Fakten, die wir ermitteln konnten.Wir haben Schwierigkeiten gehabt — auch darüber ist bereits in größerem Umfang öffentlich berichtet worden — mit den Verfahrensregeln, die uns hier an die Hand gegeben waren. Sie werden sich erinnern, daß in dem Einsetzungsbeschluß dieses Hauses nicht nur auf die Bestimmungen des Art. 44 des Grundgesetzes Bezug genommen worden war, sondern darüber hinaus — dies auch noch mit einer gewissen Modifikation, nämlich abhängig vom Willen der Mitglieder des Ausschusses — auf die sogenannten IPA-Regeln, einen Gesetzentwurf aus der 5. Legislaturperiode des Hauses, der damals nicht mehr Gesetz geworden war und sich speziell mit dem Verfahren von Untersuchungsausschüssen beschäftigt. Wir haben sehr bedauert, daß eine wirklich durchdachte und den besonderen Verhältnissen von Untersuchungsausschüssen angemessene Verfahrensregelung fehlt. Das hat zu einigen Schwierigkeiten geführt, über die im einzelnen entweder jetzt oder anschließend in der Debatte noch zu reden sein wird.Insbesondere möchte ich auch in der Öffentlichkeit für manches um Verständnis werben, das so ausgesehen hat, als würde man bei dem Versuch, in dieser Angelegenheit näher an die Wahrheit heranzukommen, mit langen Stangen im Nebel herumstochern. Das ist keine Unfähigkeit der Mitglieder des Ausschusses gewesen. Es ist schon gar nicht, wie gelegentlich unterstellt wird — ich möchte hinzufügen: bösartig unterstellt wird —, ein Interesse einzelner, von Gruppen oder etwa gar des gesamten Ausschusses gewesen, einige Dinge hier gar nicht aufzuklären, sondern der wesentliche Mangel liegt in den Verfahrensregeln. Es ist einfach unmöglich, wenn man auf Grund einiger Presseberichte in die Arbeit eines solchen Ausschusses hineingeht, ohne daß eine Voruntersuchung stattgefunden hat — das ist der entscheidende Punkt —, zu wissen, ob die Aussagen derjenigen Zeugen, die man lädt, weil ihre Namen nun einmal in dem Zusammenhang genannt worden sind, wirklich etwas zur Sache erbringen, ob sie der Wahrheitsfindung dienen können oder ob sich nach einer halben oder ganzen Stunde der Befragung eines solchen Zeugen herausstellt, daß er wirklich nichts Sachdienliches weiß. Dafür kann der Zeuge nichts, und dafür kann der Untersuchungsausschuß nichts; es liegt hier in der Natur des hier vorhandenen Verfahrens, daß man einfach allem nachgehen muß.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal mit Nachdruck betonen: Wir haben in keinem Fall einen Beweisantrag — auch nicht den einer Minderheit — abgelehnt, sondern wir sind grundsätzlich jeder Benennung eines Zeugen, einer Urkunde oder anderer Beweismittel nachgegangen, ohne dabei irgendeine Auswahl zu treffen. Wir haben dann diese Zeugen ganz erschöpfend — wenn nicht von der einen Gruppe, dann bestimmt aus einem in gewisser Weise andersartigen Interesse von ,der anderen Gruppe — bis zum Letzten befragt. Herr Reddemann lächelt mir freundlich zu; dazu besteht an dieser Stelle auch aller Anlaß. Erst als wir zum Schluß keine weiteren Anhaltspunkte mehr hatten, wo weitere Beweiserhebungen noch zu mehr Aufklärung führen könnten, haben wir einverständlich gesagt: Mehr gibt es nicht in dieser Sache zu leisten.Dann hat ,die Sichtung des Materials zu erfolgen gehabt, das wir inzwischen zusammengetragen hatten. Dabei sind wir so verfahren, wie ich es eingangs schon einmal darstellte, nämlich alles, was irgendwie von Bedeutung sein kann, unbedingt auch im Bericht zu erwähnen und zu würdigen, aber alles, was schließlich nicht weiterführen kann, dann auch nicht in den Bericht hineinzunehmen. Jedenfalls habe ich die Dinge bei der Berichterstattung ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt gesehen.Wir sind dabei nicht etwa auf diese meine Behauptung oder auf den guten Glauben der hier Anwesenden und der Öffentlichkeit angewiesen, sondern der Ausschuß hat, wie Ihnen auch bekannt sein dürfte, die gesamten Protokolle der Beweisaufnahmen acht Tage vor unserer heutigen Sitzung für jedermann zugänglich ausgelegt. Sie werden dort aus gutem Grunde auch noch weitere acht Tage ausgelegt bleiben, damit nämlich jedermann die Möglichkeit hat, das, was wir geschrieben haben, und das, was heute hier gesagt wird, nicht an irgendwelchen Vermutungen und Berichten über Berichte und dergleichen mehr oder weniger sauberen oder trüben Quellen nachzuprüfen, sondern an Hand der Dokumente, die bei einer vernünftigen Beweiswürdigung einzig entscheidend sein können. Sie sind also herzlich aufgefordert — und insbesondere sind die Herren von der Presse, vom Fernsehen und vom Rundfunk eingeladen —, sich in jedem Punkt, wo vielleicht Zweifel bestehen, ob hier irgend jemand im Bericht etwas weggelassen hat, um dadurch eine Argumentation zu erleichtern, oder etwas schief hinzugefügt hat, um sich damit in seiner Argumentation etwas leichter zu machen, zu vergewissern. Dieses Verfahren ist meines Wissens von einem Untersuchungsausschuß erstmals gewählt worden.Da mit Sicherheit die wesentlichen Fragen der Vereidigung und der besonderen Schwierigkeiten des uns vorgegebenen Verfahrens, der Verfahrensregeln in diesem Punkt noch in der Debatte erwähnt und darüber hinaus, wie ich vermute, diskutiert werden, will ich mich an dieser Stelle kurz fassen. Das Ergebnis ist bekannt. Die Mehrheit hat Vereidigungen grundsätzlich abgelehnt, weil sie davon ausging, daß dadurch auch Würdigungen vorgenommen würden, die unzulässig und von der Sache her unbegründet sein könnten. Wir wollten nicht in die
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5968 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
KleinertGefahr ungerechter Bewertung einzelner Zeugen geraten, weil die Abgrenzung dieser Zeugen mit den jetzigen Verfahrensregelungen nicht so möglich ist, daß nicht als quasi Verurteilter schon dastehen würde, wer nicht vereidigt ist, und als frei und völlig reingewaschen derjenige, der dann doch vereidigt wird. Auch sollten Menschen nicht in die Schwierigkeit kommen, vielleicht später noch wegen einer Nebensache in einen Meineidsprozeß verwickelt zu werden, obwohl die Dinge mit unserem Untersuchungsgegenstand nicht zusammenhingen.Ich wende mich damit ausdrücklich nicht gegen die Möglichkeit der Vereidigung in derartigen Verfahren überhaupt, ich begründe nur, warum wir in diesem Fall von der Vereidigung abgesehen haben. Es gibt Schutzrechte für diejenigen, die nach den erwähnten IPA-Regeln als Betroffene gelten. Diese Schutzrechte hätten sie zu einem erheblichen Teil nicht mehr wahrnehmen können, nachdem die Beweisaufnahme weitgehend abgelaufen war. Wir glaubten deshalb auch nicht, zum Schluß etwa diesen oder jenen zum Betroffenen erklären zu können und damit darüber hinaus eine Fülle von Möglichkeiten für falsche Schlüsse und Verdächtigungen in die Welt bringen zu dürfen.In den Feststellungen auf Seite 9/10 des Ihnen vorliegenden Berichts ging es zunächst bei dem Beschluß unter 1 um den etwaigen Versuch einer unlauteren Beeinflussung des Zeugen Steiner durch den Zeugen Wienand in dem Gespräch in Schelklingen hinsichtlich seines Stimmverhaltens bei der Abstimmung über die Ostverträge. Der Ausschuß hat mit der Mehrheit von 5 : 4 Stimmen festgestellt, daß ein solcher Versuch nicht nachgewiesen worden ist. Die Minderheit hat das Gegenteil festgestellt. Ich bin der Auffassung, daß man in diesem Zusammenhang — selbst wenn gewisse Hinweise gegeben sein sollten, die spätere Gespräche vielleicht ermöglicht oder erleichtert hätten — von der sauberen juristischen Abgrenzung der Vorbereitungshandlungen und des Versuchs ausgehen muß und daß an dieser Stelle nach dem Ihnen im einzelnen vorgelegten Ergebnis der Beweisaufnahme nicht von einem Versuch gesprochen werden kann, weil dazu nicht genügend konkretisierte Anhaltspunkte festgestellt wurden, weil die Zeugen in ihren gesamten Aussagen nicht gesagt haben, daß hier das und das konkret angeboten wurde; nur das hätte zu solch einer Feststellung gereicht.Des weiteren ist einstimmig festgestellt worden, daß bei den Gesprächen zwischen dem Zeugen Steiner und den Zeugen Mertes, Dorn und Moersch der Zeuge Steiner nicht zu einer Stimmabgabe für die Ostverträge in unlauterer Weise beeinflußt werden sollte, daß er dies nicht behauptet hat und sich auch keine sonstigen Anhaltspunkte dafür ergeben haben.Ferner ist einstimmig festgestellt worden — daswird in der Berichterstattung gelegentlich etwas verwischt, und darum muß es hier gesagt werden —, daß die Behauptung des Zeugen Steiner nicht erwiesen ist, der Zeuge Wienand habe im Zusammenhang mit der Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum den Zeugen Steiner durch Hingabe von 50 000 DM in unlauterer Weise beeinflußt. DerUnterschied zwischen der Mehrheit und der Minderheit besteht nicht in diesem Punkt, sondern er besteht darin, daß die Minderheit des Ausschusses anschließend einen weiteren Antrag zur Abstimmung stellte, nach dem festgestellt werden sollte, daß der dringende Verdacht besteht, daß der Zeuge Wienand den Zeugen Steiner im Zusammenhang mit der Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum durch Hingabe von 50 000 DM in unlauterer Weise beeinflußt hat.Die Ausschußmehrheit war der Auffassung, daß ein solcher Antrag nach Annahme des ersten Antrages nicht mehr möglich sei, weil die Feststellung eines fortbestehenden Verdachts hier nicht zu den Aufgaben des Untersuchungsausschusses gehören kann und außerdem logisch, denkgesetzlich — jedenfalls bei vernünftiger Würdigung der Aufgaben des Ausschusses; es wird darüber in der Debatte mit Sicherheit noch gesprochen werden —, nach ihrer Meinung nach dem zuvor genannten einstimmig angenommenen Antrag nicht mehr möglich ist.Es besteht insofern betreffend der später eingeführten Vorgänge um den als Zeugen gehörten Herrn Bundesminister Ehmke eine Unterfrage. Da hat sich der gleiche Vorgang in etwa wiederholt. Es dreht sich auch da darum, daß die Minderheit der Meinung war, hier bestehe, ein Verdacht fort, und wir der Meinung sind, daß man das in einem solchen Verfahren nicht feststellen kann, ganz abgesehen davon, daß nach der Auffassung der Mehrheit hier gar nicht mehr von einem Verdacht gesprochen werden konnte. Es war ursprünglich behauptet worden, die Finanzierung sei über vertraulich eingeholte Mittel erfolgt, die zufällig in gleicher Höhe angefordert und besorgt worden waren; ein Vorgang, der an sich schon Zweifel aufkommen läßt, weil es viel wahrscheinlicher wäre, daß, wenn die Mittel für einen solchen Zweck vorgesehen gewesen wären, ein anderer Betrag angefordert worden wäre, was ohne weiteres — wie Sie, Herr Carstens, wissen — in noch ganz anderen Beträgen möglich gewesen wäre.
Über die speziellen Auffassungen von Korrektheit im Zusammenhang mit solchen Vorgängen unterhalten wir uns dann vielleicht einmal außerhalb meines jetzigen Berichts.In der Kernfrage dieses Untersuchungskomplexes ist es so gewesen — das war der Grund für die einstimmige Annahme des soeben verlesenen Beschlusses —, daß der Zeuge Steiner eine sehr ins Detail gehende Schilderung über Ort, Zeit und Art und Weise der von ihm behaupteten Übergabe des Betrages gegeben hatte, daß aber für die von ihm gegebene Darstellung einzig seine Aussage und einige verhältnismäßig vage Indizien vorhanden sind, während sich dafür, daß dieser Vorgang in allen Punkten so nicht gewesen sein könnte, eine Fülle von Zeugenaussagen gefunden haben.Bei dieser Sachlage bestand nach meiner Auffassung keine Möglichkeit mehr, etwa nach Indizien zu forschen, die eine von vielen Zeugen wider-
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Kleinertlegte Aussage des einzigen, der das wirklich so behauptet hat, bestätigt hätten. Das führte dann bekanntlich auch dazu, daß das Ergebnis insoweit einstimmig festgestellt worden ist. Einem Verdacht dann weiter nachzugehen wäre meiner Auffassung nach nicht richtig gewesen. Dazu werden wir Näheres hören; dazu habe ich jetzt nicht Stellung zu nehmen.Die weiteren Beschlüsse möchte ich nun nicht im einzelnen zitieren, sondern nur am Rande darauf hinweisen, daß Sie unter Punkt 4 das Ergebnis unserer recht umfangreichen Untersuchungen über die Kontakte des Zeugen Steiner zu Nachrichten-, Geheim- und ähnlichen Diensten innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik Deutschland finden. In der Sache hat hier nicht festgestellt werden können, daß ein Zusammenhang mit den uns interessierenden Vorgängen bestand. Ich glaube aber, daß die Art und Weise, wie hier sozusagen auf einem Seitenweg einmal die Arbeitsweise und die Mentalität einiger Mitglieder solcher Dienste klargeworden ist, vielleicht nützliche Folgen, sei es in cien Länderparlamenten, sei es auch in diesem Hause, für Verbesserungen in Gestaltung, Organisation und personeller Ausstattung solcher Einrichtungen mit sich bringen wird. Ich glaube, daß da ein sehr allgemeiner Eindruck als ein Nebenprodukt dieser Untersuchung entstanden ist, der ganz klar in diese Richtung geht.In der Öffentlichkeit — ich möchte jetzt nicht durch Einzelberichterstattung zu den Beschlüssen die Zeit für die Debatte weiter verkürzen oder die Gesamtdebatte verlängern — ist oft gesagt worden, dieses Verfahren gehe mit Sicherheit wie das Hornberger Schießen aus. Darin kommt zum Teil Resignation, zum Teil Abwertung der Einrichtung der Untersuchungsausschüsse, leider auch Mißtrauen gegen Politiker im allgemeinen und im besonderen — wahrscheinlich ohne dezidierte Unterscheidung zwischen den einzelnen Fraktionen und Parteien — zum Ausdruck.Ich habe mir von dem Kollegen Schäuble, der ja aus Hornberg stammt, erzählen lassen, wie es sich mit dem Hornberger Schießen im einzelnen genau verhalten hat. Er hat mir berichtet, daß den Soldaten anläßlich eines Besuchs des Landesherzogs infolge verschiedener versehentlicher Schießübungen beim Erscheinen falscher Objekte, als der Herzog nun wirklich anrollte, das Pulver für die beabsichtigten Böllerschüsse — es handelte sich also keineswegs um ein kriegerisches Ereignis — ausgegangen war. Dazu ist hier festzustellen, daß uns überhaupt nicht und zu keiner Zeit das Pulver ausgegangen ist, um auf jeden Fragen zu schießen und möglichst viel Scharfsinn und Logik aufzuwenden, um zu versuchen, aus den vorhandenen Beweismitteln — andere kann es der Natur der Sache nach nicht geben — das Äußerste zur Findung der Wahrheit herauszuholen. Hätten wir noch mehr Hinweise auf taugliche Beweismittel gehabt, wären wir, nach wie vor mit Pulver versehen, diesen Beweisen nachgegangen. Da sich solche Hinweise nicht mehr ergeben haben, konnten wir nur das tun, was wir zum Schluß getan haben, nämlichhier sauber und sachlich darzulegen, was festgestellt worden ist, und unsere daraus gezogenen Schlüsse mitzuteilen. Inwieweit das gelungen ist, das mag in der anschließenden Debatte diskutiert werden.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Der Herr Mitberichterstatter wünscht jetzt das Wort nicht. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Dr. Schäfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf als Vorsitzender dieses 1. Untersuchungsausschusses namens aller Mitglieder folgendes vortragen.Der Untersuchungsausschuß hat sich mit Sorgfalt und Energie der ihm übertragenen Aufgabe gewidmet. Wenn er heute, ehe er seine Aufgabe im Ganzen erledigt hat, den Antrag stellt, den Ausschuß aufzulösen, so verlangt dies ein Wort der Begründung.Der Ausschuß hat sich mit Fragen, die im Zusammenhang mit dem früheren CDU-Abgeordneten Steiner stehen, und mit den Behauptungen, die sich auf das Verhalten des SPD-Abgeordneten Wienand beziehen, befaßt. Er hat Ihnen darüber seinen Bericht vorgelegt.Mit dem Einsetzungsbeschluß des Bundestages war die Aufgabe gestellt, darüber hinaus in allen Fällen des Fraktionswechsels oder des erwogenen Fraktionswechsels in der 6. Wahlperiode die gleiche Prüfung vorzunehmen, nämlich ob durch unlautere Mittel auf die Entscheidung der Abgeordneten Einfluß genommen worden ist oder ob der Versuch hierzu unternommen wurde.Der Untersuchungsausschuß hat gleichwohl heute einen Schlußbericht vorgelegt und die Auflösung des 1. Untersuchungsausschusses beantragt. Ich darf zur Begründung folgendes vortragen.Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses sind der Auffassung, daß die bestehenden Vorschriften für das Untersuchungsverfahren den Besonderheiten dieses Verfahrens nicht gerecht werden. Dies wird in den Parlamenten und in der Wissenschaft auch zunehmend erkannt. Art. 44 des Grundgesetzes schreibt vor, daß auf die Beweiserhebungen von Untersuchungsausschüssen die Vorschriften über den Strafprozeß sinngemäß anzuwenden sind.Es erscheint jedoch fraglich, ob sich diese Vorschriften überhaupt für eine sinngemäße Anwendung im Untersuchungsverfahren eignen; denn zwischen beiden Verfahrensarten bestehen grundsätzliche Unterschiede, vor allem hinsichtlich der Verfahrensbeteiligten. Während am Strafverfahren Richter, Staatsanwälte, Beschuldigte, Zeugen und Sachverständige beteiligt sind und das Strafprozeßrecht dazu dient, ihr Verhältnis zueinander zu regeln, kennt das Untersuchungsverfahren nur Ausschußmitglieder, Zeugen und Sachverständige, nicht dagegen Beschuldigte und Staatsanwälte.Das Verfahren des 1. Untersuchungsausschusses hat ferner gezeigt, daß der Schutz des Bürgers vor
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5970 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Schäfer
einem Eingriff in seine Privatsphäre in einem Untersuchungsverfahren wegen des Fehlens eines Vorverfahrens geringer ist als in jedem anderen Verfahren. Während im Strafverfahren alle letztlich unwesentlichen Beweismittel bereits im Vorverfahren ausgeschieden und deshalb im Hauptverfahren nur noch die wesentlichen Beweise erhoben werden, sind im Untersuchungsverfahren alle Ermittlungen im Hauptverfahren durchzuführen, auch wenn sie nur dazu dienen, noch unklaren Verdachtsmomenten nachzugehen oder weniger wahrscheinliche Beweismöglichkeiten auszuschließen.Unter Zurückstellung der sich gerade darauf ergebenden Bedenken hat der Untersuchungsausschuß alle ihm erforderlich scheinenden Maßnahmen durchgeführt. Er ist aber der Auffassung, daß für weitere Verfahren eine Regelung geschaffen werden soll, die geeignet ist, diesen Bedingungen, die ich eben vorgetragen habe, zu entsprechen.Im Auftrage der Mitglieder des Untersuchungsausschusses habe ich den Herren Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen in einem Brief vorgeschlagen, daß im Anschluß an die Auflösung des 1. Untersuchungsausschusses eine interfraktionelle Arbeitsgruppe mit dem Auftrag gebildet wird, den Entwurf eines Gesetzes über die Einsetzung und das Verfahren von Untersuchungsausschüssen zu erarbeiten und dem Bundestag vorzulegen. Die Herren Vorsitzenden der Fraktionen haben sich mit diesem Verfahren grundsätzlich einverstanden erklärt. Es wird danach nun darauf ankommen, daß möglichst bald diese interfraktionelle Arbeitsgruppe gebildet wird. Da die gleiche Problematik auch in den Landtagen zu einer Entscheidung drängt, empfiehlt es sich, in Zusammenarbeit mit den Präsidenten der Landtage, die ihrerseits schon einen Entwurf vorgelegt haben, und mit der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft, die ebenfalls einen Entwurf vorgelegt hat, das Modell eines Gesetzes zu entwickeln, das für den Bund und die Länder eine einheitliche Regelung ermöglicht.Für den Fortgang der Arbeiten dieser interfraktionellen Arbeitsgruppe wird es wesentlich sein, daß die Frau Präsidentin der interfraktionellen Arbeitsgruppe die geeigneten Mitarbeiter zur Verfügung stellt. Die Mitglieder des 1. Untersuchungsausschusses haben sich bereit erklärt, selbstverständlich der interfraktionellen Arbeitsgruppe zur Verfügung zu stehen, so daß eine Aussprache über die Erfahrungen weiterführen kann. Wir haben die Hoffnung, daß der Deutsche Bundestag möglichst bald eine Gesetzesvorlage von der interfraktionellen Arbeitsgruppe über die Fraktionen zugeleitet bekommt, um eine befriedigende gesetzliche Grundlage für die Arbeit zukünftiger Untersuchungsausschüsse zu schaffen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäuble. Seine Fraktion hat eine Redezeit von 50 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die der CDU/CSU angehörendenMitglieder des Untersuchungsausschusses bedauern, daß es nicht möglich gewesen ist, als Ergebnis unserer Arbeit im Untersuchungsausschuß durchgängig gemeinsame Feststellungen zu treffen.
Der gemeinsame Wille dieses Hohen Hauses, Korruption zu bekämpfen, Mißstände schonungslos aufzudecken, wäre sichtbarer, wenn wir zu gemeinsamen Ergebnissen gekommen wären. Da es bei diesen Vorgängen um Probleme geht, die den Lebensnerv der parlamentarischen Demokratie berühren, müssen parteipolitische Absichten zurücktreten hinter der gemeinsamen Verantwortung für die Integrität der demokratischen Organe.
In dieser Affäre kann es keine Sieger geben. Wir alle miteinander sind die Verlierer. Unsere Aufgabe war und ist, den Vertrauensverlust durch schonungsloses Aufklären, durch die Kraft zur Selbstreinigung möglichst klein zu halten. So wichtig deshalb Gemeinsamkeit in diesem Bemühen ist, wichtiger noch ist die weitestgehende Aufklärung dessen, was hier gewesen ist, und die Verhinderung des Eindrucks, daß gemeinsam unter den Teppich gekehrt worden ist. Wir dürfen die Vermutung nicht entstehen lassen, daß auch hier eine Krähe der anderen kein Auge aushackt. Deshalb ist der Minderheitenschutz in Art. 44 des Grundgesetzes von entscheidender Bedeutung, und deshalb haben wir von diesen Minderheitenrechten Gebrauch gemacht. Herr Kollege Kleinert, es war gar nicht Ihre Großzügigkeit, daß Sie dem nicht entgegentreten konnten; es war so die rechtliche Lage.
Die demokratische Notwendigkeit, gemeinsam den Verdacht möglicher Mißstände aufzuklären, kann nach unserem Verständnis nicht zu einer Gemeinsamkeit in den Feststellungen führen, wenn diese nicht durch unsere Überzeugung gedeckt ist.
Die Differenzen in den nach Umfang und Inhalt sehr unterschiedlichen Berichtsteilen lassen sich im Ergebnis auf zwei Punkte zurückführen, von denen sich nur der eine auf den festgestellten Sachverhalt bezieht, während der andere mit offenbar unterschiedlichem Verständnis vom Wesen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses und seines Auftrags zusammenhängt.Wir sind unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich der Frage, wie die erhobenen Beweise zu bewerten sind, die sich direkt oder indirekt auf das Gespräch beziehen, das die Zeugen Baeuchle, Steiner und Wienand am 29. März 1972 in Schelklingen im Hause des Herrn Baeuchle geführt haben. Nach unserer Auffassung ist erwiesen, daß der Abgeordnete Wienand in diesem Gespräch versucht hat, den damaligen Abgeordneten Steiner durch ein Angebot in Höhe von etwa 250 000 DM zur Stimmabgabe für die Ostverträge zu bewegen.Die im Bericht des Kollegen Kleinert wiedergegebene Auffassung der Mehrheit im Untersuchungs-
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Dr. Schäubleausschuß, daß dieser Verdacht nicht bewiesen sei, ist nach unserer Überzeugung mit dem Gesamtinhalt der Beweisaufnahme nicht zu vereinbaren.
Nach der übereinstimmenden Aussage aller Zeugen ist es zu diesem Gespräch in Schelklingen gekommen, weil der damalige Abgeordnete Baeuchle von Steiner den Eindruck hatte, daß dieser unter Umständen bereit wäre, für die Ostverträge zu stimmen, daß er aber für den Fall eines von der Mehrheit seiner Fraktion abweichenden Stimmverhaltens Schwierigkeiten mit seiner Fraktion und Partei befürchtete. In dem Bestreben, einen kompetenten Gesprächspartner für Steiner zu finden, der diesem über diese Schwierigkeiten hinweghelfen könnte, wandte sich Baeuchle an den Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Wienand, der sogleich an einem Gespräch mit Steiner Interesse bekundete. Baeuchle, der Steiner und dessen Ehefrau zu einem privaten Besuch eingeladen hatte, bot Wienand an, an diesem Gespräch teilzunehmen. Wienand sagte seine Teilnahme zu, obwohl ihm der Termin Schwierigkeiten bereitete, und er reiste mit einer Bundeswehrmaschine zu diesem Treffen. Der Zweck dieses Treffens war — um dies zu wiederholen — nach übereinstimmender Aussage aller Zeugen, Steiner über die Schwierigkeiten hinwegzuhelfen, die er bei einer Stimmabgabe für die Ostverträge befürchtete. Zu diesem Zweck unternahm Wienand die Reise, und nur durch diesen Zweck ist der erhebliche Zeitaufwand einer solchen Reise auch zu erklären.Nach ebenfalls übereinstimmenden Aussagen aller Zeugen ist in Schelklingen in mindestens drei verschiedenen Phasen der Gespräche über die verschiedenen Möglichkeiten finanzieller Zuwendungen an Bundestagsabgeordnete gesprochen worden. Der Abgeordnete Wienand hat zwar ursprünglich in der Öffentlichkeit erklärt, in Schelklingen sei nicht von Geld die Rede gewesen, nachdem er noch früher sich überhaupt nicht an Kontakte zu Herrn Steiner erinnern wollte. Er hat diese öffentlichen Erklärungen dann dahin interpretiert, daß in Schelklingen nicht von Geld im Zusammenhang mit Steiner die Rede gewesen sei. Er will in Schelklingen lediglich mehrfach davon gesprochen haben, was nach seiner Mutmaßung Abgeordnete wohl bekommen haben sollen, die in der 6. Legislaturperiode von der damaligen Koalition zur Opposition übergetreten seien. Demgegenüber haben die Zeugen Herr und Frau Baeuchle sowie Steiner ausgesagt, daß von finanziellen Möglichkeiten in Schelklingen die Rede gewesen sei im Zusammen mit der Frage, wie man Steiner über die befürchteten Schwierigkeiten hinweghelfen könnte.Da in Schelklingen in mindestens drei verschiedenen Phasen des Gesprächs über diese verschiedenen Möglichkeiten finanzieller Zuwendungen gesprochen wurde, drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß dieser Punkt in einem sachlichen Zusammenhang mit dem eigentlichen Gesprächsthema des Besuches in Schelklingen gestanden haben muß, und dieser Zweck war eben, Steiner über die Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Wenn auch nicht auszuschließen ist, daß sich die Beteiligten in einem solchen Gesprächam Rande auch über damit nicht zusammenhängende Themen wie etwa das Wetter unterhalten, so ist es doch außerordentlich unwahrscheinlich, daß ein dreimal wiederkehrender Punkt nicht mit dem Gesprächsthema im Zusammenhang gestanden haben soll. Deswegen drängt sich auf, daß die Erwähnung der Möglichkeiten finanzieller Zuwendungen an Abgeordnete ein Angebot an Steiner durch Wienand beinhaltet hat.Dies gilt selbst dann, wenn man von der Aussage des Zeugen Wienand ausgeht; denn sie würde zu dem Schluß führen, daß Wienand das Angebot in verklausulierter Form machte. Wenn Wienand in dem Gespräch, das Steiner über Schwierigkeiten hinweghelfen sollte, mehrfach darauf zurückkam, was anderen angeblich gezahlt worden sein soll, dann mußte dies — und nur so konnte es beabsichtigt sein — Steiner als ein Angebot verstehen.
Im übrigen stehen der Aussage des Zeugen Wienand die Aussagen der drei Zeugen entgegen. Diese haben übereinstimmend bekundet, daß Wienand Beträge in der Größenordnung von etwa 250 000 DM und die drei Möglichkeiten der Barzahlung, der Verschaffung einer Anstellung oder der Überweisung auf ein Konto im Ausland im Zusammenhang mit den von Steiner befürchteten Schwierigkeiten genannt habe. Die Aussagen dieser Zeugen stimmen insoweit bis in Einzelheiten überein, und sie entsprechen dem unstreitigen Gesamtzusammenhang und dem Zweck des Gesprächs in Schelklingen. Herr Wienand ist nicht nach Schelklingen geflogen, um mit Herrn Steiner ein belangloses Gespräch zu führen.
Die Nennung der Geldbeträge und der verschiedenen Zahlungsmöglichkeiten durch Herrn Wienand war ein an Steiner gerichtetes und auf Steiner bezogenes Bestechungsangebot.Dieses Ergebnis der Beweisaufnahme wird durch eine Reihe von weiteren, dem Gespräch in Schelklingen zeitlich nachfolgenden Ereignissen bestätigt. Ich will auf die Darstellung aller Einzelheiten hier unter Bezugnahme auf den Schriftlichen Bericht verzichten. Der Gesamtinhalt der Beweisaufnahme schließt nach unserer sorgfältig gewonnenen Überzeugung jeden vernünftigen Zweifel daran aus, daß der Parlamentarische Geschäftsführer Wienand einer versuchten Abgeordnetenbestechung gegenüber dem damaligen Abgeordneten Steiner überführt ist.
Die Auffassung der Mehrheit im Untersuchungsausschuß, daß dies nicht bewiesen sei, ist nach unserer Überzeugung mit dem Inhalt der Beweisaufnahme und mit den Grundsätzen einer sorgfältigen Beweiswürdigung nicht zu vereinbaren.
Der zweite Punkt, in dem wir anderer Auffassung sind als die Mehrheit der Koalition, betrifft nicht
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5972 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Schäubleeigentlich eine Frage der Beweiswürdigung, sondern das Verständnis des Untersuchungsauftrags. Wir haben im Untersuchungsausschuß gemeinsam und einstimmig festgestellt, daß die Behauptung des Zeugen Steiner nicht erwiesen ist, der Zeuge Wienand habe im Zusammenhang mit der Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum Steiner durch Hingabe von 50 000 DM in unlauterer Weise beeinflußt. Die CDU/CSU-Mitglieder haben damit gerade nicht, wie die Koalitionsvertreter im Komplex Schelklingen, nur das als Ergebnis der Untersuchung anerkannt, was den unterstellten parteipolitischen Absichten entspricht.
Im Gegensatz zu den der Koalition angehörenden Mitgliedern sind wir allerdings der Überzeugung, daß diese Feststellung allein nicht den vollständigen Inhalt dessen wiedergibt, was das Ergebnis der Untersuchung ist. Wir sind darüber hinaus der Auffassung, daß nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme der dringende Verdacht besteht, daß der Zeuge Wienand Steiner durch Zusage und Hingabe von mindestens 50 000 DM dazu veranlaßt hat, am 27. April 1972 nicht für den Mißtrauensantrag der CDU/CSU-Fraktion zu stimmen. Wenn ich es richtig sehe, besteht innerhalb des Untersuchungsausschusses hinsichtlich dieses Verdachtes im wesentlichen keine unterschiedliche Meinung, sondern die unterschiedliche Auffassung — der Kollege Kleinert hat dies dargelegt — liegt darin, daß die Mehrheit des Ausschusses die Ansicht vertritt, ein wenn auch noch so substantiierter und konkretisierter Verdacht, der nicht voll bewiesen sei, könne nicht Gegenstand der Berichterstattung sein.
Die Mehrheit des Untersuchungsausschusses will in Anwendung von Beweiswürdigungsgrundsätzen des Strafprozeßrechts nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" ihre Feststellungen darauf beschränken, was nicht voll bewiesen sei. Diese Auffassung geht nach unserer Überzeugung am Untersuchungsauftrag vorbei. Aufgabe dieses Untersuchungsausschusses ist es nicht gewesen und konnte es nicht sein, wie in einem Strafverfahren bestimmte Personen zu verurteilen oder freizusprechen und an eine eventuelle Schuldfeststellung Sanktionen zu knüpfen. Vielmehr war unsere Aufgabe, einen bestimmten Sachverhalt so weit wie irgend möglich zu klären, und dieser Sachverhalt ist durch die Fragen des Einsetzungsbeschlusses umschrieben.Die Antwort auf die uns vom Bundestag gestellten Fragen wäre nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sehr unvollständig, wenn wir nur feststellen wollten, daß nicht erwiesen ist, daß Wienand Steiner bestochen habe. Wir haben über diese Feststellung hinaus eine Reihe von Erkenntnissen gefunden, die wir bei einer vollständigen Beantwortung der uns von diesem Hohen Hause gestellten Fragen nennen müssen.Die Antwort auf die Frage, ob die Entscheidung des früheren Abgeordneten Steiner in unlauterer Weise beeinflußt wurde, wäre sehr verkürzt, wenn wir nicht auch sagten, daß die Beweisaufnahme eineVielzahl von Tatsachen ergeben hat, die den Verdacht dringend nahelegen, daß eine solche Bestechung tatsächlich stattgefunden hat. Deshalb geben die von der Ausschußmehrheit getroffenen Feststellungen das Ergebnis der Untersuchung sehr unvollständig wieder. Wir halten es für unsere Pflicht, diesem Hohen Hause und der Öffentlichkeit die gesamten Feststellungen des Ausschusses vollinhaltlich mitzuteilen.
Nach Art. 44 des Grundgesetzes finden auf die Beweiserhebung des Untersuchungsausschusses die Vorschriften des Strafprozesses sinngemäß Anwendung. Dies bedeutet aber nicht, daß die Bestimmungen der Strafprozeßordnung auch auf die Frage anzuwenden sind, zu welchen Ergebnissen ein Untersuchungsausschuß zu kommen hat. Der Inhalt unserer Feststellungen muß sich nach dem Untersuchungsauftrag bestimmen. Die Demokratie kann sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß dieses und jenes nicht voll erwiesen ist, sondern sie braucht darüber hinaus die vollinhaltliche Bekanntgabe alles dessen, was in Erfüllung des Untersuchungsauftrags und wieweit es aufgeklärt werden konnte. Nur aus dieser weitestmöglichen Aufklärung entsteht für uns alle die Chance, das geschädigte Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und in die demokratischen Organe ein Stück weit zu reparieren.
Dies heißt nicht — und ich sage dies, weil Sie unsdas unterstellen wollen —, daß wir die bloße Spekulation, die bloße Verdächtigung zum Mittel der politischen Auseinandersetzung machen. Im Gegenteil, wir alle, meine Damen und Herren, wären miteinander glücklich, wenn erwiesen wäre, daß in diesem Hohen Hause Entscheidungen nicht durch unlautere Mittel beeinflußt worden sind und daß niemand Mitglied dieses Hohen Hauses war oder ist, der sich solcher Mittel bedient. Aber genau dies ist nicht erwiesen, und für das Gegenteil besteht dringender Verdacht.Ich möchte auch hier nur die wichtigsten Punkte kurz ansprechen. Bei der Abstimmung über den Mißtrauensantrag der CDU/CSU-Fraktion am 27. April 1972 stimmten 247 Abgeordnete für diesen Antrag. Öffentliche Erklärungen von Abgeordneten der Koalition begründeten die Annahme, daß nicht alle 246 CDU/CSU-Abgeordneten für diesen Antrag gestimmt haben konnten.Der ehemalige Abgeordnete Steiner hat im Juni 1973 in der Öffentlichkeit erklärt, er habe sich nach einer entsprechenden Vereinbarung mit Wienand bei dieser Abstimmung der Stimme enthalten und dafür 50 000 DM bekommen. Am Morgen des 28. April, also am Tage nach der Abstimmung, hat Steiner auf sein Konto bei der Deutschen Bank in Bonn 50 000 DM eingezahlt.
Er hat angegeben, dies sei die Summe, die er am Vortag von Wienand für sein Verhalten bei der Abstimmung über das Mißtrauensvotum bekommen habe.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5973
Dr. SchäubleDie Ermittlungen des Untersuchungsausschusses haben keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben — und die Bundesanwaltschaft hat dieses heute vormittag noch einmal bestätigt —, aus welchen anderen Quellen dieses von Steiner auf sein Bankkonto eingezahlte Geld stammen könnte.Die Angaben Steiners zum Zeitpunkt der angeblichen Geldübergabe sind durch die Aussagen einer Reihe von Zeugen widerlegt, die teils bezeugen, daß Wienand im fraglichen Zeitraum sich ständig an anderen Orten als in seinem Büro aufgehalten habe, teils aussagen, sie seien zu dieser Zeit im Büro Wienand gewesen und hätten dort weder Steiner noch Wienand gesehen.Diese Tatsache ist der einzige, zugleich entscheidende Punkt, an dem eine lückenlose Beweisführung hinsichtlich der von Steiner behaupteten Bestechung scheitert. Ich habe in meinem schriftlichen Bericht im einzelnen dargelegt, daß sowohl ein Irrtum Steiners als auch eine absichtlich wahrheitswidrige Angabe zum Zeitpunkt der Geldübergabe denkbar erscheinen. Diese Möglichkeiten drängen sich uns nicht deshalb auf, weil wir wider bessere Beweise gerne Herrn Wienand belasten wollten, sondern der Grund liegt einfach darin, daß, von diesem einen Punkt abgesehen, alles andere ganz eindeutig dafür spricht, daß Wienand Steiner eben doch bestochen hat.
Die Darstellung des Zeugen Wienand war schon in sich unschlüssig und widersprüchlich. Er will am 29. März nach Schelklingen gereist sein, um Steiner zu treffen, weil er erkunden wollte, ob Steiner für eine Stimmabgabe für die Ostverträge zu gewinnen sei. Danach will er Steiner erst wieder im Juni getroffen haben. Und zwar hat er ihn dreimal im Krankenhaus in Godesberg besucht. In der Zwischenzeit habe es keinerlei Kontakte gegeben. Dabei fällt auf, daß Wienand zu einer Zeit, als die Abstimmung über die Ostverträge nicht unmittelbar bevorstand, nach Schelklingen flog, um mit Steiner über die Ostverträge zu sprechen.Als die Ostverträge zur Abstimmung kamen, will er mit Steiner nicht gesprochen haben. Im Krankenhaus in Godesberg bei seinen drei Besuchen will Wienand Steiner besucht haben, weil es Gerüchte über ein zweites Mißtrauensvotum gegeben habe. Als das erste und einzige Mißtrauensvotum tatsächlich eingebracht war, will Herr Wienand dagegen zu Steiner keinen Kontakt hergestellt haben.
Im übrigen, meine Damen und Herren, ist nach unserer Auffassung bewiesen, daß Steiner zumindest am 8. Juni 1972 im Büro Wienand gewesen ist, was Zweifel sowohl auf die Glaubwürdigkeit der Aussagen Wienands als auch seiner Sekretärin wirft, die beide beteuert haben, Steiner sei nie in Wienands Büro gewesen.Die Schilderung Wienands über seine Beziehungen zu Steiner vermag auch nicht die Tatsache zu erklären, daß Wienand bei den Verhandlungen zwischen Moersch und Steiner über einen Übertritt Steiners zur FDP als Berater hinzugezogen wurde. Diese Beiziehung Wienands setzt ein intimes Vertrauensverhältnis voraus, das durch die Angaben Wienands zu seinen Beziehungen zu Steiner nicht erklärt werden kann.Hinzu kommt, daß Steiner vor seinem sogenannten Geständnis in der Redaktion der Illustrierten „Quick" am 30. Mai 1973 gegen Mitternacht von München aus versucht hat, Herrn Wienand anzurufen. Auch dies spricht für eine wesentlich engere Beziehung zwischen Steiner und Wienand, als sie von Wienand geschildert worden ist; man ruft ja schließlich nicht um Mitternacht noch einen wildfremden Menschen an.
Die Aussagen Steiners, daß es am 25. und 26. April, also in den Tagen vor dem Mißtrauensvotum, zwischen ihm und Wienand Kontakte gegeben habe, werden durch die Aussagen des Zeugen Baeuchle mittelbar bestätigt. Baeuchle muß auch bereits am 27. April, wie etwa der Zeuge Professor Schäfer und von Baeuchle geschriebene Briefe beweisen, der Ansicht gewesen sein, daß Steiner einer derjenigen war, die nicht für den Mißtrauensantrag gestimmt haben, und daß die Ursache für dieses Abstimmungsverhalten in einer Fortführung des von ihm, Baeuchle, vermittelten Gesprächs mit Wienand gelegen haben muß. Baeuchle hat dies in mehreren Briefen an Wienand zum Ausdruck gebracht, ohne daß Wienand dem jemals widersprochen hat. Ich will hier nur auf den einen von Baeuchle am 18. Mai 1972 an Wienand geschriebenen Brief verweisen, der den Vermerk „vertraulich" trägt, in dem Baeuchle — zwar in komplizenhaft vorsichtiger Ausdrucksweise — eindeutig zum Ausdruck bringt, daß Steiner nach seiner, Baeuchles, Meinung einer weiteren Bestechung durch Wienand zugänglich sein könnte. Baeuchle äußert in diesem Brief in konspirativer Vertraulichkeit die Ansicht, Steiner könne einer weiteren persönlichen Initiative Wienands „aufgeschlossen" gegenüberstehen, wobei die „Voraussetzungen" allerdings beträchtlich seien, weil Steiner sich seines persönlichen Wertes bewußt sei und sich über die gewaltigen Nachteile beklagt habe, die für ihn mit einem Bruch mit der CDU verbunden seien.Wienand hat diesen Brief erhalten, zur Kenntnis genommen und richtig verstanden, was nicht zuletzt durch seine eigene frühere Aussage und durch den Versuch bewiesen ist, diesen Brief in einer späteren Aussage als nicht in seinem Gedächtnis haftend darzustellen. Wenn Wienand diesem Brief und den in ihm enthaltenen Feststellungen Baeuchles gegenüber Baeuchle nie widersprochen hat — Feststellungen, die bedeuten, daß Wienand nach Baeuchles Meinung schon einmal Steiner bestochen hatte —, kann dies bei einem so umsichtigen Mann wie Wienand
kaum anders als damit erklärt werden, daß Wienand Baeuchle nicht widersprechen konnte, weil er Steiner bestochen hatte und weil er wußte, daß Baeuchle dieses wußte.
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5974 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. SchäubleMeine Damen und Herren, es gibt eine Reihe von weiteren Punkten, die den Verdacht dringend nahelegen, daß Wienand den damaligen Abgeordneten Steiner am 27. April 1972 durch Zusage und Hingabe von mindestens 50 000 DM unlauter beeinflußt hat. Der volle Beweis ist lediglich deshalb nicht erbracht, weil Steiners Angaben zum Zeitpunkt der Geldübergabe widerlegt sind. Wir meinen — dies ist der Unterschied zu den Kollegen der Koalition —, daß all diese Tatsachen und ihre Wertung mit zu dem gehören, was wir als Ergebnis der Untersuchung berichten müssen. Es geht uns — um dies zu wiederholen — nicht um die politische Auseinandersetzung mit der in der Tat nicht akzeptierbaren Waffe der bloßen, diffamierend gezielten Verdächtigung. Es geht nicht um die Frage, wer, wie und weswegen noch verdächtigt werden könnte, sondern es geht darum, daß sich in einem förmlichen, vom Grundgesetz vorgesehenen Verfahren zur Aufklärung von Fragen, die der Deutsche Bundestag gestellt hat, eine Reihe von Tatsachen und Anhaltspunkten ergeben haben, die den Verdacht dieser Bestechung nahelegen.Der Abgeordnete Wienand wird hier auch nicht als „Unschuldiger" verfolgt. Die Märtyrerrolle des unschuldig Verfolgten steht Ihnen nicht zu.
Sie selbst sind es gewesen, der die wesentlichen Ursachen gesetzt hat, die diesen dringenden Tatverdacht stützen. Der Abgeordnete Wienand hat am 29. März 1972 versucht, den Abgeordneten Steiner zu bestechen. Er hat in der Folgezeit Kontakte zu Steiner weiter geführt, zu deren Inhalt und zeitlichem Ablauf er uns noch nicht einmal eine plausible Erklärung angeboten hat. Er hat im Jahre 1972 den damaligen Abgeordneten Baeuchle unwidersprochen in der Annahme gelassen, daß er tatsächlich Steiner bestochen hatte. Warum hat Wienand dieser von Baeuchle erwiesenermaßen in Briefen, wohl auch mündlich geäußerten Vermutung nicht widersprochen, sondern sich statt dessen entsprechend den von Baeuchle geäußerten Wünschen für dessen Wiederwahl im Herbst 1972 eingesetzt?Der Abgeordnete Wienand hat in der Offentlichkeit zahlreiche, nicht der vollen Wahrheit entsprechende Erklärungen über seine Beziehungen zu Steiner abgegeben.
Er hat sich vor dem Untersuchungsausschuß in zahlreiche Widersprüche verwickelt, und er hat an Stelle der geforderten Bekundung eigenen Wissens ständig neue Entlastungskonstruktionen vorgetragen, die zu eigenen früheren Aussagen und zu denen ,der anderen Zeugen ständig im Widerspruch standen. In das Zwielicht, in dem sich Herr Wienand befindet, hat er sich selbst gebracht.
Nach den Bestimmungen des Prozeßrechts kann ein Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Dasselbe gilt für denSachverständigen, den Schiedsrichter, den Urkundsbeamten und für Schöffen. Nach § 49 der Wirtschaftsprüferordnung muß ein Wirtschaftsprüfer seine Tätigkeit versagen, wenn bei der Durchführung eines Auftrags die Besorgnis der Befangenheit besteht.In allen diesen und weiteren Rechtsnormen kommt es nicht darauf an, ob eine tatsächliche Befangenheit oder Parteilichkeit gegeben ist, sondern für die Rechtsfolge reicht aus, daß aus der Sicht eines Dritten ein vernünftiger Grund gegeben ist, eine solche Befangenheit zu besorgen. Entscheidender Gesichtspunkt dieser gesetzlichen Regelungen ist, daß das Vertrauen in die Unparteilichkeit und Unbefangenheit des Richters oder des freiberuflich Tätigen geschützt werden muß. Die Rechtsfolge knüpft sich nicht an die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes im engeren Sinne, sondern schon an die Veranlassung des bösen Scheins; denn der böse Schein stört das notwendige Vertrauen.Meine Damen und Herren, was für Richter und freiberuflich Tätige gilt, muß entsprechend und erst recht für Mitglieder von Organen unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates gelten.
Das Vertrauen der Staatsbürger, daß demokratisch gewählte Volksvertreter nicht mit den Mitteln der Korruption arbeiten, ist nach meiner Überzeugung mindestens ebenso zu schützen wie das Vertrauen in die Unparteilichkeit von Richtern oder Wirtschaftsprüfern.
Dieses Vertrauen und ich würde die Kollegen von der Koalition bitten, das doch einmal mit dem notwendigen Ernst zu überlegen —
in die Integrität unserer demokratischen Organe hat durch die zur Untersuchung gestellten Vorgänge Schaden gelitten. Das Ergebnis der Untersuchung ist, soweit sie sich auf Herrn Wienand bezieht, nach unserer Überzeugung — um das zu wiederholen —, daß einmal ein Bestechungsversuch nachgewiesen ist und daß zum anderen der Verdacht der unlauteren Beeinflussung dringend naheliegt. Durch die Feststellung allein, daß dieser Verdacht nicht voll bewiesen sei, kann der eingetretene Vertrauensschaden nicht repariert werden. Der vernünftige Grund zur Besorgnis der Korruption aus der Sicht eines Dritten ist gegeben.Der Untersuchungsausschuß hätte, auch wenn er einstimmig bestimmte Sachverhalte als erwiesen gewertet hätte, nicht die Möglichkeit der Sanktionierung. Nur die Betroffenen selbst können Konsequenzen ziehen. Tun sie dies nicht, setzt sich der Vertrauensverlust in unsere demokratische Organe fort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich meine, wir sollten uns gemeinsam in diesem Hause darüber klar werden, daß die Verantwortung dessen, der in der Demokratie eine herausgehobene Stellung hat, um einiges weitergeht als die des Rechtsbre-
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Dr. Schäublechers, dem strafrechtliche Sanktionen nur bei vollem Beweis seiner tatbestandsmäßigen Schuld drohen. Wenn wir unsere Verantwortung so eng sehen wollten, gäbe sich diese parlamentarische Demokratie nach meiner Überzeugung selbst auf.Diese Grundsätze, meine Damen und Herren, haben die CDU/CSU-Mitglieder im Untersuchungsausschuß auch genötigt, nach dem Ergebnis der Untersuchung festzustellen, daß der Verdacht besteht, daß der Zeuge Professor Ehmke bei der Beschaffung des zur Bestechung Steiners erforderlichen Geldbetrages mitgewirkt hat.
— Ich nehme an, er kennt die Tatsachen. — Dieser Verdacht gründet sich im wesentlichen auf folgende Tatsachen.Nachdem bekanntgeworden war, meine Damen und Herren, daß Herr Ehmke als damaliger Chef des Kanzleramtes sich um diesen 27. April herum aus dem geheimen Verfügungsfonds des Kanzleramtes 50 000 DM in bar verschafft hatte,
— 50 000 DM in bar! — mußten wir Herrn Ehmke nach Bestimmung und Verwendung dieses Geldes befragen. Er hat uns hierzu mitgeteilt, daß er diese 50 000 DM am Morgen des 25. April — ich wiederhole: am Morgen des 25. April — angefordert habe. Er hat bei allen seinen Aussagen vor dem Untersuchungsausschuß darauf Bezug genommen, daß er Angaben nicht aus eigener Erinnerung, sondern nur auf Grund der vor der Vernehmung studierten Akten mache.Die Aussage, er habe diese 50 000 DM am Morgen des 25. April angefordert, machte Herr Ehmke zu einer Zeit, als jedermann davon ausging, daß Herr Steiner erst am Mittag des 25. April in Bonn eingetroffen war. Die Folgerung, Ehmkes 50 000 DM könnten mit Steiner nichts zu tun haben, drängte sich auf. Erst später stellte sich heraus, daß Steiner tatsächlich schon morgens mit dem Schlafwagenzug eingetroffen war. Vor allem aber stellt sich heraus, meine Damen und Herren, daß Ehmke die Auszahlungsanordnung über die 50 000 DM erst am 26. April unterzeichnet hatte, und zwar offenbar am späten Vormittag, denn die Abhebung bei der Bank erfolgte am Nachmittag.Natürlich mag Herr Ehmke das Geld vor der Unterzeichnung der formellen Auszahlungsanordnung schon mündlich angefordert haben, obwohl überraschen muß, daß zwischen der mündlichen Weisung und der Unterschrift mehr als 24 Stunden gelegen haben sollen in einer Zeit, in der dieser Regierung vielleicht noch 48 Stunden verblieben. Wenn aber Herr Ehmke sich bei seiner Aussage auf den Inhalt der Akten bezog, dann mußte er den Termin der Unterzeichnung der Auszahlungsanordnung nennen, denn dieser ergibt sich sicher aus den Akten, wohl aber kaum der Zeitpunkt, zu dem er möglicherweise eine mündliche Weisung an einen Beamten des Kanzleramtes gegeben hat. Deshalb, meine Damenund Herren, hat Herr Ehmke in vollem Ernst vor dem Untersuchungsausschuß die Unwahrheit gesagt, und er hat damit den Verdacht begründet, an der Beschaffung der Bestechungssumme mitgewirkt zu haben.
Zum anderen, meine Damen und Herren, hat Herr Ehmke ausgesagt, er habe diese 50 000 DM angefordert, um noch eingegangene Zusagen für den Fall eines erfolgreichen Mißtrauensvotums aus dem Verfügungsfonds einlösen zu können. Er habe die Summe aber erst — und in verschiedenen Teilbeträgen — ab Mitte Mai ausgegeben. Bis dahin habe das Geld unberührt und nur unter seiner Verfügung in seinem Panzerschrank gelegen. Die Frage, warum er denn das Geld bei dieser Zweckbestimmung fürsorglich nicht schon vor der Abstimmung im Bundestag am 27. April ausgezahlt habe, hat er damit beantwortet, dazu wäre noch nach einem erfolgreichen Mißtrauensvotum Zeit geblieben.Ich will hier nicht erörtern, ob eine Verfügung über den Geheimfonds des Kanzleramtes nach einem Sturz der Regierung rechtlich noch möglich gewesen wäre und ob sie, wenn rechtlich möglich, politisch stilvoll wäre. An beidem lassen sich Zweifel anmelden. Ich muß aber darauf hinweisen, daß der allein zur Prüfung dieses Verfügungsfonds berechtigte Präsident des Bundesrechnungshofs ausgesagt hat, er habe sich am 27. April in Bonn bereit gehalten, um sofort — ich betone: sofort — nach einem erfolgreichen Mißtrauensvotum im Kanzleramt diese Prüfung vorzunehmen, damit übergeben werden kann. Als ich Herrn Ehmke dies vor dem Untersuchungsausschuß vorhielt und die Frage anschloß, wie er denn angesichts dieser sich unmittelbar anschließenden Prüfung seine Verpflichtung noch hätte erfüllen wollen, hat er sinngemäß ausgesagt, er hätte dann eben den Präsidenten noch einmal weggeschickt und ihm gesagt, er solle in zwei Stunden wiederkommen.
Herr Ehmke hat — man muß sich das einmal genau überlegen, meine Damen und Herren — diese Aussage gemacht, nachdem in seiner Anwesenheit der Präsident des Bundesrechnungshofes sehr zu Recht erläutert hatte, daß die Prüfung dieses Verfügungsfonds besonderes Vertrauen erfordere, Vertrauen in die Person des Prüfers, Vertrauen aber auch in die Person des zu Prüfenden. Ich füge hinzu: Die Existenz dieses Verfügungsfonds, die ich bejahe, erfordert besonderes Vertrauen auch in die Person des Verfügungsberechtigten. Dieses Vertrauen der Öffentlichkeit in die Person der Verfügungsberechtigten hat der Zeuge Ehmke mit dieser Aussage vor dem Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages geradezu mit Füßen getreten.
Man stelle sich einmal vor: der Kanzleramtschef einer eben gestürtzten Bundesregierung schickt den zur Prüfung des Verfügungsfonds erschienenen Präsidenten des Bundesrechnungshofes erst noch einmal weg, weil er dieses Geld erst noch ausgeben will.Wir alle sollten gemeinsam in diesem Hause der Überzeugung sein, daß ein solches Verhalten in
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5976 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Schäubleeinem demokratischen Rechtsstaat nicht denkbar sein darf,
und weil es nicht denkbar sein darf, müssen wir auch diese Aussage des Zeugen Ehmke für unglaubwürdig halten. Ich weiß, daß es manche gibt, die Herrn Ehmke auch das noch zutrauen. Für uns aber ergibt sich aus dieser Aussage der Verdacht, daß Ehmke mit 50 000 DM — und sei es im Wege der Zwischenfinanzierung — bei der Beschaffung der Bestechungssumme mitgewirkt hat.Wenn Herr Ehmke diese Beweiswürdigung in einer Presseerklärung der vergangenen Woche als Ausdruck eines verkommenen parlamentarischen Stils bezeichnet hat,
dann muß man die Frage stellen, wer hier eigentlich verkommen ist.
Wir alle in diesem Hause, auch der Herr Bundeskanzler, sollten das Protokoll der Vernehmung des Zeugen Ehmke noch einmal nachlesen, um zu erkennen, wer diesen Staat verkommen läßt.
Ich sage auch mit allem Nachdruck, Herr Minister Ehmke, und mit allem Ernst für alle der CDU/CSU angehörenden Mitglieder des Untersuchungsausschusses, daß wir uns diese Art von Diffamierung verbitten.
Wir haben kaum noch mit Erheiterung zur Kenntnis genommen, daß von Herrn Wienand herausgegebene Presseerklärungen die Arbeit des Untersuchungsausschusses störend begleiteten. Über diese Art von Geschmacklosigkeit diskutieren wir nicht, die spricht gegen sich selbst. Aber wir brauchen uns von Herrn Ehmke nicht über demokratischen Stil belehren zu lassen.
Wenn Sie, Herr Minister Ehmke, und einige Ihrer Freunde mit der parlamentarischen Demokratie sich so viel Mühe gegeben hätten, wie wir im Untersuchungsausschuß dies getan haben, um den von Ihnen mit angerichteten Schaden durch eine vorurteilsfreie und rückhaltlose Aufklärung zu reparieren, dann stünde es um das Ansehen dieses Parlaments besser.
Die Arbeit unseres Untersuchungsausschusses war nicht leicht, und sie ist uns auch nicht leicht gemacht worden. Vielleicht war der Start dieses Ausschusses schon ein bißchen überladen mit viel Erwartungen, auch mit zu viel parteipolitischen Spekulationen. Das hochgespannte Interesse der Öffentlichkeit, genährt auch durch spektakuläre Begleitumstände, war kaum in Übereinstimmung zu bringen mit der Mühsal der öffentlichen Ermittlungen, von denen auch Herr Kollege Kleinert gesprochen hat. Der verständliche Wunsch nach schnellen und gewissermaßen plakativen Ergebnissen war nicht zu erfüllen, und ich glaube, daß dies nicht nur an der Unzulänglichkeit der Ausschußmitglieder lag. Auch die Verfahrensbestimmungen, über deren Reform wir werden nachdenken müssen, sind hieran nicht allein schuld.
Die Schwierigkeiten, einen Komplex wie den zur Untersuchung stehenden aufzuklären, werden bei jedem Verfahren, wie zahlreiche Erfahrungen der Prozeßgeschichte beweisen, eine subtilere Arbeit erfordern und differenziertere Ergebnisse liefern, als dies in Zeitungsüberschriften faßbar ist.Das Fehlen einer eigenen Vorermittlungsbehörde, die dem Untersuchungsausschuß den Sachverhalt nach Art einer Staatsanwaltschaft hätte aufbereiten können, hat uns in großem Maße von Ermittlungen insbesondere von Journalisten abhängig gemacht. Vieles kam durch die Hilfe der Presse erst zutage, und ich meine, der Deutsche Bundestag vergibt sich nichts, wenn wir an dieser Stelle auch einmal allen danken, die bei der Aufklärung mitgeholfen haben.
Wir haben erfahren müssen, daß darin auch die Gefahr des Mißbrauchs steckte, und wir haben öfters Versuchen wehren müssen, den Ausschuß in die eine oder andere Richtung spekulativer Seifenblasen in die Irre zu führen.Schlimmer aber als diese Versuche waren die Störmanöver aus diesem Hause selbst.
Daß die SPD-Fraktion zu Beginn des Verfahrens schon — das offenbar gewünschte Ergebnis vorwegnehmend — ihrem Fraktionsgeschäftsführer Wienand das Vertrauen aussprach, war nicht nur peinlich. Diese Vertrauenserklärung hat zugleich die Chance, gemeinsam mögliche Mißstände ohne parteipolitische Rücksichtnahme aufzuklären, entscheidend verringert.
Die Solidarität der SPD-Fraktion mit Wienand ohne Kenntnis des Untersuchungsergebnisses mußte die Befürchtung nahelegen, daß diese Solidarität zu gelten 'hatte, was immer auch tatsächlich zwischen Wienand und Steiner gewesen sein mag.
Daß Herr Wehner als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuß sein politisches Schicksal bedingungslos mit dem von Herrn Wienand verband, indem er seinen Rücktritt für den Fall ankündigte, daß Wienand überführt würde, regt zu allerhand Gedanken an.
Vor allem aber verstärkte diese Aussage, Herr Wehner, den Zwang für Ihre Fraktion, sich mit Wienand zu solidarisieren. Wer Wienand belastete oder wer gegen Wienand ermittelte, der stand damit — das war wohl gewollt — gegen Wehner und gegen die ganze SPD. Diese Art von Solidarisierung
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5977
Dr. Schäublemit Wienand hat unsere Arbeit erschwert und belastet, und sie hat diesem Parlament und diesem demokratischen Rechtsstaat geschadet.
Daß die SPD-Fraktion in diesem Zusammenhang Herrn Wienand für seine umsichtige Arbeit — meine Damen und Herren, ich wiederhole: umsichtige Arbeit — gedankt hat, war nicht nur der Gipfel der Geschmacklosigkeit, sondern es klang nach einer zynischen Verhöhnung aller Versuche, mögliche Koruption in diesem Hause aufzuklären und zu bekämpfen.Die Zahl der Ablenkungsversuche während dieses Verfahrens zu beschreiben, würde den zeitlichen Rahmen dieser Debatte sprengen. Die Art indessen, wie unter der Verantwortung des Staatssekretärs Grabert versucht wurde, den Kollegen Marx mit einer Mitwisserschaft an den angeblichen Beziehungen Steiners zu Nachrichtendiensten der DDR in der Öffentlichkeit zu belasten, muß erwähnt werden — nicht nur, weil der Bundeskanzler offenbar eine bemerkenswert geschickte Hand in der Auswahl des jeweiligen Chefs seines Kanzleramtes hat.
Herr Kollege Wischnewski, Sie können sich ja vielleicht im Anschluß einmal mit der Aussage des Vizepräsidenten des BND, Plötz, auseinandersetzen, der doch wohl ausgesagt hat, daß man sogar diskutiert habe, ob man Marx nennen und Moersch nicht nennen soll, obwohl von Herrn Hauschildt angegeben worden war, daß Herr Steiner beide in gleicher Weise als Gewährsleute benannt habe. Den einen, den Kollegen Marx, hat man genannt; den anderen, den Staatssekretär Moersch, hat man nicht genannt. Der Vizepräsident Plötz war liebenswürdig genug, zuzugeben, daß man darüber noch ausdrücklich diskutiert hatte, daß man es so und nicht anders machen wollte.
Meine Damen und Herren, klarer als in diesem Falle läßt sich die Manipulation öffentlicher Unterrichtung selten nachweisen.
Diese Manipulation erfolgte in der unmittelbaren Verantwortung des Bundeskanzleramts.Die Bundesregierung muß sich auch fragen lassen, warum sie Herrn Ehmke nicht für die erwähnten 50 000 DM von der Geheimhaltungspflicht entbunden hat.
Herr Ehmke berief sich bei der Verweigerung von Angaben, wozu diese 50 000 DM aus dem Verfügungsfonds dienten, auf diese Verschwiegenheitspflicht. Die Bundesregierung hätte ihn davon entbinden können; sie hätte damit die Arbeit des Untersuchungsausschusses fördern können. Sie hat beides nicht getan.
Erschwert wurde die Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses auch durch die Tatsache, daß die Ausschußmehrheit unsere Anträge, Zeugen zu vereidigen, zunächst immer zurückstellte und am Ende pauschal ablehnte.
Wir sind der Auffassung, daß diese Haltung der Mehrheit des Untersuchungsausschusses geltendes Recht verletzt hat; denn nach der Strafprozeßordnung, auf die Art. 44 des Grundgesetzes verweist, müssen Zeugen vereidigt werden, sofern nicht gesetzliche Ausnahmegründe gegeben sind. Entscheidend aber ist in diesem Zusammenhang, daß durch die Nichtvereidigung aller Zeugen eine Möglichkeit des Verfahrensrechtes, der Wahrheit näher zu kommen, nicht ausgeschöpft wurde. Herr Kollege Kleinert, ich empfehle Ihnen, einmal die Erfahrungen des Untersuchungsausschusses in Berlin nachzulesen, die in diesen Tagen in der Presse veröffentlicht worden sind und wo man gerade feststellt, daß eben die Vereidigung der Wahrheitsfindung dienen kann. Diese Möglichkeit haben Sie nicht ausgeschöpft, und Sie haben damit der Arbeit des Ausschusses geschadet und dem Ansehen des Ausschusses und dem Ansehen dieses Parlaments keinen Dienst erwiesen.
— Ich beziehe mich auf die aktuellen Meldungen, Herr Kollege Kleinert, und ich empfehle Ihnen, die Zeitungen gelegentlich zu lesen.Meine Damen und Herren! Wir alle haben immer wieder Mühe gehabt, uns klarzumachen, daß dieser Untersuchungsausschuß, sein Gegenstand und sein Verfahren nicht in erster Linie eine Sache des parteipolitischen Streits sein kann, sondern daß es hier um unsere gemeinsame Verantwortung für diesen Staat und für dieses Parlament geht. Ich habe schon gesagt, daß es in diesem Verfahren keine Gewinner geben kann; wir alle sind miteinander die Verlierer. Ich meine, daß in diesem Hause die Einsicht in demokratische Gemeinsamkeit größer werden muß. Bei allem politischen Streit kann uns miteinander nicht unberührt lassen, daß das Ansehen dieses Parlaments gesunken ist und weiter zu sinken droht. Die diesem Untersuchungsausschuß zugrunde liegenden Vorgänge haben dazu erheblich beigetragen, und deshalb sollten wir etwa die angelsächsischen Demokratien zum Vorbild nehmen, in denen bei der Aufklärung möglicher Mißstände die parteipolitische Bindung viel stärker zurücktritt, als dies bei uns der Fall gewesen ist.Das gefährdete Ansehen dieses Parlaments nährt Befürchtungen über eine strukturelle Krise der parlamentarischen Demokratie. Der Bundeskanzler hat öffentlich darüber nachgedacht, ob dieser Staat noch regierbar sei — obwohl ich meine, daß die Schwierigkeiten des Bundeskanzlers mehr mit der Regierungsunfähigkeit seiner Regierung als mit der Regierbarkeit des Staates zu tun haben.
Aber die schwindende Autorität dieses Staates undder demokratischen Organe muß uns Sorgen berei-
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5978 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Schäubleten. Die Vorgänge, die wir in diesem Bericht darlegen, haben zu diesen Sorgen beigetragen. DasZwielicht, das bleibt, wirkt in dieser Richtung fort.Das Ansehen dieser Demokratie kann mit Repräsentanten, denen ein Bestechungsversuch nachgewiesen worden ist oder die begründeten Anlaß zum Verdacht geben, sich unlauterer Mittel bedient zu haben, nicht gestärkt werden. Dies müssen wir jenseits parteipolitischer Überlegungen miteinander erkennen. Es kann hier keine Aufrechnung geben, sondern wir müssen gemeinsam Konsequenzen ziehen aus den Feststellungen, die wir in einem rechtsstaatlichen, förmlichen Verfahren treffen mußten. Der Schaden ist groß genug. Die Betroffenen sollten daraus die Konsequenzen ziehen und ihren Hut nehmen. Auch der Bundeskanzler für den Minister seiner Regierung und die SPD-Fraktion für ihren Geschäftsführer sind aufgefordert, sich ihrer Verantwortung bewußt zu werden und falsche Solidarität aufzugeben.
Meine Damen und Herren! Dieser Untersuchungsausschuß wird — Hornberger Schießen hin oder her, Herr Kollege Kleinert! — seinen Sinn dann doch erfüllen, wenn wir das Ergebnis dieser Untersuchung als Appell an uns alle verstehen, unsere Verantwortung für dieses Parlament und für diesen Staat ernst zu nehmen.
Herr Abgeordneter Wehner, wünschen Sie das Wort?
— Bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gedenke zwar nicht, in diese Polemik zu verfallen,
aber die Behauptungen des Herrn Schäuble geben mir Anlaß zu folgenden Feststellungen, die ich hier namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion treffe.In der Drucksache 7/1803 befindet sich auf Seite 9 unter Punkt 2 Buchstabe a die Feststellung, daß der Untersuchungsausschuß folgenden Antrag der Abgeordneten Kleinert und Dr. Schäuble einstimmig angenommen hat:Es wird festgestellt, daß die Behauptung des Zeugen Steiner nicht erwiesen ist, der Zeuge Wienand habe im Zusammenhang mit der Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum den Zeugen Steiner durch Hingabe von 50 000 DM in unlauterer Weise beeinflußt.
Auf derselben Seite steht unter Nr. 3:
Er nahm einstimmig folgenden Antrag der Abgeordneten Kleinert und Dr. Schäuble an:Es wird festgestellt, daß nicht erwiesen ist, daß einer oder mehrere der vom Ausschuß vernommenen Zeugen versucht hat, den Zeugen Steiner im Zusammenhang mit seinem erörterten Fraktionsaustritt unlauter zu beeinflussen.
Ich stelle vor dem Plenum des Deutschen Bundestages diese beiden einstimmig gefaßten Beschlüsse den Unterstellungen und den Tatsachenbehauptungen des Herrn Schäuble gegenüber!
Ferner: Sie werden von mir nicht erleben, daß ich Ihnen in einem Hexenprozeß zum Opfer falle.
In dem Bericht, aus dem ich eben zitiert habe, werden beide Feststellungen als einstimmig getroffen aufgeführt. Was Sie wollen — das ist meine einzige Bemerkung —, ist, daß Sie dennoch nachträglich Hexenprozeß und Hexenjagd gegen einige weiterhin führen wollen.Dazu habe ich Ihnen folgendes zu erklären, weil Sie sich da auf meine Aussagen als Zeuge berufen haben. In dem Protokoll der 13. Sitzung des ersten Untersuchungsausschusses vom Freitag, dem 20. Juli 1973, heißt es — —
— Ich gebe hier nur wieder, was darin steht. Sie waren nicht dabei. Ich habe hier das Recht, diese Feststellung zu treffen, auch wenn Sie Marx heißen. — Laut Seite 13/10 des Protokolls habe ich gesagt:... will ich hier von vornherein sagen, daß ich davon ausgehe, daß weder ich noch jemand, der unter meiner Verantwortung als Fraktionsvorsitzender handelte oder zu handeln meinte, den Versuch gemacht hat, Abgeordnete zu kaufen oder abzuwerben. Daß heißt, das bedeutet auch, nicht einen unserer eigenen Abgeordneten an einer Abstimmung zu hindern oder ihn, auf eine bestimmte Art abzustimmen, festzulegen.Auf Seite 13/27 finden sich folgende Bemerkungen. Auf die Frage des Herrn Kleinert habe ich dort geantwortet:Auf mich kann sich niemand berufen, wenn es sich um Vollmachten zur Auszahlung von Geldbeträgen, in welcher Höhe immer, handelt. Wenn jemand dieses getan haben sollte, so wäre das ein Vertrauensbruch und müßte von mir, wenn sich das hinter meinem Rücken abgespielt haben sollte, dadurch beantwortet werden, daß ich mein Amt, d. h. meine Pflichten und Aufgaben als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion zurückgegeben hätte oder zurückgeben würde in die Hände der Fraktion.Auf Seite 13/84, also desselben Protokolls, können Sie lesen und kann jeder lesen — die Proto-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5979
Wehnerkolle liegen ja, wie wir auch hier gehört haben, aus —, daß ich auf die Frage des Abgeordneten Sieglerschmidt folgendes erklärt habe:Ich wollte, daß wir diejenigen, bei denen es erkennbare Schwierigkeiten gab,— es handelt sich um Gespräche —soweit es geht, auf anständige Weise davon überzeugen, daß sie ihre Meinung hei Abstimmungen zum Ausdruck bringen können, ohne ,die Fraktion zu verlassen — dafür gibt es konkrete Beispiele —, oder daß man, da sie meinten, sie seien zu kurz mit Aufgaben gekommen, ihnen dazu half, Aufgaben zu bekommen. Nur, mehr nicht. Ich habe vorhin gesagt: Wenn jemand unter Berufung auf mich versucht haben sollte, andere zu kaufen, mit Geld abzuwerben, dann würde ich dies als ein Hintergehen betrachten, das ich nur dadurch beantworten könnte, daß ich der Bundestagsfraktion der SPD meine Verantwortung als Vorsitzender der Fraktion zurückgäbe.Laut Seite 13/107 hatte ich ein weiteres Mal Anlaß, auf Fragen des Abgeordneten Sperling nach dem Grad meines Vertrauens zu anderen zu erklären:Blind bin ich überhaupt nicht, vor allen Dingen nicht in meinem Vertrauen. Ich habe eine Verantwortung gegenüber der ganzen Fraktion. Ich habe mich heute wiederholt dazu geäußert, wie ich mich verhalten würde, wenn mein eigenes Vertrauen getäuscht würde oder worden sein sollte. Meinungsverschiedenheiten über ein voraussichtliches Abstimmungsergebnis — wie gesagt, ich habe an keinen Kannegießereien teilgenommen. Das ist überhaupt nicht meine Art.Ich lese das hier deshalb vor, um zu Protokoll zu geben, was in diesem Protokoll des Untersuchungsausschusses steht. Ich habe das deswegen getan, um im Gegensatz zu dem Herrn Schäuble festzustellen: Das einzig Feststehende an der Sache mit den 50 000 DM ist, daß ein damaliger Abgeordneter namens Steiner am 28. April 1972 diesen Betrag auf ein Bankkonto einzahlte und ihm offenbar sehr viel daran gelegen war, daß das sofort allgemein bekannt wurde. Das ist die einzige Tatsache!
Ich sage das deshalb, weil hier gesagt wurde, man hätte mit Stangen im Nebel herumgefuchtelt. — Nein, das ist der eingeschlagene Pflock, und um diesen herum ist der Trampelpfad Ihrer Verdächtigungen, Ihrer Behauptungen, Ihrer Unterstellungen, Ihrer Verleumdungen und Schlimmerem entstanden.
Ich habe zum Schluß nur zu erklären: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion verwahrt sich mit Empörung
gegen jene Schlußfolgerung des Herrn Schäuble, es sollten zwei ihrer Mitglieder den Hut nehmen.
Ihr Verhalten wird eines Tages auch von anderen als das erkannt werden, was es bedeutet, und was es von Ihnen selbst und Ihren Absichten aussagt. Wir stellen uns hinter beide. Ich sage Ihnen ausdrücklich: Sie werden uns nicht auseinanderhetzen oder -schießen!
Meine Damen und Herren, zuerst möchte ich Sie bitten, diese so schwierigen Beratungen durch Ruhe zu begleiten.
Sodann möchte ich annehmen, Herr Abgeordneter Wehner, daß Sie mit dem Wort „Verleumdungen" keine Mitglieder dieses Hauses gemeint haben.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Sieglerschmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Schäuble hat sich die Toga desjenigen umgeworfen, der für das Ansehen des Parlaments kämpft und auf der Suche nach der Wahrheit ist. Aber was hat er in Wirklichkeit die ganze Zeit getan? — Er hat eine parteipolitische Rede gehalten, um die Bundesregierung und die Koalition zu attackieren,
wo er konnte, mit allen Mitteln, mit guten und auch mit sehr schlechten Mitteln, mit vertretbaren und auch nicht vertretbaren Mitteln.
— Ich sagte: mit vertretbaren, aber auch — ich will es Ihnen ganz genau sagen, verehrter Herr Kollege — mit wahrheitswidrigen Mitteln. Ich werde nachher darauf zu sprechen kommen.
— Ja, ich komme darauf zu sprechen, warten Sie mal ruhig ab.Der Untersuchungsausschuß, der Ihnen heute seinen Bericht vorlegt, wurde zur Aufklärung von Vorgängen eingesetzt, deren Ausgangspunkt nicht in den Tagen um den 27. April 1972, den Tag des konstruktiven Mißtrauensvotums, liegt, sondern sehr viel früher. Gewiß: Weder das Grundgesetz noch ein einfaches Gesetz noch die Geschäftsordnung dieses Hauses verbieten es der Opposition, knappe Mehr-
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5980 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Sieglerschmidtheitsverhältnisse im Bundestag dadurch umzukehren, daß sie Abgeordnete aus dem Regierungslager zu sich herüberzieht.Dabei soll hier völlig unerörtert bleiben, auf welche Weise diese Übertritte zustandegekommen sind. Aber auch wenn man unterstellte, daß hier alles mit rechten Dingen zugegangen ist, widersprechen Übertritte dieser Art — mindestens dann, wenn sie die Mehrheitsverhältnisse verändern können oder gar sollen — dem Geist der repräsentativen parlamentarischen Demokratie. Es entstand damals eine Atmosphäre der Gerüchte und Verdächtigungen, die der Zweideutigkeit Vorschub leistete.Es sei mir gestattet, schon an dieser Stelle eine Bemerkung zu einem der vom Ausschuß untersuchten Vorgänge einzuschieben. Was sich in Schelklingen abgespielt hat, kann nur richtig gewürdigt werden, wenn man sich diese damalige Atmosphäre der Zweideutigkeit vergegenwärtigt.
— Sie werden gleich nicht mehr lachen! — Viele von uns, und ich gehöre auch dazu, können sich sicherlich erinnern, daß in jenen Monaten Gespräche mit Ihnen geführt wurden, die zu Mißdeutungen Anlaß geben konnten, bei denen man nicht genau ausmachen konnte oder sollte, wo Scherz oder Provokation endeten und wo das Angebot zum Übertritt unter den oder jenen Bedingungen begann. Dies, meine Damen und Herren — und darum geht es —, war die Atmosphäre damals: daß jeder mit jedem sprach und daß es sehr schwer auszumachen war — und darum geht es auch uns hier in unserer Beweiswürdigung —, wo die Grenzen zu ziehen sind. Sie schließen hier einfach Dinge aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, die sich daraus nicht schließen lassen.Aber nicht um deutlich zu machen, unter welchen Umständen der Besuch in Schelklingen stattfand, habe ich die Übertritte der Jahre 1970 bis 1972 ins Gedächtnis gerufen. Diese Vorgeschichte mußte erwähnt werden, weil ohne sie die Stimmabgabe des Herrn Steiner überhaupt nicht jene Bedeutung hätte erlangen können, die sie fragwürdig — im Sinne des Wortes — und damit zum Untersuchungsgegenstand dieses Ausschusses werden ließ.Dabei müssen wir uns bewußt sein, daß wir nicht einmal ein gesichertes Wissen darüber haben können, ob Herr Steiner, der als Zeuge im Untersuchungsausschuß so oft die Unwahrheit gesagt hat, tatsächlich so abgestimmt hat, wie er behauptet. Denn die Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum ist ja bekanntlich nach unserer Geschäftsordnung geheim.Es wäre sicherlich sehr reizvoll, an diesem Punkt Erwägungen darüber anzustellen, welche Anhaltspunkte im Anschluß an die ermittelten Tatsachen für eine Stimmabgabe Steiners zugunsten eines Kandidaten der Opposition sprechen könnten. Wir haben jedoch im Gegensatz zum Vorgehen der Minderheit bewußt darauf verzichtet, Spekulationen anzustellen, die vom Ergebnis der Beweisaufnahmenicht gedeckt sind — obwohl es da manche interessante Überlegungen gibt.Hier muß nochmals nachdrücklich betont werden, daß alle Beweisbeschlüsse im Ausschuß einvernehmlich gefaßt worden sind. Die Regeln, die für die Beweiserhebung nach dem Einsetzungsbeschluß des Bundestages galten, gaben der Minderheit die Möglichkeit, jeden Zeugen laden zu lassen, dessen Vernehmung sie zur Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich hielt, sowie alle in Frage kommenden Unterlagen heranzuziehen. Es muß aber hinzugefügt werden, daß die Ausschußmehrheit auch niemals den Versuch gemacht hat, die Minderheit in der Ausübung dieses Rechts zu behindern. In dem Bestreben, den Sachverhalt so umfassend wie möglich aufzuklären, waren sich die Ausschußmitglieder einig; das möchte ich hier auch ausdrücklich feststellen.Man sollte nun aber nicht durch Bemerkungen, wie wir sie eben hier wieder gehört haben und wie wir sie schon in den Wochen davor gehört haben, über das Verhalten des einen oder anderen Zeugen diese Feststellung abzuwerten und einseitig nach der einen Seite zu interpretieren versuchen.
Inwieweit uns Zeugen oder andere Beteiligte bei der Wahrheitsfindung geholfen haben oder nicht, dazu läßt sich durchaus auch hinsichtlich anderer als der von seiten der Ausschußminderheit Kritisierten so manches sagen. Das gilt z. B. für Herrn Heimo George, den Geschäftsführer des Wirtschaftsrates der CDU, der erst vom Ausschußvorsitzenden eine Rechtsbelehrung erhalten mußte, ehe er uns die Auskünfte gegeben hat, die wir benötigten. Und das gilt auch für den Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, ja gut bekannten Zeugen Fraschka, der auch erst seine Aussage zurückgehalten hat und dazu angehalten werden mußte auszusagen. Die haben uns auch nicht die Arbeit erleichtert.In diesem Zusammenhang muß auch über den von der Ausschußminderheit erhobenen Vorwurf gesprochen werden, die Ausschußmehrheit habe durch die Ablehnung der Vereidigung von Zeugen die Aufklärung erschwert. Wenn das mehr wäre als eine unbegründete Unterstellung zum Zwecke der Verdächtigung der Ausschußmehrheit, dann müßte dieser Vorwurf auch — der Zwischenruf ist hier schon gefallen — gegen den von der CDU/CSU gestellten seinerzeitigen Vorsitzenden des FibagAusschusses, Herrn Rechtsanwalt Hoogen, erhoben werden, der Vereidigungen in dem damaligen Untersuchungsverfahren aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt hat,
sowie gegen alle Mitglieder dieses Ausschusses, die keine Anträge auf Vereidigung von Zeugen gestellt haben. Meine Damen und Herren, Sie wissen ja, worum es damals ging. Und wenn hier so von dem Ansehen des Parlaments die Rede ist und davon, daß auch derjenige, der in einen Verdacht gerät, den Hut nehmen müßte, dann möchte ich fragen, warum denn
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5981
Sieglerschmidtdamals bestimmte Leute nicht cien Hut genommen haben, z. B. Herr Strauß.
— Sie suchen sich ja auch Ihren Buhmann und versuchen, sich auf ihn einzuschießen. Wir sind ja gar nicht so; wir sind ja mit Herrn Strauß inzwischen in einem ganz friedlichen Verhältnis.Außerdem stellt sich doch die Frage, inwieweit die Vereidigung von Zeugen im Verfahren des Untersuchungsausschusses bisher tatsächlich der Wahrheitsfindung gedient hat. Ich würde vorsichtig sein, Herr Kollege Schäuble: Das Berliner Verfahren ist ja noch nicht zu Ende, und ob da nun die Vereidigung ein wichtiges Mittel war, das wird sich erst noch herausstellen.Aber ich habe einen anderen Ausschuß hier im Auge, der ein Bundestags-Untersuchungsausschuß war und dessen Tätigkeit kurze Zeit zurückliegt. Ich meine den HS-30-Ausschuß. Da ist ja eine Zeugin vereidigt worden. Nun kann doch jeder, der diesen Fall ein wenig kennt, weiß Gott nicht sagen, daß die Vereidigung dieser Zeugin etwa mehr Licht in diese dubiose Angelegenheit gebracht hat.Dagegen wiegen die von unserer Seite gegen die Vereidigung in Verfahren vor den Untersuchungsausschüssen vorgebrachten Bedenken sehr schwer. Deshalb ist es auch kein Zufall, daß in 17 Untersuchungsausschüssen, von der Konstituierung des 1. Deutschen Bundestages bis zum Abschluß der 6. Wahlperiode, von 137 vernommenen Zeugen nur 4 vereidigt worden sind. Sie sollten danach, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihren Ärger darüber, daß die Beweiserhebung durch den Ausschuß nicht das von Ihnen gewünschte Ergebnis gebracht hat, wirklich nicht dadurch abreagieren, daß Sie den Ausschußmitgliedern aus den Koalitionsfraktionen auf diese Weise nun die Schuld daran in die Schuhe zu schieben gedenken.Sicherlich, für niemanden ist das Ermittlungsergebnis des Ausschusses befriedigend, weil uns eine volle Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich war. Aber wenn man sich öffentliche Erklärungen von Kollegen der Opposition bis in die letzten Wochen hinein — und die entsprechenden Kommentare dazu in der Ihnen nahestehenden Presse vergegenwärtigt, dann verstehe ich, daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihre Enttäuschung über das Ergebnis dieses Ausschusses nun mit Polemik zu überspielen versuchen. Sie sind ausgezogen, um die Regierungskoalition in dieser Sache das Fürchten zu lehren, und am Ende steht die Tatsache, daß von sieben abschließenden Feststellungen des Untersuchungsausschusses fünf einstimmig getroffen wurden.
Ich sage ganz freimütig: Es ist erfreulich, Herr Kollege Vogel, daß die Ausschußkollegen von der CDU/CSU als gestandene Juristen hinsichtlich dieser fünfFeststellungen nach ihrer besseren Einsicht gehandelt haben,
weil eine andere Auffassung nicht haltbar war. Aber leider haben Sie dann diese Linie nicht eingehalten und haben sich auf den Weg der Spekulation und der Verdächtigung begeben.
Von den vier abgelehnten Anträgen der Minderheit bezogen sich zwei auf mehrheitlich im Ausschuß getroffene Feststellungen, und die zwei weiteren Anträge sind eben jene Verdachtsanträge. Ich erkläre hier mit allem Nachdruck, daß wir nach wie vor dieses Vorgehen für unzulässig halten, und ich werde dies nachfolgend begründen.Untersuchungsausschüsse erstatten ihre Berichte an das Plenum des Bundestages, damit dieser Folgerungen aus den getroffenen Feststellungen ziehen kann. Aber der Bundestag kann und darf aus einem Verdacht aus rechtsstaatlichen Gründen keine Folgerungen ziehen. Ich komme nachher noch auf Ihr weiteres Argument, Herr Schäuble. Aber zunächst einmal besteht die Parallele zum Strafprozeß in unserer Rechtsordnung als eines Elementes, an dem sich wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze erweisen. In jedem Strafprozeß ist es so, daß natürlich der Verdacht am Anfang steht. Aber am Schluß stehen Feststellungen, die entweder auf Freispruch oder auf Verurteilung lauten. Es ist auch kein Zufall, daß wir in der Öffentlichkeit eine ausführliche Diskussion über die Frage gehabt haben, ob es diesen Freispruch mangels Beweises, diesen Freispruch 2. Klasse weiter geben soll. Heute haben wir ihn nicht mehr. Es gibt nur den e in e n Freispruch. Die gerichtliche Praxis lehrt nämlich, daß in zahlreichen Fällen die Unschuld des Angeklagten eben mangels an Beweisen nicht nachzuweisen ist, ohne daß ihm diese Tatsache zur Last gelegt werden kann. Durch die Neuregelung wird verhindert, daß z. B. wenn, wie es häufig geschieht, der wirkliche Täter nicht gefunden werden kann, an dem Angeklagten dennoch etwas hängenbleibt, weil er „nur" mangels Beweises freigesprochen worden sei.Damit wird einem fundamentalen Rechtsgrundsatz uneingeschränkt Rechnung getragen, dem der Staat durch seine Gerichte, aber auch durch seine anderen Organe Geltung zu verschaffen hat, jenem Grundsatz nämlich, daß derjenige, der nicht schuldig gesprochen worden ist, als unschuldig anzusehen ist. Mit ihren Verdachtsfeststellungen verletzt die Minderheit jenen fundamentalen Rechtsgrundsatz.In einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" vom 18. März 1974 heißt es dazu:Der 160 Seiten lange Bericht des Ausschusses wird in Kürze vom Parlament debattiert werden. Einen politisch erklärlichen, rechtlich aber zweifelhaften Ton hat der Rechtsexperte der CDU/CSU, Friedrich Vogel, schon in diese Debatte eingeführt, als er formulierte: „Für die5982 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch. den 27. März 1974SieglerschmidtFührung des vollen Beweises fehlt es nur noch an dem letzten Glied in der Kette." Würde die CDU/CSU ihre subjektive Überzeugung allein sprechen lassen, dann gäbe es für sie keinen Zweifel mehr. Was aber heißt das?So fährt der Kommentator fort.Ist es nicht immer so, daß es in einem vorwiegend auf Indizien aufgebauten Beweisverfahren in der Regel an diesem letzten Glied in der Beweiskette fehlt, wenn dem Beschuldigten eine Tat nicht nachzuweisen ist? Er ist darum— so schließt dieser Kommentarnicht schuldiger als der andere, dessen Unschuld eindeutiger, nachweisbarer ermittelt wird.Dieser Grundsatz gilt im Generellen genauso, wie er in dieser Frage gilt. Der Kommentator hat sich gerade an diese Frage mit seinem Kommentar angehängt.Nun wird hier eingewandt, bei einem Politiker — Herr Schäuble hat davon gesprochen seien in einem solchen Falle andere Maßstäbe anzulegen als bei dem einer Straftat Verdächtigen. Dafür spricht unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich sicherlich vieles. Diese Voraussetzungen sind aber im vorliegenden Falle nicht gegeben, sondern eine entscheidende Bedeutung kommt hier doch wohl der Glaubwürdigkeit des Urhebers der Vorwürfe zu. Der Zeuge Steiner hat seine Unglaubwürdigkeit im Ausschuß so überzeugend demonstriert, daß auch in der Minderheitsmeinung auf verschiedene Unwahrheiten und Widersprüche in den Aussagen dieses Zeugen hingewiesen wird. Über den von ihm behaupteten, vom Zeugen Wienand jedoch mit Nachdruck in Abrede gestellten entscheidenden Vorgang des Angebots und der Zahlung von 50 000 DM können nur diese beiden Zeugen aus eigenem Wissen etwas sagen.Es kann doch wohl nicht angehen, daß ein Vorwurf, der von einem klassisch unzuverlässigen Zeugen stammt und dessen Richtigkeit sich in einem gründlichen Untersuchungsverfahren nach einstimmiger Auffassung des Ausschusses nicht hat beweisen lassen, dazu berechtigt, den betroffenen Politiker in der Quarantäne des Verdachts festzuhalten.
Durch ein solches Vorgehen würde dem politischen Rufmord, wie er hier schon versucht worden ist, für die Zukunft Tür und Tor geöffnet.
— Ich sagte ja, Herr Kollege Schäfer, es ist hier schon versucht worden. — Das hat die Ausschuß-. mehrheit verhindern wollen, als sie diese Verdachtsanträge wegen Unzulässigkeit ablehnte.Das Bestreben der Ausschußminderheit, ein politisch von ihr gewünschtes Ergebnis zu erzielen, hat aber leider auch in weiten Teilen, ob bewußt oder unbewußt — nach der heutigen Rede muß ich eigentlich annehmen, mehr bewußt als unbewußt —, dievon ihr vorgenommene Beweiswürdigung beeinflußt.
Aus den Aussagen der Zeugen werden vielfach Schlüsse gezogen, die vom tatsächlich Gesagten nicht gedeckt und auch widersprüchlich sind. An einigen Stellen hat man fast den Eindruck, die Möglichkeit werde überhaupt nicht in Betracht gezogen, daß ein Abgeordneter einen anderen Abgeordneten für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten oder für einen Fraktionswechsel gewinnen will, ohne dafür wirtschaftliche Vorteile anzubieten. Das war ja heute auch sehr interessant. Offenbar geht es einigen Herren bei Ihnen gar nicht in den Kopf, daß man Gespräche über die Ostverträge führen und jemanden für eine Abstimmung zu gewinnen versuchen kann, ohne daß man ihm etwas anbietet. Ich weiß nicht, wie die Usancen auf allen Seiten des Hauses sind. Aber dies ist bei uns nicht so.
— Entsprechendes gilt für die Minderheit offenbar auch, wenn sich ein Fraktionsgeschäftsführer um eine Stellung für einen ausgeschiedenen Fraktionskollegen auf dessen Wunsch bemüht, wobei dieses Mißtrauen bemerkenswerterweise offenbar nur für eine Seite des Hauses besteht. Bei vergleichbaren Vorgängen auf der anderen Seite wird als selbstverständlich unterstellt, daß nur ideelle Motive eine Rolle gespielt haben.Das, was ich eben gerade ausgeführt habe, gilt ja im besonderen Maße auch für den Schelklinger Komplex, der heute noch einmal hervorgehoben worden ist. Lassen Sie mich nur hinzufügen: Die besondere Betonung der Aussagen der beiden Zeugen Baeuchle, die sie ja erst gemacht haben, nachdem sie von „Bild" entsprechend präpariert waren, kann mich in diesem Zusammenhang nicht überzeugen.
Lassen Sie mich nun diese soeben getroffenen Feststellungen mit einigen Beispielen belegen. Der Zeuge Baeuchle war — das hat die Beweisaufnahme eindeutig ergeben — bestrebt, alles zu tun, um seine Aufstellung für den 7. Deutschen Bundestag zu erreichen. Er hat, wo immer er eine erfolgversprechende Gelegenheit dafür sah, auf seine Verdienste in dem von ihm betreuten Wahlkreis hingewiesen.
— Sicher hat er das getan; das ist das Ergebnis der Beweisaufnahme.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5983
Sieglerschmidt— Natürlich, das ist sein gutes Recht. — Als es ihm gelungen war, ein Gespräch zwischen den Zeugen Steiner und Wienand in seinem Hause zu arrangieren, hat er natürlich auch diese Tatsache für eine Bewerbung um ein Mandat ins Feld geführt.Daß auf Grund eines solch nachhaltigen Drängens gelegentlich Gefälligkeitsatteste ausgestellt werden, die den Wünschen des Betreffenden mehr entgegenkommen, als das eigentlich nach Lage der Dinge gerechtfertigt ist, wissen wir doch alle. Die Folgerungen, die von der Ausschußminderheit mehrfach aus der Erwähnung der Verdienste Baeuchles durch ihn oder andere gezogen werden, sind deshalb durch das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht gedeckt.Ein weiteres Beispiel: Im Bericht der Minderheit wird von einem nachgewiesenen wahrheitswidrigen Versuch Wienands gesprochen, Briefe und Telefongespräche mit dem Zeugen Bühringer dadurch zu verharmlosen, daß der Zeuge Bühringer schon vorher informiert gewesen sei. Ich habe mir daraufhin die Aussagen der beiden Zeugen nochmals durchgelesen und nichts darin entdecken können, was zu einer solchen Feststellung berechtigt. Dagegen habe ich bei dieser Gelegenheit festgestellt, daß der Zeuge Wienand in Gegenwart des Zeugen Bühringer ausführlich dargelegt hat, was er mit den besonderen Schwierigkeiten, die der Zeuge Baeuchle habe überwinden helfen, gemeint habe. Der Zeuge Bühringer hat dann die Frage des Kollegen Klein, ob er das auch so verstanden habe, ausdrücklich bejaht. Wie danach von einem wahrheitswidrigen Versuch des Zeugen Wienand gesprochen werden kann, bleibt1 das Geheimnis der Ausschußminderheit.Im Bericht der Minderheit wird es als auffällig bezeichnet — ich glaube, der Kollege Schäuble hat das heute wiederholt —, daß der Zeuge Wienand zwar nach Schelklingen reiste, um mit dem Zeugen Steiner über die Ostverträge zu sprechen, aber nicht mit ihm gesprochen haben wollte, als die Ostverträge dann tatsächlich zur Abstimmung anstanden. Hier wird etwas als „auffällig" bezeichnet, was sich logisch aus den wiederholten Aussagen des Zeugen Wienand ergibt, er habe in Schelklingen den festen Eindruck gewonnen, daß sich der Zeuge Steiner in namentlicher Abstimmung nicht offen zu seinen Auffassungen bekennen werde. Welchen Sinn sollte denn danach der nochmalige Versuch haben, den Zeugen Steiner für ein positives Votum zu den Ostverträgen zu gewinnen? Auch hier ist offenbar die Ausschußminderheit — das hat sich ja heute mehrfach gezeigt —, wie manche Kriminalisten der Gefahr erlegen, sich auf eine Theorie für einen Geschehensablauf zu versteifen und die ermittelten Tatsachen nach dem Motto „Was nicht paßt, wird passend gemacht" in diesen Rahmen einzufügen.Ein Beispiel unkorrekter Beweiswürdigung durch die Ausschußminderheit ist auch jener Satz, mit dem das Verhalten des Zeugen Moersch kritisiert werden soll. Diesen Satz muß man nun wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Er lautet:Die Erklärung des Zeugen Moersch für seinezunächst nicht vollständigen Angaben ist zwarhaltbar, entspricht aber nicht dem Verhalteneines zur vollständigen Aussage bereiten Zeugen.Was war geschehen? Der Zeuge Moersch war ziemlich zu Beginn der Ausschußarbeit zu einer ganz bestimmten Frage gehört worden. Er hatte bei dieser Gelegenheit korrekterweise bekundet, daß er den Zeugen Steiner auch über das in seiner Aussage Geschilderte hinaus noch mehrmals getroffen habe. Kein Ausschußmitglied hat ihn damals nach diesen weiteren Begegnungen gefragt, vermutlich, weil es bei dieser ersten Vernehmung darauf nicht ankam. Wenn also im Nachhinein in diesem Zusammenhang von der Minderheit Kritik geübt wird, dann doch wohl eher Selbstkritik!Nach diesen Einzelbeispielen für die unzulängliche Beweiswürdigung im Berichtsteil der Minderheit möchte ich mich nun mit dem höchst angreifbaren Kern ihrer Beweisführung befassen. Der Zeuge Steiner hat in seinen Aussagen zum Zeitpunkt der angeblichen Geldübergabe an ihn geschwankt. Seine wechselnden Aussagen, die er auf zahlreiche Fragen im Verlauf seiner verschiedenen Vernehmungen machte, bezogen sich hinsichtlich der Geldübergabe aber alle auf einen Zeitraum etwa zwischen 14.00 Uhr und 16.30 Uhr.Es ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als erwiesen anzusehen, daß die behauptete Geldübergabe der Berichterstatter, Herr Kollege Kleinert, hat heute schon darauf hingewiesen — zu dieser Zeit an diesem Ort nicht stattgefunden hat. Zu dieser Feststellung gelangt auch die Ausschußminderheit. Um nun aber den Verdacht gegen den Zeugen Wienand aufrechterhalten zu können, greift die Minderheit zu bedenklichen Mitteln, indem sie nämlich gleich zwei Versionen des Geschehensablaufes gleichzeitig anbietet. Die eine lautet: Es könnte doch am 27. April am späten Nachmittag gewesen sein. Die andere lautet: Es könnte aber auch schon am Vortage gewesen sein.Die zweite Theorie der Minderheit besagt, daß der Zeuge Steiner die 50 000 DM auch als Anzahlung vor der Abstimmung erhalten haben könnte. Hier gerät die Beweisführung der Ausschußminderheit nun endgültig in den Bereich der Spekulation; denn dafür gibt es in dem Ergebnis der Beweisaufnahme überhaupt keine Anhaltspunkte. Mit der gleichen Berechtigung hätte die Ausschußmehrheit in ihrem Berichtsteil nun auch anfangen können, interessante Theorien über die Herkunft der 50 000 DM zum besten zu geben. Ich sagte vorhin schon: da gibt es einige.
— Wir haben es nicht gemacht, weil wir uns im Ausschußbericht wir sprechen vom Ausschußbericht, Herr Kollege Vogel, und nicht von dieser Debatte hier im Bundestag — —
— Wir sprechen vom Ausschußbericht und nicht von den Aussagen der Zeugen.
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5984 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
SieglerschmidtWir haben es selbstverständlich in dem Berichtsteil, den die Mehrheit gestaltet hat, nicht getan, weil wir uns eben streng an das gehalten haben, was das Ergebnis der Beweisaufnahme hergibt. Ich halte es deshalb auch für überflüssig, im einzelnen auf die Stichhaltigkeit dieser Spekulation einzugehen.Nur eine Bemerkung möchte ich hierzu nun machen. Wenn diese Spekulation, diese Theorie, richtig wäre, dann müßte die Minderheit ihren Verdacht gegen den Zeugen Ehmke, den sie heute mit so bewegten Worten noch einmal gepflegt hat, schleunigst zurücknehmen und die dazu gehörenden Ausführungen aus ihrem Berichtsteil streichen; denn die Geldübergabe müßte dann unter Zugrundelegung der Aussagen der Zeugen Baeuchle und Steiner — und mindestens der Zeuge Baeuchle ist doch nach der Meinung der Minderheit im Ausschuß ein ehrenwerter Mann —
spätestens am 26. April, etwa zwischen 14.40 Uhr und 15.10 Uhr, stattgefunden haben. Nach Auskunft des Bundesministers der Finanzen wurde aber der Barscheck über 50 000 DM am 26. April nach 13.00 Uhr an einen Beamten des Bundeskanzleramtes übergeben. Bei der Deutschen Bundesbank wurde die Einlösung des Barschecks unter dem 27. April mit dem handschriftlichen Vermerk „spät vom 26. April 1972" verbucht. Wenn man dieser Theorie folgt, ist es so gut wie ausgeschlossen, daß der Barbetrag so frühzeitig in die Hände des Zeugen Ehmke gelangt sein kann, daß dieser überhaupt in der Lage gewesen wäre, den Betrag vor 14.40 Uhr dem Zeugen Wienand zuzuleiten.Ergebnis: Die Ausschußminderheit unterstellt gleichzeitig zwei Geschehensabläufe als möglich oder gar wahrscheinlich, die miteinander nicht vereinbar sind.Aber es hätte dieses Details nicht bedurft, um die Unseriosität der Beweisführung der Minderheit gerade im Falle Ehmke erkennen zu können. Ausgangspunkt war die durch die Presse bekanntgewordene Tatsache, daß der Zeuge Ehmke in jener letzten Aprilwoche des Jahres 1972 50 000 DM für den Geheimfonds des Kanzleramts, den er als Kanzleramtsminister verwaltete, angefordert hatte. Der sogleich geäußerte Verdacht — denn das kam ja zuerst —, der Zeuge Steiner habe womöglich 50 000 DM auf Kosten des Steuerzahlers erhalten, wird von der Ausschußminderheit in ihrem Berichtsteil nach den eindeutigen Bekundungen, die der Präsident des Bundesrechnungshofs in seiner Aussage gemacht hat, nun nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr soll nun als nachgeschobene Verdachtstheorie der Panzerschrank des Zeugen Ehmke gewissermaßen als Zwischenfinanzierungsinstitut für die Geldübergabe an den Zeugen Steiner gedient haben. Dies sei, so heißt es in dem Berichtsteil der Minderheit, nach den bisherigen Feststellungen zu dem behaupteten Geschehensablauf „objektiv möglich". Nun, objektiv möglich ist manches, aber es gehört doch schon ein großes Maß — ich drücke mich ja vornehm aus — an politischer Zielstrebigkeit dazu, einen solchenVerdacht aus zusammengesuchten Indizien zu konstruieren.Nun kommen Sie mir bitte nicht mit dem „auffälligen" — das Wort „auffällig" kommt ja auffällig oft bei Ihnen vor — „zeitlichen Zusammentreffen". Die magische Zahl 50 000 ist uns bei der Beweiserhebung auf Schritt und Tritt begegnet. Da gibt es dann auch andere mögliche Spekulationen. Hat nicht der Zeuge Steiner z. B. im Zuge seiner undurchsichtigen Finanzmanipulation am 24. April 1972 eine selbstschuldnerische Bürgschaft von 50 000 DM übernommen?
Könnte die Abdeckung dieser Bürgschaft nicht von Kreisen vorgenommen worden sein, die um das Renommee des Abgeordneten Steiner im Lande Baden-Württemberg besorgt waren?
Ich sage das ja nur, meine Damen und Herren, um, weil Sie hier so hübsche Spekulationen gebracht haben, zu zeigen, wie man da auch nach der anderen Seite spekulieren kann, wenn man das will.
Wie windig — „schwaches Eis", Herr Kollege Reddemann die Argumentation der Ausschußminderheit gerade in diesem Falle ist, zeigt auch die Begründung für die Behauptung, der Zeuge Ehmke habe vor dem Untersuchungsausschuß eine unrichtige Angabe gemacht, weil er den Eindruck erweckt habe, er habe die Auszahlungsanordnung für den Betrag von 50 000 DM schon am 25. April unterschrieben. Diese Feststellung im Berichtsteil der Minderheit ist nicht nur falsch, sie ist — ich muß das in diesem Fall leider in aller Deutlichkeit sagen — bewußt falsch. Daß die Ausdrücke „Weisung geben" und „anfordern" nach ihrem Sinngehalt dahin zu verstehen seien, daß der Zeuge auf die Auszahlungsanordnung im technischen Sinne abstellen wollte, wie es im Berichtsteil der Minderheit heißt, ist eine — ich wiederhole es — bewußt falsche Auslegung, weil sie durch die Aussage des Zeugen nicht gedeckt ist. Sie soll nur dazu dienen, dem Bundesminister Ehmke etwas am Zeug zu flicken.
— Warum, warum? Das hat doch der Kollege Schäuble in seiner Rede deutlich genug gemacht.
Der unvoreingenommene Leser der Ausschußprotokolle — vielleicht ein Doktorand, der über das Recht der Untersuchungsausschüsse promovieren will — wird sich in späteren Jahren einmal fragen — Herr Reddemann, Sie kommen gleich dran —,
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Sieglerschmidtwarum dieser Vorgang, der selbstverständlich untersucht werden mußte,
nachdem er in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt hatte, von der Ausschußminderheit in dieser unverantwortlichen Weise ausgeschlachtet worden ist. Er wird dem Kollegen Reddemann dafür dankbar sein, daß er ihm die Beantwortung dieser Frage erleichtert hat. Der Kollege Reddemann hat nämlich freundlicherweise im „Rheinischen Merkur" vom 15. März 1974 die Katze aus dem Sack gelassen.
Ich zitiere:Es ging zuletzt fast schon nicht mehr um Karl Wienand als vielmehr um Horst Ehmke.Und man darf wohl hinzufügen: ihm und seiner Partei ging und geht es um Horst Ehmke. Wir erfahren am Schluß des Artikels dann auch gleich, warum es der CDU/CSU um Ehmke geht. Dort heißt es nämlich:Bei einer lückenlosen Überführung Karl Wienands hätte noch längst nicht der Kanzler im Zwielicht stehen müssen. Bei einer Überführung des Bundesministers Horst Ehmke hätte Bundeskanzler Brandt aber mit im Rampenlicht gestanden.
Also wirklich, Herr Kollege Reddemann, nochmals vielen Dank, daß Sie uns und der deutschen Öffentlichkeit mit so erfrischender Deutlichkeit gesagt haben, worum es Ihnen und Ihrer Partei bei diesem Ausschuß ging und geht:
nicht um die Wahrheit
und um nicht als die Wahrheit, nicht um das Ansehen des Parlaments, sondern darum, den Bundeskanzler und die Regierungskoalition zu treffen; doch das ist Ihnen nicht gelungen.
Wer diesen Bericht unvoreingenommen liest und den Bericht des Ausschusses mit der Minderheitsmeinung vergleicht, der merkt die Absicht bei letzterer und ist verstimmt. Ihr Geschoß, mit dem Sie andere treffen wollten, kann damit leicht für Sie selbst zum Bumerang werden.
Nach allem bleibt mir nur noch der Wunsch: Möge es diesem Hause in möglichst kurzer Frist gelingen, ein Untersuchungsausschußrecht zu schaffen, welches die Klärung von persönlichen Vorwürfen gegen Abgeordnete so regelt, daß künftige Untersuchungsausschüsse in der Lage sind, zu Ergebnissen zu kommen, die alle Beteiligten, daß heißt die Bürger unseres Landes, die Mitglieder des Parlaments, aber nicht zuletzt auch die in solche Ausschüsse entsandten Abgeordneten mehr befriedigen, als es bei allen bisherigen Untersuchungsausschüssen dieser Art der Fall war.
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir ist in dem Minderheitenbericht der CDU/CSU der Vorwurf gemacht worden, vor dem Ausschuß nicht die Wahrheit gesagt zu haben,
je es bestehe sogar der Verdacht, heißt es dort, ich hätte bewußt die Unwahrheit gesagt.Ich darf zunächst feststellen, daß es das zweite Mal in kurzer Zeit ist, daß von seiten der Opposition einem Mitglied der Bundesregierung dieser Vorwurf gemacht wird. Ich kann nur sagen, wenn diese Methoden bei der Opposition Usus werden sollten, dann wird aus Bonn Weimar, denn mit diesen Methoden schützen Sie nicht die Integrität der demokratischen Institutionen, sondern Sie untergraben sie.
Ich habe auch den Eindruck, daß den Sprechern der CDU/CSU inzwischen das Hauptproblem, der Gegenstand des Untersuchungsausschusses, etwas aus dem Blick geraten ist, denn es war doch so, meine Herren: Ein Jahr nach dem gescheiterten Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt, ein halbes Jahr nach der von Bundeskanzler Brandt gewonnenen Bundestagswahl und — ich halte das für wichtig — vier Wochen nach dem Rücktritt von Herrn Kollegen Barzel vom Fraktionsvorsitz der Opposition
— dies ist keine Legende, sondern eine Tatsache, Herr Reddemann; ich weiß, daß Sie es schwer haben, solche zur Kenntnis zu nehmen erschien der CDU-Abgeordnete Steiner in Bonn, um sich erstens zu beschuldigen, er sei Doppelagent der DDR gewesen, und dann wenig darauf anzugeben, er sei beim Mißtrauensvotum von SPD-Seite bestochen worden, gegen das Mißtrauensvotum, gegen den Antrag zu stimmen — nachdem er eine Woche vorher noch das Gegenteil behauptet hatte.Darum stand eins schon fest, bevor der Untersuchungsausschuß anfing: Ein Mann, den Sie zum Abgeordneten gemacht haben, ein Mann, der, wie der Untersuchungsausschuß gezeigt hat, im Landes-5986 Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974Bundesminister Dr. Ehmkeverband der CDU von Herrn Filbinger eine bedeutende Rolle in der Parteifinanzierung gespielt hat, beschuldigte sich selbst, durch und durch korrupt zu sein, und der Untersuchungsausschuß hat ergeben, daß er nicht nur korrupt, sondern auch völlig verlogen ist. Das steht zunächst einmal als Ergebnis des Untersuchungsausschusses fest.
Ich darf darauf verweisen, was ich in der „FAZ" und an anderen Stellen als Analyse von Herrn Schäuble über die Glaubwürdigkeit Ihres früheren Fraktionskollegen Steiner gelesen habe. Das reicht völlig aus, meine Meinung hier zu untermauern.
Ich verstehe natürlich, daß mangels Ergebnis in ihrem Sinne die Herren der Minderheit im Ausschuß jetzt plötzlich die seltsame Idee haben, es sei die Aufgabe einer Minderheit in solch einem Ausschuß, nun Verdächtigungen auszustreuen, statt sich auf Tatsachenfeststellungen zu beschränken, wie das die Mehrheit getan hat.Sehen Sie, eines steht doch wirklich fest: Es war schon schlimm genug, daß die Opposition meinte, diesen Mann, ihren früheren CDU-Abgeordneten Steiner, zum Kronzeugen in diesem Falle zu machen. Denn von ihm ist politisch und moralisch nichts übrig geblieben,
Diese Tatsache ist festgestellt, und Sie versuchen die Tatsache durch das Ausstreuen von Verdächtigungen zu überdecken.
Herr Reddemann war so nett, nun auch ganz offen zu sagen, warum es recht praktisch war, auf mich zu zu zielen.Ich darf jetzt auf der Grundlage des offengelegten Protokolls Stellung nehmen zum Minderheitenbericht der Opposition, und zwar werde ich jeweils, damit die Herren von der Presse — und wer sich sonst interessiert — sich leichter zurechtfinden, die Blattzahlen nennen, auf denen sich meine Aussagen befinden, damit jeder in aller Ruhe nachprüfen kann, was ich jetzt vorzutragen habe.Meine Aussage vor dem Untersuchungsausschuß, daß dem CDU-Abgeordneten Steiner aus dem Verfügungsfonds des Bundeskanzleramtes weder direkt noch indirekt Mittel zugeflossen sind, ist vom Präsidenten des Rechnungshofes in seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuß am 5. September 1973 bestätigt worden: 28. Protokoll, ich verweise auf die Seiten 9, 13, 14 und 74.
— Ich darf die Kollegen, die sich vergewissern wollen, auch die Kollegen von der Presse, noch einmalbitten, diese Blätter nachzulesen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Herr Schäuble, zu Ihnen komme ich noch.Im übrigen gibt es ein Schreiben des Präsidenten an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, den Kollegen Leicht, vom 5. Oktober 1973, in dem er mitteilt, daß er wisse, wofür das Geld verwendet worden sei. Die Opposition wagt ja auch nicht, Herr Kollege Schäuble, diese Aussagen des Herrn Präsidenten in Frage zu stellen.
Sie konstruiert vielmehr den Verdacht einer Zwischenfinanzierung gegen mich aus dem Umstand, daß ich jedenfalls 50 000 DM hätte ausleihen und zurückerhalten haben können. Die logische Möglichkeit reicht also den Mitgliedern der Minderheit eines Untersuchungsausschusses für einen solchen Verdacht, ohne daß es irgendeinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß überhaupt eine Zwischenauszahlung stattgefunden hat.Meine Herren, diesen „Verdacht", den die CDU konstruiert, hätten Sie gegen jeden Bundesbürger erheben können, der in den fraglichen Tagen des April 1972 50 000 DM zur Verfügung hatte.
Insofern ist ,das Verfahren der Minderheit nach meiner Meinung zwar eines Parlaments unwürdig, auf der anderen Seite aber doch sehr komisch.Dies läßt sich meines Erachtens leider nicht sagen, wenn im weiteren Gang des Minderheitenberichts der Versuch gemacht wird, meine Aussage, es habe auch keine „Zwischenfinanzierung" gegeben, darum für unglaubwürdig zu erklären, weil ich angeblich in anderen Punkten vor dem Ausschuß nicht die Wahrheit, ja, vermutlich sogar bewußt die Unwahrheit gesagt hätte. Ich kann nur sagen, daß die einschlägigen Ausführungen des Minderheitenberichts und das, was der Kollege Schäuble hier vorgetragen hat, nicht nur eine willkürliche Auslegung des Beweisergebnisses, sondern leider eine 'bewußte Fälschung der Beweisaufnahme darstellen.
Damit sich jeder auch darüber vergewissern kann, darf ich wieder angeben, auf welchen Seiten sich die Aussagen befinden.Ich habe zunächst die Aussage gemacht, an der nichts zu deuteln oder zu ändern ist: Nachdem die CDU/CSU-Fraktion am Nachmittag des 24. April 1972 den Antrag auf ein konstruktives Mißtrauensvotum gestellt hatte, habe ich am 25. April 1972 im Kanzleramt mündlich oder fernmüdlich die Weisung zur Abhebung von 50 000 DM erteilt, die ich zu einer möglicherweise erforderlich werdenden vorzeitigen Begleichung eingegangener Verpflichtungen benötigte; Aussage Protokoll Nr. 28, Seiten 5 f., 10 und 67. Der zuständige Beamte ides Bundeskanzleramtes hat mir den gewünschten Betrag am 26. April 1972 gegen Quittung ausgehändigt; Protokoll Nr. 28, Seiten 6, 10, 27 und 62.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5987
Bundesminister Dr. EhmkeAuf die Frage, an welchem Tage ich die Auszahlungsanordnung unterschrieben hätte, bin ich in meiner Aussage überhaupt nicht eingegangen, da das für das Beweisthema nicht relevant war. Ich bin auch von niemandem danach gefragt worden, auch von keinem der Herren Vertreter der Opposition. Eine entsprechende Frage hätte ich sehr leicht beantworten können, da es sich bei ,dem von mir genannten Quittungsbeleg vom 26. April 1972 um einen Quittungsvermerk auf der ebenfalls am 26. April abgezeichneten Auszahlungsanordnung handelte. Ich selbst habe diese Auszahlungsanordnung in die Beweisaufnahme eingeführt; Protokoll Nr. 28, Seiten 52 f. und 60.
Daß der Vorgang von der mündlichen Weisung am 25. bis zur Aushändigung des Geldes am Nachmittag offenbar des 26. an mich zwei aufeinanderfolgende Tage in Anspruch nahm, entsprach der auf verwaltungstechnischen Gründen beruhenden Praxis.Alles dies, meine Herren, ist von Ihnen im Ausschuß überhaupt nicht in Frage gestellt worden. Aber nicht nur das, ich habe Ihnen mehrfach angeboten, weil ich mich sehr vorsichtig hinsichtlich der ja nicht in meiner eigenen Übersicht liegenden Modalitäten der Abwicklung ausgedrückt habe, doch die Zeugen aus dem Kanzleramt zu hören, den Mann, den ich beauftragt habe, die Leute von der Kasse, mein Büropersonal. Ich habe Zeugen angeboten, mehrfach. Ich verweise auf Protokoll Nr. 28, Seite 21, 22, 27, 29, 60, 66 und 68.Sie hatten sogar die Möglichkeit, einen besonders guten Kronzeugen für alle diese Fragen zu hören, nämlich meinen Amtsvorgänger als Kanzleramtschef, Herrn Carstens,
der, wie ich ausgesagt habe, in der gleichen Weise wie ich zu seiner Amtszeit auch Summen von 50 000 DM von diesem Konto abgehoben hat.
Ich verweise auf Protokoll Nr. 28, Seite 8 und 28 f.Nun können Sie sich, meine Herren von der Opposition, auch nicht darauf berufen, daß Sie daran gehindert gewesen wären, sich Gewißheit durch die Vernehmung der Zeugen zu verschaffen, eine Vernehmung, die ich angeregt hatte. Sie haben das nicht getan. Ohne dies zu tun, haben Sie natürlich viel freiere Hand gehabt für das, was Sie „Beweiswürdigung" nennen und ich eine üble verlogene Verdrehung von Tatsachen.
— Sie glauben doch nicht, daß Sie mir Lüge vorwerfen, ohne daß ich Ihnen sage, was ich von Ihnen meine. So wird nicht gespielt.
Die „Beweiswürdigung" der CDU/CSU — —
Herr Bundesminister, das Wort „verlogen" muß ich als unparlamentarisch zurückweisen. Mir ist nicht in Erinnerung, daß Ihnen das Wort „Lüge" entgegengeschallt ist.
Sie können sich auch so ausdrücken, daß die Vokabel „Lüge" nicht verwendet wird.
Herr Präsident, wenn es Ihnen dann recht ist, sage ich, daß die Minderheit der Opposition hier bewußt die Unwahrheit gesagt hat. Das waren die Worte, die mir entgegengehalten worden sind.
Dies zu sagen kann Ihnen niemand verwehren, Herr Bundesminister. Es geht nur um die Vokabel.
Danke schön, Herr Präsident.Die „Beweiswürdigung" der Opposition besteht darin: meine Aussage, ich hätte am 25. April 1972 mündlich oder fernmündlich Weisung zur Beschaffung des Geldbetrages gegeben — das absolut normale Verfahren, denn man gibt den Auftrag erst, wenn längst das Tagesgeschäft abgewickelt ist, dann geht es auf den anderen Tag —, verdrehen Sie in eine Aussage, die ich nie gemacht habe, daß ich nämlich am 25. April und nicht, wie geschehen, am 26. April die schriftliche Auszahlungsanordnung unterzeichnet hätte.Für diese Verdrehung bedient sich die CDU zweier Tricks: Einmal versucht die CDU, meine Worte „anfordern" und „Weisung" umzudrehen in „Auszahlungsanordnung unterschreiben", obwohl ich ausdrücklich mehrfach von einer mündlichen oder fernmündlichen Weisung gesprochen hatte. Es war also gar nicht möglich, das mißzuverstehen. Das steht in Protokoll Nr. 28, Seite 5 f., 10 und 67. Ich bitte, das nachzulesen.Außerdem unterstellt die CDU wahrheitswidrig, ich hätte dreimal ausdrücklich erklärt, daß meine Aussage hinsichtlich des Zeitpunktes der Anforderung des Betrages nicht auf Erinnerung, sondern auf Akteneinsicht beruhe, während ich in Wirklichkeit nur hinsichtlich des Zeitpunkts der Auszahlung auf die Akteneinsicht Bezug genommen habe. Dies steht eindeutig im Protokoll Nr. 28, Seite 6, 10 und 43. Hinsichtlich meiner Anforderung, meiner Weisung vom 25. April 1972, habe ich mich vielmehr ausdrücklich auf meine eigene Erinnerung über die Zeitabfolge — am Nachmittag des 24. April Mißtrauensantrag der CDU/CSU, am 25. April von mir die Weisung: packen und bitte diesen Geldbetrag beschaffen — berufen. Wenn Sie da irgendwelche Zweifel hatten, hätte Ihnen das Büropersonal des Kanzleramtes zur Verfügung gestanden. Aber auch das
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Bundesminister Dr. Ehmkehaben Sie nicht für nötig gehalten, und jetzt schmeißen Sie mit Verdächtigungen um sich.Was den Zweck der Anforderung angeht, so gibt es schließlich auch da an meiner Aussage nichts zu deuteln. Die Summe wurde von mir angefordert — ich berufe mich auf alle Protokollseiten, die ich bereits zitiert habe —,
für den Fall — — Sie sollten ruhig einmal zuhören, wenn es hier — auch davor sollten Sie Respekt haben — um die Ehre eines Mitglieds der Regierung und dieses Hohen Hauses geht.
Das Geld wurde von mir für den Fall angefordert, daß das konstruktive Mißtrauensvotum Erfolg haben würde. Da es keinen Erfolg hatte, bestand kein Grund, die Erfüllung einer noch nicht fälligen Verbindung vorzuziehen. Herr Schäuble hat heute leider — über den Schriftlichen Mitbericht hinaus —noch einmal vorgeführt, wie das die CDU/CSU so macht. Herr Schäuble, Sie haben hier am Schluß — das steht nicht einmal in dem Bericht; das ist von Ihnen heute noch gratis dazugeliefert worden — gefragt, wie ich denn wohl den Präsidenten des Rechnungshofs behandelt hätte.
— Ich lese es Ihnen ja gleich vor; ich habe es hier. Herr Schäuble! Ich hoffe, daß Sie gut zuhören.
Sie haben weiter gefragt, welcher demokratische Stil das wohl sei, daß ich gesagt hätte: in dem Fall hätte ich den Präsidenten „weggeschickt", und wie empörend es sei, daß sich ein Kanzleramtsminister so benehme.
— Sinngemäß! Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, wie das bei Ihnen sinngemäß geht. Ich habe hier die Seiten 142 und 143 vorliegen.
Da ist die Frage: „Wie wäre es gewesen, wenn der Präsident zu Ihnen gekommen wäre?" Daraufhin sagte ich zunächst: „Die Prüfung wäre sehr schnell gegangen, weil nur die zwischen Anfang April und dem Prüfungsdatum angeforderten Beträge . . . zu prüfen gewesen wären." Ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten weiter: „Im übrigen wäre es so gewesen, daß ich dem Präsidenten gesagt hätte: ich muß noch Verpflichtungen abwickeln, seien Sie bitte so gut, machen Sie erst das Auswärtige Amt, ...". Seite 142 — —
— Ich mache weiter! — Ich sagte: „Wenn dann der Präsident gekommen wäre — verfügungsberechtigt wäre ich gewesen — und ich nicht alle Verpflichtungen hätte begleichen können, dann wäre das nicht möglich gewesen, und der Rest des Bargelds von denvorhandenen Beständen wäre dann an die Kasse zurückgegangen."
— Nein, Herr Schäuble!
— Augenblick! Herr Schäuble kann hier nach vornkommen und dann zitieren. Jetzt zitiere ich weiter
und lasse mich dabei nicht stören, Ihnen einmal darzulegen, wie Sie das machen.
Meine Aussage also — —
— Meine Herren! Ihnen ist das unangenehm, aberich dachte, Sie seien an der Wahrheit interessiert.
Seite 143 die gleiche Frage. Meine Antwort: „Wäre der Präsident zuerst zu mir gekommen, dann hätte ich ihm das gesagt: Ich muß hier noch Verpflichtungen abwickeln, bitte, ich werde Ihnen nachher dann die Belege dafür vorzeigen." Das war also eine Bitte in einer sehr höflichen Form, Herr Schäuble! Beide Male handelte es sich um eine Bitte — das steht auf den Seiten 142 und 143 —, ein Verfahren, das im Umgang von Amtsträgern untereinander völlig Usus ist und von mir auch mit dem Präsidenten des Bundesrechnungshofs natürlich oft angewendet wurde.Herr Schäuble, wo kommt denn nun das Wort „weggeschickt" her? Das steht auf Seite 143, aber nicht bei mir, sondern bei Ihnen.
Auf Seite 143 sagen Sie: „Wenn Sie jetzt sagen, Sie seien das Risiko eingegangen, den Präsidenten des Bundesrechnungshofs zunächst einmal wieder wegschicken zu müssen ..."
Das heißt, daß Sie schon damals das, was ich gesagt habe, daß ich nämlich den Präsidenten gebeten hätte, in das Wort „wegschicken" umgedreht haben, und jetzt wollen Sie mir Ihre Verdrehung von damals in die Schuhe schieben.
Herr Schäuble, ich sage Ihnen: Selbst wenn ich dieses Wort, das nicht gehörig gewesen wäre, gebraucht hätte und nicht Sie selber — ich habe mich ganz anders ausgedrückt —, würde Ihnen das nicht die Möglichkeit geben, solche Verdächtigungen auszusprechen. Selbst wenn ich das gemacht hätte! Auf diesen beiden Seiten stehen die Formulierungen, die ich Ihnen vorgelesen habe. Herr Schäuble, ich be-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5989
Bundesminister Dr. Ehmkedauere, daß ein junger Kollege wie Sie meint, sich mit dieser Art von Verdrehungen parteipolitische Sporen verdienen zu müssen.
Bei mir ist es so — daraus mache ich keinen Hehl —, daß ich manchmal hart im Geben, aber auch hart im Nehmen bin.
Meine Herren von der Minderheit des Ausschusses, ich bin aber der Meinung, daß wir dann, wenn es um die Ehre von Mitgliedern dieses Hauses und damit um die Ehre dieses Hauses selbst geht, so nicht miteinander umgehen dürfen, wie der Minderheitsbericht der CDU/CSU es gemacht hat.
Für diese Machenschaften, die ich hier offengelegthabe, habe ich nichts anderes als Verachtung übrig.
Meine Damen und Herren! Verachtung ist keine Haltung, die einem Mitglied der Bundesregierung gegenüber dem Parlament oder einem Teil des Parlaments zusteht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte wird man sicherlich nicht damit beginnen können, daß es ein Vergnügen wäre, hier in dieser Angelegenheit zu sprechen. Man muß, glaube ich, damit beginnen, festzustellen, daß parlamentarische Korruption ein Angriff auf die Kernsubstanz unseres Staates ist. Das gilt um so mehr in einer Zeit, in der der Glanz des repräsentativen Systems unserer Demokratie nicht unangefochten ist und in der von verschiedenen politischen Seiten und Positionen her sowohl die Autorität dieses Parlaments als auch die Funktion, das Verhältnis der Abgeordneten zu ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage, ihre Unabhängigkeit und ihre Redlichkeit in Zweifel gezogen wird. Also stimme ich dem Kollegen Schäuble zu, wenn er sagt, es wird bei dieser Debatte in diesem Hause keine Gewinner und keine Verlierer geben, sondern der Verlierer wird dieses Parlament in seiner Gesamtheit sein.
Das sollte uns veranlassen, etwas behutsamer mit uns umzugehen.Ich hatte vor, dem Kollegen Schäuble Lob für sein inneres Engagement in dieser Sache zu zollen. Aber dieses ist mir angesichts der Leichtfertigkeit im Halse stecken geblieben, Herr Kollege Schäuble,
mit der Sie hier Verdächtigungen in einer Art ausstreuen, die dieser Debatte und ihrem Sinn nicht angemessen sein kann. Wer aus der Affäre Steiner parteipolitische Vorteile für sich ziehen will, wird selbst zahlen müssen. Das gilt für jede Polemik sowohl innerhalb als auch außerhalb dieses Hauses. Bei manchen Artikeln von Kollegen, von Mitgliedern dieses Hauses, in dieser Sache muß man sich fragen, was das Ziel einer solchen Polemik sein soll, bei der ein Sachkenner sofort die Einseitigkeiten, die Weglassungen, die Vermengungen von Information und Kombination erkennt.
— Ich meine damit die Auslassungen des Kollegen Reddemann im „Rheinischen Merkur", die zu lesen große Überwindung kostet.
Das Ergebnis solcher Auslassungen, Herr Kollege Reddemann, kann sicherlich nicht sein, daß Sie die Empörung der Bevölkerung gegen eine politische Richtung oder gegen einzelne Persönlichkeiten dieses Hauses richten, sondern das Ergebnis kann nur sein, daß Sie einen Zuwachs an Staatsverdrossenheit,
an Mißachtung dieses Parlaments überhaupt erzielen werden.
Ich halte es für einen ganz sinnlosen Versuch, hier um die bessere Erkenntnis der Wahrheit zu streiten, also sich zu fragen, welcher der Berichtsteile der Wirklichkeit näherkäme. Im Hinblick auf die wichtigste Frage, die uns zu untersuchen aufgegeben war, nämlich ob der Kollege Wienand durch die Zahlung von 50 000 DM den damaligen Abgeordneten Steiner zu einer Stimmenthaltung bewogen hat, hat der Untersuchungsausschuß einstimmig festgestellt, daß ein solcher Vorwurf nicht erwiesen ist. Wir haben einmütig festgestellt, daß sich der Geschehensablauf so, wie der damalige Abgeordnete Steiner ihn geschildert hat, unmöglich hat abspielen können.Wir haben allerdings nicht aufgeklärt — auch dieses muß man bekennen —, woher der damalige Abgeordnete Steiner die 50 000 DM hatte, die er am 28. April einzahlte. Darum ist eine letzte Klarheit über den Geschehensablauf, wie er sich damals abgespielt hat, nicht zu erzielen.Wenn 18 Abgeordnete in 50 Sitzungen darüber keine einheitliche Meinung erzielt haben, dann glaube ich nicht, daß es uns gelingen wird, dieses hier nachzuholen. Dieses Ergebnis ändert man auch nicht dadurch, wenn man es durch Verdächtigungen zu ersetzen und zu manipulieren sucht.
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5990 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. HirschMan muß sagen, daß man es nicht weiß, und man muß diese Tatsache akzeptieren.Wir haben uns aufrichtig bemüht, aber wir wissen nicht, wie es war. Ob man das schön findet oder nicht, spielt keine Rolle. Ein Ergebnis — um Herrn Kollegen Kleinert zu zitieren — ist ein Ergebnis, nicht mehr und nicht weniger.
— Eigentlich heißt es: Ein Ergebnis ist ein Ergebnis, ist ein Ergebnis, ist ein Ergebnis.Diese Debatte wird nur dann sinnvoll, wenn man sich fragt, welche Konsequenzen man zu ziehen gedenkt. Wir müssen zunächst einmal die Bevölkerung der Bundesrepublik davon überzeugen, daß wir es ernsthaft und ohne Augenzwinkern versucht haben, diese Wahrheit zu ermitteln. Wir nehmen das für uns in Anspruch. Es ist nichts in diesem Ausschuß geschehen, was einen Zweifel daran begründen könnte. Es ist kein Beweisantrag abgelehnt worden, wer auch immer ihn gestellt hat.Herr Kollege Schäuble, Sie haben dazu vorhin erklärt, dieses sei ja auch rechtens gewesen. — Selbstverständlich. Aber ich weiß nicht, ob Sie mit dieser Betonung uns unterschieben wollten, wir hätten Beweisanträge abgelehnt, wenn wir die rechtliche Möglichkeit dazu gehabt hätten.
Dies wäre eine Verschiebung des Sachverhalts, die man bedauern müßte.
Es ist jeder Zeuge erschöpfend befragt worden. Jede Beweisaufnahme war öffentlich. Alle Protokolle stehen lückenlos zur Verfügung. Dieses ist das Gesamtergebnis, welches wir der Öffentlichkeit vorzulegen haben, nicht Verdachtsäußerungen. Das Ergebnis dieses Ausschusses sind die Protokolle, die öffentlich ausliegen, die — was man bei dieser Gelegenheit auch einmal sagen muß — in den vergangenen acht Tagen nur von sechs Personen eingesehen wurden, übrigens Mitarbeiter des Hauses, also nicht einmal Außenstehende.Wir haben zwei Berichte; auch das gehört zur Offenheit. Wir haben der Öffentlichkeit praktisch zwei Berichte vorgelegt, um die Verschiedenheit der Betrachtungsweisen darin um so deutlicher zu machen. Wir stellen uns ohne Sorge dein Urteil derjenigen, die diese Protokolle wirklich gelesen oder den Beweisaufnahmen beigewohnt haben.In diesem Zusammenhang gibt es zwei Detailfragen: erstens die Frage der Vereidigung, zweitens die Frage der unterschiedlichen Wertungen, zu denen die Ausschußmitglieder mit jeweils gleichen Mehrheiten gelangt sind.Zur Frage der Vereidigung ist folgendes zu sagen. Wir haben während des Verfahrens in verschiedenen Erklärungen dargelegt, warum wir uns dazu nicht entschließen konnten. Ich meine, es ist hier nicht der Ort, einen Juristenstreit darüber zu entfesseln, welche Auslegungen sich aus den IPA-Regeln oder der StPO zwingend oder nicht zwingend ergeben.Entscheidend war der Gegensatz zwischen dem Betroffenen und dem Zeugen. Der Zeuge kann während des Verfahrens keine Anträge stellen, er kann nicht der gesamten Beweisaufnahme beiwohnenjedenfalls nicht als Zeuge —, er kann keine Fragen stellen.Am Anfang des Ausschusses war eine Entscheidung darüber, wer Betroffener oder Zeuge sei, nicht möglich. Wir haben im Ausschuß darüber lange gesprochen. Es lag ja kein vorermittelter Sachverhalt auf dem Tisch. Wir halten es eben nicht für vertretbar, erst am Ende eines Verfahrens einen möglicherweise Betroffenen als solchen einzustufen und ihm damit rückwirkend die Möglichkeiten zu nehmen, die ihm nach den IPA-Regeln als einem Betroffenen während des ganzen Verfahrens zugestanden hätten.Wir sollten uns hier auch in aller Offenheit Gedanken darüber machen, ob die Eidesleistung in einem Verfahren dieser Art nicht eine ganz andere Bedeutung hat. Im Strafrecht ist die Eidesfreiheit eine Wohltat: sie hält nämlich den Zeugen aus dem Zwiespalt zwischen strafrechtlicher Selbstbezichtigung und der Strafdrohung des Eides heraus. Hier aber scheint mir die Verweigerung, einen Eid leisten zu können, eine Belastung zu sein. Denn wir nehmen einem Zeugen die Möglichkeit, die Wahrheit seiner Aussage ebenso feierlich zu bekräftigen, wie ein anderer Zeuge das tun konnte. Darin liegt ein Präjudiz, das man in einem objektiven Verfahren nicht mehr akzeptieren kann.
Der Ausschuß ist zu unterschiedlichen Wertungen gekommen. Beide Berichterstatter, jeder in seiner Art, haben sich bemüht, aus den widersprechenden und wechselnden Zeugenaussagen, aus diesem Wust an Tatsachenmaterial ein Ergebnis zu kristallisieren. Das innere Engagement des Kollegen Schäuble ist sicherlich in diesem Bericht zu erkennen, ebenso seine Bemühungen, die zweifellos bestehenden Widersprüche zu klären oder zu deuten.Aber dieses ist eben die Haltung eines Staatsanwalts und nicht die eines Richters, wenn man prüft, wie es wohl gewesen sein könnte, um sich zu entscheiden, ob man dann auf der Grundlage einer Vermutung eine Anklage erhebt, ein Verfahren einleitet oder ob man es nicht tut. Ein Richter hat festzustellen und nicht zu kombinieren. Wir sind nicht am Beginn einer Verhandlung, wir sind an ihrem Ende, und es ist ein unverrückbarer rechtsstaatlicher Grundsatz, daß es der Sinn einer Hauptverhandlung sein muß, die gesetzliche Vermutung der Schuldlosigkeit in einem gesetzlich geregelten und ordentlichen Verfahren zu widerlegen. Dann gibt es nur die Widerlegung oder keine Widerlegung, und dazwischen ist kein Raum.
Dies ist ein unzerstörbarer rechtsstaatlicher Grundsatz. Ich kann nicht erkennen, warum er für Unter-
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Dr. HirschBuchungsausschüsse dieses Hauses außer Kraft gesetzt werden sollte.
Man denke an Art. 44 Abs. 4 unseres Grundgesetzes, wonach Beschlüsse des Untersuchungsausschusses jeder richterlichen Würdigung entzogen sind. Wo bleibt also dann der Rechtsschutz für den von der Minderheit Verdächtigten? Wie soll er sich rechtfertigen? In welchem Verfahren soll er seine doch als möglich anzuerkennende Umschuld beweisen? Die Freiheit von gerichtlicher Kontrolle ist nicht nur ein Privileg, sondern auch eine außerordentliche Verantwortung. Ich zweifle, ob Sie dieser Verantwortung gerecht werden, und ich sage: Sie werden es nicht.
Die Leichtfertigkeit, mit der z. B. hier eben ein Verdacht gegen den Bundesminister Ehmke konstruiert worden ist, hat mich in höchstem Maße schockiert, die Leichtfertigkeit, mit der die Darlehenstheorie plötzlich entwickelt worden ist, zunächst einmal doch wohl aufbauend auf dem zu erweckenden Eindruck, es sei ein ungewöhnlicher Geldbetrag gewesen, über den dort verfügt worden sei.Wir haben als Ausschußdrucksache — es ist das Dokument Nr. 76 — eine Auflistung, in welchen Summen seit dem Jahr 1968 aus diesem Titel in bar verfügt worden ist. Vorhin wurde hier der Kollege Professor Dr. Carstens genannt. Dazu muß man sagen, daß er z. B. in einem sehr beengten Zeitraum über 50 000, 10 000 und 100 000 DM in bar verfügt hat. Dies ist eine den Ausschußmitgliedern bekannte Tatsache.Man hat darüber gerätselt, wie es wohl möglich sei, kurzfristig 50 000 DM in Tausendmarkscheinen zu bekommen. Da haben ganz besonders große Experten, die nur mit drei Sternen in Zeitungen erscheinen, weil sie ihre Identität nicht offenbaren wollen,
die tollsten Vermutungen angestellt, daß das nur aus geheimdienstlichen Quellen kommen könne. Nun, der Kollege Kleinert und ich sind, als wir am Tegernsee waren, zusammen in eine kleine nette Filiale der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank gegangen und haben — in solchen kleinen Filialen wird man ja individuell behandelt — gefragt, ob wir nicht 50 000 DM bekommen könnten. Wir haben anstandslos — anstandslos sicherlich wegen unserer unbestreitbaren Kreditwürdigkeit — diese 50 000 DM erhalten, und zwar ganz überwiegend, wie die Fachleute sagen, in „neu gebrauchten" Tausendmarkscheinen. So ein Geheimnis ist es also offensichtlich überhaupt nicht, wie man an einen solchen Betrag kommen kann. Ich weiß daher nicht, wie hier ein solcher Verdacht in einer derartig durchsichtigen Weise aufgezäumt werden kann. Ich wehre mich dagegen, derartige Festschreibungen von Verdächtigungen zu akzeptieren, und ich scheue mich nicht, dieses als eine Institutionalisierung des Rufmordes zu bezeichnen.
Ich frage mich, zu welchem Ende denn für dieses Haus solche Verdächtigungen führen sollen. Wenn wir auf der Grundlage eines Untersuchungsberichtes Konsequenzen ziehen sollten, dann aus Tatsachen und nicht aus vagen Vermutungen.Man hat sich darüber mokiert, daß die Wertungen der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen immer 5 : 4 vorgenommen worden seien. Man sollte bei einem solchen Vorwurf doch auch deutlich sagen, daß dieses Abstimmungsergebnis eine Aussage nicht nur über die Mehrheit des Ausschusses, sondern genauso über die Minderheit sein könnte. Vielleicht, meine Herren Kollegen, hätten wir auch einmal 6: 3 abstimmen können.
Ich weiß also nicht, ob man daraus ein Argument herleiten kann.Sie, Herr Kollege Vogel, haben die Tatsache dieser Abstimmungsverhältnisse eindrucksvoll motiviert, als Sie in einer Presseerklärung gesagt haben, wenn die CDU/CSU ihre subjektive Überzeugung allein hätte sprechen lassen, gäbe es für sie keinen Zweifel mehr. Das heißt also, daß diese Abstimmungsergebnisse ein Spiegel der Subjektivität einer jeden Wertung sind und sein müssen, also auch der verschiedenen Ausgangserwartungen, mit denen wir begonnen haben,
mit denen offenbar alle Seiten des Hauses begonnen haben. — Herr Zoglmann, Sie sagen: „Ein gutes Geständnis". Wissen Sie, da müssen Sie mal ein bißchen lesen. Dolf Sternberger hat im Jahre 1963 sehr Beachtliches über Untersuchungsausschüsse und über die Frage geschrieben, ob die Parteilichkeit der Ausgangserwartungen von Mitgliedern eines Untersuchungsausschusses nur etwas Negatives ist oder vielleicht sogar als eine positive Antriebsfeder wirken kann, die Wahrheit zu ermitteln, die Zeugen in ein Kreuzverhör zu nehmen, die Tatsachen von allen Seiten her zu prüfen, wie wir dies in erschöpfender Weise getan haben. Ich weiß nicht, ob Sie zu den sechs Personen gehören, Herr Kollege Zoglmann, die die Protokolle gelesen haben. Holen Sie es nach, und bilden Sie sich dann ein Urteil.
Ich meine also, wir sollten uns bei der Frage, wie diese Wertungen zu beurteilen sind, äußerster Zurückhaltung befleißigen, mit einem Zweifel auch uns selbst gegenüber.Zweifel an der Wirksamkeit von Untersuchungsausschössen sind weit verbreitet — nicht nur in derBundesrepublik. In England hat es die letzten Untersuchungsausschüsse im Jahre 1911 im Fall Marconi gegeben und im Jahre 1940 in einem Fall Boothby, der weit weniger bekanntgeworden ist. Man muß sich fragen, ob der Glaube berechtigt ist, daß ein anderes Verfahren notwendigerweise bessere Ergebnisse bringen würde, insbesondere die Verlagerung in den strafrechtlichen Bereich oder die Übertragung der Untersuchungen auf die Justiz oder den Richter.
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5992 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. HirschIm englischen Recht gibt es den Tribunal of Inquiry, ein Modell dafür, das sogenannte SkandalEnqueten einzelnen Richtern zur Untersuchung übertragen werden. Die Voraussetzung für das Funktionieren eines solchen Modells wäre auf jeden Fall eine überlegene Richterpersönlichkeit, die vor jeder, auch einer unbewußten, politischen Parteinahme oder Sympathie gefeit wäre. Ich will nicht daran zweifeln, daß es auch im deutschen Richtertum solche Persönlichkeiten gibt. Aber ich meine, daß es kein formelles Verfahren gibt, eine solche Persönlichkeit zu ermitteln.Ich bin auch skeptisch gegenüber dem Vorschlag, die sogenannte Abgeordnetenbestechung zu pönalisieren, wie es in Schweden oder Holland der Fall ist. Ohne dazu eine eingehende Literatur oder Rechtsprechung zu kennen, meine ich, daß diese Pönalisierung kaum Konsequenzen gehabt hat. Ich bin zwar skeptisch, aber das heißt nicht, daß ich die Pönalisierung ablehnen würde. Sie wäre gesetzestechnisch ohne große Schwierigkeiten möglich, indem man den § 108 d des Strafgesetzbuches nicht nur auf Wahlen zum, sondern auch auf Wahlen im Parlament, vielleicht auch auf Sachentscheidungen im Parlament ausdehnen würde. Probleme der Beweisschwierigkeiten brauche ich denen, die sich damit beschäftigt haben, nur anzudeuten. Sie wissen, wie ungewöhnlich kompliziert ein solches Verfahren sein müßte.Also andere Vorbilder im internationalen Parlamentsrecht für Untersuchungsausschüsse sind nicht erkennbar, besser, sie verraten zum Teil ein erstaunliches Vertrauen in Entscheidungen der Mehrheit. Für einen Erfolg scheinen mir in diesen Fällen mehr die beteiligten Persönlichkeiten verantwortlich zu sein als das Verfahren und die Mittel, mit denen sie sich bewegen. Aber kein Zweifel, daß wir die Mittel der Untersuchungsausschüsse verbessern müssen. Es kommt darauf an — das ist gesagt worden —, ein Vorverfahren einzuführen. Ein Ermittlungsverfahren in der Form einer öffentlichen Beweisaufnahme ist ein denkbar untaugliches, um nicht zu sagen, ein groteskes Instrument der Wahrheitsermittlung, in dem sich jeder Zeuge durch eigene Beobachtung auf seine spätere Aussage einrichten kann; es gibt in diesem Verfahren Beispiele dafür, die sehr unerfreulich waren.Sicherlich wird man dazu übergehen müssen, einen Ankläger zu ernennen, der die Aufgabe der Vorermittlung übernimmt, oder in einem nichtöffentlichen Teil dann allerdings Berufsrichter an dem Ausschuß zu beteiligen. Außerdem müßte meiner Überzeugung nach die Frage geprüft werden, ob das Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten nach Art. 47 des Grundgesetzes auch einen unbeschränkten Bestand vor Untersuchungsausschüssen haben sollte.Wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, daß ähnliche Vorgänge, wie sie hier behauptet worden sind, in Zukunft nicht ausgeschlossen sein werden, wenn man unterstellt, es habe hier tatsächlich eine unlautere Beeinflussung stattgefunden. Aber der Grund dafür liegt nicht in einem besonderen Materialismus unserer Zeit oder in einer besondersnegativen Auslese der Parlamentarier. Der Grund liegt darin, daß Abgeordnete sicherlich keine entmaterialisierten Wesen sind und ein Parlament keine Versammlung von Robespierres. Abgeordnete sind Menschen, die nicht einmal eine Elite, sondern einen Querschnitt des Volkes darstellen. Wir sollten darüber froh sein; denn nur von normalen Menschen kann man erwarten, daß sie menschliche Entscheidungen treffen. Die Ausübung des Mandats ist eben keine exklusive Tätigkeit von Honoratioren mehr, sondern sie nähert sich der Ausübung einer beruflichen Aufgabe, die mit besonderen Risiken, einer besonderen Verantwortung und einem besonderen Anspruch verbunden ist. Wir sollten sichern, daß wir alle miteinander nicht von, sondern für die Politik leben können, das heißt also, sich dabei auch von den Maßstäben eines Lohnbuchhalters frei zu machen.Am Anfang unseres Skandals stand eine Tatsache, über die hier überhaupt nicht mehr gesprochen wird. Am Anfang unseres Skandals stand die Tatsache, daß der Abgeordnete Steiner um seine Existenz fürchtete, wenn er seiner politischen Einsicht folgen wollte. Am Anfang stand nicht die Verlockung eines Stimmenkäufers, sondern der wirtschaftliche Druck seiner Existenz und seiner eigenen politischen Freunde.
Lassen Sie uns also gemeinsam über die wirtschaftliche Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Abgeordneten nachdenken. Die schlichte Anhebung der Diäten wird sie nicht sichern. Die Höhe der Diäten wird auch diejenigen anziehen, die keine berufliche oder wirtschaftliche Basis haben und im Mandat nicht primär die Verantwortung, sondern die Einnahmequelle sehen könnten. Unser Appell muß sich mindestens ebenso eindringlich an diejenigen richten, die uns in diese Funktion hineinschicken, die uns als Wähler und als Wahlkörperschaften in unseren Parteien aufstellen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob es zur Steigerung des Ansehens eines Abgeordneten nicht auch dringend erforderlich ist, auch seine Arbeitsmöglichkeiten drastisch zu verbessern.
Lassen Sie uns das System der Altersversorgung ebenso prüfen wie die Übergangsregelung am Ende eines Mandates, die es einem Abgeordneten, auch wenn er nicht Beamter ist, ermöglichen muß, in einen normalen Beruf zurückzufinden, damit der Verlust des Mandates nicht mit dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz identisch zu sein braucht. Ich halte es für unverantwortlich, einfach an der Höhe der Grunddiäten oder der Pauschalen herumzuwirken, ohne bei dieser Gelegenheit eine Konsequenz aus der Strukturveränderung unseres Parlamentes zu ziehen. Wir provozieren mit einem solchen Verfahren alle Emotionen, ohne ein einziges unserer Probleme zu lösen.
Wir müssen am Ende dieses Verfahrens bekennen, daß Vorgänge, wie sie in der Affäre Steiner behauptet worden sind, jedenfalls durch Organisations-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5993
Dr. Hirschformen nicht ausschließbar sind und daß es keine perfektionistischen Lösungen gibt, die solche Vorgänge unmöglich machen könnten.Aber es kann nicht die alleinige Aufgabe eines Untersuchungsausschusses sein, die Würde dieses Hauses zu wahren. Es kann auch nicht die Lösung sein, dieses Problem einzelnen Mitgliedern zuzuschieben. Es ist unser aller Aufgabe, durch unser eigenes Verhalten dafür zu sorgen, daß die Würde dieses Hauses unberührt bleibt.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren. Das, was der Kollege Hirsch zum Schluß gesagt hat, möchte ich unterstreichen. Nur, ich frage mich, ob die Würde dieses Hauses gewahrt ist, wenn es Vorstellungen gibt, wie wir sie vom Kollegen Wehner und wie wir sie vor allen Dingen vom Kollegen Ehmke hier heute nachmittag erlebt haben.
Ich möchte zunächst einmal in aller Klarheit das zurückweisen, was der Kollege Ehmke der Minderheit im Ausschuß glaubte vorwerfen zu können. Das ist das Unglaublichste, was ich bisher in diesem Parlament gehört habe.
Ich hätte noch Verständnis dafür, Herr Kollege Ehmke, wenn ein Mitglied Ihrer Fraktion an das Rednerpult getreten wäre und an Hand des Protokolls versucht hätte, das zu widerlegen, was der Kollege Schäuble hier als Beweiswürdigung vorgetragen hat. Ich habe kein Verständnis dafür das muß ich Ihnen sagen —, wenn Sie an das Rednerpult gehen
und in dieser Form versuchen, die Beweiswürdigung nachzuholen, die Ihre Kollegen im Ausschuß unterlassen haben.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?
Bitte sehr!
Herr Kollege Vogel, würden Sie diesen Vorwurf modifizieren, wenn ich Ihnen sage, daß die Fraktion der SPD Herrn Ehmke einstimmig ersucht hat, in Falle des Vorbringens dieser Behauptungen das hier festzustellen?
— Ich habe mich Ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen. Ich wollte nur, daß Sie, wenn Sie jemandem einen Vorwurf machen, meine Mitteilung zur Kenntnis nehmen, nichts anderes.
Ich finde das unglaublich.
— Herr Kollege Ehmke, das ist der von Ihnen nicht wiedergegebene Teil dieser Aussage. Ich muß sagen: Ich empfinde es als unfair, wenn sich der Kollege Schäuble hier zu einer Zwischenfrage meldet und Sie ihm nicht die Gelegenheit geben, das durch eine Zwischenfrage hier klarzustellen. Nur dann würden wir fair miteinander umgehen.
— Herr Kollege Ehmke, das hätte sich sofort durch eine Zwischenfrage klären lassen.
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5994 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sieglerschmidt?
Bitte sehr, Herr Kollege Sieglerschmidt!
Herr Kollege Vogel, sollte es Ihnen entgangen sein, daß der Kollege Ehmke wörtlich das, was Sie soeben zitiert haben, auch seinerseits zitiert hat?
Herr Kollege Sieglerschmidt, wenn es mir entgangen ist, muß ich wahrscheinlich einen Augenblick ausgesetzt haben; ich habe nämlich sehr sorgfältig zugehört.
Das gleiche kehrt auf der Seite 143 auf die Frage des Kollegen Schäuble wieder. Ich will auch das hier nicht wiederholen.
Herr Kollege Ehmke beruft sich zum Zeugnis dafür, daß das Geld bestimmungsgemäß verwendet worden sei, auf die Aussage des Präsidenten des Bundesrechnungshofes, des Präsidenten Schäfer. Ich will Ihnen hier drei Teilstücke dieser Aussage zur Kenntnis geben, damit Sie die Möglichkeit haben, sich selbst ein Bild zu machen.
Zunächst einmal hat der Präsident des Bundesrechnungshofes Protokoll der 28. Sitzung, Seite 129 — ausgeführt:
Ich möchte sagen, daß ich nach Prüfung der mir am 11. Dezember vorgelegten Belege und der mündlichen Erläuterungen, die mir entweder freiwillig oder auf Fragen gegeben worden sind, keine Anhaltspunkte dafür habe, daß aus dem Titel 529 04 Mittel für solche Zwecke verwendet worden sind, die Gegenstand Ihres Untersuchungsausschusses bilden.
Das heißt also, der Präsident des Bundesrechnungshofs hat lediglich keine Anhaltspunkte gewinnen können und hat das bekundet. Er sagte aber an zwei weiteren Stellen etwas, was ich zu berücksichtigen bitte. Er sagt auf Seite 131:
Mir genügt das und das muß mir ja genügen —, was sich aus dem Beleg und den mündlichen Erläuterungen meines Gesprächspartners ergibt.
Noch deutlicher führte er auf Seite 107 aus — auch das wörtlich —:
Es gibt ja den berühmten Satz, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ich möchte aber hier diesen Satz insofern abwandeln, daß man bei der Kontrolle, gerade, wenn sie wie hier auf zwei Augen beruht, in der Person des Prüfenden, auch bei dem Geprüften das Vertrauen haben muß, daß die Auskunft, die er einem mündlich gibt, wahr ist.
Er spricht dann weiter von einer „Kombination von Vertrauen und Kontrolle", aus der er diesen Eindruck gewonnen hat, keine Anhaltspunkte zu haben.
Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Na also!)
— Ja, aber was beweist das denn, Herr Kollege Schäfer?
- Moment, zu dem nächsten Punkt komme ich
gleich, Herr Kollege Schäfer. Nur, zum Beweis für die Unrichtigkeit der Beweisführung des Kollegen Schäuble kann die Aussage des Präsidenten Schäfer eben nicht herangezogen werden,
weil nämlich dieser Aussage des Präsidenten Schäfer die Entlastung nicht entnommen werden kann, auf die sich der Kollege Ehmke hier beruft.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schäfer?
Bitte sehr, Herr Kollege Schäfer!
Herr Kollege Vogel, gehen Sie denn davon aus, daß sich derjenige, der verdächtigt wird, reinwaschen muß, oder wollen Sie nicht den allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkennen, daß jeder Verdacht bewiesen werden muß?
Herr Kollege Schäfer, ich freue mich, daß Sie sagen: jeder Verdacht bewiesen werden muß; denn nicht einmal das haben ja die Kollegen der Mehrheit im Untersuchungsausschuß gewollt.
— Ach, Herr Kollege Schäfer, ich sage es noch einmal: Wenn die Mehrheit bereit gewesen wäre, aus dem Beweisergebnis im Falle Schelklingen die Konsequenzen zu ziehen, dann könnten wir so miteinander reden.
- Nein, nein. Herr Kollege Schäfer, das ist doch jetzt Ihre Unterstellung!
Unterstellen Sie mir doch nicht etwas. Ich habeIhnen nur gesagt: Sie haben keinen Anlaß, sich hier
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5995
Vogel
aufzuspielen, nachdem Sie selbst da, wo es auf der Hand liegt, nicht bereit gewesen sind, die Konsequenzen zu ziehen.
- Nach unserer Meinung. Mir wäre es wirklich lieb, es würden einige Unvoreingenommene, die von der Sache etwas verstehen, bereit sein, die Aussagen dazu vor dem Untersuchungsausschuß einmal nachzulesen.
- Ich kann es nur hoffen, Herr Kollege Schäfer. —Soviel zu dem Punkt.Nun hat sich der Herr Kollege Ehmke besonders darüber beschwert, daß die Minderheit im Ausschuß den Verdacht hat, er habe in einem Punkt eine unrichtige Aussage gemacht. Herr Kollege Ehmke, Sie haben dazu eine Menge aus dem Protokoll Ihrer Vernehmung vorgelesen.Ich darf zunächst einmal sagen, daß Sie uns geschildert haben, wie der Vorgang ablief. In der 28. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses heißt es auf Seite 10:Der Vorgang ist wohl noch etwas komplizierter. Ich sage dem Beamten mündlich oder fernmündlich: Ich brauche 50 000 Mark! Er kommt dann hoch und legt mir die Anordnung vor, die ich unterschreibe. ... Und wie gesagt: Ich habe die Akten angeguckt. Diese Quittung lautet, was ja den Herren wohl bekannt ist, wenn ich recht informiert bin, auf den 26. April.Ich gebe Ihnen nun zu, daß Sie mit dieser Quittung die Auszahlungsquittung der Bundeshauptkasse meinen. Aber eines muß ich sagen, Herr Kollege Ehmke: Wofür ich nach dem Inhalt Ihrer Aussage kein Verständnis habe, ist, daß Sie, wenn dieser Vorgang der Anforderung zeitlich auseinanderfiel, dem Ausschuß das dann nicht gesagt haben und sich heute darauf berufen wollen, Ihnen werde zu Unrecht unterstellt, in diesem Punkt eine unrichtige Angabe gemacht zu haben. Daß es Auszahlungsanforderungen gab, daß die urkundlich nachweisbar waren, Herr Kollege Ehmke, war Ihnen sehr wohl bewußt; denn darauf haben Sie in Ihrer Aussage mehrfach angespielt. Sie haben, als Sie gefragt wurden, ob denn Herr Carstens jemals in solcher Höhe über den Fonds verfügt habe — auf Seite 29 — gesagt:Am 5. Juli 1968 z. B., ..., wobei ich hier jetztsagen muß: Das ist die Auszahlungsanforderung. Ich kann dabei ja daraus entnehmen, daß das wohl die schriftliche Auszahlungsanforderung ist, die Sie hier meinen.
— Natürlich, natürlich, Herr Kollege Ehmke. Sie haben auf der Seite 52 z. B. darauf hingewiesen, daß die Auszahlungsanforderungen von Ihnen natürlich alle vorlägen. Sie haben auch an anderen Stellen von der Auszahlungsanordnung gesprochen. Siehaben es nur nicht für nötig befunden — und machen uns jetzt den Vorwurf, daß wir nicht danach gefragt hätten —, uns dann zu sagen: Am 25. habe ich Herrn Rehmich aufgefordert, das zu tun, und am 26. ist Herr Rehmich mit der Auszahlungsanforderung gekommen, die ich dann unterschrieben habe. Herr Kollege Ehmke, nachdem Sie uns diesen Vorgang so geschildert haben, wäre es nicht unsere Aufgabe gewesen, Sie danach zu fragen, sondern es wäre die Aufgabe eines sorgfältigen Zeugen gewesen, uns das mitzuteilen. Denn nur diesen Vorgang der schriftlichen Auszahlungsanforderung konnten Sie aus den Akten entnommen haben, von denen Sie vorhin auch geredet und von denen Sie mehrfach gesagt haben, daß Sie an Hand dieser Akten Ihr Gedächtnis aufgefrischt hätten.Herr Kollege Ehmke, ich frage wirklich, woher Sie, selbst wenn Sie der Auffassung sind, diese Beweisführung sei falsch, den Mut nehmen, bei dieser Sachlage davon zu sprechen, das sei ein verkommener parlamentarischer Stil, das sei üble, verlogene Verdrehung von Tatsachen, das sei parlamentsunwürdig, das sei eine bewußte Fälschung des Ergebnisses der Beweisaufnahme. Herr Kollege Ehmke, ich glaube, daß Sie, wenn Sie sich sorgfältig mit Ihrer eigenen Aussage beschäftigen, diesen Vorwurf nicht aufrechterhalten können.
herr Kollege Ehmke, ich möchte nur sagen, wie leichtfertig Sie Feststellungen treffen auf Grund von Anhaltspunkten, aus denen Sie solche Feststellungen herleiten zu können glauben. Lesen Sie einmal nach, was Sie auf Seite 15 des Protokolls Ihrer Vernehmung gesagt haben :Es steht ja wohl fest, daß entweder im Kanzleramt oder bei der Bundeshauptkasse jemand sitzt, der selbst auf die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung hin unbefugt gegen seine Dienstpflichten eine Information — soweit ich aus .Journalistenkreisen weiß, sogar Dokumente — weitergegeben hat. Es ist natürlich auch durchaus denkbar, daß diese Information bereits weitergegeben wurde,— jetzt hören Sie einmal genau zu! —als die Anforderung gestellt wurde und die Zahlung erfolgte, also am 25. oder am 26., so daß die Einzahlung am 28. schon in Kenntnis dieser Tatsache erfolgte und sich daher vielleicht auch die gegenüber früheren Angaben geringe Summe erklärt.Herr Kollege Ehmke, das paßt sich würdig ein in die Verschwörungstheorie, in die Drehbuchtheorie und in andere Theorien, die uns in dem Ausschuß dauernd Nebel in die Landschaft geworfen haben. Ich habe einmal gesagt: Hier werden uns dauernd Schafherden über die Spuren gejagt, um diese Spuren zu verwischen. Meine Damen und Herren, wer so leichtfertig aus bestimmten Fakten solche Schlüsse zieht, der kann sich doch nicht hierherstellen
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5996 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Vogel
und sich in dieser Form hier aufspielen, wie Sie es heute getan haben!
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Sperling?
Augenblick!
Ich darf Ihnen auch eines zu Ihrer Beruhigung sagen, Herr Kollege Ehmke: Der Beamte oder Angestellte im Kanzleramt oder in der Bundeshauptkasse, von dem Sie hier sprechen, den gibt es nicht. Der Vorgang ist wesentlich anders gewesen; das kann ich sagen. Ich frage wirklich, woher Sie — ich würde sagen — die Berechtigung nehmen, in Ihrer Aussage als Zeuge eine solche Feststellung zu treffen.
Meine Damen und Herren, mir kam es lediglich darauf an, etwas zu dem zu sagen, was der Kollege Ehmke glaubte als Zeuge in dieser Sache sagen zu müssen. Ich sage noch einmal: ich hätte allenfalls Verständnis gehabt, wenn ein anderer Kollege der SPD-Fraktion für den Kollegen Ehmke das hier getan hätte. Daß der Kollege Ehmke selbst es getan hat, kann ich persönlich nur bedauern.
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Vogel sehr dankbar, daß er sich die Mühe gemacht hat zu argumentieren, und möchte diesen Versuch nicht unbeantwortet lassen.
Zum letzten Punkt: Ich finde es sehr interessant, daß Sie sagen, daß Sie den Vorgang kennen. Ich wäre dann wirklich der Meinung, es wäre sehr gut, einmal klarzulegen, wie unter der Verschlußsachenordnung stehende Sachen herauskommen. Es wäre interessant, wenn Sie das doch einmal darlegen würden, wenn Sie das so genau wissen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Gerne!
Herr Kollege Ehmke, darf ich davon ausgehen, daß Sie jetzt zugeben können, daß Sie einem Mißverständnis erlegen sind, wenn Sie meine Ausführungen von vorhin so interpretieren? Denn genau das habe ich nicht gesagt, daß ich den Vorgang kenne, sondern ich
habe gesagt: Das Ganze, wie das bekanntgeworden ist, ist wesentlich anders gelaufen.
Herr Kollege Vogel, ich nehme das gern entgegen. Nur, da es sich um vertrauliche Unterlagen entweder der Bundeskasse oder des Kanzleramtes handelt, muß ja irgendwo ein Loch gewesen sein. Aber ich überlasse das Ihnen.
Ich darf jetzt ganz kurz zu den vier Fragen Stellung nehmen, die Sie aufgeworfen haben.Es ging nicht um das Zitat — ich habe es nach meiner Erinnerung auf eine entsprechende Bitte hin vollständig verlesen —, sondern es ging darum — —
— Dann bitte ich um Entschuldigung.
— Dann bitte ich insofern um Entschuldigung. Ich sage nur: der Streitfall war, wer das Wort „weggeschickt" benutzt hat. Sie haben nur noch einmal unterstrichen: das Wort „weggeschickt", das mir vorgeworfen wurde, ist vom Kollegen Schäuble und nicht von mir benutzt worden.Zweitens. Ich wäre sehr dankbar gewesen, wenn Sie in die Würdigung der Aussage des Präsidenten des Bundesrechnungshofes auch den von mir ausdrücklich erwähnten Brief an den Kollegen Leicht vom 5. Oktober 1973 einbezogen hätten. Er steht Ihnen zur Verfügung; Sie können ihn auch in Photokopie bei Herrn Kollegen Haehser einsehen.Was in Ihrem Bericht übrigbleibt, ist die Frage der Zwischenfinanzierung. Dazu sage ich noch einmal: Wenn Sie es für korrekt halten, aus einer logischen Möglichkeit einen Verdacht abzuleiten, dann lassen wir parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Zukunft lieber sein.
Schließlich die Frage des Auseinanderfallens des Anforderungsvorgangs in zwei Tage. Herr Vogel, es ging Ihnen doch bei Ihren Fragen, wenn ich mich einmal in Ihre Interessenlage versetze, überhaupt nur um zwei Daten: Wann ist der Ehmke auf die Idee gekommen, er braucht 50 000 DM, und wann hat er das Geld in der Hand gehabt? Dabei muß ich Ihnen sagen: ich kannte diese ganzen Terminkonstruktionen, die Sie da anführten, überhaupt nicht.
Ich weiß nur ganz genau: meine Reaktion auf den Mißtrauensantrag der CDU waren am nächsten Tag die beiden Anweisungen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5997
Bundesminister Dr. EhmkeSie haben ja auch überhaupt nicht danach gefragt, wann denn zwischen der mündlichen Anweisung, die Sie jetzt gar nicht mehr bestreiten, und der Auszahlung das Zwischenglied Unterschreiben der schriftlichen Anforderung stattgefunden hat. Das spielte auch gar keine Rolle, sondern für Sie spielten zwei Daten eine Rolle: Wann kam er auf die Idee und wann hatte er das bar in der Hand? Darauf habe ich ausdrücklich geantwortet. Nach dem Zwischenglied wurde nie gefragt. Das Beweisstück, das das Zwischenglied brachte, habe ich selbst in die Unternehmung eingeführt.Dann muß ich Ihnen noch einmal sagen: Ich habe Ihnen zahlreiche Zeugen genannt, die Ihnen das alles im einzelnen hätten darlegen können. Herr Vogel, können wir uns nicht darauf einigen: es geht nicht, selbst wenn Sie eine Unklarheit hatten, dann nicht den Versuch zu machen, diese Unklarheit aufzuhellen, sondern einfach hinauszugehen und mit solchen Verdächtigungen um sich zu schmeißen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Gerne!
Herr Kollege Ehmke, sind Sie nicht auch bereit, zu sehen, daß, wenn ein Zeuge von mündlicher Anordnung und vor schriftlicher Zahlungsanordnung spricht, wenn er davon spricht, daß er zu einem bestimmten Zeitpunkt angefordert habe, bei dem Hörer derartiger Bekundungen auch der Eindruck entstehen kann: dieser Vorgang fällt zeitlich zusammen?
Darf ich eine weitere Frage stellen, weil Sie uns gesagt haben, Ihnen sei es auf Zeitpunkte angekommen. Was meinen Sie denn, worauf es dem Herrn Kollegen Wischnewski angekommen ist, als er — auf Seite 67 dieses Protokolls — fragte:
Ich bitte, jetzt noch einmal intensiv nachzudenken, ob Ihr Erinnerungsvermögen für den 25. besser ist und Sie vielleicht sagen können, zu welcher Zeit Sie diese 50 000 DM am 25. angefordert haben?
Herr Kollege Vogel, diese Frage können Sie gleich dem Kollegen Wischnewski selbst stellen, da er jetzt sprechen wird. Aber Ihre erste Frage werde ich Ihnen beantworten: Selbst bei weitester, Willkür einschließender Auslegung ist es nicht möglich,
die Aussage, es sei eine mündliche oder fernmündliche Weisung erteilt worden, in die Aussage umzudrehen, es sei eine schriftliche Auszahlungsanordnung herausgegangen. Sie können beim besten
Willen auch mit der schönsten „Interpretation" aus „mündlich oder fernmündlich" nicht „schriftlich" machen, und allein darum geht es in diesem Punkt.
Das Wort hat der Abgeordnete Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich an den Beitrag des Kollegen Vogel und den des Kollegen Schäuble denke, habe ich eigentlich den Eindruck, Sie wollen hier heute über alles andere reden, nur nicht über Ihren früheren Fraktionskollegen Steiner. Um den geht es aber in erster Linie.
Ich gebe Ihnen jetzt die Möglichkeit, darüber einiges zu hören.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, alle Ausschußmitglieder stimmen darin überein, daß wir mit den Arbeitsmöglichkeiten, die wir gehabt haben, und damit auch mit den Arbeitsergebnissen, die es gegeben hat, nicht zufrieden sein können. Ich glaube, da gibt es Übereinstimmung. Auch die Öffentlichkeit ist mit dem Ergebnis nicht zufrieden, und dafür habe ich Verständnis. Wir wissen, daß das der parlamentarischen Demokratie nicht dient. Ich muß allerdings sagen, für mich ist eines geradezu bedrückend, daß nämlich der Ausschußbericht der Minderheit mit Spekulationen und Verdächtigungen arbeitet
und daß die im Vordergrund des Berichtes stehen.
— Ich komme auf ein paar Sachen zu sprechen, keine Sorge.Da Herr Dr. Schäuble ein Jurist ist, muß ich sagen: Eigentlich bin ich ganz froh, daß ich kein Jurist bin, wenn ich nämlich feststelle, daß das im Bericht die Vorstellung eines Juristen ist, zwar nicht durchgängig, aber in einigen Passagen.
Eine solche Berichterstattung nach einer durchaus sachlichen Zusammenarbeit, die es im Ausschuß gegeben hat, dienst erstens nicht der Sache, dient zweitens nicht den Interessen dieses Hauses und ist drittens nicht mit unserer Rechtsauffassung in Einklang zu bringen. Während es in der Justiz für den Ange-
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5998 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Wischnewskiklagten diskriminierenden Freispruch mangels Beweises nicht mehr gibt, wird er hier für Politiker und von Politikern angewandt. Ich finde, dies ist eine ganz schlechte Angelegenheit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wehre mich dagegen, daß in der Öffentlichkeit immer wieder behauptet wird, es sei gar nichts herausgekommen. Deshalb möchte ich hier zwei Feststellungen treffen. Ich erinnere erstens daran, daß der Ausschuß einstimmig ausgesagt hat:Es wird festgestellt, daß die Behauptung des Zeugen Steiner nicht erwiesen ist, der Zeuge Wienand habe im Zusammenhang mit der Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum den Zeugen Steiner durch Hingabe von 50 000 DM in unlauterer Weise beeinflußt.Das ist für den Kollegen Wienand herausgekommen.Nach der heutigen internen Sitzung im Beisein des Bundesanwalts Buback habe ich Ihnen mitzuteilen, was für Ihren früheren Fraktionskollegen Steiner herausgekommen ist:1. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit,2. ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen falscher Titelführung,3. ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung,
4. ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Veruntreuung und5. ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Mißbrauchs von Geldern des Deutschen Bundestages.Dies ist das, was sich heute anläßlich der letzten Ausschußsitzung gezeigt hat. Ich finde es gut, daß das hier heute auch im Plenum zum Ausdruck gebracht werden kann.
Herr Abgeordneter Wischnewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Mit besonderer Freude.
Herr Kollege Wischnewski, ohne daß ich hier den Versuch unternehmen wollte, für Herrn Steiner eine Lanze zu brechen: Glauben Sie nicht, daß Sie sich selbst in
einen Widerspruch begeben, wenn Sie hier Ermittlungsverfahren aufführen, die noch keine Urteile sind, sondern auf Grund von Verdacht eingeleitete Verfahren sind?
Sie hätten mit Ihrer Frage warten sollen. Ich werde Ihnen im Laufe der weiteren Ausführungen noch ein paar Möglichkeiten geben, zu beweisen, daß auch Sie wissen, 'daß die jetzt bereits vorliegenden Tatsachen 'den Beweis dafür erbringen, daß es sich nicht nur um Ermittlungen handelt, sondern daß es handfeste Tatbestände gibt.
— Herr Reddemann, von Ihnen beantworte ich nie
— Wissen Sie, dazu sind Sie zu klein, daß ich vor Ihnen Angst 'habe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Steiner hat diesem Hause einen großen Schaden zugefügt. Nicht alle haben das Recht, über ihn einen Stab zu brechen, insbesondere die nicht, die vielleicht durch ihr Verhalten dazu beigetragen haben, daß sein Lebensweg so verlaufen ist, nämlich diejenigen,
die ihm vor einigen Jahren 'das Gehalt als Parteisekretär der CDU gekürzt haben und ihm den Rat und die Möglichkeit gegeben haben, den Rest des Gehaltes beim Deutschen Nachrichtendienst zu verdienen. Das ist der wahre Hintergrund des Lebenswegs Ihres früheren Kollegen Steiner.
Dies muß mal in aller Deutlichkeit gesagt werden. Sie haben ihm das Gehalt von 700 DM auf 400 DM gekürzt und gesagt, den Rest solle er sich durch Tätigkeit beim Nachrichtendienst verdienen.
Ob das eine so faire Angelegenheit ist, weiß ich nicht. Ob dies nicht vielleicht der Anlaß ist, daß der frühere Kollege Steiner einen solchen Weg genommen hat?Ein Wort noch zu Schelklingen. Das, was die Kollegen der CDU im Untersuchungsausschuß behaupten, nämlich daß es sich um einen Versuch der Bestechung handelt, hat kein Zeuge ausgesagt. Auch die Zeugen, die sich bemüht haben, Karl Wienand zu belasten, haben gesagt, abstrakt seien Gespräche geführt worden.
Das ist die Tatsache.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 5999
WischnewskiMeine Damen und Herren, lassen Sie mich zu dem Bericht von Herrn Schäuble noch ein paar Bemerkungen machen.
— Ich muß mich hier an das halten, was die Zeugenausgesagt haben. Dies ist nicht mein Begriff. Ich habe den Begriff „abstrakt" nicht erfunden. Das waren die Zeugen, die vor dem Ausschuß so ausgesagt haben.
Der Herr Dr. Schäuble beschäftigt sich insbesondere mit den Fragen der Glaubwürdigkeit der Zeugen. Ich finde, daß seine Stellungnahme geradezu frappierend ist. Über Steiners Glaubwürdigkeit — und ich muß sagen: Steiner hat fast nur die Unwahrheit gesagt, und dies läßt sich nachweisen; ich werde ein paar Proben davon bringen sagt Herr Schäuble folgendes:Danach läßt sich aus den zahlreichen Unrichtigkeiten in der Aussage des Zeugen Steiner nichtauf eine generelle Unglaubwürdigkeit schließen.Ich finde das nach den Vorgängen, wie wir sie erlebt haben, geradezu empörend.Über die Glaubwürdigkeit des Kollegen Wienand sagt er:Diese Kette von Unrichtigkeiten, Widersprüchen und mangelnder Aussagebereitschaft mindert die Glaubwürdigkeit des Zeugen Wienand erheblich.Dies ist der Vergleich, der hier gezogen wird. Deshalb möchte ich gerne fünf Bemerkungen machen, zuerst zu Karl Wienand.
Herr Abgeordneter Wischnewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schäuble?
Mit besonderer Freude!
Vielen Dank, Herr Wischnewski.
Herr Wischnewski, sind Sie bereit, wenn Sie schon aus dem von mir entworfenen Teil des Berichtes zitieren, vollständig zu zitieren und insbesondere den einleitenden Satz zu der Glaubwürdigkeit von Herrn Steiner zu zitieren? Es fängt nämlich wie folgt an:
Bei der Würdigung der Glaubwürdigkeit des Zeugen Steiner fallen die vielen Widersprüche, Unrichtigkeiten und Unwahrheiten auf, in die sich der Zeuge Steiner in seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuß und bei anderer Gelegenheit verwickelt hat.
Ich verweise Sie auf Seite 51 unten und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Bericht in Zukunft wenigstens einmal lesen und korrekt zitieren würden.
Herr Kollege Dr. Schäuble, ich habe Ihren Bericht genau gelesen. Sie können mein Exemplar dort sehen. Jeder Satz mit der Glaubwürdigkeit der beiden Zeugen ist von mir unterstrichen. Nach dem, was Sie jetzt zitiert haben, haben Sie gesagt: „Danach läßt sich aus den zahlreichen Unrichtigkeiten in der Aussage des Zeugen Steiner nicht auf eine generelle Unglaubwürdigkeit ..." Darauf komme ich gleich zu sprechen. Dann wird sich herausstellen, wie parteiisch Ihre Darstellung der Glaubwürdigkeit eben ist.
Dazu werden wir Ihnen hier die Möglichkeit geben.Über Karl Wienand möchte ich fünf Bemerkungen machen:1. Es entspricht den Tatsachen, daß sich der Zeuge Wienand im Vorstadium, d. h. vor Aufnahme der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses, nur äußerst zögernd geäußert hat. Im Ausschuß hat er klare Auskünfte gegeben. Was die Zeit davor betrifft, möchte ich sagen: Herr Löwenthal ist weder ein Richter noch ein Untersuchungsausschuß. Dies muß einmal in aller Deutlichkeit festgestellt werden.
2. Karl Wienand hat vor dem Untersuchungsausschuß am 7. September 1973 eine falsche Aussage gemacht. Er hat sie am gleichen Tage in einem Brief an den Ausschußvorsitzenden, in dem er sich für diesen Irrtum entschuldigt hat, revidiert.3. Für alle wichtigen Angaben und Aussagen des Kollegen Karl Wienand stehen Zeugen zur Verfügung.4. Für den entscheidenden Tag kann er eine genaue, fast minutiöse Darstellung des Tagesablaufs geben; der weitaus größte Teil ist durch Zeugenaussagen oder sogar durch Dokumente des Bundestages belegt.5. Nach Angaben des Herrn Regierungsdirektor Peppmeier, der dem Ausschuß vom Bundesrechnungshofs als Sachverständiger zur Verfügung gestellt war, sind bei Ihrem früheren Kollegen Steiner an Geldbewegungen noch genau 239 633 DM ungeklärt. Ich bitte, das auf Seite 86 des Berichts des Gutachters nachzulesen. Eines steht fest: Mit keiner einzigen Mark dieser ungeklärten 239 633 DM hat der Kollege Karl Wienand auch nur das geringste zu tun. Dies ist eindeutig erwiesen.
Nachdem eine generelle Unglaubwürdigkeit Steiners nicht vorliegen soll, nun ein paar Bemerkungen zu dem, was den früheren CDU-Abgeordneten Steiner betrifft. Ich haben den Eindruck, daß eigentlich fast alles falsch ist, was er angegeben hat. Ich möchte mich heute auf acht Beispiele beschränken, die besonders typisch sind und über die Herr Kollege Schäuble bei seiner Feststellung, daß eine generelle Unglaubwürdigkeit nicht vorliege, noch einmal nachdenken sollte.
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6000 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Wischnewski1. Schon für das Handbuch des Deutschen Bundestages hat der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Steiner eine falsche Berufsangabe gemacht. Er hat dort wahrheitswidrig angegeben, er sei Referent in der freien Wirtschaft. Er ist überhaupt nicht in der freien Wirtschaft tätig gewesen. Er hat von ein paar Betrieben, für die er überhaupt nicht gearbeitet hat, gelegentliche Zuschüsse bekommen,
weil sein Gehalt als Geschäftsführer der CDU nicht ausgereicht hat.
Dem Zeugen Moersch gegenüber hat er behauptet, er habe eine gut dotierte Position in der Industrie. Eine solche hat er nie gehabt. Ihrem Kollegen Maucher gegenüber hat er behauptet, er sei bei der Firma Liebherr beschäftigt. Dieses ist erstunken und erlogen! Dem Ausschuß gegenüber hat er behauptet, er sei Kaufmann, und gegenüber dem Amtsgericht Tübingen hat er anläßlich der Anmeldung der „Vereinigung für staatsbürgerliche Bildung" „Geschäftsführer" angegeben. Gegenüber dem Amtsgericht Sigmaringen hat er anläßlich der Anmeldung der „Vereinigung für staatsbürgerliche Bildung WürttembergHohenzollern'' angegeben „Ministerialreferent".Und Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, sagen, so was sei noch glaubwürdig! Herr Schäuble, überlegen Sie sich Ihr Urteil!
2. Nachweisbar hat Ihr früherer CDU-Abgeordneter Steiner fälschlich den Doktortitel geführt, einer Vielzahl von Zeugen und auch Behörden des Bundes gegenüber!
— Wissen Sie, bevor Sie so dumme Fragen stellen, sollten Sie überlegen, wer Herrn Steiner in den Deutschen Bundestag gebracht hat! Dies ist die Frage, um die es hier geht.
— Ich kann ja verstehen, daß Sie das aufregt; denn jetzt wird endlich einmal über Sachen gesprochen, die von Gewicht sind.3. Steiner gab gegenüber dem Ausschuß an —nach mehrmaligem Befragen —, er habe keinerlei Mitarbeiter aus dem Bundestag gehabt. Die Bundestagsverwaltung hat ausgesagt, daß er hintereinander— zum Teil auch nebeneinander — während seiner Zeit als Abgeordneter vier Mitarbeiter gehabt hat. Er hat den Untersuchungsausschuß belogen. Ich nehme an, er hat es deshalb gemacht, weil er nichtsagen wollte, daß der jetzige Generalsekretär der CDU in Baden-Württemberg sein Mitarbeiter war.
— Ich nehme an, daß er daran interessiert war, das zu verheimlichen.
4. Steiner hat auf mehrfaches Befragen dem Untersuchungsausschuß gesagt, er verfüge über vier Konten. Auch dies war gelogen; tatsächlich hat der Zeuge Steiner über neun eigene Konten und über drei weitere von Verbänden verfügt. Hier muß ich den Kollegen Dr. Schäuble zitieren, dem das eigentlich noch nicht reicht; denn er schreibt in seinem Bericht auf Seite 43:Schließlich sprechen Anhaltspunkte dafür, daß der Zeuge Steiner in der Schweiz weitere, dem Untersuchungsausschuß nicht bekanntgewordene Bankkonten unterhält.Das hindert aber den Herrn Dr. Schäuble nicht daran, zu sagen: Auf eine generelle Unglaubwürdigkeit darf man nicht schließen. — Bei falschen Berufsangaben, falschen Titeln und falschen Bankkonten so etwas zu behaupten, verehrter Herr Kollege Dr. Schäuble, ist schon ein sehr starkes Stück diesem Hause gegenüber.
5. Auch bei so Kleinigkeiten wie dem Kauf eines Wagens hat er den Verfassungsschutz betrogen, hat er uns nicht die Wahrheit gesagt. Wir haben in der Zwischenzeit feststellen können, wie es wirklich gewesen ist.6. Da hier vorhin von dem Kollegen Dr. Marx die Rede war, wofür ich mich sehr bedanke, darf ich feststellen, daß Ihr früherer Kollege Steiner einem früheren Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes gegenüber, der ihm politisch sehr nahesteht, gesagt hat, daß er Marx informiert habe.
Ich sage hier folgendes: Ich glaube der Aussage des Kollegen Marx, der klar und eindeutig festgestellt hat, daß dies nicht der Fall ist.
Nur: Sie, Herr Kollege Dr. Schäuble, machen es mir natürlich schwer, und zwar deshalb, weil Sie sagen, die generelle Unglaubwürdigkeit von Steiner könne nicht festgestellt werden. Das klingt ja in dem Falle fast wie eine Belastung für den Kollegen Dr. Marx.
Dagegen muß ich mich erheblich wehren. Ich muß hier den Kollegen Marx ausdrücklich in Schutz nehmen.
Herr Kollege Wischnewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6001
Jetzt nicht.
7. Der frühere CDU-Abgeordnete Steiner hat monatelang laufend die Beamten des Verfassungsschutzes von Baden-Württemberg betrogen. Denn er hat nicht angegeben, welche Geldbeträge er monatlich von der DDR bekommen hat, weil er nicht daran interessiert war, das Geld abzuliefern, sondern daran interessiert war, dieses Geld in die eigene Tasche zu schieben. Auch darüber gibt es klare Aussagen in den Protokollen.
8. Ich möchte noch ein letztes Beispiel bringen
— wenn Sie Wert darauf legen, kann ich noch eine ganze Reihe anführen — —
— Da habe ich meine Punkte vorher gesagt. Ich würde Ihnen vorschlagen, immer zuzuhören, nicht nur, wenn Sie es nicht als besonders angenehm empfinden. Ich kann das verstehen.
Er hat den Ausschuß belogen bei einer Vielzahl von Ortsangaben und Zeitangaben für Reisen, die er gemacht hat. Dies ist dem Ausschuß in vertraulicher Sitzung durch den Bundesanwalt mitgeteilt worden. Ich bin an und für sich sehr froh, daß ich wegen der Vertraulichkeit der Sitzung das nicht zu sagen brauche; denn manches davon war auch wenig appetitlich, um das mal in aller Deutlichkeit zu sagen. Aber dies hindert den Schäuble nicht daran, zu sagen: Auf eine generelle Unglaubwürdigkeit kann nicht geschlossen werden.
— Herr Kollege Reddemann, geben Sie sich keine Mühe! Auf Sie werde ich nie eingehen. Auf alle anderen gerne, auf Sie nie. Ich weiß auch, warum.
Ich möchte mich sehr bedanken bei dem Kollegen Kleinert, weil er in seinem Bericht auf die Vielzahl Möglichkeiten von Verdächtigungen und Spekulation verzichtet hat, die für ihn sicher auch sehr reizvoll gewesen wären. Es ist der Bericht eines Juristen. Das andere ist eigentlich — jedenfalls zu einem erheblichen Teil — eher der Bericht eines kleinkarierten Parteitaktikers, der glaubt, sich hier seine Sporen verdienen zu können, wofür ich auch Verständnis habe.
Nur ob das seinem Ruf als Juristen besonders dienlich ist, da habe ich meine Zweifel.
Herr Dr. Schäuble hat aber eine wichtige Sache vergessen. Er arbeitet ja mit Spekulationen und
Verdacht. Wenn man aber Spekulationen und Verdacht heranzieht,
dann darf man nichts auslassen. Sie haben in Ihrem Bericht einen entscheidenden Verdacht ausgelassen. Der Name Fraschka kommt in dem Bericht Schäuble überhaupt nicht ein einziges Mal vor.
Daß er in dem Bericht Kleinert nicht vorkommt, ist eine Selbstverständlichkeit. Denn der Kollege Kleinert hat weder mit Verdächtigungen noch mit Spekulationen gearbeitet. Da Herr Dr. Schäuble aber Verdächtigungen und Spekulationen zum Prinzip erhoben hat, hätte der Fall Fraschka eine entscheidende Rolle in seinem Bericht spielen müssen.
Ich finde es besonders bedauernswürdig, daß das nicht der Fall ist. Denn Herr Dr. Schäuble ist ein besonders großer Experte im Fall Fraschka.
— Das werde ich Ihnen gleich erläutern. Es gibt gleich eine Erläuterung dafür. Das können Sie im Protokoll nachschauen.
Als Herr Fraschka bei der Vernehmung in Schwierigkeiten gekommen ist, in erhebliche Schwierigkeiten — das wird ja vielleicht auch bei irgendeinem I Gericht seinen Niederschlag finden —, hat Herr Kollege Dr. Schäuble sich sofort zu Wort gemeldet und gesagt: Herr Vorsitzender, Sie müssen den Zeugen Fraschka darauf aufmerksam machen, daß er die Aussage wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung verweigern kann.
Und Herr Fraschka hat die Aussage auch verweigert.
— Ich weise nur darauf hin, daß Herr Kollege Dr. Schäuble in dieser Frage besonders engagiert war.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, gerne.
Herr Kollege Wischnewski, sind Sie bereit, hier einzuräumen, daß es die Pflicht jedes Mitgliedes des Untersuchungsausschusses war, dem Vorsitzenden bei der Bewältigung seiner Aufgabe zu helfen und ihn darauf hinzuweisen, wenn er in der Gefahr war, etwas zu unterlassen, wozu er als Vorsitzender gesetzlich verpflichtet war?
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6002 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Herr Dr. Schäuble, ich gebe Ihnen zu, daß jedes Mitglied verpflichtet ist, den Ausschußvorsitzenden zu unterstützen. In diesem Falle, bei Herrn Fraschka, war es mir besonders angenehm, daß die Unterstützung von Ihrer Seite gekommen ist.
Nun, wer ist Herr Fraschka? Einige wissen das noch gar nicht. Herr Fraschka ist der CDU-Kreisvorsitzende im Odenwald. Er ist Inhaber eines Büros für Publizistik.
Zwischen Herrn Fraschka und dem früheren CDU-
Abgeordneten Steiner sind fast eine Viertelmillion Mark hin und her bewegt worden.
Der Vertreter des Rechnungshofes schreibt dazu in seiner Stellungnahme folgendes — ich zitiere aus dem Bericht —:
Das Verfahren ist umständlich
— dieses Geldverfahren zwischen Herrn Steiner und Herrn Fraschka —
und nicht üblich. Zu dem dargestellten Zweck hätte das Geld überhaupt nicht über Herrn Steiner geleitet werden müssen. Eine Verrechnung im Unternehmen Fraschka mit entsprechender Darstellung und Erfassung im Rechnungswesen wäre das einfache und übliche Verfahren. Neben dieser allgemeinen Feststellung ist im einzelnen auf folgende Widersprüche und Ungewöhnlichkeiten
— so sagt der Vertreter des Bundesrechnungshofs —
hinzuweisen. Herr Steiner hat die Schecks nicht über ein Konto des Verbandes, sondern über ein Privatkonto eingelöst.
Alles war zwar angeblich für einen Verband bestimmt, aber alles ist erst einmal gelandet — fast eine Viertelmillion — auf dem Privatkonto des früheren CDU-Abgeordneten Steiner.
Der Empfang der Schecks wurde von Herrn Steiner nicht quittiert. Über die Rückgabe der rund 200 000 DM in bar an Herrn Fraschka wurden keine Quittungen erteilt und sonstige Belege ausgestellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Geldbewegungen von nahezu einer Viertelmillion Mark ohne Quittung! Zu dem Problem hat der Kollege Schäuble leider vergessen, überhaupt Stellung zu nehmen.
Ich bedaure das außerordentlich, und deshalb war es notwendig, dies hier ein bißchen zu vervollständigen.
Herr Fraschka hat sich nach eigenen Aussagen am 26. April 1972 in Bonn aufgehalten. Er hat auch einige wenige Tage vorher aus der Kasse des Deutschen Bundestages eine beachtliche Summe für die Arbeiten, die er macht, bezogen.
Nur, im Gegensatz zu Ihnen — und darin unterscheiden wir uns eben — werden wir dieses nicht mit Spekulationen verbinden, auch wenn man daran interessiert sein könnte, das eine oder andere Interessante über diese Angelegenheit zu denken. Ich bin sehr froh und glücklich, daß es zwischen Ihrem Bericht und dem Bericht des Kollegen Kleinert einen so entscheidenden Unterschied gibt. — Ich darf mich sehr herzlich bedanken.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lenz .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Schluß des Berichts, über den wir hier diskutieren, steht der Antrag, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen und den Ausschuß aufzulösen. Ich hatte bei einer Reihe von Ausführungen, die hier gemacht worden sind, den Eindruck, als würde ein Teil dieses Hauses vielleicht zweifeln, ob man diesen Antrag eigentlich stellen soll; denn es sind gerade z. B. durch die Rede des Kollegen Wischnewski so viele Tatsachen oder Tatsachenbehauptungen oder Tatsachenverdächtigungen oder einfach Verdächtigungen in diese Debatte eingeführt worden,
die im Bericht nicht stehen, Herr Kollege Wischnewski.
— Lassen Sie mich, Herr Kollege Hirsch, mit der gleichen Höflichkeit, wie wir das sonst untereinander zu tun pflegen, meinen Gedanken zu Ende sagen. Meine Damen und Herren, ich bin der erste Redner an diesem Abend, der diesem Ausschuß in keiner Weise angehört hat, weder als Mitglied noch als Stellvertreter, noch als Zeuge.
Herr Kollege Wischnewski, wenn ich an Ihrer Rede, die ich selbstverständlich als Wahrung Ihres Standpunktes hier zur Kenntnis nehme, wie das unsere Pflicht ist, etwas bedauert habe, dann war es, daß der Kollege Steiner nicht die Möglichkeit gehabt hat, auf ihre Vorwürfe hier zu antworten, in der gleichen Weise, wie der Kollege Ehmke diese Möglichkeit hatte. Herr Kollege Wehner, vielleicht sollten wir angesichts dieses Sachverhaltes, daß wir Zeugen in durchaus unterschiedlicher Weise behandeln, doch noch einmal prüfen, ob der Rat, den Ihre Fraktion dem Kollegen Ehmke gegeben hat, sich hier selbst zu verteidigen, statt die Verteidigung durch einen Kollegen vornehmen zu lassen, wirklich der beste Rat war.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6003
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sperling?
Herr Kollege Lenz, sind Sie bereit, mit mir gemeinsam die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu prüfen, ob uns vielleicht nachträglich das Vergnügen noch möglich ist, Herrn Steiner dazu hier zu hören? Ich glaube nicht, daß das den Interessen sonderlich dienlich wäre, die Ihr Kollege Schäuble an den Anfang seiner Rede gestellt hat.
Herr Kollege Sperling, ich bedaure es, wenn zwei Kollegen oder frühere Kollegen, die in einer für sie peinlichen Angelegenheit vor einem Ausschuß ausgesagt haben, unterschiedliche Chancen der Rechtfertigung haben. Ich glaube, das ist ein Anliegen, Herr Kollege Sperling, in dem wir uns nicht so schrecklich unterscheiden sollen.
Im übrigen komme ich auf den Kollegen Steiner inanderem Zusammenhang noch einmal zu sprechen.Meine Damen und Herren, wenn ich diese Debatte als Nichtmitglied des Ausschusses würdige, dann muß ich zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, was im Bericht steht und was heute hier vorgefallen ist. Dieses Parlament ist nicht eine Revisionsinstanz für den Ausschuß,
sondern es wird aufgefordert — das steht darin —, zur Kenntnis zu nehmen. Das gilt nicht nur für das Parlament, das gilt für die deutsche Öffentlichkeit. Dieses Parlament und die deutsche Öffentlichkeit haben zur Kenntnis genommen, wie der Kollege Schäuble hier argumentiert hat, wie der Kollege Ehmke hier argumentiert hat und wie der Kollege Wehner hier argumentiert hat. Dem habe ich eigentlich gar nichts hinzuzufügen; das nehme ich zur Kenntnis.
Wir sollten, meine Damen und Herren, ein Weiteres zur Kenntnis nehmen. Wir haben hier von Verdächtigungen von allen Seiten einiges gehört. Wenn darüber Klage geführt worden ist, was ich zur Kenntnis nehme, daß im Bericht Verdachtsmomente aufgeführt worden sind, so würde ich sagen, was im Bericht gefehlt hat, ist von Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungsseite, heute sattsam nachgetragen worden. Wir sollten einen Schlußstrich unter diese Angelegenheit ziehen.
Einen anderen Punkt möchte ich hier ansprechen, und da komme ich auf übereinstimmende Feststellungen, die auch im Bericht vorhanden sind. Die Anforderungen an den Wahrheitsbeweis, die von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß gestellt werden, sind unwahrscheinlich hoch; da geht nichts durch, was irgendwie noch angreifbar ist.Die Gegenseite davon ist, daß eben manches ungeklärt, weil nicht voll bewiesen ist. Ich muß sagen, ich finde das auch nicht sehr schön, und ich hätte es durchaus begrüßt, wenn es gelungen wäre, alle möglichen Verdachtsgründe durch Gegenbeweise auszuräumen. Das ist nicht möglich gewesen, das war auch nicht zu verlangen.Dann ist eben das einfache Resultat — was man nur feststellen, zur Kenntnis nehmen kann —, daß Verdachtsgründe übrigbleiben. Und, Herr Kollege Wehner, die Art und Weise, wie der Kollege Schäuble argumentiert hat, die ruhige, sachliche, argumentative Art hat, glaube ich, keinerlei Anlaß gegeben, hier von Hexenprozessen zu sprechen.
Ich möchte keinem Kollegen Unrecht tun, weder von Ihrer Seite noch von meiner Seite. Aber es gibt nun einmal Situationen im Leben, wo man durch eigenes Zutun in eine schwierige Lage geraten ist. Das ist das Problem, das wir hier haben. Hier sind einige durch eigenes Zutun in eine schwierige Lage geraten. Das können wir auch nur zur Kenntnis nehmen. Wir können uns alle nur wünschen, daß das anders wäre. Aber wir können das, nachdem es nicht widerlegt werden konnte, eben leider nicht ausräumen.Sie haben es nicht für richtig gefunden, daß Verdachtsgründe aufrechterhalten bleiben. Die Verdachtsgründe, die aufrechterhalten wurden, sind sorgfältig begründet, und es ist versucht worden, sie zu substantiieren, so gut das eben ging. Wenn ich das vergleiche mit dem berühmten Vorwurf des Herrn Bundeskanzlers, da sei Korruption im Spiel — und dahinter stand nichts als die eigene Überzeugung —, und mit den Maßstäben, die Sie gegenüber dem Kollegen Schäuble angelegt haben, hätten Sie in helle Empörung ausbrechen müssen.
Lassen Sie mich zu einem zweiten Punkt kommen. Hier war die Rede von früheren Kollegen, nicht nur von einem. Ich will nicht in eine Persönlichkeitswürdigung eintreten; denn die Betreffenden können sich nicht wehren. Andere können sich wehren. Aber eines möchte ich einmal in aller Nüchternheit feststellen — das geht mehrere, zwei an —: Außer in dem Komplex, in dem diese beiden Herren parlamentarisch in Erscheinung getreten sind, sind sie in einer ganzen Legislaturperiode nicht ein einziges Mal parlamentarisch hervorgetreten. Das ist eine Frage nicht nur an uns, das ist auch eine Frage an Sie: Geht eigentlich bei den Aufstellungen von Kandidaten — der Kollege Hirsch hat davon gesprochen —, alles so vor sich, daß wir wirklich sicher sind, daß Kollegen in dieses Haus kommen, die über die Fähigkeit, in einem Untersuchungssauschuß Zeuge zu sein, hinaus auch noch weitere Beiträge in diesem Hause beibringen?Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß einiges zum Wesen und zur Aufgabe von Untersuchungsausschüssen sagen. Nach einer weitverbreiteten Wunschvorstellung — daß das eine Wunschvorstellung ist, haben wir heute gesehen — sind Untersuchungsausschüsse objektive, unpartei-
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6004 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Lenz
ische Gremien, die sich gemeinsam nach besten Kräften bemühen, die Wahrheit herauszufinden. So werden sie jedenfalls vielfach dargestellt.In der Praxis erleben wir immer wieder, daß das Verfahren vor einem Untersuchungsausschuß einem Mannschaftswettkampf gleicht, bei dem verschiedene Mannschaften gegeneinander angetreten sind, wie Helmut Schmidt das einmal ausgedrückt hat. Ich sehe in dem Wettkampfcharakter und in dem Bemühen um Wahrheit nicht notwendigerweise Gegensätze, obwohl es hier natürlich Interessenkonflikte geben mag. Aber das ist ja kein Sonderfall. Es gibt viele streitige Verfahren, in denen man sich bemüht, die Wahrheit herauszufinden. Nur ist es eben die Frage, ob unsere Regeln, die Regeln der Strafprozeßordnung, dafür geeignet sind.Wenn ich die Diskussion über den Grundsatz „in dubio pro reo" hier höre, frage ich mich, ob es in einem parlamentarischen Untersuchungsverfahren eigentlich einen Angeklagten gibt. Wenn es keinen Angeklagten gibt, gibt es auch keinen Beweisgrundsatz zugunsten des Angeklagten. Ich würde daraus schließen — Herr Kollege Schäfer, darin sind wir wahrscheinlich völlig einig —, daß wir in diesem Punkte ein völlig neues parlamentarisches Untersuchungsverfahren haben müssen, das auf die Tatsache, daß es zwar keine Angeklagten, aber Betroffene gibt, mehr Rücksicht als das gegenwärtige Verfahren nimmt, das einfach Zeugen in völlig unterschiedlichen Rollen bringt.Der Untersuchungsausschuß hat ja auch mit Recht gesagt, die Regeln seien nicht geeignet. Wir brauchen, so meine ich, neue Regeln, die dem Charakter des Untersuchungsausschusses als einem Mannschaftswettbewerb um die Wahrheit gerecht werden, und wir sollten die Vorstellungen von einem neutralen und unparteiischen Gremium ein für allemal fallen lassen, und wir sollten die Vorstellung fallen lassen, daß in einem solchen Gremium die Mehrheit oder die Minderheit allein für sich die reine Wahrheit gepachtet hat.
In diesem Wettbewerb um die Wahrheit in einem solchen Untersuchungsausschuß wird nichts bestehen, was nicht hieb-, stich- und säurefest bewiesen werden kann. Auch dafür hat die heutige Debatte — das müssen wir zur Kenntnis nehmen — Ansatzpunkte genug gegeben. An den Beweis werden gerade bei dem Wettbewerbscharakter des Untersuchungsverfahrens die strengsten Anforderungen gestellt. Nur so kann der Untersuchungsausschuß zu übereinstimmenden Beweisergebnissen und vor allen Dingen zu übereinstimmenden Beweiswürdigungen kommen.Eines möchte ich noch zu den Regeln sagen. Es ist mehrfach davon gesprochen worden, daß die Minderheit in der Stellung von Anträgen nicht behindert worden ist. Kollege Hirsch, niemand unterstellt Ihnen — auch der übrigen Mehrheit des Ausschusses nicht —, daß das die Absicht war. Nur meine ich, man sollte eine derartige Selbstverständlichkeit, daß man den Antragsteller an der Aufklärung des von ihm zur Aufklärung gestellten Sachverhalts nichthindert, nicht so lange betonen, bis man glaubt, es sei eine besondere Gnade widerfahren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer?
Aber selbstverständlich, Herr Kollege.
Herr Lenz, hielten Sie es nicht für zweckmäßiger, wenn Sie statt dieser Äußerung eben deutlich machen würden, daß in diesem und im letzten Untersuchungsausschuß zum erstenmal — in früheren Zeiten war das nicht so — der Versuch gemacht wurde, dem Minderheitenrecht zur Einsetzung auch das Minderheitenrecht für Beweisabschlüsse folgen zu lassen, und daß die Frage der Minderheit und der Nichtüberstimmbarkeit einer Minderheit auch neue Probleme aufwirft?
Ich glaube, Herr Kollege Schäfer, so zu verfahren entspricht unserem gemeinsamen Erkenntnisstand seit vielen Jahren. Ich glaube, es ist keine besonders rühmenswerte Sache, wenn wir das von uns allen selbstverständlich Anerkannte hier praktizieren.
Ich glaube, wir sollten die beiden Punkte, die ich soeben nannte, klar und deutlich vor der Offentlichkeit vertreten. Ein parlamentarisches Untersuchungsverfahren ist ein Wettbewerb um die Wahrheit, in dem nur das unzweifelbar Bewiesene Aussicht hat, übereinstimmend festgestellt zu werden. Dem können Sie doch zustimmen, Kollege Schäfer!
Es ist absolut kein Gerichtshof. Ich frage mich auch, ob es angesichts dieses Wettbewerbscharakters möglich sein wird, ein gemeinsames Untersuchungsvorverfahren einzuführen; aber wir werden anläßlich des 'von Ihnen vorgeschlagenen Ausschusses über Regelungen für Untersuchungsausschüsse sicherlich noch Aussicht haben, darüber zu sprechen.Wenn wir uns darüber im klaren sind und wenn sich die Öffentlichkeit darüber im klaren ist, daß hier kein Gericht, keine Einstimmigkeit, sondern Wettbewerb und Streit herrschen, und wenn wir wissen, daß Beweise sehr schwer zu erbringen sind, werden uns und der Öffentlichkeit falsche Hoffnungen und große Enttäuschungen erspart 'bleiben, die im Ergebnis dem Ansehen des Parlaments nicht zuträglich sind. Genauso frage ich mich immer, ob diese Art von Debatten uns tatsächlich so schrecklich zuträglich ist.
Das Untersuchungsverfahren, meine Damen und Herren, kann dann bleiben, was es bisher gewesen ist: daß trotz aller Fehler, Mängel und Schwächen noch immer am besten geeignete Instrument im
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Dr. Lenz
Arsenal des Parlaments zur Untersuchung von Mißständen im eigenen Haus und in der Regierung.Meine Fraktion wird den Schlußanträgen des Ausschusses zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Zeit ist vorgerückt, einige Worte noch zum Schluß.
Vielem von dem, was insbesondere Herr Kollege Lenz soeben gesagt hat, kann man, wie so oft, zustimmen, einigem möchte ich widersprechen. Insbesondere sind wir heute, wenn wir jetzt einmal zum Schluß in die Zukunft schauen, sehr weit auseinander in der Frage, wie das Ergebnis der Untersuchung schließlich von Mehrheit und Minderheit dargestellt werden sollte, wenn die Einrichtung des Untersuchungsausschusses sinnvoll sein soll.
Es ist hier von einigen Vorrednern vom notwendigen Ansehen des Parlaments, vom Vertrauen in das Parlament und wie man es am besten herstellen kann geredet worden. Ich kann keinen Anhaltspunkt dafür sehen, daß die auf Grund von Verdachtsmomenten aufgenommene Untersuchung durch einen Untersuchungsausschuß zweckmäßigerweise mit dem Aussprechen eines Verdachtes abgeschlossen werden soll, von dem dann allerdings — im Gegensatz zum Beginn des Verfahrens —feststeht, daß eine weitere Untersuchung dieses nunmehr am Schluß ausgesprochenen Verdachts nicht und durch gar kein Gremium — jedenfalls in diesem Range — möglich ist. Das ist eine ganz entscheidende Frage.
Und wir glauben doch sicher nicht, daß wir Vertrauen durch Ausstreuen von Verdacht, durch weiteres Bezweifeln, durch sorgfältiges Zusammentragen von Indizien, von denen feststeht, daß sie zum Beweis nicht reichen, erreichen können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Niegel?
Bitte sehr, Herr Niegel!
Herr Kollege, wenn Sie von Verdacht sprechen und wenn vorhin der Herr Wischnewski glaubte, Herrn Steiner verteufeln zu müssen,
frage ich Sie: Ist Ihnen und der Gruppe, die Herrn Wienand verteidigt, bekannt, daß Herr Wienand Herrn Steiner zunächst nicht gekannt hat, dann zugeben mußte, in Schelklingen nicht über Geld und dann doch über Geld gesprochen zu haben, dann einräumen mußte, daß Geld im Spiel war, dann, daß es 250 000 Mark waren, und daß, wenn über Steiner gesprochen wird, auch Ermittlungsverfahren gegen
Herrn Wienand laufen, und zwar hinsichtlich Paninternational?
Herr Niegel, es wird Ihnen schwerlich gelingen, auch nur diesen kleinen Teil des Sachverhalts in Frageform zu kleiden und die Diskussion jetzt darüber noch einmal zu eröffnen, die hier über viele Details geführt worden ist, die aber über die ganze Fülle der Details nur unter einigen wenigen geführt werden konnte, denen sich hoffentlich — die Hoffnung ist ja auch von anderer Seite schon geäußert worden — in der Zukunft noch einige mehr anschließen, die einmal von wirklich objektiver Seite aus sagen, was hier zweckmäßigerweise geschehen konnte oder nicht und wo etwa an irgendeiner Stelle — z. B. im Bericht der Mehrheit — etwas ausgelassen oder nicht gewürdigt worden ist, was hätte gewürdigt werden sollen. So etwas höre ich sehr ungern.Ich habe als den einzigen Punkt, der dem Bericht der Mehrheit, den zu entwerfen ich die Ehre hatte, insofern angelastet worden ist, vermerkt: wir seien den Vorwürfen, die von anderer Seite gegen Herrn Ehmke vorgebracht worden seien, nicht würdigend nachgegangen. Für mich gibt es nach den klaren Äußerungen des Präsidenten des Bundesrechnungshofes und der einleuchtenden Einlassung eines amtierenden Bundesministers keine Veranlassung, daran weiter herumzuspekulieren, wenn es für solche Spekulationen keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt.
An diesen tatsächlichen Anhaltspunkten hat es gefehlt, und dann erreicht das, was Sie hier an weiterer Würdigung verlangt haben, nichts weiter als eine Gefährdung des Ansehens keineswegs unwichtiger Staatsorgane. Deshalb ist an dieser Stelle dargestellt worden, was Tatsache war, wie ich mich bemüht habe, das an allen anderen Stellen des Berichts auch zu tun, mehr allerdings nicht.Der Bereich der Spekulation — das noch einmal zu Ihnen, Herr Niegel — ist von Herrn Wischnewski hier sehr deutlich abgegrenzt worden. Wir haben uns an keiner Stelle auf diesen Weg begeben und sind dabei konsequent geblieben. Wenn Sie diese Dinge einführen, dann muß das allerdings, wenn nicht völlige Waffenungleichheit eintreten soll, mit Notwendigkeit zu dem führen, was Sie eben in Ihrer Frage noch einmal beklagt haben.Ich hatte aber an sich nicht die Absicht, in diese Detailstreitigkeiten, die wirklich endlos führbar sind, wieder einzutreten, sondern ich hatte die Absicht, abschließend auch und gerade die Mitglieder der Opposition hier im Hause zu fragen, ob man für die Zukunft wirklich meint, bei der heute, wie ich glaube, mehr aus politischen als aus juristischen Gründen aufgestellten These bleiben zu können, man könne das Ergebnis in seinen Beschlüssen und nicht etwa in einer Bemerkung in der Darstellung, wie man sie sonst in Urteilsgründen findet, mit der Feststellung eines fortbestehenden Verdachtes beenden, wenn man vorher festgestellt hat, daß die eingangs erhobenen Vorwürfe nicht erwiesen wer-
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Kleinertden konnten. Wenn alle unsere Gerichte, wenn alle anderen staatlichen Stellen so verfahren, daß am Schluß eines solchen Prozesses — so will ich es hier einmal nennen — der Rechtsfriede in jedem Fall für die Bürger des Landes wiederhergestellt sein muß, nachdem alles untersucht worden ist, dann, meine ich, muß das in mindestens dem gleichen Maße wie für alle Bürger in einem solchen Verfahren auch für die Mitglieder dieses Hohen Hauses nach Abschluß einer solchen Untersuchung Geltung haben. Nicht im Interesse des einen oder des anderen, der heute oder morgen hier in eine Angelegenheit verwickelt wird durch Vorwürfe, von denen zunächst keiner weiß, ob sie stichhaltig sind oder nicht, sondern im Interesse der Zusammenarbeit unter allen Kollegen des Hauses, im Interesse des Ansehens des Hauses insgesamt, muß auch hier zum Schluß der Rechtsfriede wiederhergestellt sein. Deshalb bin ich der Meinung, bei den Überlegungen zum Verfahren für die Zukunft werden wir diesen Gedanken beachten müssen, daß am Schluß auch da, wo nichts erwiesen werden konnte, ohne Ansehen der Person und ohne Ansehen der Fraktion feststehen muß: es ist das äußerste getan worden, um eine Klärung herbeizuführen; sie konnte nicht herbeigeführt werden. Dann gilt aber jeder im Lande als so verdächtig wie viele Institutionen und Personen, die man hier noch im Rahmen von Spekulationen hätte hineinziehen können, und dann gilt erst recht jeder im Lande als so unschuldig wie jeder andere, gleichgültig wie er vor Eingang in dieses Verfahren ausgesehen hat.
Wenn wir das nicht zum Grundsatz machen, können wir uns Untersuchungsausschüsse in schwierigen Fällen eigentlich ersparen.Ich meine, die Arbeit der letzten zehn Monate hat sich in mehr als einer Weise gelohnt. Es steht jetzt zwar nicht fest, wie es gewesen ist, aber es steht in einer Fülle von Einzelfragen fest, wie es mit Sicherheit nicht gewesen ist, und damit sind für sehr viele Beteiligte innerhalb und außerhalb des Hauses in Zukunft weitere Verdächtigungen und Spekulationen unserer Auffassung nach ausgeschlossen. Das war das Ziel unserer Arbeit, und ich glaube, wir sollten uns für dieses Mal und besonders für die hoffentlich nicht so bald fällig werdenden nächsten Male daran im Interesse des ganzen Hauses halten.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses. Wer dem Antrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. Dezember 1973 über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik
— Drucksache 7/1832 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
Das Wort hat der Herr Bundesminister Scheel.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Republik, über den wir hier zu befinden haben, ist das letzte Glied in der Reihe grundsätzlicher Regelungen unserer Ostpolitik. Er macht den Weg frei zur Anbahnung von Zusammenarbeit und Austausch, wie sie zwischen unmittelbaren Nachbarn in Mitteleuropa normal und notwendig sind. Über den Vertrag ist lange verhandelt worden. Die Etappen auf dem Wege zum Vertragsabschluß sind Ihnen bekannt, sind in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages auch im einzelnen besprochen worden.Die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik betrachtet den Vertrag als eine notwendige Abrundung unserer Osteuropapolitik. Diese Auffassung ist richtig. Dieses Vertragswerk ist nicht der Gegenstand, so meine ich, an dem die Leidenschaften sich entzünden sollten. Natürlich werden Regierung und Opposition entsprechend ihrer Aufgabenverteilung im Parlament die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Vertrages verschieden bewerten.
Aber die Debatte darüber wird zeigen, daß die Fairneß und der Sinn für Proportionen, den unsere Bürger zu diesem Thema gezeigt haben, auch dem Parlament eigen sind.Über aller notwendigen Sachlichkeit wollen wir jedoch eines nicht vergessen: Der Vertrag ist auf die Zukunft gerichtet. Er sollte bei richtigem Gang der Dinge ein Tor öffnen zum größeren Austausch, zur Entkrampfung und zu mehr gegenseitigem Verständnis. Er sollte ein solches Tor öffnen; ich sage nicht, daß es gleich geschehen wird. Ich wünschte es, daß es so kommt;
aber ich unterschätze nicht die Schwierigkeiten. Sie liegen in diesem Fall ebenso wie in unserem Verhältnis zu anderen Staaten Osteuropas darin, daß die Zusammenarbeit, daß die Begegnung der Menschen wegen der Unterschiedlichkeit der Systeme nicht spontan sich entwickeln, sondern vertraglich organisiert werden müssen. Ich verkenne auch nicht die Belastungen, die aus der Vergangenheit stammen; sie wirken noch nach. Dies gilt sowohl für das Verhältnis zwischen Tschechoslowaken und Deutschen seit der Zeit des ersten Weltkrieges wie für Hitlers Völkerrechtsbrüche von 1938 und 1939, es gilt für die Zeit des Krieges und für das Unrecht, das bei Kriegsende begangen wurde; es gilt ebenso für die Perioden des kalten Krieges wie für spätere Ereignisse, an
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Bundesminister Scheeldenen die Bundesrepublik Deutschland nicht beteiligt war.
Deshalb ist in Art. I und II die Rede von der Vergangenheit. Sie wird nicht umfassend beschrieben, sondern nur insoweit, als sie zur Erreichung eines praktischen Vertragsabschlusses herangezogen werden mußte. Ich sage klar: die Vertragspartner haben sich in der Beurteilung gewisser schicksalhafter Ereignisse seit 1938 nicht einigen können. Der Vertrag ist nicht dazu da, dies zu verschleiern. Er soll jedoch auch nicht bei der Feststellung dieser Tatsache stehenbleiben. Das Nachbarschaftsverhältnis zwischen den beiden Völkern, die seit über acht Jahrhunderten miteinander in enger Berührung stehen, mußte endlich neu geordnet werden. Es mußte neu geordnet werden auf der Basis der bestehenden Wirklichkeit, denn nur so gibt es einen Ausbruch aus dem Teufelskreis von Schuld und Gegenschuld und damit eine Chance für einen Neubeginn. Soviel, meine verehrten Kollegen, zum politischen Sinn und Ziel des Vertrages.Nun zu dem Brennpunkt der bisherigen Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und zum konkreten Gegenstand der von Bayern und vier anderen Bundesländern geübten Kritik. Es handelt sich um den Gehalt der Artikel I und II. Diese Artikel regeln die künftige Behandlung des Münchener Abkommens in den gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei. Wie Sie alle wissen, stand hier die gegenteilige Auffassunng beider Seiten über die ursprüngliche Rechtswirksamkeit des Münchener Abkommens einer praktikablen Regelung des ganzen deutschtschechoslowakischen Verhältnisses im Wege. Das Münchener Abkommen hat durch die von Großbritannien, Frankreich und Italien während des Krieges abgegebenen Erklärungen seine ursprüngliche Rechtswirksamkeit verloren. Das haben wir niemals bestritten. Aus Rechtsgründen und um der historischen Wahrheit willen mußten wir aber daran festhalten, daß das Münchener Abkommen seinerzeit im Herbst 1938 rechtswirksam zustande gekommen und effektiv durchgeführt worden ist. Das hatte zur Folge, daß die Gebietshoheit in den Sudetengebieten auf das Deutsche Reich übergegangen war. Die Tschechen haben dagegen den Standpunkt vertreten, das Münchener Abkommen sei von Anfang an nichtig gewesen.Diese unterschiedliche rechtliche Beurteilung des Münchener Abkommens hat sich in den mehr als zweijährigen Sondierungen und Verhandlungen nicht ausräumen lassen. Beide Seiten haben an ihrer Rechtsauffassung festgehalten. Es ist uns aber gelungen, uns darüber zu einigen, wie das Münchener Abkommen künftig in den bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei behandelt werden soll, um keinen Streitstoff mehr zwischen den beiden Ländern zu bilden.Diese Vereinbarung ist in den Artikeln I und II des Vertrages enthalten. Sie räumt den MünchenerVertrag als Verkehrshindernis aus dem Wege. Sie besagt, daß die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakei das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 für ihre „gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig" betrachten. Das ist der Inhalt des Art. I. Die Worte „nach Maßgabe dieses Vertrages" weisen auf Art. II des Vertrages hin, der auch gelesen werden muß, bevor sich die rechtliche Bedeutung des Art. I beurteilen läßt. Aus Art. II geht nämlich hervor, daß aus der in Art. I getroffenen Vereinbarung keine rechtlichen Folgerungen gezogen werden, wie man sie aus einer Nichtigkeit des Münchener Abkommens vielleicht hätte ziehen können, wenn sie in einer unqualifizierten Form festgestellt und mit keinerlei Vereinbarung über ihre Konsequenzen verknüpft worden wäre. Dies ergibt sich im einzelnen aus den drei Absätzen des Art. II des Vertrages und ist in der dem Hohen Hause vorliegenden Denkschrift im einzelnen erläutert.Diese vertragliche Regelung hindert weder uns noch die Tschechoslowakei, die eigene rechtliche Beurteilung des Münchener Abkommens aufrechtzuerhalten. Irgendwelche Folgerungen, die für die Bundesrepublik Deutschland oder deutsche Staatsangehörige und Deutsche im Sinne des Grundgesetzes rechtlich nachteilig wären, können aus dem Vertrag aber nicht hergeleitet werden. Die Bedeutung des Art. I liegt daher im Grunde darin, daß der Tschechoslowakei eine politische Genugtuung mit Rücksicht darauf gegeben wird, daß sie das ohne ihre eigene unmittelbare Beteiligung zustande gekommene Münchener Abkommen vom 29. September 1938 immer als eine Schmach empfunden und darin — nicht ganz zu Unrecht — einen folgenschweren ersten Schritt auf dem Wege zu der vollständigen Annexion des eigenen Staates im März 1939 erblickt hat.Für uns bedeutet der Art. I praktisch, daß wir uns künftig nicht mehr auf die am 29. September 1938 in München unterzeichneten Dokumente als solche berufen werden, um aus ihnen rechtliche Folgerungen abzuleiten. Unsere Rechtsposition wird sich vielmehr künftig — was den Status der Sudetengebiete in der Zeit vom Oktober 1938 bis zum Mai 1948 und die Rechtsstellung der Sudetendeutschen anbelangt — auf den Art. II des Vertrages und auf diejenigen Rechtsakte stützen, durch die das Münchener Abkommen seinerzeit durchgeführt worden ist. Auf Grund dieser Rechtsakte hat in den Sudeten- gebieten gut sechseinhalb Jahre lang deutsches Recht gegolten. Dazu gehören insbesondere die unter Beteiligung der Tschechoslowakei erfolgte Festlegung der neuen Grenzen durch den Internationalen Ausschuß, der Staatsangehörigkeits- und Optionsvertrag vom 20. November 1938, der Vertrag über die Überleitung der Rechtspflege vom 19. Dezember 1938 und die Einführung der deutschen Rechtsordnung. Diese Rechtsakte und ihre Rechtswirkungen werden durch den Art. I des Vertrages vom 11. Dezember 1973 nicht berührt.Die Tschechoslowakei hat darauf beharrt, das Münchener Abkommen und seine Folgen in den Mittelpunkt der Verhandlungen zu stellen. In dieser
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Bundesminister ScheelHinsicht hat der Vertrag den Charakter eines Korn-promisses. Wenn beide Seiten darauf bestanden hätten, ihre eigene Rechtsauffassung kompromißlos durchzusetzen, wäre der Vertrag nicht zustande gekommen.Politische Verträge zwischen souveränen und gleichberechtigten Staaten sind keine Gerichtsurteile, in denen strittige Fragen im Sinne der einen oder der anderen Partei rechtskräftig entschieden werden. Mit diesem Vertrag erstrebten wir einen modus vivendi, der die vorhandenen Streitfragen entschärft und ihnen die praktische Bedeutung soweit wie möglich nimmt. Diesen Zweck hat der Vertrag erfüllt. Mit dem dazugehörigen Briefwechsel gibt er den Menschen und namentlich den Sudetendeutschen verbesserte Chancen.In dem Briefwechsel über humanitäre Fragen erklären die beiden Regierungen ihre Absicht, diesem Komplex besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die tschechoslowakische Regierung sichert zu, Anträge tschechoslowakischer Bürger deutscher Nationalität auf Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland wohlwollend zu behandeln. Beide Regierungen wollen den Reiseverkehr und Verwandtenbesuche zwischen den beiden Ländern technisch verbessern und weiterentwickeln.Der einseitige Brief der tschechoslowakischen Seite stellt klar, daß nach tschechoslowakischem Recht strafbare Handlungen von Sudetendeutschen zwischen 1938 und 1945, auf die nicht die Todesstrafe steht, verjährt sind. Damit ist ein mögliches psychologisches Hindernis für unsere Landsleute, die ihre alte Heimat besuchen wollen, beseitigt.Es ist bekannt, daß uns die konsularische Vertretung von West-Berlin bei den Verhandlungen besondere Sorge gemacht hat. Die Einwände Bayerns und der vier anderen Bundesländer haben sich auch darauf bezogen.Zunächst möchte ich feststellen, daß die konsularische Betreuung unserer Mitbürger aus Berlin durch die Bundesrepublik Deutschland in der Tschechoslowakei nicht Gegenstand des Vertrages ist. Diese Frage stellte sich vielmehr im Zusammenhang mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern, die ja inzwischen erfolgt ist.Ich möchte hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Dieser Vertrag kommt den Menschen in der Bundesrepublik und in West-Berlin in völlig gleichem Maße zugute. Soweit er Regelungen enthält, die unter Berücksichtigung des Statusvorbehalts der Drei Mächte auf West-Berlin und die Westberliner angewandt werden können, ist West-Berlin ausdrücklich einbezogen. Das gilt auch für den Briefwechsel über die Regelung humanitärer Fragen. Ebenso ist in einem Briefwechsel, der nicht zu diesem Vertrag gehört, ausdrücklich klargestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland die konsularischen Dienste in der Tschechoslowakei im Einklang mit dem Viermächteabkommen auch für die in West-Berlin wohnenden Deutschen ausüben wird. In keinem einzigen Punkt sind also die Berliner schlechter gestellt als ihre Landsleute in der Bundesrepublik.Die besondere Frage der Übermittlung von Rechtshilfeersuchen aus West-Berlin ist, wie Sie wissen, noch nicht abschließend geklärt. In einer grundsätzlichen Absprache wurde noch vor Aufnahme der diplomatischen Beziehungen in Aussicht genommen, auch die Rechtshilfegewährung in einer Weise zu regeln, die West-Berlin berücksichtigt.Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, es sind noch manche Fragen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der tschechoslowakischen Republik zu regeln, die auch nicht Gegenstand des Vertrages waren. Dieser Vertrag gibt keine amtliche Interpretation der Vergangenheit und keine einklagbaren Garantien für die Zukunft des deutsch-tschechoslowakischen Verhältnisses. Er schafft ein praktisches Fundament, auf dem wir dieses Verhältnis mit sachlicher Umsicht gestalten können. Er gibt den Regierungen und ,den Menschen unserer beiden Länder die Chance zu einem Neubeginn. Diese Bemühungen sind nicht aus dem großen Prozeß der inneren Wandlung Europas zu isolieren, der sich in diesen Jahren vollzieht. Jeder erfolgreiche Schritt zur Zusammenarbeit und Versöhnung in ganz Europa wird letztlich auch Deutschen und Tschechoslowaken zugute kommen, und jeder besonnene Schritt der Verständigung zwischen Deutschen und Tschechoslowaken ist ein Beitrag zur inneren Heilung unseres Kontinents.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Marx.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wohl auch mit einem Blick auf den so gefüllten Saal haben Sie, Herr Bundesminister, ,die Formulierung verwendet, daß 'dies keine Gelegenheit sei, die Leidenschaften besonders zu entzünden. Ich hoffe, daß es uns allen gelingt, das, was wir sagen müssen und was zu sagen wir Veranlassung sehen, jedem zu sagen, aber in einer Weise, die in der Tat die Leidenschaften nicht unnötig entzündet.Meine Damen und Herren, der uns vorliegende Vertrag mit Prag und die zu ihm gehörenden Dokumente waren mit der Hoffnung erwartet worden, sie seien besser ausgehandelt als jene anderen Verträge mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin. Eine Zeitlang schien es so, als wenn dies ,dem Auswärtigen Amt gelinge. Aber es schien nur so. Bald zeigte sich, daß zähes und intelligentes Verhandeln am Ende wenig nützt, wenn politische Weisungen der Regierung, wenn deren unbegreifliche Ungeduld und wenn offenbar festliegende Zusagen an die Vormacht des Warschauer Pakts zum Abschluß drängen. So ist der Vertrag zwischen unserem Lande und der CSSR für uns enttäuschend, in vielen seiner Formulierungen nicht akzeptabel. Insoweit paßt er sich in das gesamte Vertragsgeflecht mit den Oststaaten ein.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6009
Dr. MarxLeider, Herr Bundesminister, sind auch hier Abmachungen mehrdeutig, leider enthält auch dieser Vertrag einen Grunddissens, den unauflösbaren Widerspruch der Vertragspartner in wichtigen Dingen. Leider wird auch hier die Geschichte falsch dargestellt. Leider stehen auch diesmal Leistung und Gegenleistung in keinem für uns annehmbaren Verhältnis. Leider sind auch diesmal Forderungen des Partners im Vertragstext selbst, unser eigenes Verlangen entweder gar nicht oder nur in Briefwechseln und Begleitpapieren angedeutet, ohne daß diese ,den gleichen verbindlichen Wert hätten, wie er dem Vertrag zukommt.Die einzelnen Probleme, die hier angesprochen werden, reichen oft weit in die Geschichte zurück. Sie hätten — das ist unsere Überzeugung — in einer Weise geregelt werden können, die wirklich den Ausgleich zwischen den Völkern, die Bewältigung des Schrecklichen und Vergangenen und die Gestaltung einer dauerhaften, friedlichen Zukunft ermöglicht hätte. Vielleicht — aber darüber werden wohl erst später die Historiker grübeln, wenn sich einmal ,die sowjetischen Archive geöffnet haben — war dies alles aber gar nicht mehr zu erreichen, weil die bei den Bahr-Gromyko-Verhandlungen in Moskau im Frühjahr 1970 vorgeprägten Regelungen ins sowjetische Konzept passen mußten und diese den Spielraum der Verhandler, auch der deutschen, auch ,der tschechischen, erheblich einengten.
Schon im Gromyko-Papier von Anfang März 1970, also dem Vorgänger des sogenannten Bahr-Papiers, war die Tatsache festgehalten, daß die Sowjetunion als Vormacht der Oststaaten und entsprechend den Maximen der Breschnew-Doktrin von vornherein und mitbestimmend sich der bilateralen deutschtschechoslowakischen Probleme annahm. Die Bundesregierung hatte sich damals, was unser Verhältnis sowohl zur Tschechoslowakei als auch zu Polen anlangt, auf diese merkwürdige und folgenreiche Einwirkung und Mitwirkung der Sowjets eingelassen.Der Vertrag mit Prag sollte, wie Sie eben gesagt haben, Herr Bundesminister, das „letzte Glied einer Kette" sein; es sollte das gefeierte Schlußstück der Ostpolitik werden. „Schlußstein" sagten diejenigen, welche den Glauben an ein festes und dauerhaftes Gebäude der Ostpolitik hatten. „Brücke" haben Sie selbst, Herr Bundesminister Scheel, die Sache im Bundesrat genannt. Sie fügten hinzu: eine Brücke, die einen „normalen und lebhaften Verkehr" zwischen Ost und West ermöglichen solle.Wir fürchten, daß auf dieser Brücke der Verkehr recht einseitig, scharf beobachtet, gefiltert, kontrolliert fließen wird, und — um im Bilde zu bleiben — an den sowjetischen Kontrolleuren kommt nach all den Vereinbarungen über Brückenzoll und Passierbedingungen keiner mehr vorbei.Kaum war der Text des Vertrages nach vielem Hin und Her, nach verwirrenden Erklärungen und wechselnden Hinweisen mit einem Partner abgeschlossen, der kaum als Herr seines eigenen Geschicks, vielmehr als Vasall einer fremden Machtangesehen werden muß, da tauchten neue Schwierigkeiten auf.
Die Prager Unterhändler sahen sich nicht in der Lage, einer konsularischen Betreuung auch Berliner juristischer und anderer Institutionen durch die künftige deutsche Botschaft an der Moldau zuzustimmen. Sie sahen sich dazu nicht nur nicht in der Lage, sondern sie durften es nicht.Als Bundeskanzler und Außenminister dann ihre für den 6. September vorgesehene Reise absagten, wuchs — ich sage das ganz offen — hierzulande die Spannung, ob die Bundesregierung endlich nach so vielen bitteren Erfahrungen bereit sei, diese Position durchzuhalten und eine Sache, von der wir glauben, es war eine gerechte Sache, durchzufechten.Zyniker allerdings meinten damals, sie werde nach kurzem Widerstand wiederum nachgeben, und ihrer Pfiffigkeit würden schon rechtzeitig neue Erklärungen, Formeln, ja Erfolgsmeldungen gelingen. Leider, meine Damen und Herren, hatten diese Zyniker recht. Ich selbst, Herr Bundesminister, kann Ihr Auftreten im Zweiten Deutschen Fernsehen am Abend des 1. September des vergangenen Jahres nicht vergessen. Ich war damals verblüfft und zugleich von einiger Hoffnung erfüllt, daß Sie bei Ihrer dort ausgesprochenen Auffassung bleiben würden. Sie sagten nämlich damals wörtlich — ich darf mit Erlaubnis der Frau Präsidentin zitieren —:... die Sowjetunion spricht natürlich nicht für die sozialistischen Staaten, auch nicht für die Tschechoslowakei.Mein Zwischenruf lautet — verzeihen Sie bitte —: O heilige Einfalt! Und Sie haben hinzugefügt:Wir haben es hier mit einem Partner zu tun, mit dem wir direkt fertig werden müssen und mit dem wir direkt zu Ergebnissen kommen müssen. Das heißt, mit anderen Worten, diese Frage, die wir jetzt mit der Tschechoslowakei zu regeln haben, müssen wir mit der Tschechoslowakei regeln.Diese Sätze wollen wir hier festhalten — deshalb habe ich sie zitiert — und auch jenen anderen, 20 Tage später, vom 20. September! Sie hatten damals ein Interview gegeben, auch wieder im Zweiten Deutschen Fernsehen, am Rande der Diskussionen bei den Vereinten Nationen. Da fragte Sie der Interviewer — ich zitiere —: „Sie haben ja selber gesagt, Sie würden mit Herrn Gromyko nicht über Prag sprechen?" Und darauf antwortet der deutsche Außenminister mit aller Entschiedenheit — ich zitiere wiederum —:Nein, auf gar keinen Fall! Ich habe ja meinen tschechoslowakischen Kollegen hier in New York auch, und ich werde ihn auch noch sehen. Ich werde natürlich nicht mit Herrn Gromyko über Fragen sprechen, die wir mit der Tschechoslowakei zu regeln haben.Und Sie fügten hinzu, Herr Bundesminister, daß Siemit den Russen zwar über das Berlin-Abkommen
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Dr. Marxsprächen, „aber eher allgemein, nicht bezogen auf Schwierigkeiten, die wir mit Dritten haben".Als dann Ihre Reise in die Sowjetunion näher rückte, haben Sie am 24. September in einem Interview mit der „Welt" apodiktisch behauptet — ich zitiere auch dies —:Ich werde aber mit Sicherheit nicht über das Problem mit der Tschechoslowakei in Moskau sprechen. Ich bin fest davon überzeugt, Herr Gromyko wird, wenn ich über die Tschechoslowakei sprechen wollte, die Hände abwehrend hochheben.Welche Worte, Herr Kollege Scheel! Ich muß Ihnen. sagen: mit Heiterkeit kann man über die Dinge, die sich seinerzeit abspielten, nicht hinweggehen. Vielleicht hob — ich weiß es nicht — Herr Gromyko die Hände, aber nicht abwehrend, sondern um unseren Bundesaußenminister zu zwingen, nun erst recht mit ihm über die Tschechoslowakei zu sprechen und in das Vertragswerk — das ist ja ein Ausdruck, der von der Regierung stammt — die russische Mitwirkung fest hineinzuschreiben.In der Verbalnote, die unter der Verantwortung des Auswärtigen Amtes die damalige Handelsvertretung der Bundesrepublik in Prag am 23. November der tschechoslowakischen Regierung zusandte — sie ist in der kleinen Broschüre des Bundespresseamtes in unmittelbarer Nachbarschaft mit demVertrag abgedruckt —, liest man denn auch — FrauPräsidentin, ich bitte, auch dies zitieren zu dürfen —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
— nun wird die Erklärung zitiert —Beide Seiten vereinbarten, anschließend in einem Meinungsaustausch zu Fragen der Gewährung von Rechtshilfe einzutreten. Was die Gewährung von Rechtshilfe für Westberliner Gerichte betrifft, ... so beabsichtigen sie, diese Frage in einer für die interessierten Seiten annehmbaren Form entsprechend dem Viermächteabkommen vom 3. September 1971 zu regeln ...Und in der Verbalnote heißt es dann weiter: Dazu kann ich— also der Leiter der Handelsmission im Auftrag seines Ministeriums —folgendes feststellen: Auf der Basis dieser Abrede sollen verschiedene Formen des Rechtshilfeverkehrs erwogen werden einschließlich der Möglichkeit des direkten Verkehrs zwischen Gerichten der Sowjetunion und Gerichten der Bundesrepublik Deutschland und Gerichten der Sowjetunion und Westberliner Gerichten.Und der Schlußteil enthält folgenden Passus:Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Tschechoslowakischen SozialistischenRepublik wird um Mitteilung gebeten, ob dietschechoslowakische Regierung bereit ist, auf entsprechender Grundlage zusammen mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland anschließend an die ins Auge gefaßte Aufnahme diplomatischer Beziehungen eine Regelung der Frage der Gewährung von Rechtshilfe einzuleiten.Soweit also die Zitate, die ich hier vortragen mußte, weil ich glaube, daß sie ganz unmittelbar zu dem Gegenstand, zu seiner Geschichte und zu seiner unterschiedlichen Würdigung gehören, über den wir heute abend hier sprechen.Herr Bundesminister, wir haben die Empfindung, daß dies eigentlich eine sehr traurige Geschichte sei und die eindeutige Anerkennung des sowjetischen Modells. Sie werden nicht erwarten, daß wir zu diesem Beispiel eines Rückzugs von wohlaufgebauten eigenen Positionen auch noch Beifall klatschen. Sie haben sich auch in dieser Sache dem Willen der anderen Seite — wenn nicht insgesamt, so doch zu einem erheblichen Teil — gebeugt. Und hier in diesem Raum gibt es einen, der Ihnen kräftig eingebleut hat, man dürfe — wie er sich im Lande des Gegenspielers auszudrücken beliebte — die Berliner Frage nicht überziehen. Herr Wehner, ich meine Sie. Sie haben einen Teil jener denkwürdigen Mission einer Delegation dieses Hauses in die Sowjetunion, die unter dem Patronat der Frau Präsidentin stand, ohne dieser vorher darüber Mitteilungen zu machen, nicht nur zu verdeckten und versteckten Gesprächen, sondern zur Zerstörung der Position ihrer eigenen Regierung benutzt.
Meine Damen und Herren, ich möchte aber in diesem Zusammenhang gern noch auf einen weiteren Umstand aufmerksam machen. Die soeben zitierte Verbalnote der deutschen an die tschechoslowakische Seite gehört in einen engen Zusammenhang zu dem Vertrag. Wir fragen aber die Regierung, ob der Inhalt dieser Note heute wirklich noch gilt. Denn mittlerweile war eine andere Person in Moskau, nämlich Herr Bahr. Herr Bahr hat uns mitgeteilt, seine Verhandlungen über Berlin hätten das Klassenziel erreicht, und er hat sich selbst dabei die Note zwei gegeben. Ich finde, so anspruchsvoll und gleichzeitig in einer solchen Sache so wenig erfolgreich war noch selten ein Vertreter dieser Regierung. Was bei dem Minister Scheel noch die Möglichkeit des direkten Verkehrs zwischen Gerichten der beiden Seiten genannt wurde, hat sich in der Folge der so „erfolgreichen", ich sage, der so erfolgreichen Bahr-Verhandlungen immer weiter fortentwickelt. Bahr sagte dazu im Westdeutschen Rundfunk am 23. März dieses Jahres:Die Frage ist außerdem klar, daß das — er meinte den Rechtshilfeverkehr —zwischen den Justizverwaltungen der Länder und den einzelnen Justizverwaltungen der Sowjetrepubliken geschehen wird, also nicht zwischen den Gerichten. Das war unser Vorschlag.Nun wissen wir also, wer hier Vorschläge für diedeutsche Außenpolitik macht. Denn dieses Haus hat
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6011
Dr. Marxheute Vorschläge zu debattieren, die offenbar vor dieser Bahr-Runde liegen, und ich wäre sehr dankbar, Herr Minister, wenn Sie uns sagten, ob Sie bereit sind, die Sache jetzt auf eine neue Grundlage zu bringen. Ich wäre eigentlich auch dankbar, wenn Sie uns die Frage beantworteten, warum die Sache denn heute zur Diskussion gebracht wird. War dann nicht noch einige Wochen Zeit,
um zu erreichen, daß diese Sache wirklich positiv beendet wird?
Sie hätten in vielerlei Hinsicht von der Fraktion der CDU/CSU zu diesem Problem und zu der Gesamtwürdigung eine andere Antwort erhalten, als uns dies heute möglich ist.Eine Regelung dieser Frage, meine Damen und Herren, ist aber auch Herrn Kollegen Bahr nicht gelungen, und ich bin gespannt, was diese Sibyllinischen Reden bedeuten, wo er sagt, in einigen Wochen werde es gelingen. Wir möchten gerne, daß es gelingt, aber wir möchten auch, daß dieses Haus dann alles ungeschminkt und ungeschmälert erfährt. Aber lassen Sie mich hier für meinen Teil meinen offenen Zweifel anmelden, ob Herr Bahr die sowjetischen Partner dazu bringen wird, eine vernünftige, für alle Seiten akzeptable Regelung eines Problems zu erreichen, dessen Aufkommen wir nach all dem Propagandagetöse, das wir nach dem ViermächteAbkommen über Berlin gehört haben, überhaupt nicht mehr für möglich gehalten hätten.Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion bedauert, daß die Bundesregierung nicht die konsularische Vertretung der Berliner Institutionen erreicht hat. Sie bedauert, daß die Bundesregierung den vorliegenden Vertrag trotzdem unterzeichnet hat, und wir fügen hinzu, daß wir ihm auch deshalb unsere Zustimmung nicht geben werden. Sie bedauert es deshalb, weil wir alle gute und förderliche Beziehungen mit unserem Nachbarn Tschechoslowakei wünschen. Wir sehen in diesem Land nicht nur die Zeugnisse grausamer Diktatur und fremder Eroberung, sondern empfinden den Willen seines Volkes besonders stark, auf menschenwürdige Weise zu leben, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen, in Frieden mit allen Nachbarn zu bleiben. Niemand unter uns vergißt die großartige Kraft, die das tschechische und slowakische Volk im Laufe seiner Geschichte entfaltet hat. Niemand vergißt seine hohe Kultur, deren Zeugnisse jeden anrühren, der sie an Moldau, Donau und Theiß bewundert, der die Anmut dieser Landschaft genießt, der die Musik eines Smetana und Dvořák auf sich wirken läßt und der bei den gefeierten Klängen von „Mein Vaterland" an den grauen, stumpfen und freudlosen Zustand denkt, in dem das Land der Tschechen und Slowaken heute befangen ist.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sagt uns, es sei nötig gewesen, im Vertrag mit Prag dem tschechoslowakischen Staat die Unverletzlichkeit seines Territoriums und seiner Grenzen zu gewährleisten. Ich möchte fragen: Wer hat eigentlich das Territorium und die Grenzen dieses Staatesin Frage gestellt? Falls sich diese Formel als eine Denunziation unserer eigenen, der CDU/CSU-Politik erweisen sollte, weise ich dies nicht nur mit Nachdruck, sondern mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die jüngste Geschichte zurück; denn alle früheren, von uns verantworteten Regierungen haben die Grenzen und das Territorium der Tschechoslowakei anerkannt. Die Formulierung von „Deutschland in den Grenzen des Jahres 1937", die heute mancher verhöhnt und als lächerlich empfindet, enthielt ganz zweifelsfrei diese Feststellung.
Ich füge hinzu: auch das, was uns jetzt als Gewaltverzicht so nahegebracht wird, ist doch nicht neu.Ich frage mich immer wieder, ob die Bundesregierung eigentlich weiß — lassen Sie mich auf etwas, wie ich glaube, sehr Wichtiges noch hinweisen —, daß ihre Form der totalen, endgültigen und unreflektierten Grenzanerkennung auch den sowjetischen Raum der Karpato-Ukraine legitimiert. Ich frage mich, warum? Wer trieb sie bereits im Deutsch-Sowjetischen Vertrag, wo von allen Grenzen in Europa in ihrer heutigen Gestalt gesprochen worden war, dazu? Warum reden ausgerechnet wir mit den Sowjets über die Grenzen anderer Staaten? Warum äußern wir uns auch in diesem Vertrag z. B. zur tschechoslowakischen Ostgrenze? Die KarpatoUkraine war niemals russisch oder sowjetisch. Über 800 Jahre hindurch war sie ein Teil Ungarns, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Dann — exakt bis zum März 1933 — war sie tschechoslowakisch und wiederum bis zum Ende des zweiten Weltkrieges ungarisch. Was also soll diese von uns geforderte und schließlich gegebene — ich spreche dabei mit einem Blick auch auf die gegenwärtigen Diskussionen bei der Konferenz der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa —, was soll diese Identitätserklärung der Tschechoslowakei des Jahres 1919, da doch Stalin selbst es war, der Lehrmeister vieler heutiger Führer in Osteuropa, der durch die Wegnahme der Karpato-Ukraine die Identität dieses Landes zerstörte, eines Landes, das niemals gegen die Sowjetunion gekämpft hat? Viele seiner Nachfolger halten heute stählern noch daran fest.War sich — so frage ich — die Bundesregierung der historischen Dimension dieser Dinge bewußt, als sie anfing zu behaupten, dieser Vertrag helfe mit, die Normalisierung in ganz Europa zu schaffen? Weiß sie, was die Menschen in Uschgorod oder an der Latoriza über solche ungefragte Unterstützung eigentlich denken? Hat die Bundesregierung sich je um diese Menschen gekümmert, wenn sie vom Frieden und von der Versöhnung zwischen den Völkern als unmittelbare Folge dieser Verträge sprach?Die Deutschen sahen sich seit den ausgehenden 40er Jahren immer wieder den Forderungen Prags und anderer Ostblockstaaten gegenüber, das Münchener Abkommen für „null und nichtig", für „nichtig von Anfang an", für „nichtig ex tunc", für „ungültig vom Augenblick seiner Entstehung an" zu erklären. Natürlich ist diese von den Sowjets verordnete Formel ein Nonsens; denn durch nichts, von niemandem kann eine historische Tatsache durch
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6012 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Marxdas Gedächtnisloch geworfen werden; auch solche Verträge machen Tatsachen nicht zu Un-Sachen.Die uns in Art. I vorliegende Formel, daß beide Staaten das Münchener Abkommen „im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig" betrachten, enthält nun doch das schwerwiegende Wort „nichtig". Das ist einer der entscheidenden Gründe unserer Ablehnung. Ich will das kurz erklären, obwohl einige Freunde noch gesondert auf dieses Problem eingehen werden, auch in den Ausschüssen und auch in der nächsten Lesung.Die gefundene Formulierung bringt keineswegs die erhoffte Klarheit. Im Gegenteil: sie erlaubt — wenn ich das recht verstanden habe, Herr Bundesminister, haben Sie das eben nicht nur selbst in allem Freimut vorgetragen, sondern ich finde das auch in der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates — jeder Seite, ihren Standpunkt auch nach Vertragsunterzeichnung und Ratifizierung voll aufrechtzuerhalten. Ich darf vielleicht kurz vorlesen — wenn Sie noch einmal sprechen, Herr Kollege Scheel, machen Sie uns bitte den Widerspruch deutlich —:Die in Artikel I des Vertrages erzielte Übereinkunft, das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf die gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig zu betrachten, ist nicht mehrdeutig.Und Sie sagen im nächsten Satz:Bekanntlich haben die Bundesrepublik Deutschland und die CSSR zu der Frage, ob das Münchener Abkommen zunächst rechtswirksam zustande gekommen oder von vornherein nichtig gewesen sei, seit jeher gegensätzliche Auffassungen vertreten, die auch in den mehr als zweijährigen Sondierungen und Verhandlungen nicht auf einen Nenner gebracht werden konnten.Vielleicht liegt der Ton auf „einen Nenner".Ich frage mich — ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns das sagen —: Wie kann man das zusammen verstehen? Was bedeuten diese beiden Sätze?, so muß ich fragen, wenn ich die Gesetze der Logik auf sie anwende, und das ist etwas, was wir tun sollten.
Aber beide Standpunkte — darauf muß ich zurückkommen —, der, daß das Abkommen von Anfang an ungültig war, und derjenige, Herr Bundesminister, den Sie uns vorgetragen haben und den wir nur stützen wollen — wir übernehmen ja nicht den geradezu närrischen Standpunkt der anderen Seite —, sind doch überhaupt nicht miteinander zu vereinbaren. Es handelt sich also im Vertrag um eine doppeldeutige Formel mit gegenteiligem Inhalt.
— Der Bundesminister sagt „ja". Ich bitte das festzuhalten. Ich hätte gewünscht, man hätte auch früher auf diese unsere Fragen, die wir gestellt haben, mit einem so eindeutigen und klaren Ja geantwortet. Dann wäre uns vieles erspart geblieben.
Meine Damen und Herren, das Grundübel aller ostpolitischen Verträge wiederholt sich hier: Sie sind vieldeutig. Jeder kann daraus lesen, was er will. Und der, der die größere Macht hat, wird am Ende seine Interpretation durchsetzen. Auch das, Herr Bundesminister, bitte ich zu sehen.
Solche Verträge — das ist, ich sage Ihnen das ganz offen, wirklich unser Kummer — heilen doch nicht alte Wunden, sondern provozieren neuen Streit. Mit ihnen ist doch nicht, wie Sie in einem Interview gesagt haben, ein „neues Zeitalter angebrochen". Welch ein pathetisches und anspruchsvolles Wort! Die entscheidenden Fragen der Vergangenheit sind hier nicht geregelt.Die Forderung nach Anerkennung der Nichtigkeit — jetzt spreche ich zur anderen Seite — ist unserer Auffassung nach unsinnig, weil sie ungeschichtlich ist. Eine solche Forderung kann historische Ereignisse nicht ungeschehen machen, auch wenn sie noch so bedrückend, noch so sehr als ungerecht empfunden werden. Niemand kann durch vertragliche Formulierungen die Geschichte umschreiben. Sie haben sich, wenn ich das recht sehe, im Bundesrat ja ähnlich ausgedrückt.Niemand kann durch Verträge Tatsachen in ihr Gegenteil verkehren oder Tatsachen auslöschen. Hitlers und Stalins Taten kann man durch keinen Vertrag als nichtig ex tune betrachten; auch nicht einige dieser Taten, auch nicht einige speziell ausgewählte dieser Taten. Weder das Münchener Abkommen noch jenes andere, das die beiden Verbrecher am 23. August 1939 unter voller Einbeziehung, Berücksichtigung und Anerkennung der Münchener Ereignisse miteinander abgeschlossen haben, können durch nachfolgende Interpretation oder Verträge ungeschehen gemacht werden.
Aus der tschechoslowakischen Auffassung von der Nichtigkeit und der einseitigen politischen und moralischen Schuldanerkennung durch die Bundesrepublik leitet sie bereits heute Reparations- und Restitutionsforderungen ab — Herr Bundesminister, sagen Sie uns dazu bitte etwas —, wenn das auch nicht so grob geschieht und so genannt wird. Aber daß dies gemeint ist, weiß jedermann. Wir sind in Sachen Jugoslawien ein gebranntes Kind, wir werden in dieser Sache sehr aufpassen.Vielleicht werden wir auch in diesem Falle eines Tages die Mitteilung unserer Bundesregierung erhalten und durch sie überrascht, daß sie zur Förderung des Außenhandels, zum Ausgleich einer für den Partner sehr ungünstigen Handels- und Zahlungsbilanz bereit sei, erhebliche Kredite auf längere Zeit zu gewähren.Über die wichtige Frage aber, die uns doch alle sehr interessieren müßte, wie es sich eigentlich mitDeutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Silzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6013Dr. Marxdem verbliebenen privaten und öffentlichen Vermögen der Sudetendeutschen verhält und ob die Bundesregierung überhaupt darüber gesprochen hat, hätten wir gerne weitere Informationen. Einige meiner Freunde werden sich dazu noch äußern. Das gilt auch für die lückenhafte Regelung der Staatsangehörigkeit und sonstiger personenrechtlicher Fragen.Herr Bundesminister, ich zitiere Sie gerne positiv. Sie sagen: Dieser Vertrag kann die Geschichte nicht neu schreiben. Sie sagen an einer anderen Stelle: Es war gar nicht die Aufgabe, Geschichte darzustellen. Aber ich antworte: Der Vertrag darf die Geschichte auch nicht verfälschen.
Im Vertrag hat sich die Bundesregierung — ich bedauere das sehr — auf eine einseitige, lückenhafte und historisch falsche Darstellung des geschichtlichen Ablaufs eingelassen. Sie hat mit der Feststellung — ich zitiere —, wonach das Münchener Abkommen der Tschechoslowakischen Republik durchlas nationalsozialistische Regime unter Androhung von Gewalt aufgezwungen worden sei, sich auch eine alte Forderung Moskaus zu eigen gemacht. Niemand unter uns wird die Politik Hitlers und all seine Verbrechen verniedlichen wollen. Trotzdem gilt in dieser Sache, über die wir jetzt verhandeln, daß die Präambel z. B. verschweigt, daß in den Friedensverträgen nach dem 1. Weltkrieg den Sudetendeutschen das Selbstbestimmungsrecht gegen alle Zusicherungen verweigert worden war und daß das Münchener Abkommen — ich bitte, dies einmal genau in den offenliegenden Büchern der Geschichte nachzuprüfen — gerade unter diesem Gesichtspunkt auch von Großbritannien, Frankreich, Italien, ja von weiten Teilen der Weltöffentlichkeit, übrigens auch vom Völkerbund, zunächst akzeptiert worden war. Diese Darstellung läßt auch unberücksichtigt, daß die tschechoslowakische Regierung sich in ihren Noten vom 21. September 1938 an Frankreich und Großbritannien mit der von diesen Staaten vorgeschlagenen Abtretung der sudetendeutschen Gebiete einverstanden erklärt hat, und ferner, Herr Wehner, daß auch die Sowjetunion nach dem August 1939 sich ebenfalls auf den Boden der durch das Münchener Abkommen geschaffenen Tatsachen gestellt hat.Die hier vorliegende unausgewogene geschichtliche Darstellung verschweigt das Unrecht der Vertreibung der Sudetendeutschen im Jahre 1945 und der Enteignung ihres Vermögens. Hierdurch und durch die in der Präambel ausgedrückte Absicht, „ein für allemal mit der unheilvollen Vergangenheit in ihren Beziehungen ein Ende zu machen, vor allem im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg", kann die Gegenseite — sie tut es doch schon; man lese doch nur die tschechoslowakischen Zeitungen, man höre doch die Sendungen von Radio Prag! — ihre ständige Behauptung bekräftigen, wonach Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen durch diesen Vertrag die Legalisierung erfahren hätten.Das von der Bundesregierung unnötigerweise akzeptierte einseitige Geschichtsbild erleichtert es deranderen Seite, einen ebenso einseitigen Schuldvorwurf zu konstruieren und daraus — Herr Minister, ich sage das auch im Zusammenhang mit dem Art. 2 des Vertrages — unabsehbare Forderungen abzuleiten. Die Gefahr besteht um so mehr, als im Vertrag selbst jeder Hinweis auf die Notwendigkeit endgültiger Regelungen fehlt.Lassen Sie mich noch für einen Augenblick bei dem Brief der Regierung der CSSR zu Fragen der Strafverfolgung verweilen. Ich habe versucht, präzise zuzuhören, was Sie dazu sagten, Herr Minister. Ich hätte gern auf einen speziellen Punkt Ihre Antwort; denn dieser Brief gehört in den Kontext des Vertrages. Es wird dort festgestellt, daß für die zwischen 1938 und 1945 verübten Straftaten — mit einigen Ausnahmen; Sie sprachen von jenen Straftaten, die mit der Todesstrafe geahndet werden müßten — keine Strafverfolgung mehr zu erwarten sei. Aber ich halte diesen Brief für einen Trick; denn damit ist es der anderen Seite gelungen, ihren Rechtsstandpunkt in das Vertragswerk hineinzubringen.
Sie sagt nämlich damit, daß sie selbst in den Jahren 1938 bis 1945 die Oberhoheit über das Sudetengebiet ausgeübt habe. War also nun das Münchener Abkommen „nichtig von Anfang an", also von 1938 an, oder nicht? Sie haben gesagt, sechseinhalb Jahre habe deutsches Recht in diesem Bereich gegolten. Warum ist es nicht möglich gewesen, darüber in den Vertrag zumindest einen ähnlich starken eigenen Vorbehalt mit einzubringen, wie die andere Seite es mit dem soeben zitierten Brief getan hat?Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat auch lange — ich erinnere mich an die Mitteilungen, die der Staatssekretär Frank gemacht hat, der einen großen Teil dieser Last getragen hat — über einen Briefwechsel zu humanitären Fragen, d. h. konkret: zu Ausreisemöglichkeiten, verhandelt. Was herauskam, ist wenig, zu wenig. Es liegt jetzt lediglich — auch hier nur in Briefen formuliert und nicht im Vertrag selbst — eine Zusage der tschechoslowakischen Seite vor, Ausreiseanträge — ich zitiere — „wohlwollend beurteilen zu wollen".
Herr Bundesminister, ich wünschte, daß Sie zugäben: Dies ist uns allen zu wenig. Dies ist keine konkrete Verpflichtung der anderen Seite und stellt kein Recht der Deutschen auf Ausreise fest.Ähnlich der seither beobachteten Entwicklung bei Verträgen mit anderen Ostblockstaaten erhält hier die CSSR aber auch die Möglichkeit — da sträubt sich einem ja fast die Zunge, aber wir erleben ja viele schlimme Dinge in den letzten Monaten —, menschliche Erleichterungen von finanziellen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland abhängig zu machen. Und die groteskerweise — ich sage: die groteskerweise — von deutscher Seite gleichzeitig zugesicherte Aussiedlungsmöglichkeit für Personen tschechischer und slowakischer Nationalität in die CSSR, also Aussiedlung aus der Bundesrepublik in die CSSR, meine Damen und Herren, ist ganz unnötig. Denn solche Passagen in einer solchen Ver-
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6014 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Marxeinbarung verschleiern die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland
und die hier jederzeit anwendbare Grundforderung der Vereinten Nationen, wonach jedermann das Recht hat — wann immer er will —, sein Land zu verlassen.
Eine solche Formulierung ist unangemessen, sie täuscht eine Gegenseitigkeit vor, die angesichts dieser in der Bundesrepublik Deutschland garantierten Freizügigkeit einerseits und der menschenrechtswidrigen Beschränkung der Freizügigkeit in der CSSR andererseits nicht besteht.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte sagen: Wir haben alle den Eindruck, daß man sich heute in diesem Lande — auch nach den letzten Wahlergebnissen — krampfhaft bemüht, der Ostpolitik neuen Schwung zu geben und u. a. auch diesen Vertrag — ein wenig hübsch herausgeputzt — als Erfolg zu preisen. Wer dies will, muß allerdings erkennen: in der deutschen Öffentlichkeit ist der Glanz dieser Ostpolitik verblaßt,
ihre Faszination ist vorüber,
Mißtrauen hat sich dort eingestellt, wo man einst viele Hoffnungen züchtete und Versprechungen gemacht hat. Auch hat sich der Blick — mehr als früher — auf das Erreichbare, das Mögliche und auf die wirklichen Qualitäten und Absichten des Gegenspielers gerichtet. Beim nüchternen Abwägen des bisher Erreichten wird man außer den angewachsenen Zahlen — und wir begrüßen jede; ich sage das ausdrücklich, damit nicht irgend jemand ein Mißverständnis konstruiert — von Reisenden und einem wachsenden Tourismus an politisch Dauerhaftem, an Substantiellem kaum etwas finden.Die Verträge, meine Damen und Herren, sollten — das war die Bekundung der Bundesregierung in allen öffentlichen Verlautbarungen — Entspannung in Europa herbeiführen, Gräben zuschütten und — wie Herr Wehner damals sehr beeindruckend gesagt hat — „Verkrampfungen lösen", die Menschen zueinanderbringen und den Frieden festigen. Was daraus geworden ist, wissen wir heute alle: Die Bundesregierung hat gegeben, geleistet, geopfert, verzichtet. Ihre Partner haben dafür gesorgt und darauf gedrängt, daß man das alles säuberlich aufgeschrieben, juristisch festgelegt und mit Formeln der Endgültigkeit ausgestattet hat.Wir, Herr Bundesminister, die CDU/CSU, sagen: Es ist ein wichtiges Ziel deutscher Politik, es ist ein wichtiger Inhalt unserer Politik, Ausgleich mit den Nachbarn zu finden und den Versuch zu machen, Schreckliches aus der Vergangenheit, was beide Seiten bedrückt, Stück um Stück auszugleichen. Aber, ob das Ausgleich ist, was diese Verträge bringen, wage ich doch sehr zu bezweifeln, denn, meine Damen und Herren, Ausgleich, Entspannung, Zusammenarbeit sind politische Maximen, dienur erreicht werden, wenn beide Seiten sich an einer solchen Politik beteiligen, wenn beide sich entgegenkommen, sich auf halbem Wege treffen, wenn sie Toleranz miteinander üben. Niemand aber wird meine Festellung bestreiten können, daß Toleranz, Ausgleich und Versöhnung nicht im Wärterbuch der Kommunisten stehen.Viele hatten für eine gewisse Zeit geglaubt — ich habe den Eindruck, daß hier eine Veränderung des Denkens einsetzt —, die sowjetische Formel von der „friedlichen Koexistenz" werde die Möglichkeit eines Aufbaus und Friedens in einer geordneten Welt garantieren. Aber, so möchte ich denen, die das glauben, zurufen, hätten sie sich doch nur einmal die Mühe gemacht und nachgelesen, was unter dieser — ich sage: ominösen — Formel von der „Koexistenz" ihre Erfinder wirklich verstehen! Von Breschnew jedenfalls werden die bisherigen Erfolge der sowjetischen Westpolitik als Konsequenz der eindeutigen Anwendung der friedlichen Koexistenz und der Geschlossenheit des sozialistischen Lagers bezeichnet. Die Waage der Welt, so sagt der Chef des Sowjetreiches, neige sich nun immer mehr auf die Seite des Sozialismus. Das ist doch wohl nicht das gleiche wie die Versicherung unserer Regierung, daß ihre Ostpolitik den Ausgleich bringen werde.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion prüft Verträge mit Staaten des Warschauer Paktes daran, ob sie die Interessen unseres eigenen Landes wahren, ob Leistung und Gegenleistung in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, ob die politisch ausschlaggebenden Punkte eindeutig geregelt sind und ob solche Verträge der von uns gewünschten Aussöhnung, einer dauerhaften Festigung des Friedens dienen und mögliche neue Streitpunkte ausschließen.Diesen Maßstäben wird der vorliegende Vertrag nicht gerecht. Er ist nicht ausgewogen, sondern einseitig. Er ist in seinen wichtigen Punkten vieldeutig, nicht klar ausformuliert und mit einem fundamentalen Dissens behaftet. Er hat zwar nicht die Aufgabe — ich wiederhole das —, Geschichte zu schreiben, trotzdem verfälscht er sie dort, wo er von der Geschichte spricht. Er dient nur sehr eingeschränkt den Völkern und ihrem Willen zum Frieden, weil er zu sehr die Bedürfnisse der gegnerischen Seite berücksichtigt. Ein solcher Vertrag sollte Ausgleich schaffen in der vollen Bedeutung des Wortes. Dieser enthält aber Keime neuer Zerwürfnisse.Daher, meine Damen und Herren, lehnt die Fraktion der CDU/CSU diesen Vertrag ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dankt der Bundesregierung dafür, daß mit der Unterzeichnung und der Vorlage dieses Vertrages in diesem Hohen Hause ein schlimmes und ein tragisches Kapitel deutscher und europäischer
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6015
FriedrichGeschichte hinübergeleitet werden kann in den Versuch eines neuen Anfangs. Unser besonderer Dank, Herr Außenminister, gilt Ihnen. Sie waren für die Führung der Verhandlungen verantwortlich, und wir wissen, daß dieser Vertrag einer der schwierigsten, weil völkerrechtlich am kompliziertesten war.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktionstimmt überein mit dem, was der Herr Bundeskanzler am Tage der Vertragsunterzeichnung von Prag aus allen Bürgern in der Bundesrepublik gesagt hat, als er erklärte, die Schuld von gestern, die nicht aus der Welt zu schaffen sei, werde nicht mächtig genug sein, unsere Völker vom Wagnis der Versöhnung abzuhalten. Unsere jungen Generationen seien nicht aus der geschichtlichen Verantwortung entlassen; aber sie hätten ein Recht, ihren eigenen Weg in die Zukunft zu beginnen. Wörtlich sagte der Kanzler— Frau Präsidentin, ich darf zitieren —:Nur aus der Wahrhaftigkeit gegenüber der Geschichte öffnen wir für die jungen Völker Europas den Weg zu einem Leben, den sie als menschenwürdig und sinnvoll betrachten. Dies sehe ich als unsere Pflicht.Wir teilen und tragen diese Pflicht mit dem Bundeskanzler.Alle kleinliche Kritik, Herr Marx — ich möchte sagen, Sie sind für kleinliche Kritik in diesem Hause bekannt und qualifiziert, unendlich qualifiziert —,
wird nicht den Dimensionen dieses Vertrages gerecht, auch nicht seiner historischen Bedeutung.
Unsere Fraktion sieht in der langen Zeit der Verhandlungen bis zu diesem Vertrag, von den erstenSondierungen im März 1971 bis zur Lesung heute— drei ganze Jahre hindurch —, nicht den Ausdruck eines mangelnden Verhandlungs- und Verständigungswillens beider Seiten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Herr Kollege Mertes, Sie können nachher fragen. Lassen Sie mich bitte zumindest einführen.
— Ach, wenn Sie einen Aggressionsstau loswerden wollen, um von hier nicht mit einer Neurose wegzugehen,
dann stellen Sie doch die Frage, bitte.
— Bitte, stellen Sie doch diese Frage! — Also nicht?
Wollen Sie sie nicht stellen?
— Bitte schön! Herr Mertes hatte fragen wollen. Friedrich : Ich dachte, Herr Marx.
— Nein, bitte schön! Ihnen unterstelle ich keinen Aggressionsstau, Herr Mertes.
Herr Kollege Friedrich, teilen Sie nach den Erfahrungen der letzten Monate jetzt nicht die Auffassung der Opposition, daß die Frage nach der Eindeutigkeit der Verträge eine fundamentale Frage für die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu unseren Vertragspartnern ist, und nicht eine „kleinliche" Angelegenheit?
Ich bin gerade dabei, dies zu begründen. Ich bin nur der Meinung, daß die Begründung der Ablehnung durch die Union kleinlich ist. Dies muß man mir schon abnehmen.
— Entschuldigen Sie, lassen Sie mich doch begründen!Die Frage des Münchener Abkommens, seiner Gültigkeit und seiner Ungültigkeit, ist in der Völkerrechtsliteratur bisher ein Problem ohne Beispiel; dies kann doch von Ihnen einfach nicht bestritten werden. Hinzu kamen noch komplizierte Fragen, die nicht so leicht definierbaren Probleme des Staatsbürgerrechts. Das war ebenfalls dort hineingepreßt. Hier, Herr Marx, ist es sehr leicht, über ein kleines Land mit seinen Schwierigkeiten seit 1968 zu reden, hier ist es sehr leicht, sich als moralischer Richter aufzuspielen, wenn man nicht dort sitzt. Diese Verhandlungen waren auch noch in die Spannung des Ost-West-Gegensatzes hineingepreßt. Hinzu kam die komplizierte Problematik des Berlin-Abkommens. Insoweit war die lange Verhandlungszeit verständlich.
Wenn beide Verhandlungskommissionen nach schwierigsten, oft unterbrochenen Verhandlungen einen Weg gefunden haben, der es beiden Seiten ermöglicht, ihre Standpunkte zu wahren, die sie für sich als unverzichtbar betrachteten, und wenn beide Verhandlungskommissionen nun als Vertreter ihrer Staaten jeweils in ihrem eigenen Land bestehen können, dann muß man das Ergebnis als einen ehrlichen, annehmbaren Kompromiß bezeichnen, auch als Versuch, als Bemühen einer verantwortungsvollen Verhandlungsführung. Insoweit danken wir auch
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6016 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
FriedrichHerrn Staatssekretär Frank, der auf unserer Seite des Tisches die Interessen der Bundesrepublik gut vertreten hat.
Dieser Vertrag stimmt mit den Zielen überein, wie sie 1969 und 1972 als Grundlage der sozialliberalen Koalition für richtig erkannt und erneuert worden sind. Diese Ziele sind: die Festigung der Sicherheit und ein dauerhafter Friede in Europa, die Sicherheit West-Berlins eingeschlossen. Zu diesen Zielen gehört auch, durch Aufnahme diplomatischer Beziehungen die Voraussetzungen für die Möglichkeit der Vertretung der Interessen deutscher Staatsbürger zu schaffen.Es ist sehr leicht, über humanitäre Fragen zu sprechen, wenn man es über 20 Jahre lang versäumt hat, die Voraussetzungen für eine solche Vertretung zu schaffen. Dann kann man hier sehr leicht darüber reden.
Zum Ziel der sozialliberalen Koalition gehört es, unsere Wirtschaftsbeziehungen zu erweitern.
Grundsatz dieser Politik ist es, daß alle diese Schritte in Übereinstimmung mit unseren Verbündeten vollzogen werden.Herr Marx, wenn Sie hier wieder das mit den Reparationen aufgebracht haben,
so liegt dies ,der Qualität nach auf der Ebene der Aussagen des Herrn von Schulze-Vorberg, der vor 14 Tagen sagte,
25 Milliarden DM kostet uns der Bahr-Besuch, und in der nächsten Woche hat die Sowjetunion in der Bundesrepublik bar für 5 Milliarden DM eingekauft. Das liegt immer auf der gleichen Ebene.
— Ja, dann sollten Sie solche Argumentationen hier nicht wiederholen.
Im übrigen muß ich Ihnen sagen, Herr Mertes, daß Herr Schulze-Vorberg zu seiner Erklärung im Ausschuß nicht gestanden hat und dort keine Korrektur gegeben hat.
Dies kann ich bei dieser Gelegenheit hier feststellen.Mit der Ratifizierung dieses Vertrages, von der wir annehmen, daß das Hohe Haus ihr zustimmt, wird die sozialliberale Koalition ein 'dem Wähler gegebenes Wort einlösen. Wir haben durch Aussöhnung und Entspannung in Europa den Frieden sicherer gemacht. Die Union hat sich vorrangig aus kleinlichen parteiegoistischen Gründen an dieser Politik des Friedens, an dieser Politik der Aussöhnung und der Entspannung nicht beteiligt.
Wir bedauern diese Haltung der Union, denn es wäre die Aufgabe der ganzen Vertretung unseres Volkes gewesen, die Last des zweiten Weltkrieges gemeinsam auf sich zu nehmen und dies nicht nur einem Teil des Parlaments, der SPD und der FDP, zu überlassen.Wo bleibt denn die Konsequenz zum Frieden, von der Herr von Weizsäcker beim CDU-Parteitag 1972 in Wiesbaden gesprochen hat. Konsequenz zum Frieden heißt nicht nur — an die Adresse von Herrn von Weizsäcker gerichtet —, in Auschwitz von Versöhnung sprechen, sondern für die Aussöhnung hier in diesem Hohen Hause eine Hand aufheben.
Dies nenne ich Konsequenz zum Frieden, und diese Konsequenz zum Frieden sind Sie dem deutschen Volke schuldig geblieben.
Artikel I und II dieses Abkommens sind ein dem tschechoslowakischen und dem bundesrepublikanischen Standpunkt gerecht werdender Kompromiß. Die CSSR ist der Auffassung, daß das von ihr nicht unterzeichnete Münchener Abkommen von Anfang an ungültig war, und sie meint, vor allem aus Gründen der Behauptung ihrer nationalen Persönlichkeit und ihrer nationalen Selbstachtung darauf bestehen zu müssen. Die Bundesregierung konnte sich wegen der möglichen Rechtsfolgen für deutsche Staatsbürger dieser Auffassung nicht anschließen, auch wenn wir meinen, daß das unter Druck und Drohung entstandene Münchener Abkommen nicht mehr gültig ist. Meine Fraktion teilt diese Auffassung der Bundesregierung.
Artikel I und II geben beiden Vertragspartnern die Möglichkeit, ihre Standpunkte zu wahren, ohne daß einem der beiden die Preisgabe unverzichtbarer Positionen abverlangt werden mußte.Dies waren — Herr Außenminister, so sehen wir es — die Bedingungen eines neuen Anfangs. Der von der Union erhobene Vorwurf der Mehrdeutigkeit erneuert die in der Diskussion um die Ostverträge immer wieder eingenommene Position des Alles oder Nichts.
Wäre diese Position des Alles oder Nichts die Haltung der Bundesregierung, würde sich unser Staat
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6017
Friedrichsehr rasch im Niemandsland der Weltpolitik wiederfinden.
Die Union steht aber in dieser Haltung auch im Gegensatz zur Regierungserklärung ihres früheren Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger.
In der Großen Koalition wurde in der Regierungserklärung überhaupt zum ersten Mal das Problem unserer Beziehungen zur CSSR angesprochen. Dies hatte es bis dahin nicht gegeben. Deshalb geht man nicht fehl in der Annahme, daß dies die Handschrift des damaligen Außenministers und heutigen Bundeskanzlers war,
aber dies ist damals auch von Ihrer Fraktion mitgetragen worden. In dieser Regierungserklärung hat Kurt Georg Kiesinger festgestellt, wenn ich zitieren darf, Frau Präsidentin:Auch mit der Tschechoslowakei möchte sich das deutsche Volk verständigen.
Die Bundesregierung verurteilt die Politik Hitlers, die auf die Zerstörung des tschechoslowakischen Staatsverbandes gerichtet war. Sie stimmt der Auffassung zu, daß das unter Androhung von Gewalt zustande gekommene Münchener Abkommen nicht mehr gültig ist. Gleichwohl
— so sagte es Bundeskanzler Kiesinger damals; das ist auch die Auffassung dieser Regierung; was regen Sie sich auf? —
bestehen noch Probleme, die einer Lösung bedürfen, wie z. B. das des Staatsangehörigkeitsrechts.Soweit Bundeskanzler Kiesinger.
Er hat damals zwei Kernfragen angesprochen: zunächst die Problematik der Zerstörung des tschechischen Staatsverbandes und zum anderen die Frage des Staatsangehörigkeitsrechts.Der hier vorgelegte Vertrag hat in beiden Fragen eine Lösung gebracht, und zwar für beide Seiten akzeptabel. Heute, acht Jahre nach Kiesinger, sieht die Union diese Probleme anders.
Heute betreibt sie eine nicht nur für unser Ansehen, sondern auch eine für die Glaubwürdigkeit unseres Friedenswillens höchst bedenkliche Politik.Ich meine, daß dies hier mit angesprochen werden muß. Ich meine
ich möchte das zunächst ausführen; Entschuldigung, Herr Abgeordneter Wittmann —, daß die von der CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat abgegebene Erklärung hier genannt werden muß,
weil von Ihnen ja der Bundesrat als verlängerte Oppositionsbank denaturiert worden ist.
In dieser Erklärung der CDU/CSU-Mehrheit des Bundesrats wird festgestellt,
die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Sudetendeutschen sei im Vertrag verschwiegen worden.
Nun möchte ich auf eines hinweisen: Ich glaube, daß wir alle das Schicksal der Sudetendeutschen beklagen; es hat unendlich viel Leid über die Menschen gebracht. Wir alle beklagen auch den Versuch, daß 1919 die Bemühungen gescheitert sind, zwei Völker in einem Staat zusammen leben zu lassen.
Aber ein Bundesorgan sollte zwischen den möglichen Erklärungen einer Landsmannschaft und seiner eigenen Verpflichtung gegenüber völkerrechtlichen Positionen der Bundesrepublik unterscheiden.
Was meine ich hier? Es sollten keine Standpunkte eingeführt werden, die zu höchsten Mißdeutungen führen können.
Bis jetzt galt die Bundesregierung immer als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches. Wer aber, wie dies in der Erklärung des Bundesrats zu diesem Vertrag geschieht, über das Problem des Selbstbestimmungsrechts die Grenzen der Tschechoslowakei von 1919 als unberechtigt definiert
— Wie berechtigt meine Befürchtung ist, habe ichja bestätigt gefunden. Und wenn sich Herr Becher an das hält, was er an die Presse gegeben hat,
dann werden wir bestätigt finden, was ich befürchte.Damit muß man den Eindruck erwecken, als bekennesich die Bundesrepublik nicht mehr zu den Positio-
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Friedrichnen, die sie als Rechtsnachfolgerin des Reiches übernommen hat;
denn das Reich hat diese Grenzen und das tschechoslowakische Staatsgefüge von 1919 anerkannt. Es hat nämlich damals zahlreiche Verträge mit der Tschechoslowakei abgesprochen. Indem Sie aber diese Entscheidung von 1919 für fragwürdig erklären, entsteht in der Weltöffentlichkeit der Eindruck, daß ein Teil in diesem Land und sogar die Mehrheit des Bundesrats meinen könnten, 1938 und 1939 seien legitim gewesen.
Herr Bundeskanzler Erhard hat 1964 diesen gleichen Ansatz des damaligen Bundesverkehrsministers Seebohm zurückgewiesen. Er hat damals — Herr Marx, Sie haben vorhin von einer Moskauer Linie gesprochen —, in New York und Kanada erklärt, daß das Münchener Abkommen von Hitler zerrissen worden sei.
Ich hätte vom CDU-Vorsitzenden Kohl, der sich als so kanzlerreif versteht, das gleiche Standvermögen erwartet, das damals Bundeskanzler Erhard gezeigt hat, als er die Erklärung von Seebohm zurückwies.Sie sagen, diese Regierung vernachlässige die humanitären Probleme. Ich habe einmal das Arbeitsbuch Ihrer Regierungen hinsichtlich der Vertriebenenverbände durchgesehen. Darin sind ja nicht die Reden zu finden, die auf den Pfingsttreffen gehalten werden; das Arbeitsbuch sind Ihre Regierungserklärungen. Wie sieht es da aus?1953: Regierungserklärung Konrad Adenauer. Kein Wort zur CSSR. Kein Wort zu humanitären Fragen. Außenminister: Dr. Adenauer. Vertriebenenminister: Oberländer.Regierungserklärung 1957: Kanzler Adenauer. Kein Wort zur CSSR. Kein Wort zu humanitären Fragen. Außenminister: Dr. von Brentano. Vertriebenenminister: Oberländer.
— Das tut Ihnen weh, Ihre Abstinenz in humanitären Fragen in den Regierungserklärungen. Deshalb fahre ich fort.
Regierungserklärung 1961, vorgetragen von Vizekanzler Dr. Erhard. Kein Wort zur CSSR. Kein Wort zu humanitären Fragen.1965. Kanzler: Ludwig Erhard. Kein Wort zur CSSR. Kein Wort zu humanitären Fragen.Deshalb muß ich hier die Befürchtung aussprechen, daß Sie die Gefühle vertriebener Menschen auf den Heimattreffen mißbrauchen, daß Sie aber in diesem Hause nicht bereit waren, allein in den Regierungserklärungen eine Politik zu signalisieren,die diese Absicht zumindest als Absicht Ihrer Regierungen auch festhielt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Werner?
Herr Kollege Friedrich, sind Sie nicht auch der Meinung, daß es eigentlich viel passender und dem ernsten Gegenstand angemessener wäre, auf Polemiken und unvollständige Darstellungen der Vergangenheit zu verzichten und sich konkret mit dem Inhalt humanitärer Erklärungen Ihrerseits auseinanderzusetzen?
Ich setze mich mit Ihrem Vorwurf auseinander, daß diese Regierung nicht zu humanitären Fragen Stellung nimmt. Lesen Sie die Regierungserklärungen von 1966 bis heute nach! Wir haben dazu Stellung genommen, während bei Ihnen Fehlanzeige ist. Sie können sich um dieses Versagen in der Absichtserklärung Ihrer Regierungserklärung einfach nicht herumdrücken.
Wir werden auch in der Frage des Rechtshilfeersuchens eine Lösung finden. Denn es wird hier genauso gehen wie in all den anderen Fragen in den letzten Wochen. Wenn wir bei jedem Knüppel, der geworfen worden ist — und nicht wenige Knüppel sind von Ihrer Hand geworfen worden —, den Versuch der Aussöhnung abgebrochen hätten, wären wir heute dort, wo wir 1969 anfangen mußten.
Dies ist doch die Wirklichkeit.Wir sind der Meinung, daß Sie nicht für die Vertriebenen sprechen, wenn Sie hier diesen Vertrag ablehnen. Ich selbst bin nur 30 km von der tschechoslowakischen Grenze entfernt aufgewachsen.
Bei uns wohnen sehr viele Menschen, und meine besten Freunde kommen aus der Karlsbader und der Egerer Gegend. Ich weiß, daß diese Menschen 29 Jahre nach Kriegsende meinen, die Zeit sei reif für eine Aussöhnung und einen Neubeginn.
Sie mögen für eine Landsmannschaft sprechen. Für die Sudetendeutschen insgesamt sprechen Sie in diesem Land nicht; das spreche ich Ihnen ab.
Wir sind der Meinung, daß es besser ist, ein früher gutnachbarliches Verhältnis zu erneuern, als am Eisernen Vorhang im Schatten des Kalten Krie-
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Friedrichges zu leben. Ostbayern — ich kenne da die Menschen — erhofft sich von diesem Vertrag eine Chance, eben nicht mehr am Eisernen Vorhang leben zu müssen.
Die Beziehungen über diese Grenze, Herr Abgeordneter Jäger, waren immer gut, und die Menschen hoffen, daß es besser wird.
Aber am Neubeginn sollte in diesem Hause nicht nur das zwischen dem tschechischen und dem deutschen Volk Trennende genannt werden.
Prag und Böhmen waren in ihrer Verbindung von deutscher und tschechischer Kultur Jahrhunderte hindurch ein Mittelpunkt europäischen Geistes. Zu dieser gemeinsamen Vergangenheit sagen wir ja, auch wenn unsere Völker künftig ihren Weg getrennt gehen werden. Aber als Nachbarn, die nebeneinander leben, leben müssen, Grenze an Grenze, sollten wir das Verbindende aus der Vergangenheit nicht verdrängen, sondern es als Chance für einen Wiederbeginn neu entdecken.Weil wir bei diesem Neubeginn guten Willens sind, begrüßen wir als Sozialdemokraten diesen Vertrag.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ronneburger.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem, was Herr Dr. Marx heute abend hier gesagt hat, fällt es an manchen Punkten schwer — Herr Dr. Marx, ich sage das ganz ehrlich —, sich an das zu halten, was Sie als Aufforderung an den Beginn Ihrer Ausführungen gesetzt hatten, nämlich ohne das Wecken von Emotionen in sachlicher und fairer Weise eine Darstellung der Situation vorzunehmen. Ich möchte gern gerade nach dem, was Sie ausgeführt haben, zunächst einmal ein paar Sätze an den Anfang stellen, die Sie möglicherweise für die Wiederholung von Selbstverständlichkeiten erklären werden, deren besondere Bedeutung aber gerade aus Ihren Ausführungen abgeleitet werden kann.Meine Damen und Herren, Verträge sind Regelungen für die Zukunft. Verträge können geschehenes Unrecht nicht ungeschehen machen.
Vereinbarungen über Gewaltverzicht beseitigen in der Vergangenheit angewandte Gewalt nicht. Aufgabe der Gegenwart ist es also, die Wiederholung von Unrecht und Gewalt zu verhindern und Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern entstehen zu lassen,
welche die Grundlage für friedliche Regelungen schaffen und zur Zusammenarbeit in beide Seiten betreffenden Fragen führen.
— Staaten und Völker, einverstanden.Nur, Herr Dr. Marx: Warum sage ich das? Sie haben die Frage aufgeworfen, ob dieser Vertrag in seinem Text eigentlich nicht eine einseitige Darstellung der Geschichte vornehme. Zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen: Verträge haben nicht die Aufgabe, die Geschichte darzustellen.
Das, was Sie an Vergangenheitsbewältigung in den Vertrag hineininterpretieren möchten, konnte er schlechterdings nicht enthalten.Wenn Sie aber mit Ihrer These von der einseitigen Darstellung gemeint haben, daß hier nur das Münchner Abkommen erwähnt sei, aber z. B. das Faktum der Vertreibung 1945 nicht angeführt sei,
dann sage ich Ihnen allerdings: Hier ist in dem Vertrag das Faktum des Münchner Abkommens genannt, weil es sich darum handelte, in Zusammenhang mit diesem Vertrag auftretende Spannungen und Gegensätzlichkeiten zwischen den beiden Staaten und — ich greife jetzt Ihre Formulierung auf — zwischen den beiden Völkern zu beseitigen, aber nicht etwa eine Geschichtsdarstellung zu geben. Denn wenn wir eine beiderseitig ausgewogene Geschichtsdarstellung haben wollten, dann müßten wir ja wohl nicht nur das Jahr 1938 nennen, sondern auch 1939, die Zerschlagung des tschechoslowakischen Staatsverbands,
dann dürfte nicht nur die Vertreibung 1945 genannt werden, sondern dann müßten auch die Jahre von 1939 bis 1945 hier angeführt und dargestellt werden.
Ich frage Sie in aller Nüchternheit: Welches Interesse sollten wir Deutschen eigentlich daran haben,
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Ronneburgerdaß in einem solchen Vertrag der Versuch einer Geschichtsdarstellung unternommen würde, die zweifellos auch erhebliche Belastungen für unsere Seite mit nennen müßte? Darüber sind wir uns doch vermutlich einig.
Gestatten Sie, Herr Kollege, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx?
Herr Kollege Ronneburger, ich möchte Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, daß wir beide in dieser Diskussion heute abend festhalten, daß ich gesagt habe, mich auch auf den Außenminister beziehend, in solchen Verträgen kann man nicht Geschichte schreiben. Dort, wo man sie aber anspricht, darf man sie nicht fälschen. Ich wäre dankbar, wenn wir uns zumindest so weit verständigen könnten.
Auf diesen Punkt, auf die Frage der Verfälschung, komme ich gleich.
Herr Dr. Marx, Sie haben die Formulierung im Vertrag kritisiert, nach der es heißt, daß das Münchner Abkommen dem tschechoslowakischen Staat durch Gewalt aufgezwungen worden sei.
Es ist doch wohl unbestreitbar, daß die Tschechoslowakei das Münchner Abkommen nicht akzeptiert hätte, daß sie damals in dieser Frage nicht kapituliert hätte, wenn nicht die Androhung mit Gewalt dahinter gestanden hätte. Ich könnte mich auf Formulierungen und Dokumente aus den von der sudetendeutschen Landsmannschaft herausgegebenen — —
— Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, hier ist doch gesagt worden, daß eben eine einseitige Darstellung der Geschichte gegeben worden sei. Es ist einfach unbestreitbar — wir werden aus dem Zwiegespräch wieder etwas herauskommen müssen — daß die Frage der Gewaltandrohung eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat und daß insofern eine uns alle bewegende Aufgabe sein muß, aus diesem Teufelskreis einmal herauszukommen.
Ich sage noch einmal, hier gibt es keine einseitige Darstellung der Geschichte, sondern dieser Vertrag nennt die Dinge, die er selber behandelt, zu deren Lösung er beizutragen hat. Insofern ist das Münchner Abkommen hier genannt und sind alle die anderen Dinge nicht genannt, auf die ich eben bereits hingewiesen habe.
Herr Dr. Marx, Sie haben an einer anderen Stelle ein meiner Meinung nach sehr gefährliches Wort gesprochen; Sie haben nämlich gesagt, die Ausführungen, die der Vertrag zu der Frage der Grenzen mache, könnten nach Ihrer Meinung eine Denunziation der CDU/CSU-Opposition dieses Hauses in einer Vertragsformulierung sein. Ich weise das mit aller Entschiedenheit zurück, und ich mache
Sie darauf aufmerksam, Herr Dr. Marx, daß eine solche Unterstellung und eine solche Formulierung nun allerdings an der Grenze zumindest dessen liegt, was in einer sachlichen und fairen Auseinandersetzung über ein solches Vertragswerk gesagt werden darf.
Herr Kollege gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Ronneburger, da ich versuchen möchte, daß wir in der Tat sachlich und fair miteinander umgehen, möchte ich gern fragen, ob Sie den Satz nicht so verstehen können, wie ich ihn gesagt habe, nämlich: Wenn uns gesagt wird, es sei jetzt nötig gewesen, das tschechoslowakische Territorium und seine Grenzen vertraglich zu fixieren, leite ich daraus die Frage ab, ob dies bedeuten soll, daß dies irgend jemand von uns oder irgendeine frühere Regierung in Frage gestellt hat, und ich habe auf die Formel „Deutschland in den Grenzen von 1937" hingewiesen. Bitte machen wir zumindest den Versuch, uns nicht absichtsvoll mißzuverstehen!
Ich sage es trotz Ihres Protestes, Herr Dr. Marx, noch einmal: Mit diesem Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der CSSR wird der abschließende formale Schritt in der Ostpolitik getan. Ich hätte mich gefreut, wenn Ihre ursprünglich, bereits in Kenntnis des Vertragstextes, einmal gegebene freundliche Wertung des Vertrages — —
— Ich würde gern aus Ihrem damaligen Interview zitieren, weil ein solches Wort aus ihrem Munde, Herr Dr. Marx, nun zweifellos ein ganz hohes Lob für die Bundesregierung darstellt. Es heißt in der Zeitungsmeldung wörtlich — darf ich zitieren, Frau Präsidentin? —:Nach Ansicht von Marx ist das Verhandlungsergebnis mit der Tschechoslowakei jedoch nicht so negativ zu beurteilen wie die Verträge mit Moskau und Warschau.
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RonneburgerDas aus Ihrem Munde, Herr Dr. Marx, ist ein hohes Lob. Und der zweite Satz, der dann folgt, ist noch lobensvoller:Der Vertrag sei zäher und beharrlicher und sorgfältiger ausgehandelt worden als die Verträge,— ich will jetzt vollständig zitieren, damit Sie nicht sagen, ich hätte etwas weggelassen —deren deutscher Operateur Egon Bahr hieß.Ich zitiere das auch deswegen, Herr Dr. Marx, weil Sie ja an einer anderen Stelle meinten die Feststellung treffen zu können, dieser Vertrag mit der CSSR sei geschlossen worden in Ausführung von Abmachungen oder Vereinbarungen, die Herr Bahr bereits in Moskau getroffen habe.
Habe ich Sie so richtig verstanden?
Ich glaube, wenn Sie dem Lauf der Verhandlungen zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik noch einmal nachgehen, werden Sie das nicht aufrechterhalten können; denn gerade die Auseinandersetzung um die entscheidende Frage, nämlich das Münchener Abkommen und seine Nichtigkeit — ich will hier die Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers nicht wiederholen —, zeigt doch, daß es sich hier um eine direkte und lebendige Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Staaten gehandelt hat.
Dabei ist von unserer Seite, Herr Dr. Mertes, ja nie bestritten worden, daß der Schlüssel zu bestimmten Lösungen in Verhandlungen und Verhandlungsergebnissen
mit den Staaten des Warschauer Paktes nach wie vor in Moskau liegt. Sie sollten ja aus der Zeit, in der Ihre Partei ,den Bundesaußenminister gestellt hat, nicht zuletzt wissen, daß der Versuch der Einzelverhandlungen eben an dieser Frage gescheitert ist. Aber das bedeutet nicht, daß ich Ihre Unterstellung hier gelten lassen würde, Vereinbarungen von Herrn Bahr in Moskau hätten Formulierungen dieses uns heute hier vorliegenden Vertrages sozusagen vorweggenommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Marx?
Ja, bitte sehr!
Herr Kollege Ronneburger, würden Sie bitte in diese Ihre Überlegungen
noch einmal einbeziehen — oder würden Sie nachlesen —, daß die beiden genannten Herren im März 1970 eine Formulierung gefunden haben, die wir als Absichtserklärung Nr. 8 in einem Papier fanden, dessen Existenz zunächst in diesem Hause abgestritten wurde und das die gleiche Bundesregierung dann unter der Überschrift „Bahr-Papier" offiziell im Bulletin zu veröffentlichen die Stirn hatte?
Herr Dr. Marx, ich glaube, es wäre richtig, wenn zu dieser Frage Herr Bundesminister Scheel nachher noch einmal gezielt Stellung nähme, weil aus seinem Munde die Darstellung dieser Dinge sicherlich wirkungsvoller ist als aus meinem. Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn Sie sich gerade den letzten Punkt der Vereinbarungen über die Nichtigkeit des Münchener Abkommens in die Erinnerung zurückrufen, werden Sie doch sagen müssen — Herr Staatssekretär Frank ist ja hier anwesend —, daß die direkte Verhandlung zwischen den beiden Staaten zu diesem Ergebnis geführt hat.
Ich glaube, es wird in der Opposition zu oft übersehen, daß die Formalisierung der Beziehungen auch zu unseren östlichen Nachbarn nicht sozusagen automatisch zur Normalisierung oder sogar zur Freundschaft zwischen den Völkern führt. Ich meine, es wäre nützlich, gerade gegenüber der Opposition dieses Hauses einen kurzen Hinweis auch auf die Adenauersche Westpolitik und insbesondere auf die Aussöhnung mit Frankreich und den anderen westlichen Nachbarstaaten zu geben. Denn die Aufnahme der Bundesrepublik in den Europarat, die sich in diesem Jahre zum 25. Male jährt, und der Beitritt zur Montanunion im Jahre 1951 sind doch auch nur der Auftakt für die Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarn gewesen. Ich meine, diese Dinge sollten wir uns immer wieder einmal vor Augen führen, wenn wir uns den Gang der Ostpolitik vorstellen.
— Lassen Sie mich diesen Gedankengang bitte zu Ende führen. Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, Herr Dr. Marx, daß es heute nicht darum geht, festzustellen, die Ostpolitik habe ihren Glanz verloren. Vielmehr sind wir heute mit der Formalisierung der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn auf dem Wege, hier in gleichem Maße Entspannung zwischen Staaten und Völkern wachsen zu lassen, wie das in der Westpolitik möglich gewesen ist. — Bitte sehr, Herr Dr. Mertes!
Herr Kollege Ronneburger, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß der entscheidende Unterschied zwischen den Verträgen mit dem Westen und den Verträgen mit den Staaten des Warschauer Paktes darin besteht, daß die Staaten im Westen im Gegensatz zu denen des Ostens mit unseren wesentlichen Interessen übereinstimmen und nicht gegen unsere
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Dr. Mertes
Interessen sind und daß — zweitens — die Verträge mit dem Westen auch nicht im entferntesten jenes Element der Mehrdeutigkeit und des möglichen Auslegungsstreites enthalten wie alle Ostverträge?
Ich würde Ihnen in dem einen Punkt zustimmen, daß es außerordentlich viel schwieriger gewesen ist, den gleichen Anfang im Osten zu finden wie den, der im Westen auf Grund gleicher Gesellschaftsordnungen und einer größeren Übereinstimmung in grundsätzlichen politischen Fragen damals gefunden werden konnte. Aber das bedeutet doch nun nicht, Herr Dr. Mertes, daß man wegen dieser Schwierigkeiten diesen Weg nicht trotzdem mit aller Intensität und allem Nachdruck geht und sich bemüht, auch im Osten das zu schaffen, was uns im Westen an Entspannung gelungen ist, und zwar in Überwindung von Gegensätzen, die ihre Ursache nicht zuletzt in unserer eigenen Geschichte haben.
— Die Frage der Mehrdeutigkeit ist etwas, was uns im persönlichen Gespräch, Herr Dr. Mertes, bereits mehrfach beschäftigt hat. Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: wenn Sie Verträge mit Partnern aushandeln, die in grundsätzlichen politischen Fragen nicht Ihrer Meinung sind, werden Sie selbst mit der größten Zähigkeit nicht immer jenes Maß an Gleichrichtung und der Zielsetzungen finden können, das mit unseren westlichen Partnern erreichbar war. Aber ich weise noch einmal mit aller Entschiedenheit die These von der Mehrdeutigkeit der Verträge zurück, die ja letzten Endes darauf beruht, daß die östliche Seite Verträge rein formaljuristisch in anderer Weise betrachtet als wir. Das haben Sie übrigens im Gespräch mit mir auch bereits einmal zugegeben.
— Entschuldigung, Herr Dr. Mertes, ich habe noch vier Minuten, Frau Präsidentin, wenn ich recht sehe, und würde gern einen bestimmten Gedankengang zu Ende führen.
Ich meine, wir sollten nicht den Kern dieses Vertrages verdecken, der offenbar in der erklärten Absicht beider Seiten besteht, ein für allemal mit der unheilvollen Vergangenheit ein Ende zu machen und eine dauerhafte Grundlage für die Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen zu schaffen. .
Meine Damen und Herren, diese Übereinstimmung war herstellbar, weil in beiden Staaten — nicht nur in den Regierungen, sondern bei der überwältigenden Mehrheit der Bürger; das gilt für beide vertragschließenden Staaten — die Bereitschaft zur Abkehr von jener Situation besteht, die im Münchener Abkommen vom 29. September 1938 ihren unheilvollen Ausdruck fand. Ich benutze den Ausdruck „unheilvoll" in bezug auf das Münchener Abkommen deswegen, weil ich an die Folgen denke, die von jenem Tage ausgegangen sind, an dem dieses Abkommen geschlossen worden ist.
Ich will auf die Frage der Nichtigkeitserklärung nicht noch einmal eingehen; Herr Minister Scheel hat das in überzeugender Weise dargestellt. Ich finde seine Ausführungen auch durch die Ihren, Herr Dr. Marx, in keiner Weise widerlegt.
— Das ist eine persönliche Auffassung. Ich wäre, wenn ich die Zeit dazu hätte, gern bereit, auf diese Frage intensiver einzugehen. Aber Sie werden mir zugestehen, daß es mein Recht — so gut wie das Ihre — ist, möglicherweise einer anderen Auffassung zu sein.
Erst das Erkennen ungeschminkter geschichtlicher Wahrheiten öffnet uns den Blick für die Erfordernisse einer von Menschlichkeit und guter Nachbarschaft geprägten Zukunft. Ihr kann man selbstverständlich nur vertrauen — damit komme ich noch auf eine andere Frage —, wenn die Grundlage für eine solche Zukunft, nämlich der uns heute vorliegende Vertrag, keine Nachteile für den einzelnen Bürger schafft. Ich meine, das ist in diesem Vertrag gewährleistet. Damit sind auch die Voraussetzungen für eine Vertiefung der Zusammenarbeit gegeben. Diese Zusammenarbeit kann uns ja auf den verschiedensten Gebieten zugute kommen.
Ich will auf das, was Herr Friedrich über die Regierungserklärung von Herrn Bundeskanzler Kiesinger gesagt hat, nicht noch einmal eingehen. Aber lassen Sie mich zu diesem Komplex vielleicht doch noch folgendes sagen. Das Ziel, das sich Herr Kiesinger gesetzt hatte und das er nicht zu erreichen vermochte — ich stelle das nur einmal als Tatsache fest —, hat die sozialliberale Bundesregierung mit dem vorliegenden Vertrag erreicht.
— Lesen Sie doch bitte einmal die Formulierungen von Herrn Kiesinger nach.
Jedenfalls bin ich der Überzeugung, daß die verbale Beteuerung, ebenfalls Aussöhnung zu wollen,
nicht genügt, um Normalisierung und Aussöhnung herbeizuführen. Die Bundesregierung und die sie tragende sozialliberale Koalition haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Trümmer und den Schutt der unseligen Vergangenheit zu beseitigen. Wir werden uns bemühen — und werden uns sicherlich gemeinsam bemühen müssen —, mit Zähigkeit, Beharrlichkeit und Ausdauer den Weg der Normalisierung weiterzugehen, damit nach der Verständigung und Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarn dieses hohe Ziel auch gegenüber unseren östlichen Nachbarn erreicht werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Becher.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6023
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Liste der Ostverträge ist die mit Prag getroffene Regelung für viele sicher nur noch ein Gegenstand zum Abhaken. Das Zeichen „Erledigt", dem wir nunmehr die Weihe der Ratifizierung geben, macht alles, was folgt — das wissen wir —, bei den gegebenen Mehrheitsverhältnissen zur Formsache. Es läßt, so möchte ich sagen, die Auguren lächeln, die an den Tischen der Entscheidung die Drähte schon längst gezogen haben.Bei dieser Sachlage möchte ich zunächst einmal feststellen, daß man diese Drähte, wie so oft in der Geschichte des böhmerländisch-mährischen Deutschtums, über seine Köpfe hinweg verknüpfte. Die eigentlich Betroffenen, Herr Außenminister, wurden von den Verhandlungen ferngehalten; wie 1918/19, wo sie die Ehre hatten, hinter Stacheldraht zuzuschauen, wie die Mächtigen der Welt über sie entschieden; wie 1938, wo keine Volksabstimmung stattfand, weil die Tschechen dann den Zerfall ihres Gesamtstaates hätten zulassen müssen; und wie 1945, wo auf der Konferenz von Potsdam niemand gefragt wurde.Ich erwähne das nur, um an die Daten der jüngeren Geschichte und an ein Wort zu erinnern, Herr Außenminister, das Sie gebraucht haben, um für Verständnis für die tschechische Seite zu werben. Sie sagten nämlich, die Tschechen hätten es als Schmach empfunden, daß sie 1938 nicht dabeigewesen wären. Um wieviel mehr können die Sudetendeutschen es als Schmach empfinden, daß sie in der Geschichte seit 1918 praktisch immer nur Zuschauer, immer nur Objekte gewesen sind, und um wieviel mehr könnten sie jetzt, da wir in einem freien deutschen Staat leben, erwarten, einmal mit Subjekte des Handelns sein zu können.
Der Prager Vertrag beruft sich ja auf historische Erkenntnisse. Wir kommen also nicht darum herum, uns auch über Geschichte zu unterhalten, und das kann und darf ja nicht einseitig geschehen.Es liegt nahe, etwa an die feierliche Entschließung zu erinnern, mit welcher die Österreichische Nationalversammlung am 6. September 1919 das Unrecht anprangerte, das an den Sudetendeutschen verübt wurde. Österreich versteht vielleicht sehr viel von unserer Geschichte. Und es liegt nahe, die Feststellung zu zitieren, welche die deutschen Parteien in der ersten Sitzung des Prager Parlaments, das nach der uns oktroyierten Verfassung am 1. Juni 1920 zusammentrat, trafen. Sie erklärten damals — ich darf mit Erlaubnis der Frau Präsidentin zitieren —:Die Tschechoslowakische Republik ist das Ergebnis eines einseitigen tschechischen Willensaktes, und sie hat diese deutschen Gebiete widerrechtlich mit Waffengewalt besetzt.Die deutschen Sudetenländer sind in der Tat um ihren Willen niemals befragt worden, und das Ergebnis der Friedensverträge ist daher mit Beziehung auf sie die Sanktionierung einer Gewalt — aber niemals eines Rechtszustandes.So die Erklärung unserer Vorfahren, meiner Landsleute, damals im Prager Parlament, wo sie genau den gleichen Begriff von der Gewalt ansprachen, der nun eine Prämisse des Prager Vertrages wurde.Herr Kollege Ronneburger, ich bitte Sie, dafür Verständnis zu haben, daß die unmittelbar Betroffenen eben nicht über die Vergangenheit hinweggehen können, und zwar nicht in dem Sinn, daß sie nur in der Vergangenheit leben, sondern in dem Sinn, daß sie glauben, daß nur, wenn wir die Vergangenheit ehrlich überwinden, die Gegenwart und die Zukunft zu meistern ist.Das 1918/19 verratene und unter den Kugeln tschechischer Besatzer erschlagene Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen mag manchem eine historische Episode sein. Ein freies deutsches Parlament kann aber nicht aus der Geschichte aussteigen. Es kann dies vor allem dann nicht tun, wenn der Vertragstext selbst, wie hier immer wieder zitiert wurde, Geschichtsurteile fällt und sie zur Prämisse einer Formel macht, die die CDU, die wir für unehrlich, zweideutig und daher für gefährlich für den Frieden halten, Herr Kollege Friedrich.
Diese Formel schadet in gleicher Weise den Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Betroffenen. Sie wurde sozusagen auf Katzenpfoten von der sowjetisch-tschechoslowakischen Seite infiltriert und ohne Not und Zwang zum Herzstück des Vertrages gemacht. Wer hat uns denn gezwungen, Art. 1 und Art. 2 dieser Problematik zu widmen, wo es darum ging, einen Gewaltverzichtsvertrag zu beschließen?
Ich will die Feststellung über die genannte Formel wie folgt begründen, auch auf die Gefahr hin, daß ich einiges wiederhole.Erstens. Die Präambel des Vertrages, die entgegen der uns nun vorgetragenen Meinung sehr wohl ein operativer Bestandteil des Vertrages ist — weil sich die Bundesregierung immer darauf berufen hat, daß die Präambel, der Art. 1 und 2, Gegenstände des Formelkompromisses sind — erhebt den Anspruch, wie immer gesagt wurde, der „unheilvollen Vergangenheit ein für allemal ein Ende zu machen". Sie erwähnt unter dieser Parole nur das Münchener Abkommen von 1938 und die Leiden des zweiten Weltkrieges. Das ist zunächst einmal eine einseitige und daher unzulässige Auslegung der weiß Gott so tragödienreichen böhmischen Geschichte. Deren Unheil kann nicht nur mit dem Abkommen des Jahres 1938 begründet werden. Es hat weit in die Vergangenheit zurücklotende Ursachen. Wer sie, wie es in der Präambel geschieht, aussondert oder unterschlägt, betreibt Geschichtsklitterung und Geschichtsfälschung.
Er unterstreicht die These von der Alleinschuld derdeutschen Seite, er macht sich an all den schwerwiegenden Folgen mitschuldig, die sich daraus poli-
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6024 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Becher
tisch und materiell gegenüber der Bundesrepublik Deutschland ableiten.Zweitens. Die Präambel des Prager Vertrages unterschlägt die den 31/2 Millionen Deutschen der böhmisch-mährisch-schlesischen Länder 1919 angetane Gewalt, als sie unter Bruch des Selbstbestimmungsrechts in einen Staat hineingezwungen wurden, den sie ohne Unterschied der Parteien ablehnten. Selbst die kommunistische Partei der Tschechoslowakei, Herr Kollege Wehner, hat noch auf ihrem Parteitag im Jahre 1931 — ich zitiere wörtlich die „Räumung der deutschen Teile Böhmens" von den Organen der tschechischen Okkupationsmacht verlangt und die deutschen Bewohner zur Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts, wie es wörtlich heißt, „bis zur Loslösung vom Staat" aufgerufen.Drittens. Die Präambel stellt fest, das Münchener Abkommen sei der Tschechoslowakischen Republik durch das nationalsozialistische Regime „unter Androhung von Gewalt aufgezwungen" worden. Es tut mir leid, Herr Kollege Ronneburger — ich muß das sagen —: Sie unterschlägt eben die Tatsache, daß dieses Abkommen nicht nur durch die von Hitler ausgehende Gewalt, sondern auch durch die von England und Frankreich ausgehende Gewalt, nämlich durch die Entscheidungen der Westmächte, erzwungen wurde, die sich an das 1918/19 verratene Selbstbestimmungsrecht erinnerten. Ich würde Ihnen raten, die diesbezüglichen Artikel der damaligen „Times" zu lesen.
Warum ließ die Bundesregierung diese Geschichtsfälschung zu? Warum unterstrich sie nicht den wahren Sachverhalt? Warum ging sie nicht von der historischen Wahrheit aus? Das Münchener Abkommen vom 30. September 1938 hat lediglich die bereits eine Woche vorher, am 19./20. September 1938, zwischen den Westmächten und Prag getroffene Vereinbarung bestätigt. Diese wiederum entsprach einem geheimen Gebietsabtretungsvorschlag, den der tschechische Staatspräsident Dr. Bene§ damals selbst an Frankreichs Ministerpräsidenten Daladier am 15. August 1938 weitergereicht hat.Warum ließ die Bundesregierung, so frage ich, im Vertragstext lediglich die Pressionen Hitlers, nicht aber auch die Gewaltakte der anderen Seite verurteilen?
Warum? — Ich gebe Ihnen die Antwort: Weil die Wahrung der berechtigten geschichtlichen Interessen der betroffenen Deutschen — und hier möchte ich anmerken, daß nicht nur die Araber in Palästina, sondern auch die Deutschen Böhmens und Mährens eben berechtigte historische Interessen haben — den Formelkompromiß verhindert hätte, der den Prager Unterhändlern die Brücke zu ihrer Auslegungslogik baute!
Die in der Präambel durch Ausklammerung von Tatbeständen vollzogene Geschichtsklitterung kam aus tschechischer Sicht nicht von ungefähr. Im Gegenteil, sie ermöglichte den Prager Unterhändlern das Abrücken von der ursprünglichen Forderung,das Münchener Abkommen als „von Anfang an" — nämlich ex tune — „ungültig" zu erklären. Sie stimmten der Formel des Art. I zu, dieses Abkommen im Hinblick auf die gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als „nichtig" zu betrachten. Sie warfen aber gleichzeitig die Angeln ihrer Logik auf die Wiener Vertragsrechtskonvention des Jahres 1969.
Dort, wo sie sehr aktiv mitgearbeitet haben, wird ein Vertrag, der unter Anwendung von Gewalt erzwungen wurde, als „nichtig" im Sinne „von Anfang an nicht existent", also als „von Anfang an ungültig", beurteilt.
Ich weiß nicht, Herr Außenminister, warum den kundigen Helfern der Bundesregierung, die ansonsten gute Arbeit geleistet haben, dieser Angelwurf verborgen blieb. Jedenfalls hat er den Formelkompromiß ermöglicht, in dem nun — so sehe ich es zumindest die Rechtsposition der Bundesrepublik wie Fische im Netze zappeln. Der Begriff „nichtig" — das wurde schon gesagt — ist zur Kennmarke im Dissens geworden, der nun auch diesen letzten der Ostverträge bestimmt. Ich darf ihn an der Gegenüberstellung der beiden entgegengesetzten Auslegungsthesen noch einmal konkret verdeutlichen.Die deutsche Auslegung wird aus einem an mich gerichteten, sehr verdienstvollen Schreiben des Herrn Staatssekretärs Dr. Frank vom 28. August 1973 ersichtlich, der darin — ich zitiere wörtlich —klarstellt:daß die Bundesrepublik Deutschland ihren Rechtsstandpunkt, daß das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 seinerzeit rechtswirksam zustande gekommen war und zum Übergang auf das Deutsche Reich geführt hatte, in den Verhandlungen aufgeführt hat.Die tschechoslowakische Seite hat dieser Feststellung die Aussage eines Mannes, nämlich Dr. Jiri Götz, gegenübergestellt, dem Bonn sinnigerweise nun das Agrément als erster Botschafter der CSSR erteilte. Dieser Dr. Jiri Götz schrieb in der Zeitschrift „Nova mysl" im Oktober des Vorjahres — ich darf wieder wörtlich zitieren — folgendes:Nach allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts hat ein Nullitätsvertrag keinerlei rechtliche Wirksamkeit und wird als niemals existierend erachtet.
An dieser Tatsache kann auch die einseitige Interpretation des Herrn Staatssekretärs Frank in einem Schreiben vom 28. August dieses Jahres nichts ändern, das er den Funktionären der Sudetendeutschen Landsmannschaft übersandte.Dies also die Meinung des Herrn Götz. Der erste Botschafter der CSSR in Bonn, der nach Ostern hier sein Amt antreten wird, trägt somit die alte sowjetisch-tschechische Auslegung der Nichtigkeitsformel wie eine Standarte vor sich her. Er hat sich, selbstverständlich Gehorsam übend, noch mit dem Hin-
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Dr. Becher
weis auf die gleichen Formeln abgesichert, die von den Führungsmitgliedern des Zentralkomitees der KPC entwickelt wurden.Ich würde sagen, die Prager Logik ist kugelrund und geradezu bewundernswert. Sie gibt nur verhalten den Jubel wieder, die Bundesregierung überspielt zu haben. So schrieb das kommunistische Parteiblatt „Rudé Právo" am 21. Juni 1973 — ich zitiere wörtlich —:Jetzt hat also die deutsche Bundesrepublik vertraglich bestätigt, daß das sogenannte Münchener Abkommen unter Gewaltandrohung beschlossen worden ist. Die politische und rechtliche Hauptbedeutung der Anerkennung der Nichtigkeit des Münchener Abkommens beruht darin, daß man damit bestätigt, daß die gewaltsam abgetrennten tschechoslowakischen Grenzgebiete nie Rechtens zum Deutschen Reich gehört haben.Die „gewaltsam abgetrennten tschechoslowakischen Grenzgebiete", meine Damen und Herren, von denen hier gesprochen wird, sind in Wahrheit die seit acht Jahrhunderten bewohnten und von ihnen gerodeten Heimatgebiete der Sudetendeutschen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Prager Logik wäre schon bedauerlich, wenn sie es bei den bisher geschilderten Folgerungen bewenden ließe. Der eigentliche Grund aber, warum wir den Vertrag in der Substanz für krank und gefährlich halten, ergibt sich aus der nun folgenden Konklusion der tschechischen Seite: Wenn nämlich — so sagt sie — das angeblich vom Deutschen Reich allein mit Gewalt erzwungene Münchener Abkommen nichtig und nach der Wiener Vertragsrechtsformel daher „von Anfang an nicht existent" ist, haben diesudetendeutschen Gebiete nie zum Deutschen Reich gehört. Dann hat die Tschechoslowakei in ununterbrochener Kontinuität in ihren alten Grenzen nach 1938 weiterbestanden und im Zeichen eines originären Hoheitsaktes eine innerstaatliche Aktion vollzogen: Sie bestrafte die dreieinhalb Millionen Deutschen ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und politische Herkunft mit der Austreibung, weil sie sich in illoyaler Weise so verhielten, als wären sie nach 1938 Staatsbürger des Dritten Reiches geworden!Kurz gesagt, die tschechoslowakischen Kommunisten verlangten die Feststellung der Nichtigkeit des Münchener Abkommens, meinten aber in Wirklichkeit die Legitimierung und Legalisierung der Vertreibung. Das ist das Entscheidende.
Nachdem sie auf solche Weise, nämlich durch die Ausklammerung der Vertreibung, die unheilvolle Vergangenheit beendet sahen, konnten sie mit Leichtigkeit den Beraubten und Vertriebenen zusichern, daß sie nicht noch weiter beraubt, verfolgt und bestraft würden! Das, meine Damen und Herren, ist die Handelsformel der Statthalter Moskaus in Prag, und das ist die Moral, von der aus sie die Bestimmungen des Art. II des vorliegenden Vertrages al gnadenvolle, noch zu belohnende Zugeständnisse erachten.Die einseitige Schuldthese in der Präambel und die Nichtigkeitsformel haben ihnen diese reiche Beute eingebracht. Sie führten zu dem Ergebnis, daß wir nunmehr die Vergangenheit bewältigen und die Beziehungen auf der Basis eines Vertrages normalisieren wollen, der die Anomalität des größten Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das je in den böhmisch-mährischen Ländern begangen wurde, verschweigt und ausklammert.Damit hat, so meine ich, die Bundesregierung zumindest die moralische Obhutspflicht über die Sudetendeutschen verletzt, welche der Bundestag in seiner einstimmigen Erklärung vom 23. Juni 1950 proklamierte.Der Deutsche Bundestag— so hieß es damals —erhebt feierlich Anspruch gegen die Preisgabe des Heimatrechts der in die Obhut der Bundesrepublik gegebenen Deutschen aus der Tschechoslowakei und stellt die Nichtigkeit des Prager Abkommens— das war damals das seinerzeit zwischen Ost-Berlin und Prag geschlossene Abkommen, das die Austreibung anerkannte —fest.Dieser hier gerügte Tatbestand kann, worauf schon vielfach verwiesen wurde, auch nicht durch die Erklärung des Bundeskanzlers hinweggewischt werden, der Prager Vertrag bedeute weder eine Legitimierung noch eine Legalisierung der Austreibung. Rechtlich wäre diese Erklärung nur dann voll wirksam geworden, wenn sie innerhalb des Vertragstextes und nicht außerhalb des Vertrages einen Niederschlag gefunden hätte.
Bei der so gegebenen Sachlage muß man sich nunmehr fragen, ob der Bundeskanzler das Richtige traf, als er anläßlich einer nach der Unterzeichnung in Prag gehaltenen Tischrede an die Vertragspartner appellierte, den Vertrag nicht durch „einseitige Interpretationen einzuengen". Ich finde, zwischen dieser Erklärung des Bundeskanzlers und Ihrer heute hier vorgetragenen Hauptthese, Herr Außenminister, klafft ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Die Akzeptierung des Appells des Bundeskanzlers, keine einseitigen Interpretationen vorzunehmen, wäre nämlich die schmale Basis, so meine ich, auf der wir mit und trotz der Formel zu leben hätten.Der Bundesaußenminister hat aber demgegenüber den Dissens — er hat es heute in einer halbstündigen Rede direkt herausgestrichen —, also die zweiseitige Auslegung der Nichtigkeitsformel, vor dem Bundesrat als selbstverständlich bezeichnet. Die Feststellung über die Nichtigkeit des Münchener Abkommens, so wird dem Bundesrat in der uns jetzt vorgelegten Drucksache geantwortet, sei „nicht mehrdeutig". Sie gestatte beiden Seiten, ihre Rechtsstandpunkte aufrechtzuerhalten. Es wurde schon gesagt: Welch tolle Gedankenakrobatik, welch toller
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Dr. Becher
Gedankentrick! Gerade darin, daß er verschiedene Rechtsstandpunkte als Auslegungen ermöglicht, liegt die Mehrdeutigkeit und die Krankheit dieses Vertrages. Man sollte uns doch nicht für töricht verkaufen, indem man uns nun eine zweideutige Formel als eindeutig hinstellt. Das Volk draußen und die von Ihnen berührte Offentlichkeit verstehen das jedenfalls auf weite Strecken nicht, Herr Außenminister.Ihre Meinung ist hier ebenso irrig wie die im Bundesrat vorgetragene Überzeugung, durch die gewählte Formel werde ein „Streitobjekt" aus der Welt geschaffen. Nein, verehrter Herr Außenminister! Hier muß ich festhalten, was für alle DissensVerträge gilt und was auch hier schon anklang: Der Mächtigere ist allemal Herr der Auslegung, Herrscher des Dissenses. Hinter Polen, hinter Honecker und hinter der CSSR steht Moskau mit der gerade jetzt — wir haben es heute vormittag gehört — so fühlbaren Aufmarschkraft seiner Divisionen. Der von Ihnen gelobte Dissens ist nicht das Ende alten, sondern der Anfang neuen Streites.
Was, möchte ich Herrn Friedrich fragen, wird sich an der bayerisch-böhmischen Grenze de facto ändern? — Nichts! Hinter dem Schild einer Abgrenzungstaktik, in der sich die tschechischen von den mitteldeutschen Kommunisten voraussichtlich nur wenig übertreffen lassen — wir wissen ja, wie das jetzt vor sich geht —, wird die sowjetseitige Auslegung der Nichtigkeitsthese der Prager Regierung als permanente Daumenschraube dienen. Sie ist für Prag nicht nur das Amen hinter einem großen Verbrechen; sie wird auch die logische Prämisse für die Festsetzung eines nachträglich erfundenen Kriegszustandes der kontinuierlichen Tschechoslowakei mit dem Deutschen Reich per 1. Oktober 1938 sein.Astronomische Entschädigungsforderungen — hier möchte ich meinen Kollegen Marx in Schutz nehmen —, Reparationsforderungen, die hier in Bonn auf einer Pressekonferenz am Tage nach der Paraphierung bereits von tschechischer Seite erhoben wurden,
also keine Erfindungen unseren Kollegen Dr. Marx sind,
wird man aus diesem Titel ableiten, und die Bundesrepublik und die Bevölkerung werden dafür bezahlen müssen.
Die Bundesrepublik Deutschland oder ein gesamtdeutscher Souverän — das ist jetzt das Schauderhafte bei der Umdrehung der Logik des Art. II — wäre dann kraft der Bestimmungen des vorliegenden Vertrages nicht einmal in der Lage, das verlorene Privat- und Nationalvermögen der 31/2 Millionen Sudetendeutschen dagegen in Rechnung zu stellen.
Meine Damen und Herren, sind wir uns darüber im klaren, daß dieser Vertrag damit noch mehr verschenkt als die übrigen Ostverträge? Sind wir uns darüber im klaren, daß er der sowjetisch besetzten und bestimmten Tschechoslowakei ohne Not und nur dem Gesetz der Bahr'schen Kompaktaten zum Moskauer Vertrage folgend nicht nur die Respektierung ihrer Grenzen, den Gewaltverzicht, sondern darüber hinaus eine Zauberformel zur nachträglichen Korrektur der Geschichte offeriert? Sind wir uns darüber im klaren, was wir mit diesem Vertrag, der von der Allgemeinheit in vielen seiner Punkte nur schwer durchschaut wird, den unmittelbar Betroffenen zumuten?Was geschieht, so frage ich die Bundesregierung, mit dem verlorenen Privat- und Nationalvermögen der Sudetendeutschen, das heute auf eine runde Summe von 100 Milliarden DM berechnet wird?
Wer bezahlt das, die CSSR, die Bundesrepublik Deutschland oder die Vereinten Nationen? Hier wird Politik auf Kosten der Betroffenen gemacht.Ich darf Ihnen ein zweites Beispiel vortragen, was man den Betroffenen zumutet. In dem Brief über die strafbaren Handlungen, die angeblich nicht mehr verfolgt werden, bezieht sich die tschechische Seite expressis verbis auf das Statut des Nürnberger Gerichtshofes und sagt, nichts werde mehr verfolgt, nur noch die dort angeführten Verbrechen. Nun darf ich Ihnen einmal die zitierten Art. VI b und c vorlesen.Art. VI, Buchstabe b:Kriegsverbrechen: Mord, Mißhandlungen oder Deportation zu Sklavenarbeit . . .Art. VI, Buchstabe c:Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Mord, Ausrottung, Versklavung. Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung .. .Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine.
Die tschechoslowakische Seite führt hier unter Zitierung des Nürnberger Statuts gerade jene Verbrechen als nichtverjährbar an, deren sie sich bei der Vertreibung der 31/2 Millionen Sudetendeutschen und bei der Vernichtung von 240 000 ihrer Menschen selber schuldig gemacht hat. Es liegt also weit jenseits des Ertragbaren,
wenn man das einfach zur Kenntnis nehmen würde.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6027
Dr. Becher
Ich benutze die Gelegenheit, hier im Deutschen Bundestag und vor aller Öffentlichkeit die tschechoslowakische Seite anzuklagen und zu fragen, wo und wann sie ihrerseits jene vor die Gerichte stellte, die für die Verbrechen der Austreibung verantwortlich sind.
Ich tue dies mit der von mir schon oft geäußerten Feststellung, daß ich meinerseits alle Verbrechen und Vergehen aufs tiefste bedauere und verurteile, die im deutschen Namen am tschechischen und slowakischen Volk begangen wurden.
Ich tue dies gerade im Hinblick auf die Rolle, die die einseitig definierte Schuldthese im vorliegenden Vertrag spielt, und weil ich weiß, daß die Aufrechterhaltung der Mauer des Schweigens vor den genannten Verbrechen, die an uns begangen wurden, keine Normalisierung zuläßt.Die Wahrheit ist das Auge der Geschichte. Legen wir ihre Sonde an den Katalog, mit dem die sowjetische Seite in den späten sechziger Jahren in Bukarest, in Karlsbad und Budapest die Zielansprache ihrer, der sowjetischen Europapolitik verdeutlichte, sehen wir ein großes Konzept in Erfüllung gehen. Von den Forderungen nach der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, der DDR als zweiten deutschen Staat, Berlins als eigenständiger politischer Einheit bis zur Annullierung des Münchener Abkommens und der Festschreibung der sowjetischen Nachkriegsgewinne auf einer europäischen Friedenskonferenz ist nahezu alles erreicht und abgestrichen.
Wir haben es nicht mit einer Verwirklichung der deutschen Ostpolitik zu tun, sondern mit einer Verwirklichung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Es ist alles erreicht, bloß das eine fehlt: das Siegel der Ehrlichkeit. Vom Amur bis zum Böhmerwald, vom Böhmerwald bis zum Amur wird die große Sowjetunion nunmehr von unechten Verträgen flankiert. Ihr Friede heißt Dissens und ihre Methode heißt Täuschung. Das ist die Wahrheit. Wer sie hinwegflunkert, wird auf die Dauer weder der UdSSR noch den davon betroffenen Völkern helfen. Am wenigsten hilft er den Bewohnern der Tschechoslowakei.Und das möchte ich jetzt an die Adresse des Herrn Friedrich sagen, der leider nicht mehr hier ist.
— Lieber Herr Kollege Friedrich, Landsmann Friedrich aus bayerischen Gefilden, wenn Sie uns unterstellen wollen, daß wir nach dem von sudetendeutscher Seite schon im Jahre 1950 mit dem Tschechischen Nationalausschuß getroffenen Abkommen und insbesondere nach unserem Verhalten im August 1968 bis zu Ihrer Rede hätten warten müssen, um von uns aus die Versöhnung und die Wiederbegegnung mit den Tschechen und Slowaken herbeizuführen, dann — so möchte ich sagen — irren Sie sich.
Der Prozeß freiwilliger Wiederbegegnungen auf der Basis des Rechtes, ja, der Solidarisierung, der nach dem August 1968 zwischen den ehemaligen Partnervölkern des böhmisch-mährischen Raumes einsetzte, wird durch den vorliegenden Vertrag eher gehemmt als gefördert.
Meine Damen und Herren! Ich darf Sie trotz der fortgeschrittenen Zeit um Ruhe bitten.
Die Menschen dieses Raumes tragen nach wie vor ein gemeinsames Schicksal: — ich darf das einmal aus unserem Selbstverständnis vortragen, und ich lade Sie ein, zu uns nach Nürnberg zu kommen. Wir werden frei darüber diskutieren, hinter wem die Mehrheit steht, Herr Friedrich! Das werden wir in Nürnberg und bei den Wahlen in Bayern feststellen. —
Die Menschen dieses Raumes tragen nach wie vor ein gemeinsames Schicksal: die einen verloren die Heimat, die anderen die Freiheit. Für sie alle ist eine freie Heimat in einem freien Europa das Leitbild der Zukunft,
nicht aber die Friedhofsstille einer gleichgeschalteten und von unechten Verträgen fixierten Welt.Meine Damen und Herren, die verantwortlichen Gremien der Sudetendeutschen erhoben gegen den vorliegenden Vertrag Rechtsverwahrung. Viele Tschechen und Slowaken lehnen ihn, soweit sie frei sprechen können, öffentlich ab. Der Bundesrat hat aus Gründen, die von der Bundesregierung keineswegs widerlegt worden sind — auch heute nicht durch die Ausführungen des Herrn Außenministers —, gegen ihn Bedenken erhoben. Das gleiche tat die Staatsregierung Bayerns, das als Nachbarland der Tschechoslowakei und als Schirmland der Sudetendeutschen besonders angesprochen ist.Sie, meine werten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, können sich über die gewichtigen Argumente dieser Instanzen mit der Ihnen zu Gebote —oder: noch zu Gebote — stehenden Mehrheit hinwegsetzen. Sie können die Erfüllung des letzten Programmpunktes des Karlsbader Kataloges abhaken und das Zeichen „erledigt" darunter schreiben.
Die Gesprächspartner der SPD in der KP Italiens, die Gesprächspartner vom Jahre 1967, werden sich ganz besonders darüber freuen.
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6028 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Becher
Erledigt ist damit aber nicht nur ein Teil Ihrer verhängnisvollen Ostpolitik, erledigt ist — leider Gottes — ein Stück der Hoffnungen und Wünsche, die der freiheitsbewußte Teil der Völker, um die es hier geht, an die Bundesrepublik Deutschland richtet. Das Nein zu Ihrem Vertrag wird deshalb überhöht durch das Ja der CDU/CSU, durch unser Ja, zur Solidarität mit diesen Menschen.
Millionen Deutsche, viele meiner Schicksalsgefährten, meine politischen Freunde und ich bekunden diese Solidarität, indem sie die Freiheit dieser Menschen, nicht aber das Kalkül ihrer Unterdrücker auch weiterhin unter ihre Obhut nehmen!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Metzger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich als Angehöriger der jungen Generation sagen, Herr Kollege Becher, daß das für uns, für mich eine böse Rede war,
eine böse Rede deshalb, weil aber auch mit keinem Wort von Aussöhnung, von Verständigung die Rede war.
Herr Abgeordneter Metzger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann?
Ich bitte, mit meiner Rede zunächst einmal beginnen zu dürfen.
Bitte sehr, das ist durchaus Ihr Recht.
Herr Kollege Becher, Ihre Rede hat Vorwürfe, Anklagen, Forderungen, Anschuldigungen enthalten.
Ich kann nur sagen, daß diese von Ihnen geforderte Politik des Alles-oder-nichts, mehr eine Politik des Alles, zu einer verhängnisvollen Entwicklung führen wird.Bei diesem Vertrag — das will ich hier noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen — geht es nicht um das Abhaken, wie Sie gesagt haben, im Rahmen der Ostpolitik dieser Bundesregierung. Bei diesem Vertrag geht es auch nicht darum, Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu treffen,
und vor allen Dingen auch nicht — lassen Sie mich auch das sagen — um Geschichtsklitterung,
sondern einzig und allein darum, ob wir in der Bundesrepublik bereit sind, aus unserer leidvollen Geschichte diejenigen Konsequenzen zu ziehen, die uns in Zukunft weiteres Unheil verhindern lassen. Um nichts anderes geht es hierbei.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben mit der Politik des Alles-oder-nichts, die von Rednern der Opposition gerade im Rahmen der Ostpolitik immer wieder herausgestellt und betrieben wird, in Deutschland in diesem Jahrhundert leidvolle und schreckliche Erfahrungen gemacht.
Viel Not und Elend — in vielen Teilen überall auf der Welt — waren die Ergebnisse dieser Politik des Alles-oder-nichts, die letzten Endes zu dem zweiten Weltkrieg und auch zu der politischen Lage geführt hat, die wir heute bei uns in Deutschland vorfinden,
einer Lage, meine Damen und Herren, die die politischen Parteien in der Bundesrepublik und gerade auch hier im Bundestag immer wieder aufs neue auf eine Zerreißprobe stellt.Auch bei der Behandlung dieses Vertrages, der uns heute und in den nächsten Wochen hier im Parlament beschäftigen wird, wird das nicht anders sein. Aber nicht nur die Politik des Alles-oder-nichts brachte für uns eine Menge Unheil,
wir haben auch immer wieder verhängnisvolle Erfahrungen gemacht mit einer, wie ich meine, Herr Kollege Becher, bisweilen fatalen Neigung — und diese fatale Neigung ist in Ihrer Rede wieder deutlich geworden —, auf eine vermeintliche oder auch, wie ich durchaus einzuräumen bereit bin, bestehende Rechtsposition oder einen Rechtstitel zu pochen, ohne die geschichtliche Entwicklung, die politische Lage und — auch das gilt für Sie, Herr Kollege Becher — das eigene vorausgegangene Verhalten zu berücksichtigen.
Wir können natürlich, so wie das in Ihrer Rede zum Ausdruck gekommen ist — ich will das ganz deutlich sagen —, nach dem Motto handeln: Wir werden weiter marschieren, his alles in Scherben fällt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6029
Metzger— Herr Kollege Wagner, mit Ihren Beleidigungen können Sie mich überhaupt nicht beeindrucken.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie doch um Ruhe!
Herr Präsident, ich nehme ja an, daß diese Störungen meiner Redezeit gutgeschrieben werden.
Herr Abgeordneter, ich bin noch nie kleinlich gewesen, was die Redezeit betrifft. Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen. — Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, den Redner zu Wort kommen zu lassen und ihm anschließend zu antworten.
Diese angeblichen oder tatsächlichen, bestrittenen oder unbestrittenen Rechtstitel spielen zweifellos auch heute wieder eine Rolle
und werden auch in den Ausschußberatungen für uns von Bedeutung und Wichtigkeit sein.
Aber es ist hierbei die Aufgabe des gesamten Parlaments wie auch die Aufgabe der Bundesregierung, die Gesamtinteressen unseres Volkes und auch die Gesamtinteressen unserer Bevölkerung wahrzunehmen.
Wenn hier immer versucht wird, Schuld gegen Schuld aufzuwiegen, Unrecht gegen Unrecht zu stellen, dann frage ich: Wann wollen wir denn endlich diesen Teufelskreis durchbrechen? Wir müssen uns doch vor Augen führen,
daß wir mit schweren Hypotheken aus der Vergangenheit belastet sind, gerade auch gegenüber unseren Nachbarn im Osten.
Wir alle in diesem Parlament waren uns einig darüber, daß die Versöhnung und der Ausgleich mit unseren Nachbarn im Westen, daß gerade auch die
Versöhnung und der Ausgleich mit Frankreich herbeigeführt werden müssen.
Herr Abgeordneter Metzger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Becher?
Bitte schön!
Herr Kollege Metzger, würden Sie mit mir übereinstimmen, wenn ich sage: Auch ich bin für die These, man soll nicht Schuld gegen Schuld aufrechnen, aber genau das ist der Fehler der Präambel und dieses Vertrages, daß er einseitig eine deutsche Schuld feststellt, wodurch Ihre These von der Gefahr für uns alle ad absurdum geführt wird?
Nein, dem kann ich nicht zustimmen, Herr Kollege Dr. Becher.Ich bin der Auffassung — da sollten Sie mir eigentzustimmen —, daß an dieser Aussöhnung und Verständigung mit unseren westlichen Nachbarn, mit Frankreich, die früheren Bundesregierungen ein ganz entscheidendes Verdienst haben. Aber wie lange wollen wir eigentlich noch warten, diesen Ausgleich und diese Normalisierung auch mit unseren östlichen Nachbarn herbeizuführen, 28 Jahre nach Beendigung dieses schrecklichen zweiten Weltkriegs?Wir haben den Anfang gemacht mit den Verträgen mit Moskau und Warschau.
Wir haben in der sozialliberalen Koalition immer wieder darauf hingewiesen, daß diese Ostpolitik eine Politik der kleinen Schritte sein muß,
daß diese Politik der kleinen Schritte aber eben besser ist als eine Politik der großen Worte oder eine Politik, wie sie hier wieder von Herrn Dr. Becher empfohlen worden ist.
Es wird ein langer und beschwerlicher Weg sein. Auf diesem Weg wird es Rückschläge geben;
das ist von uns immer wieder gesagt worden. Aber wie soll es denn möglich sein, meine Herren von der Opposition, Gräben, die durch eine fünfjährige faschistische Okkupation
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6030 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Metzgerund durch einen 25 Jahre andauernden Kalten Krieg zwischen Ost und West aufgerissen wurden, von heute auf morgen zuzuschütten?
Wir sind überzeugt davon, daß die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung die Voraussetzung dafür schafft, diese Gräben wieder auszugleichen, allerdings in einem langwierigen Prozeß. Dazu gehört auch der Vertrag mit Prag, der die Probleme keineswegs beseitigt und die Probleme keineswegs löst, sondern den Vertragspartnern die Möglichkeit gibt,Zuruf des Abg. Zoglmann)miteinander ernsthaft zu sprechen, gegenseitige Probleme und Schwierigkeiten zu diskutieren und die Chancen zur Verständigung nüchtern zu untersuchen und dann auch zu nutzen. Dabei hat uns ausschließlich die Vernunft und der Wille, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, Herr Kollege Becher, gezwungen, wie Sie gesagt haben, diesen Vertrag abzuschließen.
Wir sind realistisch genug, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Politik der Normalisierung auch mit unseren östlichen Nachbarn nicht nur von großen Versöhnungsgesten leben kann; es geht hierbei auch um handfeste Interessen.
Aber wir sollten uns vor jener Einstellung hüten, jede Rechnung, die von der einen Seite im Verlaufe der Verhandlungen aufgestellt wird, immer und in jedem Fall mit einer Gegenrechnung zu beantworten.Herr Kollege Becher hat das Thema der Nichtigkeit des Münchener Abkommens erneut in den Vordergrund der Diskussion gestellt. Wir werden Gelegenheit haben, in den Ausschüssen, vor allem im Rechtsausschuß, gerade auch diese Frage sehr eingehend zu prüfen und zu behandeln. Aber ich will jetzt schon folgendes sagen, um gar nicht erst Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Die Frage der Nichtigkeit könnte ein professoraler Streit sein.
Sie ist deshalb kein professoraler Streit, weil in dem entscheidenden Art. II des Vertrages eindeutig und klar folgende drei Festlegungen getroffen sind: Erstens: durch die Feststellung der Nichtigkeit werden die Rechtswirkungen, die sich aus dem angewandten Recht der Zeit vom 30. September 1938 bis 19. Mai 1945 ergeben, nicht berührt; zweitens: die Fragen der Staatsangehörigkeit richten sich ausschließlich nach den Rechtsordnungen der jeweiligen Vertragsstaaten; und drittens: der Vertrag ist eben keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der Tschechoslowakei und für materielle Ansprüche der natürlichen und juristischen Personen in diesem Land.Ich kann nur die Bitte äußern und die Hoffnung haben, daß bei den Ausschußberatungen die Sachfragen ohne Emotionen und auch ohne parteitaktische Gesichtspunkte erörtert werden,
im Interesse der Versöhnung und im Interesse der Verständigung und auch im Interesse einer Friedenssicherung in Europa.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kunz .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Metzger, ich bedaure, wie Sie uns hier gleichgesetzt haben mit einer Politik in einer Zeit in der deutschen Geschichte, die in der Tat Unheil war. Sie haben es für richtig gehalten, eine demokratische Partei dieses Hauses mit der Politik der nackten und brutalen Gewalt des Nationalsozialismus zu identifizieren, und für diejenigen, die noch Zweifel am Sinn dieser Ihrer Worte gehabt haben könnten, haben Sie noch hinzugefügt: Nach dem Motto „Wir werden weiter marschieren". Herr Kollege Metzger, ich fordere Sie auf, sich von Ihren eigenen Äußerungen zu distanzieren.
Herr Bundesminister des Auswärtigen, ich bitte Sie, im Interesse des Stils in diesem Hause, im Interesse des Versuchs, bei den Dingen, die uns trennen, Gemeinsamkeiten zu finden, diese unerhörte Äußerung des Kollegen Metzger zurückzuweisen.
Ich habe, Herr Kollege Metzger, von Ihnen insbesondere vernommen, daß Sie als Mitglied der jungen Generation diese Erklärung hier abgegeben haben wollen. Jenes Maß an Undifferenziertheit, das in Ihren Worten zum Ausdruck kommt, ist zu keiner Zeit, auch nicht in den letzten Jahren, wo die Jungwähler bekanntlich in einem hohen Maß Ihre Partei gewählt haben, vorgekommen wie von Ihnen heute.
Herr Abgeordneter Kunz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gansel?
Bitte!
Herr Kunz, wären Sie nicht doch bereit, zu konzedieren, daß diese Worte von Herrn Metzger berechtigt sein mußten, nachdem man zumindest bei den ersten zwei Dritteln der Rede von Herrn Becher den Eindruck haben mußte, daß er
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6031
Ganselheute abend nicht gegen den Vertrag sprechen wollte, sondern für das Münchener Abkommen?
Herr Kollege Gansel, ich muß diese Ihre Interpretation ebenso zurückweisen wie die Gleichsetzung der Opposition mit der Politik von Alles oder Nichts. Es ist dieselbe Grundlinie, die leider auch in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt. Ich werde im Verlaufe dessen, was ich hier noch vortragen will, Gelegenheit haben, unseren Standpunkt noch einmal zu verdeutlichen. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß mich mit Herrn Becher eint, daß dieser Vertrag nicht der Grundstein einer Versöhnungspolitik ist und insbesondere kein Bauelement des Ausgleichs, denn „ausgleichen" kommt für mich von „gleich", von abwägen, von in Beziehung setzen und von Gerechtigkeit.
Wenn eine Regierung dem Parlament einen Vertrag vorlegt, so gibt es verschiedene Maßstäbe zur Beurteilung dieses Vertrages. Der erste Maßstab ist, daß das geregelt werden muß, was regelungsnotwendig ist. Der zweite Maßstab ist der, daß sich eine Regierung an den Ansprüchen messen lassen muß, die sie selbst erhoben hat. Ich füge gerade in diesem Falle einen weiteren Maßstab hinzu: Insbesondere muß sich eine Regierung an den Worten des Regierungschefs messen lassen, die dieser aus Anlaß der Vertragsunterzeichnung in Prag gefunden hat.Was waren das für Worte? Der Bundeskanzler sprach davon, daß nur aus der Wahrhaftigkeit gegenüber der Geschichte jungen Menschen der Völker Europas der Weg zu einem Leben, das sie als menschenwürdig sinnvoll betrachten können, geöffnet werden kann. Ich frage, wenn ich mir den Vertragstext und die begleitenden Dokumente ansehe: Wo ist diese Wahrhaftigkeit, die der Bundeskanzler abstrakt zu Recht gefordert hat? Wenn ich die anderen wohlgesetzten Worte des Bundeskanzlers nehme, nämlich:Niemand kann seiner Vergangenheit, seiner Geschichte entfliehen. Nur wer sich jetzt stellt, wird sie ins Positive, ins Konstruktive wenden können.frage ich: Wo in dem Vertrag, wo in den begleitenden Papieren hat sich die andere Seite zu dem Unrecht gestellt, das auf ihr Konto geht?
Dies sind keine willkürlichen Maßstäbe, und dies sind keine revanchistischen Gedankengänge, sondern es sind jene Grundanforderungen, die eine Regierung einfach nicht überschreiten kann. Lassen Sie mich aus gegebenem Anlaß auf ein weiteres hinweisen. Der Ministerpräsident der Tschechoslowakei, Strougal, erklärte bei einer Tischrede am Tage nach der Vertragsunterzeichnung in Prag — ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident —:daß gerade heute 30 Jahre verstrichen sind, wo die Tschechoslowakei den Bündnisvertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet hat. Dies ist die Orientierung gewesen, die dem Volk der Tschechen und Slowaken die Freiheit gebracht hat, die es ihm ermöglicht hat, definitiv seine Staatlichkeit und Eigenständigkeit zu sichern, für die es jahrhundertelang so schwer kämpfen mußte.Wir alle wissen, meine Damen und Herren, welche Fragwürdigkeit — ich darf hinzufügen: welcher Zynismus — in diesen Worten ist. Wir können uns nicht davon frei machen, Hintergründigkeit in diesen Worten zu sehen. Wir erinnern uns der Vorgänge, die die Tschechoslowakei und ihre Hauptstadt Prag durch das Vorgehen sowjetischer Truppen 1968 erleben mußten.
— Herr Kollege Marx, auch dies und gerade dies gehört zur Wahrhaftigkeit vor der Geschichte, daß, wenn man von dem Motto spricht: „wir werden weitermarschieren", hier beim Namen zu nennen ist, daß es in der Tat uns als Deutsche im freien Teil unseres Landes tief beschämt,
daß mitteldeutsche Truppen an der Unterdrückung der Freiheit der Tschechen und Slowaken beteiligt waren.
Warum sage ich dies? Ich sage dies, weil Sie — Herr Kollege Metzger, ich darf mich speziell auch an Sie wenden — in diesem Vertrag den Grundstein der Versöhnung sehen wollen und weil dieser Vertrag begleitet ist von der eben zitierten Rede des tschechischen Ministerpräsidenten, die auf den Bündnisvertrag mit der Sowjetunion und seine Bewährung an eben diesem Tage, wo wir alle gehofft haben, Versöhnung in die Wege zu leiten, gerichtet ist.
Mit dem Vertrag hat eine Reihe von weiteren Vorgängen zu tun, insbesondere der, daß das Völkervertragsrecht den klaren Grundsatz kennt, pacti clari boni amici, also klare Verträge — gute Freunde, unklare Verträge — keine Freunde. Wie ist es aber mit der Klarheit in den Vertragsbestimmungen?Die entscheidende Vertragsbestimmung in Art. I lautet, daß die Vertragspartner das Münchener Abkommen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig betrachten. Herr Bundesaußenminister, Sie haben versucht, darzulegen, daß durch die Einbindung des Begriffes „nichtig" diesem Begriff nicht der herkömmliche Inhalt gegeben worden sei, sondern der Inhalt einer nur nachträglichen Unwirksamkeit. Ich möchte jenseits von allen rechtswissenschaftlichen Überlegungen Ihnen wenigstens eines antworten. Begriffe, die eindeutig in der Rechtssprache sind — der Begriff nichtig ist es —, können möglicher-
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weise von einer Supermacht im Sinn verändert werden, von einer Macht wie der Bundesrepublik Deutschland mit Sicherheit nicht. Sie mögen vieles zu Ihrer Disposition haben, eindeutige Begriffe stehen zu niemandes Disposition, und die Unklarheit ir. Begriffen ist der Anfang von der Begriffsverwirrung,
und die Begriffsverwirrung in diesem Vertrag ist einer der Gründe, weshalb wir nein sagen müssen zu dem, was uns vorliegt.
Herr Minister, die Tinte ist noch nicht trocken, und schon geht der Streit los. Nun kann man sagen, ist nicht der Streit über die Nichtigkeit ein Streit zwischen Juristen? Nein, ganz und gar nicht. Ich möchte, um die Bedeutung von Auslegungseindeutigkeiten zu unterstreichen, mir erlauben, die polnische Presse mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, zu zitieren:Mit hoher Wahrscheinlichkeit schreibt die polnische Presse —kann vorausgesetzt werden, daß die Regierung von Bundeskanzler Brandt und Vizekanzler Scheel unter dem Druck der Opposition und in Übereinstimmung mit der politischen Philosophie, die wir nicht teilen, versuchen wird, die Verträge auf ihre Weise zu interpretieren.— Und jetzt darf ich um Ihre besondere Aufmerksamkeit bitten —Der Kampf um die eindeutige Auslegung dieser Verträge wird das nächste Stadium des diplomatischen Ringens in Europa sein.
Das heißt, Herr Bundesaußenminister, die Auslegung wird die Arena sein, in der sich die Dinge bewegen. Deshalb ist es so schädlich, daß wir von vornherein in einer unguten Startposition sind.
Herr Abgeordneter Kunz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wischnewski?
Herr Kollege, können Sie so nett sein und dem Hause sagen, um welche polnische Zeitung es sich genau handelt und von welchem Datum sie ist, damit man die Möglichkeit hat, das nachzulesen? Sie haben nur von der polnischen Presse gesprochen.
Herr Kollege Wischnewski, ich bin immer dankbar, wenn ich zur Präzision gezwungen werde; ich darf dies wie folgt tun. Am 21. Januar 1972 verbreitete die polnische amtliche Nachrichtenagentur im englischsprachigen Auslandsdienst den Text, den ich Ihnen eben genannt habe.
— Am 21. Januar 1972; ja, es war einige Zeit früher als heute.
— Herr Kollege Wischnewski, dieser Ihr Einwand beweist mir — verzeihen Sie, wenn ich das als jemand, der weitaus jünger ist als Sie, sagen muß daß Sie bis heute nicht begriffen zu haben scheinen, doll der Auslegungsstreit keine Juristerei ist, sondern hohe und wichtigste Politik um die Gestaltung unserer Interessen.
Meine Damen und Herren, auch in dieser fortgeschrittenen Abendstunde, in der bekanntlich die Leidenschaften immer überborden, möchte ich doch dringend bitten, sich in der Form des Ausdrucks zurückzuhalten, auch Herr Kollege Wischnewski.
Fahren Sie fort, Herr Redner!
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte zu einem weiteren Punkt kommen, zur Frage der, soweit sie im Vertrag angesprochen ist, Staatsangehörigkeitsklausel.
Herr Abgeordneter Kunz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?
Bitte!
Herr Kollege, um in aller Form der Bitte des Präsidenten nachzukommen, möchte ich Sie doch bitten, dem Hohen Hause zu sagen: Hätten Sie auch ohne die Zwischenfrage des Herrn Wischnewski die Kollegen darauf aufmerksam gemacht, daß Sie einen Artikel, der zwei Jahre all ist, zitiert und damit das Haus völlig irregeführt haben?
Herr Kollege Ehrenberg, diese Frage gibt mir Gelegenheit, Sie darauf hinzuweisen, sich einmal in erhöhter Weise und gesteigerter Aufmerksamkeit das anzuhören, was die Opposition vorträgt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mertes?
Bitte.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974 6033
Herr Kollege Kunz, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß es Ihnen mit dem Hinweis auf dieses Zitat darauf ankam, das Problem der Mehrdeutigkeit aller Ostverträge und des zu erwartenden Kampfes um die Auslegung dieser mehrdeutigen Verträge anzusprechen?
Genau das ist der Fall.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Kunz, können Sie bestätigen, daß sich die Ziele der polnischen Regierung nicht in dem Maße und so schnell ändern wie die der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion?
Herr Kollege Sauer, ich teile diese Meinung.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte zur Frage der Staatsangehörigkeit und ihrer Erfassung im Vertrag Stellung nehmen. Es heißt, daß der Vertrag die Staatsangehörigkeit lebender und verstorbener Staatsangehöriger unberührt lasse. Zwar kann nach dieser Bestimmung die Tschechoslowakei nicht mehr behaupten, infolge anfänglicher Nichtigkeit des Münchener Abkommens seien die Sudetendeutschen 1938 niemals deutsche Staatsbürger gewesen. Andererseits und das sehe ich als die Gefahr an — könnte sich aber die Bundesrepublik infolge der Hinnahme der tschechoslowakischen Auffassung zur Staatsangehörigkeit der Möglichkeit begeben, zugunsten der noch in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen so aktiv tätig zu werden, wie das notwendig ist.Die Ostpolitik der Bundesregierung insgesamt ist im Hinblick auf Staatsangehörigkeitsprobleme leider dadurch gekennzeichnet, daß sie von einer Art Gleichwertigkeit des jeweiligen Standpunktes zur Staatsangehörigkeit auch bei der praktischen Abwicklung der entstandenen Probleme ausgeht. Wenigstens bei dieser praktischen Abwicklung aber — wenigstens dort! — muß eindeutig unterschieden werden, und zwar dahin gehend, daß die deutsche Staatsangehörigkeit der Betroffenen die von ihnen gewünschte ist, während in einer Vielzahl von Fällen, bei Hunderttausenden, in der CSSR ebenso wie in Polen, die tschechoslowakische wie die polnische Staatsbürgerschaft als aufgezwungen empfunden wird. Das ist ein Unterschied, der gerade bei der praktischen Behandlung der anstehenden Probleme von großer Bedeutung ist.Ein weiterer, ganz entscheidender Mangel des Vertrages ist die ungenügende Regelung der humanitären Fragen. Von einer Sicherung der Menschenrechte für die in der CSSR zurückgebliebenen Deutschen wird nicht, nicht einmal indirekt, gesprochen. Wenn man die Bundesregierung fragt, warumdas nicht der Fall sei, erhält man zur Antwort, eine solche Regelung sei wegen des tschechoslowakischen Standpunktes zur Staatsangehörigkeit einfach nicht denkbar und deshalb eben nicht möglich.Gerade wenn sich aber die Bundesrepublik diesen Menschen rechtlich und moralisch verpflichtet fühlt, hätte sie angesichts der Summierung unserer Gegenleistungen — und der Prager Vertrag ist ja eine weitere Station dafür — minimale Verbesserungen der rechtlichen Situation dieser Menschen erreichen können und erreichen müssen. Die Methode wäre gewesen: Ausdauer und Zähigkeit. Es wäre auch zu diesem Punkt zu sagen, daß es auch für die Sache viel besser wäre, wenn dieser Vertrag hier noch nicht heute zu behandeln gewesen wäre, sondern wenn man sich weitere Zeit genommen hätte, um zu substantiellen Regelungen zu kommen.
Dann heißt es im Briefwechsel, die Ausreiseanträge wolle man wohlwollend beurteilen. Was heißt „wohlwollend beurteilen"? Was heißt „wohlwollend beurteilen" durch eine Regierung, die — auch dies gehört zur Geschichte, freilich auch zur Gegenwart — die sowjetische wie die mitteldeutsche Invasion der Tschechoslowakei 1968 als einen Akt brüderlicher Hilfe und Freundschaft bezeichnet hat? Was heißt „wohlwollend beurteilen" entsprechend den in der Tschechoslowakei gerade heute geltenden Gesetzen und Rechtsvorschriften? Bleibt hier Substanz? Ich muß hinzufügen: was haben wir aus den Vorgängen in Polen und mit Polen nach dem Abschluß des Warschauer Vertrages gelernt? Es ist zu befürchten, daß wiederum, sobald eine gewisse Zeit nach der Ratifizierung vergangen ist, wegen der Dürftigkeit der ausgehandelten Abreden größte Schwierigkeiten entstehen und möglicherweise diese allenfalls dadurch gemindert werden können, daß Kreditzusagen, die formell zusammenhanglos erfolgen, Herr Minister, gegeben werden. Wiederum wird die ungenügende Sicherung menschlicher Erleichterungen zum Ansatz für Druck, und für die wenigen Gegenleistungen der östlichen Vertragspartner muß immer neu und immer mehr bezahlt werden. Dies ist eine Grundaussage zur Ostpolitik dieser Koalition.
— Herr Kollege Wischnewski, lassen Sie mich gerade als Berliner Abgeordneter erklären — es ist gut, daß wir auf diesen Punkt noch zu sprechen kommen —, daß in dem Vertrag mit der CSSR keine genügende Wahrung der Rechtspositionen und Interessen des Landes Berlin gesehen werden kann. Der Geltungsbereich des Vertrages in bezug auf das Land Berlin ist nur ein teilweiser. Nur in den Artikeln II und V wird Berlin in Bezug genommen, wobei die Einbeziehung des Landes Berlin in Folgeverträge in jedem Einzelfall zu vereinbaren ist. Die Berlin-Frage dürfte also weiterhin ein Erpressungsinstrument der anderen Seite bleiben. Kann es Versöhnung geben, solange die legitimen Interessen Berlins weiterhin konstant beeinträchtigt werden? Ich meine: nein. Gerade wenn man die Formel, die die sozialdemokratische Partei doch gerade immer wieder geprägt hat, „Realität gegen Realität", über-
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Kunz
haupt für richtig halten kann, so frage ich: warum haben Sie in Ihren Verhandlungen nicht konsequent genug darauf hingewirkt, daß die Realität des freien Berlins und seine Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland anerkannt wird?
Die volle Vertretung Berlins durch die Bundesrepublik Deutschland beim Rechtshilfeverkehr mit der CSSR ist nicht sichergestellt. Bei dem Notenwechsel vom November 1973 über den Rechtshilfeverkehr für Berliner Gerichte, Behörden und öffentlich-rechtliche Institutionen handelt es sich bedauerlicherweise nur um Absichtserklärungen, die auf ein Modell Bonn—Moskau verweisen. Dies ist einer der gravierendsten Punkte in der Architektur des Vertrages, der uns heute vorgelegt wird. Mir will scheinen, daß selten eine politische Doktrin, die einen Großmachtanspruch über andere Völker ausdrückt, so in die Vertragsdokumente eines freien Landes aufgenommen worden ist.
Dies ist bedauerlicherweise geschehen. Als die bereits damals bei der Rechtshilfe bestehenden Schwierigkeiten sich in voller Härte zeigten, — niemand kennt die Vertragsgeschichte besser als Sie, Herr Minister und Ihr Staatssekretär Frank , wurden vom Herrn Staatssekretär die Verhandlungen zunächst zu Recht unterbrochen. Sodann fuhr Herr Kollege Wehner nach Moskau und erklärte dort, daß die Berlin-Politik der Bundesregierung „überzogen" sei. Herr Bundesaußenminister, dann fuhren wiederum Sie nach Moskau, wobei ich ein gewisses Verständnis dafür habe, daß Sie nach diesen mittlerweile entstandenen Hypotheken einen doppelt schweren Stand hatten. Kein Verständnis habe ich allerdings dafür, wenn Sie hier erklären, daß die damit zusammenhängenden Probleme gelöst seien. Immerhin hat Herr Friedrich davon gesprochen, daß eine Lösung kommen würde. Uns, Herr Friedrich, geht es — das möchte ich in diesem Zusammenhang sagen — in keiner Weise um kleinliches Herangehen an diese Dinge — an den Begriff der Versöhnung und an seine Durchsetzung kann man nicht kleinlich herangehen —, sondern wir gehen heran mit dem Maßstab, der notwendig ist, wir gehen heran mit dem Maßstab: Wie kann wirkliche Versöhnung erreicht werden? und dies kann man nicht dadurch, daß man Lösungen durch Heftpflaster ersetzen will.
Und dies ist die Methode dieses Vertrages.
Ich kann nur hoffen, daß das Rechtshilfeproblem für Berlin in Zukunft seriöser behandelt wird, als das bisher geschehen ist.
— Herr Kollege Wischnewski, einerseits sagen Sie, Sie seien im Begriff, die Probleme zu lösen, Sie würden Versöhnung, die es im Westen gegeben habe, auch im Osten verwirklichen, andererseits bescheinigen Sie sich selbst — auch durch diesen Zwischenruf —, daß Sie nichts erreicht haben. Und ich füge hinzu: nicht nur nichts erreicht haben, sondern in einer Sackgasse gelandet sind,
gerade in diesen Problemen, die zu bereinigen Jahre erfordern wird. Ich hoffe, daß wir bald diesen Weg beschreiten können.
Meine Damen und Herren, der Vertrag, der uns vorliegt, ist in entscheidenden Punkten unklar. Er ist in Leistung und Gegenleistung unausgewogen. Gleichwohl möchte ich hinzufügen: Über schwere Bedenken hätte man vielleicht noch hinwegkommen können, wenn die Gesamtrichtung Ihrer Ostpolitik stimmen würde, aber insbesondere die stimmt nicht. Dafür, daß sie nicht stimmt, ist dieser Vertrag ein beredtes Beispiel. Dafür, daß die Gesamtrichtung nicht stimmt, sind die Schikanen, die es in Berlin gegeben hat, ein Beispiel, sind die Abkaufsgespräche, die Polen uns zumutet, ein Beispiel. Dafür ist nicht zuletzt auch die anmaßende Forderung der DDR nach Abschaffung der einen deutschen Staatsein Beispiel. Dies sind die Probleme, mit denen Sie konfrontiert sind. Wo haben Sie denn etwas erreicht auf diesem Wege? Ich muß sagen: Die Bilanz ist erschütternd, sie ist so erschütternd, daß man befürchten muß, daß Weiteres auf dem Weg der schiefen Ebene folgen wird.Wir lehnen diesen Vertrag ab, aber nicht deshalb, weil wir keine Versöhnung wollten; das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil wir Versöhnung wollen, wollen wir einen Vertrag, der die Eignung zur Versöhnung hat, einen Vertrag, der den Respekt vor der Freiheit und vor dem Freiheitsbedürfnis der Tschechen und Slowaken bekundet und der nicht Klauseln enthält, die eine Einbindung in die Breschnew-Doktrin zumindest als wahrscheinlich erkennen lassen. Wir wollen Versöhnung gerade mit den Völkern der Tschechoslowakei, und wir reichen ihnen unsere Hand. Nur: Diesen Vertrag können Sie denen, die davon betroffen sind, nicht reichen.
Wir lehnen ab.
Meine Damen und Herren, aus der Mitte des Hauses liegen keine Wortmeldungen mehr vor.
Das Wort wünscht der Herr Bundesminister des Auswärtigen. Ich erteile es ihm und mache darauf aufmerksam, daß die Debatte damit natürlich neu eröffnet ist.
Herr Präsident, Ihre Feststellung, daß die Debatte hiermit
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Bundesminister Scheelwieder eröffnet ist., nehme ich gerne Zur Kenntnis. Ich habe selbstverständlich damit gerechnet.
Ich kann aber nicht darauf verzichten, zum Abschluß dieser Debatte einige Bemerkungen zu dem zu machen, was vor allem die Kollegen der Opposition heute hier vorgetragen haben. Ich wende mich in erster Linie an Herrn Marx, weil ich annehme, daß Herr Marx die offizielle Meinung der CDU vielleicht am ehesten zum Ausdruck gebracht hat.
— Ich komme zu allen.Ich muß Ihnen sagen, Herr Marx, über das, was hier von Ihnen und von anderen vorgetragen worden ist, bin ich — gestatten Sie mir, das so zu formulieren — tief betroffen. Ich bin tief betroffen von der Diskussion dieser Verträge, weil ich den Eindruck habe, daß Sie insgesamt auf die 50er und die frühen 60er .Jahre zurückgefallen sind,
weil alle alten Begriffe ohne eine einzige Ausnahme wiederkommen. Selbst der junge Kollege aus Berlin, der zuletzt gesprochen hat, will die Verträge jetzt mit den Völkern abschließen und nicht mehr mit Regierungen.
Es waren genau die Töne der 50er und 60er Jahre des Alles-oder-Nichts, die uns daran gehindert haben, die Deblockierung vorzunehmen, die in Europa vorgenommen werden muß,
wenn hier in Europa Frieden herrschen soll nicht nur zwischen uns und unseren Nachbarn, sondern zwischen den Westeuropäern und den anderen europäischen Ländern, wenn wir uns einfügen wollen in eine weltweite Politik der Entspannung, die von den Amerikanern genauso betrieben wird wie von uns. Warum ist denn Kissinger in Moskau und sonstwo? Diese Diskussion hat mich zutiefst betroffen gemacht, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich zunächst einmal folgendes sagen. Die Art der Führung einer Debatte, wie Sie sie gerade vorführen und wie es andere Ihrer Kollegen während der ganzen Dauer der Debatte demonstriert haben, ist unwürdig für den Stoff, über den wir hier diskutieren.
Ich höre mir Herrn Becher an, nicht weil ich mit ihm einer Meinung bin — in manchen Dingen vielleicht, aber ich bin mit ihm in wesentlichen Fragen nicht einer Meinung —, sondern weil ich das, was er sagt, für wichtig halte. Ich will es wissen. Ichhöre ihn mir an. Und so höre ich mir alle Redner der Opposition an, aber ich habe das Gefühl, daß die Opposition nicht bereit ist, die Argumente der Redner der Regierung und der Koalitionsparteien sich auch nur anzuhören, weil Sie schon alles wissen, meine Damen und Herren.
Das ist es doch, warum Sie niemanden anhören wollen!
— Nun lassen Sie das mit dem deutschen Volk einmal; das hört sehr genau. Ich komme nachher darauf.Meine verehrten Damen und Herren! Ich will jetzt nicht in die Geschichtsbetrachtungen eintreten, die hier sehr lang und breit angestellt worden sind, denn — das habe ich vorhin gesagt — mit einem Vertrag kann ich Geschichte weder schreiben noch umschreiben. Das ist nicht der Sinn dieses Vertrages, obwohl ich durchaus Verständnis dafür habe, daß in der Diskussion vor allem von den Rednern, die an diesem Geschehen ganz persönlich beteiligt gewesen sind und persönlich engagiert sind und sein müssen, geschichtliche Betrachtungen angestellt worden sind, die die ganze Periode des Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen und Slowaken umfaßten.Aber hier, Herr Kollege Marx, geht es doch umetwas anderes. Sie haben damit begonnen, von den Leistungen und Gegenleistungen in diesem Vertrag zu sprechen. Nun frage ich Sie, wenn Sie den Vertrag analysieren: Welche Zugeständnisse haben wir denn in diesem Vertrag gemacht, wo sind denn die Leistungen, die wir erbracht haben?
Ja, wir haben das Zugeständnis gemacht, die Politik des Nationalsozialismus den Tschechen gegenüber moralisch zu verurteilen. Wollen Sie dieses Zugeständnis etwa nicht machen, oder wollen Sie sagen, dieses hätten wir besser nicht getan? Es ist einfach nicht richtig, daß in der Präambel einseitig aufgerechnet worden ist. Nur wenn man sie nicht richtig verstehen will, kommt man zu diesem Schluß. Es ist wichtig, daß man die Texte von Zeit zu Zeit durchliest. Da heißt es:In dem festen Willen, ein für allemal mit der unheilvollen Vergangenheit in ihren Beziehungen ein Ende zu machen, vor allem im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, der den europäischen Völkern unermeßliche Leiden zugefügt hat...Meine verehrten Kollegen, diese „unheilvolle Vergangenheit in ihren Beziehungen" ist nun einmal keine einseitige Vergangenheit, sondern es ist eine Vergangenheit, an der beide Seiten bei dem
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Bundesminister ScheelEntstehen von Unheil beteiligt gewesen sind. Genau das ist auch hier gesagt worden.Ich habe vorhin erklärt, warum wir in dieser Präambel auf das Abkommen vom 29. September 1938 und auf die Androhung von Gewalt Bezug genommen haben, die in dem Zusammenhang zweifellos nicht zu leugnen ist: weil wir nämlich einen Vertrag abschließen wollen. Wenn Sie das wollen, was Ihr letzter Redner hier als die Zielsetzung der Versöhnung mit den Tschechen und mit den Slowaken — wohlgemerkt, säuberlich getrennt, vermutlich in zwei getrennten Staaten lebend — genannt hat,
dann werden Sie genau dort bleiben, wo Sie früher waren,
dann werden Sie nämlich zu keinen vertraglichen Regelungen mit unseren östlichen Nachbarn kommen. Sie wären nie dazu gekommen. Herr Kollege Marx, Sie können froh sein, daß wir Ihnen diese Arbeit abgenommen haben.
Sie werden sie jetzt nicht leisten, und Sie werden sie nach dem, was Sie heute vorgetragen haben, auch in Zukunft nicht leisten. Ich hatte die Hoffnung in den letzten Monaten, daß Sie längst darüber hinaus wären, daß Sie die Wirklichkeit sähen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Kliesing?
Nein, ich will jetzt keine Zwischenfragen beantworten; nachher, im weiteren Verlauf, gerne. Ich muß mir zunächst einmal diese wesentlichen Dinge von der Seele reden, weil es wichtig ist, meine Damen und Herren, daß man das tut.
Sie brauchen keine Sorge zu haben, daß keine Zwischenfragen von mir beantwortet werden. Mit dem größten Vergnügen! Aber wenn ich sie jetzt beantworte — Sie kennen mein Temperament —, würde das die Stimmung eher anheizen, als sie beruhigen.
Ich will aber hier in einer nüchternen Atmosphäre zu sprechen versuchen.
— Sie werden nie erleben, daß ich irgend jemandem zu nahe trete. Aber in den politischen Fragen muß man sich hart auseinandersetzen. Es sind Schicksalsfragen, um die es hier geht. Ich muß gestehen, daß ich in der ganzen Zeit der Diskussion der letzten Stunden unglücklich darüber gewesen bin, in welcher Weise diese Schicksalsfragen hier diskutiert wurden.
Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren, daß dieser Tag nicht einer der großen Tage des deutschen Parlamentarismus sein wird, wenn man ihn im nachhinein betrachtet.
— Dann seien Sie so liebenswürdig und lesen Sie das Protokoll der Rede des betreffenden Kollegen durch, aber das unverbesserte Protokoll! Wenn Sie es durchlesen, werden Sie sehen, daß ich ihn wörtlich zitiert habe.
Herr Bundesminister, Sie nehmen keine Wortmeldungen mehr an?
Nein, ich will jetzt abschließen, und dann können Sie Zwischenfragen stellen; wann, werde ich gleich sagen.
Ich möchte noch etwas sagen, Herr Kollege Marx. Sie haben von der Vieldeutigkeit des Vertrages gesprochen.
— Sie haben gesagt: mehrdeutig, vieldeutig,
unklar, verwirrend, und was weiß ich, was man alles für Begriffe wählen will. Nun versuche ich zum wiederholten Male zu erklären, was es damit auf sich hat; ich bitte aber nun wirklich darum, daß man das, was ich sage, einmal akzeptiert. Es handelt sich nicht um eine Mehrdeutigkeit, sondern ich wiederhole, was ich heute nachmittag und was ich im Bundesrat gesagt habe: Wir sind als Vertragspartner in der Beurteilung eines historischen Vorgangs der Vergangenheit nicht einig, und niemand kann den anderen zwingen, sich seiner Meinung anzuschließen; weder können wir die Tschechoslowaken zwingen, sich unserer Meinung über das Münchener Abkommen anzuschließen, noch können uns die Tsche-
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Bundesminister Scheelchoslowaken zwingen, uns ihrer Meinung anzuschließen.
— Sagen wir, die Bürger der Tschechoslowakei
und in diesem Falle die Regierung der Tschechoslowakei. Wir können sie nicht zwingen, sich unserer Meinung anzuschließen. Aber das ist nicht das Problem, das wir zu lösen haben. Wer würde es denn als Ziel des Abschlusses eines Vertrages betrachten wollen, eine gemeinsame Meinung über die Rechtsgültigkeit eines historischen Ereignisses zu erzielen? Wo liegt denn da das Ziel für einen Politiker und für eine Regierung?Zuruf des Abg. Dr. Becher [Pullach].)Das Ziel ist es gewesen, einen Vertrag zu schließen, der eben diese unterschiedliche Auffassung als Hindernis für die normalen Beziehungen dieser beiden Staaten beseitigt. Und wir haben es in einer, so finde ich, sauberen und anständigen Form getan, nämlich in der Form eines Kompromisses. Wir haben uns nicht über die rechtliche Beurteilung des Vorganges aus dem Jahre 1938 einigen können. Dann aber haben wir festgestellt, daß wir im Verkehr miteinander — wir berühren auch nicht Großbritannien und die anderen Signatarmächte — dieses Abkommen als nichtig betrachten wollen — der Verkehr zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakischen Republik ist natürlich einer, der in die Zukunft gerichtet ist —, und zwar nach Maßgabe dieses Vertrages. Diese Feststellung ist vollkommen eindeutig, nicht vieldeutig, nicht mehrdeutig. An ihr ist gar nicht zu rütteln. Wir haben uns dann aber bemüht, die aus der unterschiedlichen Auffassung über dieses historische Ereignis etwa herzuleitenden Rechtswirkungen auf natürliche und juristische Personen zuverlässig auszuschließen. Jede rechtliche Beeinträchtigung der Interessen von natürlichen und juristischen Personen ist durch diesen Vertrag zuverlässig ausgeschlossen. Ich habe in der ganzen Diskussion heute und auch früher nie jemand gehört, der daran auch nur den leisesten Zweifel gehabt hätte. Dann frage ich mich aber: Was wollen Sie denn noch erreichen?
Es ist natürlich, meine verehrten Kollegen — das konnte gar nicht ausbleiben —, auch wieder das Schreckwort von den Reparationen gefallen, die jetzt in Höhe von vielen Milliarden von uns gefordert werden,
und zwar mit Hinweis auf diesen Vertrag. Alle Redner haben gleichermaßen Reparationen als eine direkte Folge dieses Vertrages zumindest nicht ausgeschlossen.
Nun muß ich aber doch sagen, daß in Artikel II eindeutig steht:Dieser Vertrag bildet mit seinen Erklärungen über das Münchener Abkommen— es ist eigens darauf Bezug genommen —keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und ihrer natürlichen und juristischen Personen.
Weder der Staat noch Einzelpersonen noch juristische Personen können aus diesem Vertrag irgendwelche materiellen Ansprüche herleiten. Wenn dieses völlig unbestritten in diesem Vertrage steht, muß man doch endlich einmal aufhören, davon zu reden, es könnten Milliardenbeträge an Reparationen gefordert werden, zumal nichts dergleichen von irgend jemand gesagt und nicht einmal gedacht worden ist. — Herr Dr. Wittmann, ab jetzt bin ich bereit, die Zwischenfragen — natürlich aller Kollegen — zu beantworten.
Herr Minister! Ist Ihnen die Bemerkung des Herrn Strougal vom 11. Dezember entgangen, wonach die Ausreise von etwa 60 000 Deutschen doch wirtschaftliche Schwierigkeit mit sich bringe und daß das der Beginn von Kreditforderungen sein könne?
Aber Herr Dr. Wittmann! Zunächst einmal: Wenn das so wäre — ich will einmal unterstellen, daß Sie Herrn Strougal wörtlich zitiert haben; ich nehme an, daß er ähnliches irgendwo gesagt haben könnte —, kann ich das doch nicht als einen Hinweis auf Reparationen bezeichnen, die von vielen Rednern — außerhalb dieses Hauses ganz bestimmt — nicht etwa mit Tausenden oder Millionen, sondern gleich mit Milliarden DM beziffert werden. Das ist einfach — so möchte ich es sagen — keine sehr faire Art, mit einem Vertrag eines Staates umzugehen, der doch nicht nur von der Regierung, sondern auch von der Opposition gleichermaßen getragen wird. Aus diesem Vertrag läßt sich so etwas nicht herleiten, und Sie sollten doch damit aufhören. Damit nützen Sie doch nicht unseren Interessen, sondern im Gegenteil! Wir schaden doch fortgesetzt den eigenen Interessen, wenn wir immer wieder — ohne den geringsten Grund — das Schreckgespenst der Reparationen öffentlich diskutieren.
Können wir uns denn tatsächlich nicht darauf einigen? Mein Gott noch einmal: Wenn es solche Gefahren gäbe, wäre ich ja sofort bereit, darüber mit jedem zu sprechen.
Herr Bundesminister! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?
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Ja, aber da kam vorher noch ein Zwischenruf.
— Aber ich bitte doch um Entschuldigung! Das ist genau dasselbe. Die Polen haben von uns keine Reparationen gefordert, und sie werden das nicht tun; denn sie haben keinen Anspruch darauf, Reparationen zu bekommen.
Meine Damen und Herren! Ich bitte, die Diskussion doch nicht in Einzelgespräche aufzulösen.
Ich bin sehr gern bereit, hier etwas ad hoc zu diesen Dingen zu sagen, erläuternd zu sagen, auch in allen Einzelheiten, und zwar zu Polen. Lassen Sie uns das gleich einmal abhandeln, damit hier diese vergiftete Atmosphäre herauskommt. Was ist denn in Polen gefragt? Was wollen die Polen wirtschaftlich von uns? Sie wollen eine langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sie haben in diesem Zusammenhang eine Liste über Investitionsgüter aufgestellt, die sie gern haben möchten. Diese Liste macht einen Gesamtbetrag von 7 Milliarden DM aus. Dies ist natürlich zunächst einmal ein kommerzielles Geschäft, denn sie wollen etwas kaufen und wollen dafür bezahlen.
— Nein! Diese Art von Zwischenrufen beweist, daß Sie nicht den ernsthaften Willen haben, wirklich etwas über die Sache zu hören.
Was mich in der Auseinandersetzung mit Ihnen so erschüttert, ist, daß Sie alles besser wissen. Sie wollen die Wahrheit nicht wissen, weil sie Ihnen nicht in den Kram paßt.
Nun lassen Sie es sich doch einmal erklären. Ich wiederhole noch einmal: Die Polen wollen der deutschen Wirtschaft Aufträge in Höhe von 7 Milliarden DM geben, die ihrerseits ja auch etwas verkaufen will. Nebenbei bemerkt: nicht so viel, wie die Polen gern haben möchten, weil das unsere Export-Konjunktur noch weiter ankurbelt.Jetzt geht es um die Frage, wer das denn bezahlt. Ich habe meinen Gesprächspartnern gesagt, daß die dazu notwendige Finanzierung wie jede Finanzierung des deutschen Exports vergleichbarer Güter in alle Welt aufgebracht wird, nämlich in Form einer mittelfristigen oder einer langfristigen Finanzierung aus dem deutschen privaten Kapitalmarkt. Wenn jemand nach Südafrika, nach Amerika oder nach Peru oder nach Brasilien exportiert, dann finanziert er das doch genauso und nicht anders. Und genau daswerden die Polen tun, wenn sie a nt dem Gebiete etwas haben wollen.Was sie jetzt außerdem erfragt haben, ist ein Finanzkredit, und zwar nicht etwa von dem deutschen Kapitalmarkt, sondern von Staat zu Staat. Das ist aber im Verhältnis von Staaten zueinander nichts Ungewöhnliches.Meine verehrten Kollegen! Wenn Sie mich einmal reizen, dann werde ich die Finanzkredite hier veröffentlichen, die wir in den letzten Jahren unseren westlichen Partnern gegeben haben.
— Ich bitte um Entschuldigung. Ich glaube, diese Dinge zu vermischen ist mehr als unerlaubt.Wir haben einen Vertrag geschlossen, der in der Zukunft die Zusammenarbeit zwischen zwei Völkern, die eine leidvolle Geschichte hinter sich haben, garantieren soll. Da kann ich unseren Partnern doch nicht ununterbrochen die Quadratmeterzahl, mit steigenden Bodenpreisen berechnet, vorrechnen. Das ist doch ganz unmöglich. So kann ich keine Außenpolitik machen. Hier handelt es sich um ganz normale wirtschaftliche Beziehungen. Mit anderen Worten: Hier will ein Staat von der Bundesrepublik einen Finanzkredit, wie wir ihn früher auch anderen Ländern verschiedener Qualität gegeben haben. Wir haben solche Kredite neutralen Ländern und westlichen Ländern und Ländern auch in anderen Bereichen der Erde gegeben. Darüber muß man doch reden können. Das hat doch mit Reparationen nichts zu tun. Außerdem wollen die den Kredit ja zurückzahlen.Wenn zudem klar ist, daß die Zusammenarbeit mit dem Volumen, das ich eben genannt habe, die auch für uns interessant ist und die sicher die politische Entwicklung in Europa beeinflußt, finanziert werden kann, wie ich es eben erklärt habe, und wenn ich zusätzlich noch eine gewisse Möglichkeit auf dem Gebiet der Finanzkredite schaffe, dann ist das doch etwas über das wir alle reden können müssen. Das sollte man doch nicht in die Polemik hineinnehmen.Ich darf diesen Gedanken abschließen. Ich meine, Herr Kollege Marx, wir müssen uns über das Ziel der Verträge klar sein. Sie haben eben gesagt, Sie fürchten, daß die Verträge nicht dem Ziel dienen, das Sie im Auge haben. Nun muß ich aber sagen, daß Sie auch andere Kollegen von Ihnen, die heute gesprochen haben, bei mir den Eindruck erweckt haben, daß sie tatsächlich im Ziel mit uns möglicherweise nicht einig sind. Das ist eine ernste Sache.Ich will Ihnen sagen, was ich empfunden habe. Sie werden es, wenn Sie die Protokolle nachlesen, sehen. Ich habe den Eindruck, daß tatsächlich mancher Kollege der Oppositionspartei mit Verträgen, die wir mit unseren östlichen Nachbarn abschließen, die Vorstellung verbinden, man könne dadurch die innere politische Struktur dieser Länder verändern.
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Bundesminister Scheel— Lesen Sie bitte die Protokolle einmal nach! Sonst werde ich sie Ihnen morgen zuschicken. — Wer diese Vorstellung mit den Verträgen verbindet,
er könne damit — ich will es ganz hart ausdrücken — den Grad an Freiheit in den Vertragspartnerländern vertraglich verändern, hat allerdings ein anderes Ziel. Er hat ein Ziel, das von vornherein nicht zu verwirklichen ist, das illusionär ist, das wir nicht anstreben können. Wenn Sie noch einmal die Protokolle nachlesen, werden Sie sehen, auch Sie, Herr Kunz, was Sie zu diesem Zweck gesagt haben, wenn Sie das auch wunderbar verpackt zu haben glaubten. Aber genau das haben Sie gesagt.Wer diese Ziele mit der Vertragspolitik verbindet, kann natürlich keine Verträge abschließen. Wir sind uns vollkommen darüber im klaren, daß wir mit diesen Verträgen nicht vertraglich mehr Freiheit für die Bewohner dieser Länder vereinbaren können, wiewohl wir ihnen sehr viel mehr Freiheit wünschen, genau wie Sie. Da gibt es in diesem Hause doch keinen Unterschied. Aber was wir können, ist, eine Normalisierung zwischen den Staaten herbeizuführen. Das geht nur Schritt für Schritt, in kleinen Schritten. Es mag unbefriedigend sein, daß man nicht alles in einem großen Sprung erreichen kann. Was wir können, ist, Schritt für Schritt gewisse Erleichterungen zu schaffen, Erleichterungen vornehmlich für die Menschen.Wir dürfen hier nicht allein den Vertrag sehen, den wir mit der Tschechoslowakei abgeschlossen haben. Wir haben auch mit anderen Verträge abgeschlossen. Sie wirken aufeinander. Dadurch verändert sich das Gesamtklima.Ich darf daran erinnern, daß wir vor wenigen Tagen — die Oppositionspartei hat das öffentlich nicht besonders gefeiert — z. B. Abmachungen über den Sportverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR endlich wieder haben erreichen können. Daß kein Wort aus Ihrem Mund gekommen ist, dies zu begrüßen, bedaure ich. Die Sportler werden das gar nicht so sehr schätzen, daß Sie das nicht so zu interessieren scheint. Das ist doch indirekt eine Wirkung, die auch von diesem Vertrag ausgeht.Oder nehmen Sie die Tatsache, daß im Zusammenhang mit meinem Besuch in Bulgarien das interessiert Sie, Herr Kunz, ganz besonders — dort inhaftierte Fluchthelfer entlassen worden sind,
und zwar als humanitärer Akt. Ich muß sagen: Das ist eine anständige Geste dieses Landes gewesen, das ich besucht habe.Nicht genug damit: Auch bei den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Hochzeiten zwischen Bulgaren und Deutschen gibt es in den nächsten Tagen Erleichterungen. Dafür habe ich mich sehr eingesetzt.
Dies alles ist doch, wenn ich das noch einmal erwähnen darf, ein Ausfluß des Gesamtzustands der Beziehungen zwischen Westeuropa und den Ländern des Warschauer Pakts.Ich darf abschließend zu diesem Punkt sagen, Herr Kunz, daß es sich da nicht um eine Politik der Bundesrepublik Deutschland handelt, die von uns isoliert betrieben wird, sondern dies ist Teil der europäischen Politik des Versuchs, mehr Zusammenarbeit zwischen West und Ost zu entwickeln. Wenn wir unseren Teil nicht trügen, nicht übernähmen, wäre das alles nicht möglich, dann gäbe es keine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die in Genf stattfindet, dann gäbe es auch nicht MBFR. Dann gäbe es das alles nicht, sondern wir wären immer noch auf dem Stand, den wir in den 50er und 60er Jahren hatten. Das, so glaube ich, wollte keiner von uns.Weil das so ist, möchte ich gern an die Opposition appellieren: Sie soll die erkennbaren Änderungen ihrer Position nicht wieder aufgeben. Heute hat es den Anschein, als ob sie sie aufgeben wollte. Das hielte ich für eine bedauerliche Entwicklung. — Bitte, Herr Kunz, Sie wollen eine Frage stellen!
Herr Minister, darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir uns über die Gesten, die Sie eben erwähnt haben, aufrichtig gefreut haben. Ich darf Sie bitten, insbesondere durch mehr Konsequenz auf eine Politik hinzuwirken, in der Gesten dadurch ersetzt werden, daß das, was im Einzelfall als Geste zum Ausdruck kommt, für den generellen Fall zur Selbstverständlichkeit wird.
Wer möchte das denn nicht? Es ist immer so: Wenn die CDU-Kollegen hier sprechen, muß ich stets sagen „Wie wahr!". Alles das, was Sie wollen, das will ich sicher auch.
Nur: Sie haben nie einen Weg gezeigt, wie man es erreichen kann.
Wir sind den Weg gegangen, auf dem man zwar nicht alles erreicht hat, der aber einen Teil möglich gemacht hat. Diesen Weg müssen wir weiter gehen. Ich meine, die CDU sollte diesen Weg mit gehen, nachdem das Gröbste jetzt weggeräumt ist. Ich wiederhole noch einmal: Seien Sie froh, daß wir das gemacht haben. Es ist für uns alle gut gewesen, daß wir das geschafft haben.
Ich darf hier noch zwei Einzelprobleme erwähnen, weil sie wichtig sind. Das erste betrifft den Brief zur Straffreiheit. Sie haben gefragt, Herr Kollege Dr. Marx, ob das nicht im Nachhinein geradezu eine Bestätigung der anderen Rechtsauffassung ist. Nein,
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6040 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Bundesminister Scheeldas kann man nicht sagen. Dieser Brief ist wirklich eine Information mit einem gewissen Charakter.
— Nein, der Brief ist ja jedem bekannt. Ich meine den Charakter, was seine Wirkung für die Betroffenen angeht.Es ist eine Information, die keinerlei Wirkungen etwa auf die Rechtsstruktur der Tschechoslowakei in den 30er und 40er Jahren haben könnte. Das ist völlig ausgeschlossen.Es hat keinen Zweck, in all diese Dinge immer wieder neues Mißtrauen hineinzupumpen, da, wo es gar nicht gerechtfertigt ist. Man kann ja überall was finden, man kann die ganze Syntax abklopfen, ob nicht noch irgendwo eine Möglichkeit ist, an der man nachweisen kann: Hier könnte etwas stecken, wollen wir das mal ans Licht zerren! — Das verbessert ja auch nicht gerade die Beziehungen zwischen den Staaten.Ich habe heute nachmittag gesagt, daß in diesem Vertrag und auch in den dazu gehörigen Briefen die Interessen von West-Berlin in vollem Umfang ohne Abstrich gewahrt sind. Ohne Abstrich! Es wird kein Berliner um ein Jota anders behandelt als die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe nicht gesagt, was Sie fälschlicherweise hier vermutet haben, die Frage des Rechtshilfeverkehrs sei gelöst. Ich habe das nicht gesagt, sondern ich habe gesagt, dies sei noch nicht gelöst. Aber wir haben vor Aufnahme diplomatischer Beziehungen eine übereinstimmende Erklärung abgegeben, daß wir diese Frage lösen wollen, und zwar unter Berücksichtigung der Interessen von West-Berlin. Ich habe Anlaß anzunehmen, daß das in absehbarer Zeit möglich ist.Jetzt will ich, Herr Dr. Marx, Ihre verschiedenen Zitate in meine Betrachtungen einbeziehen, nämlich die Zitate von Interviews, die ich dem Zweiten Deutschen Fernsehen und anderen Rundfunk- oder Fernsehstationen gegeben habe. Diese Zitate sind in vollem Umfang so gültig wie damals. Ich bin heute noch der Meinung, daß wir es bei der Tschechoslowakei mit einem souveränen Staat zu tun haben und daß unser Verhältnis zur Tschechoslowakei durch keine anderen Einflüsse bestimmt sein soll. Würden Sie etwas anderes sagen? Ich habe, wie ich im Fernsehen damals gesagt habe, mit Herrn Gromyko über die Tschechoslowakei nicht einen Satz gewechselt. Er hat mich nicht darauf angesprochen, und ich bin noch immer davon überzeugt: Würde ich ihm gesagt haben, was machen wir mit der Tschechoslowakei, würde er gesagt haben: Das ist nicht meine Sache; das müssen Sie mit der Tschechoslowakei besprechen. Aber es ist ja doch niemandem verborgen geblieben — lassen Sie mich das einmal ganz zurückhaltend ausdrücken —, daß die Tschechoslowakei Mitglied des Warschauer Paktes ist und daß innerhalb des Warschauer Paktes gewisse Regeln, gewisse Konsultationsverfahren und gewisse Absprachen über wichtige politische Fragen üblich sind. Ichwill nicht verschweigen, daß so etwas auch innerhalb der NATO üblich ist.
— Unterstellen Sie mir doch nicht — was soll das denn? ,
daß ich die Qualitätsunterschiede zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO nicht kenne! Ich denke ja im Traum nicht daran, den Eindruck erwecken zu wollen, diese hätten gleiche Qualität. Wie komme ich denn dazu?
— Habe ich etwas anderes gesagt? Ich habe nichts anderes gesagt. Aber Sie haben mir etwas unterstellt. Können wir uns denn nicht abgewöhnen, im Verkehr untereinander ewig etwas zu unterstellen?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Reddemann?
Lassen Sie mich das noch zu Ende führen Herr Reddemann! Ich wiederhole, daß ich das wohl weiß und daß man wirklich nicht in einer Plenarsitzung darüber zu diskutieren braucht, wie die Strukturen in Osteuropa sind — das ist doch ganz selbstverständlich —, aber daß ich im Verkehr mit der Tschechoslowakei es nur mit ihr zu tun habe und mit ihr zu tun haben will und die Tschechoslowakei wahrscheinlich nur mit uns zu tun haben will, das ist nun mal so. Insoweit sollte man, glaube ich, die Souveränität des Verhandelns unseres Verhandlungspartners nicht in Zweifel ziehen. Die Tschechoslowakei macht ja kein Hehl daraus, daß sie in dieser besonderen Frage mit ihren Partnern im Warschauer Pakt konsultieren muß. Das akzeptieren wir. Wir werden also zu einer Regelung kommen — ich hoffe, in absehbarer Zeit —, die eine Regelung sein wird, die dann vermutlich von allen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes übernommen wird..
Bitte sehr, jetzt kommt zuerst Herr Reddemann.
Zu einer Zwischenfrage Herr Abgeordneter Reddemann!
Herr Minister, können wir uns darauf einigen, daß Konsultationen zwischen den Staaten der NATO noch nie mit einem Einmarsch der siegreichen Teile des Pakts in einen anderen Staat geendet haben und daß allein dadurch ein Vergleich, wie Sie ihn vorhin versucht haben, nicht stimmen kann?
Her: Reddemann, es juckt mich jetzt. Ich habe etwas auf
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Bundesminister Scheelder Zunge liegen, was ich in diesem Zusammenhang nicht auszusprechen wage.
— Doch, ich muß es machen. Verzeihen Sie, ich muß aus meinem Herzen eine Mördergrube machen. Beinahe wäre mir die Zunge durchgegangen. Aber wenn Sie ganz scharf nachdenken, kommen Sie vielleicht selber darauf, was mir auf der Zunge lag, was ich aber nicht aussprechen will. — In der Tat, Herr Reddemann: das Problem ist zu ernst, als daß ich einen eher verbalen Scherz daraus machen sollte. Das will ich nicht, deswegen habe ich mir das verkniffen.
— Herr Reddemann, auch diese Behauptung habe ich nicht aufgestellt.
— Ja, aber wir brauchen darüber nicht zu diskutieren, wie wir in dieser Frage denken. Ich glaube, das sollte nicht nötig sein.
Ich bitte, die Debatte jetzt nicht in Privatgespräche aufzulösen. Jetzt fragt der Abgeordnete Dr. Mertes.
Herr Bundesminister, wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion in einer Absichtserklärung, die eine paraphierte Vereinbarung ist, eine förmliche Absprache über die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen erfolgt ist? Und wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang außerdem — politisch wie rechtlich — die Bedeutung des Abkommens UdSSR—CSSR vom 6. Mai 1970 für unseren tschechoslowakischen Vertragspartner?
Herr Kollege Dr. Mertes, wenn wir dies jetzt aufgreifen wollten, würden wir noch einmal 45 Minuten über die sogenannten Bahr-Papiere und ihren rechtlichen Charakter sprechen müssen.
— Ja, ich meine die Absichtserklärungen, die ja da angehängt sind. Lassen Sie es mich einmal so sagen: Damals, wissen Sie, ist ein Gespräch geführt worden in einer Lage, in der das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu keinem Staat des Warschauer Paktes geregelt war. Man hat die ganzen Schritte, die für eine Regelung des Gesamtverhältnisses nötig waren, diskutiert.
Ich glaube nicht, daß man das heute noch einmal heranziehen kann in bezug auf unser Verhältnis zur Tschechoslowakei.
Nun, meine verehrten Damen und Herren, ich habe Sie lange genug strapaziert.
Ich möchte deswegen meine Replik auf das, was Herr Kollege Marx und die anderen Kollegen gesagt haben, mit einer kurzen Erwartung und einer Betrachtung abschließen.
Ich habe — ich darf wiederholen, was ich am Anfang gesagt habe — das Gefühl, daß die CDU-Fraktion in dieser Frage ihre Strategie oder Taktik — wie Sie es wollen — geändert hat. Viele, nicht nur ich persönlich, sondern viele auch, die die parlamentarische Entwicklung beobachten, hatten geglaubt, die CDU würde, nachdem die schwersten Brocken bewältigt sind, einen Schritt weiter sein.
— Ja, darauf komme ich gerade. Ich glaube, Herr Becher, daß die Bevölkerung unterstellt, daß das so ist. Deswegen wollte ich gerade sagen: Herr Kollege Marx, ich habe Ihnen keine Ratschläge zu geben,
aber wenn Sie annehmen, der Rückfall in die fünfziger und sechziger Jahre würde möglicherweise dem modernen Trend in der Bevölkerung entsprechen, dann, so glaube ich, täuschen Sie sich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will den Versuch machen, angesichts der späten Zeit, unter der wir alle mehr oder weniger leiden,
es kurz zu machen, wobei ich, meine sehr verehrten Kollegen von der SPD, denke, daß wir noch viel Gelegenheit und Zeit haben werden und uns nehmen müssen. Und wenn ich ein Wort von dem, was Sie gesagt haben, Herr Metzger, ernst nehme, dann Ihr Versprechen, daß man im Rechtsausschuß eingehend darüber debattieren wird. Dann, denke ich,
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Dr. Marxkönnen wir jetzt nicht alle Probleme noch miteinander diskutieren. Aber einiges, Herr Minister, möchte ich — und wenn es mir gelingt, würde es mich freuen — mit etwas größerer Ruhe und nicht, wie Sie gesagt haben, aus übervollem Herzen, das man befreien möge, sagen.Meine erste Bemerkung ist, daß wir uns freuen — Kollege Kunz hat darauf hingewiesen, daß die bulgarischen Behörden einigen Fluchthelfern die Freiheit gegeben haben. Ich war vor einigen Wochen in Bulgarien, und ich denke, daß Gesten dieser Art hoffentlich bald auch ansteckend wirken auf die DDR. Ich bitte die Bundesregierung, endlich auch einmal dort tätig zu werden, wo wir über 60 Fluchthelfer drüben zu Zuchthaus zwischen 8 und 16 Jahren verurteilt wissen. Das sollten Sie nicht nur aus Bulgarien berichten können, sondern — vielleicht ist es nicht Ihr Ressort — aus dem anderen Teil Deutschlands.Meine zweite Bemerkung. Sie haben am Ende gesagt, Herr Kollege Scheel, und dies mit der Anmerkung verbunden, Sie wollten keinen Ratschlag geben. Ich verstehe es trotzdem so: daß wir unsere Strategie und Taktik nicht ändern sollten. Was wir hier machen, ist kein Ergebnis von taktischem Denken, sondern dies ist der Versuch, einen Vertrag und die dazu gehörigen Dokumente, aus ihrem Text, aus ihrem Geiste und aus all den uns bekannten begleitenden Umständen heraus zu würdigen. Das haben wir getan. Ich wäre dankbar, Herr Kollege Scheel, wenn Sie auch jenes Maß an Gerechtigkeit in Ihrem Urteil aufbrächten.. Ich habe wirklich versucht, sehr differenziert zu diskutieren, und die beiden Kollegen unserer Fraktion haben das auch versucht. Aber wir haben hier eine ganz bestimmte Aufgabe, und Ihre Ostpolitik hat uns jeden Tag aufs neue auf diese Aufgabe hingestoßen, nämlich Satz für Satz von dem, was Sie sagen, und Punkt für Punkt von dem, was Sie unterschreiben, genau auf die Möglichkeit und die Wahrheit der Sache zu überprüfen.
Das ist unsere Aufgabe. Wir müssen sie wahrnehmen. Bitte, verstehen Sie es auch so. Vielleicht kommen wir auch mal dazu, daß wir auch bei kontroverser Beurteilung einzelner Punkte, z. B. auf dem Felde der Außenpolitik, uns gegenseitig helfen könnten, weil dieses unser Land nicht nur das unsere und nicht nur das Ihre, sondern das gemeinsame Land ist. Die Aufgabe der Opposition sollten Sie sehr ernst nehmen. Ich hätte oft gewünscht, daß die Regierung in ihren außenpolitischen Handlungen sich dem Drängen und den Forderungen der Opposition zum Nutzen des ganzen Landes besser bedient hätte als Sie und Ihre Freunde es vermochten.
Natürlich, Herr Kollege Mertes, zum Bahr-Papier könnte man vieles sagen; dazu wird auch noch viel zu sagen sein. Aber eines ist sicher unbestreitbar. Herr Kollege Scheel, ich will Sie nicht auffordern, daß offen zu sagen, weil ich Sie vielleicht damit überfordere. Sie haben auch eine gewisse Disziplin des Kabinetts; ich verstehe das sehr wohl. ich würde nur wünschen, daß auch andere die Disziplin desKabinetts so hielten. Aber es ist nicht zu bestreiten — ich nenne keine Namen, aber viele aus Ihren Reihen wissen das doch --, daß die Festlegungen, die hinter dem Rücken des Kabinetts und dieses Hauses getroffen worden sind, auch Festlegungen zu dem Gegenstand, über den wir heute sprechen ich wiederhole, Sie selbst und Ihr Staatssekretär haben dies ja wohl empfinden müssen —, wesentliche Einengungen mit sich gebracht haben bei der Aushandlung des heute hier vorliegenden und von uns in der ersten Runde zu diskutierenden Vertrages.
Ein Drittes. Herr Kollege Scheel, Sie sagen, Sie würden fast fürchten, wir seien im Ziel nicht einig. Gut, darüber muß man noch einmal diskutieren. Ich will nicht versuchen, das mit einigen Worten in Ordnung zu bringen. Aber Sie haben auch gesagt, wir sollten nicht immer gleich etwas Negatives sehen, Verdacht, Mißtrauen aufhäufen. Meine Bitte ist: tun Sie das auch nicht! Sie sagen, Sie hätten bei uns den Eindruck, wir wollten durch solche Verträge innere Strukturen anderer Staaten ändern. Für wie naiv halten Sie uns eigentlich? Das will niemand, auch dann nicht, wenn uns andere Strukturen nicht gefallen. Was wir wollen sind Verträge, deren Inhalt und Text zweifelsfrei ist, die von beiden Seiten in gleicher Weise verstanden und verantwortet werden, Verträge, die tatsächlich Schlußstriche ziehen und miteinander in die Zukunft gehen lassen. Das ist es, was wir wollen, und insoweit ist dieser Verdacht wirklich unbegründet.
Sie sagten an einer anderen Stelle: Was erreichen wir nach den Verträgen? Sie haben eine Hoffnung damit verbunden, die auch ich, die wir alle teilen, indem Sie gesagt haben, vielleicht ist es möglich, Stück um Stück ein Mehr an Freiheit, ein Mehr an Freizügigkeit zu erreichen. Aber unsere These ist, daß durch diese Verträge solche Hoffnungen von vornherein weitab in den Bereich der Illusionen gewiesen werden.Ich möchte jetzt nicht abheben auf die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ich möchte nicht abheben darauf, aber immerhin anmelden, daß wir dann auch darüber in diesem Hause ausführlich diskutieren, was z. B. zu Korb drei zu sagen ist, zu mehr Freizügigkeit für Menschen, Ideen, Informationen und was die Bundesregierung bei den Verhandlungen in Genf dazu beigetragen hat. Das allerdings werden wir dann in diesem Hause mit allem Nachdruck behandeln.
Herr Kollege Scheel, Sie haben vom Münchener Abkommen gesprochen, und zwar sagten Sie, daß die Formel darüber keinerlei Mehrdeutigkeit enthalte. Wenn das eine Antwort war auf meine Frage, in der ich die Antwort der Bundesregierung auf die Vorstellungen des Bundesrates zitiert habe, dann muß ich Ihnen sagen: Dunkel, oh Herr, ist der Sinn deiner Rede. Denn ich kann nicht begreifen, wie Sie auf der einen Seite darstellen, daß man sich in die-
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Dr. Marxsem einen Punkt, der so wichtig und so entscheidend war, daß man ihn zum Art. I des Vertrages erhoben hat, nicht einigen konnte, trotzdem eine gemeinsame Formel fand und diese unterschrieb, Sie dann aber, völlig korrekt, sagen: Im Grunde genommen haben wir beide in dieser Sache ein weit voneinander abweichendes ich füge hinzu: gegenteiliges — Verständnis. Das begreife ich nicht.Sie sagen, das sei alles ganz eindeutig, daran gebe es nichts zu rütteln. Ich bitte Sie: Sie haben doch ein großes Haus, das Auswärtige Amt, wo viele in der Lage sind, nicht nur „Rude Pravo" zu lesen und Radio Prag zu hören. Lassen Sie sich doch bitte die vielen uns bedrückenden Beweise dafür vorlegen, daß der Vertragspartner daran rüttelt, indem er nach wie vor seine von Ihrer, von unserer Meinung abweichende Formulierung als die entscheidende ausgibt. Und das ist doch nicht nur Prag, das ist doch nicht nur der Herr Strougal oder der Herr Bilak; dahinter steht doch die Sowjetunion! Sie haben gesagt, Sie hätten in Moskau nicht mit den Tschechen verhandelt. Aber in der Verbalnote der deutschen Handelsmission — ich habe das zitiert —ist doch ausdrücklich auf das, was ich den Modellcharakter nenne, Bezug genommen.
— Danke.
Das ist offenbar klar. Darüber wäre dann, verehrter Herr Kollege Scheel, nicht mehr zu streiten und sollte eigentlich nicht mehr gestritten werden.Das nächste Stichwort, das ich mir aufgeschrieben habe: Osthandel. Ich will jetzt gar nicht über die Themen diskutieren, was mit den 7 Milliarden DM ist, was da z. B. als Bundesbürgschaft gewünscht wird.
Das möchte ich gar nicht. Ich habe von Ihnen mit Freude gehört, daß es sich hier um Gelder handelt, die auf dem privaten Kapitalmarkt aufzubringen sind. Aber unsere Position, Herr Bundesaußenminister, ist: Die CDU CSU-Fraktion ist der Meinung, daß wir den Handel mit allen Staaten darunter auch mit unseren Nachbarn, darunter auch mit den Staaten Osteuropas — ausbauen sollten unter Bedingungen, die nicht extraordinäre sind, unter Bedingungen, die uns nicht eines Tages wieder zu Zahlen führen, bei denen gesagt wird: Das ist in den letzten zwei Jahren alles so sehr angewachsen!, und wenn man genauer hinguckt, ist vor allem eines angewachsen: das Volumen unserer eigenen Lieferungen und die dadurch entstandenen Schulden. Auch da bitte ich, daß man, wenn möglich, dafür sorgt — vielleicht geht das nicht von heute auf morgen; das verlange ich nicht — daß die Außenhandelsbilanz mit all diesen Staaten mehr ausgeglichen wird. Das ist nicht nur eine Frage von Krediten, sondern auch eine Frage in die Richtung, daß das, was diese Länder liefern können, unseren eigenen qualitativen Anforderungen in höherem Maße entspricht, als das bis zum Augenblick der Fall ist.Nun lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen machen: einmal zur Frage der Reparationen, einmal zur Frage des Briefes über strafrechtliche Folgen.Herr Kollege Scheel, Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten das ominöse Wort der Reparationen wieder in die Debatte gebracht. Ich habe hinzugefügt bei dem, was ich sagte, daß man dafür natürlich, geschickt wie man ist, seit dem Abkommen zwischen Herrn Brandt und Herrn Tito auf Brioni andere Formeln und andere Fixierungen gefunden hat. Ich will wirklich nicht — niemand von uns will das — ein Gespenst an die Wand malen; aber jedermann, der sich in den osteuropäischen Staaten aufhält und dort Gespräche von einigem Ernst führt, weiß doch, er bekommt ganze Schrankseiten gezeigt, bei denen es heißt: hier sind die Akten unserer Reparationsforderungen; die werden wir Ihnen gegenüber erheben. Natürlich heißt es: wenn wir dann eine andere Formel finden, daß wir uns also mittel- und langfristig zu neuen Dingen entscheiden, werde man auch bereit sein, andere Worte für die gleiche Sache zu finden.
— Das habe ich, Herr von Bülow. Ich habe Aktenschränke angesehen, bei denen man mir gesagt hat: Hier haben wir dies alles sehr säuberlich aufgehoben. Die Bundesregierung wird dies wohl auch alles wissen.Die letzte Bemerkung von mir hier in diesem Augenblick bezieht sich auf den Brief über strafrechtliche Folgen. Herr Bundesaußenminister, ich möchte Ihnen gern mithelfen, wenn Sie sagen: Dies ist nur gedacht, um denjenigen, die eventuell betroffen sein könnten, die Ruhe zu geben, daß sie sich nicht mehr betroffen fühlen, also, falls sie reisen möchten, auch mit ruhigem Gewissen reisen können. Aber mir fällt folgendes auf — das können Sie nicht abstreiten, wenn Sie den Brief lesen; ich wiederhole noch einmal und bitte, den Gedanken hier insoweit vertiefen zu dürfen —: Die tschechoslowakische Seite sagt: Dieser Brief stellt alle diejenigen, die durch unsere Strafgesetze berührt werden könnten — ich glaube, das ist seit 1965 —, außer Strafe. Wie kommt die tschechoslowakische Seite dazu, dies zu tun, und wie kommt die Bundesregierung dazu, einen solchen Brief anzunehmen und als amtliches Dokument zu veröffentlichen, wenn die tschechoslowakische Seite dazu gar kein Recht hatte, wenn sie nämlich in den Jahren 1938 bis 1945 nicht Besitzer des sudetischen Gebietes war.
Ich glaube aber — ich möchte das jetzt nicht verlängern —, daß sich auch in dieser Auseinandersetzung gezeigt hat, daß wir in den Ausschüssen eine Fülle von Stoff zu diskutieren haben. Meine Bitte ist nur, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, daß wir — ich möchte mich über das, was im Auswärtigen Ausschuß war, nicht beklagen; aber ich höre viele Klagen von den Kollegen aus dem Rechtsausschuß — in den Ausschüssen dann aber auch die notwendige Gelegenheit erhalten, all die Fragen stellen zu können und die Antworten in uns auf.
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6044 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. März 1974
Dr. Marxzunehmen, und daß man nicht zu einer Zeit, die Ihnen gefällt, die Abstimmungsmaschine in Gang setzt, um unliebsame Argumente wegzubringen. Dies war meine Anmerkung; es ist sicher zu diesem Thema nicht die letzte.
Wird noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Ich schlage Ihnen vor, den Gesetzentwurf an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — und an den Rechtsausschuß — mitberatend zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 28. März 1974, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.