Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, heute feiert unser Kollege Bundesminister Dr. Krone seinen 70. Geburtstag. Ich darf ihm wohl in Ihrem Namen die besten Wünsche aussprechen.
Wir fahren fort in der Aussprache über die Erklärung der Bundseregierung und über das Haushaltssicherungsgesetz. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Emde.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am dritten Tag der verbundenen Debatte über Regierungserklärung und Haushaltssicherungsgesetz verlagert sich der Schwerpunkt der Aussprache nach der vorliegenden Rednerliste eindeutig auf den Punkt Haushaltssicherungsgesetz. Das mag für manche Kollegen und für die Öffentlichkeit unter Umständen die Vorstellung erwecken, daß nunmehr die Fachleute des Haushalts das Wort ergreifen würden, die Oberbuchhalter der Nation diskutieren würden. Ich halte es aber für notwendig, hier völlig klarzumachen, daß es um weit mehr geht als um den rein technischen Vorgang des Haushaltsausgleichs,
daß es hier um grundlegende Fragen der Finanzpolitik, der Währungspolitik und der allgemeinen Wirtschaftspolitik geht.
Es ist im Laufe der letzten Tage mehrfach davon gesprochen worden, daß wir nach den Jahren ,des stürmischen Aufbaus unseres Staates nunmehr in die Gestaltung der Konsolidierungsphase der deutschen Politik eintreten. Meine Damen und Herren, dem ist ,so. Das ist auch die Überzeugung der liberalen Partei. Wenn es um diese Probleme geht, haben wir über mehr zu diskutieren als über das reine Zahlenwerk. Es geht hier um die drängenden Fragen des Heute, des Morgen und des Übermorgen, um eine Reihe von Entscheidungen über Jahre hinweg, um eine Reihe von Entscheidungen, an deren Spitze ,das Haushaltssicherungsgesetz steht.
Die Sozialdemokratische Partei hat sich zu diesem Haushaltssicherungsgesetz bisher äußerst vorsichtig geäußert. Es hat in den zwei Tagen der Debatte verschiedene Worte gegeben. Es gibt das Wort von dem anderen Tisch, von dem Tisch, an dem man nicht sitze, von dem Tisch der Regierung, die hier die Verantwortung zu tragen und die Entscheidung zu fällen habe. Es gibt das zweifache Nein. Es gibt das Nein, das der Kollege Möller zum Schluß seiner Rede ausgesprochen hat, und es gibt das Nein, das der Kollege Professor Schiller zum Schluß seiner Rede gesagt hat. Es gibt ferner eine allgemein gehaltene Kritik des Kollegen Möller an diesem Gesetz. Ich glaube, es ist nunmehr der Zeitpunkt, über diese allgemeinen Äußerungen, über die Vorstellung des Nein, über die Vorstellung des anderen Tischs klar und deutlich zu machen, was die einzelnen Fraktionen hier in diesem Hause zu diesem Gesetzeswerk sagen und wie sie sich in der nächsten Phase der deutschen Wirtschafts- und Währungspolitik verhalten wollen.
Lassen Sie mich für die Freie Demokratische Partei nach den etwas umschreibenden und schwimmenden Äußerungen der SPD um so klarer sprechen. Erstens: Wir sind entschlossen, den Haushalt des Jahres 1966 auszugleichen. Zweitens: Wir sind bereit, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen,
Drittens: Wir sind gewillt, über die jetzigen Vorschläge zur Begrenzung des Haushalts hinaus weitere Einsparungen bei den Haushaltsberatungen vorzunehmen, um neuralgische Punkte des zu erwartenden Entwurfs zu beseitigen und das Haushaltsvolumen zu senken. Viertens: Wir sind entschlossen, über die Haushaltsansätze des Jahres 1965 nur dann hinauszugehen, wenn gesetzliche, rechtliche oder sonstige unabweisbare Notwendigkeiten bestehen. Denn nur dann, wenn wir diese vier Punkte erfüllen, wenn wir uns nach diesen Maximen verhalten, werden wir überhaupt den freien Raum haben, um uns im Jahr 1966 haushaltspolitisch freizuschwimmen.
Das Haushaltssicherungsgesetz wird in der nächsten Woche im Haushaltsausschuß beraten werden. Der Haushaltsausschuß wird sich in dieser Woche konstituieren. Er wird — wie ich annehme — unseren altverehrten Kollegen Schoettle wieder zu seinem Vorsitzenden wählen. Am Montag werden wir, wenn die Zeitabsprache eingehalten wird, im Haus-
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Dr. Emde
haltsausschuß die ersten definitiven Entschlüsse zu fassen und Entscheidungen zu fällen haben. Einige Tage später werden hier im Plenum die zweite und dritte Lesung dieses Gesetzeswerkes stattfinden.
Meine Damen und Herren, es wird sicherlich manche Diskussion über Einzelteile und Einzelheiten des Haushaltssicherungsgesetzes geben. Aber im Endeffekt gibt es für uns keinen Zweifel daran, daß das Gesamtgesetzeswerk verabschiedet werden muß und verabschiedet werden wird.
Wir Vertreter der FDP im Haushaltsausschuß und nachher auch im Plenum sind gewillt, unseren Diskussions- und Beratungsbeitrag zu diesem Sektor zu liefern. Wir sind bereit, eigene Vorstellungen zu entwickeln und diese eigenen Vorstellungen in die Debatte einzuführen. Dabei gehen wir aber davon aus, daß alles, was wir vorschlagen werden, im Rahmen dieses Haushaltssicherungsgesetzes liegt, daß die Vorschläge im Rahmen der einzelnen Gruppen gemacht werden und die Einsparungsmasse oder die zur Verfügung stehende Finanzmasse von 2,9 Milliarden DM auch von uns erreicht werden wird. Das ist die politische Erklärung, die ich hier für meine Fraktion hier in der ersten Lesung abzugeben habe.
Wir werden die SPD in der Debatte im Haushaltsausschuß und im Plenum in der zweiten und dritten Lesung dann aber dazu zwingen, zu all diesen Fragen im einzelnen in aller Öffentlichkeit Stellung zu
nehmen. Die SPD wird dann nicht sagen können, daß das ein anderer „Tisch" sei, mit dem sie nichts zu tun habe. Sie muß ja oder nein sagen. Sie muß definitiv Stellung beziehen; denn an dieser Schicksalsfrage der Nation kann es nur eine gemeinsame Beratung geben, und es darf nicht das Wort geben: Das ist nicht unsere Sache.
Kollege Möller hat in seiner Rede eine Kritik in einer alten Weise geübt, die mich an die Haushaltsberatung des Jahres 1965 erinnert, an die dritte Lesung am 26. Februar hier in diesem Raum. Kollege Möller hat gesagt, der Etat des Jahres 1965 sei unsolide, und er hat gesagt, die Koalitionssprecher dürften nicht zugeben, daß dieser Etat unsolide sei.
— Ich will mich gleich zu dem Problem der Unsolidität äußern. Aber ich möchte zunächst das Wort „die Koalitionssprecher durften das nicht zugeben" aufgreifen. Ich glaube, Herr Kollege, das Wort „dürfen" ist etwas falsch, insbesondere wenn Sie hier an mich denken.
— Ich wollte gerade auf dieses Problem zu sprechen kommen. Wenn Sie das innere Muß meinten, möchte ich dazu sagen, daß gerade meine Fraktion und ich hier erklärt haben, daß wir uns stets auch als Kontrollorgan und als Gegensatz selbst zur eigenen Regierung fühlen, daß wir unsere parlamentarische Aufgabe stets wahrzunehmen gedenken. Wir haben doch hier mit unserem Koalitionspartner, zusammen mit unserer eigenen Regierung in der Frage der Kriegsopferversorgung gerungen. Wir haben nie unter dem Muß, unter dem moralischen Zwang gestanden — weder die CDU noch wir —, etwas nicht zugeben zu dürfen, weil wir uns etwa als Vortrupp der Regierung fühlten. Ich habe in der Vergangenheit hier einmal das Wort vom Chor und dem Vorsänger gebraucht. Es ist nicht nett, daß man eigene Worte zitieren muß, das klingt ein bißchen überheblich; aber wir sind durch Ihre Äußerung einfach in diese Debatte hineingekommen. Ich möchte das hier einmal in der Sache klargestellt haben. Das Dürfen kann aber auch nie so ausgelegt werden, daß wir etwa hier unter einem Zwang, unter einem Befehl ständen. Liberalen zu befehlen, ist so unmöglich, wie einem Bienenschwarm zu befehlen.
Herr Kollege, zu dem Wort, der Haushalt sei unsolide: Ist dieser Etat 1965 wirklich in sich unsolide? Wir wissen doch nicht nur aus den Worten, die der Finanzminister hier vorgetragen hat, daß der Etat des Jahres 1965 — wenn Sie einmal das Problem Bundesbahn ausklammern — im Endeffekt in sich ausgeglichen enden wird, daß die Steuermehreinnahmen von 760 Millionen DM, die jetzt schon deutlich sind, ausreichen werden, um die Beträge zu decken, die der Bund am Kapitalmarkt nicht aufnehmen kann, und daß die Globalkürzung von 1,5 Milliarden DM zusammen mit den überplanmäßigen Ausgaben abgedeckt wird durch Minderausgaben, die an anderer Stelle entstanden sind. Herr Kollege Möller, ich möchte nur noch einmal auf das zurückverweisen, was ich damals gesagt habe. Es ist klar, daß eine Barleistung von 1,5 Milliarden DM nicht ausreichen wird, um die Finanzkrise der Deutschen Bundesbahn im Jahre 1965 zu überwinden. Ich habe ausdrücklich auf diesen Punkt hingewiesen, und insofern kann auch uns gegenüber der Vorwurf, wir hätten diesen Haushalt unsolide aufgebaut und dann wider besseres Wissen verteidigt, nicht aufrechterhalten werden. Herr Kollege Möller, ich hatte doch damals gesagt: Wo ist die Alternative der SPD? Wo ist das, was Sie als Gegengebäude zu unserem Gebäude erstellen? Wo ist das, was Sie zur Verbesserung vorschlagen, was über die reine Kritik an dem Werk der Regierung, das hier vorgelegen hat und hier verabschiedet wurde, hinausgeht?
Herr Kollege Möller, Sie erheben den Vorwurf, daß erst jetzt gespart wird. Auch wir erheben diesen Vorwurf, daß erst jetzt gespart wird. Aber ich stelle an Sie die Frage: Wird die SPD bereit sein, sich jetzt an dem Sparen zu beteiligen — auch unter Verzicht auf eigene Anträge in Dingen, die Ihrem Herzen nahestehen?
Sie haben in Ihrer gestrigen Rede, als ein Zwischenruf kam und Ihnen vorgeworfen wurde, Sie hätten ja selbst Erhöhungsanträge beim Kindergeld gestellt, gesagt: Nun, im Rahmen eines Gesetzeswerkes kann man natürlich in den Ausschußberatungen Anträge stellen. — Sie haben aber uns, den
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Dr. Emde
Freien Demokraten, den Vorwurf gemacht, bei der Diskussion um die Steuersenkung den Antrag auf Lohnsteuerfreiheit gestellt zu haben und den Antrag für den Altersfreibetrag für freie Berufe und Pensionäre gestellt zu haben. Das, was Sie sich selber als Recht zubilligen, haben Sie uns vorgeworfen. — Bitte schön!
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Möller.
Herr Kollege, ist Ihnen entgangen, daß ich in der Debatte gestern ausdrücklich darauf hingewiesen habe, daß der Herr Bundesfinanzminister im Finanzausschuß erschienen ist, um darzulegen, warum das mit der Lohnsteuerfreiheit nicht gehe? Nachdem der Herr Bundesfinanzminister den Raum verlassen hatte, haben sich entgegen seinem Ratschlag Ihre Kollegen genauso verhalten, wie sie sich jetzt in der neuen Legislaturperiode leider wieder verhalten wollen.
Herr Kollege, es ist mir nicht entgangen, daß Sie das ausgeführt haben. Aber wir sind nicht die Befehlsempfänger des Finanzministers, wir sind seine Partner. Er hat in diesem Falle die eine Meinung gehabt, wir die andere. Ich bin überzeugt, daß dieser Lohnsteuerfreibetrag in zwei oder Jahren da sein wird; er ist notwendig. Wir werden ihn eines Tages durchsetzen. Das ist mit ein Stück politischer Absicht, das hier vertreten wird. Wir werden ihn bekommen.
Bitte!
Zwischenfrage!
Herr Kollege Emde, können Sie dem Kollegen Möller vielleicht auseinandersetzen, daß die Steuermehreinnahmen an anderer Stelle — wenn auch nicht beim Bund — voraussichtlich ebenso hoch sein werden wie der Steuerausfall bei der Lohnsteuer?
Ich glaube, das brauche ich dem Kollegen Möller gar nicht auseinanderzusetzen, weil er das weiß. Er kennt wie alle anderen in diesem Hause die Entwicklung, die sich ergeben würde: durch eine solche Steuersenkung würde am Ende ein Mehr an Steuereinnahmen entstehen.
— Herr Kollege, ich bin an sich der letzte, der anderen Vorwürfe macht und bei anderen Fehler sucht, nicht weil ich ein politischer Narr oder politischer Polemik unfähig bin, sondern weil ich auch heute noch glaube, daß diese schweren Fragen am leichtesten gemeinsam gelöst werden können.
Natürlich gibt es Grundunterschiede, die auch durch keine Kompromisse gelöst werden können.
Wir sind z. B. der Meinung — hier liegt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Ihnen und uns —, daß der Anteil des Staates am Volkseinkommen nicht weiter gesteigert werden sollte. Aus dieser politischen Überzeugung, aus diesem ideologischen Grund haben wir für die Steuersenkungen zum 1. Januar 1965 und zum 1. Januar 1966 gekämpft und sie mit verantwortet. Bei unserem politischen Handeln gehen wir von der Grundüberzeugung aus, daß die Staatsausgaben eingeschränkt bleiben müssen, wenn nicht eines Tages über den Hinterweg ständig steigender Staatsausgaben doch der Sozialismus zum Siege kommen soll, etwas, was wir nicht wollen.
Die SPD hat im Wahlkampf eine zweigleisige Bahn befahren. Sie hat auf der einen Seite gefordert und auf der anderen Seite das Finanzchaos beklagt. Auch hier im Hause beliebt sie — zumindest in der Betrachtung der FDP — sehr oft zweigleisig zu fahren. Sie ermuntert uns auf der einen Seite, im Rahmen der Koalitions- und Parlamentsarbeit eine eigene Stellung einzunehmen und gegenüber unserem Partner selbständig zu handeln, und auf der anderen Seite wirft sie uns dann in der Öffentlichkeit vor, daß wir ein schlechter Koalitionspartner seien und nicht wüßten, wie man Politik zu betreiben habe.
— Doch, ich habe das gestern aus dem Beifall Ihrer Fraktion ersehen, als Kollege Strauß davon sprach, daß es nicht einfach sei, mit uns zusammenzuarbeiten.
— Es ist auch nicht einfach, mit den Kollegen der anderen Seite zusammenzuarbeiten.
— Aber der besondere Beifall, der an dieser Stelle kam, und Ihre besondere Freude, wenn wir eine eigenständige Haltung einnehmen, machen uns doch gegenüber manchen Worten mißtrauisch, die von Ihrer Seite kommen.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, die Koalition müsse ausbügeln, was sie sich als Erbe zugefügt habe; so ungefähr waren Ihre Worte.
Ich bin bereit, zuzugestehen, daß auch wir im Laufe der Zeit Fehler gemacht haben. Ich glaube, daß ich damit einer der wenigen hier im Hause bin, die nicht nur bei anderen Fehler suchen, sondern auch bereit sind, eigene Fehler einzugestehen. Aber, Kollege Möller, nun kommt meine Frage: Wenn wir die Fehler ausbügeln, wollen Sie dabei zuschauen oder wollen Sie sich an dem Ausbügeln beteiligen? Darum
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Dr. Emde
wird es in den nächsten Wochen gehen. Das ist die politische Frage an Sie.
Herr Kollege Möller, Sie beendeten Ihre Rede mit dem schönen Wort „nein". Bleiben Sie ruhig einmal beim Nein. Vielleicht kommen Sie nachher doch zum Ja, so wie die SPD bei der Wehrverfassung, bei der Wirtschaftspolitik — —
— Keine Angst, ich komme auch noch zu Herrn Professor Schiller.
Also bleiben Sie ruhig einmal beim Nein. Ich bin überzeugt, daß Sie nachher zum Ja kommen werden. Gerade der Schluß der Rede des Kollegen Schiller bringt mich dazu, anzunehmen, daß Sie zum Schluß ja sagen werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Emde, sind Sie deswegen daran interessiert, daß die Bundestagsfraktion der SPD mindestens zu einigen Teilen des Haushaltssicherungsgesetzes ja sagt, damit hinsichtlich der Steuererhöhungen nun doch noch eine Mehrheit zustande kommen könnte? Denn Sie wollen ja wohl die Steuererhöhung ablehnen.
Herr Kollege Möller, so billig mache ich mir die Argumentation nicht. Ich wünsche, daß sich die SPD so an der Beratung beteiligt, daß jedermann hier und im deutschen Volk klar wird, welche Alternative sie hat, wenn sie diesem Gesetz nicht zustimmt. Nichts weiter will ich.
Keine taktischen Kniffe!
Aber lassen Sie mich zu Professor Schiller kommen, der seine Rede ebenfalls mit dem Wort „nein" beendet hat.
— Ich zitiere: „Und der Kanzler blieb ganz allgemein, und für uns gibt's überhaupt nur Nein." Nun, auch ich kenne Brecht. Ich habe mir dann in der Nacht die Schallplatte mit dem Song vorgespielt. Er stammt aus der „Dreigroschenoper" — etwas billiger als der 69-Milliarden-Haushalt.
Der sogenannte „Barbara-Song" beginnt: „Einst glaubte ich, als ich noch unschuldig war — —" — ich scheue mich, fortzufahren; auch wenn der Kollege Wuermeling nicht im Raum ist, möchte ich den Song nicht weiter vorlesen. Es ist eine etwas bizarre Umwelt, die in diesem Song dargestellt wird. Über drei Verse hinweg sagt das Mädchen, das dort singt: „Da gibt es überhaupt nur Nein." Aber im vierten Vers sagt sie: „Da gab's überhaupt kein Nein." Und damit rechnen wir dann eines Tags auch bei Ihnen.
Meine Kollegen von der SPD, wir rechnen also eines Tages mit Ihrem Ja, nämlich dann, wenn diese Politik zum deutlichen Erfolg führt. Allerdings werden wir bis dahin handeln: 1. mit dem Haushaltssicherungsgesetz, 2. mit der Abmachung, keine ausgabewirksamen Gesetze ohne Haushaltsplan zu verabschieden, 3. mit der Festlegung der Rangfolge unserer Aufgaben und Ausgaben, 4. mit der Erstellung des notwendigen Finanzplans.
Wir wissen, daß mit der Überwindung der kritischen Phase des Jahres 1966 einhergehen muß die Entscheidung im Verkehrssektor zur Lösung des Finanzproblems der Deutschen Bundesbahn und die Überprüfung der Finanzierungsmethoden - der deutschen Sozialversicherung. Das vorgelegte Haushaltssicherungsgesetz ist der erste Schritt einer entschlossenen Politik. Nur wer das erkennt, weiß, was wir wollen.
Der Kollege Barzel hat hier in seiner Rede zur Regierungserklärung — zur FDP sprechend — ausgeführt, die Unionsparteien seien zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit uns bereit. Sie seien bereit, Kompromisse zu schließen und nach der Verhandlung klüger zu sein als vorher. Wir danken für dieses faire und offene Angebot. Auch wir sind zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit in dieser Koalition bereit. Man weiß, daß wir mit unserem Partner um die Lösung der Probleme ringen werden. Ich versichere aber, daß wir bereit sind, in dieser Phase der deutschen Politik nach gefällten Entscheidungen auch unpopuläre Dinge mitzutragen. Das deutsche Volk erwartet nach den Monaten des Redens nunmehr die Phase der nüchternen und sachlichen Handlungen. Die FDP wird diese Handlungen mittragen und mitverantworten.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einige Bemerkungen zu Fragen machen, die im Laufe der Debatte aus meinem Arbeitsbereich angesprochen worden sind. Ich denke dabei insbesondere an Bemerkungen, die der Herr Kollege Erler vorgestern gemacht hat. Herr Kollege Erler hat in seiner ersten Stellung-
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Bundesminister Dr. Gradl
nahme zur Regierungserklärung u. a. bemängelt, daß in der Regierungserklärung — ich zitiere — kein Wort über die rechtliche Gleichstellung der Zonenflüchtlinge mit den Vertriebenen stehe.
Dazu darf ich folgendes sagen. Mir liegt in keiner Weise daran, hier einen Streit um Worte zu entfachen; dazu ist die Sache zu ernst. Aber ich glaube, daß bei der Interpretation der Regierungserklärung ein Mißverständnis unterlaufen ist, und ich hoffe, daß ich es aufklären kann. Es ist richtig, Herr Kollege Erler: das Wort „rechtliche Gleichstellung" oder, wie man auch zu sagen pflegt, „Gleichberechtigung" ist in der Regierungserklärung nicht ausgesprochen. Nun, wir wissen. auf allen Seiten, daß dabei sowohl politisch als auch materiell mancherlei zu bedenken ist. Ich komme nachher auf einen Punkt, der mir besonders wichtig erscheint, noch zurück. Ich möchte in diesem Augenblick nur folgendes sagen: ich glaube, die Bundesregierung ist gut beraten, und ich glaube, auch alle hier im Hohen Hause, nicht nur eine Seite, sind gut beraten, wenn sie angesichts der Erwartungen, welche die Betroffenen an den Begriff „rechtliche Gleichstellung" oder „Gleichberechtigung" knüpfen, und angesichts der materiellen Schwierigkeiten, die da bestehen, in ihren Aussagen dazu Zurückhaltung üben. Ich glaube, es wäre nicht richtig, wenn man die Erwartungen, die an diesen Begriff geknüpft werden oder die dahinterstehen, durch schlichte Übernahme des Begriffes bestätigen würde, solange man nicht weiß, wann und in welcher Weise diese Erwartungen erfüllt werden können. Wir alle werden uns nach den Erfahrungen und Erlebnissen der letzten Monate vorgenommen haben, nichts zu versprechen — das gilt nicht nur für meinen Sektor —, wenn wir nicht wirklich davon überzeugt sind, daß wir das Versprochene in absehbarer Zeit realisieren können.
Das heißt nun nicht, daß wir uns wegen der finanziellen Enge, in der wir uns befinden, zur Passivität in der Betreuung der Vertriebenen, Flüchtlinge und der anderen Gruppen verleiten lassen dürfen. Das wäre schlecht; da würden wir es uns zu bequem machen. Ich glaube, wir müssen daran festhalten, daß die Gruppen, die nicht nur materiell geschädigt worden sind, sondern die darüber hinaus auch einen tiefen zusätzlichen Verlust dadurch erlitten haben, daß sie aus der Heimat vertrieben worden sind oder als Flüchtlinge die Heimat haben aufgeben müssen, ein zusätzliches Anrecht auf materielle Obhut, also auf Priorität haben. Ich jedenfalls will mich für diese Vorrangigkeit einsetzen.
Nach dieser allgemeinen Bemerkung zu dem Thema Gleichberechtigung oder rechtliche Gleichstellung möchte ich doch auch folgendes sagen. Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung zu dieser Frage nicht geschwiegen, sondern sie hat sich ausdrücklich zu weiteren gleichstellenden Maßnahmen bekannt — ich betone: zu weiteren. Was heißt das? Das heißt doch in Wahrheit, daß wir auf dem Wege, dessen Ziel von den Betroffenen durch den Begriff rechtliche Gleichstellung oder Gleichberechtigung umschrieben wird, vorwärtsgehen wollen. Wieweit das möglich ist und wieweit das unter mancherlei Gesichtspunkten morgen, übermorgen
richtig ist, das muß die Zukunft zeigen. Es besteht jedenfalls der Wille der Regierung, da weiterzugehen.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Erklärung auch nicht nur auf diese allgemeine Feststellung beschränkt, also auf das Bekenntnis zur Weiterführung gleichstellender Maßnahmen, sondern sie hat ja in der Erklärung auch einige präzise Aussagen gemacht. Ich darf einmal daran erinnern, daß sie hier den Entwurf eines Gesetzes zum Währungsausgleich für die aus der Zone und dem Ostsektor von Berlin geflüchteten Deutschen angekündigt hat. Ich kann sagen, daß dieser Entwurf praktisch — in meinem Hause jedenfalls — fertig ist. Wir werden ihn sehr schnell, auf alle Fälle früher als zu dem Termin, der in dem gemeinsamen Beschluß des vorigen Bundestages genannt worden war, hier einreichen können. Es ist unsere Vorstellung, daß wir nachher bei der Verwirklichung dieses Gesetzes vor allen Dingen die Leistungen für die älteren Leute beschleunigen.
Die Bundesregierung hat sich auch — im Grunde selbstverständlich, werden Sie sagen; das ist es auch — zu einer 19. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz bekannt. Es konnte gar nicht anders sein. Zu den seinerzeit vom Vermittlungsausschuß abgelehnten Teilen der 18. Novelle gehörte die Stundung der Abgabepflicht für geschädigte Zonenflüchtlinge. Ich will nicht voraussagen, was alles in der 19. Novelle stehen wird. Sie werden gleich sehen, warum ich das jetzt nicht will. Aber in dem Entwurf der 19. Novelle wird dieser Punkt: Stundung der Abgabepflicht, die gebührende Beachtung finden. Dies ist auch eine gleichstellende Maßnahme.
Nun zu einem weiteren Punkt. Ich habe das in den letzten Tagen oder Wochen mehrfach schon bei anderer Gelegenheit draußen gesagt: Das Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz ist bereits in Kraft. Wir alle haben dieses Gesetz ja nicht geschaffen, um die Ämter und Behörden zu beschäftigen und um Statistiken zu erstellen, sondern wir alle waren uns doch darüber einig, daß dieses Gesetz einmal Unterlagen für Leistungen liefern soll. Über Art und Zeitfolge dieser Leistungen kann man erst etwas sagen, wenn man hinreichende Unterlagen für eine einigermaßen exakte Schätzung des Gesamtkomplexes hat. Gegenwärtig schwanken die Schätzungen zwischen 4 und 12 Milliarden DM. Nun darf ich aber hinzufügen: was auch immer möglich sein wird, was auch immer bewilligt werden wird, immer wird es in der Masse aus dem Bundeshaushalt aufgebracht werden müssen.
Da davon auch in den Ausführungen des Kollegen Erler die Rede war, möchte ich auch dies klarstellen: Die angekündigte 19. Novelle ist nicht an einen Vorbehalt geknüpft. Ich bitte jedenfalls, das nicht so zu verstehen. Was wir allerdings wollten, war die Vorschaltung einer Sicherung. Ich glaube, Sie werden alle zustimmen müssen, daß diese Sicherung notwendig war und ist. Denn niemand in diesem Hohen Hause kann ja die Tragödie wiederholt sehen wollen, die wir mit der 18. Novelle erlebt haben. Das ist vor allen Dingen für die Betroffenen selbst nicht zumutbar, Jedenfalls möchte ich — und Sie sicher
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Bundesminister Dr. Gradl
auch — dem Gesetz, dem Lastenausgleichsgedanken und den Geschädigten die Wiederholung einer solchen Enttäuschung ersparen. Darum habe ich sofort bei Amtsantritt die Prüfung der sogenannten Reserven im Lastenausgleich durch ein unabhängiges Sachverständigengremium als notwendig bezeichnet.
Ich darf zu diesem Punkt in Übereinstimmung mit dem Herrn Finanzminister folgendes sagen: Die Bundesregierung hat in der Regierungserklärung die Vorlage einer 19. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz nach Maßgabe vorhandener und liquide zu machender Reserven des Ausgleichsfonds in Aussicht gestellt. Sie fühlt sich daher zunächst zu einer sorgfältigen Prüfung der Reserven des Ausgleichsfonds verpflichtet. Die Bundesregierung möchte aus diesen Gründen und auch, um den in diesem Hohen Hause vielfach geäußerten Wünschen zu entsprechen, beschleunigt eine gründliche und sachverständige Prüfung der bisherigen Schätzungsergebnisse, insbesondere des künftigen Vermögensteueraufkommens, herbeiführen. Unter maßgeblicher Mitwirkung namhafter Wirtschaftsforschungsinstitute soll ein objektives Fachgremium gebildet werden, dem das gesamte verfügbare Material zu überlassen ist und das selbstverständlich auch Sachverständige der Verbände anhören soll. Einzelheiten über die Zusammensetzung der Kommission sind noch offen und müssen der Klärung mit den Instituten vorbehalten bleiben. Auf alle Fälle aber wird Sorge getragen werden, daß die Kommission Gewähr für eine sorgfältige, objektive und schnelle Erledigung ihrer Aufgaben bietet.
Das Gutachten, das von einem solchen Gremium unter eigener Verantwortung zu erarbeiten ist, wird in verhältnismäßig kurzer Zeit erstellt werden und dann eine, wie wir hoffen, allgemein anzuerkennende Grundlage für die weiteren Entschließungen bieten.
Ich darf dem, was ich hier in Übereinstimmung mit dem Herrn Finanzminister gesagt habe, noch hinzufügen: Wir legen Wert darauf — und ich ganz besonders —, daß die Arbeit dieses Gremiums nicht zu einer wesentlichen Verzögerung führt. Ich habe deshalb auch in meinem Hause veranlaßt, daß der Entwurf einer 19. Novelle so weit wie möglich vorbereitet und abgeschlossen wird, und zwar mit Alternativen, je nachdem, wie das Schätzungsergebnis sein wird.
Das Interesse, schnell dazu zu kommen, haben wir alle in diesem Hohen Hause, alle Parteien.
Ich muß nach den Erfahrungen, die wir bei der 18. Novelle gemacht haben, auch darauf bedacht sein, daß wir mit den Ländern in den wesentlichen Punkten zu einer Übereinstimmung kommen. Ich habe deshalb eine Konferenz mit den zuständigen Länderministern noch vor Weihnachten veranlaßt, in der wir diese Angelegenheiten vorbesprechen werden.
Meine Damen und Herren, es geht hier um die Feststellung der Reserven. Wir wissen alle, daß die
Tatsache, daß Reserven festgestellt worden sind, noch nicht bedeutet, daß im Augenblick auch entsprechende Barmittel zur Verfügung stehen. Aber natürlich: die Reserven gehören den Geschädigten, und sie sollen nach unseren Vorstellungen in erster Linie der Hauptentschädigung und der Altersversorgung ehemals Selbständiger dienen.
Herr Kollege Erler hat in seinen Bemerkungen die Anpassung der Unterhaltshilfe an die allgemeine Einkommensentwicklung gefordert. Dazu muß ich sagen: es ist leider so, daß die Einnahmen des Fonds mit der allgemeinen Einkommensentwicklung — ich betone: Einkommensentwicklung — nicht parallel gehen. Infolgedessen engt z. B. jede Erhöhung der Sozialleistungen, die wir für notwendig halten, die Mittel, die für die Entschädigungsleistungen notwendig und wünschbar sind, ein. Ich darf folgendes Beispiel nennen, um deutlich zu machen, was für eine Entwicklung dahintersteht: Unterhaltshilfe für ein Ehepaar 1952 im Monat 100 DM, 1965 im Monat 310 DM. Dies bedeutet natürlich, daß die Möglichkeiten der Hauptentschädigung entsprechend belastet werden. Man kann also die Forderung nach Anpassung stellen — sie läßt sich durchaus hören —; aber auch hier stößt die Erfüllung an harte Tatsachen.
Dann hat der Herr Kollege Erler von der Eingliederung vertriebener und geflüchteter Bauern gesprochen. Natürlich, sie ist eine unerhört wichtige Aufgabe. Jeder von uns hat ein Gespür dafür, daß ein Bauer, der vertrieben worden ist oder der geflüchtet ist, gewissermaßen — ich habe das neulich so ausgedrückt — die Heimat zweimal verloren hat, die engere Heimat und außerdem den Hof. Jeder von uns weiß, wie ein Bauer an seinem Land hängt. Deswegen sind wir durchaus der Meinung — und ich glaube, da gibt es auch keine Unterschiede —, daß wir da besondere materielle und moralische Verpflichtungen haben.
Ich selber habe mich — dies war eigentlich der erste Amtsakt dieser Art — mit den legitimierten Vertretern dieser Gruppe noch am Tage, bevor die Besprechungen über den Entwurf der Regierungserklärung begannen, zusammengesetzt, um mit ihnen diese Dinge zu besprechen. Der Rotstift ist ja, wie Sie wissen, auch an der Finanzierung des Fünfjahresplans für die Ansiedlung geflüchteter und vertriebener Bauern nicht vorübergegangen. Aber hier bin ich heute in der glücklichen Lage, Ihnen positiv folgendes sagen zu können. Zum einen: die im Jahre 1965 noch nicht zur Verteilung gekommenen Mittel in Höhe von 50 Millionen DM konnten Ende vergangener Woche zugeteilt werden. Zum zweiten: die von Ihnen mit Recht kritisch betrachtete Kürzung im Haushaltsansatz 1966 um 50 Millionen DM kann durch innere Verlagerungen und — mit fast völliger Sicherheit — durch kleinere Dosierungen aus dem organisierten Kapitalmarkt gemildert, ja, fast möchte ich wagen, zu sagen: ausgeglichen werden.
Ich bitte, daraus zu ersehen, daß wir dieser Aufgabe, die nicht nur finanziellen Charakter hat, sondern die von einer eminenten politischen und sozia-
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Bundesminister Dr. Gradl
len Bedeutung ist, wirklich unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden. Sosehr wir wissen, daß noch viele, viele Zehntausende aus den Reihen der vertriebenen und geflüchteten Bauern warten, so können wir uns doch alle darüber freuen, daß es nach der letzten vorliegenden Zahl im Laufe der Jahre gelungen ist, etwa 150 000 vertriebenen und geflüchteten Bauern entweder zu einer Vollerwerbs-stelle zu verhelfen — das ist die kleinere Zahl — oder sie doch wenigstens mit einer ländlichen Heimstatt auszustatten. Darauf kann wohl das ganze Haus stolz sein.
In jenen schwierigen Tagen der Vorbereitung der Regierungserklärung, der Tätigkeit des Streichquartetts und dem, was danach gewesen ist, habe ich besonders viel Verständnis — und nicht nur platonisches Verständnis, sondern reale Hilfe — bei meinen Kollegen Dahlgrün und Höcherl gefunden. Das zu sagen halte ich gerade bei diesem Thema für geboten.
Ich brauche hier nicht hervorzuheben, daß wir alle — entgegen einer im Lande nicht selten anzutreffenden Meinung — der Überzeugung sind, daß das Eingliederungswerk für die Vertriebenen und Flüchtlinge, auch für die Kriegssachgeschädigten, noch keineswegs vollendet ist, auch wenn das, wie gesagt, viele glauben. Man muß sich dazu noch vor Augen halten, daß z. B. aus dem Kreise der Aus-und Umsiedler Jahr für Jahr Zehntausende neu zu uns kommen. Aber wir werden uns natürlich bemühen müssen — und ich will das zu meinem Teil versuchen —, dem Abschluß des Eingliederungswerkes in dieser Legislaturperiode spürbar näherzukommen.
Die Vertriebenen und die Flüchtlinge werden bei der Vertretung ihrer materiellen Interessen draußen im Lande nicht immer mit guten Urteilen bedacht. Dabei tut man ihnen bitter Unrecht.
Die Einsicht bei den Betroffenen ist wesentlich größer, als dies hämische und bösartige Kritiker vielfach annehmen.
Kollegen von allen drei Parteien haben an den großen Tagungen des Gesamtverbandes der Zonenflüchtlinge und des Bundes der Vertriebenen in Braunschweig bzw. Hannover teilgenommen. Alle werden mir wohl zustimmen, wenn ich sage: Wenn man zu den Menschen offen spricht und ihnen erklärt, wie die Situation ist, dann sind sie zwar nicht beglückt von dem, was man ihnen da eröffnet — das wäre auch zuviel verlangt —, aber sie sehen ein, daß wir eine Weile in diesen Dingen langsamer gehen müssen. Dies ist doch eine sehr positiv zu wertende Haltung.
Meine Damen und Herren, ich habe die Bitte an Sie — es klingt etwas sentimental in diesem Hohen Hause, in dem ja Gegensätze ausgetragen werden sollen, notfalls hart —: wollen wir gemeinsam in dieser unbestreibar schwierigen Situation suchen, was für diese großen Gruppen möglich gemacht
werden kann, was verantwortet werden kann. Ich verspreche Ihnen, nach besten Kräften mitzutun.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schiller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir eine Zwischenbilanz ziehen über das, was gestern und vorgestern zu den Themen Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Gesellschaftspolitik gesagt worden ist, so muß ich besonders in bezug auf den gestrigen Tag sagen: Wir haben uns allesamt sehr weit von der Regierungserklärung entfernt.
Wir haben über viele Dinge gesprochen, aber eigentlich das hinter uns gelassen, was Gegenstand der Aussprache sein sollte, nämlich die Regierungserklärung. Wir haben — um ein Bild zu gebrauchen — vielleicht die Regierungserklärung auch benutzt, und zwar haben wir die vielen großen Hohlräume, die in der Regierungserklärung enthalten sind, gemeinsam auszufüllen versucht. Oder um es noch deutlicher zu sagen: der große Käse bestand aus sehr viel Löchern, und da ist versucht worden, etwas auszufüllen.
Bei diesem Bemühen haben sich gemeinsam sowohl Mitglieder des Kabinetts wie Mitglieder dieses Hohen Hauses betätigt.
Ich darf trotzdem sagen, daß ein wesentlicher Teil der Debatte um die acht Punkte eines Preisstabilisierungsprogramms ging, die hier vorgestern vorgelegt wurden, um die acht Punkte, die sehr konkret darlegten, was in der allernächsten Zeit auf diesem Gebiete zu tun sei.
Ich erwähne das deswegen, weil immer, vor allen Dingen am Ende der gestrigen Diskussion, nach der Alternative gefragt wurde. Meine Damen und Herren, diese acht Punkte werden vielleicht von den Mitgliedern der Regierungskoalition nicht mehr als Alternative aufgefaßt, weil Sie mangels anderer Zementierung diese acht Punkte übernommen haben, assimiliert haben und nicht mehr als eine andere Wahl für sich ansehen, sondern gemeinsam erarbeitet haben.
— Das Preisstabilisierungsprogramm ist eine sehr marktwirtschaftliche Sache.
Nun zu den acht Punkten. Einiges ist ja auch kritisch gesagt worden; Sie haben das nicht ohne Zögern akzeptiert und in die Hohlräume hineingepackt, Sie haben auch ein bißchen was dazu gesagt; da sind also verschiedene Meinungen.
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Dr. Schiller
Herrn Minister Schmücker ist besonders der Punkt der Aufhebung der Kuponsteuer als problematisch erschienen. Er hat darauf verwiesen, daß sein Gremium — das er schon als „Konjunkturrat" bezeichnet — gegen die Aufhebung der Kuponsteuer sei. Dazu darf ich nur sagen, das ist also ein Punkt sachlicher Differenz. Herr Minister Schmücker, wenn Sie die Kuponsteuer weiter bestehenlassen, wenn Sie weiterhin einen Druck auf die Zinsen nach oben ausüben, wenn Sie weiterhin den deutschen Kapitalmarkt austrocknen ... — Sie setzen dagegen, eine Aufhebung der Kuponsteuer würde Kapitalimporte nach Deutschland ziehen —, so muß ich Ihnen sagen: diese deutsche Volkswirtschaft mit ihren riesigen Infrastrukturinvestitionen, mit den großen Notwendigkeiten, in der modernen Industrie noch Investitionen zu tätigen, kann auch ausländisches Kapital gebrauchen. Ich glaube, das ist ein Geben und Nehmen. Wir sollten also nicht sagen, wir sind nur ein Kapitalüberschußland. Wir sind auch ein Land, das Kapitalimporte braucht.
Deswegen werden Sie, wenn Sie bei dieser Linie bleiben, eines Tages, und zwar in Bälde, vor der echten Wahl stehen, ob Sie bei der weiteren Austrocknung des Kapitalmarktes, bei der weiteren Anhebung der Kapitalmarktzinsen, des langfristigen Zinsfußes die Investitionsneigung hier in Deutschland zum Erliegen bringen und damit das Wachstum zum Erliegen bringen wollen oder ob Sie umschalten, die Kuponsteuer aufheben und damit wieder den Kapitalmarkt befruchten wollen. Vor diese Frage werden Sie gestellt sein, Herr Minister Schmücker.
Das ist im Moment eine echte Differenz in der Beurteilung der Lage. Aber ich prophezeihe Ihnen, daß Sie vor diese Frage gestellt werden. Im übrigen sehen wir jetzt schon, daß ein Teil der Kapitalbeschaffung der deutschen Industrie trotz Kuponsteuer aus dem Ausland erfolgt, nur mit dem großen Nachteil für uns alle: zu erhöhten Zinsen durch Einkalkulierung der Kuponsteuer. Das ist schon jetzt die Situation. Aber ich will diesen einen Punkt nur erwähnen.
Der andere Punkt von unseren acht Punkten, die hier gestern so ausführlich diskutiert worden sind, über den noch etwas zu sagen ist, ist die mittelfristige Finanzplanung. Das ist die — wie ich hinzufügen möchte — mittelfristige Gesamtrechnung für das Bruttosozialprodukt, die Vorausschau auf drei oder vier Jahre für die Gesamtleistung der Volkswirtschaft. Ohne eine solche Vorausschau selber können wir keine mittelfristige Finanzplanung machen. Das ist das erste. Alles das ist vor zwei Jahren angekündigt worden und ist jetzt wieder verbaliter in der Regierungserklärung und in den Äußerungen der beiden Herren Minister, des Finanzministers und des Wirtschaftsministers, positiv bewertet worden.
Ich frage Sie nur immer wieder ehrlich, meine Damen und Herren: warum haben Sie das denn nicht schon längst vorgelegt? Es ist doch keine große Sache, eine mittelfristige Finanzplanung zu machen. Mit dem Haushaltsrecht — das ist eine präzise und spitze Antwort an den von mir besonders verehrten Herrn Bundesfinanzminister Dahlgrün — hat eine
mittelfristige Finanzplanung erst einmal gar nichts zu tun. Sie können ein paar Institute samt den besten Instituten, nämlich den entsprechenden Abteilungen in den beiden Ministerien, beauftragen: „Nun macht eine Projektion und eine mittelfristige Finanzplanung!" Ich möchte, daß wir davon herunterkommen und daß man jetzt im Moment nicht wieder einen Grund findet, die mittelfristige Finanzplanung aufzuschieben, weil man sagt: Reichshaushaltsordnung, Haushaltsrecht, Abgabenordnung! Was alles soll noch geändert werden? Meine Damen und Herren, dann kommen wir wieder bis ans Ende der formierten Gesellschaft — um das noch einmal zu wiederholen —, bevor wir eine mittelfristige Finanzplanung bekommen. Das können wir ohne diese juridischen Änderungen machen. Das ließe sich von den paar Instituten und den beiden Abteilungen sehr schnell machen, in vier Wochen.
Ich verstehe nicht und halte es für einen Strukturmangel auch der Regierungserklärung, daß diese quantitativen Zielsetzungen, diese quantitativen Abfolgen von Aufgaben und Belastungen weder als Anlage zur Regierungserklärung mitgegeben worden sind, wie sich das, glaube ich, unter modernen Verhältnissen jetzt als notwendig herausstellt, noch in der Debatte von den Herren Ministern vorgelegt worden sind.
Ein Letztes zum Herrn Bundesfinanzminister, der gesagt hat: Das wird im nächsten Frühjahr kommen bei der Vorlage für den Haushalt 1966 — so habe ich ihn verstanden —, übrigens für einen Haushalt, über den jetzt schon Kürzungen beschlossen werden. Es ist ein mathematisch sehr schwieriges Problem, wie man von einer nichtexistenten Größe, einer imaginären Zahl eine Subtraktion von 2,9 Milliarden vornimmt.
Das ist auch so ein Punkt. Deswegen der andere
Tisch! Ziehen Sie einmal 2,9 Milliarden von einer
imaginären Zahl ab! Das ist das Budget von 1966!
Aber mich interessiert außerordentlich, Herr Minister Dahlgrün — und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie darüber Auskunft geben könnten —, wenn Sie jetzt an solchen Projektionen sitzen und Ihre Leute daran arbeiten, was für eine Preissteigerungsrate Sie für die mittelfristige Finanzplanung einsetzen. Die mittelfristige Finanzplanung geht, ich nehme an, von 1966 bis 1969. Das ist ja wohl Ihre Absicht, das rettende Land 1969 zu erreichen, und es ist ja Ihr gutes Recht, diese Absicht zu haben. Welche Preissteigerungsrate setzen Sie ein? Darüber möchte ich gern eine Auskunft von Ihnen haben.
Ich habe Ihnen gesagt, daß wir in unseren Planungen eine abfallende Preissteigerungsrate eingesetzt haben. Sie mögen darüber reden, wie Sie wollen. Aber wir haben eine Zielgröße, die als solche doch schon von Bedeutung ist, weil sie die Absichten derjenigen, die das machen, wiedergibt. Wir haben eine solche Zielgröße genau angegeben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? —
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Herr Abgeordneter Schiller, Sie scheinen den Plänen oder der Finanzplanung im Zusammenhang mit den Preissteigerungen oder dem Abbau der Preissteigerungen eine ganz besondere Bedeutung zuzumessen. Ist Ihnen nicht bekannt, daß in Frankreich trotz sehr großer Planungen, die sicherlich in Ihrem Sinne sind, Preissteigerungen bis zu 71/2% nicht verhindert werden konnten?
Lieber Herr Kollege, es tut mir furchtbar leid, daß ich Ihnen sagen muß, daß ich seit langem ein engagierter Gegner der planification à la française bin. Ich habe das sehr deutlich mehrfach zum Ausdruck gebracht. Ich will Ihnen das hier jetzt nicht begründen; das ist gar nicht interessant. Die französische planification ist eine planification en détail, die sich an die einzelne Firma, an die einzelne Branche wendet. Die halte ich für falsch.
Ich bin für eine globale Steuerung.
Herr Abgeordneter Althammer möchte eine Frage stellen.
Herr Kollege Schiller, darf ich Sie fragen, ob Sie hier für Ihre gesamte Fraktion sprechen?
Lieber Herr Kollege, erstens haben Sie das gemerkt.
Zweitens habe ich das, was ich eben gesagt habe — man muß sich ja manchmal selbst repetieren —, vor zwei Jahren auf dem Wirtschaftskongreß in Essen gesagt.
Also, Essen ist gegessen, vor zwei Jahren schon.
Herr Kollege Schiller, Sie haben gesagt, auf dem Wirtschaftstag in Essen vor zwei Jahren hätten Sie das auch schon ausgeführt. Wären Sie auch bereit gewesen, Gleiches vor einem Gewerkschaftskongreß auszuführen?
Also, zuletzt habe ich vor der Gewerkschaft der Eisenbahner gesprochen. Ich habe das wirtschaftspolitische Konzept vertreten, das ich allenthalben in diesen Jahren vertreten habe. Ich sehe gar keinen Anlaß, — — Ich weiß nicht, welche Vorstellungen Sie von Gewerkschaftskongressen haben.
Denken Sie, da kann man nur mit Pistole und Maske hinkommen?
— Nein! Auf einem Gewerkschaftskongreß können Sie wirklich über moderne Wirtschaftspolitik sprechen, wo sich gerade die deutschen Gewerkschaften als ein Mitsprecher in der Wirtschaftspolitik und nicht nur als Vertreter in den Lohnrunden fühlen. Da können und da müssen Sie das doch darlegen, und da kann ich das auch darlegen.
— Wir wollen doch nicht so „stiff" sein.
Dann wollen wir also wieder auf die Zahlen zurückkommen. Ich war bei der einkalkulierten, antizipierten — Herr Kollege, jetzt bin ich wieder ganz sachlich — Preissteigerungsrate für die nächsten vier Jahre. Da hätte ich gern gewußt, was der Herr Bundesfinanzminister vorhat. Wir haben von uns aus bekannt, wie wir uns die Sache vorstellen. Da ist bisher ein ganz konkreter Unterschied. Vielleicht kommen Sie auch auf die abfallenden Preissteigerungsraten 3 — 2, 2 — 1. Dann würde ich mich sehr freuen. Aber gehört haben wir die Zahlen noch nicht.
Nun noch etwas zu den Finanzen, nämlich zu dem Jahr 1965. Da haben beide Bundesminister, der Bundeswirtschaftsminister Schmücker und der Bundesfinanzminister Dahlgrün, in ihren Zahlen bestätigt
— es war nur nicht so dramatisch gesagt —, was Herr Dr. Möller vorher gesagt hatte, nämlich daß das Jahr 1965 in seinem bisherigen Ablauf in den öffentlichen Kassen, besonders im Bundeshaushalt, einen Inflationsherd gehabt hat. Das ist das Jahr 1965 gewesen. Ich gebe Ihnen nur eine Zahl, die bei beiden Herren vorkam und die neben vielen anderen Zahlen angegeben wurde. Wir haben eine Ausgabensteigerung des Bundes in den ersten 10 Monaten des Jahres 1965 von .11% gehabt, gleichzeitig eine Steigerung des realen Bruttosozialprodukts von 5,2%. Damit haben Sie eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben, die doppelt so hoch ist wie das reale Wachstum. Das ist eine Inflationsquelle erster Ordnung gewesen.
— Das haben beide Herren mit ihren Zahlen bestätigt. Ich muß da jedoch eine Klammer anbringen. Herr Dahlgrün meint, er könne nun den Durchschnitt der Zuwachsrate der öffentlichen Ausgaben in den restlichen zwei Monaten .dieses Jahres von 11 auf 7% bringen. Herr Minister Dahlgrün, ich habe nun nicht mehr die Zeit gehabt, das alles nachzurechnen; aber ich habe den Eindruck, daß Sie — nach 10 Monaten, die über 11 % liegen, für die restlichen eineinhalb oder zwei Monate auf eine negative Zuwachsrate für die beiden kommenden Monate kom-
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Dr. Schiller
men müssen, um diesen Jahresdurchschnitt zu erreichen.
Das ist die Vorausschätzung von Herrn Dahlgrün. Aber selbst wenn es Ihnen, Herr Minister Dahlgrün, gelänge, jetzt in den beiden restlichen Monaten auf negative Zuwachsraten zu kommen, so kommt es doch schließlich nicht darauf an, daß Sie am Jahresende einen solchen Durchschnitt haben. Das Entscheidende ist, daß im ersten halben Jahr bzw. in den ersten 10 Monaten dieses Jahres diese große Lücke bestanden hat und die Liquidität aus den öffentlichen Kassen in die Wirtschaft geflossen ist. Das war eine inflationäre Quelle; das bringen Sie nicht nachträglich statistisch durch einen Durchschnitt wieder weg.
Das ist ein Tatbestand, und das ist der Kern unserer Kritik an Ihrem Kürzungsprogramm. Wir sagen, das Kürzungsprogramm kommt zu spät; das Kind ist in den ersten 10 Monaten schon in den Brunnen gefallen. Das ist ein besonderes Kunststück, nicht wahr?
Sie können das mit dem Kürzungsprogramm für 1966 nicht mehr wegbringen. Wir haben die Inflation von der öffentlichen Hand her. Wir meinen natürlich immer die schleichende Inflation; wir meinen nicht die offene oder galoppierende, um Gottes willen; Herr Burgbacher hatte das angedeutet. Darüber sind wir uns doch völlig einig. Aber sie ist aus den öffentlichen Kassen finanziert.
Herr Abgeordneter Ott möchte eine Frage stellen.
Bitte sehr!
Herr Kollege Schiller, darf man Ihren Ausführungen entnehmen, daß das Haushaltssicherungsgesetz Ihnen noch nicht weit genug geht, wenn Sie kritisieren, daß schon im Jahr 1965 zu viel ausgegeben wird?
Herr Kollege Ott, es tut mir furchtbar leid, daß ich mich auch da wiederholen muß. Ich habe das schon vorgestern gesagt und auch jetzt anzudeuten versucht. Die inflationäre Bewegung, die inflationäre Finanzierung des Booms hat in den ersten 10 Monaten des Jahres 1965 stattgefunden.
In diesem Zeitraum hätte die Kürzung erfolgen müssen.
Eine Kürzung — das haben Herr Erler und Herr Dr. Möller mehrere Male gesagt —, die von der Regierung, vom Bundesfinanzministerium durch einen Plan hätte errechnet werden müssen — „Wir
bewilligen hier alle zuviel!" —, das wäre das Richtige gewesen.
Aber dann fangen Sie wieder mit dieser Geschichte an. Stellen Sie sich doch auf meinen Standpunkt.
— Ich war ja physisch nicht dabei. Ich sage, wer das auch immer beschlossen hat
— hören Sie doch bitte noch den Nebensatz —, die Regierung hatte durch ihr Finanzministerium die Aufgabe, ihre Berechnungen dem Parlament vorzutragen und zu sagen: Ihr wißt das gar nicht als Abgeordnete, denn ihr habt gar nicht die Bücher. Ihr seid bei der Bewilligung um soundsoviel Milliarden über das Maximum hinausgegangen.
Das ist der Punkt, um den es geht,
und nichts anderes. Es ist doch ganz irrelevant, noch nachträglich hier nachzuforschen — sogar verfassungsrechtlich —, wer eigentlich mitgestimmt oder nicht mitgestimmt hat.
Entscheidend ist, daß das Parlament nicht durch eine zentrale Stelle — das ist das Bundesfinanzministerium — orientiert worden ist —, nicht im August, als der Bundeskanzler das hat nachrechnen lassen — da war das Parlament in den Wahlkampf gegangen —, sondern vorher bei den Bewilligungen: Ihr seid jenseits der Möglichkeiten! Dies hat nicht stattgefunden.
Jetzt kommt diese Bundesregierung mit einer Geschichte für 1966,
da kommt die imaginäre Zahl. Wir können das gar nicht beurteilen, hier 2,9 Milliarden DM von einem imaginären Budget abzuziehen, dessen Größenordnung zwar im Moment durch eine Zahl angegeben wird, dessen Relation zu den darauffolgenden Haushalten jedoch völlig im ungewissen ist. Da sagen wir: Bitte, tretet mal an mit der vierjährigen mittelfristigen Finanzplanung, dann wollen wir weiter sehen. Ich habe versucht, darzulegen, daß gute Politik — und jetzt muß mittelfristige Politik betrieben werden — nicht darin besteht, daß man einmal an der Notbremse zieht; das überlassen wir Ihnen.
— Ich habe versucht, es zu erklären, Denken Sie eigentlich, daß Sie alles das, was fehlt, mittelfristige Finanzplanung, mittelfristige Gesamtrechnung, mittelfristige Wirtschaftspolitik, Koordinie-
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Dr. Schiller
rung von Wirtschafts- und Finanzpolitik und was alles nötig wäre, um z. B. die Sache mit den Löhnen von seiten der Wirtschaftspolitik in Ordnung zu bringen, gleichgewichtige Bedingungen herzustellen, glauben Sie wirklich, daß Sie das alles mit ihren 2,9 Milliarden DM fertigbringen? Das glauben Sie doch selbst nicht!
— Das glaubt er!
Bei einem Bruttosozialprodukt von über 400 Milliarden!
— Wir machen es uns nicht leicht!
— Im Moment machen Sie es mir nicht leicht, meine Gedanken vorzutragen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Althammer?
Herr Kollege Schiller, wären Sie so freundlich und würden hier näher ausführen, wie nach Ihrer Vorstellung die Geschichte mit den Löhnen in Ordnung gebracht werden könnte?
Das habe ich vorgestern unter Punkt 8 ausführlich dargelegt.
— Das können Sie nachlesen. Das ist gedruckt — das geht doch hier alles sehr schnell. Ich will Sie doch nicht damit langweilen, daß ich den Punkt 8 hier noch einmal wiederhole, zumal mir, glaube ich, in diesem Punkt Herr Schmücker in der Absicht bona fide zugestimmt hat. Was wollen wir darüber diskutieren? Ich glaube, das ist dargestellt worden: Autonomie der Tarifparteien, aber recht zeitige staatliche Orientierungshilfen, mit allem, was dazu gehört.
— Darf ich vielleicht jetzt meinen Gedankengang zu Ende führen. Ich war beim Jahre 1965, bei der Inflation durch die Expansion der Bundesausgaben, und ich habe an dieser Stelle gesagt, das war das Gegenteil einer antizyklischen Politik, die notwendig gewesen wäre. Die Regierung hätte vom Herbst 1964 an versuchen müssen, den gesamtwirtschaftlichen Expansionsprozeß unter Kontrolle zu bringen.
Ich erwähne das, weil Herr Kollege Burgbacher mir das Wort „Kontrolle" so schwer angekreidet hat. Ich meinte in diesem Fall nur Kontrolle durch Fiskalpolitik und Geldpolitik — nichts anderes! —, durch beide globale Instrumente. Damit war gesagt, daß,
wenn man im Herbst 1964 die Entscheidung traf, nicht auf die drei von mir dargestellten Möglichkeiten, sondern auf die vierte einzugehen — nämlich „Preisanpassung nach oben" —, man verpflichtet gewesen wäre, den Anpassungsprozeß der Preise und Löhne 1964/65 nach oben unter Kontrolle zu halten, und zwar durch geld- und finanzpolitische Maßnahmen. Das ist bei den finanzpolitischen Maßnahmen im Jahre 1965 nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil, man hat die Sache noch angefeuert. Das war das Argument. Damit ist das Wort „Kontrolle", glaube ich, ganz genau fixiert, Herr Burgbacher.
Herr Professor Burgbacher möchte eine Frage stellen.
Ich danke Ihnen für die Aufklärung und habe folgende Frage. Sie sprechen erst von Kontrolle und haben die jetzt erklärt: durch fiskalpolitische Maßnahmen.
Und geldpolitische!
Und geldpolitische. Wie glauben Sie, daß diese Maßnahmen — vor allem die geldpolitischen —in unserem europaabhängigen Wirtschaftssystem zum Greifen kommen?
Ich habe in erster Linie von fiskalpolitischen Maßnahmen gesprochen. Die geldpolitischen Maßnahmen sind — leider allein — eingesetzt worden. Ich habe gesagt: die arme Bundesbank mußte verzweifelt allein gegen die Sache anrudern, weil der andere Rudermeister, nämlich der für die Fiskalpolitik zuständige Mann, nicht mittat. Die Fiskalpolitik greift in einem Land wie Deutschland, wenn sie mit der Geldpolitik kombiniert wird, genauso wie in anderen Ländern. Wir haben ein großes Beispiel — sogar durch einen sozialdemokratischen Finanzminister dargestellt —: das ist das Land Italien, das bekanntlich zum Gemeinsamen Markt gehört und das im Jahre vorher in der Situation, in der die Sache überborderte und eine inflationäre Entwicklung einzutreten drohte, durch fiskal-
und geldpolitische Maßnahmen wieder zu einer Gesundung gekommen ist, und zwar durch Maßnahmen der Fiscal policy und der Geldpolitik, die rechtzeitig ergriffen worden sind.
Bei uns hat die Fiskalpolitik im Jahre 1965 geschlafen; das ist es.
Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, dem Hohen Hause etwas konkreter — das Wort „konkret" ist ja bei Ihnen en vogue — die fiskalpolitischen Maßnahmen zu erläutern.
Konkret, konkret!
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Herr Burgbacher, darf ich mich da ganz bescheiden der Amtshilfe der Bundesregierung bedienen und Sie auf die Anlage 1 zum Wirtschaftsbericht der Bundesregierung für das Jahr 1964 verweisen.
Da ist ein Lehrbuch über Fiskalpolitik geschrieben, von dem ich vorgestern gesagt habe, daß es leider nicht in die Realität transformiert wurde; da können Sie das alles nachlesen.
— Vielleicht kann ich es noch konkreter machen: Wenn Sie im Sommer für 1965 eine Kürzung von 3 oder 5 Milliarden DM eingereicht hätten, dann hätten Sie richtig gelegen.
— Wo haben Sie von der Bundesregierung das gemacht?
— Hätten Sie doch mal das Experiment gemacht.
— Warum haben Sie das nicht riskiert?
— Die hätten Sie ja niederstimmen können;
Sie hatten damals sogar ein paar Stimmen mehr.
— Aber, meine Herren, Sie müssen doch demjenigen, der Ihnen ein Argument vorträgt, zubilligen, daß er in der Lage ist, dieses Argument in seinen beiden Kernsätzen zu erklären; das ist geschehen.
Sie kommen mit dem Kürzungsprogramm zu spät. Die inflationäre Quelle hat — besonders im ersten Halbjahr 1965 — übermäßig gesprudelt.
Wollen wir nicht dem Herrn Redner die Möglichkeit geben, mal seine Gedanken zu entwickeln? Ich wäre auch dankbar, wenn in der Mitte des Hauses eine gewisse Ruhe eingehalten würde.
Wollen Sie die Frage beantworten?
Ja.
Herr Kollege Professor Schiller, würden Sie im Zuge Ihrer Notenerteilung vielleicht auch einmal die Frage beantworten, ob nach Ihrer Meinung die sozialdemokratisch regierten Länder sich im Rahmen Ihrer Fiskal-und Ausgabenpolitik im Jahre 1965 konjunkturgerecht verhalten haben?
Ich kann Ihnen dazu nur eins sagen: ich bin mit allen meinen Kollegen in der Fraktion völlig von der Notwendigkeit überzeugt, daß wir in Zukunft Formen, Modalitäten finden müssen — siehe Finanzreform —, um eine gemeinsame Politik zwischen Bund und Ländern zu betreiben. Auch das ist versäumt worden.
Wir haben gestern darüber diskutiert. Ich darf mich jetzt auf meinen — —
— Sie ist doch beantwortet.
— Die Frage ist beantwortet; denn die sozialdemokratisch regierten Länder gehören auch zu den von mir angesprochenen Bundesländern, die gemeinsam mit einer Bundesregierung arbeiten sollten, die einen fiskalpolitischen Plan mit einem Gesamtrahmen hat,
an den sich alle möglichst halten sollten, und das ist nicht geschehen.
Meine Damen und Herren, ich hatte vor, mich noch kurz zu einem von Herrn Minister Schmücker aufgeworfenen sehr wichtigen Thema zu äußern, nämlich zur Strukturpolitik und zum Steinkohlenbergbau. Wir alle wissen, was in der Kohlewirtschaft los ist. Wir alle haben festgestellt, daß die Regierungserklärung selber uns über die Energiepolitik der Bundesregierung überhaupt noch keine Auskunft gibt. Dort steht nur: ,,... mit Sorgfalt annehmen", dafür sorgen, daß die Vorteile des derzeitigen Strukturwandels im Energiebereich der gesamten Wirtschaft optimal nutzbar gemacht werden", ,,... gewillt, ihre Bemühungen um eine Gesundung der Verhältnisse im Steinkohlenbergbau fortzusetzen". Zum Schluß kam dann noch der wirklich befremdliche Appell an den Bergbau, seine Leistungkraft zu steigern, wo jeder sich fragte: Heißt das Appell auf noch mehr Halden oder heißt das einfach Appell, die Kosten zu senken?
— Doch, das hätte man deutlich sagen können.
Nun haben wir von Herrn Bundesminister Schmücker — und dafür muß ich ihm dankbar sein
— am gestrigen Tage eine klare Auskunft bekom-
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Dr. Schiller
men. Er hat gesagt: Die Kohleförderung muß in Zukunft den Absatzmöglichkeiten angepaßt werden, und nicht umgekehrt. Das ist eine klare wirtschaftspolitische Entscheidung. Ob man sie billigt oder nicht, ist eine zweite Frage. Aber wir haben gestern gehört, daß nicht mehr von 140 Millionen t oder so gesprochen wird, sondern nunmehr versucht wird, die Kohleförderung zu reduzieren — so der Bundeswirtschaftsminister mit seinem Satz —, um sie damit den Absatzmöglichkeiten anzupassen. Damit ist erstmals das Urteil gefällt über alles das, was in diesem Sommer und Herbst geschehen ist, nämlich jene Hinhaltemaßnahmen für den Steinkohlenbergbau, die einfach nur darin bestanden, im innersten Kern über einen gewissen dies irae, nämlich den 19. September, hinwegzukommen,
jene Maßnahmen, von denen der „Deutsche Volkswirt" geschrieben hat — ich darf zitieren —:
Niemand wird einen seriösen Beitrag zur Lösung des energiepolitischen Dilemmas darin sehen, daß Halden von der Ruhr abgefahren und in Süddeutschland neu aufgeschüttet werden und daß Bergarbeiter aus öffentlichen Mitteln dafür bezahlt werden, daß sie keine Kohle fördern.
Das ist das, was wir im Augenblick erleben bzw. erlebt haben. Das ist also nach der neuen Aussage des Herrn Bundeswirtschaftsministers durch eine neue Politik zu ersetzen.
Zum zweiten möchte ich sagen: der Herr Bundeswirtschaftsminister ist sich sicherlich darüber im klaren, daß seiner weittragende Formulierung — die eine Entscheidung beinhaltet; das gebe ich ganz freimütig zu — noch der Konkretisierung bedarf; denn das ist eine schwerwiegende Äußerung. Was bedeutet es für die Hunderttausende von Bergarbeitern an der Ruhr, die nun hören, daß zwischen der Regierungserklärung, die idas alles offenließ, die ganz allgemein gehalten war, und der gestrigen Debatte eine Entscheidung über die Leute an der Ruhr gefallen ist, nämlich die Entscheidung einer Anpassung der Kohleförderung nach unten? Was bedeutet das für die Menschen? Die wollen doch mehr davon hören. Da muß doch nun gesagt werden, wie sich das abspielen soll.
Wir wollen hier keinen Kohleplan im einzelnen diskutieren. Das wäre nun wieder zu sachlich und wäre für Sie vielleicht sogar zuviel, wenn wir so konkret werden wollten; aber ich möchte folgendes sagen. Herr Minister Schmücker, die Parole des Gesundschrumpfens, die vielleicht dadrinsteckt, genügt bei der Kostenstruktur des deutschen Steinkohlebergbaus nicht. Das hat sich gezeigt. Aus den Erfahrungen der letzten Jahre haben wir festgestellt: „Schrumpfen" im Kohlebergbau bedeutet, daß die anfallenden Gemeinlasten von einem kleineren Produktionsquantum getragen werden müssen und daß damit von der Kostenseite her ein Druck auf die Kohlepreise nach oben hin ausgeübt wird. Diese Schrumpfung bedeutet also keine Gesundschrumpfung.
Ich möchte deswegen folgendes sagen, Herr Minister Schmücker. Als erstes müssen Sie, wenn Sie diese Entscheidung getroffen haben, dem Wunsche des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium von 1961 folgen. Das ist ein Gremium, das, weiß Gott, nicht in den Geruch kommt, sich nur aus linken Planwirtschaftlern zusammenzusetzen; es ist ein sehr liberales Gremium. Dieses Gremium hat der Bundesriegerung ganz deutlich gesagt, es sei notwendig, für die deutsche Energiepolitik, für die deutsche Steinkohlepolitik einen mittelfristigen Rahmenplan aufzustellen. Das ist bisher aus Orthodoxie, aus psychologischen Gründen nicht geschehen. Das wollte man eben nicht. Das erste, was Sie machen müssen, um Klarheit an der Ruhr zu schaffen, ist also, daß Sie sich dazu überwinden, einen solchen mittelfristigen Plan für die deutsche Kohle und für die Energiepolitik aufzustellen.
Ich komme zum zweiten, um noch konkreter zu werden. Sie sagen: Anpassung an die Absatzmöglichkeiten. Herr Minister Schmücker, da kommt es auf den Preis an.
— Ist Ihnen der Preis eine unbekannte Größe in der Kohlewirtschaft?
— Ja, ich bin dabei; haben Sie es noch nicht bemerkt? Das tut mir furchtbar leid.
Ich wollte Ihnen jetzt zusätzlich folgendes sagen. Sie müssen sich in den nächsten Jahren Gedanken über die Preisgestaltung in der deutschen Kohlewirtschaft machen. Das, was Sie jetzt auf dem Markt der Konkurrenzprodukte haben, das ist — das wissen wir doch alle — Verdrängungswettbewerb; das ist bei diesen Konkurrenzprodukten für die Kohle zur Zeit eine Preisbildung, die nicht der Preisbildung bei vollständiger Konkurrenz entspricht. Es ist eine verzerrte Preisbildung. Sie müssen den Mut haben, einen Orientierungspreis zu berechnen und auf Grund dieses Orientierungspreises die Kohlemenge auszurechnen, die an der Ruhr rentabel produziert werden kann. Das wäre der gedankliche Weg eines solchen Rahmenplans.
Dabei kann es aber nicht bleiben. Sie müssen ein Weiteres tun — und darüber haben wir nichts gehört —: Sie müssen an die Unternehmen ran, aber nun nicht in dem Sinne, wie Sie es vielleicht denken, daß wir hier also über Eigentum und sonstwas vorgehen wollen. Keineswegs! Keineswegs gegen den Willen des Vorstandes!
Und lassen Sie doch auch einer großen Gewerkschaft die Möglichkeit, in einer Mitgliederversammlung ihren Willen kundzutun. Wir haben hier selber Politik zu machen. Sie kennen meinen Vorschlag und den Vorschlag, den z. B. der Vorsitzende der IG Bergbau und sein Vertreter im August dieses Jahres gemacht haben. Das war bei einer schönen Zechenbesichtigung, bei einer Besprechung mit den Bergassessoren auf einer Zeche, die übrigens einen
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netten Namen hatte, sie hieß nämlich „Unser Fritz". Auf dieser Zeche haben wir diesen Kohleplan entwickelt.
Bei dem Orientierungspreis, den ich Ihnen eben noch einmal genannt habe, der dem Bundeswirtschaftsminister und seinen Referenten in der Beobachtung entgangen ist, haben wir hinzugesetzt: Es müssen im deutschen Steinkohlenbergbau durch bergbauliche Flur- und Felderbereinigung endlich einmal optimale Unternehmenseinheiten entstehen. Das ist der nächste strukturelle Punkt, — und der fehlt. Ferner wollte ich dem Herrn Minister noch mit auf den Weg geben: es kommt nicht nur darauf an, wie er das bei seinem „Mineralölwirtschaftsplan" gesagt hat, daß nun das dekapitalisierte Kapital entschädigt wird. Herr Minister Schmücker, ich hoffe, da sind wir uns einig: wenn bei Schrumpfungs- oder Anpassungsvorgängen das dekapitalisierte Kapital entschädigt wird, muß pari passu auch die menschliche Arbeitskraft, die im Bergbau bisher tätig war, unorthodox entschädigt werden.
Es ist gerade in bezug auf die menschliche Arbeitskraft so dringend notwendig, daß Sie über Ihren einen Satz hinausgehen und einen Plan sehr bald etwa in der Richtung entwickeln, die ich versucht habe Ihnen hier 'darzustellen, damit die Menschen an der Ruhr Sicherheit (bekommen; nicht die Sicherheit, daß jeder einzelne z. B. auf der Zeche „Unser Fritz" bleibt — das kann keiner sagen —, aber Sicherheit über den Überleitungsprozeß. Ich warne Sie, Herr Minister Schmücker: Wenn dieses eine Wort „Anpassung nach unten" nicht sofort ergänzt wird durch einen wirklichen Anpassungsplan, der auf diese wichtigen Punkte konzentriert ist — Orientierungspreis, optimale Unternehmenseinheiten und Gleichstellung in der Entschädigung von Arbeit und Kapital —, dann bekommen Sie an der Ruhr einen Hexenkessel.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer?
Herr Kollege Schiller, eine letzte Zwischenfrage: Sie haben vorgestern Ihre Jungfernrede mit einem sehr netten Brecht-Zitat geschlossen. Ist Ihnen bekannt, daß dieser Bert Brecht aus meiner Heimatstadt auch die Verse geprägt hat:
Ja, mach nur einen Plan,
sei nur ein großes Licht,
und mach dann noch nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.
Ich habe hier nicht versucht, einen Plan zu machen — da müßte ich Ihnen etwas anderes bieten —,
sondern ich habe versucht, der Bundesregierung eine sehr 'bescheidene Amtshilfe zu leisten,
einen Rahmenplan aufzustellen, der seit 1961 von den liberalsten Leuten, die es in der Bundesrepublik gibt, gefordert und der bisher nicht gemacht worden ist.
Ein Letztes, mehr eine Empfehlung in Sachen Hohe Behörde: Ich muß ganz offen sagen— und ich hoffe, mit allen Mitgliedern des Hauses darin übereinzustimmen — mir hat — die ganzen Jahre über, gerade als Außenstehendem — nicht gefallen, daß bei einer so großen Strukturkrise des deutschen Steinkohlenbergbaus — nach 7 Jahren sind wir jetzt dabei, Amtshilfe für einen Plan von seiten der Regierung zu leisten; das wollen wir doch einmal festhalten — die Hohe Behörde seit 1958 ein bißchen „in Lee" gestanden hat.
— „In Lee" heißt abseits. Das hat mir nicht gefallen, daß diese Hohe Behörde bei einer so schweren Strukturkrise in einem so großen kohleproduzierenden Land nicht aktiver in Erscheinung getreten ist. Das kann ich wohl sagen. Ich gehöre zu denjenigen, die Anfang der fünfziger Jahre diesen Schritt nach Europa mit Verve auch gegenüber meinen eigenen Freunden vertreten haben. Die Hohe Behörde hat auf diesem Gebiet nicht sehr viel getan. Ich möchte der Bundesregierung vorschlagen, daß man bei den Gemeinschaften sehr deutlich auf zwei Punkte hinweist.
Erstens sollten — ich glaube, Herr Illerhaus, da stimmen Sie mit mir völlig überein — in Zukunft Stillegungen in der Gemeinschaft der Sechs nur noch stattfinden, wenn es sich unter Berücksichtigung der komparativen Kosten in allen Ländern um die schlechtere Zeche handelt. Das ist der erste Punkt,
der sollte einmal mit allem Ernst — wenn geschehen, dann noch einmal — dort vorgetragen werden. Andere Länder exerzieren uns ja vor, wie man das, wenn nationale Interessen auf dem Spiele stehen — und es ist ein nationales Interesse, wenn uns die Sache mit der Kohle da völlig aus dem Ruder geht —, in Brüssel oder Luxemburg macht; ich würde ruhig sagen: unter Hinweis auf die ernsten Konsequenzen.
Das zweite ist, daß diese Behörde endlich einmal reale Schritte in Richtung auf eine europäische Energiepolitik unternimmt, nicht nur auf eine partielle Kohlepolitik. Diese beiden Überlegungen möchte ich der Regierung noch einmal mit auf den Weg nach Luxemburg und Brüssel geben.
Herr Abgeordneter Illerhaus möchte eine Frage stellen.
Herr Professor Schiller, ich habe keine Veranlassung, die Hohe Behörde in Schutz zu nehmen, aber ich möchte Sie doch fragen,
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 245
Illerhaus
ob Ihnen nicht bekannt ist, daß die Hohe Behörde 1958 den offiziellen Antrag gestellt hat, Art. 58 anzuwenden, also die „manifeste Krise" zu erklären, woraus sich dann Pläne ergeben hätten, und daß der Ministerrat und das Europäische Parlament einschließlich der Sozialisten die Anwendung von Art. 58 — Erklärung der „manifesten Krise" — abgelehnt haben.
Ich kann nachträglich nicht sagen, ob im Jahre 1958 eine so dramatische Beschlußfassung die richtige gewesen wäre oder ob man das, um den Übergang zu finden, ohne eine solche krisenhafte Erklärung nicht hätte besser machen können. Aber unabhängig davon hätte man doch einiges tun können. Und die Investitionsvorausschau in den Jahren davor — ich habe das an der Ruhr selber erlebt — war viel mehr darauf abgestellt: Geht ins Quantum, produziert mehr Kohle! So war das in den Jahren vorher. Und dann kam die schreckliche Enttäuschung. Ich glaube also, allzu effizient ist das nicht gewesen. Was ich auch immer hier zu empfehlen habe, darin sind wir uns, glaube ich, einig: daß die beiden Punkte, die ich soeben formuliert habe, von der Bundesregierung dort mit Nachdruck vertreten werden müssen.
Meine Damen und Herren, jetzt darf ich noch zwei kleine Dinge richtigstellen, wo Herr Minister Schmücker in bezug auf meine Person nicht ganz richtig zitiert hat bzw. seine Mitstreiter ihm das nicht richtig aufgeschrieben haben.
— Natürlich, Zitate sind so eine Sache.
Sie haben zunächst gesagt, meine Politik bestehe nach meinem Wort darin: nicht anders, sondern besser. Herr Minister Schmücker, das Zitat ist in zweierlei Hinsicht falsch. Erstens stammt es nicht von mir — es stammt von meinem Freund Willy Brandt —, und zweitens lautet es anders. Brandt hat gesagt: Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen. Das ist das richtige Zitat. Sie haben es nicht ganz korrekt zitiert und, wie gesagt, den falschen Autor genannt.
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Zweitens haben Sie gesagt, ich hätte vor einiger Zeit als meine oder als unsere Haltung formuliert, wir wollten den Unternehmern oder den Menschen schlechthin alle Rechte und Freiheiten geben, nur nicht das Recht und die Freiheit, sich zu irren. Meine Damen und Herren, dieses Zitat ist nun völlig falsch; das tut mir furchtbar leid. Ihre Leute, die Ihnen das zusammengeschrieben haben, haben also einen falschen Bericht gegeben. Ich darf Ihnen das erzählen. Ein Vertreter der französischen „planification", gegen den ich polemisiert habe, hatte die These aufgestellt: Wir wollen den Unternehmern alle Freiheiten geben, aber eine Freiheit nicht, nämlich die Freiheit, sich zu irren. Da bin ich aufgestanden und habe gesagt: Eine Marktwirtschaft ohne das Recht des Unternehmers, sich zu irren, das ist eine Marktwirtschaft — na, ich habe je nach der Örtlichkeit verschiedene Vergleiche gewählt — auf SchlaraffiaMatratzen; in Bayern habe ich gesagt: Eine Marktwirtschaft ohne das Recht, ohne das Grundrecht der Unternehmer, sich zu irren, das ist wie Bier ohne Stammwürze.
Also, Herr Kollege Schmücker, das war falsch berichtet. Ich habe mich gegen dieses Leitmotiv der französischen Planifikateure von Anfang an gewendet.
Gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Schulze-Vorberg?
Ja.
Herr Professor Schiller, darf ich dann fragen, ob die SPD, nachdem ihre Vertreter hier im Bundestag diese „planification" ausdrücklich immer als ein mögliches Modell empfohlen haben,
inzwischen auch in diesem Punkt die Politik der Bundesregierung übernommen hat.
Herr Kollege, ich habe Ihnen schon einmal gesagt: es ist zu unterscheiden die „planification globale" — Gesamtrechnung, Globalsteuerung und alles, was dazugehört — und die „planification en détail", die sich auf den einzelnen Betrieb bezieht. Das zweite hat die SPD immer abgelehnt.
— Jetzt kommen Sie auf den Wirtschaftsrat. Das ist die Flucht nicht in die Gemütlichkeit, sondern in die Prähistorie, in die Vorgeschichte.
Meine Damen und Herren, ich darf noch ein kurzes Wort über die Aufgaben hinzufügen, die uns erwarten. Ich habe mit Erstaunen vernommen, daß Herr Burgbacher meinte, in meinen Vorstellungen seien noch planwirtschaftliche Reste vorhanden. Umgekehrt hat Herr Schmücker in seiner Rede gesagt, ich sei bei der marktwirtschaftlichen These und Thematik und Diskussion dabei, andere Marktwirtschaftler zu überrunden."
Wie Sie beide, Herr Schmücker und Herr Burgbacher, das nun miteinander „formieren" wollen, das überlasse ich Ihnen.
Ich will das nur erwähnen.
Wir sollten uns aber doch, meine Damen und Herren, auf die Regierungserklärung hin für die
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Dr. Schiller
kommende Zeit folgende Aufgaben ins Gedächtnis zurückrufen: Wir brauchen in der Zukunft die Marktwirtschaft, das ist ganz selbstverständlich — um das klar und deutlich zu sagen —; aber mit der Marktwirtschaft allein geht es nicht. Auch Ihr Bestreben, da so irgend etwas zu finden, was über das Aktionsschema von 1948 oder 1949 hinausgeht, ist doch ein Beweis dafür, daß es mit der Marktwirtschaft allein nicht mehr geht. Ich möchte es ganz deutlich sagen: die Aktions- und Denkschablonen der Jahre 1948/49 genügen in der vor uns liegenden politischen und ökonomischen Phase nicht mehr.
Deswegen muß zur Marktwirtschaft etwas dazukommen. Ich persönlich bin der Meinung— wir haben in Karlsruhe sehr ausführlich dazu gesprochen —: Marktwirtschaft muß ergänzt werden durch globale Steuerung. Ohne das geht's nicht. Das heißt: Gesamtrechnung, mittelfristige Haushaltsplanung und ähnliches. Das muß dazukommen.
Weiter gehört dazu das, was wir Wohlfahrtspolitik im weitesten Sinne nennen. Das ist nicht nur Sozialpolitik, sondern auch Strukturpolitik in dem Sinne, wie Herr Schmücker es jetzt versucht aufzugreifen, nämlich Hilfe für schrumpfende Wirtschaftszweige bei der Überleitung, beim Übergang. Auch das gehört dazu. Dazu gehört ferner der Umgang mit den großen Gruppen, der Umgang mit den Verbänden, gehört das, was der Herr Bundeskanzler mit seiner „formierten Gesellschaft" nach meiner Ansicht durch eine Definition aus der Welt zu schaffen versucht.
Ich möchte es auf die Formel bringen: Bei der ersten Regierungserklärung des Bundeskanzlers Erhard im Jahre 1963 hatten wir alle den Eindruck, daß politisch — wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch, gesellschaftspolitisch — die deutsche EisenhowerÄra zu Ende gehe, daß etwas Neues anfange. Und jetzt, nach der Regierungserklärung vom 10. November, Herr Bundeskanzler, muß ich sagen: Sie sind von diesen großen Vorsätzen herunter, wir befinden uns nach der Erklärung und in der Realität mitten drin in einer zweiten deutschen EisenhowerÄra, einer Ära —
— Ich nehme einen Typ; ich weiche insofern aus, als ich keinen deutschen Namen nenne, faute de mieux.
Eine Nach-Eisenhower-Ära in gesellschaftspolitischer, in wirtschaftspolitischer Hinsicht sollte sich dadurch auszeichnen, daß von der Regierung globale Ziele gesetzt werden — was bisher nicht geschehen ist, ich habe das vorgestern gesagt —, daß von der Regierung quantitative Maßstäbe gesetzt werden, daß von der Regierung mit den großen Gruppen klar, bestimmt, dezidiert umgegangen wird, — kurz und gut, daß klar auf mittlere Sicht Politik betrieben und durchgesetzt wird. Das gehört zu einer Nach-Eisenhower-Ära, und das vermissen wir. Wir vermissen eine moderne Politik, die das
Verhalten der Menschen im wirtschaftlichen Alltag, wie das in Amerika geschieht, durch moderne Mittel der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf sanfte Weise. verändert. Wir stellen auch ganz deutlich feist, Herr Bundeskanzler, daß die deutschen Menschen zur Zeit überaus beunruhigt sind, z. B. über die Preisbewegung. Woher kommt das? Weil sie in ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhaltensweisen von der Regierung keine klaren Orientierungspunkte, keine Maßstäbe für die kommenden Jahre gesetzt bekommen haben. Das ist der Stil einer Eisenhower-Ära.
Der Herr Bundeskanzler fährt demnächst nach Amerika, ich weiß nicht, ob mit vollen oder leeren Händen auf dem Gebiet der Außenpolitik und der Verteidigungspolitik oder sogar mit geballten Händen. Auf jeden Fall würde ich ihm empfehlen, sich dort auch einmal umzutun. Wir wollen kein Modell übernehmen; aber was da in der Nach-EisenhowerÄra geleistet worden ist, wie man dort mit der heutigen Gesellschaft fertig wird, das ist schon etwas, wovon wir lernen können: fünf Jahre Prosperität in diesem Lande der schwierigen strukturellen Probleme, fünf Jahre ungebrochene Prosperität, eingeleitet und durchgeführt durch eine Politik der Rahmenplanung — jawohl! —, in der quantitative Ziele gesetzt sind, und eine Politik, die die Verbände anerkennt, Herr Bundeskanzler, die aber mit Gewicht und Nachdruck — wenn nötig — den geballten Interessengruppen mit Erfolg entgegentritt. Da war am Anfang die Sache mit den Stahlpreisen und jetzt zum Schluß die Sache mit den Aluminiumpreisen. Ich bitte Sie, sich einmal anzusehen, wie man das in einer modernen Gesellschaft und mit modernen Instrumenten macht.
Wir haben in der Regierungserklärung kein Aktionsprogramm vorgelegt bekommen. Ich möchte Ihnen vorschlagen: Stellen Sie nach der Debatte, am Ende der Woche, wenn Sie in Ihrem Kabinett zur Manöverkritik zusammenkommen, drei Pläne auf, drei Programme. Nicht für die CDU und für die FDP und dann für Herrn Illerhaus, so habe ich das nicht gemeint,
sondern drei Pläne folgender Art:
Erstens ein kurzfristiges Programm. Herr Bundeskanzler, die Bevölkerung wartet darauf: „Wie wird es mit den Preisen?" Wir haben hier tagelang diskutiert, von Montag an. Die Bevölkerung fragt doch: „Was machen die in Bonn mit den Preisen?"
Das fragt sie doch. Und so schlage ich der Bundesregierung vor: Machen Sie ein kurzfristiges Aktionsprogramm über die Stabilisierung des deutschen Preisniveaus. Wir haben versucht, Ihnen da acht Beiträge zu liefern. Sie sehen, wir sind gar nicht so.
Zweitens: Machen Sie ein mittelfristiges Programm im Sinne der Gesamtrechnung, der Vorausschau von 1966 bis 1969, im Sinne dessen, was alles hier gesagt worden ist, damit der weitere Auf-
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Dr. Schiller
schwung, Expansion und Preisstabilität endlich miteinander vereint werden können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Machen Sie auf Grund der Debatte ein langfristiges Programm über die großen Modernisierungsnotwendigkeiten in unserer Gesellschaft, über das, was Herr Erler ganz am Anfang der Debatte gesagt hat und was eigentlich nur von einem einzigen in dieser positiven Weise aufgenommen wurde — gegen restriktive Einstellungen, die hier jetzt vorherrschen. Diese restriktiven Einstellungen — deutscher Reistag zusammen mit einer deutschen Überstunde — das hilft doch alles nichts!
Wenn wir weiter die großen Aufgaben auf dem Gebiete der Infrastruktur, der Ausstattung unserer Forschungseinrichtungen anpacken wollen, dann müssen wir weiter expandieren. Das wurde, soweit ich sehe, wirklich positiv nur von einem anderen Redner aufgenommen, nämlich von Franz Josef Strauß. Ich bitte die Bundesregierung, bei der Aufstellung eines langfristigen Planes, der notwendig ist — nach dem kurzfristigen mit den Preisen und dem mittelfristigen mit dem Haushalt —, die Ideen der Sozialdemokratischen Partei, besonders das, was Herr Erler gesagt hat, zu berücksichtigen; das ist dringend notwendig; und denken Sie auch daran, was Herr Strauß dazu gesagt hat.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen das und gebe Ihnen diese Empfehlung für die Regierung, unmittelbar nach dieser Debatte drei solche Programme zu machen, damit Sie sehen: wir versuchen einiges beizusteuern. Wir können nicht opponieren gegen etwas, was nicht da ist, und ein Programm ist nicht da.
An Stelle der Opposition gegen ein Programm, das nicht da ist, versuchen wir nun — ich habe ja unsere Dienste angeboten —, ein Programm für Sie zu komponieren, nämlich: kurzfristig, mittelfristig, langfristig. Das ist unser Beitrag zu der Sache.
Nun haben Sie die Alternative erkannt, nicht wahr?
Das Wort hat der Herr Bundeswirtschaftsminister.
„Nun haben wir die Alternative erkannt: kurzfristig, mittelfristig und -langfristig."
Herr Schiller, ich gehöre diesem Hohen Hause seit 1949 an. Ich habe leider die entscheidende Auseinandersetzung, die ja schon in Frankfurt stattgefunden hat, nicht mitgemacht. Aber seit 1949 kehrt — nicht alle Jahre, sondern Monat für Monat — wieder, daß Sprecher aus Ihren Reihen,
von Ihrem ersten Vorsitzenden nach dem Kriege angefangen bis heute, immer wieder sagen: „Jetzt geht die Ära zu Ende, und das nächste Mal sind wir dran". Immer wieder wird das Ende vorausgesagt.
— Ich kann das leider nicht verstehen, was Sie sehr lautstark, aber wenig artikuliert sagen.
Sie haben immer wieder das Ende der Ära vorausgesagt, und wenn die Wahl, wenn die Entscheidung des Volkes kam, dann bekamen Sie die Quittung.
— Meine Damen und Herren, das können Sie doch nicht bestreiten. Wenn Sie sich nun heute hier hinstellen und wieder einmal das Ende einer Ära voraussagen, dann müssen Sie sich doch gefallen lassen, wenn Sie sich schon nicht erinnern, wie häufig Sie sich geirrt haben, daß wir Sie daran erinnern.
Herr Abgeordneter Erler möchte eine Zwischenfrage stellen.
Herr Bundesminister, halten Sie nicht diese Eröffnung Ihres Beitrags zu einem geleisteten Sachbeitrag bei einem Gespräch über Grundfragen deutscher Politik für unter dem Standard, der einer Regierung würdig ist?
Meine Damen und Herren, ich kann dazu nur folgendes feststellen. Erstens bin ich den Kraftausdrükken, die von Ihrer Seite gebraucht werden, nicht gewachsen. Zweitens werden in der Geschäftsordnung Fragen zugelassen und nicht in Fragen gekleidete Angriffe, Herr Erler.
Drittens sage ich Ihnen: Ich werde auf die Punkte eingehen, allerdings nicht so, daß Sie nur Freude daran haben, sondern natürlich auch so, daß Sie sich ärgern müssen, wie Sie das eben schon getan haben. Das ist doch mein gutes Recht. Glauben Sie, Sie allein hätten das Recht, hier Angriffe 2u starten?
Herr Schiller hat sich, nachdem er selbst mich mehrfach falsch zitiert hat und mich in einen Gegensatz zu meinem Freund Burgbacher hat bringen wollen, der nicht besteht, darüber beklagt, daß ich ihn falsch zitiert hätte. Es ist möglich, daß ich Zeitungsmeldungen habe, die das, was er gesagt hat, nicht richtig wiedergeben. Auf diese Möglichkeit habe ich mit der Bemerkung „Es kann falsch von der Zunge gegangen sein, es kann nicht stimmen, auch mir ist das passiert" hingewiesen. Ich habe aber dann diesen Satz zur Überschrift Ihrer Rede gemacht, und darauf kommt es mir an, Herr Schiller. Wenn Sie also Wert darauf legen, daß diese Äußerungen, die in die deutsche Öffentlichkeit als Ihre
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Bundesminister Schmücker
Äußerungen gelangt sind, 'beseitigt werden, habe ich Ihnen die Chance gegeben, sie zu beseitigen.
Herr Schiller ist hier heraufgegangen in der Absicht, Herr Erler, herauszustellen, wo Übereinstimmungen bestehen und wo Meinungsverschiedenheiten geblieben sind. Ich finde, das ist eine gute Absicht gewesen. Aber, Herr Kollege Schiller und auch Herr Erler, ich kann Ihnen leider nicht zugeben, daß diese Absicht verwirklicht worden ist. Denn Sie haben Argumente aufgebaut und sie fünf Minuten später wieder über den Haufen geworfen. Ich werde Ihnen das gleich an einzelnen Beispielen nachweisen.
Ich bin der Meinung, daß wir uns an Übereinstimmungen, wenn sie vorhanden sind, nun gut, einige Minuten freuen, aber dann keine weitere Zeit verlieren sollten, sondern uns über die Divergenzen unterhalten sollten. Dann gibt eis die Möglichkeit, einen weiteren Versuch zu machen, sich gegenseitig zu überzeugen; aber dann muß abgestimmt werden.
Meine Damen und Herren, ein Wort, das Sie wiederholt halben, werde ich mir merken. Sie haben mehrfach darauf hingewiesen: Sie haben die Mehrheit! Meine Damen und Herren, das werden wir dann sagen, wenn Sie — wie so häufig, ungefähr wie das mit dem Ende der Ara — betonen, wir machten von unserer Mehrheit zu Unrecht oder einseitig Gebrauch. Wenn Sie uns diese Verantwortung so einseitig überbürden und von unserem Tisch sprechen, gut, dann werden wir Ihnen in entscheidenden Punkten sagen: Hier ist die Mehrheit, und die Mehrheit wird entscheiden.
— Ich kann durch Mehrheitsbeschluß leider nicht die Ruhe im Saal herstellen.
Herr Schiller, Sie haben darauf hingewiesen, daß die entscheidende Gefahr einer Instabilität — Sie sagten: schleichende Inflation — aus dem Bundeshaushalt kommt. Ich habe ähnliches gesagt. Allerdings nennen Sie immer nur den Bund und vergessen die Länder und die großen Städte, die doch zusammengenommen werden müssen. Herr Schiller, das ist Ihr gutes Recht. Denn hier sprechen wir über den Bund, und Sie wollen nicht daran erinnert werden, daß Sie an einigen Stellen eben eine ganz respektable Verantwortung halben und erheblich zur Stabilität beitragen könnten.
Nun entsteht natürlich die Gefahr, daß ich, wenn. Sie einen solchen Tenor anschlagen, aus der Verteidigung heraus vielleicht dieses oder jenes zu bagatellisieren oder als unumgänglich hinzustellen versuche. Genau das, so habe ich gestern gesagt, werde ich nicht tun. Ich lasse mich nicht in diese Ecke hineinboxen.
Sie haben also die Kritik aufgenommen, daß eine Gefahr für die Stabilität aus den öffentlichen Haushalten kommt. Ich unterstreiche das.
Nun, Herr Schiller, haben Sie Ihr Argument gleich wieder über den Haufen geworfen. Sie haben gesagt, das mit der Kuponsteuer sei verkehrt gewesen, und haben als Begründung angeführt, daß wir zur Besserung unserer Infrastruktur — Sie haben sogar die Gemeinden genannt — ausländisches Kapital brauchten.
Nun frage ich Sie: Wir sollen die Haushalte beschränken und dann die außerordentlichen Haushalte durch Einfuhr ausländischen Geldes, ausländischen Kapitals aufblähen. Wo ist da Sinn? Wo ist da Verstand?
Daß wir diese Aufgaben erfüllen müssen, weiß ich auch. Aber wir können sie doch nur im Rahmen unserer Fähigkeiten erfüllen, im Rahmen der Kapazitäten, die uns zur Verfügung stehen. Wenn wir mehr Geld an den Markt bringen, als wir an Gütern und Dienstleistungen dagegenstellen können, tritt eben die schleichende Inflation ein. Um diese zu bremsen, haben wir uns für die Kuponsteuer entschieden. Ich finde, die Aufhebung der Kuponsteuer im gegenwärtigen Augenblick wäre genau das Gegenteil von einer Stabilitätspolitik, Herr Schiller.
Ich möchte aber noch einmal auf .die beiden anderen Argumente hinweisen. Ich habe großes Verständnis dafür, daß den betroffenen Kreisen diese Kuponsteuer unangenehm ist. Ich nehme sogar das Argument hin, daß man einige Vorwürfe gegen den Bund erheben kann, weil er hier Kapitalnehmer und Steuergesetzgeber in einer Person ist und er auch über die Rentabilität des Geldes befindet, das er selbst in Anspruch genommen hat. Dieses Argument nehme ich hin. Aber wenn ich es mit all den anderen Argumenten abwäge, komme ich doch zu dem Ergebnis, daß diese Kuponsteuer notwendig gewesen ist und daß sie wesentlich dazu beigetragen hat, daß sich die Entwicklung nicht überschlagen hat.
Der entscheidende Gesichtspunkt, Herr Kollege Schiller, bleibt ja doch folgender. In fast allen Ländern gibt es ähnliche Regelungen. Sie wissen, daß die Kuponsteuer bei den Ländern, mit denen wir Doppelbesteuerungsabkommen haben, verrechnet wird, daß sie also eine Steuer ist, die von der Einkommensteuer abgezogen wird. Betroffen werden also nur die Spekulanten. Betroffen wird das vagabundierende Geld. — Ich kann nicht dafür, wenn Herr Schiller nicht zuhört. Aber ich muß Ihnen dieses Argument doch vor Augen stellen, meine Damen und Herren. Denn hier geht es nicht nur um eine konjunkturpolitische Maßnahme. Hier geht es auch darum, daß Einkünfte gleich besteuert werden, also gerecht besteuert werden.
Herr Schiller hat dann darauf hingewiesen, daß die Maßnahmen der Bundesregierung zu spät gekommen seien und daß sie heute nicht mehr wirkten. Ich kann daraus nur den Schluß ziehen, daß Sie das Haushaltssicherungsgesetz ablehnen wollen und die Dinge so laufen lassen wollen. Ich räume Ihnen das Recht ein, einen Vorwurf zu erheben, aber nur Ihnen, Herr Schiller, weil Sie diesem Hohen
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Bundesminister Schmücker
Hause bisher nicht angehört haben. Für den Bundeshaushalt sind wir aber in allen Organen verantwortlich, und ich glaube, auch für all das, was sich aus dem Bundeshaushalt ergibt. Aber, meine Damen und Herren, Herr Schiller übersieht eines: daß es bei dieser Haushaltssicherung nicht nur um die Konjunkturpolitik geht, sondern um den ganz einfachen fiskalischen Grundsatz, daß die Ausgaben den Einnahmen angepaßt werden. Schon aus dieser Überlegung heraus ist es notwendig, das zu tun, was die Bundesregierung Ihnen vorschlägt.
Dann hat Herr Schiller einiges zur Energiepolitik gesagt. Er hat zwar mehrfach betont, wir wollten hier keine Kohlendebatte veranstalten. Er hat dann aber doch auch beklagt, daß ich nicht ausreichend Auskünfte gegeben hätte, und anschließend wieder verlangt, daß wir hier nicht zwischen Tür und Angel — das ist mein Ausdruck, — eine Energiedebatte führen. Herr Kollege Schiller, jedesmal im November oder Dezember haben wir in diesem Hohen Hause eine Kohledebatte geführt. Bis 1957/58 haben Sie den Vorwurf erhoben, es werde zu wenig produziert, und nachher — entsprechend der Lage — haben Sie genau umgekehrt argumentiert. Bei diesen Debatten erfolgten immer wieder Vorausberechnungen und Planungen über den künftigen Energiebedarf. Ich habe leider die Ziffern hier nicht zur Hand; aber sie würden wesentlich zur Auflockerung der Debatte beitragen; denn alle diese Ziffern sind falsch. Wäre zu irgendeinem Zeitpunkt in den vergangenen Jahren ein Plan auf Grund der vorgelegten Ziffern aufgestellt worden, dann wäre dieser Plan zumindest geändert worden, wahrscheinlich aber schon hinfällig gewesen. Daß diese Erkenntnis keineswegs dazu berechtigt, nun etwa zu sagen, wir tun in der Energiepolitik gar nichts, ist selbstverständlich. Aber, meine Damen und Herren, Sie sind doch sonst gewohnt, das, was getan worden ist, vom Ergebnis her zu beurteilen.
Nun vergleichen Sie doch einmal unsere Lage mit der Energiesituation in Europa. Wer hat denn eine sichere und billige Energieversorgung? Ist es denn in anderen Ländern etwa günstiger als bei uns? Davon kann doch keine Rede sein; ganz im Gegenteil!
Ich bin der Auffassung, daß dadurch, daß wir nicht allzuviel staatliche Abschirmung gewährt haben, die Anstrengungen der Beteiligten sehr, sehr gefördert worden sind. Sie brauchen sich ja nur die Ergebnisse anzusehen.
Sie sind dann auf ein Wort von mir zu sprechen gekommen, daß die Förderung der Absatzmöglichkeit angepaßt werden müsse. Das ist doch nichts Neues, Herr Schiller, das ist doch nichts Neues. Wir haben hier von 140 Millionen t gesprochen, und zwar in dem Sinne, daß wir uns bemühen wollten, für Absatzmöglichkeiten in dieser Größenordnung einzutreten und alles zu tun, um diesen Absatz zu erreichen. Ich will hinzufügen, Herr Schiller, natürlich muß die Produktion den Absatzmöglichkeiten angepaßt werden. Aber wir müssen natürlich auch dafür sorgen, daß die Absatzmöglichkeiten für die
Kohle in optimaler Höhe erhalten bleiben. Ich weiß nicht, wieso Sie in diesen Ausführungen etwas Neues erkennen wollen. Das ist die Fortsetzung einer Energiepolitik, wie wir sie betrieben haben und die, wie ich hoffe, zu einem guten Ergebnis führen wird.
Sie haben sich dann für einen Appell an die Montanunion sehr stark gemacht. Sie haben damit meine eigenen Worte aufgegriffen und unterstützt. Ich wollte das hier nur einmal darlegen, damit nicht der Eindruck entsteht, daß, wenn Herr Schiller etwas sagt, dies ein Vorwurf ist und, wenn ich etwas sage, dies eine Verteidigung ist.
Tatsache ist doch, daß es auch die Montanunion sehr schwer hatte, Maßnahmen durchzuführen; denn sie ist zuständig für Kohle und Stahl. Kohle und Stahl sind durch mancherlei Dinge miteinander verbunden. Aber die Energiepolitik muß doch zusammen gesehen werden mit der Ölpolitik und der Kernenergiepolitik. Für diese beiden Bereiche war Luxemburg aber nicht zuständig. Hieraus haben sich — das konnten wir doch nicht ändern — Schwierigkeiten ergeben, die ich — ebenso wie Sie — bedauere. Bei meinem ersten Besuch in Luxemburg habe ich darauf hingewiesen, daß man trotz der unterschiedlichen Behörden und der unterschiedlichen Verträge zu einer gemeinsamen Energiepolitik werde kommen müssen. Die Antwort darauf lautete, daß nach der Fusion der Behörden eine Möglichkeit dazu geschaffen würde.
Herr Schiller möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr!
Herr Minister, geben Sie zu, daß Sie in Ihrer Rede gesagt haben: „Die Kohleförderung muß den Absatzmöglichkeiten angepaßt werden, und nicht umgekehrt"?
Ja, natürlich!
Und nicht umgekehrt! Das geben Sie zu?
Aber sicher!
Stimmen Sie mir dann auch zu, wenn ich sage, daß das etwas anderes ist, als wenn Sie — wie bisher — erklären: 140 Millionen t werden produziert, und ich sorge für den Absatz der 140 Millionen t. Diese Politik ist geändert worden; ich habe sie gar nicht bewertet. Geben Sie also zu, daß das, was Sie jetzt sagen, etwas anderes ist als das, was Sie über die 440 Millionen t ausgeführt haben?
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Herr Schiller, ich kann es deswegen nicht zugeben, weil ich die 140 Millionen t hier nie als Garantie ausgesprochen habe. Das habe ich nie getan. Sie irren.
— Ach, Herr Kurlbaum, wir haben uns doch mehrfach darüber unterhalten, das wissen Sie doch ganz genau. Es ist von Ihrer Seite versucht worden, mich auf die 140 Millionen t festzulegen. Das ist die Wahrheit!
Aber ich habe mich auf diese 140 Millionen t nicht festlegen lassen.
— Herr Kollege Kurlbaum, ich habe noch nicht einmal die Frage von Herrn Schiller beantwortet; das möchte ich erst einmal tun.
Herr Schiller, wenn ich sage, daß die Produktion den Absatzmöglichkeiten angepaßt werden muß und nicht umgekehrt, so ist das doch ganz natürlich. Damit habe ich mir aber doch nicht die Möglichkeit genommen, auch auf der Absatzseite das zu tun, was dort möglich bleibt, z. B. bei der Verstromung. Ich brauche Ihnen die einzelnen Programme oder die einzelnen Möglichkeiten nicht aufzuzählen. Sie können sich aber doch hier nicht einfach hinstellen und so reden, als hätten wir die Kohle sozusagen aufgegeben und würden nur noch das als Absatz hinnehmen, was sie sich selbst erobert. Ja, Herr Schiller, Sie haben das zwar nicht wortwörtlich gesagt, aber Sie haben doch zumindest den Eindruck erweckt, daß es so sei. Wenn ein solcher Eindruck entstanden sein sollte, müssen Sie mir doch die Möglichkeit geben, ihn zu beseitigen. Das ist doch nicht nur meine Aufgabe, sondern meine Pflicht. Ich meine, Sie haben ein Recht darauf, daß ich darauf antworte.
Sie haben dann darauf hingewiesen, daß aus dieser Maßnahme — und daraus geht hervor, wie Sie es gemeint haben — deutlich würde, daß all das, was wir im Herbst getan haben, umsonst getan worden sei. Nein, Herr Schiller, eben nicht! Wenn ich die Hoffnung habe, daß wir mit den übrigen im Montanvertrag verbundenen Ländern zu einer Regelung kommen, muß ich doch aus dieser Überlegung für Übergangsmaßnahmen sorgen und darf nicht etwa vollendete Tatsachen schaffen. Das ist doch ganz selbstverständlich.
Sie haben in Ihrer Rede meinen Vorschlag „famos" genannt; heute morgen las ich in einer Zeitung sogar „kurios". Ich möchte darauf noch einmal zurückkommen; ich lege ja meinerseits Wert darauf, daß Klarstellung erfolgt, auch wenn sie sich nicht nur gegen Ihre Argumente richtet.
Meine Damen und Herren, man kann im Kohlebergbau eine staatliche Regelung suchen. Das möchte ich nicht. Ich nehme auch nicht an, daß Sie es wollen. Ich bin andererseits der Auffassung — und ich wiederhole das —, daß man die ganze Last nicht den Unternehmen aufbürden kann; denn sie haben in anderen Zeiten etwas getragen, was man ja auch als Bürde ansehen muß. Es liegt doch ganz
nahe, daß man die Wirtschaft auffordert, daß sie sich selber beteiligt, daß sie sich selber Gedanken macht. Was wollen wir sonst mit den Dialogen, wenn wir nicht solche Dinge besprechen, Herr Schiller! Wir können doch nicht nur über kurz-, mittel- und langfristige Planung sprechen, wir müssen uns auch über konkrete Dinge unterhalten. Ich möchte mit der Wirtschaft sprechen, in erster Linie mit der Energiewirtschaft, in welchem Ausmaße sie sich beteiligen kann, um die Dinge hier auf der Kapitalseite, wie Sie es nennen, in Ordnung zu bringen. Wenn Sie hier auf die menschliche Arbeitskraft hingewiesen haben, so kann ich das nur als Unterstützung meiner eigenen Vorschläge auffassen. Meine Damen und Herren, Sie kennen das ganze Bündel von Maßnahmen; dadurch hat die Bundesregierung einen Anspruch auf Glaubwürdigkeit, daß sie auch weiterhin alles tun wird, um soziale Härten zu vermeiden, darüber hinaus auch zu vermeiden, daß den betroffenen Gemeinden größere Schäden entstehen. Das zur Energiepolitik.
Herr Minister, Herr Kurlbaum möchte Sie etwas fragen.
Herr Minister, noch zwei Fragen von mir zur Energiepolitik. Sind Sie bereit, zuzugeben, daß eine der beiden Hauptkontroversen hier in der energiepolitischen Debatte vor einem Jahr darin bestand, daß Sie von der Notwendigkeit der Gesundung des Steinkohlenbergbaus gesprochen haben — also sozusagen von einem kurzfristig zu erreichenden Ziel —, während wir immer wieder darauf hingewiesen haben, daß das ein langfristiger Anpassungsprozeß an neue Strukturen ist, über dessen Endzeitpunkt man nichts Genaues sagen könnte?
Sind Sie zweitens bereit, zuzugeben, daß wir schon damals im Sinne der Ausführungen meines Freundes Karl Schiller um eine Konkretisierung und Quantifizierung Ihrer Vorstellungen — insbesondere auch bezüglich des Energiepreises — ersucht haben? Erinnern Sie sich noch, daß wir schon vor einem Jahr darauf hingewiesen haben, daß man nur dann zu einer Beruhigung und zu einer gewissen Sicherheit der beteiligten Kreise kommen würde, wenn die Bundesregierung klar erkennen lasse, auf welchen Energiepreis bezüglich der Kohle und des Heizöls diese Politik zusteuere? Sind Sie bereit, zuzugeben, daß Sie bis jetzt nicht willens waren, darüber etwas auszusagen?
Herr Kurlbaum, es ist offenbar unser Schicksal, daß Worte einen unterschiedlichen Sinn haben, je nachdem, ob sie von Ihnen oder von mir gesprochen werden. Ich verstehe Ihre Interpretation, die Sie soeben vorgetragen haben, nicht. Es ist mir unverständlich, wieso Sie sagen können, die Gesundung sei eine kurzfristige und keine langfristige Angelegenheit. Sie muß genausogut kurz- wie langfristig sein. Sie können doch nicht bestreiten, daß wir unsere Maßnahmen in dem Wissen getroffen haben, daß die endgültige — soweit man überhaupt von
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Bundesminister Schmücker
endgültig reden kann —, besser: die wesentliche Bereinigung nur auf europäischer Basis möglich ist. Alles das, was inzwischen getan wird, muß dafür sorgen, daß wir einen niedrigen Energiepreis und auch eine sichere Versorgung haben. Das können Sie doch nicht bestreiten. Die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, an denen sich die Wirtschaft beteiligt hat, haben sich doch bewährt. Oder wollen Sie etwa aufstehen und sagen, wir hätten europäisch gesehen eine zu teure Energieversorgung?
Mit unseren bisherigen Maßnahmen haben wir das Problem noch nicht gelöst, das weiß ich auch; darum sprechen wir ja heute darüber. Herr Kurlbaum, ich habe soeben gesagt, daß wir die Lösung nur mit den übrigen gemeinsam finden können. Herr Schiller hat, nachdem er in sehr marktwirtschaftlicher Betrachtung darauf hingewiesen hat, daß im Bergbau der Wettbewerb mitspielen müsse, und nachdem er alle seine schönen Gedanken entwickelt hat, zum Schluß seiner Rede festgestellt: es komme doch nicht in Frage, daß bei uns Zechen stillgelegt würden, die in anderen Gegenden Spitzenzechen seien. Da liegt das Problem. Aber, Herr Kurlbaum, wenn dort das Problem liegt, muß man mit denen sprechen, bei denen die genannten Verhältnisse herrschen. Das habe ich gestern mehrfach betont. Ich weiß nicht, ob Sie nicht zugehört haben. Aber gesagt habe ich es doch, Herr Kurlbaum. — Bitte!
Herr Minister, haben Sie nicht soeben ziemlich deutlich zum Ausdruck gebracht, daß Sie sich bisher auf kurzfristige Maßnahmen beschränkt haben, und sind Sie nicht bereit, zuzugeben, daß darin der Kernpunkt unserer Kritik immer und auch heute wieder gelegen hat? Wir verlangen längerfristige Maßnahmen und nicht nur kurzfristige Maßnahmen, auf die Sie sich beim Steinkohlenbergbau leider beschränkt haben. Es ist auch nachgewiesen — auch durch die heutige Debatte wieder —, daß Ihre kurzfristigen Maßnahmen unzureichend sind.
Herr Kurlbaum, wenn es notwendig ist, fange ich noch einmal von vorn an und gebe die Darstellung über das, was wir getan haben. Aber bitte, unterschätzen Sie doch das auch vom Kollegen Schiller gebrauchte Argument nicht, daß die wesentliche Lösung dieses Problems nur europäisch möglich ist und daß es unsinnig wäre, jetzt vorweg etwas zu tun, was unsere Position bei der Gesamtlösung schwächt. Darum haben wir den kurzfristigen Maßnahmen den Vorzug gegeben. Wir haben doch deswegen nicht geruht und mittel- und langfristig gar nichts getan. Das ist doch einfach nicht wahr. Wir haben uns bemüht, in der Montanunion die Fragen ins Gespräch zu bringen. Ich habe doch schon betont, daß ich auch mit den anderen Staaten verhandelt habe.
Ich sehe nicht ein, daß wir nach dem Montanunions-Vertrag verpflichtet sind, Lieferungen durchzuführen, wenn die anderen sie verlangen, aber bei Schwierigkeiten -keine Absatzmöglichkeiten haben. Ich sehe nicht ein, daß andere Länder Industrien
aufbauen, die sich heute — in Konkurrenz zu uns — mit anderer Kohle, mit anderem Koks versorgen, die aber in Notzeiten von uns versorgt werden müssen. Das ist doch ein Widersinn, ein Widerspruch in der europäischen Entwicklung.
Um das auszuräumen, brauchten wir erst einmal den Zusammenschluß der Behörden. Das läßt sich nicht bestreiten.
— Herr Kurlbaum, es hat keinen Zweck, daß wir die Debatte in dieser Weise fortsetzen. Sie haben offenbar eine andere Auffassung als ich.
Ich wiederhole noch einmal: wir müssen das, was I in unserer Möglichkeit steht, jetzt tun; wir müssen alles versuchen, das gesamte Problem der Energiewirtschaft europäisch zu lösen. Wenn wir eine nur deutsche Lösung durchführen, wird sie eines Tages möglicherweise von den europäischen Verhältnissen überspielt, und das darf nicht sein. Zumindest wollen wir nicht diejenigen sein, die anderer Länder Entwicklung subventionieren.
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Schiller hat mehrfach gefordert, daß wir diesem Hohen Hause, der Öffentlichkeit und den Verbänden die wirtschaftlichen Möglichkeiten näher bekanntgeben sollten. Herr Kollege Schiller, Ihnen ist es vielleicht nicht bekannt, aber es ist so: im vergangenen Jahr habe ich mich bemüht, auf Grund des Gutachtens, das dann, weil sich die Verhältnisse sehr schnell änderten, durch einen Zusatz ergänzt werden mußte, eine ausführliche wirtschaftspolitische Debatte zustande zu bringen. Leider hat das die Überbelastung, z. B. des Wirtschaftsausschusses mit wirtschaftsrechtlichen Fragen, nicht erlaubt. In meiner Rede habe ich darum gebeten, diese Arbeit hier im Hause zu intensivieren; denn von hier aus muß der Wille ausgehen, wenn wir die Verbände ansprechen wollen.
Dazu gehört, daß wir uns nicht gegenseitig — ich sage: gegenseitig — die Glaubwürdigkeit absprechen, daß wir uns bemühen, objektive Tatbestände auch als objektiv und richtig anzuerkennen. Ich hoffe also, daß wir auf Grund des nächsten Gutachtens diese Arbeit, die bisher nicht in ausreichendem Maße stattgefunden und sich damals vielleicht auch noch nicht in diesem Ausmaß als notwendig herausgestellt hat, intensivieren können. Sicher wird das eine muntere Debatte werden.
Meine Bitte ist dabei, Herr Schiller, daß Sie uns und alle diejenigen die Ihnen nahestehen, über Ihre Vorstellungen unterrichten — wenn Sie selber mittel- oder kurzfristige Vorschläge machen, müssen Sie ja bestimmte Vorstellungen haben — und daß Sie etwas über diese Grenzen unserer Möglichkeiten sagen. Ihre wie unsere Glaubwürdigkeit wird daran gemessen, was man an Anträgen stellt und an Abstimmungen in diesem Hause vollzieht.
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Bundesminister Schmücker
Wenn wir uns darin wiederfinden, stimme ich mit Ihnen überein.
Das Wort hat der Herr Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Professor Schiller hat zu Beginn seiner Ausführungen dankenswerterweise etwas beachtet, was ich gestern bei der Diskussion hier im Hause beanstandet hatte. Ich habe gestern, wie heute morgen Herr Kollege Schiller, darauf aufmerksam gemacht, daß ein zú kürzender Haushalt 1966 überhaupt noch nicht vorhanden sei. Ich freue mich, Herr Schiller, daß Sie das übernommen haben. Sie haben damit etwas polemisch das Haushaltssicherungsgesetz in Zusammenhang gebracht und von imaginären Kürzungen gesprochen. Herr Kollege Schiller, wenn Sie schon anerkennen, daß ein zu kürzender Haushalt 1966 nicht vorhanden ist und daß es beim Haushaltssicherungsgesetz darum geht, die Ausgaben nicht steigen zu lassen, wie sie sich abzeichnen, dann müssen Sie allerdings auch zugeben, daß Ihre Diktion von dem Finanzchaos im Haushalt 1966 nicht zutrifft, weil es eben noch keinen Haushalt 1966 gibt.
Ich bin sehr traurig, Herr Kollege Schiller, über das, was Sie zur Verteidigung der Ausführungen von Herrn Dr. Möller über den Bundeshaushalt 1965 als Inflationsherd gesagt haben. Ich bin versucht, Ihr Käse-Beispiel auf Ihre Argumentation anzuwenden, möchte aber davon absehen. Ich will auch nicht dazu übergehen, die Argumentation mit dem von Herrn Dr. Möller immer wieder verwendeten Begriff „unsolide" zu bezeichnen. Jedoch muß ich Ihnen offen sagen, Herr Professor Schiller: das durften Sie sich unter keinen Umständen leisten, was Sie hier gemacht haben.
Sie haben nämlich schlicht und einfach Monatsergebnisse des Jahres 1964 und des Jahres 1965 miteinander verglichen; Sie haben dann die im Jahre 1965 noch fehlenden zwei Monate November und Dezember in den Vergleich einbezogen, indem Sie sagten, es sei doch ausgeschlossen, 11,4% Zuwachs auf 7 % herunterzudrücken.
Herr Kollege Dr. Schiller, das ist nun wirklich unzulässig, insbesondere nachdem ich Ihnen gestern breit auseinandergesetzt habe, daß sich die ersten zehn Monate 1964 überhaupt nicht mit ,den ersten zehn Monaten 1965 vergleichen lassen, weil der Haushalt 1964 spät gekommen ist, so daß die Mittel gegen das Ende des Jahres abgeflossen sind, während der Haushalt 1965 sehr früh da gewesen ist, so daß der Mittelabfluß schon im ersten Teil des Jahres erfolgt ist. Es kommt also gar nicht darauf an, 11,4 % auf 7 oder 7,5 % herunterzudrücken.
Ich will aber, damit Sie beruhigt sind, die Zahlen nennen. Herr Kollege Schiller, im Jahre 1964 haben
die IstAusgaben bei 61,0439 Milliarden gestanden. Das war 1964 eine Veränderung gegenüber dem Vorjahr 1963 von plus 6,5 %, während das Bruttosozialprodukt real um 6,6% gestiegen war. Ich kann hier also feststellen, daß sich der Haushalt 1964 im Ist fast genau auf der Basis der Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts gehalten hat und nur um 0,1% abgewichen ist. Herr Kollege Schiller, im Jahre 1965 rechne ich — ohne Manipulation — mit Ausgaben von etwa 65,7700 Milliarden IstAusgaben. Das ist eine Zunahme von 7,7 % gegenüber 1964, allerdings bei einem realen Zuwachs des Bruttosozialprodukts von 4,8 bis 5%. Immerhin liegt dann aber der Haushalt 1965 trotz der zusätzlichen gewaltigen Ausgaben, die über uns hereingebrochen sind, noch zwischen realem und nominellem Bruttosozialproduktzuwachs; denn der nominelle Zuwachs des Bruttosozialprodukts mit 8,6% wird bei den IstAusgaben nicht erreicht. Deshalb hatte ich den Ausführungen des Kollegen Dr. Möller, daß der Bundeshaushalt der „Hauptinflationsherd" sei, widersprochen.
Ich glaube, daß ich das, was ich gestern über die Haushalte der Länder und der Gemeinden, die ja erheblich über den Zuwachsraten des Bundeshaushalts liegen, ausgeführt habe, nicht zu wiederholen brauche. Letzten Endes haben wir uns alle hinsichtlich der Zuwachsraten in den Haushalten der öffentlichen Hand, bei denen der Bund nur zu seinem Teil beteiligt ist, etwas vorzuwerfen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Dahlgrün, Bundesminister 'der Finanzen: Bitte schön!
Herr Minister, Sie stimmen mir doch zu, daß die Ist-Ausgaben des Bundes aus dem Bundeshaushalt in den ersten zehn Monaten dieses Jahres um über 11% gestiegen sind, und zwar bei einem Zuwachs des Bruttosozialprodukts von etwa 5% real? Sie werden mir doch zugeben, daß es nur auf diese beiden Relationen ankommt. Welche haushaltsrechtlichen Dinge dabei gewesen sind, ist ,ganz egal; es kommt auf die Zunahme der Quanten an. Ich frage Sie, ob Sie mir da zustimmen.
Nein, Herr Kollege Professor Schiller, aus dem einfachen Gründe, weil wir meiner Überzeugung nach aneinander vorbeireden. Herr Kollege Dr. Möller hatte gesagt: In den ersten 10 Monaten dieses Jahres sind 11,5% mehr ausgegeben worden als in den ersten 10 Monaten des Jahres 1964.
— Ja.
— Aber nun, Herr Dr. Schiller, erlauben Sie mal, das hat doch mit dem Bruttosozialprodukt nichts zu tun. Das sind die Ist-Ausgaben in den ersten 10 Monaten des Jahres 1965. Da lag das Ausgabevolumen höher als im gleichen Zeitraum des Jahres
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 253
Bundesminister Dr. Dahlgrün
1964, nämlich um 11,5% höher, weil der Haushalt so früh da war, während bei dem späten Haushalt im Jahre 1964 die Ausgaben am Ende gekommen sind. Sie können Monatszahlen nicht mit dem jährlichen Bruttosozialprodukt vergleichen. Da sieht es so aus, daß die IstAusgaben von ca. 61 Milliarden DM in 1964 bei einem Anstieg des Bruttosozialprodukts um 6,6% gegenüber dem Vorjahr 1963 um 6,5 % gestiegen sind. Im Jahre 1965, Herr Dr. Schiller, erreichen wir etwa 65,7 Milliarden DM IstAusgaben. Das ist schlimm genug. Das bedeutet gegenüber dem Vorjahr — 61 Milliarden DM — 7,7% bei einer realen Steigerung des Bruttosozialprodukts um 4,8 und einer nominellen Steigerung des Bruttosozialprodukts um 8,6%. Sie können doch nicht Monatsausgaben auf Monatsausgaben des Vorjahres und, dann auf die Steigerungsrate des Bruttosozialprodukts beziehen.
Das ist nämlich völlig unmöglich, und da muß ich sagen, daß Sie es nicht begriffen haben.
Meine Damen und Herren, der Gouverneur des Staates Oregon gibt dem Bundestag die Ehre, seiner Sitzung beizuwohnen. Ich begrüße ihn im Namen des Hauses auf das herzlichste.
Eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Dr. Schiller.
Herr Bundesfinanzminister, stimmen Sie mir zu, daß in den ersten 10 Monaten des Jahres 1965 im Vergleich zu den ersten 10 Monaten des Jahres 1964 das reale Bruttosozialprodukt das nämlich auch auf 10 Monate berechnet werden kann, um etwas über 5% angewachsen ist?
Nein, lieber Schiller, ich sage nicht ja, weil Sie Birnen und Äpfel vergleichen und es nicht begriffen haben. Aber ich gebe Ihnen das nachher schriftlich; hier habe ich die Aufstellung.
Ich stelle noch einmal fest: der Zuwachs der IstAusgaben, nicht nach Haushaltssoll, beträgt in 1964 6,5%, in 1965 7,7 %, wenn ich die Grenze von 65,7 Milliarden DM Ist-Ausgaben einhalten kann.
Nun, Herr Kollege Schiller, ein paar Worte zur Vorausschau, die Sie mit bewegten Worten gefordert haben. Ich habe Ihnen gestern bereits gesagt, Sie möchten sich den Finanzbericht 1964 einmal ansehen, in dem ich den Versuch unternommen habe, eine solche Vorausschau zu beginnen, ein Versuch, der hier im Hause die Zustimmung aller Fraktionen gefunden hat — ein erster, vorsichtiger Versuch. Ich habe gestern sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, daß lang- oder mittelfristige Vorausschauen problematisch sind, und ich kann nur das wiederholen, was ich gestern gesagt habe. Herr Kollege Schiller, überschätzen Sie die Wirklichkeit nicht! Ich habe gestern versucht, die Leidenschaft für solche Vorausschauen etwas zu dämpfen.
Meine Damen und Herren, der Anstieg des Bruttosozialprodukts ist zwar eine sehr wichtige, aber nicht die alleinige Größe, die diese Schätzungen bestimmt. Sie müssen, wenn Sie mittelfristig — sagen wir: bis 1970 — vorausschätzen wollen, nicht nur das Bruttosozialprodukt ins Auge fassen, Sie müssen z. B. auch Exporte und Importe berücksichtigen, was bis zum Jahre 1970 hin schon außerordentlich schwierig und problematisch ist. Sie müssen weiterhin auch die Entwicklung des Anleihemarkts vorausschätzen; denn wenn Sie aus den Vorausschauen für die Haushaltspläne 1967, 1968 und 1969 etwas ableiten wollen, müssen Sie ja auch die Möglichkeiten der Kapitalaufnahme auf dem Anleihemarkt abschätzen. Das ist noch problematischer. Wir alle haben uns bei der Beurteilung der Möglichkeiten des Kapitalmarkts im Jahre 1965 ja sehr heftig verschätzt.
Herr Kollege Schiller, auch eine Bemerkung zu den Steuervorausschätzungen, also der Vorausschätzung der Einnahmen. Da gibt es Steuern, die sehr unmittelbar wirken — z. B. Umsatzsteuer und Lohnsteuer —, da gibt es aber auch Steuern, deren Auswirkungen erst etwa anderthalb Jahre später in Erscheinung treten, z. B. die veranlagten Einkommen- und Körperschaftsteuern. Nun, Herr Kollege Schiller, ich will Ihnen nur kurz die Problematik zeigen und Ihnen sagen: bitte nicht zu gläubig auf Vorausschauen sehen! Wenn das Bundeswirtschaftsministerium schätzt, wenn die Institute schätzen oder wenn die Kommission „Steuerschätzung,,, in der sowohl die Institute als auch insbesondere — von mir eingeladen — die deutschen Länder beteiligt sind, eine Prognose stellt, dann gibt es bei ganz geringfügigen Unterschieden z. B. in der Schätzung des Bruttosozialprodukts Differenzen, die nach meinen Berechnungen bereits für das Jahr 1967 mit ca. 500 Millionen DM beginnen und für das Jahr 1970 bei 3,5 oder 4 Milliarden DM enden. Daran sehen Sie schon, daß man nicht zu gläubig mit diesen Vorausschauen rechnen darf. Ich halte sie für absolut notwendig, Herr Kollege Dr. Schiller — wir haben uns ja vor zehn, zwölf Jahren schon über solche Notwendigkeiten unterhalten und waren uns in diesem Punkte einig —, aber allzu hoch sollte man das nicht veranschlagen. Insbesondere sollte man nicht heftige Vorwürfe erheben, daß das bisher noch nicht geschehen ist; die ganze Sache steckt sowohl bei den Ländern als auch bei uns noch in den Kinderschuhen. Diese Bundesregierung hat damit begonnen, und ich will gerne zugeben: sie hat damit begonnen, weil auch die Opposition immer wieder auf diesen auch meiner Ansicht nach richtigen Gesichtspunkt hingewiesen- hat.
Am Schluß Ihrer Ausführungen haben Sie so ganz schlicht und einfach dem Sinne nach gesagt, daß eine gemeinsame Finanzpolitik von Bund und Ländern nicht zustande gekommen sei, das sei auch ein Versäumnis dieser Bundesregierung. Meine Damen und Herren, solange durch einen Wirtschaftsaufschwung, wie wir ihn zu Beginn uns alle nicht vorgestellt ha-
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Bundesminister Dr. Dahlgrün
ben, die Steuereinnahmen, die Einnahmen von Bund und Ländern immer weit über das hinausgegangen sind, was die Finanzminister geschätzt haben, war überhaupt keine Bereitschaft, letzten Endes auf allen Seiten, zu einer gemeinsamen Finanzpolitik zu kommen. Das hat erst — das will ich ganz deutlich und offen sagen — die Diktatur der leeren Kassen zustande gebracht.
Fragen Sie auch einmal Ministerpräsidenten Ihrer Couleur! Die Herren haben heute dieselben Schwierigkeiten mit Gemeinden, deren Finanzkraft ungebrochen ist. Da gibt es Fälle, wo man einem Ministerpräsidenten, der ein wenig auf Dämpfung und Streckung in einem Gemeindehaushalt hinwirken wollte — durchaus in unser aller Sinn —, gesagt hat — das hat der Chef dieser Gemeinde erklärt —: Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre Ländersache; dies sind meine Sachen, das geht Sie gar nichts an. Die Diktatur der leeren Kassen hat die Wandlung gebracht. Ich hoffe, daß wir alle im Laufe der nächsten Jahre Ergebnisse der Kommission „Finanzreform" gemeinsam beraten, überlegen und in Kraft setzen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Luda.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte hat sich in großen Teilen auf die Fragen der wirtschaftspolitischen Bedeutung der Haushaltspolitik von Bund, Ländern und Gemeinden erstreckt. Ich bin sehr dankbar, daß in dieser Debatte der Abschnitt 7 der Regierungserklärung eine große Resonanz gefunden hat. Ich meine, daß trotzdem dazu heute hier noch einiges gesagt werden sollte.
Die Bundesregierung hat dort ausgeführt, daß der wirtschaftliche Zusammenhang der öffentlichen Haushalte insgesamt künftig besser berücksichtigt werden müsse. Das ist, glaube ich, der wesentlichste Punkt in diesem Zusammenhang. Die Bundesregierung hat insofern gesagt, sie erwarte, daß auch Länder und Gemeinden stabilisieren. In diesem Zusammenhang ist ferner die Rede gewesen von der notwendigen Abstimmung der Kapitalmarktwünsche der öffentlichen Hand.
Ich stelle dankbar fest, daß diese Fragen im wesentlichen recht sachlich und objektiv von allen Seiten des Hauses hier behandelt worden sind. Allerdings muß ich da auch einige Einschränkungen machen. Der Herr Kollege Möller hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, daß die Finanzpolitik der Bundesregierung sich über alle konjunkturpolitischen Gesichtspunkte hinwegsetze. Er hat ferner gesprochen von den angeblichen Lippenbekenntnissen des Bundeskanzlers zur Preisstabilität. Auf der anderen Seite aber hat er im Sinne, glaube ich, recht unvorsichtigen Eigenlobes, Herr Kollege Möller, davon gesprochen, daß die SPD
immer und überall das notwendige finanzpolitische Verantwortungsbewußtsein gezeigt habe.
Nach diesen großen Worten, die Herr Kollege Möller da gesprochen hat, müssen wir uns mit diesem Punkte natürlich einmal etwas näher befassen. Es ist klar, diese Regierung hier und dieses Parlament hier haben in erster Linie mit der Haushaltspolitik des Bundes und nicht in erster Linie mit der Haushaltspolitik anderer öffentlicher Hände zu tun. Aber, Herr Kollege Möller, Sie kennen ja den Begriff der Interdependenz der Etatpolitik aller Ebenen. Da ist eine Verzahnung vorhanden, die sich nicht lösen läßt. Und wenn Sie schon von der generellen finanzpolitischen Verantwortung der SPD sprechen, nun gut, dann gehen wir einmal heute morgen hier im einzelnen darauf ein.
Meine Damen und Herren, ich habe von der wirtschaftspolitischen Budgetfunktion hier gesprochen, weil da der Zusammenhang mit .dem Preisauftrieb zweifellos in einem hohen Grade begründet ist. Das ist deshalb der Fall, weil die Hälfte aller Bruttoanlageinvestitionen in unserer Volkswirtschaft von den öffentlichen Händen ausgeht. Das liegt daran, daß beinahe sogar zwei Drittel aller Bauinvestitionen von den öffentlichen Händen ausgehen und daß 40% des Sozialprodukts durch öffentliche Kassen wandern. Das ist der Tatbestand.
Die Bundesebene gibt, wenn man das Finanzvolumen aller öffentlichen Hände in Betracht zieht, etwa die Hälfte davon aus; die Hälfte dessen geht von dort in die Volkswirtschaft. Die andere Hälfte aber kommt von den Ländern und Gemeinden, und zwar mit 30% von den Ländern und mit 20% von den Gemeinden. Immerhin, die Verantwortung der Bundesebene ist groß genug; da gibt es keinen Zweifel. Denn 50% ist ja schließlich etwas.
Aber jetzt kommt die Kehrseite der Medaille: Wie Sie wissen, wie auch Herr Kollege Möller weiß, sind beinahe 90% der Ausgaben des Bundes gesetzlich und vertraglich festgelegt. Das heißt, der konjunkturpolitische Spielraum der Haushaltspolitik des Bundes ist von einer minimalen Größe. Aber jetzt kommt das andere: Ich habe vorhin von dem großen Umfang der Finanzierung der Gesamtinvestitionen der Volkswirtschaft durch die öffentlichen Hände gesprochen. 70% bis 80 % dessen, was von den öffentlichen Händen investiert wird, wird nicht vom Bund, sondern von den Ländern und Gemeinden investiert. Das sind die variablen Größen, da könnte guter Wille bekundet und entsprechend positiv auf die konjunkturelle Entwicklung eingewirkt werden. Wir haben uns deshalb, trotz unserer vorrangigen Verantwortung in konjunktur- und haushaltspolitischer Hinsicht, heute auch mit der Frage zu befassen, inwieweit der Verantwortlichkeit auch auf den anderen Ebenen entsprochen worden ist.
Im Jahre 1963 sind an Investitionen — und ich sage nochmals: das ist das einzige Variable, alles andere liegt fest — verausgabt worden: vom Bund 17,7 %, LAG und ERP 1,4% und 4,6%; dann kommen die Länder mit 31,5 % und die Gemeinden mit 44,8%. Also insgesamt 76,3% der konjunkturpoli-
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 255
Dr. Luda
tisch variablen Ausgaben sind von den Ländern und Gemeinden — nicht vom Bund — verausgabt worden. Das waren im Jahre 1963 insgesamt etwa 45 Milliarden DM. 1965 sieht das Bild ähnlich aus. Wir könnten die Zahlen vorbringen; ich will es im Moment unterlassen.
Meine Damen und Herren, hier sind Anklagen erhoben worden. Nun gut, die Opposition ist dazu da, Anklagen zu erheben, und wir freuen uns über jede Kritik. Aber jetzt wollen wir auch einmal etwas anderes zu hören bekommen. Da hat die EWG-Kommission in ihrem dritten Konjunktur-Quartalsbericht für 1965 geschrieben, im Jahre 1964 habe der Bund, hätten aber nicht die Länder und Gemeinden die Empfehlungen der EWG befolgt. Herr Kollege Möller, seien Sie bitte einmal objektiv. Wenn Sie objektiv sind, können Sie nicht umhin, diese Feststellung einer objektiven Stelle, nämlich der EWG-Kommission, gebührend zur Kenntnis zu nehmen.
Herr Kollege Schiller hat vorhin davon gesprochen, daß sich in diesem Jahr in erster Linie die Sünden des Frühjahres 1965 auswirkten. Meine Damen und Herren, was sich auswirkt, sind natürlich auch die Entscheidungen von 1965; in erster Linie aber sind es noch die Entscheidungen von 1964. So schnell geht das nämlich in der Volkswirtschaft alles nicht über die Bühne. Das ist auch Ihnen, Herr Kollege Schiller, bekannt.
Die Länder und Gemeinden hätten das Verhalten in bezug auf den Bundeshaushalt 1964 als eine Orientierungsmarke hinnehmen sollen. Mehr kann in einem föderalistischen Staat ja zunächst einmal nicht geschehen. Aber selbstverständlich hat trotz der föderalistischen Ordnung die Bundesregierung die Verpflichtung, auf die Länderebene und auf die Ebene der Gemeinden ordnungspolitisch einzuwirken oder es wenigstens zu versuchen. Hat sie es getan? Natürlich hat sie es getan! Davon ist leider gestern und vorgestern überhaupt noch nicht gesprochen worden.
Am 4. Juni 1964 hat die Verhandlung des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten aller Bundesländer stattgefunden, und eine weitere Verhandlung ist am 3. Dezember 1964 gewesen. Wie hat sie geendet? Sie hat geendet mit der Vereinbarung des Kanzlers mit den Ministerpräsidenten, im Haushaltsjahr 1965 auch auf der Ebene der Länder das Wachstum auf 6% zu begrenzen. Das ist doch der Tatbestand. Und jetzt wollen wir einmal fragen: Wie hat sich denn die Länderebene — die ja doch konjunkturpolitisch viel mehr Gutes bewirken kann als wir hier durch unsere Haushaltspolitik — daran gehalten?
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Bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich erlaube mir die Zwischenfrage, ob Ihnen bekannt
ist, daß die Länderausgaben in ihrer Zuwachsrate im ersten Halbjahr 1965 unter der der Bundesausgaben liegen.
Herr Kollege, ich komme jetzt mit den Zahlen, die Sie wünschen; sie werden ganz präzise sein, es sind die Zahlen der Bundesbank und des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden. Passen Sie jetzt mal gut auf! Die Länderchefs hatten versprochen, daß sie 6% nicht überschreiten würden. Das Bundesland Hessen — Herr Kollege Möller, das eine bitte ich Sie heute mit nach Hause zu nehmen — hat in den ersten drei Vierteljahren dieses Haushaltsjahrs 1965 die Zuwachsrate um 20 % gesteigert.
Das Land Niedersachsen hat nach dem Versprechen, den Zuwachs auf 6% zu begrenzen, in den ersten drei Vierteljahren dieses Jahres um 13,4% ausgeweitet.
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Bitte schön!
Können wir auch die Zahlen von Nordrhein-Westfalen bekommen?
Ich habe alle Zahlen hier und gehe auf alle Zahlen ein. Bitte schön!
Wissen Sie, daß Ihre Kollegen im Hessischen Landtag schroff die hessische Landesregierung getadelt haben, sie tue nicht genug und gebe nicht genug Geld für Schulen, für Straßen usw. aus?
Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, ich weiß, daß das Gegenteil richtig ist. Ich weiß, daß der Große Hessenplan, der von der hessischen Landesregierung im Mai dieses Jahres verkündet worden ist, gerade aus konjunkturpolitischen Gründen und aus Gründen der haushaltspolitischen Verantwortung von der CDU im Hessischen Landtag herb und stark und hart kritisiert worden ist.
— Ich habe die Zahlen, die Sie wünschen, meine Damen und Herren von der Opposition. Etwas Geduld; es kommt alles noch.
Die Steigerungsrate aller Gemeinden liegt in dieser Zeit bei 9 %. Aber die Gemeinden waren ja
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Dr. Luda
nicht in die Vereinbarungen einbezogen; klammern wir das also im Moment einmal aus.
Ich gehe die einzelnen Länder durch. Niedersachsen: Der Haushalt des Jahres 1966 ist im Bundesland Niedersachsen
nicht auszugleichen. Die Finanzkraft dieses seit langen, langen Jahren sozialdemokratisch geführten Landes reicht nur noch zur Erledigung der gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen aus; irgendwelche freien Spitzen sind nicht mehr vorhanden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Ich würde Sie doch bitten, Herr Kollege, nachdem Sie soeben einige Zahlen aus anderen Ländern bekanntgegeben haben, meiner. Bitte zu entsprechen und die Zahl des Landes Nordrhein-Westfalen hier vorzutragen.
Die Zahl des Landes Nordrhein-Westfalen lautet für die ersten drei Viertel des Jahres 1965 8,4 %, Herr Kollege Erler; und jetzt bitte noch einmal, als Gedächtnisstütze: Niedersachsen 13,4 % und Hessen 20%. Das ist der Unterschied!
Wegen dieser miserablen Haushaltspolitik, die sich um nichts gekümmert hat, ist das Land Niedersachsen im Oktober hierhergegangen und hat eine Ergänzungszuweisung zum Länderfinanzausgleich gemäß § 107 des Grundgesetzes beantragt. Meine Damen und Herren, ein solcher Sozialhilfeantrag ist in der Geschichte der Bundesrepublik noch von keinem Bundesland gestellt worden.
So etwas kann natürlich passieren;
Ich will zunächst mal nicht den Stab darüber brechen.
Aber dies jetzt im Zusammenhang mit der Haltung, mit der politischen Einstellung, mit der haushaltspolitischen Einstellung des jetzigen niedersächsischen Finanzministers Kubel. Herr Kollege Möller hat gestern eine Verteidigung antizipiert, es sich dabei aber sehr leicht gemacht. So billig kommen Sie mir nicht davon ab, Herr Kollege Möller. Es ist nämlich in Wahrheit doch so gewesen, daß Herr Kubel das geäußert hat, was die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 8. Juli dieses Jahres wiedergegeben hat. Um nun in rein tatsächlicher Hinsicht klarzustellen, ob er es geäußert hat oder ob er es nicht geäußert hat, habe ich damals hier zur Fragestunde eine Frage eingebracht. Ich habe in erster Linie gefragt: „Treffen Zeitungsmeldungen zu, wonach ..." usw. Daraufhin hat die Bundesregierung
— etwa vierzehn Tage später — geantwortet. Ich zitiere:
Die Bundesregierung sieht es nicht als ihre Aufgabe an, die Richtigkeit dieser Meldung nachzuprüfen. Sie hat jedoch keinen Anlaß, zu zweifein, daß dieser Bericht der FAZ die Äußerungen des niedersächsischen Finanzministers Kubel wiedergibt. Es ist der Bundesregierung jedenfalls nicht bekanntgeworden,
— nach Monaten noch nicht bekanntgeworden —
daß Herr Minister Kubel diese Zeitungsmeldung dementiert hat.
Auch nachdem das in einer öffentlichen Parlamentsdrucksache gesagt worden war, hatte Herr Kubel noch keine Veranlassung, das irgendwie zu dementieren. Das Dementi wird uns erst gestern hier auf den Tisch gelegt. Meine Damen und Herren, von solcher Art Dementis halte ich gar nichts; das muß ich sagen.
Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, was Herr Kubel damals laut FAZ geäußert hatte, nämlich: Wo denn das geschrieben stehe, daß ein öffentlicher Etat nur im Rahmen des Sozialproduktszuwachses ausgedehnt werden dürfe; er denke gar nicht daran, das zu tun; Orientierungspunkt für ihn sei lediglich, ob noch vordringliche öffentliche Ausgaben gegeben seien.
Meine zweite Frage an die Bundesregierung hatte inhaltlich etwa gelautet: Ist die Bundesregierung bereit, Herrn Finanzminister Kubel in Hannover mitzuteilen, daß das, nämlich daß man die Ausweitung der Haushalte sehr wohl begrenzen muß, in den Beschlüssen des Ministerrats der EWG vom 15. April 1964 und vom 2. April 1965 geschrieben steht, welche Empfehlung sich nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern auch an die Bundesländer der Bundesregierung Deutschland rechtsverbindlich gerichtet hat. — Das war die Frage, die ich zusätzlich gestellt habe.
Diese Empfehlung der EWG-Kommission lautete dahin, alle öffentlichen Haushalte auf 105% zu begrenzen. Und was macht Hessen? 20%! Und das Land Niedersachsen des Herrn Kubel? 13,4%, wie ich vorhin schon sagte!
Aber das Ganze ist kein Zufall. Ein Notfall kann in jedem Land eintreten. Aber dahinter steckt System. Das ist doch der Tatbestand! Herr Kubel ist der Auffassung — wie mancher andere aus Ihrer Richtung —, daß eben das Wachstum in der Volkswirtschaft vorrangiger sei als die Stabilität. Darüber müssen wir uns jetzt gleich noch des näheren miteinander unterhalten.
Nehmen wir das Beispiel des Herrn Boljahn in Bremen!
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Dr. Luda: : Bitte schön!
Herr Kollege, sind Sie bereit, mir darin zuzustimmen, daß die von der EWG-Kom-
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 257
Dr. Schiller
mission aufgestellte goldene Regel — Zuwachs des Haushaltsvolumens und Zuwachs des realen Sozialprodukts — für gesamte Nationalwirtschaften, für gesamte Währungseinheiten als Ganze gilt, aber nicht als Schnittmuster auf Teilregionen anzuwenden ist, in denen Strukturpolitik und ähnliches zu betreiben ist?
— Aber selbstverständlich! — Geben Sie zu, daß das volkswirtschaftlich etwas ganz anderes ist? Die Währung wird von der gesamten Volkswirtschaft getragen und nicht von einzelnen Teilregionen.
Herr Kollege Schiller, ich bin mit Ihnen darin nicht einig, weil es eben falsch ist, was Sie ausgeführt haben. Ich darf jetzt die EWG-Kommission mit ihrer Empfehlung wörtlich zitieren und erbitte dazu Ihre Auffassung, Herr Kollege Schiller. Da heißt es nämlich, daß die nominalen inlandswirksamen Kassenausgaben auf 105 % des Vorjahres begrenzt werden sollen. So hat sich der Ministerrat und die EWG-Kommission ausgedrückt. Das ist das Gegenteil dessen, was Sie soeben hier ausgeführt haben.
Herr Boljahn hat laut FAZ folgendes geäußert — ich darf auch das hier wörtlich zitieren —. Er hat eine dynamische Finanzpolitik gefordert, die nicht mehr starr an der Fiktion der Schuldengrenze von 12 % festhalten soll; das Land Bremen solle nicht weiter einer betulichen Schuldenverwaltung das
Wort reden. Das hat Herr Boljahn gesagt. Für Herrn Boljahn und damit für die Bremer SPD ist die Schuldengrenze von 12 % eine — die Frankfurter Allgemeine setzt es in Gänsefüßchen — „willkürliche Fiktion". Herr Boljahn spricht sich gegen eine „betuliche Schuldenverwaltung" aus, und Herr Kollege Möller wirft hier dem Bundeshaushalt vor, hier würde Pumpwirtschaft betrieben.
Nun, meine Damen und Herren, das gehört auch in Zusammenhang mit Äußerungen Ihres Parteivorsitzenden, Herrn Brandt, der am 18. Juli 1964 in der Beilage „Volkswirtschaft" des SPD-Pressedienstes — doch eine authentische Verlaubarung — wörtlich gesagt hat — ich zitiere jetzt Herrn Brandt —: „Wenn wir es richtig anpacken, haben wir auch das Geld." Meine Damen und Herren, so einfach ist das!
Jetzt sprechen wir mal etwas ausführlicher über das Beispiel Hessens; es ist nämlich noch nicht vorbei, meine Damen und Herren von der SPD. Im Jahre 1964 hat in Hessen der Haushaltszuwachs 12,8 % betragen, wie ich soeben schon sagte, in den ersten drei Quartalen dieses Jahres 20%. Das sind 230 % mehr, als dem Bundeskanzler in die Hand versprochen worden war.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte!
Herr Abgeordneter Hein.
Ist Ihnen bekannt, Herr Abgeordneter, daß der Landeshaushalt 1966 des Landes Nordrhein-Westfalen von rund 8 Milliarden DM auf 10 Milliarden DM erweitert wurde, nicht zuletzt deswegen, weil im Jahre 1966 Wahlen stattfinden?
Das letzte muß ich ganz entschieden zurückweisen, mein Herr Kollege.
Gestatten Sie eine weitere Frage?
Bitte schön!
— Ich bedauere, es stimmt.
— Wir wollen hier doch objektiv sein. Das ist doch der Sinn unserer Aussprache. — Bitte sehr!
Darf ich Sie fragen, ob Sie sich bewußt sind, daß sich die hessischen Haushaltszuwächse im Rahmen des Zuwachses des hessischen Sozialprodukts halten und daß es volkswirtschaftlich nicht richtig ist, bei der Berechnung von Zuwächsen eines Landeshaushalts Bundesdurchschnitte als Maßstab anzulegen?
Herr Kollege Matthöfer, die Gegenfrage: Wollen Sie behaupten, daß der Zuwachs des Sozialprodukts in Hessen im ersten dreiviertel Jahr 1965 20 °/o betragen habe?
— Bitte ernst zu nehmende Fragen, aber nicht so etwas, Herr Kollege Matthöfer!
Sind Sie bereit, Herr Dr. Luda, sich von Herrn Minister Schmücker unterrichten zu lassen über die Kontroverse, die er anläßlich der Eröffnung der Frankfurter Messe hinsichtlich dieser Zahlen hatte?
Gern, natürlich. Wir wollen mal sehen, was da gewesen ist.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die bayerische Staatsregierung bei der Einbringung des Haushalts 1966 weit über die Zuwachsrate des Sozialprodukts hinausgegangen ist und sich nicht an das hält, was Sie eben hier vortragen?
Ja, warten Sie bitte mit Zahlen auf!
258 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
11% !
Schlimm genug. Ich bedaure das. Ich kenne nicht die Motive. Ich bedaure das. Aber das sind noch lange keine 20%. — Ja, bitte schön!
Herr Kollege, sind Sie bereit, auch Ihre Behauptung zu berichtigen, es sei ein bisher einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß ein Bundesland um Bundeshilfe bitte, wenn Sie sich daran erinnern, welche Hilfen sowohl dem Land Schleswig-Holstein als auch dem Saarland früher zuteil geworden sind, mit Recht zuteil geworden sind? Ich will nur das Geschichtsbild geraderücken. Es scheinen Ihnen einige Lücken unterlaufen zu sein.
Nein, Herr Kollege Erler, das muß klargestellt werden. Es geht hier nicht um Bundeshilfen dieser oder jener Art. Selbstverständlich hat es das schon gegeben. Es geht hier um das verfassungsrechtliche Institut des Art. 107 des Grundgesetzes. Das ist die sogenannte Ergänzungszuweisung zum Länderfinanzausgleich, und das ist der erste Fall, ausgerechnet bei diesem Herrn Kugel, der mit solchen Äußerungen hier aufwartet!
— Das weise ich zurück, Herr Kollege.
Ich darf jetzt, Herr Präsident, im Zusammenhang weiter vortragen; denn das scheint mir zum Verständnis dessen, was ich sagen will, erforderlich zu sein. Fragen können anschließend in jeder Menge noch gestellt werden.
Meine Damen und Herren, ich hatte eben davon gesprochen und wiederhole es, daß der Haushaltszuwachs in Hessen 1964 12,8 % betrug und in, den ersten drei Quartalen 1965 20 %.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Jetzt nicht mehr, Herr Präsident, alles später. Ich möchte diese diffizilen Dinge im Zusammenhang vortragen, damit wir uns anschließend objektiv darüber unterhalten können.
Meine Damen und Herren, beim Bundesland Hessen haben wir dann ferner auf Grund der Bundesbankberichte und der offiziellen Statistiken festzustellen, daß die Schuldenlast je Einwohner am 30. September 1964 28 DM betragen hat. Wissen Sie, wie hoch die Schuldenlast genau ein Jahr später, am 30. September 1965, gewesen ist? 94 DM, meine Damen und Herren! Das ist mehr als das Dreifache. Der Herr Kollege Schiller hat vorhin davon gesprochen,
daß die inflationäre Quelle gesprudelt habe, als wir hier im Sommer unsere Beschlüsse faßten. Das ist die inflationäre Quelle, die da sprudelt: eine Erhöhung der Schuldenlast von 28 DM auf 94 DM innerhalb eines Jahres.
Daß die Stadt Frankfurt die höchste Verschuldung sämtlicher deutscher Großstädte überhaupt hat, wissen Sie genauso gut wie Sie die Tatsache kennen, daß die Stadt Frankfurt auch in Hessen liegt.
Sie wissen ferner, daß die hessischen Gemeinden insgesamt mit 39,5% höher verschuldet sind als der Durchschnitt aller Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland.
Da hat's „gesprudelt", Herr Kollege Schiller; darum sollten Sie sich kümmern,
um diese Haushaltsexplosion, die sich da in Hessen ereignet hat.
Die Initialzündung ging ganz offensichtlich vom „Großen Hessenplan" vom Mai 1965 aus; da hat es auch ganz gewaltig „gesprudelt". Wenn man den „Großen Hessenplan" jetzt einmal studiert und die Zahlen zugrunde legt, die die hessische Landesregierung — nicht das hessische Finanzministerium; das hat sich damit nicht belastet; das hat die Staatskanzlei gemacht — selbst zugrunde gelegt hat, dann wäre bei einer wirklichen Durchführung des „Hessenplans" bis zum Jahre 1974 — das ist die langfristige Planung, von der Herr Schiller immer gesprochen hat — mit einem Anwachsen auf fast 6 Milliarden DM zu rechnen, während der Schuldendienst auf jährlich 600 Millionen DM steigen würde. Die Planziffern würden im Jahre 1974 zu einer Kreditmarktverschuldung der hessischen Gemeinden in Höhe von 7,7 Milliarden DM führen; der Schuldendienst der Gemeinden würde dann 40% ihres Steueraufkommens ausmachen. Da können Sie mal sehen, wie da gewirtschaftet wird.
— Wo steht denn das geschrieben, daß man das Wachstum — — Es kommt immer auf die öffentlichen Aufgaben an. Das ist der Plan, der dahintersteckt. Meine Damen und Herren, wenn alle Bundesländer ihren „Hessenplan" hätten, wäre die dritte Inflation in Deutschland längst eine vollendete Tatsache.
Das ist eine Investitionspolitik auf Kosten der Allgemeinheit.
Denn jedermann weiß, daß solche Vorhaben — zumindest auf lange Sicht — nur durch Inflation zu
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Dr. Luda
finanzieren sind. Die Inflationspolitik aber ist die unsozialste Politik überhaupt.
Es ist nichts so traurig im Leben des Menschen, wie wenn Sozialisten unsozial handeln.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, jetzt nicht, Herr Präsident! Alle Zwischenfragen bitte zum Schluß.
Abgelehnt!
Meine Damen und Herren, wir sind nicht gegen Sozialinvestitionen; wir sind für Sozialinvestitionen.
Diese Regierung ist schließlich für die höchsten Wachstumsraten, die es in einer deutschen Volkswirtschaft jemals gegeben hat, seit 17 Jahren verantwortlich.
Wir brauchen Sozialinvestitionen; aber wenn sie nur durch Inflation zu finanzieren sind, sind sie in I) Wahrheit eine soziale Demontage.
Ich möchte das Kapitel „Hessen" mit der Feststellung abschließen: Hessen ist kein Musterland, Hessen ist in diesem Punkte ein Beispiel, das abschrecken sollte.
Angesichts dieser Zahlen, die auch Sie nicht bestreiten können, die Sie nur ärgern, meine Damen und Herren, bringt es der hessische Finanzminister in der Bundesratssitzung der letzten Woche hier nebenan in diesem Hause fertig, zu sagen, Hessen sei das „finanzpolitische Gewissen des Bundesrates".
Das ist eine Äußerung, die an Zynismus wahrlich nicht mehr überboten werden kann.
Diese Beispiele zeigen: Alle Beteiligten in der Bundesrepublik Deutschland, in der deutschen Volkswirtschaft müssen zur fiskalischen Rechtgläubigkeit zurückgeführt werden. Notwendig ist, wie schon in der Regierungserklärung ausgeführt, ein Mindestmaß konjunkturorientierter zentraler Haushaltssteuerung, wie es der Bundeskanzler ja im Juni 1964 versucht hat. Der Erfolg schien positiv, aber einige wichtige Länder haben sich nicht daran gehalten. Es geht also um die Notwendigkeit der Koordinierung aller drei öffentlichen Haushaltsebenen. Es geht darum, daß die formierte Gesellschaft kooperativ sein muß, wenn sie Erfolg haben will.
Nun, es ist auf diesem Gebiete schon so einiges I geschehen. Wir haben den Kapitalmarktausschuß zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, und Sie wissen, daß er, seit er zusammengetreten ist, mit gutem Erfolg arbeitet. Wir haben einen haushaltspolitischen Ausschuß zwischen der Bundes- und Länderebene — Herr Minister Schmücker hat es schon erwähnt —; wir haben außerdem den wirtschaftspolitischen Ausschuß zwischen der Bundes- und der Länderebene, und schließlich — Herr Kollege Schiller, das war für Sie sicherlich die große Überraschung dieser Debatte über die Regierungserklärung —: den Konjunkturrat, den Sie vorschlagen, haben wir schon seit zehn Jahren in der Bundesrepublik. Es ist bloß so — wie Herr Kollege Schmücker schon gesagt hat —, daß dieser Konjunkturrat von Anfang an bis zum heutigen Tage seine Sitzungen nie öffentlich angekündigt und auch hinterher über das Ergebnis der Sitzungen nichts an die Presse gegeben hat.
Andererseits können wir nicht umhin, hier festzuhalten, daß die Wohlstandsentwicklung, die durch unsere Regierung initiiert werden konnte, maßgebliches Verdienst auch dieses Konjunkturrates ist, der seit zehn Jahren arbeitet. Die Bedeutung und die Publizität dieses Konjunkturrates sind umgekehrt proportional zu der Bedeutung und der Publizität derjenigen Vorschläge, die der deutschen Öffentlichkeit am laufenden Band von seiten der Opposition auf den Tisch gelegt werden.
Ziel der Koordinierung müßte so einiges sein — ich will es hier nicht allzu sehr ausweiten. Ziel der Koordinierung müßte z. B. aber auch die Herbeiführung gewisser Ad-hoc-Maßnahmen sein, und hier möchte ich die Initiative eines unserer elf Bundesländer lobend erwähnen, nämlich die Zinsbeschränkung für alle Kommunen im Lande Nordrhein-Westfalen auf 7,6%. Wenn auch die anderen Bundesländer, vor allem die, die ich eben nicht gerade sehr lobend erwähnt habe, in ähnlicher Weise verfahren wären, hätte sich manches von dem erledigt, was ich eben hier vorbringen mußte. Die EWG-Kommission hat in ihrem dritten Konjunktur-Quartalbericht für 1965 diese Maßnahme der Landesregierung Nordrhein-Westfalen ausdrücklich gelobt. Meine Damen und Herren, das sollten wir alle tun. Wir alle sollten Nordrhein-Westfalen dafür loben.
Wie ist die Koordinierung zu erreichen? Finanzreform, Deutsches Gemeinschaftswerk — all das will ich jetzt nicht ausweiten. Eines möchte ich jedoch sagen: Die Finanzverfassungsreform ist natürlich ein weites Feld und dauert noch eine gewisse Zeit, aber es sollten sich alle drei Ebenen — Bund, Länder und Gemeinden — sofort an einen Tisch setzen und jetzt schon in der Form eines Verwaltungsabkommens im Sinne dessen, was durch Finanzverfassungsreform nur auf lange Frist zu erreichen ist, das Notwendige beschließen und vereinbaren. Ich glaube, dann wären wir für unsere Konjunkturpolitik schon einen ganz gewaltigen Schritt weiter.
260 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Dr. Luda
Meine Damen und Herren, ich möchte dann doch noch einiges zu unseren drei Gemeinwohlzielen sagen, die ja mit alledem in einem engen Zusammenhang stehen und auch in der Debatte seit zwei Tagen hier schon ausführlich erörtert worden sind. Sie wissen, erstmals in der Geschichte unserer Volkswirtschaft und wahrscheinlich auch erstmals in der Geschichte aller vergleichbaren Industrienationen haben wir die Ziele unserer Wirtschaftspolitik gesetzlich festgelegt, nämlich in dem § 2 des Gutachtergesetzes, wo die Worte stehen „Stabilität des Preisniveaus, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Vollbeschäftigung" und wo weiter steht „bei stetigem angemessenem Wachstum".
Sie ersehen aus diesem Wortlaut des Gesetzes, meine Damen und Herren: Der Gesetzgeber — und das sind wir alle — wollte von einer absoluten Gleichrangigkeit sämtlicher Gemeinwohlziele ausgehen und wollte nicht etwa die Vorrangigkeit irgendeines Gemeinwohlzieles, z. B. des Wachstumszieles.
Das müssen wir hier zunächst einmal festhalten. Es gibt natürlich immer wieder in diesen drei Richtungen Friktionen; das wird wahrscheinlich die Politik immer und ewig beschäftigen. Anzustreben ist ein optimaler Kompromiß zwischen allen drei Gemeinwohlzielen; darum geht es. Wir müssen das Ganze im Sinne der Gleichrangigkeit deuten.
Aber es kommt noch eines hinzu. Wir müssen uns
jederzeit besonders das Ziel vor Augen halten, welches gerade notleidend werden könnte. In dem Zusammenhang können wir heute natürlich nicht umhin, in erster Linie über die preisliche Situation zu sprechen. Wir haben die Aufgabe der Stabilisierung des Preisniveaus, vor allem auch durch die Haushaltsgebarung aller öffentlichen Hände, wie ich es soeben hier angedeutet habe.
Von den Sprechern der Opposition ist in sehr anklägerischer Weise von dem Phänomen unserer Preise gesprochen worden. Ich möchte da auch gar nichts verniedlichen. Das ist natürlich ein großes Problem, mit dem wir es im Moment zu tun haben. Aber das eine möchte ich hier doch aussprechen: wollen wir bitte die Dinge nicht unnötig dramatisieren! Es muß immer wieder die Gesamtschau hergestellt werden. Wenn man sich bemüht, die Gesamtschau herzustellen, kann man nicht umhin, nicht nur vom Phänomen der Preise, sondern zugleich auch vom Phänomen der Vollbeschäftigung und unserer Wohlstandsentwicklung zu sprechen.
Die Opposition tut so, als ob so etwas heutzutage selbstverständlich wäre. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Vollbeschäftigung ist auch heute noch in führenden Industriestaaten in Frage gestellt. Denken wir an die 4 Millionen Arbeitslosen in den USA, an die Arbeitslosen in Kanada, in unserem Nachbarland Belgien, dessen strukturelle Verhältnisse doch sehr gut mit unseren vergleichbar sind; von Italien will ich erst gar nicht einmal reden. Diese Vollbeschäftigung und Wohlstandsentwicklung ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis einer richtigen und daher erfolgreichen Politik.
Bei alledem, was da an berechtigter oder vielleicht auch übertriebener Kritik von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, gesagt worden ist, müssen wir uns zur Abrundung des Bildes heute auch eine Bemerkung vor Augen führen, die im Juli dieses Jahres in dem Leitartikel einer Sondernummer der englischen Zeitung „Times" geschrieben stand. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten möchte ich einen Satz zitieren; es heißt wörtlich:
Wie konnte das alles erreicht werden? Vor allem deshalb, weil Deutschland erfolgreicher als die meisten Länder ein schnelles Wachstum mit einer relativen Preisstabilität zu verbinden gewußt hat.
Das schreibt die doch ganz gewiß sachkundige Times im Juli dieses Jahres, in einem Zeitpunkt, in dem die volkswirtschaftlichen Tatbestände nicht anders als am heutigen Tage waren.
Unsere Aufgabe ist dann, die Gesamtschau herzustellen, damit die Dinge in der deutschen Öffentlichkeit nicht schief betrachtet werden.
Ich müßte dann so einiges zum bisherigen Verhalten der Bundesbank sagen, das sehr positiv zu beurteilen ist; aber das würde jetzt zu weit führen. Der Bremsweg der Bundesbank war zu lang; das ist einhellige Meinung. Das lag nicht an der Bundesbank, sondern an zahlreichen Faktoren, die wir heute hier nicht erörtern können. Diejenigen, die so sehr den Wunschtraum eines ständigen und ständigen und ständigen und ständigen Wachstums mit ihrer Politik verfolgen, sollten sich das eine vor Augen führen: bisher haben sich die Restriktionsmaßnahmen der Bundesbank auf die Diskontpolitik, die Mindestreservepolitik und die Offenmarktpolitik beschränkt. Nach meiner Ansicht ist in der deutschen Öffentlichkeit und im Publizistik allzusehr in Vergessenheit geraten, was Herr Emminger von der Bundesbank am 8. Juli 1965 in Düsseldorf gesagt hat. Er hat davon gesprochen, daß von der Bundesbank notfalls — das heißt, wenn auch in Zukunft sich nicht alle Beteiligten und alle Ebenen, nämlich Bund, Länder und Gemeinden, an gewisse Mindestregeln hielten — eine mengenmäßige Beschränkung der Kredite ins Auge gefaßt würde. Dann würden wahrscheinlich alle Wachstumsfanatiker sehr betroffen dreinschauen; die — vor allem auch Ihre Freunde in Hessen und Niedersachsen — sollten sich das heute schon vor Augen führen.
Jetzt noch die Sache des Herrn Kollegen Schiller. — Leider ist er wieder nicht da. Der § 46 der Geschäftsordnung bezieht sich nur auf Minister; für Abgeordnete gibt es eine solche Bestimmung leider noch nicht.
Herr Professor Schiller hat gesagt, und das ist ja das Wahlprogramm der SPD gewesen, eine sozial-
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Dr. Luda
demokratische Bundesregierung würde nach dieser Bundestagswahl hingehen und Jahr für Jahr von unserer Preisauftriebsrate 1 % abschneiden. Dieses Salami-Rezept wollen wir doch jetzt einmal ganz kurz unter die Lupe nehmen. Hier haben Sie eine Wurst, da haben Sie ein Messer, und mit Hilfe dieses Messers können Sie millimetergenau Scheibe für Scheibe von der Wurst abschneiden! Aber der Herr Kollege Schiller weiß ganz genau, wie wir alle hier in diesem Hause, daß volkswirtschaftliche Tatbestände nicht in ähnlicher Weise manipulierbar sind.
Er sollte deshalb doch damit aufhören, der deutschen Öffentlichkeit solche Geschichten zu erzählen. Das ist doch der reinste Karl May!
Die SPD hätte das, wenn sie an die Regierung gekommen wäre, um so weniger durchführen können, als sie ja doch der deutschen Öffentlichkeit eine ganze Menge versprochen hatte. Wenn Sie von angeblichen Wahlgeschenken sprechen, so möchte ich einmal von den Wahlversprechungen reden, die Sie, gemacht haben. Die kommen nämlich noch dazu: Kindergeld für alle, Annäherung der Kriegsopferrenten an die Sozialrenten gleich plus 7,5 Milliarden DM für den Bundeshaushalt pro Jahr, Versicherungsplan der SPD gleich plus 1,1 Milliarden DM, Einbeziehung aller Angestellten in die Rentenpflichtversicherung gleich plus 1 Milliarde DM im Jahr für Bund und Wirtschaft — vom 312-DM-Gesetz will ich gar nicht erst reden — und die Herabsetzung des Rentenalters auf 62 Jahre. Also das wollten Sie außerdem noch volkswirtschaftlich verkraften. Mich hat nur gewundert, daß Sie nicht im Jahre 1965 mit der gleichen Forderung wie 1961 in den Bundestagswahlkampf eingezogen sind, nämlich zu alledem noch den Lebensstandard des deutschen Volkes zu verdoppeln.
Meine Damen und Herren, das alles ist der Ausdruck eines unglaublichen Wachstumsfiebers, eines Wachstumsfanatismus. Ich habe vorhin von praktischen Auswirkungen gesprochen. Sie sehen, in welcher geistigen und politischen Haltung diese praktischen Auswirkungen begründet sind.
Im Herbst 1961 proklamierte der OECD-Ministerrat die sogenannte kollektive Wachstumspolitik. Der Gedanke kam von den USA. Herr Kollege Schiller hat das vorhin im Zusammenhang mit seiner Eisenhower-Ara-Geschichte lobend erwähnt. Im Herbst 1961 hat der OECD-Ministerrat diesen Gedanken für seinen gesamten Bereich übernommen. Das sollte bewirken, daß das Wirtschaftswachstum auch hier in Europa künftig nicht mehr unterbrochen werde.
Es dauerte nur zwei oder drei Jahre, da kamen infolge dieser kollektiven Wachstumspolitik in einigen unserer Partnerstaaten die inflatorischen Spannungen. Wir brauchen hier keinen beim Namen zu
nennen. Inzwischen ist diese kollektive Wachstumspolitik, die bis dahin in den Partnerstaaten der Bundesrepublik noch angebetet worden ist, ebenso wie Herr Professor Schiller sie vorhin in diesem Saal noch angebetet hat, wegen der inflatorischen Spannungen fallengelassen worden von Italien, von Frankreich, — wen soll ich Ihnen sonst noch nennen? Nur die USA betreiben heute noch eine solche Wachstumspolitik. Sie sehen sich aber von den übrigen genötigt, den Kapitalexport zu drosseln. Das ist der Tatbestand, das ist die Lehre, die wir aus den Ereignissen der letzten Jahre ziehen müssen.
Die EWG hat in ihrem letzten Vierteljahresbericht den notwendigen Schlußstrich unter diese Wachstumspolitik gezogen. Sie hat wörtlich geschrieben:
Wachstumspolitische Gesichtspunkte sind für die Konjunkturpolitik nicht allein maßgeblich. Diese bleibt vielmehr in erster Linie dem Ziel der Wiederherstellung der Stabilität des Preisniveaus verpflichtet.
Das bedeutet, wie ich Ihnen anfangs und danach mehrfach sagte, die Gleichrangigkeit aller Gemeinwohlziele. Im Moment aber könnte vor allen Dingen das Gemeinwohlziel der Preisstabilität notleidend gewesen sein. Deshalb haben wir uns eben im Moment in erster Linie über diesen Punkt zu unterhalten. — Damit ist das, was der Kollege Schiller hier noch so laut gepriesen hat, von allen anderen Staaten, mit denen wir enger zu tun haben, erledigt worden.
Der Herr Kollege Schiller hat in seinen Verlautbarungen immer wieder dreierlei herausgestellt. Sein Ziel sei einmal die Marktwirtschaft, sodann die Globalsteuerung und drittens die Wohlfahrtspolitik. Das in einem Land zu sagen, das mit seinen Sozialleistungen ohnehin an der Spitze in der Welt steht, ist an sich schon erstaunlich. Aber was unter dieser Art von Wohlfahrtspolitik verstanden wird, das sehen wir ja am Beispiel derjenigen Länder und Gemeinden, in denen die SPD an der Regierung ist.
Der Punkt Wohlfahrtspolitik mag der Abschluß meiner Ausführungen sein. Ich zitiere den geistigen Vater des britischen Wohlfahrtstaates, den es, wie Sie wissen, von 1945 bis 1951 dort gegeben hat, Lord Beveridge, der am 23. 5. 1953, also rückblickend auf die praktischen Erfahrungen, die er hat sammeln können, wörtlich folgendes gesagt hat:
Der Wohlfahrtsstaat muß ein Mittel finden zur Aufrechterhaltung des Geldwertes, wenn er nicht ein Staat ohne Freiheit werden soll.
Das hat der geistige Vater des britischen Wohlfahrtsstaates gesagt!
Am 31. 12. 1951 hat derselbe Lord Beveridge über den englischen Rundfunk wörtlich folgendes erklärt:
Um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, an
den ich gewöhnt bin, muß ich lange über das gewöhnliche Alter hinaus, wo man sich zur Ruhe setzt, für Geld weiterarbeiten, und ich bin keineswegs sicher, daß auch mit ,Hilfe des gegenwärtigen Verdienstes die Ersparnisse, die ich als junger Mann machte, hinreichen werden,
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Dr. Luda
'solange ich lebe. Ich kann nur hoffen, daß ich nicht zu lange lebe.
Das, meine Damen und Herren, war die Bilanz des geistigen Vaters des britischen Wohlfahrtsstaates, nachdem im Jahre 1951 dieser Wohlfahrtsstaat an den harten Realitäten dieser unserer Welt zerschellt ist. Das, meine Damen und Herren, sollten Sie sich alle vor Augen halten.
Zum Schluß möchte ich folgendes sagen. Es war und ist das gute Recht der Opposition, die notwendige Kritik in der notwendigen Härte hier vorzutragen. Die Opposition hat das Recht zu einer gewissen Einseitigkeit. Wir haben deshalb die Gelegenheit wahrgenommen, das Bild jetzt ein klein wenig abzurunden. Ich möchte aber doch das Folgende sagen und hoffe mich darin mit den Damen und Herren von der SPD einig: Obwohl Sie hier in Opposition stehen, haben auch Sie bundespolitische Verantwortung. Der Bund erschöpft sich nicht in der obersten Ebene, die wir hier in Bonn repräsentieren. Der Bund sind wir alle, Bund, Länder und Gemeinden. Ich muß Sie deshalb bitten, sich angesichts dessen, was da vor allem in bezug auf die Länderebene meinerseits moniert werden mußte, verantwortungsbewußt zu verhalten und das, was Herr Kollege Möller gesagt hat — hier hat er das Verantwortungsbewußtsein der SPD in finanzpolitischer Hinsicht gerühmt —, auf der Ebene aller Länder und Gemeinden, die von Ihnen regiert werden, wahr zu machen. Ich glaube, dann wird es uns in Zukunft besser als in den letzten Jahren möglich sein, die Preisentwicklung in den Griff zu bekommen.
Wenn jetzt noch Unklarheiten sind, meine Damen
und Herren von der SPD, bitte ich, Fragen zu stellen.
— Das ist offenbar nicht der Fall.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heinemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!! In diesem dreitägigen Ringen ist ein beträchtliches Vielerlei behandelt worden. Nicht ohne Grund hat sich die Aussprache immer wieder auf Professor Schiller konzertriert; denn der hat Ihnen ja wohl wirklich einiges ins Stammbuch geschrieben, und Sie werden darüber noch länger nachzudenken haben.
Ich setze jetzt das Thema Haushalt, Wirtschaft, Preise nicht fort und schon gar nicht in der Art, wie Herr Luda es behandelt hat.
Denn, meine Damen und Herren, Thema ist hier die Regierungserklärung, Thema sind nicht Landes-sachen.
Es sollte einem Bundestag wohl anstehen, sich nicht so in Landessachen zu verlieren, wie das hier unternommen wurde, u. a. mit einem Berg von Zahlen, den ja kein einziger von uns hier zu Händen hat, so daß er mitreden könnte. Wir wollen auch in dieser Debatte das Verhältnis Bund—Länder respektiert wissen und den Ländern nicht so hineinreden, wie das hier gerade versucht worden ist.
Verehrte Damen und Herren, ich sagte, daß in dieser dreitägigen Debatte wahrlich vielerlei behandelt worden ist. Aber eines haben wir überhaupt nicht erlebt, nämlich ein Eingehen der CDU auf die große Vision der formierten Gesellschaft des Bundeskanzlers. Das ist doch ein Herzstück der Regierungserklärung; das ist doch ein Stück vom Herzen der Person — oder soll ich sagen: der Persönlichkeit — Ihres Kanzlers.
In all den Reden der Herren Barzel, Schmücker, Burgbacher, Strauß, und wenn die Reden auch noch so lang waren, ist von der formierten Gesellschaft überhaupt nichts vorgekommen. Als Herr Professor Erhard diese formierte Gesellschaft erstmalig im März dieses Jahres auf Ihrem CDU-Parteitag in Düsseldorf vortrug, haben Sie über diese formierte Gesellschaft überhaupt nicht diskutiert. Hier schweigen Sie darüber. Halten Sie nichts von dieser formierten Gesellschaft? Verehrte Damen und Herren, Ihr Schweigen zu diesem Thema enthebt uns nicht der Pflicht zur Wachsamkeit. Der Herr Bundeskanzler war am vergangenen Montag so kühn, zu sagen, wir kämen bei der formierten Gesellschaft in unserem Denken nicht mit. Nun, ich meine, daß er aus den Ausführungen von Professor Schiller dazu schon einiges gehört hat, und ich unterstreiche, was Professor Schiller gesagt hat, nämlich, daß die formierte Gesellschaft eine Fluchtbewegung der Regierung aus ihrer Verantwortung in der pluralistischen Gesellschaft sei.
Ich wende mich jetzt diesem Thema von der formierten Gesellschaft noch einmal zu, und zwar unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten und im Zusammenhang mit den Verfassungsthemen der Regierungserklärung überhaupt. Meine Damen und Herren, in der Regierungserklärung wird von sechs Verfassungsänderungen gesprochen, darunter vom Deutschen Gemeinschaftswerk, das ja ein Bestandteil der formierten Gesellschaft sein soll. Vergessen ist in der Regierungserklärung eine Vorlage der vormaligen Bundesregierung vom Mai 1965 zur Änderung des Art. 95 des Grundgesetzes, nämlich zur Ablösung des Obersten Bundesgerichts durch einen gemeinsamen Senat der oberen Bundesgerichte. Wir haben es also mit siebenerlei Verfassungsänderungen zu tun, denn die Vorlage vom Mai dieses Jahres wird ja sicherlich wieder aus der Vergessenheit heraufgeholt werden.
Was also ist von der formierten Gesellschaft verfassungsrechtlich zu halten? Das ist schwer zu beantworten, weil es von Unklarheiten nur so wim-
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Dr. Dr. Heinemann
melt. Auch wenn ich die Regierungserklärung und die Düsseldorfer Ausführungen von Herrn Professor Erhard auf dem Parteitag zusammennehme, kommt man aus den Unklarheiten nicht heraus. Das ist erstaunlich, weil doch eben die formierte Gesellschaft für den Kanzler ein Kernstück ist.
Wir sind nicht gewillt, diese Unklarheiten so stehenzulassen. Wir sind allergisch gegen alle Dunstwolken politischer Programmatik.
— Wir haben gar nichts, Herr Rasner, gegen phantasievolle Visionen am offenen Kaminfeuer,
aber wir haben alles gegen solche Visionen als Bestandteil eines Regierungsprogramms. Hier erwarten wir Klarheit, .und deshalb will ich etliche Fragen stellen, auf daß wir darüber vielleicht noch Klarheit gewinnen mögen.
In der Regierungserklärung wird das Ende der Nachkriegszeit proklamiert. Wie wenig das stimmt in bezug auf die Spaltung Deutschlands, in bezug auf Kriegsfolgen, das wurde schon mehrfach, vor allem von den Herren Erler und Schiller, gesagt. Verehrte Damen und Herren, ich sehe die Proklamationen vom Ende der Nachkriegszeit noch in einem anderen Lichte, nämlich so — das liegt ja diesen Gedankengängen bei Ihnen zugrunde —, daß da drei Entwicklungsstufen zu unterscheiden seien. Da war einmal die Klassengesellschaft, jetzt sind wir in der pluralistischen Gesellschaft, und was kommen soll, ist die formierte Gesellschaft. Und Herr Professor Erhard sieht sich als Wegbereiter für den Weg in diese neue Epoche. Noch sind wir in der pluralistischen Gesellschaft, und mit unserem Grundgesetz ist ihr eine freiheitlich-demokratische Ordnung gegeben. Dieses Parlament ist darin der oberste Willensträger. Geht es darum, so frage ich jetzt, die Arbeitsweise etwa dieses Parlaments zu verbessern? Dagegen hätten wir nichts. Oder geht es um etwas grundsätzlich anderes?
Die Regierungserklärung sagt, daß wir „weitere Schritte in jene moderne Ordnung tun" müßten, die Herr Professor Erhard die formierte Gesellschaft nennt. Das zielt doch, wenn ich es überhaupt recht verstehen kann, auf grundsätzliche Änderungen, und deshalb möchte ich wissen: um welche Schritte soll es gehen? Wo sollen diese Schritte hinführen? In Düsseldorf hieß es, daß der bewußte Schritt in eine formierte Gesellschaft die „größere Autonomie unseres Parlamentarismus" verlange. Was heißt das: Autonomie des Parlamentarismus? Ich könnte mir schon etwas vorstellen unter der Autonomie des Parlaments. Dann aber würde ich fragen: Welche Überordnung ist denn überhaupt über dem Parlament, so daß es um seine Autonomie kämpfen müßte? Wenn es darum gehen soll, einseitige oder überspitzte Forderungen von Interessenvertretern abzufangen, kann man das viel einfacher sagen, sehr viel einfacher.
In Düsseldorf hieß es, daß die formierte Gesellschaft „andere, moderne Techniken des Regierens
und der politischen Willensbildung" brauche. Ich frage wiederum: was heißt das? Welche Techniken, welche andere Art von politischer Willensbildung als die, die uns im Grundgesetz vorgeschrieben ist? Es geht hier also doch offenbar um grundsätzliche Änderungen, und die wollen wir deutlicher sehen.
Sie sprechen in der Regierungserklärung davon, daß die formierte Gesellschaft „die staatliche Autorität zu stärken" habe, damit Reformen oder Prioritäten „Anerkennung finden". Was heißt hier: die staatliche Autorität stärken? Was heißt hier, daß bestimmte politische Themen oder Ziele Anerkennung zu finden haben? Wie soll die Stärkung aussehen,, und welche Autorität soll gestärkt werden?
Wir verstehen unter Demokratie, daß es die Einsicht der Bürger in Reformen oder Prioritäten durch deren Überzeugung zu gewinnen gilt, nicht aber durch deren Überrollung durch Autorität.
Ich denke, wir bemühen uns in unserer Demokratie gemeinsam um eine Stärkung des Selbstbewußtseins der Bürger, um eine Stärkung von Zivilcourage und dergleichen. Was soll also hier schon wieder „Verstärkung der Autorität" sein?
Auf dem Parteitag in Düsseldorf wurde die formierte Gesellschaft bezeichnet als „eine Leitidee für die Neugestaltung unseres Erdteils wie auch für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung anderer Völker". Vollmundiger geht es ja wohl nicht. Soll die Welt also doch schon wieder am deutschen Wesen genesen,
diesmal an einem Erhardschen way of life hier und an einem neuen deutschen Exportartikel draußen? Meine Damen und Herren, diesen Visionen von einer Leitidee für die Neugestaltung unseres Erdteils und für die Entwicklung anderer Völker begegnen wir mit völliger Skepsis.
Erwarten Sie also bitte keine Schützenhilfe von uns zu neuen Techniken des Regierens, neuen Autonomien, neuen Autoritäten!
— Wenn Sie das nicht wollen — zur Verfassungsänderung brauchen Sie uns halt.
Wir stehen aus Überzeugung auf dem Boden des Grundgesetzes als der freiheitlich-demokratischen Ordnung, in der unsere Gesellschaft ihren Willen bildet, und dieses Parlament ist die oberste Repräsentanz dieses unseres Volkes. Ich sage noch einmal, daß man an Details bessern kann, z. B. dadurch, daß wir endlich einmal klarer- und großzügigerweise Sachverständige in den Ausschüssen anhören, Interessenten in Ausschüssen anhören, öffentliche Hearings veranstalten. Bitte, von uns aus allemal!
Meine Damen und Herren, im übrigen ist das, was Sie uns in der Gestalt Ihrer Bundesregierung und an Zerstrittenheit in der Koalition vorführen, wahrlich keine Verlockung zur formierten Gesellschaft.
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Dr. Dr. Heinemann
Das Beste an Ihrer formierten Gesellschaft wäre noch, daß sie, wie es in der Regierungserklärung heißt, eine „informierte Gesellschaft" sein soll. Nun bitte, das können Sie jeden Tag haben. Sorgen Sie für gründliche Information! dafür 'brauchen wir weder größere Autonomien des Parlamentarismus noch stärkere Autoritäten des Staates, sondern eben nur eine Regierung, die in Offenheit bündige Aussagen macht, nicht nur im Fernsehen, sondern hier und hier in erster Linie.
Im Zusammenhang mit der formierten Gesellschaft stand schon — ich sagte ,es — in Düsseldorf das Deutsche Gemeinschaftswerk. Die Regierungserklärung erörtert das Deutsche Gemeinschaftswerk im Zusammenhang mit der Finanzreform. Auch zum Deutschen Gemeinschaftswerk vermisse ich Ihre Begeisterung. Der einzige aus Ihren Reihen, der sich für das Deutsche Gemeinschaftswerk erwärmte, war der Düsseldorfer CSU-Abgeordnete Dr. Pohle,
seines Zeichens Generalbevollmächtigter von Flick, so daß die Frage naheliegt, ob das Deutsche Gemeinschaftswerk ein Flick-Werk werden soll.
Herr Heinemann, hier wünscht man eine Zwischenfrage zu stellen.
Ja, bitte!
Herr Kollege Heinemann, ist Ihnen bewußt, daß in der „Psychologie des Witzes" von Siegmund Freud Kalauer in der untersten Rangordnung der Witze stehen?
Über die Rangordnung Ihrer Zwischenfrage will ich nicht streiten.
Der Koalitionspartner der Union, nämlich die FDP, hat ja hier nur kritische Bemerkungen zum Deutschen Gemeinschaftswerk verlauten lassen. Aber bevor ich auf Einzelfragen zum Deutschen Gemeinschaftswerk eingehe, möchte ich einige allgemeine Bemerkungen zu Verfassungsänderungen überhaupt machen.
Herr Erler sprach schon davon, worum es dabei von unserer Sicht aus geht. Ich darf das noch etwas spezialisieren. Wir haben früher schon wiederholt gesagt, daß wir diese vielfältigen Änderungen aus lauter Detailanlässen nicht lieben. Das Grundgesetz ist nämlich kein Verschiebebahnhof. Verehrte Damen und Herren, wenn wir so weitermachen, dann werden wir in 17 Jahren so viele Verfassungsänderungen erleben, wie die Vereinigten Staaten in 180 Jahren erlebt haben auf ihrem Wege vom Agrarstaat zur größten industriellen Weltmacht der Erde.
Jetzt also geht es, wie gesagt, um sechs Verfassungsänderungen oder auch noch um die siebte zu Art. 95. Wir entziehen uns nicht grundsätzlich der Mitwirkung bei Verfassungsänderungen, aber wir machen auf dreierlei aufmerksam:
Erstens. Wo Ihnen die Basis für eine Politik fehlt, die wir nicht teilen, werden Sie sich bescheiden müssen. Wir sind nicht Zulieferanten für Ihre Politik, sondern Mitwirkende nur in einer gemeinsamen Politik.
Zweitens. Wo eine Verfassungsänderung erfolgen soll, die auch wir für geboten halten, z. B. in puncto Finanzreform, arbeiten wir nicht auf Bestellung, um Sie nach Ihren Wünschen zu bedienen. Da erwarten wir vielmehr, an den Überlegungen von Grund auf beteiligt zu werden, wie das der Repräsentanz von zwei Fünfteln des Volkes durch uns in diesem Parlament entspricht.
Drittens wiederholen wir die Aussage der Führungsgremien unserer Partei vom 29. Mai dieses Jahres in Saarbrücken anläßlich der Auseinandersetzung um Nodstandsgesetze. Ich zitiere:
Verfassungsrecht darf nicht aus dem Ärmel geschüttelt werden. Seine Bedeutung und seine Würde gebieten ordnungsmäßige, nicht überhastete Beratung im Parlament und in seinen Ausschüssen sowie die Teilnahme unseres politisch mündigen Volkes an dieser verfassungspolitischen Diskussion unter Vorlage der wirklich zu beschließenden Texte und nicht der längst überholten Vorlagen. Gesetzgebung muß offen sein, Verfassungsgesetzgebung erst recht. Dunkelkammer und Hast können kein Vertrauen schaffen. Aber gerade dieses Vertrauen in unsere freiheitliche Rechtsordnung ist die unentbehrliche Grundlage dafür, daß unser Volk sie mit allen seinen Kräften auch und gerade in Zeiten der Not zu schützen gewillt ist.
Dies vorausgeschickt, nun zu den einzelnen Verfassungsänderungen folgende Bemerkungen.
Von der Finanzreform erwarten wir u. a. die Wiederherstellung kommunaler Selbstverantwortung auch in finanzieller Hinsicht. Wir beklagen die Verzögerung. Auf Ihrem Parteitag in Düsseldorf kündigte Professor Erhard an, daß der neue Bundestag dieses Thema sofort in Angriff nehmen könne. Davon merken wir nichts.
Das Deutsche Gemeinschaftswerk soll nach Düsseldorfer Aussage des Herrn Bundeskanzlers ein „parafiskalisches Gebilde" werden. Das ist doch ein goldiger Ausdruck,
„parafiskalisch" ! Ich würde schon meinen, dann besser „parapolitisch" ; denn wie auch immer es aussehen mag, ein Gebilde von politischer Bedeutung würde es ja zweifellos sein. Daß man es unpolitisch zu behandeln hätte, dagegen wehren wir uns.
Was nun auch immer dieses ominöse Deutsche Gemeinschaftswerk sein soll, hier geht es unverkennbar um Grundstrukturen unserer Verfassung,
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Dr. Dr. Heinemann
und hier sind wir absolut skeptisch. Wie soll das Gemeinschaftswerk aussehen? Darüber müßte ja doch nun endlich in dieser Erläuterung der Regierungserklärung durch Sie, die Sprecher der Koalitionsparteien, einmal etwas Bündiges gesagt werden. In der Regierungserklärung wird nur die Finanzierung des Deutschen Gemeinschaftswerks angesprochen. Professor Schiller sagte schon, daß, wenn man es so finanziert, wie es in der Regierungserklärung heißt, künftige Steuersenkungen unmöglich werden. Ich gehe noch einen Schritt weiter. ich würde sagen, daß auf die Weise, wie die Regierungserklärung die Finanzierung des Deutschen Gemeinschaftswerkes darstellt, sogar eine verkappte Steuererhöhung eintreten kann. Denn die, Regierungserklärung sagt doch, daß dem Gemeinschaftswerk diejenigen Mittel zufließen sollen, die als Folge der Steuerprogression über den jeweiligen realen Zuwachs des Bruttosozialprodukts hinausgehen. Darin steckt ein Doppeltes. Darin steckt, daß Bund und Länder die vermehrten Steuereinnahmen aus vermehrtem Sozialprodukt erhalten sollen; das Deutsche Gemeinschaftswerk soll erhalten, was über vermehrte Steuereinnahmen aus vermehrtem Sozialprodukt hinaus aus der Progression der Steuersätze anfällt. Solange wir aber mit Geldentwertung zusammenhängende steigende Nominallöhne und Nominaleinkomen haben, die automatisch in die höheren Progressionssätze der Steuergesetze hineinwachsen, bedeutet die Beibehaltung der Progression eine steigende reale Steuerbelastung. Ich nehme an, daß das die Sprecher der FDP gestern auch so gemeint haben. Mir liegt in diesem Augenblick nur daran, daß das klar gesehen wird.
Aber nun habe ich weitere Fragen zu diesem ominösen Deutschen Gemeinschaftswerk. Wer soll über den Fonds verfügen, wenn er einmal da wäre? Wo wird die parlamentarische Mitwirkung, die parlamentarische Verantwortung liegen? In der Regierungserklärung heißt es, daß die föderalistische Struktur nicht gestört werden soll. Ja nun, aber dann bitte mal Klarheit! Bleiben wir bei der parlamentarischen Verantwortung. Wo soll sie zu finden sein? Beim Bund oder den Ländern, beim Bund u n d den Ländern — elf Länderparlamenten — oder etwa — bitte, ich frage! — bei einem Ministerrat ähnlich dem Europäischen Ministerrat, freischwebend und losgelöst von aller parlamentarischen Verantwortung? Verehrte Damen und Herren, darüber wünschen wir Auskunft, um dieses ominöse Deutsche Gemeinschaftswerk als Kernstück der großartigen Vision von der formierten Gesellschaft etwas besser kennenzulernen.
In der Regierungserklärung werden zwei weitere Verfassungsthemen nur flüchtig angeschnitten, nämlich die Gesetzeskompetenz des Bundes im Gesundheitswesen und die Gesetzeskompetenz des Bundes in bezug auf Bildung und Forschung. Wir bitten, uns deutlicher zu sagen, was dieser Regierung hinsichtlich der Veränderung der Bundeskompetenzen zu Lasten von Landeskompetenzen vorschwebt. Wo soll die Reise hingehen? Ich frage: geistert in solchen Andeutungen doch etwa noch der von der FDP im Wahlkampf wiederholt geforderte Bundeskultusminister?
Hinsichtlich des Artikels 113 — um damit auf eine noch weitere Verfassungsänderung zu sprechen zu kommen — fragt die Regierungserklärung dieses Hohe Haus, ob es eine Änderung für zweckmäßig erachte. Ich habe aus diesem Hohen Haus, sonderlich von den Regierungsparteien, kein Fünklein Antwort darauf gehört. Verehrte Damen und Herren, den Vortritt lassen wir Ihnen.
Herr Abgeordneter, der Abgeordneter Moersch möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte!
Ist Ihre Frage wegen des Bundeskultusministers so zu verstehen, daß Sie das ablehnen würden, wenn man die Dinge sich in diese Richtung entwickeln ließe?
Ja, in der Tat. In der Tat!
Die Nichtanwendung des Artikels 113 gegenüber der Ausgabenflut vor der Wahl bleibt auf jeden Fall unvergessen. Am einfachsten wäre ein Zusatz zu Artikel 113, nämlich so, daß die Regierung die vor der Wahl erteilte Zustimmung zu Wahlgeschenken nach der Wahl widerrufen kann.
Das spart alle Arbeit an Haushaltssicherungsgesetzen. — Herr Dr. Barzel, wenn Sie mich so kopfschüttelnd ansehen, vielleicht mit der Frage, ob ich das ernst meine, so kann ich nur sagen: ich nehme meinen Vorschlag genauso ernst, wie Sie Ihre Wahlgeschenke ernst nehmen.
Im Bukett der vorgesehenen Verfassungsänderungen kommt natürlich auch der Notstand vor. Hier kündigt die Regierung Fühlungnahme mit uns von der Opposition an. Wir warten also, was kommen soll. Hoffentlich ist es nicht wieder ein geheimzuhaltender Brief. Besonders in diesem Stück — Notstand — mache ich auf die soeben wörtlich mitgeteilte Saarbrückener Entschließung der Führungsgremien der SPD aufmerksam. Hier kommt es uns ganz besonders darauf an, daß ein Raum bleibt für die allgemeine öffentliche Diskussion.
Über die nicht erledigten Verfassungsaufträge hat Herr Erler schon gesprochen; ich komme darauf nicht zurück.
Aber etwas anderes gehört noch in diesen Zusammenhang. Verehrte Damen und Herren, Sie haben in der vergangenen Legislaturperiode die Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts dadurch teilweise demontiert, daß Sie ihm ein Fünftel der Richterstellen entzogen und zum Ausgleich dafür den allgemeinen Zugang der Bürger mit der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht erschwert haben, von Voraussetzungen abhängig gemacht haben.
Wir erwarten, daß das Bundesverfassungsgericht wieder voll arbeitsfähig gemacht wird und daß von
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Dr. Dr. Heinemann
den Bürgern Verfassungsbeschwerde eingelegt werden kann wie früher. Wir wären sehr daran interessiert, daß diese Verfassungsbeschwerde im Grundgesetz verankert wird, damit man später nicht noch einmal so damit manipulieren kann, wie es geschehen ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Diemer-Nicolaus?
Bitte sehr!
Herr Kollege Heinemann — nachdem Sie ja von Anfang an dem Bundestag angehört haben —, ist Ihnen bekannt, daß das Bundesverfassungsgericht nicht als ein Zwillingsgericht konzipiert war, sondern als ein Einheitsgericht und daß sich die Verminderung der Richterzahl absolut bewährt hat?
Verehrte Frau Kollegin, es bleibt leider bestehen, daß man die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts mit der Verfassungsbeschwerde eingeengt hat, und zwar genau im Zusammenhang mit der Reduzierung seiner Richterzahl. Es besteht ein Zusammenhang. Worum es hier ganz allein geht — die Frage, ob ein Senat oder zwei Senate, ist völlig uninteressant —, ist dies: daß jeder Fall von Verfassungsverletzung . zu behandeln ist.
Schließlich noch in aller Kürze — die Mittagspause wird pünktlich einsetzen können — einige Worte zur Rechtspolitik. Auch da war die Regierungserklärung überaus dürftig. Da gibt es einige programmatische Stichworte mit dem Zusatz, daß Gesetze von der allgemeinen Rechtsüberzeugung des Volkes getragen sein und verständlich sein sollen. Eine rechtspolitische Gesamtkonzeption ist da ja nicht von ferne. Wo soll die auch herkommen! Kein Ressort hat so oft gewechselt wie das Justizressort. Allein in diesem Jahr haben wir schon den dritten Bundesjustizminister. In der großen Ahnengalerie auf der Rosenburg ist der derzeitige neue Justizminister Dr. Jäger ganz bestimmt ein Höhepunkt.
Die Regierungserklärung in bezug auf Rechtspolitik, also in bezug auf die Sammlung von Stichworten im einzelnen durchzugehen, versage ich mir hier. Ich will auch gar nicht auf Fragen der Strafrechtsreform im einzelnen zu sprechen kommen. Diese werden wir bekanntlich am 12. Januar behandeln.
Aber eine Frage an die Regierung! Mit Bezug auf den Satz, daß die Gesetze von der Rechtsüberzeugung des Volkes getragen sein sollen, möchte ich einmal wissen, wie die Regierung es sich vorstellt, daß nun das große Werk der Strafrechtsreform in unserem Volk überhaupt recht zur Kenntnis genommen wird. Diese Strafrechtsreform soll bekanntlich auch in diesem neuen Bundestag wieder von einem Sonderausschuß behandelt werden. Dieser Sonderausschuß tagt gar nicht hier im Bundeshaus; er tagt in einem Winkel in der Welckerstraße. Stenographische Aufnahmen über das, was da unter dem Vorsitz von Herrn Dr. Güde verhandelt wird, gibt es überhaupt nicht,
sondern es werden Sinnprotokolle von einem Beamten des Justizministeriums hergestellt. In den Zeitungen liest man nichts von all diesen Vorgängen in der Welckerstraße. Soll das so weitergehen? Wie stellt man sich vor, daß da nun ausgerechnet dieses so bedeutsame neue Strafrecht in Einklang kommt oder auch nur bei unserem Volk zur Kenntnis kommt?
Als man dieses Strafrecht, das man heute reformieren will, 1872 schuf, hat der damalige kaiserliche Reichstag diese Materie ganz anders behandelt, nämlich öffentlich. Hier wäre die Frage, ob die Bundesregierung es möglich machen will, hier das Exempel zu schaffen und das uns vorliegende große neue Reformwerk nun wirklich in Kontakt mit dem Volk zu bringen. Das würde uns interessieren. Oder ist auch das nur wieder wie an so vielen anderen Ecken ein schönklingender Satz, daß Gesetze auf der Überzeugung des Volkes beruhen sollen und dann obendrein auch noch verständlich sein sollen? — Bitte!
Herr Abgeordneter Moersch möchte eine Frage stellen.
Ist es nicht Ihre Meinung, daß es Aufgabe des Parlaments ist, darüber zu beschließen, daß solche Verhandlungen öffentlich sind, und daß das Ihre Kollegen ebensogut wie wir alle in diesem Hause durchsetzen können?
Ja, verehrter Herr Moersch, in gewisser Weise kann das Parlament seine Arbeitsweise selber regeln. Aber die Erfordernisse dazu, daß z. B. ein stenographischer Dienst zur Verfügung steht und dergleichen, — das hat ja auch noch andere Zusammenhänge.
Aber bitte, Sie brauchen mir jetzt gar kein Versprechen zu geben, daß Sie im Ausschuß dafür mitwirken oder daß Sie das hier beantragen werden. Mir liegt jetzt in diesem Moment — es ist genau 13 Uhr, ich höre jetzt auf — ausschließlich daran, zu fragen, ob der schöne Satz in der Regierungserklärung in puncto Strafrechtsreform mit Ihrer und unser aller Hilfe wirklich praktiziert wird.
Ich bitte noch um etwas Geduld. Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen will eine „tatsächliche Erklärung" nach § 36 der Geschäftsordnung abgeben.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 267
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach § 36 der Geschäftsordnung erlaube ich mir folgende tatsächliche Erklärung abzugeben.
In den 2683 kreisangehörigen Gemeinden Hessens, in denen 67,9 % der hessischen Bevölkerung leben, liegt die unrentierliche Verschuldung mit 109 DM je Einwohner unter dem Bundesdurchschnitt von 127 DM. Ausschlaggebend für den Verschuldungsanteil der kreisfreien Städte ist die Stadt Frankfurt mit einer Schuldensumme von 1237,8 Millionen DM. Demgegenüber liegt auch die Finanzkraft dieser Stadt unter den Großstädten des Bundesgebietes ohne Stadtstaaten mit großem Abstand an der Spitze. Ohne Frankfurt am Main würden die Neuschulden der hessischen Gemeinden und Gemeindeverbände statt 642 DM pro Kopf und Einwohner nur 461 DM betragen. Dieser Betrag liegt mit einer DM unter dem Bundesdurchschnitt von 462 DM je Einwohner.
Die unrentierlichen Neuschulden in den hessischen Kreisen und Gemeinden betragen umgerechnet auf den Einwohner in den neun kreisfreien Städten 578 DM. Diese Zahl geht ausschließlich auf Frankfurt am Main zurück, dessen Schuldensummen durch die Messe, den Flugplatz und andere Sonderprobleme sehr stark erhöht sind.
Das Schreiben des Bundesfinanzministers vom 30. August ergibt, daß hinsichtlich erhöhter Aufwendungen das Land Baden-Württemberg mit 16% oder 474 Millionen DM Mehrausgaben an der Spitze
liegt, während Hessen unter diesen Zahlen liegt. Ich darf noch hinzufügen, daß auch SPD-Länder unter dem Bundesdurchschnitt liegen, während der Bund in der Zuwachsrate mit fast 2% über dem Zuwachs in den Ländern liegt.
Der Herr Abgeordnete Möller legt Wert auf die Feststellung, daß er seine Erklärung gestern im Einvernehmen mit dem Herrn niedersächsischen Finanzminister Kubel abgegeben hat.
Meine Damen und Herren, wir vertagen uns auf 14 Uhr. Wir beginnen dann mit der Fragestunde.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Zu den in der Fragestunde der 7. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29. November 1965 gestellten Fragen des Abgeordneten Genscher Nrn. VI/17 und VI/18 ist inzwischen die schriftliche Antwort des Bundesministers Dr. Dahlgrün vom 29. November 1965 eingegangen. Sie lautet:
Zu VI/17:
Halb- und Fertigerzeugnisse sind für Zwecke der Vermögensbesteuerung mit dem sog. Teilwert zu bewerten; das ist der Betrag, den ein Erwerber des Unternehmens im Rahmen des Gesamtkaufpreises für die vorhandenen Halb- und Fertigerzeugnisse aufwenden würde. Im Gegensatz zur Regelung bei der Einkommensteuer gibt es bei der Vermögensbesteuerung bisher keine näheren Verwaltungsanweisungen für die Ermittlung des
Teilwerts. Auch der Bundesfinanzhof hat dazu noch nicht grundlegend Stellung genommen. Im Hinblick auf zunehmende Schwierigkeiten bei den Vermögenssteuer-Veranlagungen und bei den Betriebsprüfungen halten die Länder eine einheitliche Rechtsanwendung für notwendig. Das soll im Wege eines Koordinierungserlasses erreicht werden. Bei den vorbereitenden Besprechungen ist anfänglich die Auffassung vertreten worden, daß neben den Herstellungskosten im Sinn des Abschnitts 33 der Einkommensteuer-Richtlinien auch alle die in Ihrer Anfrage besonders aufgeführten Kostenteile zu berücksichtigen seien. Später setzte sich die Meinung durch, daß in dem vorgesehenen Länder-Erlaß beispielsweise auf die Erfassung der Eigenkapitalzinsen verzichtet und daß auch bei den übrigen Kasten grundsätzlich eine Beschränkung auf die Kosten des eigentlichen Fertigungsbereichs angestrebt werden soll. Die Erörterungen sind noch nicht abgeschlossen. Ich bitte den weiteren Verlauf abzuwarten, zumal eine befriedigende Lösung zu erhoffen ist.
Im übrigen ist die Vermögensteuer eine reine Ländersteuer; Die Verwaltung auf diesem Gebiete steht ausschließlich den Ländern zu.
Zu VI/18:
Parkgebühren, die ein Arbeitnehmer für das Abstellen seines Kraftwagens in der Nähe des Arbeitsplatzes aufwenden muß, können schon nach geltendem Recht als Werbungskosten abgezogen werden. Es bedarf deshalb keiner Änderung der einschlägigen Vorschriften. Die Parkgebühren sind jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs durch die nach der Einkommensteuer- und Lohnsteuerdurchführungsverordnung festgesetzten Pauschbeträge für die Aufwendungen eines Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte abgegolten. Der Pauschbetrag beträgt bei der Benutzung eines Kraftfahrzeugs 0,50 DM je km Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Ein zusätzlicher Abzug der Parkgebühren außerhalb des genannten Pauschbetrages ist nicht möglich.
Zu den in der Fragestunde der 7. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29. November 1965 gestellten Fragen des Abgeordneten Schwabe Nrn. VIII/2, VIII/3 und VIII/4 ist inzwischen die schriftliche Antwort des Bundesministers Höcherl vom 29. November 1965 eingegangen. Sie lautet:
Zu Frage VIII/2:
Es trifft zu, daß Roggenmischbrot nicht als Einpfünder gebacken werden darf, weil nach § 2 Abs. 2 des Brotgesetzes das Gewicht des frischen ungeteilten Brotes, das aus 20 und mehr Hundertteilen Mahlerzeugnissen des Roggens hergestellt ist, mindestens 750 g betragen und durch 250 teilbar sein muß.
Zu Frage VIII/3:
Es trifft nicht zu, daß hierdurch von vielen Verbrauchern Roggenmischbrot in größeren Einheiten gekauft, jedoch häufig nicht aufgebraucht wird; denn die Verbraucher haben die Möglichkeit, Roggenmischbrot im Gewicht von 500 g dadurch zu beziehen, daß die Verkäufer ein Roggenmischbrot im Gewicht von 1000 g durchschneiden. Das geschieht in der Praxis in großem Umfange.
In verschiedenen Fällen ziehen es aber die Verbraucher vor, in Scheiben geschnittenes Brot zu kaufen, das in Gewichtseinheiten von 125, 250 oder 500 g in den Verkehr gebracht werden darf . Der Absatz von geschnittenem Brot ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen.
Zu Frage VIII/4:
Der Bundesregierung ist bekannt, daß seit einiger Zeit ein Bedürfnis für die Herstellung von ungeteiltem Roggenmischbrot mit einem Gewicht von 500 g besteht. Die beteiligten Bundesressorts haben deshalb bereits die Beratungen über eine Änderung der erwähnten Vorschriften des Brotgesetzes aufgenommen, die jedoch noch nicht abgeschlossen werden konnten.
Wir beginnen mit der Fragestunde . Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr — zunächst die Frage XI/12 — des Herrn Abgeordneten Tönjes:
Ist der Bundesregierung bekannt, welche Einnahmeverluste bei der Deutschen Bundesbahn infolge der Erhöhung der LKW-Kontingente und der Senkung der Beförderungsteuer für den Werkfernverkehr entstanden sind?
Herr Bundesverkehrsminister, bitte.
Herr Präsident, die Frage möchte ich mit Nein beantworten. Die Deutsche Bundesbahn hat zur Verringerung vermuteter Einnahmeverluste, die ihr durch die Erhöhung der Lastkraftwagenkontingente
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Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
und durch die Senkung der Werkfernverkehrsteuer drohten, die Tarifelemente des Deutschen EisenbahnGütertarifs am 1. August 1964 geändert und damit nicht unbeträchtliche Frachtermäßigungen gewährt, um Verkehrsverlagerungen möglichst abzuwenden. Die Bundesbahn hatte im August 1964 vorgetragen, daß ihr bei Aufrechterhaltung ihrer Tariflage Frachtausfälle in Höhe von rund 400 Millionen DM drohen. In welchem Umfang ihre Abwehrmaßnahmen Erfolg gehabt haben, läßt sich erst beurteilen, wenn die Ergebnisse eines vollen Jahres vorliegen. Den Bericht des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn hierüber erwarten wir daher Anfang des nächsten Jahres.
Keine weitere Frage.
Ich rufe dann die Frage XI/13 — des Abgeordneten Haar — auf:
In welchem Ausmaße werden die Ausgaben des Bundes, der Länder und Gemeinden für das Straßenwesen aus den spezifischen Abgaben des Kraftverkehrs gedeckt bzw. nicht gedeckt?
Herr Minister, bitte.
Die Ausgaben des Bundes, der Länder und der Gemeinden für das Straßenwesen betrugen im Jahre 1964 rund 10 Milliarden DM. Die Einnahmen aus der vom Kraftverkehr aufgebrachten Mineralölsteuer und Kraftfahrzeugsteuer beliefen sich in diesem Jahr auf 7 145 000 000 DM. Die Einnahmen aus der Mineralölsteuer wurden für 1964 zu 46 %, für 1965 zu 48 % für den Bundesfernstraßenbau zweckgebunden. Die sich aus dieser Gegenüberstellung ergebende Unterdeckung kann in dieser Größenordnung nur rechnerisch gewertet werden, denn dem Kraftverkehr können nur die ihm anteilig zufallenden Ausgaben zugerechnet werden. Ihre Höhe ist bekanntlich umstritten. Wir erwarten, daß sich die Höhe dieses Anteils aus der von der Brüsseler Kommission der EWG auf Beschluß des Ministerrats eingeleiteten Wegekosten-Enquete ergibt, die auch Aufschluß darüber bringen soll, welche Wegekosten die einzelnen Fahrzeugkategorien zu tragen haben.
Eine Zusatzfrage. Bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Minister, haben Sie im Hinblick auf einen fairen Wettbewerb zwischen Schiene und Straße schon einmal die Frage überprüft. ob bei spezifischen Abgaben des Kraftverkehrs heute Pin annähernd richtiges Belastungsverhältnis zwischen Personen- und schweren Lastkraftwagen besteht?
Herr Kollege, diese Frage ist wiederholt geprüft worden. Sie läßt sich aber aus den Unterlagen nicht ohne weiteres beantworten, und deswegen Nahen wir diese Frage auf europäischer Ebene durch diese Wegekosten-Enguete jetzt zur Diskussion gestellt. Da die Enquete im nächsten Jahr durchgeführt werden soll, rechnen wir damit, daß wir Ende 1967 oder Anfang 1968 klare Zahlen darüber zur Hand haben werden. Das setzt voraus, daß diese Enquete in allen Ländern der EWG auch zweckmäßig durchgeführt wird.
Noch eine Zusatzfrage. Bitte, Herr Abgeordneter!
Herr Minister, würde die Bundesregierung erforderlichenfalls bei einer Erhöhung der Mineralölsteuer dieses Belastungsverhältnis ändern?
Wir haben das, wie Sie wissen, Herr Kollege, bei den letzten Erhöhungen der Mineralölsteuer getan. Ob und wann eine neue Erhöhung der Mineralölsteuer in Frage kommt und in welcher Weise sie durchgeführt wird, kann jetzt noch nicht gesagt werden.
Die Frage XI/14 stellt ebenfalls der Herr Abgeordnete Haar :
Wie hoch werden die Kosten für die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden sein, die von der Enquete-Kommission untersucht worden sind?
Herr Minister, bitte!
Nach den Ergebnissen der Enquete-Kommission erfordern die Verbesserungen der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden in den nächsten zehn Jahren Investitionen von rund 57 Milliarden DM. Nach vorläufigen Ermittlungen der zuständigen Bundesressorts wird damit der genannte Betrag nicht ausreichen. Er ist mit mindestens 72 Milliarden DM anzusetzen. In dieser Summe muß der Bedarf für den öffentlichen Personennahverkehr dann enthalten sein.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Haar.
Herr Minister, hat Ihr Haus schon einmal ausgerechnet, welche zusätzlichen Investitionen im Straßenbau unter Berücksichtigung der soeben von Ihnen genannten Zahlen mit jedem neu zugelassenen Automobil verbunden sind?
Herr Kollege, darüber kann man nur Schätzungen anstellen. Das hängt von dem Bedarf ab, den jeder, der sich ein neues Auto kauft — sei es Pkw oder Lkw — hat, und von den Forderungen, die er an die Straße stellt. Nehmen Sie den Besitzer eines neuen durchschnittlichen Pkw. Der neue Besitzer erwartet normalerweise, daß ihm ein Parkplatz vor dem Hause, ein Parkplatz am Arbeitsplatz und ein halber Parkplatz für seine Besorgungen in der Stadt oder an irgendeiner anderen Stelle und etwa 100 m Straße zur Verfügung stehen. Das ergäbe eine Straßenbauinvestition — sie verteilt sich teils auf die Städte, teils auf den Bund, teils auf die
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Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
Länder — in einer Größenordnung von etwa 250 00 DM für jeden neuen Pkw. Beim Lkw liegen die Dinge natürlich anders. Aber derartige Berechnungen haben keine absolute Aussagekraft.
Keine weitere Zusatzfrage. Frage XI/15 — des Herrn Abgeordneten Faller —:
Wie hoch ist der gegenwärtig von der Deutschen Bundesbahn zu tragende Kapitaldienst?
Herr Minister!
Herr Kollege Faller, im Jahre 1965 wird die Deutsche Bundesbahn für Tilgungen und Umschuldungen 1180 Millionen DM und für Zinsen 696 Millionen DM aufzubringen haben. Der gesamte Kapitaldienst der Deutschen Bundesbahn für das laufende Jahr beläuft sich damit auf 1876 Millionen DM.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß eine erhebliche Entlastung der Deutschen Bundesbahn dadurch eingetreten ist, daß der Bund seit 1962 den Kapitaldienst für Anleihen im Gesamtbetrage von 2 Milliarden DM übernimmt. Im Jahre 1965 ist hierfür eine Zinsendienstrate von 106 Millionen DM angefallen, um die die genannte Kapitaldienstzahl noch zu erhöhen ist.
Im Jahre 1966 sind allein für Tilgungen 1445 Millionen DM aufzubringen. Der Zinsaufwand dürfte von 696 Millionen DM auf 788 Millionen DM ansteigen, so daß voraussichtlich der Kapitaldienst der Deutschen Bundesbahn im kommenden Jahr 2223 Millionen DM erreichen wird. Deshalb müssen Maßnahmen überlegt werden, wie im Zuge der weiteren Ordnung des finanziellen Verhältnisses zwischen Bund und Bundesbahn eine weitere Zinsentlastung für die Deutsche Bundesbahn zu erreichen ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Faller.
Herr Minister, sind Sie mit mir der Auffassung, daß man bei einer solchen Zins- und Tilgungslast der Deutschen Bundesbahn nicht mehr verlangen kann, daß sie, wie im § 28 des Bundesbahngesetzes festgelegt, eine kaufmännische Betriebsführung durchhält?
Das ist so, wie Sie fragen, Herr Kollege, wohl schwer zu beantworten. Man kann eine kaufmännische Betriebsführung auch bei einer bestimmten Verschuldung durchhalten, wenn das Eigenkapital entsprechend hoch ist. Bei dem Verhältnis von Fremdkapital zu Eigenkapital, wie es bei der Deutschen Bundesbahn gegeben ist, bestehen keine Bedenken, zu sagen, daß das noch kaufmännisch vertretbar sei.
Keine weitere Frage. — Frage XI/16 — des Herrn Abgeordneten Faller —:
Entspricht es den Tatsachen, daß aller Voraussicht nach die zweite Hälfte der fur 1965 geplanten „Kapitalaufstockungsanleihe" von insgesamt 500 Millionen DM nicht mehr wind aufgelegt werden können?
Bitte, Herr Minister!
Herr Kollege Faller, ich beantworte Ihre Frage mit Ja. Das, was Sie fragen, entspricht leider den Tatsachen. Die gemeinsamen Bemühungen der Bundesbahn und des Bundesministers für Verkehr sind an der bekannten Entwicklung auf dem Kapitalmarkt, aus der der Zentralbankrat die Konsequenzen ziehen mußte, gescheitert. Bei der Genehmigung des Wirtschaftsplanes der Deutschen Bundesbahn für 1965 und bei der Verabschiedung des Bundeshaushalts 1965 war die Entwicklung in dieser Schärfe nicht vorauszusehen.
Keine weitere Frage. Frage XI/17 — des Herrn Abgeordneten Faller —:
Aus welchen Gründen ist in Zeiten, in denen der Bundeshaushalt dies noch eher erlaubte als heute, versäumt worden, der Deutschen Bundesbahn eine bessere Kapitalgrundlage zu geben?
Bitte, Herr Minister!
Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß ein Versäumnis dieser Art besteht, und zwar aus folgenden Gründen. Der Bund hat der Deutschen Bundesbahn in den Jahren 1952 bis 1964 zum Zwecke der Modernisierung und Rationalisierung als Investitionsdarlehen und als Darlehen aus dem Verkehrsfinanzgesetz 1955 zunächst insgesamt 3053 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Auf die Rückzahlung dieser Darlehen wurde im Interesse der Verbesserung der Kapitalstruktur der Deutschen Bundesbahn bereits im Sofortprogramm der Bundesregierung vom 15. Juni 1960 verzichtet. Von den genannten Investitionsdarlehen wurden im Jahre 1962 bereits 2365 Millionen DM zur Aufstockung des Eigenkapitals der Deutschen Bundesbahn verwendet. Die formelle Umwandlung der übrigen Investitionsmittel in Eigenkapital und damit eine entsprechende weitere Verstärkung des Eigenkapitals steht bevor.
Darüber hinaus hat sich, wie schon erwähnt, die Bundesregierung bereit erklärt, den Zins- und Tilgungsdienst für 2 Milliarden DM Bundesbahnanleihen zu übernehmen. Diese Anleihen sind bis auf einen Restbetrag von 240 Millionen DM seit dem Jahre 1962 begeben worden. Dieser Restbetrag sollte in diesem Jahr begeben werden. Das ist aber aus den soeben schon genannten Umständen noch nicht geschehen.
Mit diesen Maßnahmen des Bundes ist also die Kapitalgrundlage der Deutschen Bundesbahn seit 1952 um rund 5 Milliarden DM verbessert worden.
Mit der Übernahme der Jahresverluste der Deutschen Bundesbahn von 1948 — Währungsreform — bis 1963 in Höhe von insgesamt 4147 Millionen DM auf den Bund ist ebenfalls eine, wenn auch indirekte
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Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
Verbesserung der Kapitallage der Deutschen Bundesbahn bewirkt worden.
Die genannten Bundeshilfen beliefen sich von 1952 bis 1965 auf insgesamt 13 819 Millionen DM. Davon entfielen, wie gesagt, auf Investitionsdarlehen 3053,0 Millionen DM, auf Zinsen für Anleihedienst 244,7 Millionen DM, auf den Ausgleich betriebsfremder Lasten 2909,2 Millionen DM, auf erfolgswirksame Leistungen nach dem Sofortprogramm der Bundesregierung 2360,2 Millionen DM und auf Liquiditäts- und Finanzhilfen 5252,1 Millionen DM, insgesamt also 13 819,2 Millionen DM.
Durch diese beträchtlichen Bundesleistungen hat die Bundesregierung die Deutsche Bundesbahn in den vergangenen Jahren sicher so weit gefördert, als es ihr nach der jeweiligen Haushaltslage möglich war.
Herr Abgeordneter Faller zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, wie ist es möglich, daß trotz der von Ihnen angeführten beträchtlichen Bundesleistung die Zahlen genannt werden müssen, die Sie mir auf meine vorhergehenden Fragen mitgeteilt haben?
Weil natürlich die Investitionen der Deutschen Bundesbahn pro Jahr einen viel höheren Betrag aufweisen, als er hier insgesamt dargestellt ist. Sie I wissen, Herr Kollege Faller, aus den Berichten der Bundesbahn, daß das Investitionsvolumen der Bundesbahn in den vergangenen Jahren nach und nach auf 3 Milliarden DM gestiegen und daß nur im letzten, also erst in diesem Jahr eine Kürzung wegen der Lage auf dem Kapitalmarkt erfolgt ist. Diesen rund 3 Milliarden DM, die jetzt pro Jahr notwendig sind, stehen also hier 3 Milliarden DM gegenüber, die für einen längeren Zeitraum gegeben sind, so daß die Bundesbahn auf Aufnahme von Fremdkapital auf dem Kapitalmarkt, sei es über die Länder, sei es über Anleihen, sei es über Schuldscheindarlehen, angewiesen war, um ihr gesamtes Investitionsvolumen zu erfüllen, da sie aus eigenen Abschreibungen nicht mehr als etwa 1,3 Milliarden DM erfüllen könnte, die wiederum im allgemeinen durch den Verlustausgleich auf den Bundeshaushalt zukommen. Sie sehen, daß sich das Gesamtbild etwas undurchsichtig entwickelt, wenn man nicht den Gesamtplafond vor sich hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Faller!
Herr Minister, sind Sie nicht auch der Meinung, daß das, was in der Regierungserklärung über die Bundesbahn gesagt wird, zur Lösung der Probleme völlig ungenügend ist — gerade im Hinblick auf die nüchternen Zahlen, die Sie mir jetzt genannt haben — ?
Das glaube ich nicht, Herr Kollege Faller.
Wenn es gelingt, zu erreichen, daß wir im Rahmen des Begriffs der Normalisierung der Konten die entsprechenden Maßnahmen treffen, wird die Bundesbahn wie jedes andere Unternehmen, das seine Investitionen nicht über den Preis vornehmen kann, in der Lage sein, den Investitionsbedarf, den sie über die Abschreibungen hinaus zu decken hat, auf dem Kapitalmarkt — wenn er in Ordnung ist. — zu decken.
Wir kommen zur nächsten Frage, zur Frage XI/18 — des Abgeordneten Seibert —:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die am 30. Oktober 1965 von einer Hamburger Tageszeitung verbreitete Behauptung nicht zutreffend ist, derzufolge „Deutschlands Autofahrer" im Falle einer Erhöhung der Mineralölsteuer dafür büßen sollen, daß die Deutsche Bundesbahn — wie es in der entsprechenden Meldung wörtlich heißt — „hoffnungslos verschuldet" sei?
Bitte, Herr Bundesminister.
Herr Kollege Seibert, die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß die wiedergegebene Behauptung nicht zutreffend ist. Ein Zusammenhang zwischen der Verschuldung der Deutschen Bundesbahn und . der Höhe der Mineralölsteuer besteht nicht.
Keine weitere Frage? — Die nächste Frage, Frage XI/19 — ebenfalls von dem Abgeordneten Seibert —:
Inwieweit sind Fehlbeträge in den Jahresabschlüssen der Deutschen Bundesbahn durch nachteilige finanzielle Auswirkungen aus der Durchführung öffentlicher Verkehrsdienste bedingt, die mit Rücksicht auf die Interessen der Allgemeinheit zu nicht kostendeckenden Tarifen abgewickelt werden müssen?
Herr Kollege Seibert, der Mehrbetrag, den die Bundesbahn in der Vergangenheit bei einer ausschließlich auf marktwirtschaftliche Betrachtung aufgebauten Gestaltung ihrer Personentarife hätte erzielen können, dürfte auf jährlich etwa 100 Millionen DM zu schätzen sein. Er wurde seit 1961 durch die Gewährung der sogenannten Anpassungshilfe etwa in diesem Umfang abgedeckt.
Eine Zusatzfrage!
Herr Minister, glauben Sie, daß Fehlbeträge im Haushalt der Deutschen Bundesbahn allein aus der Tatsache entstehen, die Sie soeben angesprochen haben?
Nein; die Fehlbeträge sind natürlich wesentlich höher, wie wir beide ja sehr genau wissen. Aber es handelt sich hier darum, was die Bundesbahn bei einer ausschließlich auf marktwirtschaftliche Betrachtung aufgebauten Gestaltung gegebenenfalls mehr hätte erreichen können. Sie sehen, daß dieser Betrag im Verhältnis zu dem, was als Differenz zwischen den Einnahmen und den Ausgaben im gesamten Personennahverkehr aus der Diskussion be-
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, ,den 1. Dezember 1965 271
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
kannt ist, natürlich nur eine verhältnismäßig geringe Rolle spielt. Deshalb hat am 5. Mai dieses Jahres die Bundesregierung beschlossen, hier nicht mehr eine Anpassungshilfe zu geben, sondern der Bundesbahn im Zuge der Normalisierung der Konten mit wesentlich größeren Beträgen beizustehen.
Noch eine Frage? — Bitte!
Darf ich aus ihrer Antwort, Herr Minister, entnehmen, daß die Zuwendungen des Bundes als Abgeltungsbeträge an die Deutsche Bundesbahn für Leistungen im Interesse des Allgemeinwohls in Zukunft wesentlich höher sein werden als die in der Vergangenheit als „Anpassungshilfe für Rationalisierung" gewährten Abgeltungsbeträge für diese Leistungen?
Wenn wir dem Beschluß vom 5. Mai dieses Jahres folgen, müssen diese Beträge höher sein, Herr Kollege.
Wir kommen zur nächsten Frage, zur Frage XI/20 — des Abgeordneten Wendt. — Bitte, Herr Bundesminister, zur Beantwortung der Frage.
Ich bitte damit einverstanden zu sein, Herr
Präsident, daß ich die Fragen des Herrn Kollegen Wendt, die in engem sachlichen Zusammenhang stehen, gemeinsam beantworte, falls der Herr Kollege Wendt damit einverstanden ist.
Sind Sie damit einverstanden?
Ja.
Dann rufe ich die Fragen XI/20 bis XI/22 — des Abgeordneten Wendt — auf:
Wie hoch wird der im Laufe des Jahres 1965 erwartete Verlust aus dem Berufs-, Schüler- und Sozialverkehr der Deutschen Bundesbahn sein?
Wie soll der Verlust aus dem Berufsverkehr der Deutschen Bundesbahn finanziell abgegolten werden?
Welches Ergebnis ist bis jetzt in den mit den Bundesländern geführten Verhandlungen erzielt worden, um die Länder zur Übernahme der Kosten des Schülerverkehrs zu veranlassen?
'Wie hoch der Verlust des Jahres 1965 aus dem Berufs-, Schüler- und sonstigen Sozialverkehr der Bundesbahn sein wird, kann mit Bestimmtheit erst gesagt werden, wenn das für Januar 1966 erwartete Gutachten der Deutschen Revisions- und Treuhand AG vorliegt. Die Bundesbahn schätzt diesen Verlust vorläufig unter Berücksichtigung der gezahlten Anpassungshilfe von 120 Millionen DM, über die ich gerade eben mit dem Herrn Kollegen
Seibert gesprochen habe, auf etwa 800 Millionen DM. Davon entfallen etwa 490 Millionen DM auf den Berufsverkehr, 290 Millionen DM auf den Schülerverkehr und 130 Millionen DM auf den sonstigen Sozialverkehr. Im Personennahverkehr, der zum Normaltarif abgewickelt wird, entsteht eine weitere zusätzliche Unterkostendeckung von etwa 250 Millionen DM. Der gesamte Personennahverkehr bringt nach den Schätzungen der Deutschen Bundesbahn also Unterkosten von etwa 1,2 Milliarden DM.
Über die Abdeckung des Verlustes aus dem Berufsverkehr kann erst entschieden werden, wenn das erwähnte Gutachten der Deutschen Revisions-und Treuhand AG vorliegt. Dann erst können begründete Vorschläge im Rahmen einer Normalisierung der Konten vorgelegt werden. Bis dahin hilft der Bund der Deutschen Bundesbahn mit Liquiditätsdarlehen.
Das gleiche gilt für das Defizit des Schülerverkehrs. Ob sich in Zukunft die Bundesländer, mit denen wir schon seit langer Zeit in Verhandlungen stehen, an den Kosten dieses Verkehrszweiges beteiligen werden, kann noch nicht gesagt werden, weil sich die Verhandlungen noch in Gang befinden. Eine Zusage wurde uns bislang nicht gegeben, und eine Bereitschaft, eine Vergütung an die Bundesbahn und nicht an die Eltern der Schüler zu zahlen, ist bisher auf der Länderseite praktisch leider nirgends hervorgetreten. Im Gegenteil wird auf der Länderseite der Standpunkt vorgetragen, daß es sich hierbei nicht um eine Angelegenheit der Kulturhoheit handele, sondern daß diese Fragen der Schülertarife in erster Linie unter sozial- und familienpolitischen Gesichtspunkten zu betrachten seien. Wir haben immer die Auffassung vertreten, daß es sich hier um eine Kulturangelegenheit handelt, weil ich nicht bereit bin, zu unterscheiden zwischen Schulgeldfreiheit, Lernmittelfreiheit und Fahrgeldfreiheit. Praktisch bedeuten die Schülertarife ja eine Fahrgeldfreiheit.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wendt.
Herr Minister, sieht die Bundesregierung keinen Weg, die Benutzung der Deutschen Bundesbahn im Berufsverkehr durch steuerliche Anreize zu heben?
Ich glaube kaum, daß man hier steuerlich weiter gehen kann, als es bisher schon geschehen ist, nämlich durch die Gutbringung der Ausgaben auf der Steuerkarte, sofern die Ausgaben des einzelnen für den Berufsverkehr nicht etwa von seinem Arbeitgeber übernommen werden.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Cramer.
Herr Minister, können Sie in diesem Zusammenhang sagen, ob der Personenfernverkehr kostendeckend ist?
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Das ist eine im Augenblick wegen der 1966 neu hinzutretenden Personalkosten nicht ganz klar zu beantwortende Frage. Wenn Sie die Eigenverzinsung des Kapitals nicht einrechnen, dann deckt der Personenfernverkehr seine Kosten und bringt noch Überschüsse. Beziehen Sie die Verzinsung des Eigenkapitals mit ein, dann wird er sich vielleicht noch ausgleichen.
Eine weitere Frage!
Herr Minister, gilt das auch für die sogenannten Luxuszüge, für F- und TEE-Züge?
Die von Ihnen so genannten Luxuszüge bringen erheblich mehr Überschüsse, während bei den normalen D-Zügen im Fernverkehr im allgemeinen keine Überschüsse erzielt werden können. Aber das gilt nicht für jeden Zug, sondern da muß man jedes Zugpaar getrennt betrachten, auch im Laufe des Jahres. Bei der Versorgung gerade von abgelegenen Gebieten, Herr Kollege Cramer — denken Sie an Ostfriesland und Nordoldenburg —, ist es natürlich so, daß auf diesen letzten Endstrecken nicht verdient wird, auch nicht im Fernverkehr.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Seibert.
Herr Minister, Ihre Antwort auf die Frage, ob es möglich ist, für Fahrtkosten bei der Deutschen Bundesbahn für den Berufsverkehr einen steuerlichen Anreiz zu geben, die lautete, daß bereits diese Fahrtkosten abgesetzt werden können, verstehe ich so, daß Sie damit die Werbekostenpauschale meinen. Die Anreize, die gegeben werden könnten, sind so zu verstehen, daß man die Werbekostenpauschale nicht benutzt, sondern die Fahrtkosten darüber hinaus gesondert für sich absetzungsfähig macht, wie das auch bei den Fahrtkosten des Pkw mit 50 Pfennig je Kilometer der Fall ist, die außerhalb der Werbungskosten abgesetzt werden können.
War das eine Frage oder eine Interpretation der Antwort des Ministers?
Herr Präsident, Sie haben recht, aber ich glaubte, dies vorausschicken zu müssen, damit der Minister auf die Frage, die ich stelle, die Antwort geben kann.
Glauben genügt nicht, Sie müssen eine Frage stellen.
Würden Sie, Herr Minister, Bestrebungen, einen solchen steuerlichen Anreiz zu schaffen, unterstützen?
Ja, denn ich halte eine Gleichstellung in diesen Fällen für zweckmäßig. Allerdings, wenn Sie mich persönlich fragen, möchte ich sagen, ich möchte diesen Anreiz auf allen Gebieten des Verkehrs abschaffen, weil mir dann diese erstrebte Gleichheit zweckmäßiger geregelt erscheint, als wenn eben diese Anreize für den Pkw-Verkehr weiterhin gegeben werden.
Noch eine Frage, Herr Abgeordneter Seibert.
Herr Minister, darf ich Sie so verstehen, daß Sie den gesamten öffentlichen Verkehr, also auch Straßenbahnen, mit unter diese Vergünstigung des steuerlichen Anreizes einbeziehen möchten?
Wenn Sie einen solchen Anreiz geben, müssen sie ihn nach meiner Auffassung jedem Verkehrsteilnehmer zur Verfügung stellen. Aber Sie wissen ja, daß dieser Anreiz, der den Pkw-Fahrern seinerzeit gegeben worden ist, aus anderen als rein verkehrspolitischen oder sozialpolitischen Gründen gegeben wurde. Deswegen ist er auch nicht sozialpolitisch begrenzt.
Sie haben Ihr Pensum erschöpft, Herr Abgeordneter Seibert. Herr Abgeordneter Brück zu einer Zusatzfrage.
Herr Bundesverkehrsminister, darf ich Sie in dem Zusammenhang fragen: Wäre es jetzt nicht an der Zeit, damit wir mit der Ballung im, Nahverkehr etwas besser fertig werden, daß wir diese steuerliche Vergünstigung überprüfen mit dem Ziele, die Entballung wieder etwas besser in den Griff zu bekommen?
Herr Kollege Brück, das ist durchaus meine Auffassung. Aber es ergeben sich — ich habe die Bitte wiederholt vorgetragen — offenbar Schwierigkeiten, einen solchen Weg zu gehen. Ich persönlich habe mit Vorschlägen, die ich in der Beziehung gemacht habe, bisher leider keinen Erfolg erzielen können.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Frage XI/23 — des Herrn Abgeordneten Dr. Tamblé —:
Welche Erfahrungen hat die Deutsche Bundesbahn gemacht, seit die Eisenbahn-Verkehrsordnung neu gefaßt und ein großer Teil der Bahnsteigsperren aufgehoben wurde?
Bitte, Herr Minister!
Herr Kollege, bei der Aufhebung von bisher rund 3000 Bahnsteigsperren im Verlauf der letzten Jahre hat die Bundesbahn recht unterschiedliche und meist unbefriedigende Erfahrungen gesammelt. Dagegen hat sie seit dem 1. September, also seit der Anwendung der verschärften Bestimmungen der
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 273
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
Eisenbahn-Verkehrsordnung den Eindruck gewonnen, daß die Zahl jener Reisenden, die sich unaufgefordert zur Nachlösung von Fahrausweisen melden, zugenommen hat. Diese günstige Erfahrung wird es erlauben, weitere Bahnsteigsperren aufzuheben. Heute schon haben 44 % der für Personenverkehr eingerichteten Bahnhöfe keine Bahnsteigsperren mehr. Nur auf rund 25 % der für Personenverkehr eingerichteten Bahnhöfe sind die Bahnsteigsperren noch ständig besetzt. Auf 31% der Bahnhöfe sind die Sperren zeitweise unbesetzt und werden nach und nach aufgehoben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Tamblé.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, auf welche Weise wurde das Problem des frei werdenden Personals gelöst? Dabei denke ich vor allem an die körperbehinderten Beamten, die man vorzugsweise an den Bahnsteigsperren einsetzte.
Zur Zeit hat sich dabei noch keine besondere Schwierigkeit ergeben. Entlassungen sind nicht eingetreten, und die Umsetzungen sind im Einvernehmen mit den entsprechenden Personalvertretungsstellen so erfolgt, daß keine Schwierigkeiten größeren Umfangs zu verzeichnen sind. Sie dürfen außerdem nicht vergessen, daß wir einen natürlichen Abgang in erheblicher Höhe haben und daß dieser natürliche Abgang nicht voll ersetzt wird, so daß letzten Endes nur die Frage bleibt, ob die Bahn in Zukunft in der Lage ist, ihren Anteil an Schwerbeschädigten zu beschäftigen. Sie kann ja häufig Schwerbeschädigte nur im Bürodienst und nicht im Betriebsdienst — außer an den Bahnsteigsperren — einsetzen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Strohmayr.
Herr Minister, denken Sie daran, die Bahnsteigkontrollen ganz aufzuheben?
Das ist das Ziel der Bemühungen. Aber es ist selbstverständlich, daß bei einer vollständigen Aufhebung der Bahnsteigsperren eine Verstärkung des Zugbegleitdienstes unvermeidlich ist und auf der anderen Seite bei besonders wesentlichen Ortschaften doch diese oder jene Bahnsteigsperre aufrechterhalten werden muß. Auch hier muß natürlich berücksichtigt werden, daß das anders nicht zu beschäftigende schwerbeschädigte Personal unter allen Umständen seinen Arbeitsplatz behalten muß.
Noch eine Frage, Herr Abgeordneter Strohmayr.
Herr Minister, wie ist es möglich, daß weiterhin noch Schwarzfahrten vorkommen, obwohl die Zugkontrolle doch sehr streng ist? Wenn
ich bedenke, daß es in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit ist, daß die Bahnsteige frei sind, so ist mir das unverständlich.
Das ist offenbar im Volkscharakter begründet, so sehr ich bedauere, das sagen zu müssen. Es gibt z. B. eben in jedem Zug gewisse Lokale, wo man sich der Kontrolle entziehen kann, und es gibt eine Reihe von Leuten, die glauben, daß das ein sogenanntes Kavaliersdelikt ist. Ich wünschte, das deutsche Volk würde allmählich dazu kommen, den Begriff Kavaliersdelikt aus seinem Wörterbuch grundsätzlich zu streichen.
Es gibt ihn weder bei der Steuerzahlung noch irgendwo anders.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fellermaier.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, warum jetzt ausgerechnet in der Bundeshauptstadt Bonn die Bahnsteigsperren wieder eingeführt worden sind?
Nein. Es hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß hier sehr schlechte Erfahrungen gemacht worden sind.
Es mag auch sein, daß man sich eben doch sehr dafür interessiert, auch die Zeitkarteninhaber und die Freikartenbenutzer beim Verlassen des Bahnsteigs näher zu betrachten.
Noch eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Felder.
Herr Minister, nach den Darlegungen, die Sie zu diesem Kapitel gemacht haben, teilen Sie also nicht die Auffassung, die in einer Hörfolge des Westdeutschen Rundfunks diese Woche bekanntgegeben wurde, daß bei einer Prüfung auf einer bestimmten Strecke bis zu 5% Schwarzfahrer festgestellt worden seien?
Ich bin grundsätzlich der Meinung, daß Verlautbarungen unserer Massenmedien mit sehr viel Reserve betrachtet werden müssen. Meine persönlichen Erfahrungen mit diesen Massenmedien und ihrer Wahrheitsliebe sind sehr schlecht.
Hier müßte ich eigentlich protestieren.
Wir kommen zur Frage XI/24 — des Abgeordneten Ramms —:
Ist die Bundesregierung nicht auch der Meinung, daß die sogenannte „Parkscheibe" der Verkehrssituation in den Städten
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Vizepräsident Schoettle
und Gemeinden gerechter wird als Parkuhren und mithin eine Erhöhung der Parkzeit-Gebühren bei Parkuhren nicht sinnvoll ist?
Herr Kollege Ollesch übernimmt die Frage. Bitte, Herr Minister!
Herr Kollege, in der Fragestunde am 17. Dezember 1964 habe ich bereits ausgeführt, daß schon das geltende Recht die Parkscheibe zuläßt, obwohl sie dort nicht ausdrücklich erwähnt ist. Die neue, in Vorbereitung befindliche Straßenverkehrs-Ordnung wird als Mittel zur Beschränkung der Parkzeit neben der Parkuhr die Parkscheibe ausdrücklich vorsehen. Es besteht andererseits heute kein Streit mehr darüber, daß zur Befriedigung des sogenannten Kurzparkbedürfnisses und zur wirksamen Überwachung der Einhaltung kurzer Parkzeiten auf die Parkuhr nicht verzichtet werden kann.
Die dem Bundesrat vorliegende, von den Ländern angeregte Verordnung zur Änderung der Gebührenordnung sieht u. a. vor, die Höchstgebühr für die Bereithaltung einer Parkuhr von bisher 10 Pfennig je angefangene halbe Stunde auf 10 Pfennig je angefangene Viertelstunde der Inanspruchnahme umzustellen. Diese auf Wünsche der Länder zurückgehende Änderung soll es einerseits ermöglichen, an bestimmten Stellen, z. B. vor Postämtern, die Parkzeit auf 15 Minuten zu beschränken; andererseits soll sie größere Möglichkeiten für eine Staffelung der Parkgebühren gelben, etwa in der Weise, daß die Gebühren im Stadtkern oder an besonders kritischen Punkten am höchsten sind und nach den Außenbezirken zu geringer werden. Es wird erwartet, daß ein derartiges Gebührengefälle dazu beiträgt, den ruhenden Verkehr in den Innenstädten weiter zu entlasten. Ich bemerke dazu ausdrücklich, daß es sich bei dieser neuen Bestimmung um eine Höchstgebühr handelt. Die örtlich zuständigen Behörden sind demnach keineswegs gezwungen, die Gebühr etwa generell zu erhöhen; dies liegt vielmehr völlig in ihrer eigenen Verantwortung.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ollesch.
Herr Minister, nachdem ich erfreulicherweise zur Kenntnis nehmen konnte, daß Sie die Parkscheibe als Verkehrszeichen in die Straßenverkehrs-Ordnung aufnehmen wollen, wäre es nicht zweckmäßig, die Parkuhren nach den guten Erfahrungen, die verschiedene Städte mit den Parkscheiben gemacht haben, generell durch Parkscheiben abzulösen?
Herr Kollege, wir haben die Sache mit den Ländern besprochen. Ich darf nochmals darauf hinweisen, daß die Kontrolle der Kurzzeitparkenden mit Hilfe der Parkscheibe so ungünstig ist, daß die Länder und die Polizeibehörden dringend darum gebeten haben, beides nebeneinander bestehen zu lassen, Parkscheibe und Parkuhr, die Parkuhr be-
sonders dort, wo ein besonders starker Andrang auf .den an sich zu geringen Parkraum besteht.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Ollesch.
Herr Minister, sind Sie nicht auch der Auffassung, daß die Kontrolle der Kurzzeitparker bei den Parkuhren genauso schwer sein wird wie die Kontrolle der Kurzzeitparker bei den Parkscheiben?
Ich habe einmal selbst den Versuch gemacht, Herr Kollege, und habe mich überzeugen müssen, daß man Parkuhren sehr viel schneller, nämlich mit einem Blick in der gesamten Reihe, übersieht, während man nach den Parkscheiben im einzelnen hinschauen muß.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Flämig.
— Wieso?
— Bitte!
Herr Kollege Müller-Hermann, der Vorstand der Deutschen Bundesbahn hat dem Bundesminister für Verkehr persönlich unter dem 11. November 1965 einen Vierjahres-Investitionsplan mit einer Gesamthöhe von 12,1 Milliarden DM vorgelegt. Danach beabsichtigt die Deutsche Bundesbahn, in den Jahren 1966 bis 1969 jährlich rund 3 Milliarden DM zu investieren. Dieser Investitionsplan bedarf, bevor er offiziell vorgelegt werden kann, der Behandlung und Zustimmung durch den Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn. Dann erst kann die Bundesregierung diesen umfang- I reichen Plan auf seinen Inhalt und seine Finanzierungsmöglichkeiten im einzelnen prüfen.
Bei dem Volumen des Kapitalbedarfs der Deutschen Bundesbahn muß insbesondere in Betracht gezogen werden, daß die Finanzierungsmöglichkeiten wesentlich von der Ergiebigkeit des Kapitalmarkts abhängen, da nur etwa 50 % der von der Deutschen Bundesbahn geplanten Investitionen durch Abschreibungen und durch Baukostenzuschüsse der Länder zur Elektrifizierung • gedeckt werden. Die Bundesregierung wird jedoch wie bisher bemüht bleiben, die auch von ihr als notwendig angesehenen Rationalisierungs- und Modernisierungsinvestitionen der Deutschen Bundesbahn nach Maßgabe der jeweiligen Haushaltslage im Rahmen ihres verkehrspolitischen Programms für die 5. Legislaturperiode zu unterstützen.
Ich darf dazu bemerken, daß das Investitionsprogramm der Deutschen Bundesbahn nicht mit den Programmen für Bundeswasserstraßen und Bundesfernstraßen zu vergleichen ist, weil es sich bei den Investitionen der Deutschen Bundesbahn nicht nur, wie bei den beiden anderen Verkehrsarten, um reine Fahrweginvestitionen handelt. Zudem ist festzuhalten, daß die Bedienung der Vierjahrespläne für die Bundeswasserstraßen ebenfalls nur nach Maßgabe der Haushaltslage erfolgen konnte und erfolgen kann. Bisher war es nicht möglich, die eingeplanten Raten für die vorgesehenen Maßnahmen auch nur annähernd gemäß dem Plansoll zu bedienen, obwohl es sich bei diesen Plänen in erster
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Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
Linie um die unbedingt notwendigen Anpassungsmaßnahmen handelt. Beim Straßenbau dagegen ist die Bedienung infolge der Zweckbindung eines wesentlichen Teiles der Mineralölsteuer und durch Aufnahme von Öffa-Krediten beim zweiten Vierjahresplan mit rund 13 Milliarden einigermaßen gesichert. Der erste Vierjahresplan konnte dagegen bekanntlich auch nur zu rund 88 % bedient werden.
Eine weitere Frage?
— Bitte, Herr Abgeordneter Seibert!
Herr Präsident, ich frage nach der Geschäftsordnung, ob es möglich ist, daß eine bereits übernommene Frage, die nach Absprache mit dem zur Zeit in Israel befindlichen Abgeordneten Rawe erfolgte, in dieser Weise von Herrn Dr. Müller-Hermann übernommen werden kann, und ich möchte Herrn Dr. Müller-Hermann fragen, in welchem Einverständnis er diese Frage übernommen hat.
Sie können nicht den Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann fragen, Sie müssen mich fragen, Herr Kollege Seibert.
Gut, Herr Präsident, ich frage Sie.
Ich möchte folgendes klarstellen. Die Fragen in der Fragestunde sind ein persönliches Recht des einzelnen Abgeordneten, nicht ein Recht der Fraktionen. Wenn ein Abgeordneter seine Frage nicht selber hier stellen kann und einen anderen Abgeordneten mit der Wahrnehmung seiner Interessen in diesem Falle beauftragt, dann ist niemand berechtigt, diesen Auftrag aus freien Stücken für sich selber zu übernehmen. Ich bin — ich sage das ganz offen — vom Herrn Abgeordneten Müller-Hermann überfahren worden.
Das ist die Situation.
Im übrigen möchte ich sagen, daß Interpretationen von Geschäftsordnungsbestimmungen in der Fragestunde nicht selber vorgenommen werden können. Die Frage, wenn sie strittig sein sollte, müßte noch im Ältestenrat oder von einem anderen zuständigen Gremium untersucht werden. Ich selber habe jetzt meine Antwort gegeben.
— Jetzt haben Sie das Wort. Zu einer Frage!
— Nein, das lasse ich nicht zu.
— Das lasse ich nicht zu.
— Ich entscheide hier, und ich lasse keine Fragen über die Handhabung der Geschäftsordnung durch mich zu.
— Schön, das ist im Protokoll; soll auch so sein.
Wir fahren fort. Noch eine Zusatzfrage? — Keine. Frage XI/27 — des Abgeordneten Rawe —:
Wird die Bundesregierung den Vorschlag aufgreifen, die für die Finanzierung von Investitionen der Deutschen Bundesbahn notwendigen Mittel durch Veräußerung von Bundesvermögen zu beschaffen?
Die Bundesregierung sieht zur Zeit keine Möglichkeit, durch Veräußerung von Bundesvermögen für eine Finanzierung der Investitionen der Deutschen Bundesbahn Mittel zur Verfügung zu stellen, zumal Vermögenswerte des Bundes, die in absehbarer Zeit veräußert werden können, keine Erlöse in der Größenordnung erwarten lassen, wie sie laufend für die Finanzierung der Bundesbahninvestitionen erforderlich sind. Ich darf nochmals daran
erinnern, daß der jährliche Investitionsbedarf der Deutschen Bundesbahn bei etwa 3 Milliarden DM liegt und daß dieser Jahresbedarf sicher mindestens in den nächsten zehn Jahren erforderlich sein wird, wenn die Deutsche Bundesbahn auf der Höhe der technischen Entwicklung bleiben soll.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe auf die Frage XI/28 — des Abgeordneten Dr. Schmidt
— übernommen vom Herrn Abgeordneten Jahn —:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Empfehlung des Automobilclubs von Deutschland, Autobahngebühren von Ausländern beim Grenzübertritt pauschal zu erheben, deren Heimatstaaten Autobahnbenutzungsgebühren von deutschen Staatsangehörigen erheben?
Die Bundesregierung hält die Empfehlung des Automobilclubs von Deutschland, Autobahngebühren von denjenigen Ausländern zu erheben, deren Heimatstaaten solche Gebühren von deutschen Staatsangehörigen verlangen, nicht für nützlich.
Die Erhebung von Autobahngebühren in einzelnen ausländischen Staaten beruht auf anderen Finanzsystemen in diesen Ländern. Dort werden die Kosten für die Autobahnen, anders als in Deutschland, nicht durch zweckgebundene Steuermittel, sondern im wesentlichen durch Anleihen und durch
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Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
die Erträge aus der Gebührenerhebung gedeckt. In diesen Ländern müssen nicht nur die Ausländer, sondern auch die Einheimischen Benutzungsgebühren für die Autobahn entrichten. Es ist kein ausländischer Staat bekannt, in dem nur Ausländer zur Zahlung der Gebühren herangezogen werden. Eine einseitige Belastung der Ausländer findet also in diesen Staaten nicht statt.
In der Bundesrepublik werden dagegen grundsätzlich keine Autobahngebühren erhoben. Wollte man sie einseitig nur von bestimmten Ausländern verlangen, so würde dies vom Ausland, besonders von den betroffenen Ländern — meines Erachtens mit Recht — als einseitige und ungerechte Benachteiligung angesehen werden, zumal ja von Fahrzeugen, die über Grenzübergänge an Bundes- oder Landesstraßen hereinkommen, derartige Abgaben gar nicht gefordert werden können. Die nachteilige psychologische Auswirkung einer solchen Regelung würde in keinem Verhältnis zu den finanziellen Erfolg stehen. Denn nach dem Vorschlag des Automobilclubs von Deutschland sollen nur diejenigen ausländischen Kraftfahrer Gebühren bezahlen, in deren Heimatstaaten die Benutzung der Autobahn ebenfalls gebührenpflichtig ist. Das sind in Europa zur Zeit nur Italien und Frankreich. Die von der SBZ erhobenen Gebühren unterscheiden sich dem Grunde nach von den Benutzungsgebühren in Italien und Frankreich. Da es sich bei der SBZ nicht um Ausland handelt, ist die dortige Erhebung von Benutzungsgebühren bekanntlich bisher nicht mit entsprechenden Maßnahmen auf unserer Seite beantwortet worden.
Frage XI/29 — des Abgeordneten Dr. Müller —:
Entspricht es den Tatsachen, daß in letzter Zeit etwa 20 % der leitenden Techniker und Wissenschaftler der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt in Braunschweig wegen schlechter Bezahlung in die Industrie abgewandert sind?
Bitte, Herr Minister!
Leider wandern von den lehrfreien Flugforschungseinrichtungen im Bereich der Deutschen Gesellschaft für Flugwissenschaften e. V. sowohl Wissenschaftler wie Ingenieure, Techniker und Facharbeiter ständig ab. Die Vorstände der beiden großen, in der Deutschen Gesellschaft für Flugwissenschaften e. V. zusammengeschlossenen Forschungseinrichtungen — die Deutsche Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt in Porz-Wahn und die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt in Braunschweig — haben in Denkschriften über ihre Personalverluste berichtet. Danach haben beide Anstalten in den letzten eineinhalb Jahren mehr als 20 °/o ihres wissenschaftlichen Personals verloren. Abwanderungsziele sind in erster Linie die Luft- und Raumfahrtindustrie des In- und Auslands, ferner auch die Hochschulen in der Bundesrepublik und ausländische und internationale Flugforschungseinrichtungen oder -organisationen. Als Grund für die Abwanderung werden bessere Besoldung, bessere Arbeitsbedingungen und bessere Aufstiegschancen angegeben,
die von den abwerbenden Institutionen geboten werden können.
Den für die Finanzierung und Betreuung unserer Anstalten zuständigen Bundes- und Länderressorts sind diese Schwierigkeiten sehr wohl bekannt. Beratungen über geeignete Maßnahmen zu ihrer Beseitigung, wie Verbesserung der Besoldung, Schaffung von Pensionsmöglichkeiten usw. werden überlegt, sind jedoch bei der Haushaltslage nur sehr schwer durchzusetzen. Ein Weg zu einer durchgreifenden Verbesserung der Lage könnte im Aufbau eines besonderen Forschungstarifs für die Mitarbeiter unserer Forschungsanstalten gesucht werden, wie dies auch bei den Atomforschungsanstalten bereits der Fall ist.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Müller.
Herr Minister, entspricht es den Tatsachen, daß auch andere Gründe, z. B. Ansätze von Ausgaben für Reisekosten zur Teilnahme an wissenschaftlichen Kongressen, so niedrig gehalten sind, daß eine Reihe der führenden Wissenschaftler an diesen Anstalten nicht in der Lage ist, an solchen Kongressen teilzunehmen?
Ich möchte das durchaus annehmen; denn wir sind ja in all diesen Dingen sehr sparsam, Herr Kollege, — auch bei den Ministerien.
Noch eine Frage.
Herr Minister, glauben Sie, daß die Sparsamkeit auf diesem Gebiet wirklich so notwendig ist? Handelt es sich nicht hier um verhältnismäßig kleine Beträge, die zur Besserung der tatsächlichen Lage beitragen könnten?
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister ' für Verkehr: Herr Kollege, wenn Sie sich diese Reiseanträge einmal ansehen würden, wie ich sie mir jedesmal ansehe, würden Sie feststellen, daß — verständlicherweise — eine sehr große Zahl von Persönlichkeiten an solchen Kongressen und ähnlichen Tagungen teilzunehmen wünscht und daß es ihnen dabei auch nicht darauf ankommt, Kongresse zu besuchen, die in anderen Erdteilen stattfinden. Auch das ist verständlich. Aber man muß dann natürlich die Zahl der Teilnehmer mit den Möglichkeiten, die finanziell geboten sind, in Einklang bringen.
Keine weitere Frage? — Herr Abgeordneter Berkhan.
Herr Minister, können Sie dem Hause mitteilen, wie lange Ihnen diese Schwierigkeiten ungefähr bekannt sind Und was Sie unternommen haben, um diese Schwierigkeiten zu beheben?
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Ich glaube, ich habe das in der Antwort schon angegeben. Diese Schwierigkeiten sind uns von Anfang an bekannt. Ein Fluktuieren bei derartigen Institutionen ist rein naturgegeben, weil naturgemäß junge Kräfte, die zunächst dort ihre Tätigkeit aufnehmen, nach anderen Möglichkeiten suchen, um ihre weitere Entwicklung zu fördern. Das ist nicht eine spezifische Angelegenheit dieser Art von Forschungsanstalten, sondern es ist ganz generell so, daß die jungen Leute und auch ältere, wenn ihnen Chancen geboten werden, sie ergreifen. Denken Sie daran, daß der Leiter einer Abteilung in einer solchen Institution z. B. zum ordentlichen Professor und Direktor eines Instituts an einer Technischen Hochschule berufen wird. Ähnliche Dinge gibt es sehr oft.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Berkhan.
Herr Minister, können Sie einen Zusammenhang zwischen Ihren Äußerungen und der beachtenswerten Rede des Herrn Kollegen Strauß gestern in dieser Hinsicht darlegen?
Nun, ich will dazu nichts sagen. Herr Kollege Strauß hat sich, glaube ich, nicht speziell auf diese beiden Forschungsanstalten bezogen, nach denen ich hier gefragt worden bin, sondern ganz allgemeine Ausführungen gemacht.
Keine weitere Frage.
Ich rufe auf die Frage XI/30 — des Herrn Abgeordneten Ramms, die von Herrn Ollesch übernommen wird —:
Ist die Bundesregierung bereit, die Verordnung über das Fahren mit Spikes-Winterreifen gegebenenfalls über den 10. März 1966 hinaus zu verlängern?
Ich bitte, Herr Präsident, die beiden Fragen des Herrn Abgeordneten Ramms gemeinsam beantworten zu dürfen, da sie den gleichen Sachverhalt betreffen, wenn der den Herr Kollegen Ramms vertretende Kollege einverstanden ist.
Einverstanden?
— Dann rufe ich gleichzeitig auf die Frage XI/31 — des Herrn Abgeordneten Ramms —:
Liegen der Bundesregierung Untersuchungsergebnisse vor über die Einwirkung von Winterreifen mit Spikes auf die Straßenoberfläche?
Eine Verlängerung des Benutzungszeitraums über den 10. März 1966 hinaus ist nicht ausgeschlossen, falls infolge der Wetterlage eine solche Maßnahme im Interesse der Verkehrssicherheit geboten und aus Gründen der Straßenschonung vertretbar ist. Es besteht jedoch weitgehende Übereinstimmung, daß das Datum des 10. März richtig angesetzt sei. Die Bundesregierung kennt die Erfahrungen der Straßenbauverwaltungen der Länder hinsichtlich der Einwirkung der Spikes-Reifen auf die Straßenoberfläche. Sie hat ferner an der Technischen Universität Berlin systematische Versuche in dieser Hinsicht durchführen lassen.
Eine zusätzliche Beanspruchung der Fahrbahnoberflächen durch Spikes-Reifen ist vornehmlich dann festzustellen, wenn schnee- und eisfreie Straßen mit Spikes-Reifen befahren werden. Auf denjenigen Straßen, die im letzten Winter in größerm Umfange mit Spikes-Reifen befahren worden sind, vor allem in Süddeutschland, ist ein gewisser Verschleiß an den Fahrbahndecken festgestellt worden, und zwar in der Hauptsache in Krümmungen, Steigungen und an Bremsstrecken. Auch die Untersuchungen an der Technischen Universität Berlin haben eine bemerkenswerte Einwirkung der Spikes-Reifen auf die schnee- und eisfreien Fahrbahnoberflächen bei einer größeren Zahl der Überrollungen ergeben. Ein abschließender Bericht über die Versuche von Herrn Professor Wehner soll im nächsten Sommer vorgelegt werden. Auch die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen in Genf überprüft international die Verwendung solcher Reifen. Bisher ist allerdings über die Ergebnisse dieser Untersuchungen noch nichts bekannt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, sind Sie nicht der Meinung, daß Sicherheit jeder eventuellen Reglementierung von Spikes-Reifen vorgeht?
Nun, es kommt darauf an, Herr Kollege, ob ein Spikes-Reifen, wenn er auf eisfreien und schneefreien Straßen verwendet wird, nicht auch gewisse Gefahren bringt. Das ist nicht ausgeschlossen; denn sonst müßten wir dazu kommen, daß wir SpikesReifen das ganze Jahr benutzen.
Noch eine Frage.
Herr Minister, Sie werden wohl zugeben, daß es keinem Autofahrer einfallen würde, nachdem für Spikes-Reifen eine Geschwindigkeitsbegrenzung bereits von den Reifenfirmen vorgesehen ist, im Sommer mit SpikesReifen zu fahren?
Nein. Aber deswegen ist ja die Zeit vom 10. November bis zum 10. März festgesetzt, die normalerweise den Winter umfaßt. Ich habe einleitend bei der Beantwortung der Frage des Herrn Kollegen Ramms ausgeführt, daß eine Verschiebung dieses Zeitpunkts vorn 10. März bei entsprechenden Witterungsverhältnissen möglich sei.
Frage XI/32 — des Abgeordneten Felder —:
Ist dem Bundesverkehrsminister bekannt, daß die kniehohe Brüstung auf der Brücke bei der Raststätte Feucht keinen genügenden Schutz vor dem Sturz in den 15 m tiefen Autobahnschacht gewährleistet?
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 279
Die Bundesautobahn München—Berlin überquert bei der Raststätte Feucht die Schwarzach. Dabei wird jede Richtungsfahrbahn mit je einer gewölbten Brücke über den Fluß geführt. Dies ist auch an zahlreichen anderen Stellen der Fall. Die im Bereich deis Mittelstreifens vorhandene Lücke wird, wie auf unzähligen anderen Gewölbebrücken und Durchlässen, gegen von der Fahnbahn abirrende Fahrzeuge durch eine 60 cm hohe und 40 cm starke Brüstung gesichert. Ein darüber hinausgehender Schutz für Fußgänger ist nach Auffassung unserer Dienststellen nicht erforderlich, weil diese sich, sofern sie sich überhaupt auf der Autobahn bewegen — was bekanntlich verboten ist —, sich auf den Autobahnen am Außenrand der Fahrspuren bewegen sollten, und nicht am Innenrand.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß sich an dieser Stelle ein Todesfall deshalb ereignet hat, weil ein Kraftfahrer, dessen Wagen stehengeblieben war, beim Beschreiten der Autobahn abgestürzt ist?
Ich kenne diesen Fall sehr genau, weil ich mich dafür interessiert habe, wie das passiert ist. Ich begreife nicht, daß dieser Fahrer nicht auf der Außenseite, sondern auf der Innenseite der Fahrbahn gegangen ist.
Keine weitere Frage. Dann kommen wir zur Frage XI/33 — des Abgeordneten Flämig —:
Entsprechen Pressemeldungen den Tatsachen, wonach in den USA in Kürze alle neuen Kraftfahrzeuge mit einer Vorrichtung versehen sein müssen, die schädliche Abgase der Motoren beseitigt?
Herr Minister!
Herr Präsident, ich bitte, die beiden Fragen des Herrn Abgeordneten Flämig gemeinsam beantworten zu dürfen, da sie den gleichen Sachverhalt betreffen, wenn der Herr Abgeordnete einverstanden ist.
Dann rufe ich noch die Frage XI/34 — des Abgeordneten Flämig — auf :
Ist damit zu rechnen, daß auch in der Bundesrepublik den Herstellern von Kraftfahrzeugen der in Frage X1/33 erwähnten Bestimmung entsprechende bindende Auflagen gemacht werden?
Sie betreffen ferner den gleichen Gegenstand wie die gestern von mir beantwortete Frage des Herrn Kollegen Felder. Dabei möchte ich meine Antwort auf seine Zusatzfrage gleichzeitig richtigstellen.
Nach einer mir heute vorliegenden Mitteilung des Auswärtigen Amts ist in den Vereinigten Staaten
seit dem 20. Oktober 1965 ein Rahmengesetz in Kraft, das die gesetzlichen Voraussetzungen für künftige Bestimmungen zur Abgasebekämpfung bei Kraftfahrzeugen schafft. Technische Grenzwerte für die luftverunreinigenden Stoffe und die Inkraftsetzung dieser Maßnahmen sind in das Gesetz selbst nicht aufgenommen, sondern weiteren Ausführungserlassen vorbehalten, die noch nicht verabschiedet sein sollen. Damit ist in den Vereinigten Staaten jetzt die gleiche gesetzliche Regelung geschaffen, wie sie bei uns bereits in § 47 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung seit 1960 festgelegt ist.
Mit dieser Darstellung möchte ich meine gestrige Antwort auf die Zusatzfrage des Herrn Kollegen Felder in formeller Hinsicht klarstellen. Meine gestrigen Ausführungen zu der Zusatzfrage waren insoweit mißverständlich, als ich zwischen Gesetz und Ausführungsvorschriften nicht eindeutig unterschieden habe. Letztere sind — wie auch bei uns — noch nicht erlassen, so daß praktische Ergebnisse aus der Annahme des Rahmengesetzes in den Vereinigten Staaten auch noch nicht vorliegen.
Unsere Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung verlangt seit 1960, daß die Verunreinigung der Luft durch Kraftfahrzeugabgase das nach dem jeweiligen Stand der Technik unvermeidbare Maß nicht übersteigt. Zur Durchführung dieser Forderung sind Richtlinien über die zulässigen Grenzwerte der schädlichen Bestandteile in den Abgasen entsprechend den amerikanischen Forderungen und nach eingehenden Untersuchungen in Vorbereitung, die zum Teil 1966 herauskommen werden. Diese werden ab einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt die Hersteller von Kraftfahrzeugen in der Bundesrepublik verpflichten, ihre Fahrzeuge in der geeigneten Weise zu bauen oder auszurüsten. Ich habe darüber hinaus in meiner Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Felder gestern schon Einzelheiten mitgeteilt.
Noch eine Zusatzfrage? — Bitte, Herr Abgeordneter Flämig!
Herr Minister, Sie können also im Moment noch keinen Zeitpunkt, auch noch keinen ungefähren Zeitpunkt angeben, wann eine solche Verordnung in Kraft treten würde?
Das kann ich deswegen nicht, weil diese Verordnungen ja mit den Ländern noch besprochen werden müssen und der Termin des Inkrafttretens mit ihnen abzustimmen ist.
Herr Minister, trifft es zu, daß zumindest ein großes deutsches Autobomilwerk eine wirksame Schutzvorrichtung gegen Autoabgase entwickelt hat, diese aber bisher nicht in Serienwagen eingebaut hat, da entsprechende Verordnungen der Bundesregierung noch nicht erlassen wurden und der Einbau zu Kostenerhöhungen führen würde, die die Konkurrenzunternehmen zunächst nicht zu tragen hätten?
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Herr Kollege, ich weiß nur darüber Bescheid, daß sich das Volkswagenwerk bemüht, eine derartige Vorrichtung zu entwickeln, und zwar mit Rücksicht auf die auf das Volkswagenwerk beim Export zukommenden Anforderungen. Einzelheiten darüber hat uns das Volkswagenwerk noch nicht bekanntgegeben. Eine Typprüfung hat noch nicht stattgefunden. Ich kann deswegen auch über die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen und Konstruktionen des Volkswagenwerks noch nichts Endgültiges aussagen.
Noch eine Frage, Herr Abgeordneter Flämig.
Herr Minister, halten Sie es für möglich, daß auch andere bundesdeutsche Automobilwerke in der Entwicklung derartiger Vorrichtungen weiter sind, als sie es zur Zeit öffentlich zugeben, und nur darauf warten, daß entsprechende Verordnungen von der Bundesregierung erlassen werden?
Ich möchte die Frage so beantworten: Ich halte es durchaus für möglich, daß sich die Automobilfabriken mit dieser wichtigen Frage intensiv beschäftigen. Wir haben sie immer wieder aufgefordert, die Konstruktion dieser Vorrichtungen, die ja in ihrer Verantwortung liegt, voranzutreiben; ich glaube aber nicht, daß sie diese Dinge etwa deshalb zurückhalten, weil sie auf Verordnungen von unserer Seite warten. Das ist nicht die Methode, mit der die Automobilindustrie Verbesserungen in einer Frage, die ja außerordentlich aktuell ist — mit solchen Verbesserungen könnte sie ja auch sehr wesentliche Reklamevorteile einheimsen —, zurückhält.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schmidt .
Herr Minister, nachdem Sie gestern im gleichen Zusammenhang auf die Möglichkeiten der technischen Prüfstelle in Essen hingewiesen haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie es für richtig halten, daß dort außergewöhnlich hohe Prüfungsgebühren verlangt werden, die in einem Falle, wie ich hörte, nur für die ersten Prüfungen allein 8000 DM betragen.
Ich kann das im einzelnen nicht sagen. Die Prüfungsstellen der Technischen Überwachungsvereine habe ja klare Richtlinien — genau wie Rechtsanwälte, Ärzte und andere auch —, nach denen sie entsprechend dem Maß ihrer Tätigkeit auch Gebühren erheben können.
Noche eine Frage.
Herr Minister, können Sie mir einen Weg nennen, wie Erfinder,
die finanziell nicht gut bestückt sind, dort trotzdem
zu einer Prüfung ihrer Erfindung gelangen können?
Man kann nicht verlangen, daß diese Prüfungen zu verschiedenen Sätzen oder nach verschiedenen Maßstäben vorgenommen werden, Herr Kollege. Wenn eine Prüfung einen bestimmten Aufwand erfordert, muß das bezahlt werden. Wenn Sie sich haben operieren lassen und nicht in einer Versicherung sind, müssen Sie die Operation auch bezahlen, gleichgültig, ob Sie nun reich oder arm sind.
Keine weiteren Fragen mehr. Die Fragestunde ist geschlossen.
Außerhalb der Tagesordnung erteile ich nach § 36 der Geschäftsordnung zu einer tatsächlichen Erklärung dem Abgeordneten Picard das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf Grund der Angaben des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden — „Finanzen und Steuern" Reihe 3, Untertitel: Schulden und Vermögen von Bund, Ländern und Gemeinden — darf ich folgendes feststellen:
Zum 31. Dezember 1964 betrug die Kreditmarktverschuldung der Gemeinden im Bundesdurchschnitt 377 DM pro Kopf der Bevölkerung, in Hessen 585 DM, das sind 55 % mehr. Diese Mehrschulden machen in Heissen allein 1 034 000 000 DM aus.
In Hessen leben 9,4 % der Bundesbevölkerung, jedoch entfallen darauf 14,7 % .der Gemeindeschulden. Die Kapitalmarktschulden der hessischen Gemeinden betragen das Zweieinhalbfache des Jahressteueraufkommens. Kapitalmarktschulden des Landes sind kaum vorhanden.
Die kreisfreien Städte in Hessen sind mit 1122 DM pro Kopf der Bevölkerung verschuldet, im Durchschnitt der Bundesländer mit 574 DM.
Die kreisangehörigen Gemeinden sind in Hessen mit 281 DM verschuldet, im Durchschnitt der Bundesländer mit 237 DM.
Die Landkreise sind in Hessen mit 27 DM pro Kopf der Bevölkerung verschuldet, im Durchschnitt der Bundesländer mit 21 DM.
Im Jahre 1964 lag die Neuverschuldung der kreisfreien Städte Hessens 95 %, die der kreisangehörigen Gemeinden 17 %, die der Kreise 29 % über dem Bundesdurchschnitt.
Der Flughafen Frankfurt ist eine Aktiengesellschaft, an der die Stadt nur gering beteiligt ist. Diese Beteiligung wirkt sich lediglich vermögensvermehrend aus. In der Höhe der Schulden der Stadt Frankfurt schlägt der Flughafen nicht zu Buch.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 281
Meine Damen und Herren, kehren wir zurück zu Punkt 2 und 3 der Tagesordnung: Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung und über das Haushaltssicherungsgesetz.
Das Wort hat der Abgeordnete Benda.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Dr. Heinemann vor der Mittagspause geben mir Veranlassung, zu einigen seiner Bemerkungen Stellung zu nehmen, wobei ich teilweise an einige von ihm dargestellte Gedanken anknüpfen möchte, teilweise aber — und dieser Aufgabe möchte ich mich sofort am Eingang unterziehen — einige der von ihm aufgestellten Behauptungen richtigstellen möchte.
Der Herr Kollege Dr. Heinemann hat sich ziemlich zum Schluß seines Diskussionsbeitrages mit Fragen im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform beschäftigt und in diesem Zusammenhang behauptet — und er hat den von ihm behaupteten Tatbestand mehrfach bedauert —, daß über den Sonderausschuß „Strafrecht" in der vergangenen Wahlperiode keine stenographischen Berichte hergestellt oder verteilt worden seien und daß dadurch die öffentliche Diskussion dieser zweifellos wichtigen Frage erschwert oder unmöglich gemacht werde.
Ich bedauere, dem Hause sagen zu müssen, daß diese Behauptung vom Anfang bis zum Ende falsch ist.
Richtig ist vielmehr folgendes. Die Protokolle des Sonderausschusses Strafrecht sind Wortprotokolle. Sie werden vom Stenographischen Dienst dieses Hauses aufgenommen;
nach meiner Kenntnis werden sie außerdem auf Tonband aufgenommen. Sie werden in einer Auflage von 1000 Exemplaren — ich wiederhole: 1000 — pro Sitzung hergestellt und verteilt.
Von diesen 1000 Stück erhalten insbesondere folgende Adressaten Exemplare: Erstens sämtliche Mitglieder des Sonderausschusses „Strafrecht" sowie des Rechtsausschusses, insbesondere auch der Herr Kollege Heinemann, der diesem Ausschuß angehört hat,
zweitens sämtliche Fraktionen dieses Hauses, drittens sämtliche Bundesministerien, viertens die oberen Bundesgerichte sowie der Generalbundesanwalt; weiterhin der Bundesrat 180 Exemplare, weiterhin sämtliche deutsche Universitätsbibliotheken, weiterhin sämtliche juristischen Seminare der deutschen Universitäten
und außerdem eine Reihe von juristischen Instituten, insbesondere die Vereinigung deutscher Strafrechtslehrer,
weiterhin zehn verschiedene juristische Zeitschriften, der Deutsche Anwaltsverein, der Strafrechtsausschuß des deutschen Richterbundes, der Bund der Strafvollzugsbediensteten und weitere Einzelpersonen.
— Sofort, Herr Kollege Heinemann, wenn ich diesen Teil abgeschlossen habe.
Meine Damen und Herren, einen ähnlich umfangreichen Verteilerschlüssel hat kein anderer Ausschuß dieses Hauses. Die Protokolle des .Sonderausschusses „Strafrecht" sind die einzigen von allen Ausschußprotokollen dieses Hauses, die nicht nur abgezogen, sondern gedruckt werden. Ich habe zu Ihrer Information, Herr Kollege Heinemann, diese Exemplare mitgebracht und stelle sie Ihnen gern zur Einsicht zur Verfügung.
Wollen Sie jetzt die Frage zulassen?
Sofort, Herr Präsident, wenn ich den Gedanken zu Ende gebracht habe.
Es besteht weiterhin, wenn ich das abschließend zum Tatsächlichen sagen darf, für jeden Interessierten deutschen Staatsbürger die Möglichkeit, bei einem Verlag in Bad Godesberg sämtliche Exemplare dieser Protokolle zu beziehen. Dieser Verlag erhält unbeschadet der 1000 Exemplare, die ich erwähnt habe, eine Sonderauflage, so daß also die Möglichkeit der Verteilung in die Öffentlichkeit nicht etwa durch die 1000 begrenzt ist. Soweit der Tatbestand.— Bitte, Herr Kollege Dr. Heinemann.
Herr Benda, in der Annahme, daß Sie die gleichen Protokolle wie ich bekommen, möchte ich Sie fragen, ob Sie jemals ein Protokoll erhalten haben, das wörtlich wiedergab, was im Ausschuß geredet wurde, oder ob Sie nicht vielmehr — wie ich jedenfalls — lediglich Protokolle in indirekter Rede bekommen, die überarbeitet sind von einem — wie ich annehme — Mitarbeiter des Justizministeriums?
Herr Kollege Heinemann, es tut mir leid, daß ich Ihnen daraufhin weiter folgendes erklären muß. Ich bin dahin informiert, daß Sie, der Sie ja dem Ausschuß angehört haben — ich weiß nicht, ob bei einem oder bei mehreren Anlässen —, nicht nur zu Diskussionsbeiträgen, sondern auch zu Referaten in diesem Ausschuß Gelegenheit gehabt haben. Es ist selbstverständlich in diesem Ausschuß Übung — ich bin dahin informiert, daß Sie von dieser Übung auch Gebrauch gemacht haben —, den Entwurf des Berichtes, bevor er ge-
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druckt wird, durchzusehen und zu korrigieren bzw. seinen Inhalt zu bestätigen.
Bitte schön!
Herr Benda, ich habe gefragt, ob Sie jemals ein Protokoll bekommen haben, das wörtlich das wiedergab, was gesagt wurde, oder ob Sie — wie ich jedenfalls — Meinungsprotokolle bekommen haben, das heißt Protokolle, die in indirekter Rede nach Stilisierung durch einen Mitarbeiter — wie ich annehme: aus dem Justizministerium — das beinhalten, was gesagt worden ist.
Herr Kollege Dr. Heinemann, ich bedauere aufrichtig, daß Sie sich auf die Behauptung kaprizieren, daß der Inhalt der Protokolle nicht die Ausführungen des jeweiligen Redners, sondern, wie Sie meinen, des Bundesjustizministeriums wiedergibt. Ich möchte meinen, daß man die Herren des Stenographischen Dienstes dieses Hauses gegen einen darin steckenden Vorwurf hier in Schutz nehmen sollte.
Gestatten Sie noch eine Frage, Herr Abgeordneter? — Bitte sehr.
Herr Kollege Benda, nachdem Sie nun Ihren Spaß daran gehabt haben, hier eine Frage aufzuwerfen, über deren Korrektheit man streiten kann
— er hat seinen Spaß daran gehabt; wollen Sie ihm ihn verderben, Herr Rasner? —, möchte ich Sie fragen, ob Sie denn mit Dr. Heinemann und uns wenigstens darin übereinstimmen, daß das sachliche Anliegen gerechtfertigt ist, die Arbeit des Strafrechtsausschusses möge sich mehr im Lichte der Öffentlichkeit abspielen als bisher.
Herr Kollege Jahn, ich wollte gerade auf diesen Teil des Problems zu sprechen kommen. Ich möchte nur den Kollegen von der SPD abschließend zu diesem tatsächlichen Teil sagen: bevor Sie sich vielleicht weiter kaprizieren, würde ich vorschlagen, daß Sie den PP-Pressedienst vom heutigen Tage, der bereits die Ausführungen des Herrn Kollegen Dr. Heinemann selbst korrigiert hat, lesen. Dann sehen Sie vielleicht aus Ihren einen Publikationen, wie die Situation eingeschätzt wird.
Herr Kollege Jahn, — — Nein, ich wollte jetzt zu Ihnen kommen, wenn Sie es freundlichst gestatten. Herr Kollege Jahn, ich stimme Ihnen darin zu, daß die Arbeit an der Strafrechtsreform eine wichtige Sache ist, an der die deutsche Öffentlichkeit beteiligt werden muß. Darüber hat in diesem Hause nie eine Meinungsverschiedenheit bestanden. Das geschieht — Sie wissen es genauso wie ich, Herr Kollege Jahn
— zunächst einmal im Kreise der unmittelbar interessierten Teile der Rechtswissenschaft, also insbesondere der Strafrechtswissenschaft. Es ist auch eine Diskussion über Grundfragen der Strafrechtsreform im Gange, die Sie beinahe in jeder Nummer einer jeden deutschen juristischen Fachzeitschrift in den letzten Monaten verfolgen können. Ich tue das mit großem Interesse. Die Strafrechtslehrer haben nicht nur ein Recht darauf, sondern wir sind ihnen auch sehr dankbar für diese Unterstützung in der Klärung von ganz wichtigen Grundfragen, mit denen wir ja alle miteinander, soweit wir in diesem engen Bereich unserer Arbeit tätig sind, in den nächsten Jahren zu tun haben werden. Natürlich soll das geschehen. Und natürlich gab es schon in der Vergangenheit über eine ganze Reihe von Fragen, die mit der Strafrechtsreform zusammenhängen, eine breite öffentliche Diskussion. Ich erinnere an Diskussionsbeiträge zu den umstrittenen und schwierigen Problemen etwa der ethischen Indikation und der Bestrafung des Ehebruchs oder ähnlichen Themen. Ich will die Sache jetzt gar nicht diskutieren. Aber Sie, Herr Kollege Dr. Heinemann und Herr Kollege Jahn, werden mir doch sicher darin recht geben, daß in der deutschen Öffentlichkeit schon eine Diskussion über diese Fragen zu Recht stattgefunden hat und auch in Zukunft stattfinden wird. Soweit es auf uns ankommt und auf die technischen Möglichkeiten dieses Hauses, werden wir diese Bemühungen selbstverständlich unterstützen.
Aber ich möchte vor allem die Gelegenheit benutzen, einmal mit einem Wort der Anerkennung darauf hinzuweisen, daß insbesondere die Mitarbeiter des Sonderausschusses „Strafrecht" unter sehr schwierigen technischen Verhältnissen eine, wie ich glaube, sehr verantwortungsvolle und gute Arbeit in der vergangenen Wahlperiode geleistet haben. Wenn man die Ausführungen des Herrn Dr. Heinemann hier so für sich gelassen hätte, wäre wohl ein falscher Eindruck entstanden, mit dem man den Damen und Herren des Sonderausschusses durchaus unrecht getan hätte.
Gestatten Sie eine Frage, Her Abgeordneter? — Bitte, Herr Jahn!
Stimmen Sie mit mir darin überein, Herr Kollege Benda, daß bei aller Achtung vor der Bedeutung der juristischen Öffentlichkeit diese die deutsche Öffentlichkeit immerhin noch nicht ersetzen kann und in dieser Hinsicht noch einiges verbesserungsfähig ist?
Ich habe es ja soeben gesagt, Herr Kollege Jahn. Ich möchte diesen Punkt jetzt gern verlassen, wiederhole aber noch einmal mit einem Satz, daß selbstverständlich in einer derartigen Grundfrage des staatlichen Lebens überhaupt die ganze Öffentlichkeit an der Diskussion beteiligt werden muß. Ich glaube, sie tut es auch in einem erfreulichen Umfang, wobei allerdings manch-
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mal die Bedeutung bestimmter Einzelfragen zu Lasten anderer Fragen, die jetzt im Hause genauso wichtig oder wichtiger sind, unterschätzt wird.
Ich freue mich jedoch über diese Diskussion und möchte sie unter gar keinen Umständen abbrechen, im Gegenteil. Darüber besteht gar keine Meinungsverschiedenheit. — Herr Sänger, aber bitte, sehr gern. Die anderen werden mir — — Bitte, Herr Sänger; ich wollte Sie zu einer Frage einladen und nur Ihren eventuellen Nachfolgern sagen, daß ich gern anderen Themen, die auch eine gewisse Bedeutung haben, meine Aufmerksamkeit zuwenden möchte.
Herr Kollege Benda, würden Sie nicht eine ähnliche Methode vorziehen, wie wir sie im alten Deutschen Reichstag hatten, nämlich daß bei solchen die breite Öffentlichkeit interessierenden Angelegenheiten die Presse auch an Ausschußsitzungen teilnimmt?
Darüber kann man ersthaft reden. Das hängt mit einer Frage zusammen, die Herr Kollege Heinemann in einem anderen Zusammenhang erwähnt hat, die ich aber jetzt nicht im Detail durchsprechen möchte, weil sich mit dieser Grundfrage einmal die dafür zuständigen Gremien in diesem Hause und die Fraktionsvorstände befassen sollten.
Ich gehöre zu denjenigen, die — ich sage Ihnen das sehr gerne als meine persönliche Auffassung, wobei mir gar nicht bekannt ist, wie die Auffassungen in meiner Fraktion bei dem gegenwärtigen Stand sind — im alten Rechtsausschuß noch unter dem Vorsitz unseres früheren Kollegen Hoogen die Auffassung vertreten haben, daß es bei diesem oder jenem Punkt — ich will jetzt gar nicht die Themen nennen, um die es sich gehandelt hat — durchaus möglich und vielleicht nützlich gewesen wäre, die Dinge in Form eines, nennen Sie es öffentliches Hearing oder wie immer, zu diskutieren. Darüber sollte man gemeinsam sprechen und nachdenken. Ob das speziell für die Frage richtig ist oder nicht, ist eine Sache, die wir dann im einzelnen mal diskutieren wollen.
Sodann hat Herr Kollege Dr. Heinemann — um nun ein anderes Thema anzusprechen — hier behauptet, daß die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts durch die Novelle beengt sei. Er hat behauptet, daß das Bundesverfassungsgericht durch diese Änderung in seiner Arbeitsfähigkeit beengt werde, daß insbesondere die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde eingeengt sei. So habe ich es mir aufgeschrieben, Herr Kollege Heinemann; so haben Sie es ja wohl behauptet.
Ich bedauere sagen zu müssen, daß auch diese Behauptung falsch ist. Ich befürchte, daß ein ganz falscher Eindruck in der Öffentlichkeit entstehen könnte, wenn diese Behauptung so_ stehen bleibt. So ist die Sache nicht. Die Bemühung, die Zusammensetzung des Gerichts zu verändern — Herr Kol-
lege Heinemann, Sie haben es doch mit uns verfolgt —, geht auf eine Anregung des Bundesverfassungs Berichts selbst zurück, und der Kollege Ihrer Fraktion und unser Kollege Dr. Arndt gehörte zu denjenigen, die sich mit am stärksten für eine solche Änderung eingesetzt haben. Es kommt mir jetzt gar nicht darauf an, die Verantwortung festzulegen. Ich bin der Auffassung, daß die gegenwärtige Struktur des Bundesverfassungsgerichts noch gar nicht die ideale Lösung ist und daß man weiterhin überlegen muß, wie dies der Rechtsausschuß vor Jahren auch in Aussicht genommen hat, damit die Arbeitsfähigkeit des Gerichts nicht geschwächt, sondern eher gestärkt wird.
Bitte schön Herr Dr. Heinemann, Sie wollen dazu etwas sagen.
Herr Kollege Benda, sind Sie mit mir darin einig, daß ich gar nicht von der Strukturform des Bundesverfassungsgerichts, sondern davon sprach, daß nicht jede Verfassungsbeschwerde vom Gericht behandelt wird, sondern daß es der Annahme bedarf und daher auch Fälle von Verfassungsverletzungen unbehandelt abgetan werden können? Das ist der Kernpunkt.
Herr Kollege Heinemann, ich wollte soeben auf diese Frage kommen. Das war der zweite Teil Ihrer Bemerkungen zum Bundesverfassungsgericht. Ich sage dazu folgendes. Ich halte die Behauptung so, wie sie hier aufgestellt worden ist, für sachlich falsch,
die Behauptung, die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts sei eingeengt. Es gilt unverändert § 90 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, in welchem steht — ich zitiere sinngemäß aus dem Gedächnis; der Text steht ja sicher irgendwo zur Verfügung —: Jedermann kann das Bundesverfassungsgericht mit dem Mittel der Verfassungsbeschwerde anrufen, wenn er behauptet, in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Es gibt sodann eine Änderung — und diese meinen Sie, Herr Kollege Dr. Heinemann —, die in § 93 a des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes enthalten ist. Diese Bestimmung gibt dem Gericht die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung anzunehmen, die es entweder für offensichtlich unbegründet hält oder von denen es glaubt, daß sie keine grundsätzliche Verfassungsfrage klären oder daß sie — um es jetzt mal simplifiziert zu sagen; ich werde Ihnen gleich ein Beispiel aus der Rechtsprechung geben — der Entscheidung durch das höchste deutsche Gericht nicht würdig sind.
Herr Kollege Heinemann, Sie wissen genauso wie ich und jeder andere Jurist im Hause, der täglich mit einer ganzen Reihe von Briefen aus unserer Bürgerschaft befaßt wird, in denen sehr häufig die Behauptung auftaucht, diese oder jene Behörde, dieses oder jenes Gericht habe Verfassungsgrundsätze verletzt, daß nur ein Teil der in diesen Briefen enthaltenen Behauptungen einer ernsthaften Nachprüfung standhält. Das ist ein Faktum, von dem
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wir, glaube ich, alle wissen, sofern wir solche Briefe
kriegen; und insbesondere die Juristen kriegen sie.
Ich darf statt vieler Ausführungen zu diesem Thema eine Entscheidung zitieren, die Entscheidung eines dieser Ausschüsse des Bundesverfassungsgerichts, die jüngsten Datums ist, nämlich vom 5. Oktober dieses Jahres, die ich in diesen Tagen zufällig in die Hände bekommen habe, in der der Urteilstenor lautet, daß die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung nicht angenommen wird. So lautet der für diese Fälle übliche Tenor. Das Gericht stellt den Tatbestand dar — das kann ich mir jetzt schenken; er ist in diesem Zusammenhang nicht wichtig — und sagt, daß die Verfassungsbeschwerde weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet sei, so daß eine Ablehnung nach § 93 a Abs. 3 nicht in Frage komme — da steht eben dieses drin —, aber die Annahme nach § 93 a Abs. 4 abzulehnen sei, und zwar mit folgender Begründung — ich zitiere —: Von der Entscheidung ist weder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten noch entsteht dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung ein schwerer und Unanwendbarer Nachteil.
Um das zu verstehen und zu würdigen, meine Damen und Herren, muß man wissen, daß sich der Beschwerdeführer aus Gründen, die möglicherweise nicht von der Hand zu weisen sind, gegen eine gerichtliche Kostenfestsetzung in einem Räumungsprozeß vor dem Amtsgericht gewendet hat, bei der es sich um einen Betrag von 27,04 DM handelte. Das ist noch nicht der extremste Fall. Es gibt Fälle, in denen wegensehr viel geringerer Beträge das Bundesverfassungsgericht angerufen worden ist. Ich stehe gar nicht an, hier zu sagen, daß mir die Arbeitskraft des höchsten deutschen Gerichtes, das über die Wahrung der verfassungsmäßigen Grundrechte und der Verfassung zu wachen hat, für derartige — wie es das Bundesverfassungsgericht nennt — Bagatellsachen zu wert ist, und daß ich meine, daß das Gericht nicht nur .das Recht hat, sondern nach Möglichkeit davon Gebrauch machen sollte, solche Dinge von einer Entscheidung und der damit verbundenen Belastung fernzuhalten.
Das, Herr Kollege Dr. Heinemann, ist die Frage, ob man sich in dieser Frage verständigen kann. Ich bin dieser Meinung.
Eine weitere Belastung des Gerichts — und das war der Sinn der damaligen gesetzlichen Regelung — mit den ausgesprochen querulatorischen und mit den ausgesprochenen Bagatellsachen würde die Arbeitskraft des Gerichts nicht stärken, ,sondern schwächen. Damit würde im Ergebnis das, was wir gemeinsam erreichen wollen, nämlich den Schutz der Verfassung und den Schutz der Grundrechte des Bürgers, nicht erleichtert, sondern erschwert. Das ist meine Auffassung dazu.
Herr Kollege Dr. Heinemann hat dann in einem anderen Zusammenhang gleich zu Anfang seiner Ausführungen sich mit dem Deutschen Gemeinschaftswerk und damit zusammenhängenden Fragen beschäftigt. Ich will jetzt nicht, zumal es vielleicht nicht meine Aufgabe ist, hier auf Einzelheiten des Inhalts dieser Vorstellungen eingehen. Ein Kollege meiner Fraktion wird sich dazu noch im einzelnen äußern. Ich möchte nur grundsätzlich etwas sagen. Herr Kollege Dr. Heinemann, ich würde doch davor warnen — das gilt für uns alle —, daß wir es uns so einfach machen, daß wir uns über das, was wir Visionen nennen, in diesem Hause lustig machen. Die soziale Marktwirtschaft war damals in den Jahren des Wirtschaftsrates — Herr Kollege Dr. Strauß hat das gestern gesagt — auch nur eine Vision.
Damals hat es von der SPD dieselben Bemerkungen und dieselben Fragen gegeben wie heute. Heute ist das keine Vision mehr; heute ist das unsere Wirklichkeit.
Oder soll ich — ich will es nur am Rande tun — an das erinnern, was Präsident Kennedy in einer unvergeßlichen Rede in der Paulskirche gesagt hat? Wir alle sind doch dabeigewesen, als er zum Schluß seiner Rede davon gesprochen hat, daß wir alle in einem bestimmten Sinne, den er näher gekennzeichnet hat, Idealisten sein müssen, daß wir alle Visionäre sein müssen.
Ich weiß, Herr Kollege Dr. Heinemann, daß manches, was in den Vorstellungen, wie sie Herr Bundeskanzler Erhard hier vorgetragen hat, der Diskussion in diesem Hause bedarf. Darüber gibt es gar keinen Streit. Das ist eine bare Selbstverständlichkeit. Ich weiß genauso gut wie Sie, daß die verfassungsrechtlichen Fragen ganz schwierig sind und einer ganz ernsten Prüfung bedürfen. Dazu gehören die Fragen, die Sie angesprochen haben. Dazu gehört darüber hinaus ein Punkt, den Sie gar nicht angesprochen haben, den ich hier erwähnen will, nämlich die Frage, ob der Grundsatz jenes Artikels unseres Grundgestzes auf die Dauer noch aufrechterhalten werden kann, in dem lapidar davon die Rede ist, daß die Einnahmen und Ausgaben des Bundes jedes Jahr neu durch Haushaltspläne festgestellt werden. Meine Damen und Herren, jeder von uns, der mit Haushaltsfragen zu tun hat — ich zähle gar nicht zu diesem Personenkreis —, weiß doch, daß das heute schon nicht mehr die Realität ist, daß eine Grundsatzentscheidung etwa auf dem Gebiete der Verteidigung, die vor fünf oder vor zehn Jahren gefallen ist, den Haushaltgesetzgeber und damit uns alle für einen langen Zeitraum, meist über den Zeitraum einer Wahlperiode hinaus, jedenfalls aber über den Zeitraum eines einzelnen Jahres hinaus, festlegt, daß wir dann, wenn wir so etwas einmal beschlossen haben — und wir haben eine Reihe von Grundsatzentscheidungen in dieser Frage getroffen —, ohne Schaden für unser Volk gar nicht mehr davon abgehen können, sondern den
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einmal eingeschlagenen Weg konsequent durchführen müssen. Sie irren, Herr Kollege Dr. Heinemann, wenn Sie sich darüber mokieren — anders möchte ich es in diesem Zusammenhang wirklich nicht bezeichnen, abgesehen von der Spitze gegen unseren Kollegen Dr. Pohle, die ich als sehr unpassend empfunden habe —,
wenn Sie meinen, rügen zu müssen, daß es innerhalb der CDU, die sich dazu nicht näher geäußert habe, für diese Vorstellung keine Begeisterung gebe. Herr Kollege Dr. Heinemann, unter Juristen wissen wir, daß es einen Rechtsgrundsatz gibt, wonach derjenige, der schweigt, mindestens zuzustimmen schein t. So weit werden Sie mir vielleicht sogar folgen.
— Nein, Herr Kollege Jahn, das ist ein altrömischer Rechtsgrundsatz. Nicht immer paßt er, aber in diesem Zusammenhang paßt er. Wir sind doch nicht gehalten, in einer Diskussion über die Regierungserklärung den Herrn Bundeskanzler hier — wie es so schön heißt — zu unterstreichen, zu bestätigen, zu wiederholen. Wir stimmen dem, was er zu diesen Punkten gesagt hat, zu. Wir werden uns im einzelnen mit diesen Dingen weiterhin auseinandersetzen.
Ich meine, daß man es der Bundesregierung bzw. dem Bundeskanzler dankbar abnehmen sollte, wenn er in eine Diskussion, die formell die Beratungen eines Zeitraums von vier Jahren einleitet, einen zündenden Gedanken wirft, der hinausweist über einen Zeitraum von vier Jahren, der, wenn er vernünftig durchgeführt wird, vielleicht bis an das Ende dieses Jahrhunderts weisen könnte. Ich halte das für seriöser — um auch das noch zu sagen — als den Wahlschlager der SPD-Wahlillustrierten mit der „Gesundheitsrakete". Das war dasselbe, nur nicht ganz so seriös.
Ich komme schließlich zu einem Punkt, den sowohl Herr Kollege Erler in seinen einleitenden Ausführungen als auch heute Herr Kollege Heinemann angesprochen hat, Herr Dr. Heinemann ausgehend von der Frage der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Verfassungsänderungen allgemein, Herr Kollege Erler auch in diesem allgemeineren Zusammenhang und dann speziell auf das Problem des Notstands bezogen.
Zunächst Herr Dr. Heinemann. Es gibt einen Gedankengang, in dem ich Ihnen im Prinzip durchaus folgen möchte. Es ist durchaus richtig, daß dieses Haus, das — zusammen mit dem Bundesrat — für Änderungen unseres Grundgesetzes verantwortlich und zuständig ist, vorsichtig sein sollte. Wir haben in der Vergangenheit bei mehreren Gelegenheiten — ich erinnere Sie etwa an die Diskussion über den Antrag der FDP auf Änderung des Art. 15 des Grundgesetzes; es war in der vorigen oder vorvorigen Wahlperiode — gemeinsam die Auffassung vertreten, daß man solche Grundfragen nicht jederzeit, nicht ad hoc klären, sondern sehr sorgfältig
überlegen sollte, bevor man sich zu einer Verfassungsänderung entschließt.
Ich gehöre durchaus nicht zu den Kollegen in diesem Hause — solche gibt es auch —, die, wenn ein Problem auftaucht, dem man nicht so recht beikommen kann, der Auffassung sind: Nun, ändern wir doch einfach das Grundgesetz! Natürlich geht es nicht so einfach. Natürlich haben wir auf der einen Seite zu beachten, daß dieses Grundgesetz die verfassungsrechtlichen Leitlinien festlegt, nach denen sich unsere Tätigkeit auch als Gesetzgeber zu vollziehen hat, und daß wir uns, wenn wir uns nur in der Sache einig sind, nicht einfach darüber hinwegsetzen können.
Auf der anderen Seite wissen Sie so gut wie ich, daß das Grundgesetz nach seiner Entstehungsgeschichte, nach der Zeit, in der es entstanden ist, nach den politischen Umständen, in denen es entstanden ist, einige Fragen aufwirft, die eben einer neuen Überprüfung und Beantwortung bedürfen. Sie selbst haben das Gemeinschaftswerk genannt, das solche Grundfragen aufwirft. Die „Wehrergänzung" des Jahres 1956 war ein solcher Anlaß. Die Notstandsverfasung wird ein solcher Anlaß sein müssen nach den Erklärungen, die in der vorigen Wahlperiode auch von den Kollegen Ihrer Fraktion hier abgegeben worden sind. Ich meine daher, daß man von Fall zu Fall prüfen muß.
Der Hinweis auf die amerikanische Verfassung, Herr Kollege Dr. Heinemann, macht mich nachdenklich. Er veranlaßt mich aber zu der Bemerkung, ob denn in der Bundesrepublik eine verfassungsrechtliche Regelung denkbar wäre, die in der Form so einfacher und so allgemein gehaltener Generalklauseln wie die amerikanische Verfassung nur einige wenige Grundsätze normiert und es dem Verfassungsleben und der Rechtsprechung überläßt, diese Grundsätze auszufüllen.
Sie brauchen doch nur die praktisch unbeschränkten Befugnisse des Präsidenten der Vereinigten Staaten als des Inhabers der obersten Exekutivgewalt gegenüberzustellen den sehr detaillierten und sehr schwierigen Diskussionen, die wir hier im Hause über eine verfassungsrechtliche Regelung des Notstands gehabt haben. Daß der Rechtsausschuß der vorigen Wahlperiode am Ende seiner Beratungen vorgeschlagen hat, das Grundgesetz in nicht weniger als 21 Artikeln zu ändern, beruht doch u. a. auf durchaus nicht unberechtigten Bedenken dagegen, hier nun in Form einer Generalklausel — etwa nach dem Muster des Art. 48 der Weimarer Verfassung oder nach dem Vorbild der französischen oder amerikanischen Verfassung — einfach Vollmachten an eine Stelle zu geben. Darüber sind wir uns doch im Grundsatz einig. Aber es ist sehr schwer, das beides zugleich zu erreichen.
Was die Herrren Erler und Dr. Heinemann über die weitere Zukunft der Notstandsverfassung gesagt haben, habe ich — ich kann es nicht anders sagen — mit einer gewissen Sorge gehört. Ich habe von dem Kollegen Erler gehört, daß man die Fragen der Notstandsverfassung — ich zitiere Herrn Erler —: „mir
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im Zusammenhang mit allgemeinen politischen Prioritäten" lösen kann.
Das gehört in die Kategorie, die von Ihrer Seite, wenn Sie andere Äußerungen von seiten der Regierung und auch von unserer Seite angesprochen haben, als wolkenweich bezeichnet worden ist. Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Herr Kollege Erler, und ich wäre sehr dankbar für eine Erläuterung, was hier Prioritäten sind. Ist es die Frage der Klärung des Verhältnisses der Sozialdemokratischen Partei zu den Gewerkschaften? Sind es Überlegungen im Hinblick auf das Jahr 1969? Oder was sind hier die politischen Prioritäten, um die es im Zusammenhang mit dieser Frage geht?
Ich muß bekennen, daß ich nicht weitere Klarheit dadurch gewonnen habe, daß Herr Kollege Heinemann heute — allgemein, wie ich annehme, und auch für diesen speziellen Komplex — erklärt, die SPD wolle nicht Zulieferer für die Regierungsparteien sein. Herr Kollege Heinemann, das verlangen wir gar nicht. Es geht ja doch bei der Notstandsverfassung und bei anderen Dingen nicht darum, daß Sie uns einen Gefallen tun, es geht darum, daß Sie uns die Frage beantworten — und die allerdings dann klar —, ob eine bestimmte Regelung im Interesse nicht der CDU oder CSU oder FDP oder der Bundesregierung, sondern im Interesse des deutschen Volkes notwendig ist oder nicht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sofort, wenn Sie mir einen Satz noch gestatten. Wenn Sie mit uns dieser Meinung sind, dann tun Sie weder uns einen Gefallen noch sich selbst einen Schaden, dann nützen Sie unserem Volk. Wenn Sie es unterlassen,' wenn Sie selber erkennen, daß es notwendig ist — das haben Sie in der vorigen Wahlperiode zum Schluß gesagt —, dann tun Sie uns gar nicht einmal einen Gefallen, aber Sie schaden unserem Volke. — Bitte, Herr Jahn!
Herr Benda, wenn ich an die letzten Worte anknüpfe: Stimmen Sie mit mir darin überein, daß eine derartige Behandlung von Verfassungsfragen auch einen anderen Stil und eine andere Praxis erfordert, als es die Regierung in der letzten Wahlperiode geübt hat, im Sinne der von den Sozialdemokraten seit vielen Jahren immer wieder erhobenen Forderung, zu Beginn einer Wahlperiode klar zu sagen, welche Verfassungsänderungen insgesamt von der Regierung für notwendig gehalten werden, und den gesamten Komplex dann politisch zu beraten?
Herr Kollege Jahn, ich glaube nicht, daß man zu Anfang der 4. Wahlperiode dieses Hauses darüber im unklaren sein konnte, daß erstens die Bundesregierung eine baldige Regelung der Frage des äußeren und inneren Notstandes für dringend und
notwendig hielt — das hat sie nämlich in der 3. Wahlperiode bereits gesagt und in Form eines Antrages in diesem Hause vorgebracht — und zweitens welche Vorstellungen, mindestens in den Grundsätzen, sie hatte.
Muß ich Sie an die Debatte erinnern? Jedenfalls hat die Bundesregierung frühzeitig ihren Entwurf mit der Drucksache IV/891 hier im Hause eingebracht, und seit Sommer 1963 haben wir in diesem Hause darüber beraten.
— Herr Kollege Erler, Sie haben vorgestern in Ihren Ausführungen gesagt: Das Ende einer Wahlperiode ist ein schlechter Zeitpunkt. Nun gut, wir sind jetzt am Anfang der Wahlperiode. Dann versuchen wir es einmal auf diesem Weg!
— Ja, bitte schön, Herr Erler!
Sind sie bereit, die von mir in meiner Antwort auf die Regierungserklärung ausdrücklich angemeldete Forderung zu unterstützen, daß es nunmehr an der Bundesregierung liegt, zunächst jene Gesetzgebungswerke dem Hause vorzulegen, deren Fehlen und deren nicht rechtzeitig stattgefundene Erörterung ganz entscheidende Ursachen dafür waren, daß wir in der letzten Legislaturperiode nicht mehr fertig geworden sind?
Ich will Ihnen zweierlei dazu sagen, Herr Erler.
— Herr Kollege Erler, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, mir zuzuhören, nachdem Sie mich gefragt haben, dann würde ich Ihnen gerne meine Meinung sagen.
- Ja, ich weiß, es gibt gelegentlich atmosphärische
Störungen, aber die werden wir gemeinsam überwinden.
Der Herr Innenminister ist leider krank und kann heute nicht hier sein. Aber er hat sich öffentlich bereit erklärt, seine eigenen Vorstellungen zu diesem Problem nicht nur in den Grundsätzen, sondern in den Einzelheiten mit Ihnen, mit uns, mit anderen beteiligten und interessierten Kreisen zu besprechen und den Versuch zu unternehmen, daß über die Grundsätze jedenfalls eine Einigung erfolgt. Um das Weitere zu sagen: es gibt ein breites Feld von Punkten — so habe ich jedenfalls in der vorigen
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Wahlperiode zum Schluß auch von Ihrer Seite gehört —, in denen wir eine ganz wichtige Vorarbeit geleistet haben, an die wir anknüpfen können. Das habe ich immer wieder von Ihnen gehört. Die Bundesregierung hat sicherlich das unbestrittene Recht, sich ihre eigenen Vorstellungen zu diesen Punkten zu überlegen, neu zu überlegen, ihre Stellungnahme zu dem, was der Rechtsausschuß in der vorigen Wahlperiode erarbeitet hat, abzugeben und dann mit uns in dieses Gespräch und in die Diskussion in diesem Haus einzutreten.
Ich meine, Herr Kollege Erler, daß die sozialdemokratische Fraktion auch eine Verpflichtung in dieser Materie hat. Ich habe nachgelesen, daß etwa Ihr Parteivorsitzender, Herr Brandt, am 13. Juli 1965, also zu Anfang des Wahlkampfs, zu dieser Frage erklärt hat, eine SPD-Bundesregierung werde das Notstandsproblem anpacken. Wenn das nicht nur eine allgemeine Erklärung ist — in dem Begriff „anpacken" steckt ja immerhin schon ein ganz drastisches Bild der Intensität, mit der man das machen will —, sondern wenn das konkreter gemeint ist, dann steht dahinter eine Vorstellung, eine Konzeption.
Nun ist es richtig: Wir haben keine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung, wir haben eine sozialdemokratische Opposition in diesem Hause. Aber, Herr Kollege Erler, in Umkehrung eines Wortes, das Sie vorgestern an Justizminister Dr. Jaeger gerichtet haben — „wer ein Amt hat, der bekommt auch den Verstand" —, möchte ich bemerken, daß man ,auch umgekehrt sagen kann: man muß nicht unbedingt ein Amt haben, um den entsprechenden Sachverstand zu besitzen.
Wenn hinter dieser Ankündigung der Sozialdemokratischen Partei vor den Wahlen mehr steckt als nur so das allgemeine Versprechen: Na, wir werden mal darüber nachdenken!, wenn eine Konzeption dahinter steckt, so wollen wir sie gern sehen. Kann uns das hier nicht vorgetragen werden? Wir wären sehr interessiert, von der Sozialdemokratischen Partei zu hören, was .sie für Vorstellungen hat. — Bitte, Herr Erler!
Herr Kollege Benda, haben Sie sich mit den Notstandsproblemen wirklich so wenig befaßt — das kann ich mir gar nicht vorstellen —, daß Ihnen die Beschlüsse des sozialdemokratischen Parteivorstandes und des Parteirates zu dieser Frage, die sehr ausführlich und präzise unsere Haltung darlegen, bis heute noch unbekannt sein sollten? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Herr Kollege Erler, ich kenne Ihre Karlsruher zehn Punkte beinahe auswendig, so viel habe ich mich damit beschäftigen müssen.
— Ja, erst war es Karlsruhe, dann war es Saarbrücken. Diese ganzen Erklärungen haben in meinen Augen einen Mangel: sie sagen nur immer, was die SPD nicht will, wo die Schwierigkeiten liegen.
— Herr Kollege Erler, wollen wir die Einzelheiten diskutieren?
,
Ich bin dazu gern bereit. Wir haben das doch wochenlang gemacht, hier im Plenum und vorher in den Ausschüssen in den entscheidenden Wochen. Wir haben Ihnen Punkt für Punkt gesagt — und ich bin gern bereit, Ihnen hier das ganze Abc durchzubuchstabieren —: in Punkt 1, 2, 3 ist unsere Auffassung folgendermaßen! Sie können doch nicht bestreiten, daß wir Ihren Vorstellungen — nach unserer Auffassung in allen Punkten, nach Ihrer Auffassung jedenfalls in den allermeisten Punkten — Rechnung getragen haben.
— Bitte!
Wie konnten Sie unseren Vorstellungen Rechnung tragen, wenn Sie sagen, Sie hätten gar keine Kenntnis von unseren Vorstellungen? Wie kann man Vorstellungen entsprechen, wenn man sie gar nicht kennt?
Herr Kollege Erler, ich wiederhole: Soweit Sie Bedenken und Einwände hatten — —
— Sofort! Ich möchte zwischendurch ganz gern auch mal einen Satz sprechen dürfen. -
Herr Kollege Erler, soweit Sie Bedenken hatten und vorgetragen haben — und das waren doch diese zehn Punkte von Karlsruhe, und nachher waren es noch die drei oder vier Punkte in der Saarbrücker Erklärung, auf die sich das reduziert hatte; Sie haben sie ja selber angesprochen —, haben wir unsere Meinung dazu gesagt. Aber wir möchten wissen, was Sie in diesen Punkten meinen. Wie wir es uns vorstellen, das steht in der Drucksache des Rechtsausschusses der vorigen Wahlperiode. Da haben wir im Rechtsausschuß zu diesen Punkten jeweils gegen Ihre Stimmen Mehrheitsbeschlüsse gefaßt. Wenn Sie meinen, so gehe es nicht, dann sagen Sie bitte, wie Sie es machen wollen! Machen Sie doch mal einen Vorschlag zu Art. 12, machen Sie doch einmal einen Vorschlag zu Art. 5!
Bis zum heutigen Tag haben wir nichts gehört.
Jetzt bitte sehr, Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen!
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Herr Kollege, wir waren ja bei den gesamten Beratungen dabei. War es nicht so, daß Sie z. B. in einigen Punkten die Meinung Ihrer Kollegen nicht geteilt haben und abweichende Meinungen hatten und daß Sie selbst in den Besprechungen festgestellt hatten, daß die drei entscheidenden Gesetze nicht mehr vorgelegt bzw. nicht mehr verabschiedet werden könnten?
Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, wir beide sind wirklich, wie Sie richtig sagen, ziemlich von Anfang an dabeigewesen. Sie können mir also manches unterschieben, aber das, daß ich also das Zustandekommen der Notstandsverfassung verhindert hätte, geht, glaube ich, etwas weit.
Ich will Ihnen, damit ich Sie von diesem Mißverständnis befreien kann, gern als meine eigene Meinung, wenn Sie mich persönlich fragen, sagen, daß Wort für Wort das, was in der Drucksache IV/3464, also in dem Bericht des Rechtsausschusses steht, in den Beschlüssen und auch in der Erläuterung, die ich ja nun schließlich selber verfaßt habe, auch meiner heutigen Meinung entspricht, daß man darüber reden kann. — Herr Erler!
Herr Kollege Benda, eben sind Sie gefragt worden, und ich würde Sie herzlich bitten, darauf zu antworten, ob es zutrifft, daß Sie in einer der letzten Besprechungen dort uns erklärt haben, daß nach Ihrer sachkundigen und fachkundigen Ansicht die drei noch ausstehenden Gesetze in dieser Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet werden könnten. Das war die Frage. Ich bitte Sie herzlich, sich um die Beantwortung dieser Frage nicht zu drücken und nicht auf Wahlkampf-Allgemeinplätze auszuweichen.
Herr Kollege Erler, mich stört es gar nicht, wenn Sie es so sehen. Aus meiner Sicht darf ich sagen: zufällig stehe ich nun hier; die Disposition meiner Ausführungen darf ich mir doch vorbehalten.
Sie können daraus Ihre Schlüsse ziehen; aber ich bitte, es mir doch zu gestatten, so zu antworten, wie ich es für richtig halte. Bitte, beurteilen Sie das, wie Sie wollen.
— Nein, nein, Herr Kollege Jahn.
— Sehen Sie, Herr Kollege Erler: nachdem Sie polemisiert haben, sagen Sie, nun schalten Sie ab, und Sie geben mir gar nicht die Möglichkeit, Ihre Fragen
zu beantworten. Ich will das gerade eben tun. Haben Sie doch einen Augenblick Geduld mit mir!
— In den Wochen, in denen wir interfraktionell die Dinge im letzten Stadium behandelt haben, hat es einen Zeitpunkt gegeben, in dem die sozialdemokratische Fraktion gesagt hat: eine bestimmte Reihe von Gesetzen — Sie wissen, um welche es sich handelt: besonders das Gesetz über Pressekommissionen im Zustand der äußeren Gefahr, die Frage, die mit Art. 10 zusammenhängt, das dritte ist mir im Augenblick entfallen, ich weiß nicht, was Sie damit meinen — —
— Na ja, Zivildienstgesetz; das hatte, glaube ich, niemand behauptet, daß dieses Gesetz gleichzeitig verabschiedet werden müsse. Aber dieser Komplex war noch strittig. Es tauchte die Frage auf, ob diese einfachen Gesetze zusammen mit der Verfassungsänderung verabschiedet werden könnten. Ich habe damals gesagt, es ist vollkommen richtig, und es entsprach auch den Tatsachen, daß man vier oder fünf Wochen vor Ende der Legislaturperiode diese Gesetze nicht verabschieden kann. Ich habe Ihnen zugleich gesagt und wiederhole es hier, daß im Bereich etwa des Art. 5 durch die in Art. 115 a des Entwurfs zur Notstandsverfassung festgelegte verfassungsrechtliche Regelung absolut sichergestellt ist, daß durch ein einfaches Gesetz keine Regelung 1 getroffen werden kann, die das eintreten läßt, was Sie damals befürchtet haben. Die verfassungsrechtliche Regelung steht doch über der Regelung durch ein einfaches Gesetz.
Und umgekehrt gilt doch auch: wenn wir die Gesetze, worauf Sie sich dann kapriziert haben, verabschiedet hätten, wäre es ja einer Mehrheit in diesem Hause, wenn sie sich gefunden hätte, ohne weiteres möglich gewesen, zu sagen: Das ist alles gar nicht mehr wahr, wir wollen es anders haben. Soll ja passieren, daß man Gesetze ändert, wenn eine neue Wahlperiode beginnt.
Das war ein echter Meinungsunterschied zwischen uns, Herr Kollege Erler, und dieser Meinungsunterschied scheint heute noch zu bestehen.
— Gut, wir werden darüber weiter reden. Aber ich würde sehr gern einmal von Ihnen darüber hören. Ich wiederhole das nochmals: wenn Sie meinen, daß das, was wir zu Art. 5, zu Art. 12 und zu der Frage des Art. 10 an eigenen Vorstellungen entwickelt und Ihnen vorgetragen haben, nicht geht oder so nicht geht und anders gemacht werden sollte — wir wollen das hier gern mal auf den Tisch haben. Wir wollen Ihre eigene Konzeption einmal sehen, wenn Sie eine haben. Das haben Sie uns bisher nicht gegeben,
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Benda
sondern Sie haben sich auf die allgemeinen politischen Prioritäten berufen, denen Sie den Vorrang geben wollen. — Bitte sehr!
Sie haben von „wir" gesprochen. Ich frage Sie: war es nicht so, daß es gar kein „wir" in dieser Frage gab, sondern daß Sie zu den Regierungsentwürfen zur Frage des Pressegesetzes oder zum Gesetz zu Art. 10 ausdrücklich erklärt haben, daß Ihre Auffassung sich noch nicht mit der der Regierung decke und daß erst daraus eine gemeinsame Grundlage gewonnen werden müßte?
Aber hören Sie mal, Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen! Die Formulierung zu Art. 5, wie sie in der Fassung des Rechtsausschusses steht, geht auf einen eigenen Antrag, den ich selber im Rechtsausschuß gestellt habe, zurück. Das soll man doch nicht in dieser Form verdrehen!
Ich fürchte, Sie haben mich mißverstanden, oder Sie wollten mich mißverstehen. Ich habe von dem Gesetz zu Art. 5 gesprochen und nicht von der Fassung der Verfassungsergänzung. Bei den Einzelgesetzen gab es die Meinungsverschiedenheit zwischen Ihnen und der Regierung. Das werden Sie doch sicher noch von der Frage der Pressekommission, von dem Eintritt des Zustandes der äußeren Gefahr usw. wissen!
Über alle diese Dinge kann man sich unterhalten. Natürlich gibt es Regelungen, über die man sich noch eine Meinung wird bilden können, soweit es in einfachen Gesetzen möglich ist. Es steht noch der ganze Bereich des Zivildienstgesetzes aus. Ich weiß ebensogut wie Sie, daß da eine Reihe von Fragen sind, die wir, wenn wir die Dinge neu beraten, neu behandeln müssen. Vielleicht kommen wir zu einer anderen Lösung. Aber ich weiß nicht, was Sie daraus für Folgerungen ziehen wollen. — Bitte, Herr Jahn!
Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Kollege Benda, daß Sie soeben sagten, Sie würden gern wissen, welche Vorstellung die Sozialdemokraten speziell zur Frage der Behandlung des Art. 5 haben?
Oh ja!
Sie haben vorhin behauptet, Sie kennten unsere verschiedenen Punkte schon auswendig. Vielleicht darf ich Ihrem Gedächtnis ein wenig nachhelfen. Es heißt in den Kölner Beschlüssen, die Sie gewiß auch auswendig kennen:
Es ist zu sichern, daß Notstandsbefugnisse ausschließlich zur Meisterung des Notstands und nicht zur Drosselung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, vor allem nicht der Freiheit der Presse des Rundfunks, des Fernsehens und der freien Meinungsäußerung eingesetzt werden können.
Sind Sie nicht der Meinung, daß damit zur Behandlung des Themas „Artikel 5" hinreichend deutlich gesagt worden ist, wie unsere Vorstellungen sind?
Darf ich bei dieser Gelegenheit gleich einmal fragen, welche verbindlichen Äußerungen es eigentlich von der CDU/CSU oder — vielleicht können Sie das bei der Gelegenheit gleich miterledigen — der FDP zu dem gesamten Komplex des Notstands in einer Form gibt, die es uns ermöglichen würde, endlich einmal einen Maßstab dafür zu finden, nach welchen Richtlinien Sie vorzugehen beabsichtigen.
Herr Kollege Jahn, was Sie vorhin zum Bereich des Art. 5 vorgelesen halben, ist mir selbstverständlich bekannt. Ich habe es vorhin schon gesagt und bestätige eis. Es bringt nur gar nichts Neues. Es sagt das, was Sie nicht wollen. In der Sache sind wir uns einig. Wir wollen keine Beschränkung der Pressefreiheit. Das Ergebnis ist: was in dem Entwurf zu Art. 5 drinsteht, das haben Sie leider abgelehnt, ohne uns zu sagen, wie man es anders machen soll. Das ist das Ergebnis!
— Herr Kollege Jahn, Sie sind herzlich eingeladen — Sie können es ja am Schluß mit einem Fragezeichen versehen —, darauf zu replizieren; ich habe nichts dagegen. So ist doch die Situation.
Herr Kollege Benda, würden Sie auch die zweite Frage des Kollegen Jahn beantworten, nämlich welches Ihre Konzeption ist?
Ich wiederhole das, Herr Kollege Schäfer, was ich vorhin gesagt habe. Sie haben in der Drucksache, die den Bericht des Rechtsausschusses enthält, die Konzeption, über die man diskutieren kann. Wir können da wieder anknüpfen. Wenn Sie bessere Vorschläge haben, können wir darüber reden. Wenn die Regierung zu diesem oder jenem Punkt andere Vorstellungen hat, werden wir darüber reden. Da haben wir einen Ausgangspunkt. Es fehlt ja nichts als der Mut, dieses Problem nun einmal anzupacken. Das ist alles, was not tut.
Ich möchte dieses Kapitel abschließen. Ich komme zu einer abschließenden Bemerkung, die nicht unmittelbar veranlaßt ist durch Ausführungen, die Kollege Dr. Heinemann oder Kollege Erler gemacht haben; aber sie haben es beide anklingen lassen.
Beide Kollegen haben sich mit der Person des neuen Bundesjustizministers, unseres Kollegen Dr. Jaeger, in einer Form beschäftigt, gegen die ich nichts einzuwenden habe, die eine Form der politischen Kritik darstellt, die ich aber durchaus für zulässig halte. Ich nehme die Gelegenheit wahr, um in diesem Zusammenhang folgendes zu sagen. Ich sage also ausdrücklich, daß ich das nicht gegen die Kollegen Heinemann oder Erler sage, sondern gegen andere. Es gibt eine gewisse Neigung in der deut-
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Benda
schen Öffentlichkeit in diesen Wochen, sich mit der Person des neuen Bundesjustizministers in einer Art und Weise zu beschäftigen, aus der ich geradezu ein Aufatmen darüber entnehme, daß man nun wieder jemanden gefunden hat, mit dem man sich in einer bestimmten Weise beschäftigen kann.
Man kann an der Person oder der Politik dieses oder anderer Minister Kritik üben. Das ist geschehen in einer Form — ich wiederhole es nochmals —, die durchaus zulässig ist. Darüber werden wir uns zu gegebener Zeit zu unterhalten haben. Herr Kollege Erler, vielleicht können Sie mir auch darin zustimmen, daß es gut wäre, daß es fair wäre, dem neuen Bundesjustizminister nicht mehr zu geben als eine faire Chance, seine Politik in dem Ressort, für das er verantwortlich ist, vor diesem Hause zu entwickeln. Mehr wollen wir gar nicht.
Ich möchte ein Weiteres sagen, das über das engere Thema hinausgeht, an das ich eben angeknüpft habe. Ich sage es aus einem anderen aktuellen Anlaß. Es hat manchmal in dem Zusammenhang, den ich eben charakterisiert habe, Äußerungen in unserem Land gegeben, die für mein Empfinden eine geradezu gouvernantenhafte Neigung gezeigt haben, sich mit den Verhältnissen in bestimmten westlichen Ländern zu beschäftigen. Ich meine auch jüngste Äußerungen bestimmter Kreise zu bestimmten Vorgängen in Vietnam. Ich benutze diese Gelegenheit, um das zum Schluß einmal hier zu sagen. Ich bedaure eine gewisse gouvernantenhafte Neigung — ich wiederhole das —, sich um den Schutz der Demokratie in bestimmten Ländern zu kümmern. Häufig sind es dann die gleichen Leute, von denen ich noch nie auch nur ein Wort über die Zustände gehört habe, die in unserem eigenen, leider geteilten Land herrschen.
Es sind häufig die gleichen Leute, die uns dann empfehlen, wie sie es nennen, „die Realitäten anzuerkennen".
Meine Damen und Herren, ich sage zum dritten Male, daß das nicht in diesem Hause geschehen ist. Ich sage es rein vorsorglich.
— Herr Wehner, ich habe es eben, glaube ich, dreimal gesagt. Ich sage, daß es gut wäre, wenn wir uns in diesem Hause wie bisher auch in der Zukunft vor solcher Doppelzüngigkeit hüteten. Das gilt für die Behandlung von Mitgliedern der Bundesregierung und für den Umgang, den wir miteinander pflegen sollten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Busse.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren Kollegen! In einer Hinsicht sollten wir, glaube ich, unserem Kollegen Dr. Heinemann dankbar sein, daß er nämlich ein Problem angeschnitten hat, das in der Regierungserklärung effektiv zu kurz gekommen ist. Ich bin mir dabei völlig darüber im klaren, daß eine programmatische Erklärung einfach nicht alles umfassen kann, was unser politisches Leben an interessanten und bedeutsamen Fragen aufwirft. Ich war deshalb auch nicht etwa enttäuscht, daß gewisse Dinge, die uns Juristen und gerade den Verfassungsrechtlern am Herzen liegen, nicht so eingehend erörtert worden sind, wie wir es vielleicht gewünscht hätten. Ich habe auch nicht die Absicht, hier ausführliche Diskussionen etwa über die Frage des Notstandsrechts hervorzurufen. Ich komme darauf gleich noch einmal zurück. Aber einige allgemeine Bemerkungen möchte ich doch im Hinblick auf das machen, was Herr Dr. Heinemann gesagt hat.
Zunächst war da ein Satz, an dem ich Anstoß genommen habe, in dem Herr Dr. Heinemann feststellte — er sprach hier als Sprecher der SPD —, daß Sie — er sagte also: wir — aus Überzeugung auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Heft Dr. Heinemann, es könnte den Anschein erwecken, als ob das eine besondere Situation der SPD sei. Ich kann für uns nur erklären, daß wir für uns genauso gut wie für jeden anderen hier im Hause in Anspruch nehmen, daß wir auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und in dem uns so gesteckten Rahmen unsere Pflichten hier zu erfüllen versuchen.
Wenn man etwas Derartiges sagt, so hat das seine Konsequenzen; denn in der Tat, wer sich zu den Grundsätzen unseres Grundgesetzes bekennt, muß daraus Konsequenzen ziehen. Wir sind uns, glaube ich, alle darüber einig — auch Herr Benda hat das soeben betont —, daß wir keineswegs leichtfertig an den Grundsätzen unseres Grundgesetzes auch nur rütteln lassen. Wir sind nicht bereit, ohne zwingende Notwendigkeiten etwas daran zu ändern. Daß sich aber in einer Zeit wie der unsrigen nach dem Krieg, seit 1949, als das Grundgesetz geschaffen wurde, bis heute Veränderungen vollzogen haben, an denen unser Grundgesetz nicht einfach vorbeigehen kann, darüber, glaube ich, brauchen wir in extenso jedenfalls auch nicht zu diskutieren. Die Frage ist auch hier, wo die Grenzen zu ziehen sind, vor allem in einer Frage wie der Notstandsgesetzgebung, die ich nicht eine Verfassungsänderung, sondern eine Verfassungsergänzung nennen möchte, weil sie etwas Zusätzliches bringt, das bisher fehlt, das aber geschaffen werden muß.
Über diese Fragen sind wir uns soweit schon einig. Ich habe deshalb persönlich die Zurückhaltung in der Regierungserklärung begrüßt. Darin wird gesagt: Wir wollen jetzt miteinander sprechen, und zwar vornehmlich mit der SPD und mit den Gewerkschaften, um gemeinschaftlich Wege zu suchen, auf denen wir diese schwierige Aufgabe zu einem befriedigenden Ergebnis führen können. Das soll nicht geschehen, um Sie als Lückenbüßer zu gebrauchen. Die Zweidrittelmehrheit, die zur Änderung des Grundgesetzes erforderlich ist, hat schon ihren
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Busse
politischen Sinn. Sie soll nur aus der gemeinsamen Überzeugung zu einer Änderung des Grundgesetzes führen. Diese gemeinsame Überzeugung über das bereits Erreichte hinaus zu bilden, zu formen, das sollte der Zweck, dieser Gespräche sein. Ehe wir erneut in Polemiken eintreten, sollten wir diese Gespräche abwarten und versuchen, diesen Weg zu gehen, um zu den gemeinsam gewünschten Zielen zu gelangen.
Ich darf eines aber nicht unerwähnt lassen; ich glaube, es stand heute morgen in der Zeitung der IG Metall, es kann aber auch in der vorletzten Nummer gewesen sein. Eine Antwort, wie sie dort gegeben wird, daß man nämlich an seinem bereits gefaßten Beschluß, an seinem Standpunkt unverbrüchlich festhält, ist wahrlich nicht die richtige Einleitung für solche Gespräche, sondern da muß tatsächlich die Bereitschaft vorhanden sein, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Wenn diese Bereitschaft von vornherein fehlt, soll man es lieber klar sagen; denn dann ist alles, was dazu geschieht, verschwendete Zeit.
Während in der Frage der Notstandsgesetzgebung vom 4. Bundestag bereits eingehende Vorarbeiten geleistet worden sind, stehen andere Probleme noch so lose im Raum, daß es für einen Verfassungsrechtler und Juristen einfach unmöglich ist, dazu aus verfassungsrechtlicher Sicht Stellung zu nehmen. Ich denke dabei an die Fragen, die beim Lieblingskind des Herrn Bundeskanzlers, dem Gemeinschaftswerk und der formierten Gesellschaft, auftauchen. Ich gebe Ihnen unbesehen recht: was wir bis heute davon wissen — auch die wissen, die sich mit den Fragen, soweit Antworten dazu vorliegen, befaßt haben —, reicht nicht im entferntesten aus, um irgendein konkretes Bild zu haben und daraus staatsrechtliche, verfassungsrechtliche Konsequenzen zu ziehen. Insofern muß ich aber Herrn Kollegen Benda recht geben — ich kenne das auch aus meiner Praxis als Anwalt —: Wie häufig werden zunächst Ideen, Vorstellungen und Möglichkeiten in den Raum gestellt, die man dann konkretisieren muß, um am Ende zu notwendigen rechtlichen Konsequenzen zu gelangen oder zu sagen: das machen wir eben nicht mit. So sind die Dinge, wie ich sie sehe. Dehalb sollten wir uns darüber heute nicht so sehr zerstreiten.
Ich bin in der glücklichen Lage, hier auf die grundsätzlichen Ausführungen verweisen zu können, die Herr von Kühlmann-Stumm für unsere Fraktion gemacht hat. Er hat insbesondere verfassungsrechtliche Probleme angeschnitten, die wir bei der weiteren Behandlung der Angelegenheit genauestens beachten werden.
Als Vorletztes muß ich auch noch etwas zum Bundesverfassungsgericht sagen. Es ist klargestellt und muß noch einmal unterstrichen werden, daß die Änderungen, die hier vom letzten Bundestag vorgenommen worden sind, weitestgehend auf Vorschläge des Bundesverfassungsgerichtes selbst zu-
rückzuführen waren und in voller Übereinstimmung
mit dem Bundesverfassungsgericht getroffen worden sind und daß das Bundesverfassungsgericht heute erklärt, diese Änderungen hätten sich bewährt. Insofern, glaube ich, sollten wir heute nicht mehr allzusehr über diese zunächst abgeschlossenen Dinge diskutieren.
In einem anderen Punkte — das kann ich Ihnen schon heute sagen — würden Sie bei uns sofort die notwendige Unterstützung finden, wenn Sie etwa die Verfassungsbeschwerde mit den verfassungsrechtlichen Kautelen versehen wollten und den Schutz des Grundgesetzes — für die Abänderung ist ja Zweidrittelmehrheit nötig — damit stabilisieren würden.
Wir haben diese Forderung von Anfang an gestellt. Wir würden sie auch heute mit Ihnen verwirklichen, wenn wir im übrigen in diesem Hause dafür die notwendige Mehrheit bekämen.
Zur Frage der Publizität des Strafrechtsausschusses — so möchte ich es einmal nennen — ist das Notwendige schon von Herrn Benda gesagt worden. Auch Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, die aus unserer Fraktion in diesem Strafrechtsausschuß mit tätig gewesen ist, war etwas entsetzt über die Art, Herr Dr. Heinemann, wie Sie diese Dinge entgegen oder jedenfalls etwas neben den Realitäten dargestellt haben. Ob man diese Publizität vergrößern kann? Grundsätzlich: Warum nicht? Es werden dort doch keine Staatsgeheimnisse erörtert. Ich glaube aber, .daß wir uns auch alle im klaren darüber sind, daß die Problematik, ob und inwieweit die Ausschußarbeit öffentlich sein soll, noch nicht ausdiskutiert ist. Nur soll man für einen Ausschuß nicht irgendwelche Besonderheiten statuieren, sondern die Dinge können nur im Rahmen dessen, was wir allgemein unter dem Begriff der Parlamentsreform hier bereits in Grundzügen angeschnitten haben, erörtert werden.
Auf diese Bemerkungen möchte ich mich beschränken. Ich hoffe, daß es gelingt — weil uns das besonders am Herzen liegt —, in den Gesprächen, die über Verfassungsfragen zu führen sind, die gemeinsame Plattform zu finden, die die Notwendigkeiten, unter denen wir einfach stehen, die der Zwang der Realitäten uns abverlangen. Ich glaube, daß keine Partei — und das glaube ich auch von der SPD — sich diesen Notwendigkeiten letztlich entziehen wird.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich im Anschluß an die Reden der Herren Kollegen Heinemann und Schiller von heute morgen noch einige Bemerkungen machen. Herr Kollege Heinemann hat sich mit der formierten Gesellschaft beschäftigt. Ich bedauere, daß er sich nicht genug damit beschäftigt hat, denn es liegen Unterlagen der verschiedensten
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhard
Art vor, die eine bessere Unterrichtung zugelassen hätten. Die Öffentlichkeit hat mannigfach dazu Stellung genommen, und zwar in sehr ernsthafter Weise. Ich möchte in aller Ruhe sagen: ich habe nicht den Eindruck, daß Sie den Gedanken nicht begriffen haben, sondern ich glaube, daß Sie seine ganze umfassende Bedeutung noch nicht richtig studiert und gewürdigt haben. Die formierte Gesellschaft soll ein gesellschaftspolitisches Leitbild sein und soll eine neue Form und einen neuen Geist der Zusammenarbeit einleiten.
Aber das ist nicht nur in der Politik so, daß ein neuer Gedanke nicht sofort und nicht gläubig aufgenommen wird. Das gilt für alle gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Sie können das durch alle Zeiten hindurch verfolgen. Im übrigen kann ich Ihnen eines sagen: ich denke weder bei der formierten Gesellschaft noch bei dem Gedanken eines deutschen Gemeinschaftswerks an irgendwelche Formen und Einrichtungen, die nicht mit unserer rechtsstaatlichen Ordnung, nicht mit dem Grundgesetz in Einklang stünden. Das ist eine bare Selbstverständlichkeit — ich möchte fast sagen: eine Banalität —, über die man nicht zu sprechen braucht.
Sie stimmten mir zu: die formierte Gesellschaft setzt eine informierte Gesellschaft voraus. Ich unterstreiche das vollkommen. Wir haben uns hier viel über Bildung unterhalten. Ich würde wünschen, daß die Bildung auch so weit greift, daß unser deutsches Volk in allen seinen Schichten und in all seinen Gruppen und jedes Individuum mehr von den gesellschaftspolitischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Zusammenhängen versteht, als das heute der Fall ist. Wir würden uns manchen Streit ersparen und würden ruhiger miteinander diskutieren können, auch der Ablauf der Gespräche zwischen den Sozialpartnern wäre auf eine andere Ebene gerückt, wenn wir wirklich eine informierte Gesellschaft wären und wenn wir uns nicht mit Schlagworten, sondern mit den nüchternen Realitäten des Lebens auseinanderzusetzen hätten.
Herr Kollege Heinemann, wenn Sie sagen, die SPD stehe der formierten Gesellschaft mit Skepsis gegenüber und könne ihr keine Unterstützung leihen, dann sagt das nichts über ihren Wert aus. Es ist auch nicht neu, daß Ihre Partei neuen Ideen von unserer Seite nicht sofort aufgeschlossen gegenübersteht. Aber je mehr unsere Ideen Wirklichkeit werden, desto leichter fällt es Ihnen nach bisher gemachten Erfahrungen schließlich doch, die Zustimmung zu geben und uns sogar überholen zu 'wollen.
Im übrigen stelle ich fest, daß Sie hier so etwas wie eine formierte Gesellschaft gebildet haben: sie sind zu gemeinsamem Angriff gegen den Bundeskanzler zusammengerückt. Aber die formierte Gesellschaft habe ich natürlich nicht gemeint.
Dem Kollegen Schiller habe ich mit besonderem Interesse — auch seinen vorfabrizierten Anzüglichkeiten — zugehört. Er hat vieles gesagt, was nicht neu ist. Aber er hat auf viele Dinge keine Antworten gegeben, die wir gern • von ihm gehört hätten. Sie haben ja verkündet, daß es Ihnen möglich sein werde, im Falle eines Wahlsieges alle Dinge zu ordnen. Wie steht es damit?
Herr Schiller tut sich etwas schwer.
Er verkündet Marktwirtschaft in einer Partei, die nicht immer treu zur Marktwirtschaft steht und die auch anders kann. Er sagte mit Recht, daß er schon vor zwei Jahren gegen die Planifikation zu Felde gezogen sei. Das stimmt: nach mir! Denn ich habe nicht nur eine akademische Rede darüber gehalten, sondern ich bin in Straßburg gegen diese Idee aufgetreten. Ich habe die Sozialisten aller sechs Länder gegen mich gehabt, als ich den Gedanken der Planifikation verwarf.
Es gibt eben zweierlei Arten von Marktwirtschaftlern: die einen sind in der Wolle gefärbt — dazu gehöre ich —, und die anderen sind im Stück gefärbt; zu ihnen gehört Herr Kollege Schiller.
Es ist selbtsverständlich, meine Damen und Herren, daß keine Regierung — das gilt auch für den Bundestag, für alle Parteien und alle Fraktionen — in den Tag und in die Welt hineinleben darf, sondern sich Sorgen zu machen und Überlegungen über das anzustellen hat, was morgen vermutlich sein wird oder doch sein kann. Die Dinge werden nur dann kompliziert — sie werden geradezu gefährlich —, wenn man aus dieser Vorausschau quantifizierbare Schlüsse ziehen möchte.
Was Herr Kollege Schiller in der Schlußapotheose als Rezept gab: kurzfristige, mittelfristige und langfristige Wirtschaftsplanung, erinnerte mich an das Strickmuster aus meiner Jugend: eins kurz, eins mittel, eins lang.
Meine Damen und Herren, das gibt noch keine wirtschaftspolitische Konzeption.
Ich darf Sie z. B. an die Energieplanung erinnern. Ja, es gibt typische Fälle, in denen sich deutlich gezeigt hat, daß jede Art von Vorausplanung in der quantifizierten Form allzuleicht Unsinn ist. Es wurde ja noch von der Energielücke gesprochen, als die Halden schon anfingen, sich zu türmen. Man kann für den ganzen Bereich der Wirtschaft sagen: in dem Augenblick, da die Wirtschaftsverwaltung glaubt, das wirtschaftliche Leben in Zahlen einfangen zu können, befindet sie sich auf dem Holzweg; denn
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhard
eine solche Planung hinkt entweder dem Leben dauernd hinten nach oder aber sie tut dem Leben und der Wirklichkeit Gewalt an. Beides ist schlimm und beides führt nicht zum Erfolg.
Ich möchte aber noch etwas anderes sagen. Sie haben in Ihren Wahlreden und Wahlversprechungen erklärt, Sie wollten innerhalb dieser Legislaturperiode — in zwei oder drei Jahren, so hieß es wohl — die Preissteigerungen auf 1 °/o jährlich reduzieren. Ein sehr schönes Beginnen. Wir wollen das auch. Aber ich habe bisher z. B. von seiten der Gewerkschaften für 1966 keine Anforderung gelesen — sowohl was die Löhne und Gehälter als auch was die Urlaubs- und Arbeitszeit anlangt —, die nicht mindestens eine Erhöhung der Arbeitskosten von 12 % mit sich bringt. Auf der anderen Seite lese ich, daß die Sozialdemokratische Partei die Forderungen der Gewerkschaften unterstützt. Ob das nun für jede gilt, will ich dahingestellt sein lassen, aber es gilt jedenfalls cum grano salis. Die SPD unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften, von denen ich sagte: keine einzige liegt unter 12 %. Darf ich einmal die Gewissensfrage stellen: Glauben Sie, daß Sie mit einer Lohnerhöhung direkter oder indirekter Art von 12 % innerhalb eines Jahres in zwei oder drei Jahren so weit sein werden, daß Sie die Preissteigerungen auf 1% jährlich reduzieren können? Ich jedenfalls glaube das nicht.
Noch ein Drittes möchte ich sagen. Es ist ganz sicher, daß die Haushaltsführung der öffentlichen Hand von einschneidender Bedeutung ist. Hier gibt es keine Entschuldigung, hier gibt es kein Ausweichen. Wir wollen auch die Verantwortung nicht fliehen. Aber die Dinge sind hier doch zu einfach dargestellt worden. Ich will einmal die Zahlen über die Verwendung des Sozialprodukts von 19,64 nehmen, die sich auch 1965 in den Relationen kaum verändert haben. Auf den Verbrauch entfallen 56,3 %, auf die Investitionen 27,5 % und auf die unmittelbaren Staatsausgaben — natürlich die Einkommensübertragungen weggerechnet — 15 %. Die 1,2 % Saldo im Außenhandel können wir hier vernachlässigen. Glauben Sie wirklich, daß, wenn Sie das gesamte Sozialprodukt gleich 100 setzen, bei Staatsausgaben von 15% die alleinige, die ausschließliche Schuld nur bei den Ausgaben des Staates liegen kann? Man hätte hier manchmal den Eindruck gewinnen können, als ob der Staat ein Moloch wäre, der sich selber auffressen möchte. Wann gibt der Staat Geld aus? Entweder wenn er selbst eine zwingende Notwendigkeit erkennt oder wenn er sich dem massiven und nachhaltigen Druck von Wünschen und Forderungen einfach nicht entgegenstemmen kann. Das sind doch die Gründe! Darum sollte man die Dinge nicht so darstellen — auch nicht in der Öffentlichkeit —, als ob hier Leute zusammensäßen — das gilt für den Bund, das gilt für die Länder und in gewisser Beziehung auch für die Gemeinden —, die nichts Besseres zu tun hätten, als mit aller Gewalt aus freien Stücken Geld zu verschwenden. So liegen die Dinge doch nun wirklich nicht.
Wenn es rechtsstaatlich einen Weg gäbe, in einem öffentlichen Register nachzuweisen, welche Änderungen im Bundeshaushalt, in den Haushalten der Länder und in den Haushalten der Großstädte vor sich gehen, ,so würde ich eine solche Offenlegung sehr begrüßen, denn das würde einmal deutlich machen, daß eben nicht der Bund allein der Schuldige ist, wie es hier immer dargestellt worden ist.
Wenn Sie die Einkommensbildung nehmen, stellen Sie fest, daß 65 % aller Einkommen auf die Unselbständigen fallen; 35% sind Unternehmereinkommen und Ertrag aus Vermögen. Alle diese Relationen zeigen ganz deutlich, daß in dieser Diskussion die Gewichte sehr einseitig und, wie ich meine, oft falsch gesetzt worden sind.
Aber ich sage zum Schluß noch einmal: ich möchte das nicht als eine Entschuldigung oder als Ausflucht verstanden wissen; denn ich anerkenne die Bedeutung und die Verantwortung der öffentlichen Hand, in dem eigenen Bereich die Ordnung zu wahren, die uns die Stabilität erhält.
Ich habe in den Ausführungen des Herrn Kollegen Schiller den Hinweis auf die Leistung der Gesamtwirtschaft vermißt. Vor allen Dingen habe ich das Bekenntnis vermißt, daß die Arbeit die Grundlage unserer wirtschaftlichen Existenz ist und daß es nicht angeht, gegen den Gedanken, die Arbeitszeit zu verlängern, einfach zu polemisieren.
Daß die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Arbeitszeit in den einzelnen Gruppen der deutschen Wirtschaft unterschiedlich sind, wissen wir alle. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß eine Verlängerung der Arbeitszeit, ein höheres Maß an Arbeitsleistung, möchte ich besser sagen, in der deutschen Volkswirtschaft eine der zwingenden Voraussetzungen dafür ist, daß wir uns weiterhin das leisten können, was wir uns leisten wollen.
Es kann hier in diesem Hause von der Opposition gesagt werden, was da will; ich bin meiner Sache ganz sicher, daß das deutsche Volk für diese Aussage volles Verständnis hat und daß es sich wohl selbst oft fragt: Können wir uns denn das alles leisten? Und das ist eine gesunde Reaktion des deutschen Volkes.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Frage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Bundeskanzler, ist Ihnen bekannt, daß ich in meinem ersten Beitrag vorgestern abend wörtlich gesagt habe, daß eine Verringerung der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in dem Maße möglich ist, wie der Produktivitätsfortschritt in der kommenden Zeit den Zuwachs des realen Sozialprodukts übersteigt? Ich habe er-
294 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Dr. Schiller
klärt, was Produktivitätsfortschritt ist; Ihnen brauche ich das nick zu erklären. Darunter sind gesteigerte Arbeitsleistung, technischer Fortschritt und Investitionen zu verstehen. Ich möchte Sie bitten, mir darin zuzustimmen, daß in dem angegebenen Maße in den kommenden Jahren doch Verkürzungen der Arbeitszeit möglich sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schiller, wenn wir von einem Produktivitätszuwachs von 4 oder 5 % sprechen, dann haben wir ja alle diese Komponenten schon einkalkuliert, d. h. den technischen Fortschritt, der eine Erhöhung der Produktivität möglich macht. Wir haben einkalkuliert, daß dort, wo die Arbeitszeit verkürzt wird, durch entsprechend höhere technische Leistungen und neue Errungenschaften ein Mehr an Ertrag resultiert. Sie können nicht von einer Erhöhung der Produktivität von 4 oder 41/2 oder 5 % ausgehen und dann dazu sagen, daß die Verringerung der Arbeitszeit durch höhere Produktivität wettgemacht wird. Sie können alles nur einmal und nicht zweimal zählen.
— Aber wir können uns ja noch darüber unterhalten. Mir kommt es jetzt auch gar nicht darauf an, Gegensätze aufzureißen. Ich möchte nur einen ganz klaren Standort für die Politik der Bundesregierung aufzeigen und diese in der Öffentlichkeit nicht in ein diffuses Licht rücken lassen. Die Dinge sind viel zu lebensnah, sie sind viel zu real, als daß damit eine große Schau aufzuziehen wäre.
Herr Kollege Schiller, Sie gehen von einem idealtypischen Zustand der Wirtschaft aus. Das ist ein theoretischer Maßstab. Wir kennen das alle aus der Theorie, nämlich den Idealtyp der reinen Ökonomie, die sich abwandelt in der politischen Ökonomie. Aber davon ist bei Ihnen hier nichts zu spüren. Denn die Abweichung von der idealtypischen Norm ist nicht seltsam; sie ist nichts Verwunderliches, sondern das Natürlichste von der Welt. Die Dinge so darzustellen, als ob die idealtypische Norm, so wie wir es uns aus einem Wunschdenken heraus vorstellen möchten, auch die Wirklichkeit sein könnte, — das stimmt eben nicht mit der Wirklichkeit des Lebens überein.
Ich kann hier nur noch einmal sagen, was ich schon in meiner ersten Ansprache gesagt habe: Der Affekt allein ist ein schlechter Ratgeber; wir haben uns hier um eine sachliche Erörterung der Probleme zu bemühen. Ich werde noch in diesem Monat sowohl mit dem Sachverständigenrat als auch mit den Sozialpartnern ein Gespräch haben, das, hoffentlich in voller Ruhe und in Sachlichkeit, zu einem Ausgleich, oder, wie ich hoffen möchte, doch zu einer weitergehenden Übereinstimmung führen wird.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie noch eine Frage?
Herr Bundeskanzler, können Sie mir nachweisen, an welcher Stelle meiner beiden Beiträge ich von einem idealtypischen Modell der Wirtschaft ausgegangen bin
und nicht von der Wirtschaft heute und morgen? Können Sie mir das nachweisen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Sie haben diese Begriffe nicht verwandt. Aber Sie haben in Ihrer Argumentation so gehandelt, als ob wir die ideale Wirtschaft haben könnten und als ob alles, was davon abweicht, die Schuld der Bundesregierung wäre.
Nun ein letztes Wort zum Herrn Kollegen Schmidt, der gestern erklärt hat, die Sicherheit in Mitteleuropa werde von unseren Nachbarn im Osten und wohl auch von denen im Westen erheblich ruhiger betrachtet als von einigen aufgeregten Rednern in Deutschland. Zunächst einmal wäre das nicht überraschend; denn was für andere der Rock ist, das ist für uns das Hemd.
Selbstverständlich liegen uns die Dinge näher; uns brennen die Sorgen mehr als unsere Nachbarn, trotz aller Solidarität, die sie bezeugen.
Die Bedrohung Mittel- und Osteuropas ist nicht so sehr eine Frage der subjektiven Bewertung als der objektiven Gegebenheiten. Hier sind unsere westlichen Verbündeten, voran die Amerikaner, mit uns einig, daß wir dem sowjetischen Potential an Mittelstreckenraketen ein mindestens entsprechend wirksames Abwehrpotential entgegenzusetzen haben. Aber es ist nicht nur das Recht der deutschen Redner, sondern auch die Pflicht der Bundesregierung, unsere Verteidigung so zu gestalten, daß die Sicherheit des deutschen Volkes unter Berücksichtigung jeder denkbaren Entwicklung so weit als nur tunlich gewährleistet ist.
Noch ein Weiteres: Herr Schmidt sprach gestern von einem Hauch von nuklearer Beteiligung unter Anspielung auf jenen Hauch von Nerz, der einem gewissen Prestigebedürfnis abhelfen soll.
Ich möchte hier mit aller Deutlichkeit erklären, daß es uns bei der nuklearen Beteiligung nicht um Prestige geht, sondern um unsere Sicherheit.
Im übrigen werde ich mich auch nicht durch noch so interessante Fragen bereit finden — und ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür —, vor der NATO-Konferenz und vor wichtigen bilateralen Gesprächen mehr Einzelheiten hinsichtlich der Art unserer nuklearen Beteiligung hier auszuführen, als ich in der Regierungserklärung geäußert habe.
Es ist auch wieder über die Erschütterung des westlichen Bündnisses und die NATO-Krise gesprochen worden. In meinen Augen ist der NATO nicht damit gedient, daß man ständig von ihrer
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhard
Krise spricht und ihre sogenannte Misere in allen Einzelheiten darzustellen versucht. Seit Jahren spricht man von NATO-Krisen; die NATO hat ihre Aufgabe gleichwohl erfüllt, und wir Deutschen haben allen Grund, dankbar für das zu sein, was uns das Bündnis gegeben hat.
Wir werden daher fortfahren, das Unsrige dazu beizutragen, daß die NATO auch in Zukunft ihren Aufgaben genügen kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schmid .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat in diesem Hause bisher dritthalb Tage lang zunächst von den handfesten Sachen gesprochen, die für unser staatliches Dasein von Bedeutung sind, von Steuern, Außenpolitik, Export, Mineralöl, von Militärbündnissen und einer ganzen Reihe anderer gewichtiger Dinge. Man hat dies sehr ausgiebig und sachkundig getan. Vor mir haben die Abgeordneten Heinemann und Benda zu Problemen des rechtlichen Gefüges unseres Staatswesens gesprochen.
Was mich anlangt, so möchte ich ein Weniges von Dingen reden, die in der Regierungserklärung ein wenig kurz weggekommen sind. Wo sie erwähnt werden, wird die Problematik höchstens gestreift. Aber das sind Dinge, von denen ich glaube, daß man von ihnen zu sprechen habe, wenn man von den Sachen spricht, die den Staat angehen. Sie sind freilich nicht so handfest wie jene anderen Dinge, die Gegenstände unserer bisherigen Debatte gewesen sind. Ich finde es ganz verständlich, daß man von diesen handfesteren Dingen zuerst gesprochen hat; denn es ist natürlich, daß man zunächst von dem spricht, von dem unser tägliches Brot abhängt. Zuerst muß natürlich das Brot geschaffen werden. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Verzeihen Sie, daß ich hier eine Binsenwahrheit ausspreche, aber manchmal ist es notwendig, gerade Binsenwahrheiten zu wiederholen. Denn wir glauben zu leicht — was ich jetzt sage, das betrifft jeden einzelnen von uns —daß mit dem, was sich in Soll und Haben ausdrücken läßt, schon alles getan sei. Nun, das glaube ich nicht.
Bei dem, was den Staat angeht, geht es auch um anderes, in hohem Maße um anderes, in hohem Maße um wesentlich anderes als Soll und Haben allein. Es geht darum, ein Feld zu vermessen, ein Feld zu umschreiten, ein Feld, das dem Geiste zugeordnet ist. Davon will ich reden. Der Kollege Strauß hat dieses Thema gestern angesprochen, und ich danke ihm, für die Art, wie er es getan hat; denn er hat in einer höchst dankenswerten Weise die Priorität dieses Gebietes betont. Er hat gegen den Satz polemisiert, der Geist stehe links. Nun, Herr Kollege Strauß, dieser Satz ist nicht in diesem Hause geprägt worden. Vielleicht darf ich Ihnen
sagen, wo er zum erstenmal ausgesprochen worden ist. In jenen Jahren, in denen die Literatur des Alldeutschen Verbandes immer mehr in die Hausbüchereien einzog, hat ein Mann, dem - der Sinn davon schwer geworden war, diesen Satz gesprochen: Kurt Hiller. Man mag zu ihm stehen, wie man will. — Ich war nie einer von denen, .die meinten, er habe recht. — Aber in einem hatte er recht: in den Reihen des Alldeutschen Verbandes auf dieser „rechten" Seite — war der Geist nicht zu Hause.
Nun, solche allgemeinen Behauptungen, der Geist stehe links oder stehe rechts, gehören zu den höchst verdammenswerten schrecklichen Vereinfachungen, von denen man seit Jacob Burckhardt nicht mehr sprechen sollte.
— Darauf komme ich noch. Sie nehmen mir etwas vorweg. — Aber wie gesagt, wir sündigen hier auf beiden Seiten der Barrikade.
Es gab und es gibt rechts — das Wort verstanden im Sinne von „konservativ" — in Gegenwart und in der Vergangenheit Männer erlauchten Geistes. Unter „konservativ" verstehe ich, daß man die Gegenwart entscheidend aus der Vergangenheit herauswachsen lassen will. Ich nenne einen Mann, Friedrich Julius Stahl, der den preußischen Konservativen ihre Ideen geschenkt hat. Ich nenne einen weniger großartigen, aber sehr geistreichen Mann, den Freiherrn von Gentz, Mitarbeiter von Metternich, der zeigte, daß man sogar reaktionär auf geistreiche Weise sein konnte. Ich nenne auf der anderen Seite links einen Mann, der sich dem Fortschritt verschrieb und der Freiheit, Heinrich Heine, den Mann, dem man zwar lange keine Denkmäler errichtet hat in Deutschland, seinem Vaterland.
— Jetzt, ja; wie aber hat man drängen müssen, wie hat man pressen müssen, bis es endlich gelungen ist! Dieser Mann, den es um den Schlaf brachte, wenn er in der Nacht an sein Vaterland Deutschland dachte! Ich möchte gerne, daß recht viele Menschen bei uns heute um den Schlaf gebracht werden, wenn sie an Deutschland denken!
Aber — und nun komme ich zu dem Herzen, das links ist — es ist eine Tatsache, daß die geistig Schaffenden sich mehr zum Fortschritt als zur Beharrung hingezogen fühlten und fühlen. Das mag vielleicht ein Irrtum dieser Leute sein. Aber es ist nun einmal so — vielleicht, weil sie Links für die Herzseite der Menschheit halten.
Verehrter Herr Kollege, der Sie, mich vorwegnehmend, vorhin den Zwischenruf machten, das Wort stammt nicht von mir und von keinem Nihilisten, es stammt von Gottfried Keller, einem Mann, den ich einen demokratischen liberalen Konservativen nennen würde. Das gibt es nämlich. Jene, die über den Staat zu wachen haben, haben nicht nur zu
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den Problemen und zu den Sachwaltern der Wirtschaft, des sozialen Lebens, und zu den Bereichen der Zwecke ein positives Verhältnis zu suchen, sondern auch zu jenen, von denen der Herr Bundeskanzler — nicht in diesem Jahre, aber in der Regierungserklärung des Jahres 1963 — in schöner Weise gesagt hat, daß ihr Beruf sei, „über die Geschäfte der Menschen nachzudenken". Das ist eine ausgezeichnete Definition für das, was man ein bißchen abgekürzt „die Intelektuellen" zu nennen pflegt.
In dieser anderen, vorletzten Regierungserklärung hat er auch schöne Worte gefunden über — ich zitiere ihn — „die Notwendigkeit des Kontakts zu den geistig und kulturell führenden Schichten". Er hat dort auch gesagt — ich zitiere wiederum —:
Auch die Politik kann nicht darauf verzichten, ihre Probleme durch den menschlichen Geist durchleuchten zu lassen und für ihre Zwecke alle Kräfte
— er meint offenbar die geistigen Kräfte — zu mobilisieren.
Er sprach weiter von der Achtung, die der Wissenschaft gebühre. Er hat sich dabei auf das Wort Karl Friedrich von Weizsäckers berufen, daß die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das neunzehnte Jahrhundert, jene soziale Frage, die man — wir werden darüber wohl alle einig sein — zu spät erkannt hat. Man hat zu spät erkannt, was die Dampfmaschine alles mit sich bringen würde, an Gutem wie an Verhängnisvollem; es war verhängnisvoll, solange man nicht damit fertig werden konnte. Diese Aufgabe, die soziale Frage, ist noch nicht gelöst. Wir werden noch lange brauchen, bis wir sagen können: Jetzt sind wir wirklich an einem Punkt angelangt, wo es nicht besser zu machen ist.
Wir sollten auf jenem Aufgabengebiet — Lösung der Bildungsfrage, der Problematik der wissenschaftlichen Forschung — nicht durch Unterlassen des heute Gebotenen schuldig werden wollen, wie die Generation vor uns schuldig wurde, weil sie die sozialen Forderungen des Tages nicht rechtzeitig erkannte.
Jene andere Regierungserklärung — die von 1963 — sprach weiter davon, daß man den Dialog auch mit den Intellektuellen suchen müsse, was besser sei als eine einseitige Polemik gegen sie. Welch vortrefflicher Vorsatz! Aber wir wissen ja, womit der Weg zur Hölle gepflastert ist...
Noch viele andere gute Dinge waren in der Regierungserklärung von 1963 gesagt worden, Sätze, von denen ich manchen unterschreiben kann und von denen ich möchte, daß sie nicht vergessen worden wären, gerade von denen nicht, die ihnen vor zwei Jahren so lauten Beifall spendeten. Und weil das im Jahre 1963 in der Regierungserklärung so wohl bestellt war, hat es mich bekümmert, daß in der Regierungserklärung dieses Jahres von diesem Geist nicht mehr so sehr viel zu spüren war. Ich weiß nicht, woher es kommt. Vielleicht hielt es der Herr Bundeskanzler für überflüssig, davon zu sprechen,
nachdem er vor zwei Jahren schon davon gesprochen hatte. Aber wir sollten uns angewöhnen, zu begreifen, daß nach einer Wahl, auch wenn die Personen der Regierung die gleichen bleiben sollten, eine neue Regierung im Amt ist und daß diese neue Regierung all das, was sie glaubt anfassen zu sollen, in ihrer Regierungserklärung ausreichend zu umschreiben hat.
Wir finden in der neuen Regierungserklärung zwar einige Worte über die Notwendigkeit, Bildung und Wissenschaft zu fördern, aber mit dem Unterton: wenn wir das nicht täten, kämen wir ökonomisch ins Hintertreffen. Sicher kommen wir dann ins Hintertreffen. Aber ich frage, ob das allein entscheidend ist; ich frage, ob denn Wissenschaft und Bildung nicht schon deshalb gefördert werden müssen, weil sie zu den edelsten und unverzichtbarsten Äußerungen und Selbstbestätigungen der Menschenwürde gehören.
Natürlich bedarf es vordringlich der Vorsorge für die materiellen Lebensbedingungen, die für die Erhaltung des physischen Bestands und der seelischen Kräfte der Nation unumgänglich sind. Aber davon allein kann eine Nation nicht zu sich selber finden, vor allen Dingen nicht eine Nation mit dem Schicksal der deutschen. Eine Nation ist mehr als nur eine Bevölkerung, ist mehr als nur eine Produzenten-und Konsumentengesellschaft. Sie ist auch mehr als eine bloße Sprachgemeinschaft. Eine Nation erschafft sich immer neu durch das Bewußtsein, daß sie durch gemeinsame Liebe ihrer Glieder zu gemeinsam als gültig anerkannten und gewollten Menschheitswerten, zu einer geschichtlichen Gemeinschaft zusammengewachsen ist und durch das tägliche Bekenntnis dazu zusammengewachsen bleibt. Diese Definition ist nicht von mir, sie ist alt, fünfzehnhundert Jahre alt; sie stammt vom heiligen Augustinus, und ihr ist nichts hinzuzufügen.
Dieses Zur-Nation-werden-Wollen, indem man sich als eine Wertegemeinschaft erkennt und will, macht die Geschichtsmächtigkeit und die schöpferische Kraft einer Nation im Kontext der Weltgeschichte aus.
Diese Menschheitswerte, geistige Werte und seelische Werte, sind nicht uniform, sowenig wie das Bekenntnis dazu uniform zu sein braucht. Sie stellen sich in den verschiedensten Ausprägungen dar, links und rechts. Das zeigen einige Jahrhunderte unserer Geistesgeschichte, auch unserer Literatur, soweit sie zum Bildungsgut geworden ist. Und oft gibt sich das Gute am stärksten in der Darstellung seines Gegenteils zu erkennen, so wie man das Rechte manchmal am ehesten und gültigsten findet, wenn man zunächst über das Ziel hinausgeschossen ist.
Es gibt ein französisches Wort, das um die Jahrhundertwende herum geprägt wurde, als ein Teil der Nation dem anderen das Nationalsein bestritt. Da sprach ein großer Mann — es war Jean Jaurès — den Satz: „Tout ce qui est national est nôtre" — alles, was zur Bildung dieser Nation beigetragen hat, gehört uns allen gemeinsam und- zusammen.
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In Frankreich und in England — wo man genauso denkt — erkennt man sich in seinen „linken" und in seinen „rechten" Lebenswerten als gültige Glieder einer und derselben Nation. Im Linkssein ist man Franzose oder Brite, wie man im Rechtssein Franzose oder Brite ist, und beides in erster Linie, ehe man die Seiten aufspürt. Keiner ist weniger „echt national" als der andere, wenn er sich selber in seinem Volke wiedererkennt.
Allen Erscheinungsformen des Nationalen ist eines gemeinsam oder sollte es gemeinsam sein: es geht dabei — bei diesem immerwährenden Plebiszit, eine Nation werden und sein zu wollen — auf allen Seiten um den Menschen, um die Erkenntnis der ganzen Spannweite seiner. Wirklichkeit, um sein Verhältnis zur materiellen Welt und zur geistigen Welt, in die er hineingestellt ist, so gut wie zur Überwelt. Immer geht es um Aussagen und Darstellung dessen, was dem Menschen Selbstverwirklichung, Wesensbejahung möglich macht oder unmöglich macht. Diese Ausprägungen und Aussagen sind für die Menschen und sind für die Völker so wichtig wie die materiellen Bedingungen ihrer Existenz. Ich gehe weiter und sage: sie geben letztlich all dem ihren Sinn.
Wir haben in Deutschland die leidige Gewohnheit, unsere Schriftsteller einzuteilen in staatserhaltende und werteschaffende und in Nihilisten und daher Wertezerstörende. Nun, solche Urteile dauern selten für alle Zeiten, und mancher, der als Nihilist verschrien war, ist eine Generation später als ein Mann erkannt worden, der neue Werte ge) setzt hat, die Staat und Gesellschaft weitertragen. In der Reihe der Schriftsteller, auf die es heute ankommen mag, erscheint mir, lieber Kollege Strauß
— Sie werden mir wahrscheinlich nicht widersprechen —, ein Günter Grass erheblich ergiebiger als eine Literatur, für die der Name Ganghofer stehen mag,
eine Literatur, deren Werke heute wieder bedauerlich starke Auflagen erfahren.
— Bitte!
Herr Professor, glauben Sie wirklich, daß das eine Alternative in der Literatur ist? Wäre es nicht richtiger gewesen, Sie hätten gesagt, Günter Grass und Ernst Jünger? Das wäre eine anständige Betrachtung gewesen, über die man sich unterhalten kann.
Sie wissen, Herr Kollege, daß ich zu Ernst Jünger eine ganz besondere Beziehung habe, die schon sehr, sehr lange dauert, viele Jahre.
Aber um das zu zeigen, was ich meine, war es ganz gut, auf das hinzuweisen, das viele jener meinen, die uns andere Schriftsteller als die Grass vorschlagen. Darum habe ich die literar-paläontologische Schicht, um die es sich handelt, nach dem Namen
„Ganghofer" als dem des Leitfossils benannt. Herr Kollege, um den „Nihilisten" Günter Grass anzusprechen, ist es erhellender, ihn sich von dem „staatserhaltenden" Ganghofer und den Seinen abheben zu lassen.
Herr Kollege, Professor Dr. Schmid, wären Sie bereit, in einer weiteren Rede, wenn Sie den gleichen Satz verwenden, an die Stelle von Ganghofer Ludwig Thoma zu setzen?
Sie geben mir ein Stichwort. Es gab eine Zeit — ich habe sie noch erlebt —, wo man in Ihrem politischen Lager über die Filserbriefe eines Ludwig Thoma Ähnliches aussagte wie jetzt über den „Nihilismus" von Günter Grass;
er habe die Religion angegriffen, den Staat, die Demokratie und alles Mögliche. Ich kann daraus zitieren, wenn Sie wollen: „Die Kunst ist schon recht, aber nur bis zum Nabel . . ."
Sie kennen ja all das. Auch. das galt einst — vor 60 Jahren! — als anstößig und unanständig. Ich entnehme aber Ihrer Frage, daß Sie heute Ludwig Thoma mit seinen Filserbriefen für einen Klassiker halten!
Ich tue es jedenfalls; ich habe sehr viel aus ihm gelernt, für Vergangenheit und Gegenwart, Herr Kollege Strauß. Ich bin überzeugt, daß Sie morgen über Günter Grass anders denken und sprechen werden als heute.
Unterhalten wir uns vielleicht einmal über die „Hundejahre". Das ist ein bedeutendes Buch, wenngleich es darin einige Seiten gibt, die ich lieber nicht darin sehen möchte.
— Ja, aha! Aber diese paar Seiten entwerten mir das andere nicht.
Immerhin hat dieser Mann den Büchner-Preis bekommen.
Heute gilt es als eine Ehre, einen Preis zu erhalten, der im Zeichen Georg Büchners steht. Aber erinnern Sie sich bitte: in den Literaturgeschichten können wir lesen, wie die „staatserhaltenden" Zeitgenossen des „Hessischen Landboten" einst über den Verfasser des „Wozzek" gesprochen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
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Herr Kollege, würden Sie die parteipolitische Betätigung des Herrn Günter Grass ebenso positiv bewerten?
Verehrter Herr Kollege, das ist ein Werturteil, das schwer zu fällen ist; aber ich will es versuchen.
Ich fühle mich durch manches, was Günter Grass gesagt hat, persönlich ebenso getadelt, wie Sie sich dadurch getadelt gefühlt haben. Er hat nicht nur harte Dinge über die CDU gesagt; auch über die SPD hat er sie gesagt. Aber ich finde es eine gute Sache — und ich möchte gern, daß sie sich wiederholt —, daß sogenannte Literaten, Intellektuelle, Männer der Kunst, der Literatur sich nicht zu schade sind, auch in den politischen Kämpfen, im Parteienkampf Stellung zu beziehen.
Das ist das Symptomatische in dem Tun von Günter Grass und nicht so sehr, was er gesagt hat.
Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, die Ordnungen und Werte, in denen eine Nation sich integriert, selber zu produzieren; der Staat trifft sie an. Aber es stünde nicht gut um unsere Sache, wenn — begründet — der Eindruck entstehen könnte, jene, in denen unser Gemeinwesen sich am sichtbarsten darstellt, hätten dies nicht erkannt oder daraus nicht die rechten Folgerungen gezogen. Das wäre nicht nur schlimm um seiner selbst willen. Es wäre auch schlimm für die Reichweite unserer politischen Möglichkeiten. Es gab einmal eine Zeit, da die Deutschen wußten, daß Taten des Geistes, daß der Stand ihrer Volksbildung — wir standen einmal an der Spitze —, daß wissenschaftliche Leistungen, daß — es gab ihn einmal — der Mut der Deutschen zur Selbsterkenntnis nicht nur gut für diesen oder jenen Nutzen und das Prestige waren, sondern daß diese Tugenden — denn es sind echte Tugenden — den Rang ihrer Nation in der Ordnung der Völker darstellten und damit im letzten Grunde auch ein politisches Potential.
Wir sollten bei allem Wissen um das Anders-Sein der Größenordnungen wieder dahin kommen, — ohne freilich zu vernachlässigen, was uns dieses eiserne Zeitalter an Bewältigung der materiellen Welt abfordert. Aber auch deren Bewältigung kann im Guten nur vom Geiste her und auf den Geist hin geschehen. Das geht uns alle an, und hier gibt es — ich sage das im vollen Bewußtsein dessen, was ich sage — keine partikulären Abschrankungen im Volk, weder nach links, noch nach rechts, noch in der Mitte.
Nun sagt man aber häufig, Fragen des kulturellen Lebens gingen den Bund, die Bundesrepublik oder — drücken wir es einfacher aus — gingen Bonn nichts an; denn die kulturelle Hoheit sei Sache der Länder. Dazu will ich einiges sagen. Ich
will damit niemand engagieren. Ich sage meine Auffassung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Regierung eines Nationalstaates, wie wir einer sind — auch die Regierung eines föderalistisch sein wollenden Staatswesens — nicht als Vornehmstes die Pflicht hätte — nachdem für die Notdurft Sorge getragen ist —, um den Bildungsstand und die Bildungseinrichtungen ihres Volkes bemüht zu sein.
Ich sage: 'bemüht zu sein. Ich sage nicht: sie zu verwalten. Die kulturelle Hoheit liegt bei den Ländern, und das ist gut. Aber versteht es sich denn nicht von selbst, auch ohne ausdrückliches Verfassungsgebot, daß ein Regiment — und unter Regiment verstehe ich Regierung, Parlament, Bundesrat, alle diejenigen, die in den öffentlichen Dingen verbindlich zu sprechen und zu handeln haben — die Pflicht hat, in Verantwortung für die ganze Nation zu tun, was notwendig und geeignet ist, die geistigen Potenzen unseres Volkes entbinden und auf den rech ten Gebrauch hinlenken zu helfen, — zu helfen? Kann es dem Bund gleichgültig sein, ob die bisherigen Bildungs- und Forschungsmöglichkeiten ausreichen oder nicht ausreichen, um die Herausforderungen dieses Jahrhunderts anzunehmen und zu bestehen? Wenn das Grundgesetz dem Bund die Kompetenz gibt, die wissenschaftliche Forschung zu fördern, hat dann der Bund nicht auch in Konsequenz davon die Pflicht, dafür zu sorgen, daß unser Bildungswesen die Gewähr dafür bietet, daß in unserem Lande für die wissenschaftliche Forschung von den Schulen genügend viele, genügend durchgebildete Menschen zur Verfügung 'stehen? Wo eine Kompetenz gegeben ist, muß logischerweise auch die Möglichkeit gegeben sein, die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Kompetenz zu schaffen. Die Amerikaner nennen das „implied powers".
Man sagt — alle sagen es —, Bildung, Wissenschaft und Forschung seien das Schicksal der Nation, der ganzen Nation. Haben dann nicht jene, denen das Schicksal der ganzen Nation anvertraut ist, die Pflicht, dabei etwas zu tun, und sei es nur, Initiativen zu ergreifen? Unstreitig liegt die Kulturhoheit 'bei den Ländern; ich sagte es schon. Und ich sage jetzt: Das soll so bleiben, denn dies hat Vorteile, große Vorteile, auch für das Ganze der Nation. Der Föderalismus hat einen guten Sinn. Da geht es um mehr als nur um organisatorische Tricks, um administrative und fiskalische Geschichten. Der Föderalismus hat auch eine anthropologische Funktion, wenn er richtig begriffen wird, und deswegen bin ich Föderalist.
Ich sage, der Bund hat keine Schulen zu errichten; er hat keine Universitäten zu betreiben; er hat keine Kultverwaltung zu schaffen. Aber er hat auch auf dem Felde der Bildung und der wissenschaftlichen Forschung eine Führungsaufgabe. Er hat sich darum zu bemühen, daß — nun betone ich jedes Wort — im Wege freiwillig geschlossener Vereinbarungen, im Zusammenwirken von Bund, Ländern und Gemeinden, im Rahmen der jeweiligen legislativen und administrativen Zuständigkeiten ins Leben gerufen werden kann, was unser Volk 'braucht, um sich mit dem, was in ihm an geistigem
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Vermögen angelegt ist, in eigener geistiger Leistung voll entfalten zu können.
Wem nützt denn das Gefälle der Bildungseinrichtungen unter unseren elf Bundesländern? Nützt es den Ländern? Nützt es den Menschen in diesen Ländern? Es nützt gar niemandem, und eis schadet allen, und darum muß dagegen etwas getan werden. Es stünde der Bundesregierung, es stünde unserem Wissenschaftsminister wohl an, hier Initiativen zu ergreifen. Führung übernehmen heißt nicht kommandieren wollen; Führung übernehmen heißt, den Versuch zu machen, Wege anzuzeigen, auf die alle sich einigen können.
Es ist auf die Dauer nicht zu ertragen, daß wir — im Gegensatz zu allen anderen Nationen — für die Erziehung unserer Jugend noch keinen nationalen Bildungskanon — oder keinen mehr — haben, an dem unsere Kinder erkennen könnten, was es denn heißt und was einem abgefordert wird, wenn man zum Volk der Deutschen gehören will. Ich predige hier keine Gleichmacherei. In Hamburg soll man auf eigene Weise die Jugend lehren, welches der Ort der Deutschheit im Geflecht der Menschheit ist; in Bayern und anderswo auf andere Weise. Aber so oder so sollten doch unsere Kinder und sollten wir alle — denn wir haben es alle nötig — uns auf all unseren verschiedenen Wegen in dem, was uns als Deutsche ausmacht, an einem gemeinsam bestätig- ten Denkbild, das in einem gemeinsamen Bildungsgute wurzelt, orientieren können. Ein Volk, dem ein solches Bewußtsein seiner selbst gegeben ist, geht nicht zugrunde. Es übersteht die Wechselfälle der Geschichte. Es wird patriotisch sein und das Gift des Nationalismus von sich weisen, jenes Nationalismus, der nichts ist, denn andere herabwürdigende Überheblichkeit, die aus dem Gefühle stammt, weniger fest als andere in dem verwurzelt zu sein, was Wert und Sinn des menschlichen Daseins jenseits aller materiellen Zwecksetzungen ausmacht. Dieser schlechte Nationalismus ist ein Symptom für geistige und seelische Heimatlosigkeit.
Ich habe in der Regierungserplärung einige Sätze vermißt, in denen diese Führungspflicht des Bundes ausgesprochen worden wäre. In der Regierungserklärung von 1963 hieß es noch — ich zitiere —:
So gewiß die Bundesregierung bereit ist, die Zuständigkeit der Länder in der Kulturpolitik zu respektieren, so gewiß hat doch die Bundesregierung die Pflicht, vorausblickend die Lebensbedingungen eines modernen Staates zu garantieren.
— Offensichtlich auf dem Gebiet von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Nun, diese Absicht hat die Bundesregierung in den letzten zwei Jahren nicht in die Tat umzusetzen vermocht, und heute spricht man in der Regierungserklärung schon nicht mehr davon. Ich will nicht hoffen, daß wir dieses Schweigen als ein böses Symptom auffassen müßten. Aber ich will doch sagen, daß dort, wo die Bundesregierung eine unbestrittene Kompetenz hat — auf dem Gebiete der Förderung der Wissenschaft und Forschung nämlich — nicht all das getan worden ist, was die Forderung des Tages war. Gewiß, man hat Geld gegeben — aber längst nicht so viel, wie nötig gewesen wäre, um unserer Wissenschaft die volle Entfaltung zu ermöglichen. Man hat sparen zu müssen geglaubt, und man hat sich nicht gescheut, z. B. selbst der Max-Planck-Gesellschaft einen Zuschuß zu streichen, was ein aussichtsreiches Forschungsvorhaben unmöglich gemacht hat. Ich hoffe, daß man das in der Zwischenzeit wiedergutgemacht hat.
Gut, sehr schön! Aber es war notwendig, die Bundesregierung daran zu erinnern, daß man so nicht sparen kann und sparen darf. Jedermann spricht davon, daß die Wissenschaft unser Schicksal sei. In unserer verwissenschaftlichten Welt gilt dies. Wenn man dies aber einsieht, muß man auch bereit sein, die notwendigen Folgerungen daraus zu ziehen, muß man auch für Forschung und Wissenschaft so viel Mittel zur Verfügung stellen, daß sie den Wettbewerb mit anderen Nationen aufnehmen können; denn es geht dabei auch um unsere Unabhängigkeit!
Deswegen, meine ich, sollten wir den Ausgaben für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung — ich gehe weiter —, für alles, was den Sektor der Bildung anlangt, eine absolute Priorität geben.
Das setzt voraus, daß man unter Umständen andere Dinge, die auch gut und nützlich sind, nicht oder noch nicht in Angriff nehmen kann.
Es hat keinen Sinn, hier um die Dinge herumzusprechen. Sie fragen mich, welche. Nun, darüber werden wir uns — ich habe das gestern dem Herrn Kollegen Strauß gesagt — sehr eingehend unterhalten müssen. Mit Allgemeinheiten kommen wir hier nicht zum Ziel. Da braucht man das Gespräch von Mann zu Mann.
— Nun, Sie klatschen Beifall. Sie wollen damit offenbar ironisch sein
und sagen, ich hätte Allgemeinheiten gesagt. Das war gar nicht allgemein. Ich war gar nicht allgemein — um mit Bert Brecht zu sprechen. Ich war sehr konzis und konkret!
Noch etwas, an das man auch denken sollte. Denken wir doch an unsere Jugend! Unsere Jugend braucht doch ein Feld, auf dem sich auch heute in dieser, Gott sei Dank, unkriegerisch gewordenen Welt Ruhm erwerben läßt. Und wo läßt sich der erwerben, wenn nicht auf dem Feld der wissenschaftlichen Forschung! Es bedeutet doch etwas Schlimmes für unsere Jugend, daß wir ihrer Lust am Abenteuer der Wissenschaft nicht Genüge tun können. Jedes Jahr gehen 7 bis 8 % der akademisch voll ausgebildeten Natur-
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wissenschaftler ins Ausland — und das sind wahrscheinlich nicht die schlechtesten. Sie gehen nicht weg, weil sie hier zu wenig verdienten — sie sind Idealisten, wie es ihre Väter auch gewesen sind —, sie gehen weg, weil sie glauben, daß sie hier nicht die Arbeitsmöglichkeiten und Forschungsmöglichkeiten finden können, die sie brauchen, um ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen zu müssen. Das ist schlimmer, als es manchmal aussehen mag.
Ich halte es für eine nationale Pflicht ersten Ranges, alles zu tun, alles aufzuwenden, um hier Wandel zu schaffen. Wir müssen unserer Jugend die Forschungsmöglichkeiten anbieten, deren sie bedarf und nach denen sie dürstet. Sonst tritt ein Schaden ein, der über das hinausgehen wird, was der Wissenschaft als solcher an Schaden entstehen könnte.
Noch etwas! Wäre das, was ich hier empfehle, nicht ein probates Mittel, gerade die Begabtesten unserer Jugend enger an den Staat heranzuziehen? Bei ihnen das Bewußtsein zu wecken, daß Demokratie Freiheit ist, die etwas wagt und ihr Wagnis zu verantworten bereit ist und die Kraft dazu hat?
Das sehe ich als eine Gemeinschaftsaufgabe der Gemeinschaft an, die hier, in diesem Hause, beisammensitzt. Die Gemeinschaft Bund, Länder und Gemeinden habe ich gemeint, als ich von dieser Gemeinschaftsaufgabe gesprochen habe. Weder der Bund, noch die Länder, noch die Gemeinden können allein das Notwendige tun; nur alle drei Schichten unserer res publica zusammen können es, indem sie zusammengehen.
In der Regierungserklärung wurde gesagt, daß die wissenschaftliche Forschung nicht von Streichungen betroffen sein solle. Das ist ein gutes Wort. Ich bitte, mir in dieser Debatte, in der fast nur von Streichungen gesprochen wurde, nicht übelzunehmen, wenn ich sage, daß es nicht genügt, es bei dem zu belassen, was man bisher zur Verfügung zu stellen bereit ist. Es isst notwendig, mehr zur Verfügung zu stellen, als bisher zur Verfügung stand, denn das hat nicht genügt, um das, was notwendig war und ist, auch möglich zu machen. Es steht fest, daß ein Maximum wissenschaftlicher Forschung lebensnotwendig für unser Volk ist. Wenn man das glaubt — wohlan, dann tue man das Notwendige!
Wir müssen sparen, das ist richtig; aber am rechten Ort. Wir dürfen nicht an der falschen Stelle geiz en, denn Idas ist eine kostspielige Angelegenheit, letztlich eine böse Verschwendung von Chancen. Ich gebe dem Kollegen Strauß in seinen Ausführungen von gestern vollkommen recht: wenn wir das tun, ziehen wir die Fundamente weg, auf denen unsere Zukunft ruhen soll und die sie braucht. Mir kommt es manchmal so vor, wenn ich höre, auch da müsse man eben „streichen", daß man wie einer handelt, der auf den Tod krank ist und idem der Arzt einen Kuraufenthalt verschreibt, der aber einwendet: Das ist mir zu teuer, dann kann ich ja das Geld nicht verwenden, um meine Wohnung hübsch einzurichten ... — Gut, er richtet diese ein; aber ein anderer als er wird darin wohnen. Es ist wirklich so, wie in diesem Gleichnis angedeutet: wenn wir hier geizen,
dann werden wir morgen nichts mehr haben, über das wir uns so wie heute unterhalten können.
Wann werden wir endlich 'begreifen, daß Ausgaben für Bildung und Wissenschaft nicht Konsumausgaben, sondern rentierende Investitionen sind? Sollte es nicht möglich sein, wenn wir alle zusammen handeln, aus den vielen Töpfen unserer Subventionsmaschinerie die erforderlichen Millionen herauszusuchen? Sollte das nicht möglich sein, wenn man wirklich sparen will, wenn man wirklich im Unterholz aufräumen will?
Natürlich rede ich dem nicht das Wort, daß man von dem vorhandenen Steueraufkommen mehr abzweigen soll. Aber von dem Aufkommens zuwachs sollte man ein Großteil, vielleicht den größten Teil auf das Gebiet verlegen, von dem ich jetzt gesprochen habe.
Bei dem Verhältnis des Staates zur Welt des Geistes geht es aber nicht nur um Schule und Wissenschaft; es geht dabei auch um Literatur und Kunst, um jene, die Kunst und Literatur betreiben. Staat und Regierungen können weder Literatur noch Kunst erzeugen. Aber sie können sich zu beiden in ein Verhältnis setzen, das der Literatur und der Kunst Mut zum Staate macht. Sie können das nur tun, indem sie zeigen, daß sie beides ernst nehmen und nicht nur für Randverzierungen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit halten. Der Künstler soll seine staatsbürgerliche Pflicht tun wie jeder andere, ohne Privileg und ohne Diskriminierung. Als Wähler sind wir alle gleich. Auch wenn wir in einer Versammlung diskutieren, sind wir alle gleichen Rechtes. Keiner hat ein Privileg.
Ich gehe weiter und sage: Kunst und Literatur sollen sich nicht als Ersatz für Politik gerieren; sie sollen, was im Staate und durch den Staat geschieht, mit ihrem Tun begleiten. Die Sachwalter der Ideen und des Wortes dürfen Staat und Gesellschaft nicht aus dem Bereich, dem sie sich hingeordnet fühlen, ausklammern. Sie müssen sich damit befassen. Sie sollen sagen, was ist, und sie sollen auch sagen, was nicht so ist, wie es sein müßte, und sie sollen auch sagen, wo man im Politischen unter dem Maß des Menschlichen bleibt. Das wird nicht immer bequem, nicht immer genüßlich sein für jene, die politisch handeln müssen. Der Künstler und der Schriftsteller
— sagen wir auch hier schlicht: die Intellektuellen
— müssen, wenn sie nicht Verrat an ihrer Berufung üben wollen, das Unbedingte suchen. Das ist ihre Aufgabe. Dabei gelangen sie im Bereich des Politischen gelegentlich ins Utopische und manchmal sogar ins Abstruse. Aber das nimmt ihnen nicht das Recht auf Achtung ihrer Motive und auf Beachtung ihrer Ausgangspunkte und ihrer Zielsetzungen.
Der Politiker aber — das Wort im weitesten Sinne gebraucht — muß immer statt mit der Welt des Absoluten mit der Welt des Bedingten umgehen, und er hat schon recht viel Erfolg, wenn er mit dem, was er vollbringt, wenigstens in die Nähe dessen kommt, was von seinen Grundansprüchen gefordert wird. Deswegen werden die Intellektuellen nur sel-
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ten mit dem zufrieden sein können, was die Politiker tun und erreichen. Das liegt am Geschäfte beider. — Ich nehme an, Sie sind mit mir einig, Herr Martin. — Die Intellektuellen werden oft schon mit den Fragestellungen von uns Politikern nicht zufrieden sein können. Sie werden finden, daß wir dabei oft nicht hoch genug greifen. Damit erweisen sie uns einen Dienst. Sie rufen uns zu den Prinzipien zurück, zu dem, was die Griechen die „Archä" nannten — das, was am Anfang steht als die Summe aller Keime, aus denen sich entwickelt, was mit der Zeit aus uns herausgehen wird. Oft ist schon etwas gewonnen, wenn uns nach einem solchen Zurückruf zu den Anfängen, zu den Prinzipien, das Gewissen schlägt. Wir sollten dankbar dafür sein, daß es Intellektuelle gibt, so oft sie uns auch stören und erbosen mögen.
Wir sind allzu leicht geneigt zu vergessen, daß unsere Werke, und oft auch schon unsere Vorhaben, nur relativ, bestenfalls bloße Annäherungen an das Gebotene sind. Wir sind allzu leicht geneigt, uns schon damit im Gewissen zu beruhigen; aber das Gewissen verlangt uns mehr ab als nur das, was uns gerade gelingt.
Darum ist es gut, daß es Leute gibt, die uns von Zeit zu Zeit zurufen, daß, was wir tun, bestenfalls ein Bruchteil dessen ist, was das Ideal postuliert, von dem wir behaupten, wir hätten uns ihm verschrieben. Damit leisten jene Menschen nicht nur einen notwendigen Dienst an der Wahrheit, die es in dieser Welt so schwer hat, sondern auch an uns selber, indem sie es uns schwermachen, uns in der
Bequemlichkeit anzusiedeln.
Es ist auch gut, daß es Radikale gibt, auch wenn sie selber nur selten imstande sind zu bauen. Oft sind sie das Salz des Geistes und das Salz der Erde. Freilich verstehe ich unter „radikal", daß sich einer bemüht, zu den Wurzeln vorzudringen, und nicht nur ein Zetern aus einem Überschuß an Magensäure.
Wir haben in Deutschland solche Menschen, Menschen unterschiedlichen geistigen Ranges. Aber auch die kleineren unter ihnen sollten wir nicht gering achten. Auch die Kärrner sind notwendig, wenn die Könige bauen sollen. Mancher unserer zeitgenössischen Schriftsteller und Künstler hat uns in diesen Jahren Ansehen in der Welt verschafft und uns selber bewußter gemacht, in welcher Welt wir leben und wie wir uns zu dieser Welt stellen. Einige der bedeutenderen unter diesen Menschen sind sogar durch Bundesdienststellen und angeschlossene Organisationen ins Ausland geschickt worden, um in Goethe-Instituten und an anderen Orten davon zu zeugen, daß trotz der geistigen und materiellen Verheerungen der bösen Jahre auch heute in Deutschland der Geist lebt.
Das ist gut so! Kein Staat kann heute auf die Dauer auf außenpolitisches Verständnis in der Weltöffentlichkeit rechnen — ich meine nicht die Staatskanzleien —, wenn nicht das Volk dieses Staates der Weltöffentlichkeit als Träger lebendigen Geistes auch in der jeweiligen Gegenwart erscheint.
Es ist aber eine schlechte Sache, wenn Schriftsteller gescholten werden, weil sie die Regierung, die Politiker und gewisse Praktiken kritisierten und manchmal auch mißdeuteten. Das ist allen Seiten dieses Hauses widerfahren. Wir haben uns offenbar noch nicht von einem schlimmen Hochmut trennen können — Herr Benda sprach von einer gewissen Gouvernantenhaftigkeit; ich will seinen Ausdruck aufnehmen —, im Kritiker nichts anderes sehen zu wollen als Dummheit und Unanständigkeit.
Es hat mir ein bißchen weh getan, als vorgestern der Herr Bundeskanzler in seiner Replik sagte, er habe die moralischen Maßstäbe der Opposition zurechtrücken müssen. Wollte er denn damit sagen, daß die Opposition keine gültigen moralischen Maßstäbe habe und, wenn sie kritisiere, nicht nach solchen Maßstäben handele?
Kehren wir zu den Intellektuellen zurück. Wenn diese Leute glauben, uns um der Wahrheit, um unseres Volkes willen kritisieren zu müssen, sollen sie es tun mit den Mitteln, die sie haben. Freilich müssen sie es sich gefallen lassen, daß wir ihnen mit Argumenten antworten oder auch — auch das kann notwendig und richtig sein — durch unser Schweigen zeigen, daß wir, was sie sagten, für wenig gewichtig halten. Auch das ist erlaubt. Was nicht erlaubt ist, ist, sie auszuschelten; denn das ist keine Antwort.
Herr Kollege Strauß, Sie haben gesagt, ein Schriftsteller, der politisch dummes Zeug sage, der müsse sich gefallen lassen, zurechtgewiesen zu werden wie der kleinste Mann aus dem Volke.
— Doch, das haben Sie sinngemäß gesagt.
Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, Herr Kollege Schmid, daß ich nach meiner Erinnerung sinngemäß gesagt habe, daß das politische Urteil eines Dichters, eines Vertreters des literarischen Bereichs — das p o l i t is c h e Urteil — auch nicht mehr wiegt als das Urteil des einfachen Mannes auf der Straße. Das habe ich gesagt.
Gut, ich will Ihnen das zugeben. Aber in dem einen wie in dem anderen Falle soll man, wenn man antwortet, mit Argumenten reagieren und nicht mit Schelte.
Das ist es, was ich sagen wollte, denn auch der kleine Mann hat einen Anspruch darauf, daß man ihm mit Argumenten antwortet und nicht mit Scheltworten. — Nun, Herr Martin?
Herr Professor, würden Sie schon um des Gleichgewichts willen dann auch sagen, daß die Dichter uns gegenüber nicht mit Scheltworten antreten sollten, wie es in den beiden Broschüren zu Ihren Gunsten massenweise geschehen ist?
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Herr Kollege Martin, ich würde es mir in einem Falle, wo ich den anderen bei einer Ungehörigkeit ertappt habe, mir zur Ehre gereichen lassen, auf Retourkutschen zu verzichten.
Ich schließe ab: Nehmen wir die Intellektuellen ernst. Auch sie gehören zu den Realitäten des nationalen Lebens; auch sie gehören zu unserem Staatswesen, zur res publica; auch sie gehören in eine formierte Gesellschaft, d. h. in eine wohlgefügte Gesellschaft, in der sich alle schöpferischen Kräfte der Nation zueinander in der rechten Ordnung verstehen und verhalten. Man soll den Staat — man darf ihn leider nicht in die Hand derer geben, die mit den Forderungen des Tages nur nach den Geboten des Absoluten umgehen wollen — trotz Plato. Aber der Staat wäre schlecht beraten, der den Intellektuellen nicht erträgt.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für wissenschaftliche Forschung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir alle haben mit Aufmerksamtkeit und Anteilnahme die Ausführungen unseres Kollegen Professor Schmid gehört, die vieles Bemerkenswerte und vieles Bedenkenswerte zu Grundfragen unserer Gesellschaft, des Verhältnisses von Geist und Macht, Fragen der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, beinhaltet haben. Ich glaube auch, daß manches von dem, was hier über die kritische Funktion der Intelligenz gesagt wurde, dem Grunde nach von uns bejaht werden kann, freilich doch mit einigen Einschränkungen und Einwendungen. Entscheidend für die Bewertung von Auseinandersetzungen, wie wir sie jetzt hatten, auf die Sie sich bezogen haben, sind doch wohl auch der Rang und die Qualität der Kritik, die hier lautgeworden ist. Daran fehlte es allerdings in den Diskussionen der letzten Monate in einer manchmal schon peinlichen Weise. Ich verweise nur auf Ihre eigene innerparteiliche Diskussion, auf das, was in Ihren eigenen Reihen etwa über die Leistungen des Wahlkontors deutscher Schriftsteller und anderer gesagt wurde.
Aber ich meine auch — und in diesem Punkte können wir uns treffen, Herr Kollege Professor Schmid —, daß wir diese erhitzte und manchmal übersteigerte polemische Diskussion, die im Vordergrund steht, auch nicht überschätzen sollen, daß es daneben einen ständigen wichtigen und unentbehrlichen Beitrag der kritischen Intelligenz in unserer öffentlichen Diskussion gibt, der manchmal um so bedeutender ist, je weniger er in den Schlagzeilen des Tages und in den Polemiken sichtbar wird.
Im übrigen habe ich mit großer Freude zur Kenntnis genommen, daß Sie nun der erste Sprecher der Opposition sind, der den Begriff der formierten Gesellschaft positiv aufgenommen hat, zu dem wir
sonst nur etwas Negatives und zum Teil Spöttisches
aus den Reihen der Opposition gehört haben. Das mag den Optimismus des Herrn Bundeskanzlers rechtfertigen, daß sich auch zu diesem Begriff eine ähnliche Sinneswandlung anbahnt wie einstmals zur sozialen Marktwirtschaft.
Herr Professor Schmid hat Ihren Optimismus in Bewegung gesetzt.
Sollte ich mich so simpel ausgedrückt haben, Herr Minister, daß nicht zu merken war, daß ich den Versuch gemacht habe, diesem Hause endlich einmal eine Definition vorzuschlagen, was die ander Seite des Hauses bislang versäumt hat?
Wir nehmen dankbar den konstruktiven Beitrag der Opposition entgegen.
Meine Damen und Herren! Zu den Fragen des Vorrangs von Bildung und Wissenschaft für die Zukunft ist von Ihnen im Anschluß an die oder auch im Zusammenhang mit den ausgezeichneten Ausführungen, die der Kollege Strauß gestern früh machte vieles Gurte und vieles Beherzigenswerte gesagt worden, vieles, was ich als der zuständige Bundesminister nur begrüßen kann. Sie haben allerdings auch einige Vorwürfe dabei erhoben, z. B. die Vermutung oder die Ansicht geäußert, daß die guten Vorsätze in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers von 1963 vergessen seien.
— Nicht verwirklicht worden. Ich glaube, daß die Entwicklung der Ansätze und der Leistungen von Bund und Ländern in den letzten Jahren dieses ungünstige und negative Urteil nicht rechtfertigt. Ich glaube, es ist gut, wenn man sich auch im Bereich des Geistes und der großen Entwürfe manchmal an die Zahlen und Fakten erinnert. Ich will deshalb einige wenige Zahlen vortragen.
Die Leistungen für Wissenschaft und Forschung sind auch in den letzten beiden Jahren weiter angestiegen, beim Bund von 1962 bis 1964 von insgesamt 1,4 auf 2,1 Milliarden DM, also immerhin um 50%, bei Bund, Ländern und Gemeinden von insgesamt 3,6 auf über 5 Milliarden DM. Dazu kommt der Anstieg der Leistungen der Wirtschaft von 2,2 auf 2,8 Milliarden DM. Darin sind wir uns allerdings einig, Herr Kollege Schmid: Die Steigerung dieser Leistungen genügt noch nicht; sie ist kein Anlaß zur Zufriedenheit, vor allem auch nicht im internationalen Vergleich und dann nicht, wenn wir sehen, wie die Entwicklung der Wissen-
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Bundesminister Dr. Stoltenberg
schaft und Technik selbst die Quantitäten und ,die quantitativen Erfordernisse verändert.
— Das habe ich gerade vor, verehrter Herr Kollege.
Ich möchte folgendes sagen: Wir haben den Anteil der Leistungen für Wissenschaft und Forschung am Sozialprodukt seit 1956 bei einem steigenden Sozialprodukt von 1 auf 2 % verdoppelt. Ich verweise darauf, daß der von der Bundesregierung im Frühjahr dieses Jahres durch meinen verehrten Vorgänger, Minister Lenz, vorgelegte Bundesforschungsbericht, der von allen Fraktionen des Hauses begrüßt und bejaht wurde, die Notwendigkeit ausgesprochen hat, diesen Anteil bis 1970 auf 3 % zu erhöhen, und ich verweise in Übereinstimmung mit Ihnen darauf, daß das eine große Aufgabe ist, die von Bund, Ländern, Wirtschaft und Wissenschaft eine große Anstrengung und ein großes Maß an Leistungswillen erfordert.
Einen Satz oder einen Gedanken in der von Ihnen sonst in diesem Punkt kritisierten Regierungserklärung halte ich allerdings für die Verwirklichung solcher Ziele für entscheidend. Es ist der Satz: Wir werden diesen Vorrang der Ausgaben für ) Wissenschaft und Forschung und die anderen großen Sozialinvestitionen, die man immer in einem Zusammenhang damit sehen muß, nicht in einem Wettlauf von Versprechungen erreichen, sondern nur dann, wenn wir den Mut zu Prioritäten haben, d. h. auch zur Begrenzung und zum Verzicht in dem einen oder anderen Bereich.
Das ist eigentlich der Kardinalpunkt, über den wir bei Ihnen in dieser ganzen Debatte und auch in Ihrem sonst von mir mit großer Aufmerksamkeit verfolgten Beitrag jede klare Aussage vermissen.
Was wir 1966 tun können, wird in wenigen Wochen im Kabinett beraten werden. Es wird dann hier im Bundestag beraten und entschieden werden. Aber ich möchte keinen Zweifel daran lassen, daß es in anderen Bereichen bereits vorentschieden wird. Auch Sie, Herr Kollege Schmid, und ihre Freunde werden mit Ihrer Abstimmung über das Haushaltssicherungsgesetz im Grunde bereits Ihr Votum über die sozialen Investitionen des nächsten Jahres fällen.
Wenn Sie nicht bereit sind, in den kommenden Wochen und in den kommenden Monaten — dies ist ja nur ein erster Schritt, den wir in sechs Wochen gehen können — bestimmte strukturelle Fragen unserer Innenpolitik und damit auch unserer Finanzpolitik zu lösen, können wir das Notwendige, das
Sie hier mit voller Berechtigung herausgestellt haben, nicht tun.
Ich will Ihnen nur ein konkretes Beispiel nennen, das für jedermann zugänglich ist. Es kann auch meine Freunde und mich nicht befriedigen, daß die steigenden Staatszuschüsse zur Deckung des Bundesbahndefizits bereits 1965 über 3 Milliarden DM erreichen und damit dreimal so hoch sind wie der Etat des Wissenschaftsministers, der ja allerdings nur einen Teil der Staatsleistung für Wissenschaft und Forschung beinhaltet. Aber wir müssen darüber sprechen. Wer dann eben nicht bereit ist, über höhere Tarife auch nur zu diskutieren, weil sie angeblich unsozial sind, obwohl heute jeder Erwerbstätige die Bundesbahn mit 120 DM im Jahr aus seinem Einkommen subventioniert, wer nicht bereit ist, über notwendige Einsparungen zu sprechen, weil sie angeblich gewisse Besitzstände trüben — und diese Äußerung gibt es ja aus Ihrem Bereich in dieser anderen Diskussion —, der bleibt bei seinen Reden für Wissenschaft, Bildung und Sozialinvestitionen im Verbalen stecken.
Es genügt eben nicht, wir wir es abwechselnd von Ihrer Seite gehört haben, zu sagen, daß wir zuviel ausgeben, wie Herr Kollege Professor Schiller, und daß wir zu wenig tun in den einzelnen Sektoren, wie andere. Nein, wir müssen an Sie doch die Aufforderung aussprechen, ein in sich geschlossenes finanzpolitisches Programm zumindest in den Umrissen sichtbar zu machen, wenn Sie schon die Vorschläge der Bundesregierung ablehnen.
Und nun darf ich vielleicht, Herr Kollege Professor Schmid, noch etwas zu Ihren allgemeinen und, wie ich glaube, auch durchaus bemerkenswerten und im wesentlichen von mir bejahten Ausführungen über das Verhältnis von Bund und Ländern oder, wie Sie es gesagt haben — ich möchte es als Wissenschaftsminister nicht so formulieren —, über die Führungsrolle des Bundes in diesem Bereich sagen. Ich bin mir mit Ihnen völlig darin einig, daß es um eine •sachgerechte Auslegung und Praktizierung der Verfassung geht, auch wenn Sie nicht übersehen können — und Sie wissen das als fachlich kompetenter Hochschullehrer viel besser als ich —, daß unser Bundesverfassungsgericht die amerikanische Rechtstheorie der „implied power" eben — man kann vielleicht sagen: leider — ausdrücklich verworfen hat. Insofern haben wir einen anderen Ausgangspunkt, als er dort in Ihrem Hinweis gegeben ist.
Aber ich muß doch sagen, daß wir diesen Weg konkreter Verwaltungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern unter maßgebender Mitwirkung der Wissenschaft und ihrer Organe seit 1957 unter allseitiger Zustimmung gehen. Wir haben seit 1957 die Abkommen über den Wissenschaftsrat, über die Hochschulfinanzierung, über gemeinsame Bund-Länder-Organe für die großen nationalen Forschungsorganisationen Max-Planck-Gesellschaft und Deutsche Forschungsgemeinschaft, und wir sind in diesem Jahr nach der letzten Regierungserklärung mit dem Abkommen über den Deutschen Bildungsrat erfreulicherweise einen großen Schritt weitergekommen,
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Bundesminister Dr. Stoltenberg
weil wir nun nicht nur im Sektor der Wissenschaft, wo wir, wie Sie mit Recht sagen, eine stärkere verfassungsmäßige Funktion haben, sondern auch im allgemeinen Bildungswesen eine Mitwirkung des Bundes erreicht haben.
Das werden wir alle als einen großen und wichtigen Fortschritt für die Möglichkeiten des Bundes ansehen, ,der um so bedeutsamer ist, als er im Einvernehmen mit den Ländern und nicht in einem unfruchtbaren Streit über Kompetenzen oder Verfassungsdefinitionen erzielt wurde.
Herr Minister, der Herr Abgeordnete Seibert wartet schon lange darauf, eine Zwischenfrage stellen zu können.
Bitte!
Herr Minister, Sie haben vorhin erklärt, daß die Bevölkerung ,die Bundesbahn subventioniert. Ich sehe aus dieser Feststellung, daß im Kabinett unterschiedliche Sprachregelungen herrschen. Der Herr Verkehrsminister hat — —
— Jawohl, bitte: Ist Ihnen bekannt, Herr Minister, daß der Herr Bundesverkehrsminister auf die Frage, ob es sich hierbei um Subventionen handele, erklärt hat, es handele sich hier um Abgeltungsbeträge, die der Deutschen Bundesbahn für Leistungen, die sie im Interesse der Allgemeinheit erbringt, zustünden?
Herr Kollege Seibert, ich möchte in einer Diskussion über Kulturpolitik nicht zu tief in die Verkehrspolitik hineinkommen. Aber nachdem ich selber die Diskussion mit einem Hinweis darauf eröffnet habe, möchte ich Ihnen folgendes sagen: Wie immer man diese Vokabeln wählt
— und da ist der Herr Verkehrsminister kompetenter als ich, das bestreite ich gar nicht —, das Ergebnis ist unbestreitbar, daß aus Steuermitteln für einen weitgehend auch begründeten, zum Teil aber wohl auch abwendbaren Fehlbedarf der Bundesbahn solche Zuschüsse gezahlt werden müssen. Auf das Faktum kam es mir an; die Definitionen, die richtigen Begriff dürfen wir vielleicht in einem anderen Zusammenhang klären.
Entscheidend ist also, daß wir uns in konstruktiver Zusammenarbeit mit den Ländern und der Selbstverwaltung der Wissenschaft den neuen Aufgaben stellen. Dazu bedürfen wir des großen gedanklichen Entwurfs, wie wir hier in einigen Reden
— vor allem gestern von dem Kollegen Strauß und heute von Ihnen, Herr Kollege Schmid — an Hand wichtiger Überlegungen gehört haben. Dazu bedürfen wir aber auch der nüchternen Überprüfung solcher Entwürfe an den Bestimmungen unserer Verfassung und ihrer Durchsetzung im realen, harten Raum der Finanzpolitik.
Wir werden in den nächsten Jahren große Aufgaben vor uns haben — darüber ausführlicher zu sprechen wird sicher im neuen Jahr Gelegenheit
sein —, Aufgaben der allgemeinen Wissenschaftsförderung ebenso wie Aufgaben in bezug auf den Ausbau unserer Hochschulen und die Förderung der großen nationalen Forschungsorganisationen, Aufgaben auf dem Sektor der neuen Techniken, der Atomforschung, der Atomtechnik, der Weltraumforschung. Für die Aufgaben auf dem letztgenannten Gebiet haben wir vorgestern aus dem Munde des Herrn Kollegen Erler erfreulicherweise ein deutliches Plädoyer gehört, das im Gegensatz zu einigen anderen Äußerungen von Ihrer Seite stand.
Ich freue mich, daß trotz der Unterschiede, die wir hier nicht verschwiegen haben, in dieser grundsätzlichen Beurteilung heute ein Einvernehmen zwischen allen Seiten des Hauses sichtbar geworden ist, und ich hoffe, daß dieses Einvernehmen auch dann sichtbar ist, wenn es im Gesamtzusammenhang der Innen- und Finanzpolitik die Prioritäten zu setzen gilt.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Martin.
Meine Damen! Meine Herren! Ausführungen eines Mannes vom Range Carlo Schmids verlangen eine Antwort unsererseits, zumal ein Thema angeschnitten worden ist, das unbedingt erledigt werden muß. Carlo Schmid hat in Breite erörtert — und Professor Schiller hat es schon vorher getan —, wie der Umgang mit dem Geist von Staats wegen zu geschehen habe, und eine große Partei muß sich selbstverständlich dazu äußern.
Ich möchte zunächst einmal sofort die Unterstellung zurückweisen, daß etwa der Herr Bundeskanzler oder die CDU ihre Haltung von vor zwei Jahren geändert hätte. Damals ist in grundsätzlichen Ausführungen gesagt worden, daß die Bundesregierung es für notwendig halte, in einem ständigen Dialog mit dem geistigen Leben in Deutschland zu bleiben. Herr Schiller hat vermißt, daß das wiederholt wird. Er hätte sehen müssen, daß dieselbe Sache aktualisiert worden ist am Beispiel der auswärtigen Kulturpolitik und daß dort dieselbe Aussage mit Deutlichkeit wiederholt worden ist. Ich darf Ihnen das noch einmal zu Gemüte führen. Da heißt es nämlich:
Die Chancen der auswärtigen Kulturpolitik sind freilich nicht allein von der Bundesregierung bestimmbar, ... Im eigentlichen und letzten hängen sie ab von der Kraft und Vitalität, der Originalität und Faszination der Ausprägung unseres kulturellen Lebens.
Und dann kommt ein sehr interessanter Satz:
Die Bundesregierung erkennt mit Dankbarkeit und Stolz an, daß diese eigentliche, erste Voraussetzung auswärtiger Kulturpolitik erfüllt ist. Nicht nur die darstellenden Künste, nicht nur Wissenschaft und Technik — die Literatur, die bildende Kunst, die moderne Musik haben in unserem Land in den letzten Jahren Leistungen
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Dr. Martin
hervorgebracht, die die Aufmerksamkeit der Welt verdienen... .
Meine Damen und Herren, damit ist etwas ganz Deutliches ausgesagt, was Regierungen sehr selten zu tun pflegen, ein umfassendes Urteil nämlich über die gegenwärtige Situation des kulturellen Lebens in Deutschland. Es wird damit gesagt, daß die moderne Literatur — all die Namen, die hier durch den Raum gehen, von Grass und Schmidt und Lenz und Jonson und Piontek und Krolow und wie sie alle heißen — die deutsche Literatur wieder weltfähig gemacht hat, das heißt, daß sie uns den Dienst getan hat, zu zeigen, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht nur sozial und wirtschaftlich, sondern auch kulturell ein moderner Staat ist. Das ist die Aussage, die hier drinsteht. Mehr kann man eigentlich mit Fug und Recht von einer Regierung als Aussage zum kulturellen Leben nicht erwarten.
Ich will mich jetzt nicht dazu verführen lassen, ästhetische Urteile abzugeben oder etwa die deutsche Literatur zu sortieren. Uns hier im Bundestag geht die politische Seite dieser Sache an.
Was bedeutet die literarische Kritik für uns?
Meine Damen, meine Herren, man darf das Problem nicht isolieren. Sie müssen folgendes sehen. Die Literatur ist ein Teil der Kritik, auf die ein demokratischer Staat unbedingt angewiesen ist, ein sehr auffälliger und herausstechender Teil, aber nur ein Teil.
Die Kritik im modernen Staat wird zunächst einmal geleistet, so hoffen wir, von der Opposition. Das ist heute nicht mein Thema, darüber haben andere schon gesprochen.
Die zweite Schicht, die die Aufgabe der Kritik hat, ist die Wissenschaft, und die spielt heute als kritisches Element im modernen Industriestaat eine größere Rolle — ich komme gleich noch darauf zurück — als die Literatur. Wenn Sie sich das einmal ansehen, so sehen Sie, daß der bös inkriminierte Bundeskanzler damit angefangen hat, sich mit der Rolle der Kritik auseinanderzusetzen, ehe er Politik machte. Die große Sozialkritik es Jahres 1945: das waren die Arbeiten von Röpke, von Hayek und von Böhm, das waren die Arbeiten, die uns zeigten — nach dem Nationalsozialismus und vor dem Kommunismus —, daß man eine personalistisch orientierte Wirtschaftspolitik entwerfen müsse. Der Bundeskanzler hat damit angefangen, eine große Sozialkritik umzusetzen in eine praktizierbare Wirtschaftspolitik, und das hat er fortgesetzt. Die Sozialreform, die Rentenreform, alle großen Züge unserer Politik sind begleitet von den Gutachten und von den Meinungen von Professoren und Gelehrten. Es wirkte etwas komisch, als Ulrich Lohmar auf dem Parteitag in Karlsruhe dem deutschen Volke mitteilen mußte oder wollte, daß 35 Professoren bereit seien, Willy Brandt ihre Dienste anbieten, und daß er davon Gebrauch machen wolle. Es stellte sich nachher heraus, daß sie gar nicht wollten,
wenigstens ein großer Teil nicht.
Herr Dr. Martin, Herr Dr. Lohmar möchte eine Frage stellen.
Bitte schön!
Herr Martin, sollte Ihnen in der Eile und der Hitze des Wahlkampfes entgangen sein, daß unser wissenschaftliches Beratungsteam seine Resultate in der Schrift „Deutschland 1975" einer interessierten Öffentlichkeit unterbreitet hat?
Dazu sind zwei Dinge zu sagen. Ich wollte sagen: Es ist eine bare Selbstverständlichkeit, daß eine moderne Politik sich der Wissenschaft bedient. Dazu braucht man keine besondere Verlautbarung. Und dann: wenn ich den „Spiegel" richtig gelesen habe, Herr Lohmar, hat sich die SPD von ihrem bemerkenswerten Buch „Deutschland 1975" leise distanziert.
— Ich habe gesagt: wenn ich den „Spiegel" richtig gelesen habe, hat auch diese Sache nicht so richtig funktioniert.
Herr Martin, wie kommen Sie zu einer solchen Vermutung? Das Buch, das Sie soeben erwähnt haben, ist mit einem Vorwort des Parteivorsitzenden positiv kommentiert worden.
Ich habe gesagt: der „Spiegel" hat sich ,so geäußert; mehr habe ich nicht gesagt.
— Meine Damen und Herren, auch der „Spiegel" gehört zu der Kritik an unserer modernen Gesellschaft, und ich lese ihn selbstverständlich. Ich lese sogar SPD-Schriften.
Aber ich lasse mich jetzt nicht mehr ablenken. Ich komme zum weiteren Thema; ich bin ja erst in der Einleitung.
Wir müssen uns jetzt erst einmal damit beschäftigen, was die Rolle der Literatur bei uns ist und was sie sein soll. Wir gehen davon aus, daß die Literatur und die Kritik, die sie übt, eine wichtige staatspolitische Funktion hat, die wir schätzen und die wir nicht entbehren möchten. Aber es bleibt dabei, was Franz Josef Strauß gesagt hat: Ein politisches Argument wird politisch bedient und wird genauso behandelt werden wie jedes andere Argument, das im Raum steht. Das kann man gar nicht anders erwarten.
Ich würde es für ein Unglück halten — ich bin ,da anderer Meinung als Professor Carlo Schmid —, wenn der Dichter sich integrieren ließe, und ich glaube, daß der Dichter das vermeiden muß. In dem Augenblick, in dem er Parteigänger wird, verliert er seine Kontrollfunktion gegenüber dem Ganzen. Dann kommt er in die Linie, in der er wie ein Parteigänger kritisiert und auch als solcher behandelt wird.
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Dr. Martin
Es ist also gar keine Rede davon, daß die CDU ein ungutes Verhältnis zur Literatur habe. Was die CDU hat, ist folgendes: Wir begegnen der Kritik, die aus der Literatur kommt, ebenfalls mit Kritik. Wir setzen uns nicht hin und nehmen etwas entgegen, nur weil es von einem berühmten Manne kommt, nur weil es aus einem Dichtermund stammt, sondern wir prüfen es in seinem Wert hinsichtlich der Politik, die wir haben und die wir führen müssen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Moersch?
Herr Dr. Martin, darf ich fragen, ob diese von Ihnen soeben geäußerte überraschende Meinung über das Verhältnis von Dichter und Parteigänger die Meinung der gesamten Fraktion der CDU/CSU darstellt, oder ist es nur die Meinung des aufgeklärten Teils, dem Sie sich offensichtlich hier zurechnen?
Das ist eine etwas grobfingrige Frage. Ich würde darauf antworten: in diesen Dingen gibt es sehr verschiedene Meinungen in allen Parteien. Ich glaube aber, daß das, was ich hier vortrage, die führende und tragende Meinung in meiner Fraktion ist.
Die Sache wäre gar nicht so schlimm gewesen, wenn es bei uns in der Sache etwas mehr Humor gäbe. Wenn der Bundeskanzler im Wahlkampf — wir wollen das ruhig einmal anschneiden — von „Pinschern" geredet hat, so ist hier folgender Rat, den eine süddeutsche Zeitung gegeben hat, doch sehr bemerkenswert, und ich will ihm jetzt einmal folgen. Man hätte diese Bemerkung auch mit Humor beantworten können. Ein süddeutscher Journalist hat die Frage gestellt: War es denn eigentlich eine Beschimpfung? Um diese Frage beantworten zu können, hat er „Brehms Tierleben" einmal aufgeschlagen, um festzustellen, was ein Pinscher eigentlich ist. Da fand er folgendes, und ich darf Ihnen das mit Genehmigung des Präsidenten vorlesen:
Die Pinscher sind äußerst kluge, höchst muntere und über alle Maßen jagdbegierige Hunde.
Als Hausgenossen des Menschen können sie nicht immer empfohlen werden,
weil sie wegen ihrer steten Unruhe ihrem Herrn oft mehr Verdruß als Freude bereiten.
— Moment, Herr Professor. Der Genuß geht völlig weg, wenn ich das Zitat nicht zu Ende bringe. Sie kommen gleich. Es geht nämlich weiter:
Die geistigen Fähigkeiten aller Pinscher sind beachtenswert.
Sie zeigen einen hohen Verstand, viel Selbstüberlegung und Geschicklichkeit. Man kennt Beispiele, wie solche Hunde den Wert des Geldes zu würdigen und sich daher Münzen zu beschaffen wußten, um dafür Eßwaren zu kaufen.
Meine Damen und Herren, ich habe selber noch einmal nachgeschlagen. Es gibt noch einen netten Satz. in diesem „Brehm". Da steht drin, daß die Pinscher die Rute, wenn man sie ihnen nicht stutzt, säbelförmig auf dem Rücken tragen; und das war der Ärger.
Glauben Sie, daß der Herr Bundeskanzler, als er seinen Aussprach tat, diese Definition gekannt hat?
Herr Professor, ich glaube das nicht.
Eine zweite Frage: Und wie verhält es sich mit den Adjektiven, die er benutzt hat?
Welche Adjektive?
Die er dem Wort „Pinscher" beigegeben hat.
Die waren sachgemäß. Das steht auch im „Brehm". Es handelt sich um „kleine".
Meine Damen und Herren, ich wollte damit nur sagen, man hätte die ganze Sache auch anders aus der Welt räumen können. Ich würde sagen, es ist eine Sache des ganzen Bundestages, — —
— Herr Professor Schmid, ich will die Sache jetzt nicht vergröbern und auch nicht verschlechtern. Wenn ich auf Polemik gestimmt wäre, dann würde ich Ihnen einmal die Verbalinjurien aus den beiden Büchern, die bei RoRoRo erschienen sind, zeigen.
Dabei handelt es sich um Dinge, die am Schreibtisch kühlen Herzens und kalten Kopfes ausgedacht worden sind und nicht in der Hitze des Wahlkampfes gesprochen worden sind.
Herr Professor, wir brauchen eine muntere und
scharfe Polemik. Aber wir brauchen in der Tat
keine Beschimpfungen, von keiner Seite. Aber es
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 307
Dr. Martin
ist ein geschichtlicher Fakt, daß in diesen Büchern
damit begonnen worden ist und in einer Sprache
geredet worden ist, die — wie sie sich ausdrücken
— den großen Gegenständen, um die es sich in der Politik handelt, nicht angemessen ist.
Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht so lange aufhalten. Herr Stoltenberg hat das Notwendige zu den anderen Dingen gesagt. Ich möchte Ihnen hier noch einmal deutlich machen, daß das, was in der Regierungserklärung über auswärtige Kulturpolitik steht — von dem Fritz Erler hier gesagt hat, daß es ihm gut gefallen habe und daß es richtig sei —,
in einem Gespräch zwischen Dichtern, Wissenschaftlern, Politikern und dem Herrn Bundeskanzler entstanden ist. Das ist das Ergebnis. Ich könnte Ihnen auch die Namen nennen. Sie würden erstaunt sein, wer alles dabei gewesen ist.
— Ja, das kann ich Ihnen sagen. Da war der Herr Unseld, da war der Herr Witsch, da war Herr Schroers, da war Ernst Jünger, da war Rüdiger Altmann, da war Dieter von Oppen, der Soziologe aus Marburg, und noch eine ganze Reihe anderer Leute. Sie sehen also, der Umgang mit dem geistigen Leben in Deutschland braucht uns nicht von der Opposition beigebracht zu werden.
Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht recht, wie ein so ernsthafter Mann wie Herr Professor Schiller und auch Carlo Schmid nicht ganz einfach einmal einen Text ernst nehmen, so wie sie sich selbst ernst nehmen, und zur Kenntnis nehmen, daß diese Bundesregierung die Absicht hat, Deutschland nicht nur zu einer großen Industrienation zu machen, sondern diesem Bild die Züge der Kultur und der Gesittung in der ganzen Welt zuzufügen. Nehmen Sie das ernst! Wir tun es.
Das Wort hat der Abgeordnete Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte die Kollegen von der CDU/ CSU doch vielleicht noch einmal bitten, den Text der Definition des Kollegen Dr. Martin nachzulesen. Herr Dr. Martin, ich bin Ihnen ganz dankbar für die Definition; ich bin nur nicht der Meinung, daß sie ganz stimmt, vor allen Dingen nicht für sehr viele Ihrer Freunde. Es gibt ja andere Beispiele. Ich stoße mich schon ein wenig daran, daß Sie mit der Sprache doch nicht so genau umgehen, wie man das eigentlich in diesem Falle tun sollte; denn ich weiß nicht, wieso Sie Dichter und Schriftsteller hier unterscheiden. Es gibt für mich nur gute und schlechte Schriftsteller. Das ist die einzige Unterscheidung.
— Meine Damen und Herren, ich befinde mich hier in ganz guter Gesellschaft. Man kann darüber sicherlich streiten. Sie können das aber z. B. bei Bernhard Guttmann nachlesen, den Sie dem Namen nach ja sicherlich noch kennen, nicht wahr, Herr Professor Schmid?
— Gut; wir wollen aber den Punkt hier nicht weiter ausdeuten.
— Sie können das gerne haben, wenn Sie das interessiert.
— Sie können das gerne haben. Aber vielleicht setzen wir das Kolleg dann ein andermal fort. Ich wollte damit nur die Frage der Qualität anschneiden. Das wollte ich damit sagen, und das, Herr Dr. Martin — darin stimmen Sie mit mir wohl überein —, ist doch für die Betrachtung und für die Kompetenz des einzelnen wichtig, wenn er sich öffentlich äußert. Das ist doch wohl unbestreitbar. Das war ja wohl auch vorhin so im Wechselspiel mit Professor Carlo Schmid.
— Ach, Herr Dr. Jahn es ist wohl keine gute Gelegenheit, das hier auszudeuten. Herr Dr. Martin hatte gerade vorhin den Namen eines Mannes genannt, bei dem man annehmen könnte, er wäre in Distanz, und die CDU hätte ihn nun zu einem Gespräch über Politik bringen lassen, ich meine Rolf Schroers. Rolf Schroers ist verantwortlicher Redakteur eine politisch-literarischen Zeitschrift, wenn Sie so wollen.
— Na bitte, dann sind wir uns in dem Punkt einig.
Das Thema, das hier angeschnitten worden ist, ist doch im Grunde die Bildungs- und Wissenschaftspolitik insgesamt. Ich darf zunächst sagen, daß wir Freien Demokraten uns sehr darüber freuen, daß nun doch die Grundlagen, die in den letzten Jahren in der Bundespolitik für die Förderung der Wissenschaft und Forschung gelegt worden sind, hier von allen Seiten kräftig gefördert und auch gewürdigt werden. Ich glaube, wir haben einigen Grund, dem ausgeschiedenen Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Hans Lenz, dafür zu danken, daß er zunächst einmal das Gespräch zwischen Bund und Ländern in wirkungsvoller Weise in Gang gebracht hat und daß er damit den Boden für die Abkommen vorbereitet hat, die inzwischen zum Vorteil aller zwischen Bund und Ländern geschlossen worden sind.
Damit ist sicherlich vieles leichter geworden, und manches von dem, was von sozialdemokratischen Sprechern an Kritik über .die letzten zwei Jahre der 4. Wahlperiode geäußert wurde, ist damit wohl doch
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Moersch
ein wenig zurechtgerückt. Es geht nicht immer alles auf einmal, und der neue Bundesminister für wissenschaftliche Forschung wird es hoffentlich innerhalb der Bundesregierung und auch innerhalb des Haushaltsausschusses leichter haben, als der frühere Bundesminister für wissenschaftliche Forschung es gerade im Haushaltsausschuß gehabt hat, worüber ja niemand besser Bescheid weiß als der jetzige Bundesminister für wissenschaftliche Forschung. Auch das wäre hier zu sagen.
Zum anderen sind die Dinge, die Sie, Herr Professor Schmid, dargestellt haben, seit Jahren — ich muß sagen: mit guter Resonanz, wie man heute gehört hat — gerade von Hanz Lenz wiederholt vorgetragen worden, allerdings nicht mehr mit der Resonanz in diesem Hause, wie sie es eigentlich verdient gehabt hätten. Das haben wir, glaube ich, alle gemeinsam zu beklagen. Ich wünsche mir, daß die jetzige Debatte zum Thema Regierungserklärung auch diesen Zustand ändern wird, damit wir nicht gemeinsam von der Öffentlichkeit gescholten werden müssen wegen Eines mangelnden Interesses an Fragen der Wissenschaft und der Förderung der Wissenschaften insgesamt.
Ein Wort muß aber auch hier zu der Rede von Fritz Erler gesagt werden. Er machte in einem Satz der Regierungskoalition den Vorwurf, sie habe immer auf dem Gewesenen beharrt, und niemand anders als die sozialdemokratische Fraktion und die Sozialdemokratie seien in Wahrheit fortschrittlich. Er hat z. B. die Frage der Mittelpunktschule auf ,dem Lande erwähnt. Ich glaube, Herr Erler, dieser Beitrag war wohl nicht so ganz ernst gemeint.
— Doch, ich habe es nachgelesen. Er war zumindest undifferenziert in der Darstellung hier, Herr Erler. Sie haben das 9. Schuljahr erwähnt. Sie haben aber auch ausdrücklich die Mittelpunktschule .auf dem Lande erwähnt. Ich muß sagen, dem muß man insofern entgegentreten, damit hier kein Beitrag zur Legendenbildung geleistet wird, damit es nämlich nicht so aussieht, ,als ob niemand als die SPD auf diesem Gebiete fortschrittlich gewirkt hätte. Es gibt hier sehr verschiedenartige Kräfte in der Bundesrepublik und auch sehr verschiedenartige Gegenden, und es gibt auch sehr verschiedenartige Verhaltensweisen der Sozialdemokraten in den verschiedenen Gegenden. Ich darf hier nur daran erinnern, daß die Ereignisse in Niedersachsen ja wohl kein Beitrag zur Förderung der Mittelpunktschule auf ,dem Lande darstellen können.
Herr Abgeordneter Erler.
Herr Kollege, sind Ihnen zwei Dinge entgangen, erstens, daß es ,die Sozialdemokraten gewesen sind, die Land für Land den Widerstand insbesondere der christlichen Demokraten oder ihrer bayerischen Schwesterpartei überwinden mußten, bis man auch dort sich vom Nutzen der Mittelpunktschule überzeugte, und daß zweitens — was auch immer Sie sonst vom Konkordat in Niedersachsen
halten mögen — dort nun endlich ,der Weg frei gemacht worden ist für Mittelpunktschulen mit Zustimmung der katholischen Kirche? Das scheint mir ein Fortschritt zu sein.
Zunächst, Herr Kollege Erler, bin ich Ihnen für die Differenzierung dankbar. Sie haben das ja auch sofort eingegrenzt, denn für Schleswig-Holstein trifft das für die CDU sicher nicht zu, was Sie eben hier gesagt haben. Das darf ich, glaube ich, auch für die Kollegen aus Schleswig-Holstein sagen.
Herr Kollege Moersch, ist Ihnen bekannt, daß der Kollege Erler wohl vergessen hat, daß die bayerischen Sozialdemokraten mit der bayerischen CSU bei der Beratung der bayerischen Verfassung beschlossen haben, daß die Konfessionsschule Bestandteil der bayerischen Verfassung wird, was eine fortschrittliche Landschulreform seit Jahrzehnten gehemmt hat?
Herr Kollege Ertl, das ist mir sehr wohl bekannt — allerdings nur aus den Berichten —, bekannt auch dadurch, daß unser Freund Thomas Dehler sich damals heftig gegen diese Regelung gewehrt hat und ziemlich allein auf weitem Felde blieb. Mir ist aber noch sehr viel besser bekannt das Verhalten der Sozialdemokraten in dem Landesteil von Baden-Württemberg, der die schlechtesten Schulverhältnisse hat, nämlich von SüdWürttemberg, wo sie damals aus den gleichen Gründen zusammen mit der CDU die Konfessionsschule in der Verfassung indirekt verankert haben, was uns heute für die Errichtung von Mittelpunktschulen in diesem Landesteil große Sorge macht.
Das sind doch Dinge, die man hier richtigstellen muß, damit das, was Herr Kollege Erler gesagt hat, nicht unwidersprochen als Ausdruck der Debatte gewertet werden kann. Mehr wollte ich hierzu nicht gesagt haben.
Herr Abgeordneter Erler!
Ist es Ihnen vielleicht in der Erinnerung nicht mehr geläufig, daß in Württemberg-Hohenzollern die FDP der dortigen Landesverfassung zugestimmt hat?
Herr Kollege Erler, Sie irren sich ganz erheblich. Aus meiner Erinnerung ist mir sehr geläufig — als jungem Mann von Theodor Heuss —, daß wir sie gegen die CDU und gegen die SPD abgelehnt haben. Die Verfassung von WürttembergHohenzollern ist von den Freien Demokraten abgelehnt worden. Darüber fand eine Volksabstimmung
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3 am 18. Mai 1947 statt, zusammen mit der Landtagswahl. Herr Professor Schmid, Sie müssen es ja wissen!
— Die Volksabstimmung über die Verfassung war getrennt in Verfassung und Schulartikel, Herr Professor Schmid. Ist das nicht richtig? — Dann wollen wir gleich mal nachschlagen. Ich weiß es ganz genau, daß die Mehrheit für die Verfassung sehr viel stärker gewesen ist als die Mehrheit für den Schulartikel. Herr Kollege Erler war genauso wie Sie, Herr Professor Schmid, Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung. Das war die Kernfrage, die sich im Februar 1947 in der beratenden Verfassungsversammlung in Bebenhausen entschieden hatte. Da standen die Freien Demokraten — damals DVP — plötzlich mit Wildermuth und Wirthle an der Spitze gegen die SPD und gegen die CDU. Herr Professor Schmid, Sie waren Leiter der Staatsregierung, Sie müßten es eigentlich noch wissen. So ist es doch in Wahrheit gewesen. Diese Verfassungsbestimmungen mußten wir in den Süd-West-Staat übernehmen, um ihn nicht überhaupt zu gefährden. Nur so viel zur ständigen Fortschrittlichkeit. Es ist auch gelegentlich einmal eine Rückschrittlichkeit, an der wir noch heute leiden.
Nun ein weiterer Punkt. Herr Kollege Dr. Heinemann hat sich in der Frage der Bundeskompetenz in den Kulturfragen ja etwas abwartend verhalten. Ich möchte mich hier nun an die Sozialdemokraten wenden. Ich habe viel Verständnis für die Vorsicht, die Sie hier haben, denn natürlich steht die Reichskonkordatsfrage im Hintergrund einer Bundeskulturkompetenz, die wir alle in dieser Form sicherlich nicht wollen. Aber wollen Sie zum Ausgleich — und das konnte man hier sehr wohl heraushören — etwa eine Entwicklung fördern, die auf die Institutionalisierung der dritten Ebene — also auf ein Länderverhältnis untereinander ohne Einschaltung des Bundes — hinausläuft? Das ist doch die Gefahr, in der wir uns bewegen, wenn wir nicht dem Verfassungsgrundsatz Respekt verschaffen, daß alles, was die Länder nicht aus eigener Machtvollkommenheit erreichen können, gemeinsam mit dem Bund gemacht werden soll. So verstehe ich den Föderalismus; ich nehme an, Herr Professor Schmid, daß Sie ihn auch so verstehen. Man sollte nicht ein neues Instrument schaffen, nicht eine neue Ebene, eine dritte Verfassungsebene, hier einrichten. Das ist die Gefahr, der wir begegnen müssen.
Nicht mehr und nicht weniger sollte gesagt sein, wenn der Herr Kollege von Kühlmann-Stumm in diesem Hause vor zwei Tagen erklärt hat, daß es notwendig sei, die Kompetenzen des Bundes in verschiedenen Bereichen der Bildungs- und Wissenschaftspolitik zu stärken. Darauf kommt es doch sehr wohl an. Deshalb müßte man sich überlegen, ob man nicht an Stelle der konkurrierenden Kompetenz für die Förderung der Wissenschaften eine Organisation für die Wissenschaften in unser Grundgesetz aufnehmen müßte. Dann könnte man, wenn man mit Abkommen nicht weiterkommt, ein
Forschungs- und Organisationsgesetz für die Wissenschaft erlassen. Diese Frage interessiert uns auch im Zusammenhang mit der Rahmenkompetenz, die in den Ausführungen von Herrn von KühlmannStumm angeschnitten worden ist.
Natürlich muß man auch darauf sehen, daß im Bund endlich die Kompetenzzusammenfassung erreicht wird, die wir mit dem Ausschuß für Wissenschaft, Kulturpolitik und Publizistik erreicht haben. Ich hoffe, daß in diesem Hohen Hause keine Meinungsverschiedenheit über die Zweckmäßigkeit besteht, die Bildungskompetenz im Ministerium für wissenschaftliche Forschung zu konzentrieren, damit der Bund eine einheitliche Federführung in diesen Dingen bekommt.
Ich möchte den Herrn Bundeskanzler sehr bitten, in diesem Sinne kraft seiner Organisationsgewalt möglichst bald zu entscheiden, damit es unser Kollege Dr. Stoltenberg etwas leichter hat als sein Vorgänger Hans Lenz und damit der Bildungsrat dort verankert wird, wo er hingehört, nämlich im Ministerium für wissenschaftliche Forschung.
Ich möchte noch etwas zu diesem Thema sagen. Herr Professor Schmid hat dankenswerterweise darauf hingewiesen, daß es auch einen nicht zweckhaften Sinn der Forschungsförderung und der Wissenschaftsförderung gibt. Das wird gelegentlich übersehen.
Vielleicht sollte man noch sagen, daß die aus der Entwicklung des Ministeriums gekommene, beinahe nach außen sich ausdrückende Kopflastigkeit auf dem Gebiet der angewandten Naturwissenschaften künftig stärker zurückgeschraubt werden sollte, um ein Gleichgewicht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herzustellen. Man sollte nicht der Gefahr erliegen — der Herr Kollege Stoltenberg wird ihr offensichtlich nach seinen Äußerungen nicht erliegen —, den technischen Bereich zuviel zu fördern und darüber hinaus die allgemeinen Geistes-und Naturwissenschaften zu vernachlässigen. Das scheint mir für die Wirksamkeit des Ministeriums — zusammen mit der Bildungskompetenz — von ganz erheblicher Bedeutung zu sein. Deshalb mußte es noch einmal angemerkt werden.
Die Freien Demokraten wünschen, daß diese Themen der Forschungsförderung auch im Bundeskabinett künftig sehr stark behandelt werden. Das ist schon deshalb notwendig, weil der große Umfang der Verteidigungsforschung es einfach notwendig macht, daß man die Dinge insgesamt sieht und daß man sie nicht allein in Ressortbesprechungen erledigt. Das, was hier in der Regierungserklärung deutlich zum Ausdruck gekommen ist, muß auch nachher der Wirklichkeit der Regierungspraxis entsprechen. Wir zweifeln nicht, daß hier im Bundestag alle guten Willens sind, diese Taktik und diese Politik zu unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmitt-Vockenhausen.
310 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Haben Sie keine Sorge, daß ich die Debatte über die hessischen Finanzfragen fortsetzen will. Die Zahlen, die ich heute mittag genannt habe, stimmen, auch wenn der Herr Kollege Picard versucht hat, ein schiefes Bild zu bringen, indem er Frankfurt erneut in die Statistik einbezogen hat. Aber ich habe volles Verständnis; wer so viele Balken im eigenen Auge hat, der bemüht sich, Splitter bei anderen zu finden.
Der Bereich der Innenpolitik, meine Damen und Herren, hätte uns in diesen Tagen beschäftigen müssen. Vom öffentlichen Dienst, in dem der Wortbruch der Bundesregierung, den wir nicht mitmachen werden, heftig debattiert wird, bis zum Parteiengesetz sind es viele Fragen, die erörterungsbedürftig und erörterungsfähig sind.
Herr Bundesinnenminister Lücke ist leider erkrankt. Wir wünschen ihm gute Genesung. Wir werden bei anderer Gelegenheit die Möglichkeit haben, die Fragen seines Ressorts von dieser Stelle aus zu erörtern. Ich darf sagen, daß wir heute die Sache damit abschließen.
Das Wort hat der Abgeordnete Illerhaus.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in den letzten Tagen eine Reihe von Fragen der Innen-und Außenpolitik ausführlich diskutiert, und das war gut so. Eine Frage aber haben wir noch gar nicht berührt. Ich denke an die EWG, an den Gemeinsamen Markt und alle damit zusammenhängenden Probleme. Lassen Sie mich dazu einiges sagen.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung den großen Plan eines europäischen Zusammenschlusses erneut als Ziel der deutschen Politik bekräftigt. Dies ist kein Widerspruch zu der gleichzeitigen Feststellung, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Völker derzeit noch nicht politisch organisierbar zu sein scheint.
Diese nüchterne Abschätzung der Situation bei Aufrechterhaltung unseres Zieles gibt uns allen Anlaß, die Bedeutung des Gemeinsamen Marktes im wirtschaftlichen Bereich auch unabhängig von seiner politischen Zielsetzung zu würdigen.
Gerade in der gegenwärtigen Lage ist es wichtig, daß wir alle, die wir im europäischen Rahmen arbeiten, uns hierüber Rechenschaft geben. Klarheit ist hierbei Voraussetzung für jedes zielbewußte Handeln und Verhandeln. Nirgendwo in der Gemeinschaft besteht wohl ein ernsthafter Zweifel daran, daß der Gemeinsame Markt im Interesse aller Beteiligten erhalten bleiben muß. Seine Dynamik hat dem Wachstum und der Entwicklung aller beteiligten Volkswirtschaften kraftvolle Impulse gegeben, und der verstärkte Wettbewerb hat die Wirtschaft zu Leistungen gezwungen, die auch ihrer Wettbewerbsfähigkeit im Welthandel zugute gekommen sind.
Für die Erhaltung und Steigerung dieser Wirtschaftskraft ist die Fortführung und Fortentwicklung des Gemeinsamen Marktes eine unerläßliche Voraussetzung und durch nichts zu ersetzen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die anderen großen Wirtschaftsmächte, besonders die USA und die Sowjetunion, aber auch alle anderen wirtschaftlich entwickelten und in der Entwicklung begriffenen Staaten in der Welt. Auch Frankreich hat zu keiner Zeit während der augenblicklichen Krise daran gedacht, die wirtschaftliche Integration im Gemeinsamen Markt in Frage zu stellen, weil es sich der Bedeutung ihrer Dynamik für die eigene Wirtschaftskraft klar bewußt ist.
Wenn daher von einem Aufgeben des Integrationswerkes nicht die Rede sein kann, bleibt noch die allerdings entscheiende Frage, wie das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der Wirtschaftsgemeinschaft gesichert werden kann. Sie wissen, 'daß der Ministerrat der EWG am 25. und 26. Oktober zu fünft zusammengetreten ist, um die möglichst rasche Wiederaufnahme der Verhandlungen zu sechst vorzubereiten. In dieser Ratstagung ist in zahlreichen Punkten Einverständnis erzielt worden. Daraufhin war es möglich, Frankreich einzuladen, die Gespräche in Brüssel wiederaufzunehmen.
Die Einigung betraf die Grundprinzipien der Agrarfinanzierung, das weitere Vorgehen in der Agrarpolitik und wesentliche Prinzipien der gleichgewichtigen Gestaltung. Diese dürfte eine baldige Weiterentwicklung des Gemeinsamen Marktes ermöglichen. Damit sehe ich auch im wirtschaftlichen Bereich keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr vor uns.
Das heißt aber nicht, meine Damen und Herren, daß die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes etwa keine Mühe mehr kosten und ohne gelegentlich sehr harte Auseinandersetzungen zu erreichen sein wird. Die Situation muß nüchtern beurteilt werden. Wir treten bei der Schaffung des Gemeinsamen Marktes allmählich in die Schlußphase ein. Ein großer Teil der nationalen Abschirmung ist beseitigt, und die Interessen prallen nun einmal härter aufeinander als zu Anfang. Ein erheblicher Teil der gegenwärtigen Schwierigkeiten erklärt sich eben aus den ökonomischen Fakten; sie sollten den realistischen Betrachter daher weder enttäuschen noch entmutigen.
Hieraus, meine Damen und Herren, ergibt sich die doppelte Verpflichtung, die einmal eine europäische und das andere Mal eine nationale Zielsetzung hat. Diese doppelte Zielsetzung ist im übrigen kein Widerspruch in sich. Die Auseinandersetzung im verschärften Leistungswettbewerb des Gemeinsamen Marktes fördert ja auch die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften und damit auch der Gemeinschaft innerhalb der Weltwirtschaft. Damit ist aber auch die Verpflichtung für unsere nationale Wirtschaftspolitik gegeben, die eigene Volkswirtschaft leistungsstark und fit in den Gemeinsamen Markt einzubringen. Nichts wäre gefährlicher, als die Stärkung unserer Volkswirtschaft etwa bis zur endgültigen Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes aufzuschieben. Neben allem,
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Illerhaus
was im nationalen Bereich hier noch zu tun ist, laufen die Bemühungen um einen loyalen Interessenausgleich innerhalb der Gemeinschaft. Ich sage, meine Damen und Herren, ausdrücklich loyal; denn wir Deutschen haben in jüngster Vergangenheit gezeigt, wie ernst es uns mit unseren Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft ist. Die deutsche Zustimmung zu einer Senkung der Getreidepreise hat die Voraussetzung dafür geschaffen, daß der Gemeinsame Markt nun in allen wesentlichen Punkten Realität werden kann. Mit dieser Entscheidung über den Getreidepreis war der Punkt erreicht, von dem an es kein Zurück mehr gibt. Es ist auch heute noch unsere Überzeugung, daß hiernach der Gemeinsame Markt nicht mehr in Frage gestellt werden kann.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Illerhaus, sind Sie der Auffassung, daß der Getreidepreisentschluß die europäische Frage fortentwickelt hat, oder sind Sie nicht der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers, daß sich das Zugeständnis nicht ganz gelohnt hat?
Herr Kollege Ertl, wir sind uns doch, glaube ich, klar darüber, daß die Festsetzung eines gemeinsamen Getreidepreises notwendig war, um überhaupt einen weiteren Fortschritt in der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu erzielen. Das ist, glaube ich, doch die allgemeine Auffassung, und die Frage ist jetzt — wenn ich Ihnen, Herr Kollege Ertl, eine weitere Antwort geben soll —, ob in der weiteren Entwicklung, also jetzt bei der Agrarfinanzierung, die Mitglieder der Wirtschaftsgemeinschaft bereit sind, nicht nur die Agrarfinanzierung zu vollenden, sondern auch alle anderen Ziele der EWG — gemeinsame Handelspolitik, gemeinsame Konjunkturpolitik usw. — zu verwirklichen.
Gestatten Sie eine weitere Frage?
Herr Kollege Illerhaus, darf ich Sie so verstehen, daß Sie der Auffassung sind, daß wir nach der großen Vorleistung, wie wir sie schon beim Getreidepreisbeschluß erbracht haben, nun auch noch bei der EWG-Finanzierung zusätzliche Vorleistungen machen müssen, damit endlich ein Fortschritt eintritt — denn bis jetzt sind wir in der EWG-Krise trotz der großen Zugeständnisse seitens der Bundesregierung —?
Ich habe eben, glaube ich, ausgeführt, Herr Ertl, daß die Verhandlungen, die jetzt in ihr Endstadium eintreten, in den letzten vier Jahren hart werden und daß alle Mitgliedstaaten natürlich mit Recht versuchen, ihre eigenen Interessen in diesem gemeinsamen Markt durchzusetzen.
Ich habe weiter ausgeführt, daß uns das nicht ermutigen soll. Es ist nach meinem Dafürhalten etwas
Selbstverständliches, daß jeder Mitgliedstaat versucht, seine Wirtschaft mit einer möglichst hohen Aktivität hier hineinzubringen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Illerhaus, geben Sie mir nicht recht, wenn ich sage, daß das Nichtweiterkommen in der Agrarpolitik für Frankreich nur ein sekundärer Grund war, in Brüssel nicht mehr mitzumachen?
Herr Kollege Effertz, Herr Präsident Hallstein und auch alle Beteiligten haben sehr deutlich gesagt, daß die Agrarkrise in jenem Augenblick — am 30. Juni — nicht der primäre Grund war, sondern daß es ein Vorgang war, der zum Anlaß genommen wurde. Das hat aber nichts damit zu tun, daß Frankreich etwa an der Weiterentwicklung des Gemeinsamen Marktes nicht interessiert wäre.
Gestatten Sie noch ein Frage?
Bitte!
Sind Sie nicht auch der Meinung, daß der gemeinsame Getreidepreis in Brüssel noch nicht rechtsverbindlich ist, weil Frankreich nicht mehr mitgemacht hat? Denn alle Länder hatten an die Einführung eines gemeinsamen Getreidepreises ab 1967 ihrerseits, allerdings verschiedene, Bedingungen geknüpft, die nicht mehr behandelt werden konnten, weil nicht mehr gemeinsam beraten werden konnte, so daß der französische Informationsminister recht hat, wenn er sagt, daß diese Verordnungen und andere, deren Erlaß, seitdem in Brüssel nicht mehr verhandelt wird, nicht zu Ende gekommen ist, nicht mehr verbindlich seien.
Herr Effertz, Sie wissen aus den Verhandlungen am 25. und 26. Oktober, daß die Fünf in Abwesentheit Frankreichs so verhandelt haben, als ob Frankreich dabeigewesen wäre, also nicht etwa gegen die Interessen Frankreichs, sondern so, daß eine Rückkehr Frankreichs jederzeit möglich ist. Zweites ist es ganz selbstverständlich, daß nach der Einigung über den gemeinsamen Getreidepreis natürlich die Milch- und Fettverordnungen — und wie alle diese Verordnungen heißen — noch nachkommen müssen. In der Sitzung vom 25. und 26. Oktober haben sich die Fünf im Prinzip geeinigt, aber Einzelheiten dieser Verordnungen müssen noch ausgehandelt werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich fortfahren. Ich sagte soeben: Herr Präsident Hallstein hat die Tatsache, daß der Gemeinsame Markt nicht mehr in Frage gestellt werden kann, insbesondere auch als politische Leistung und als eine europäische Leistung im Hinblick auf die Kennedy-Runde gewürdigt, als eine weltpolitische Tat, deren
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Illerhaus
Bedeutung kaum überschätzt werden könne. Wir glauben, daß dieser Loyalitätsakt Deutschland das Recht gibt, mit Anspruch auf Glaubwürdigkeit auch in den kommenden Verhandlungen die wesentlichen Punkte seiner Europapolitik zu vertreten, in denen sich das Hohe Haus mit der Regierung einig weiß.
Wir haben seit jeher Wert darauf gelegt, daß der Gemeinsame Markt nicht in Teilbereichen, sondern gleichgewichtig zu entwickeln sei, und zwar sowohl in der Ausgestaltung nach innen als auch in seinen Beziehungen nach außen. Die entscheidenden Punkte sind die gleichzeitige — ich betone: die gleichzeitige — Verwirklichung des freien Warenverkehrs am 1. Juli 1967 sowohl im gewerblichen als auch im Agrarbereich, die Anwendung des gemeinsamen Zolltarifs spätestens zum gleichen Termin und die Harmonisierung der Umsatzsteuer in ihrem System und in ihren Anwendungsmodalitäten, die schrittweise Einführung einer gemeinsamen Handelspolitik, dabei konkrete Fortschritte in der Kennedy-Runde und eine gemeinsame Politik auf dem Gebiete der Ausfuhrkredite im Osthandel.
Über diese Probleme, meine Damen und Herren, sind in dieser Sitzung vom 25. und 26. Oktober, von der ich sprach, ebenfalls grundsätzliche Übereinstimmungen erzielt worden, und ich glaube, mit der Verwirklichung dieser Punkt wäre eine gleichgewichtige Entwicklung gesichert.
In diesem Zusammenhang wird vielfach die Auffassung geäußert, daß Länder, deren Schwerpunkt die gewerbliche Wirtschaft ist, vom Gemeinsamen Markt bisher ganz besonders profitiert hätten, während Länder mit vornehmlich landwirtschaftlichem Exportinteresse benachteiligt worden seien. Diese Ansicht ist irrig. Die Exportentwicklungen — Herr Minister Schmücker hat die Zahlen gestern morgen in diesem Hause vorgetragen — haben das bewiesen. Sie haben bewiesen, daß alle Länder gleichzeitig vom Gemeinsamen Markt profitiert haben. Jedenfalls glaube ich für die Bundesrepublik Deutschland feststellen zu können, daß die Einfuhr gewerblicher Güter gerade aus den Ländern mit starker Landwirtschaft sehr erheblich zugenommen hat.
Ich sagte schon, daß Herr Präsident Hallstein in unserem wesentlichen Anliegen, den freien Warenverkehr sowohl im Agrarbereich als auch im gewerblichen Bereich gleichzeitig zu vollenden, der Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten sicher ist. Im Hinblick darauf bin ich besonders erfreut, feststellen zu können, daß nunmehr auch Einmütigkeit darüber besteht, zumindest das System und die Modalitäten der Umsatzsteuer rechtzeitig bis zum Inkrafttreten des freien Warenverkehrs zu harmonisieren. Wir hoffen freilich, daß die Umsatzsteuerharmonisierung hierbei nicht stehenbleibt, sondern zum gegebenen Zeitpunkt auch in Angleichung der Steuersätze und damit die Beseitigung der sogenannten Steuergrenzen im Gemeinsamen Markt ermöglicht.
Die gleichgewichtige Entwicklung der Gemeinschaft darf sich nicht auf den Ausbau des inneren Marktes beschränken. Das Hohe Haus hat seit Beginn der wirtschaftlichen Einigungsbestrebungen immer Wert darauf gelegt, daß auch die Beziehungen zu Drittländern im Geiste der Weltoffenheit geregelt werden. Auch der EWG-Vertrag enthält ja in dem vielzitierten Art. 110 die Absichtserklärung der Mitgliedstaaten, im gemeinsamen Interesse zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und zum Abbau der Zollschranken beizutragen. Das erfordert Fortschritte in der gemeinsamen Außenhandelspolitik.
Hierbei ist ein Schwerpunkt die Abstimmung der Handelspolitik gegenüber den Oststaaten — über diese Frage ist heute schon mehrfach gesprochen worden —, insbesondere eine Einigung über die Kreditkonditionen, um die sich die Bundesrepublik stets bemüht hat. Gerade heute, meine Damen und Herren, wo die Wirtschaftsfronten zwischen der westlichen Welt und dem Ostblock in Bewegung geraten sind, muß um jeden Preis verhindert werden, daß die westlichen Länder mit ihren Kreditbedingungen gegeneinander ausgespielt werden und auf Kosten der Partner einen größeren Marktanteil zu erreichen suchen.
Eine ganz besondere Bedeutung kommt hier der Kennedy-Runde zu. Die EWG wird hier beim Wort genommen. Als großer Wirtschaftsraum und bedeutendster Importeur der Welt steht sie im Blickpunkt des internationalen Interesses. Ihr Verhalten in der Kennedy-Runde ist darum gleichsam ein Test. Wir können Herrn Hallstein nur zustimmen, wenn er gesagt hat, die Gemeinschaft sei zu groß, als daß sie in der Kennedy-Runde nicht mitspielte, sie sei aber auch zu klein, um sich einen Mißerfolg in der Kennedy-Runde leisten zu können. Die Ermächtigung der Regierung der Vereinigten Staaten zum Abschluß des Vertrages über Zollsenkungen und den Abbau sonstiger Handelshemmnisse läuft Mitte 1967 ab.
Meine Damen und Herren, es liegt noch viel Arbeit vor uns. Allein diese Terminsetzung macht es dringend notwendig, daß wir möglichst bald, und zwar zu Sechsen, zu Beschlüssen kommen, um eine aktive und beschleunigte Fortsetzung der Verhandlungen in der Kennedy-Runde zu erreichen.
Wir begrüßen es darum, daß der Rat am 25. und 26. Oktober beschlossen hat, eine Generalüberprüfung zum 31. Januar 1966 vorzunehmen. Die große Bedeutung der Kennedy-Runde ist in mehrfacher Hinsicht gegeben. Eine gedeihliche und expansive Entwicklung des Welthandels bedeutet nicht nur eine Stärkung der Arbeitsteilung und damit eine Zunahme der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aller beteiligten Länder. Sie ist nicht zuletzt auch wesentlich für ein gutes internationales Klima in der gesamten freien Welt. So werden enge Handelsbeziehungen auch gute Auswirkungen auf den politischen Zusammenhalt in der freien Welt haben.
Im übrigen zeigt aber auch eine wirtschaftliche Betrachtung, wie wichtig die Pflege der Beziehungen zu dritten Ländern nicht nur für die EWG in ihrer Gesamtheit, sondern auch für die Bundesrepublik ist. Der Drittlandshandel beträgt fast zwei Drittel des Exports und Imports der Bundesrepublik,
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Illerhaus
während der Anteil für die Gemeinschaft insgesamt sich immerhin auf etwa 60/o beläuft.
Für uns Deutsche, meine Damen und Herren, ist im übrigen der Erfolg der Kennedy-Runde sowohl im Hinblick auf unsere gegenwärtigen Bemühungen um die Sicherung der Preisstabilität als auch angesichts der Passivierungstendenzen der deutschen Zahlungsbilanz von wesentlicher Bedeutung.
Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist schließlich noch das nie aufgegebene deutsche Bemühen um möglichst enge Beziehungen zu den EFTA-Ländern. Der Erfolg der Kennedy-Runde wird wesentlich zu einer Einebnung des Zollrahmens beitragen und damit auch dem Zusammenhalt des freien Europa dienen.
Aus all diesen Erwägungen fordern wir die Bundesregierung auf, in den zukünftigen Verhandlungen alles zu tun, um der Kennedy-Runde zum Erfolg zu verhelfen.
Meine Damen und Herren, nur ein Wort zur Geschäftslage! Wir werden die Aussprache bis 21 Uhr fortsetzen und morgen vormittag um 9 Uhr mit der Fragestunde beginnen.
Das Wort hat Herr Professor Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung spricht nicht vom sozialen Rechtsstaat. Das mußte Herr Dr. Barzel nachholen. Er tat es in allgemein gehaltenen Bemerkungen.
Die Regierungerklärung enthält jedoch in bezug auf die Sozial- und Gesundheitspolitik sehr bedenkliche Formulierungen. Ich zitiere: Steigerung des bloßen Sozialkonsums, strukturlose Expansion sozialer Subventionen, opportunistische Befriedigung von Gruppeninteressen, ungewolltes Hineingleiten des einzelnen in die immer stärkere Abhängigkeit vom Staat, Entwicklung, in der alle sozialen Gruppen zunehmend bloß Objekte der staatlichen Fürsorge sind, Totalversicherung als Ansatz zu einer sich selbst nährenden inflationistischen Entwicklung, Hypothek für die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft. — So u. a. spricht die Regierungserklärung von der Sozial- und Gesundheitspolitik.
Diese Bemerkungen bringen unsere Sozial- und Gesundheitspolitik in ein Zwielicht. Es fällt sehr schwer, anzunehmen, daß ein Bundesarbeitsminister, der mit der christlich-sozialen Arbeitnehmerschaft besonders verbunden ist, an der Abfassung einer Regierungserklärung, die derartige Unterstellungen enthält, mitgewirkt hat.
Freilich rühmt sich die Regierung der Sozialleistungen in unserem Lande. Man behauptet, die Bundesrepublik sei ein sozialer Gigant. Die Regierungserklärung stellt aber diese Behauptungen und die bisherigen Sozialleistungen in Frage, wenn die Bundesregierung darin im gleichen Atemzug erklärt:
Aber wir haben auch Grund zur Sorge, daß sich hinter diesen Leistungen zum Teil lediglich Zahlungen und Subventionen verbergen, die auf längere Sicht unsere Leistungsfähigkeit und damit unsere soziale Sicherheit nicht fördern, sondern schwächen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, von dieser Stelle aus zu sagen, hinter welchen Sozialleistungen sich nach ihrer Meinung Subventionen verbergen, die angeblich unsere wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit schwächen.
Die Bundesleistungen für soziale Sicherheit betreffen: Zuschüsse zu den gesetzlichen Rentenversicherungen, Zuschüsse zur Altershilfe für Landwirte, Kindergeldleistungen und soziale Kriegsfolgeleistungen. Wir fragen die Bundesregierung:
1. Handelt es sich bei den Zuschüssen zur Rentenversicherung etwa um eine strukturlose Expansion sozialer Subventionen?
— Das ist entnommen der Erklärung .der Bundesregierung zur Sozialpolitik!
2. Dienen die Zuschüsse zur Alterssicherung der Landwirte etwa der in der Regierungserklärung erwähnten opportunistischen Befriedigung von Gruppeninteressen?
3. Sind Kindergeldzahlungen etwa eine Hypothek für die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft?
4. Schwächen etwa die Leistungen an Kriegsgeschädigte und Kriegshinterbliebene unsere Sicherheit?
Da die Regierungserklärung in bezug auf die Sozialleistungen Verdächtigungen enthält, hat unser Volk ein Recht auf eine klare Stellungnahme der Bundesregierung.
Nach unserer Auffassung hat die Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik neben der Vermögensbildung breiter Schichten vor allem drei Aufgaben zu erfüllen: Sie soll
erstens .den Bürgern die Chance geben, sich in unserer Gesellschaft zu entfalten; sie soll
zweitens helfen, Gesundheit und Leistungsfähigkeit möglichst zu erhalten oder wiederherzustellen; und sie soll
drittens bei Arbeitsunfähigkeit im Alter oder bei Tod des Ernährers den Lebensstandard sichern.
Zu der ersten Aufgabe der Sozialpolitik: Die Sozialpolitik hat dazu beizutragen, daß die Familie ihre Aufgabe als natürliche und sittliche Lebensgemeinschaft voll erfüllen kann. Die Regierungserklärung spricht nur in allgemein .gehaltenen Redewendungen von einer Fortentwicklung ,der Familienpolitik einschließlich des Familienlastenausgleichs. Deshalb fordern wir 'die Bundesregierung auf, konkret
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Dr. Schellenberg
zu sagen, welche Pläne sie für die Fortentwicklung des Familienlastenausgleichs hat.
Mit Recht weist die Bundesregierung darauf hin, daß sich die Familienpolitik nicht nur in materiellen Leistungen erschöpfen darf. Doch wäre es angebracht, wenn die Bundesregierung auch hier deutlicher sagen würde, was sie in dieser Hinsicht für die Familie zu tun beabsichtigt.
Der Beruf hat für die Entwicklung der Persönlichkeit eine überragende Bedeutung. Jedem Menschen muß die Möglichkeit gegeben werden, seine Begabungen für sich und die Gesellschaft nutzbar zu machen. Vor über drei Jahren, im Juni 1962, hat der Bundestag auf Initiative der Sozialdemokraten beschlossen: „Die Bundesregierung wird ersucht, dem Deutschen Bundestag bis zum ,1. Februar 1963 den Entwurf eines Berufsausbildungsgesetzes vorzulegen." Diesem Auftrag ist die frühere Bundesregierung nicht nachgekommen. Sie hat vielmehr um Fristverlängerung gebeten. Seitdem sind wiederum fast zwei Jahre vergangen, ohne daß der erbetene Gesetzentwurf vorgelegt wurde.
Bei dieser Sachlage können die unverbindlichen Ausführungen der Regierungserklärung zum Berufsausbildungswesen nicht hingenommen werden.
Jetzt muß erwartet werden, daß die Bundesregierung einen Termin nennt, zu ,dem sie den Auftrag des Bundestages auf Vorlage eines Berufsausbildungsgesetzes endlich erfüllen wird.
Berufsausbildung und Aufstiegschancen müssen auch finanziell gesichert werden. Die Bundesregierung spricht in der Regierungserklärung zwar davon, dazu beitragen zu wollen, daß alle bildungswilligen und bildungsfähigen jungen Menschen eine ihren Begabungen und Neigungen entsprechende Ausbildung erhalten. Aber zwischen dieser Ankündigung und den Handlungen der Bundesregierung bestehen eklatante Widersprüche.
Wir stellen fest: Zur gleichen Zeit, in der die Regierungserklärung von einer weitgespannten Politik der Ausbildungs- und Weiterbildungsförderung spricht, betreibt die Bundesregierung eine Einschränkung der Ausbildungsförderung. Unverständlich ist auch, daß ,die Bundesregierung die Gelegenheit versäumt, die Ausbildungszulage zu einer gezielten Ausbildungsförderung umzugestalten. Mit dem Vorschlag auf pauschale Herabsetzung der Ausbildungszulage von 40 auf 30 DM monatlich hat die Bundesregierung vielleicht verwaltungstechnisch das Einfachste, gesellschaftspolitisch aber das
Widersinnigste getan.
— Ich habe gesagt: Es geht um eine gezielte Ausbildungsförderung. Das ist die Aufgabe, um die
wir im letzten Bundestag gerungen haben und auch im neuen Bundestag ringen.
Wir werden dabei die Zustimmung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere der Wissenschaft finden.
Nun zu den Aufgaben der Gesundheitspolitik. In der Regierungserklärung beklagt die Bundesregierung die mangelnden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auf dem Gebiete des Gesundheitswesens. Die Bundesregierung hat aber die Kompetenzen, die ihr das Grundgesetz in der Gesundheitspolitik einräumt, bisher keineswegs ausgeschöpft. Hierfür drei Beispiele: erstens Gesunderhaltung am Arbeitsplatz; zweitens Hilfe für die Krankenhäuser; drittens Mutterschutzgesetzgebung.
Zum ersten. Es muß alles getan werden, damit die gesundheitlichen Gefahren des Arbeitslebens rechtzeitig und wirksam bekämpft werden. Bereits 1959 hat die Internationale Arbeitsorganisation eine Empfehlung über Betriebsärzte in Arbeitsstätten beschlossen. 1962 hat die EWG eine detaillierte Empfehlung über die Schaffung betriebsärztlicher Dienste herausgegeben. Wir stellen fest: Aus diesen Empfehlungen hat die Bundesregierung bisher keine gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen.
Weitere Beispiele: Über die Herstellung und den Vertrieb gefahrensicherer Maschinen und Geräte, auch Haushaltsgeräte, den sogenannten Maschinenschutz, hat die Internationale Arbeitsorganisation im Juni 1963 ein Übereinkommen beschlossen. Auch aus diesem Übereinkommen hat die Bundesregierung keine gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen. Die Regierungserklärung vom Februar 1963 versprach, einen Gesetzentwurf über Sicherheitsbeauftragte in den Betrieben vorzulegen. Auch dieser Gesetzentwurf wurde nicht vorgelegt.
Die Bundesregierung ist also beim betriebsärztlichen Dienst, beim Maschinenschutz, bei den betrieblichen Sicherheitsorganen, bei wichtigen Aufgaben des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen. Wir fordern die Bundesregierung auf, unverzüglich die entsprechenden Gesetzentwürfe einzubringen.
— Nachdem internationale Organisationen Empfehlungen ausgesprochen haben,
nachdem auch das Parlament in den Ausschüssen die Dinge beraten und die Regierung gebeten hatte, Entwürfe vorzulegen, ist es deren Pflicht, Gesetzesvorschläge zu machen. Dies ist auch im Hinblick auf den immer noch sehr hohen Stand der Arbeitsunfälle erforderlich.
Auch das ist Ausdruck einer produktiven Sozialpolitik. Im übrigen erwarten wir auch, daß der Unfallverhütungsbericht, den- die Bundesregierung auf
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Dr. Schellenberg
SPD-Initiative zu erstatten hat, wie vorgeschrieben Ende dieses Jahres dem Hause vorgelegt wird.
Nun zu der zweiten gesundheitspolitischen Aufgabe, zur Hilfe für die Krankenhäuser. Bereits im Jahre 1958 auf dem ersten Deutschen Krankenhaustag hat der damalige Bundeskanzler Dr. Adenauer den Krankenhäusern wirksame Hilfe des Bundes versprochen. Diese Zusage wurde von Herrn Dr. Erhard und von Frau Dr. Schwarzhaupt auf dem zweiten und dritten Krankenhaustag wiederholt. Noch auf dem letzten Deutschen Ärztetag am 26. Mai dieses Jahres erklärte der Bundeskanzler — ich zitiere —:
Unsere Krankenhäuser zehren seit Jahren von ihrer Substanz. Ich bin fest entschlossen, ihrem Notstand im Rahmen dessen, was der Bund tun kann, abzuhelfen. Die Krankenhäuser sollen endlich wieder auf eine gesicherte, gedeihliche Basis gestellt werden.
Und was sagte der Bundeskanzler noch nicht sechs Monate später in seiner Regierungserklärung?:
Die Modernisierung der Krankenhäuser dürfte eine Aufgabe im Rahmen des Deutschen Gemeinschaftswerks sein.
Es ist eine deprimierende Aussicht für die gesundheitlichen Anliegen unseres Volkes, wenn die Zukunft unserer Krankenhäuser von der Verwirklichung der bisher noch unbestimmten Gedankengänge des Bundeskanzlers über das Deutsche Gemeinschaftswerk abhängig gemacht wird. Mehr als an Worten des Bundeskanzlers über das Gemeinschaftswerk liegt unseren Krankenhäusern z. B. — um auf eine konkrete Frage hinzuweisen — daran, daß die Änderung der Pflegesatzverordnung erfolgt, die ihnen seit vier Jahren versprochen wird.
Nun als drittes Beispiel für die gesundheitlichen Aufgaben, die vernachlässigt sind, der Mutterschutz.
In der Bundesrepublik sterben heute noch mehr Frauen während der Schwangerschaft, Entbindung und im Wochenbett als in anderen vergleichbaren Staaten. Diese Feststellung läßt sich auch mit statistischen Spitzfindigkeiten nicht widerlegen.
Dies war ein Zitat aus einer Schrift, die der Bundeskanzler u. a. wie folgt einleitet:
Ich begrüße es, daß der Öffentlichkeit diese Materialsammlung vorgelegt wird.
Die Schrift hat den passenden Titel: „Was soll aus Deutschland werden?"
Wegen der hohen Müttersterblichkeit hat die sozialdemokratische Fraktion im Jahre 1962 einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Mutterschutzes eingebracht, dem dann kurz vor der Wahl ein Entwurf der Regierungsparteien folgte. Nach vielem Hin und Her ist schließlich am 6. Juli 1965 in einer Sondersitzung des Bundestages die Novelle zum Mutterschutzgesetz verabschiedet worden. Es war die Ansicht aller Fraktionen, daß über die Novelle hinaus noch weitere Verbesserungen des Mutterschutzes erforderlich sind. Herr Dr. Barzel
— den ich leider nicht im Saal sehe —, erklärte beispielsweise:
Dieses Haus sollte sich aber keinen Illusionen darüber hingeben, daß hier nur ein Teilausschnitt, ein Anfang gesetzt ist.
Deshalb mußten von der Regierungserklärung Vorschläge für den weiteren Ausbau des Mutterschutzes erwartet werden.
Die Bundesregierung schweigt sich aber nicht nur hierüber aus, sondern sie betreibt sogar die Zurückstellung wichtiger Vorschriften des neuen Mutterschutzgesetzes. Im Zusammenhang mit den vorgesehenen Sparmaßnahmen will die Bundesregierung das neue Mutterschutzgesetz für 1966 aussetzen. Statt dessen soll das völlig unzureichende alte Recht unter Gewährung von Vorsorgeuntersuchungen für den kleineren Teil der Mütter und unter Verlängerung von Schutzfristen nach der Entbindung, die für einen großen Teil der Mütter heute praktisch schon gewährt werden, weiterhin Geltung behalten.
— Herr Kollege Ruf, ich kenne im Augenblick nur das, was die Bundesregierung dem Hause vorgelegt hat, und das ist ein sehr schlimmes Vorhaben.
Abgesehen davon, daß Verbesserungen des Mutterschaftsgeldes und des Pauschbetrages für Entbindungen 1966 nicht in Kraft treten sollen, bedeutet das: Erstens. Die Bundesregierung wünscht, daß schwangere Frauen auch 1966 kein Recht auf Krankenhausentbindung hab en.
Zweitens. Die Bundesregierung wünscht, daß alle mitversicherten Frauen — das sind die meisten Frauen — auch 1966 kein Recht auf Vorsorgeuntersuchungen und laborärztliche Untersuchungen während der Schwangerschaft haben. Drittens. Die Bundesregierung wünscht, daß 1966 keine Verbesserungen im Arbeitsschutz für Schwangere und Wöchnerinnen erfolgen. So sollen nicht in Kraft treten: verschiedene Beschäftigungsverbote für werdende und stillende Mütter, Maßnahmen des besseren Schutzes von Leben und Gesundheit werdender oder stillender Mütter am Arbeitsplatz, detaillierte Vorschriften gegen besonderen Arbeitslärm und Sturzgefahr, das generelle Verbot von Akkord- und Fließarbeit für werdende Mütter, die Senkung der Höchstarbeitszeit von 96 Stunden auf 90 Stunden in der Doppelwoche, Verbesserung in der Stillpause sowie zahlreiche andere Arbeitsschutzvorschriften für werdende und stillende Mütter.
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung redet davon, den familienpolitischen Leistungen sollte die größtmögliche Wirksamkeit gegeben werden. Die Regierungserklärung redet ferner von der Bedeutung der Gesundheitspolitik für die moderne Industriegesellschaft. Aber gegenüber dem Mutterschutz als einer der wichtigsten Aufgaben der
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Dr. Schellenberg
Familien- und Gesundheitspolitik versagt die Bundesregierung bei der ersten Bewährungsprobe.
Man muß zur Auffassung kommen, daß die Bundesregierung offenbar den Schutz der werdenden Mutter für eines der Gruppeninteressen hält, denen sie jetzt nach der Wahl so nachdrücklich entgegentreten möchte.
— Sie, meine Damen und Herren, müssen die Konsequenzen daraus ziehen, nicht wir.
—Schließlich tragen Sie die Bundesregierung und hätten dafür sorgen sollen, daß von der Regierung ein derartiger Entwurf nicht vorgelegt wird. Wir stellen fest:
Erstens. Die gesundheitlichen Leistungen für Mütter, die 1966 nicht in Kraft treten sollen, betreffen nicht den Bundeshaushalt. Es sind Leistungen, die nach dem neuen Gesetz den Krankenkassen obliegen.
Zweitens. Die Vorschriften über den Arbeitsschutz für erwerbstätige Mütter, die 1966 nicht in Kraft treten sollen, haben weder direkt noch indirekt irgend etwas mit dem Bundeshaushalt oder den Finanzen der Sozialversicherung zu tun.
Drittens. Das Presse- und Informationsamt der
) Bundesregierung hat die Öffentlichkeit unrichtig informiert. In der Mitteilung der „Sozialpolitischen Umschau" vom 9. November dieses Jahres heißt es, auch mitversicherte Frauen könnten sich während der Schwangerschaft und nach der Geburt kostenlos vorsorglich untersuchen lassen. Das ist falsch.
Viertens. Elf Tage nach dem Beschluß des Bundeskabinetts über die Suspendierung des neuen Mutterschutzgesetzes veröffentlicht der Herr Bundesarbeitsminister im Bundesgesetzblatt die Neufassung des Mutterschutzgesetzes, das 1966 überhaupt nicht in Kraft treten soll.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung schuldet dem Parlament eine Erklärung für ihr — ich kann nicht anders sagen — unverantwortliches Vorhaben beim Mutterschutz.
Nun einige Bemerkungen zur Krankenversicherungsreform. Eine moderne Krankenversicherung hat für die Erhaltung der Gesundheit überragende Bedeutung. Schwerpunkte der Reform haben zu sein: weitblickende Gesundheitsvorsorge sowie Anpassung der Leistungen bei Krankheit an die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Zum sechsten Male redet eine Regierungserklärung von der Neuregelung der Krankenversicherung.
— Sie hatten ja die Mehrheit! — Jetzt scheint sich die Bundesregierung endlich zu der Auffassung
durchgerungen zu haben, daß eine Krankenversicherungsreform sorgfältig vorbereitet werden muß. Das kann dem Anliegen, um das es gesundheits- und sozialpolitisch geht, nur dienlich sein.
Bekanntlich hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bereits am 24. Oktober 1963 die Einsetzung einer Sachverständigenkommission für die Krankenversicherungsreform beantragt. Damals wurde unser Antrag von der Mehrheit abgelehnt. Wenn jetzt die Sozialenquete-Kommission mit den Problemen der Krankenversicherung befaßt werden soll, so wird mit einer Verspätung von zwei Jahren unserem Anliegen teilweise entsprochen.
Im übrigen gehen auch die beiden anderen Forschungsaufträge, von denen die Bundesregierung spricht, nämlich die Enquete über die Stellung der Frau in Beruf und Familie und die Untersuchung über die Situation der alten Menschen auf sozialdemokratische Initiativen zurück. Entscheidend wird sein, welche politischen Konsequenzen aus den vorzulegenden Untersuchungen gezogen werden.
Nun zu dem letzten großen Bereich der Sozialpolitik, der sozialen Sicherung des Lebensstandards. Die soziale Sicherung hat dafür zu sorgen, daß dem einzelnen sein Lebensstandard, den er sich durch seine Arbeit geschaffen hat, auch bei Arbeitsunfähigkeit, im Alter oder bei Tod des Ernährers erhalten bleibt. Diesem Ziel dient auch die wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit.
Bereits dreimal wurde in Regierungserklärungen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle versprochen. Jetzt wird zum vierten Male in einer Regierungserklärung von der Lohnfortzahlung geredet. Erstaunlicherweise kündigt aber die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf zur Lohnfortzahlung an. Vielmehr heißt es lediglich:
Die Bundesregierung erwartet von dem Bericht über die Sozialenquete einen nützlichen Beitrag unter anderem für die mit der Lohnfortzahlung zusammenhängenden Probleme.
Eine solche Erklärung, daß erst die Sozialenquete abgewartet werden soll, ist, nachdem die Bundesregierung sich früher mehrfach zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle bekannt hat, eine Ausrede.
Aus dem Beschluß der Bundesregierung vom April 1964 über die Durchführung der Sozialenquete ergibt sich eindeutig, daß die Wissenschaftler nicht mit der Erforschung von Fragen der Lohnfortzahlung beauftragt wurden. Es ist zu bedenken: „Die Wissenschaftler, denen die Sozialenquete übertragen worden ist, haben sich ausdrücklich dagegen verwahrt, ihre wissenschaftlichen Arbeiten als Vorwand zu benutzen, um Fragen, die der laufenden und praktischen Arbeit angehören, unter Hinweis auf die Ergebnisse der Sozialenquete zurückzustellen. Die Kommission wünscht ausdrücklich, daß solche Äußerungen unterbleiben."
Das erklärte der damalige Arbeitsminister, Herr Blank, am 3. 12. 1964, also vor noch nicht einem Jahr. Seine Erklärung wurde für so wichtig gehalten, daß sie im Bulletin veröffentlicht wurde.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 317
Dr. Schellenberg
In der Tat bringt die Bundesregierung die Wissenschaftler in eine peinliche Lage, wenn sie jetzt die Sozialenquete zum Vorwand nimmt, die politische Entscheidung über die Lohnfortzahlung vor sich herzuschieben.
Wir Sozialdemokraten stellen fest: Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle geht es nicht um Fragen, die noch wissenschaftlicher Erforschung bedürfen. Es geht um die Verwirklichung gesellschaftspolitischer Gerechtigkeit.
Die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung ist entscheidungsreif.
— Aber Herr Ruf, Sie wissen doch genau, wer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall tragen soll; darüber sind wir uns doch hoffentlich einig.
— Über die arbeitsrechtliche Gestaltung der Lohnfortzahlung waren sich bisher die beiden großen Fraktionen grundsätzlich einig.
Jetzt komme ich zur sozialen Sicherung bei Erwerbsunfähigkeit im Alter und bei Tod des Ernährers, zur Rentenversicherung. In der Regierungserklärung heißt es zwar, daß die Rentner weiterhin am Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung teilnehmen sollen. Das begrüßen wir. Gleichzeitig spricht aber die Regierungserklärung von Expansion sozialer Subventionen, immer stärkerer Abhängigkeit vom Staat, Entwicklung zum Objekt staatlicher Fürsorge.
Diese Redewendungen zeigen eine völlige Verkennung der sozialen Sicherung, und zwar erstens hinsichtlich ihrer Finanzierung und zweitens hinsichtlich des Personenkreises, der sozial zu sichern ist.
Zur Finanzierung: Die Versicherten leisten in der Zeit ihres Arbeitslebens Beiträge, um gegenüber den Wechselfällen des Lebens gesichert zu sein. Sie wenden hierfür einen erheblichen Teil ihres Arbeitseinkommens auf und verzichten insoweit auf Konsum.
Es ist deshalb irreführend, wenn die Regierungserklärung im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung von einer strukturlosen Expansion sozialer Subventionen spricht. Von den 50 Milliarden DM jährlicher Einnahmen der Sozialversicherung stammen noch nicht 18 % aus dem Bundeshaushalt. Dagegen beruhen 82 % dieser Einnahmen auf Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. In der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten gehen die Zuschüsse des Bundes — bei gestiegenen absoluten Beträgen — anteilmäßig von Jahr zu Jahr zurück. Die Renten werden somit immer mehr von den Beitragszahlern selber und immer weniger vom Bund aufgebracht.
Deshalb ist es völlig abwegig, wenn die Bundesregierung glaubt, sie müsse — laut Regierungserklärung — den Bürger vor der Gefahr schützen, zunehmend Objekt staatlicher Fürsorge zu werden.
Die Bundesregierung täte gut daran, ihre Aufmerksamkeit vielmehr einer wirklichen Gefahr, nämlich der immer stärkeren Verschuldung des Bundes bei der Rentenversicherung zu widmen.
Nun zum Personenkreis, der sozial zu sichern ist. Soziale Sicherung ist ein lebenswichtiges Element der modernen Industriegesellschaft. Der immer deutlicher werdende Wunsch der Arbeiter, Angestellten und Selbständigen nach sozialer Sicherheit muß respektiert werden. Deshalb bekennen sich die Sozialdemokraten zum Gedanken einer Volksversicherung.
Die Bundesregierung erklärt zwar, sie habe Verständnis dafür, daß auch Gruppen von Selbständigen zur Sicherung ihrer Altersversorgung die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung anstreben. Im Widerspruch hierzu lehnt die Bundesregierung aber eine allgemeine Rentenversicherung, die sie als Totalversicherung bezeichnet, ab. Vor den Wahlen wurde erklärt, die CDU/CSU werde dem neuen Bundestag zu Beginn der nächsten Legislaturperiode einen neuen Gesetzentwurf vorlegen, der die Rentenversicherung für alle öffne.
— Zu Beginn der Legislaturperiode!
— Ich werde weiter zitieren, und dann werde ich meine Frage an die Bundesregierung richten; denn wir diskutieren heute vor allen Dingen mit der Regierung über die Regierungserklärung.
Es hieß weiter, jedem, der gewillt sei, einkommensgerechte Beiträge zu entrichten, werde damit die Gewähr für ein Alter in Sicherheit gegeben.
Wir fordern die Bundesregierung auf, eindeutig zu sagen, welche Auffassung sie zu einer Öffnung der Rentenversicherung für alle noch nicht versicherten Angestellten und Selbständigen hat und ob sie bereit ist, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Der Kriegsopferversorgung — darüber sind wir uns in diesem Hause erfreulicherweise prinzipiell einig — muß der Rang zuerkannt werden, welcher der Größe der für die Gemeinschaft erbrachten Opfer an Leben und Gesundheit entspricht. Am 12. Mai dieses Jahres hat die Bundesregierung beschlossen und verkündet, im Haushaltsjahr 1966 ein Neuordnungsgesetz vorzulegen, das die Grundlage für die laufende Anpassung der Kriegsopferrenten bilden soll. In der Regierungserklärung steht zwar, die Bundesregierung stehe zu ihrer Zusage gegenüber den Kriegsopfern. In der Regierungserklärung kündigt die Bundesregierung aber weder ein drittes Neuordnungsgesetz noch einen Regierungsentwurf zur Angleichung der Kriegsopferrenten im Jahre 1966 an. Das gibt Anlaß zu Zweifeln. In der gestrigen Fragestunde hat der Bundesarbeitsminister erklärt, die Bundesregierung ist bestrebt, im Jahre 1966 ein drittes Neuordnungsgesetz vorzulegen. Wir haben mit Interesse von dieser zusätzlichen Erklärung Kenntnis genommen. Aufgabe des Hauses wird es sein, dafür zu sorgen, daß die Zusage der Bundesregierung auch eingehalten wird.
318 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Dr. Schellenberg
Zusammenfassend stellen wir zur Sozial- und Gesundheitspolitik fest: Noch niemals machte eine Regierungserklärung so viele Worte, noch niemals brachte sie so wenig Konkretes, und noch niemals zeigte sie über Sozial- und Gesundheitspolitik so wenig Sachverstand.
In der Regierungserklärung heißt es: „Der Bürger muß über Handlungen und Absichten des Staates rasch, korrekt und umfassend unterrichtet werden." Wir erwarten, daß die Bundesregierung dieses Versprechen hält, indem sie unsere Fragen beantwortet, nämlich 1. Sozialleistungen als Hypothek für die Leistungsfähigkeit unseres Volkes, 2. Fortentwicklung der Familienpolitik, 3. Vorlage eines Berufsausbildungsgesetzes, 4. Maßnahmen zur Gesunderhaltung am Arbeitsplatz, 5. Krankenhausfinanzierung, 6. Mutterschutz und 7. Öffnung der Rentenversicherung.
Das Wort hat die Bundesregierung.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schellenberg, Sie haben mich schon auf dem Weg zum Rednerpult gesehen, als Sie mir noch vor der Worterteilung durch den Herrn Präsidenten das Wort erteilt haben. Ich möchte mich für Ihre sachlichen Ausführungen zu wesentlichen Fragen unserer Sozialpolitik sehr herzlich bedanken. Die Sozialpolitik möchte ich allerdings nicht als einen engen sozialpolitischen Bereich verstanden wissen, sondern im Felde der Gesellschaftspolitik sehen. Gestatten Sie mir deshalb vorab einige wenige Bemerkungen, ehe ich zu Einzelheiten komme.
Der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers ist von meinem Herrn Vorredner und auch von allen anderen Rednern der Opposition der Vorwurf gemacht worden, sie lasse kein konkretes Programm erkennen. Auf Grund der ganzen Diskussion dieser Tage habe ich allerdings den Eindruck, daß die Opposition von uns verlangt, vier Wochen nach der Regierungsbildung in Form einer ersten Lesung von Einzelgesetzgebungswerken nunmehr detaillierte Auskunft zu geben, die wir naturgemäß in dieser Stunde einfach nicht geben können.
— Nein, meine Damen und Herren, Sie wissen, ich stehe in dieser Eigenschaft zum erstenmal an diesem Pult, und es ist einfach unzumutbar, jetzt eine Art erste Lesung eines Buketts von Gesetzgebungswerken zu verlangen. Was Sie von uns erwarten können, ist eine Antwort auf die Frage: Hat die Regierung vor, auf diesem und jenem Gebiet initiativ zu werden? Darauf bekommen Sie eine Antwort. Aber Sie können schlechterdings nicht erwarten, daß wir Ihnen
jetzt detailliert das sagen, was in dritter Lesung hier im Hause zu beraten sein wird.
Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie den Versuch des Herrn Bundeskanzlers, zu einer zusammenfassenden Darstellung unserer nationalen Probleme zu kommen, so einfach abtun. Es erhebt sich in der Tat die Frage, ob Sie sich wirklich frei gemacht haben von der großen Illusion, die zukünftige gesellschaftspolitische Struktur könne am Reißbrett konstruiert werden.
— Auch dazu eine Bemerkung, Herr Kollege Erler. Ich bin traurig darüber, daß das von Ihrer Seite immer und immer wieder so negativ-ironisierend gesagt wird.
— Es ist gut. Aber bieten Sie mir die Chance, eine Darstellung zu geben, damit wir ernsthaft darüber diskutieren können. Darum bitte ich Sie sehr herzlich.
— Ja, wir sind doch mitten in der Aussprache.
— Aber entschuldigen Sie, das Tempo der Aussprache haben doch nicht zuletzt Sie mit bestimmt. Dafür sind doch die Diskussionen da. Oder nicht?
— Ich bin schon der Meinung, daß wir darüber ernsthaft und sachlich diskutieren sollten, so wie das Herr Kollege Schellenberg erfreulicherweise getan hat.
Mir scheint, meine Damen und Herren, eine Gestaltung der Gesellschaft am Reißbrett, wie Sie es sich vorstellen, ist nicht möglich. Die Gesellschaft ist einem lebendigen und beständigen Prozeß der Umbildung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Struktur unterworfen. Gesellschaftspolitik kann nur der Versuch sein, diesen Prozeß beständig mit zu gestalten.
Mir scheint, Herr Kollege Schellenberg, die Methode nicht möglich zu sein, aus der Regierungserklärung in diesem einen Punkt nur Auszüge, nur negative Aussagen, aus ,dem Zusammenhang gerissene Sätze, aneinanderzureihen.
Ich glaube, es ist geradezu ein Charakteristikum dieser Regierungserklärung — lesen Sie diese Stelle einmal nach, Herr Schellenberg —, daß sie in ihrem gesamten innerpolitischen Gehalt von einem Bekenntnis zur Sozialpolitik im Sinne einer modernen Gesellschaftspolitik ausgeht.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 319
Bundesminister Katzer
.) Ich glaube, Sie sollten in Ruhe nochmals den Satz lesen, der in der Regierungserklärung steht:
Die Bedeutung der Sozialpolitik liegt im Grundsätzlichen aber auch darin, daß sie in starkem Maße den Stil der gesamten inneren Politik bestimmt.
Diese Sozialpolitik will nicht nur dazu beitragen, Reste des Klassenkampfgedankens zu beseitigen; sie will vielmehr auch die Forderungen der sozialen Interessengruppen an objektiven Maßstäben und gesamtgesellschaftlichen Zielen orientieren.
Meine Damen und Herren der Opposition, ich glaube, es ist nicht gut, es ist sachlich unrichtig, wenn Sie den Herrn Bundeskanzler mehrfach in dem Sinne apostrophiert haben, als sei er ein Gegner der Gewerkschaften oder so ähnlich. Ich möchte Ihnen dazu ein sehr freimütiges Wort sagen. Erstens meine ich, wir sollten differenzieren und nicht immer „die Gewerkschaften" sagen. Es gibt sehr viele Gewerkschaften.
Zweitens möchte ich sagen: wenn irgendwem die Aussage einer gewerkschaftlichen Richtung nicht paßt, dann soll er die Gewerkschaft und den Betreffenden, der die Aussage gemacht hat, beim Namen nennen. Dann wird die Diskussion in diesem Hause sehr viel sachlicher.
— Verzeihen Sie, ich bemühe mich ja, ein Klima zu schaffen. Nehmen Sie es doch so hin, wie ich es Ihnen sage;
es ist so ernst gemeint; denn ich glaube, wir brauchen dieses Klima.
Ich gehe noch einen Gedanken weiter; vielleicht können Sie dem folgen. Wenn wir diesen Gedanken verwirklichen könnten, würden wir, glaube ich, in der innergesellschaftlichen Diskussion ein ganz gewaltiges Stück vorankommen. Die Sozialpolitik, sagte ich, wolle dazu beitragen, Reste von Klassenkampfdenken zu überwinden. Sie will auch die Forderung der sozialen Interessengruppen an objektiven Maßstäben und gesamtgesellschaftlichen Zielen orientieren, wie es wörtlich heißt. Die Methode, dieses Ziel zu erreichen, liegt — ich zitiere wörtlich die Regierungserklärung — im Dialog mit allen sozialen Gruppen.
— Ja, mit allen sozialen Gruppen. (Sehr gut! in der Mitte.)
Meine Damen und Herren, damit wachsen diese Gruppen aus der Atmosphäre bloßer Interessenvertreter heraus und kommen in den Rang von Partnern, die durch einen regelmäßigeren, häufigeren, umfassenderen und intensiveren Dialog dazu beitragen, ihren Sachverstand nicht nur ihr en Interessen. sondern dem Gemeinwohl dienstbar und nutzbar zu machen.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat vorhin in die Debatte eingegriffen. Der Herr Bundeskanzler hat dabei davon gesprochen, daß schon in der übernächsten Woche Gespräche mit den Sozialpartnern stattfinden, daß also das beginnt, was hier als der Dialog der gesellschaftlichen Gruppen bezeichnet wird. Ich kann doch nur wünschen und bitten, daß sich alle Angesprochenen an diesem Dialog im Interesse aller konstruktiv beteiligen.
Meine Damen und Herren, Gesellschaftspolitik ist vor allem als eine gestaltende Tätigkeit zu sehen. Die moderne Gesellschaftspolitik hat das Bild von frei verantwortlichen, urteilsfähigen Bürgern eines Staates vor sich, die sich in Überwindung der früheren Klassengegensätze zu einer Leistungsgemeinschaft zusammenfügen, bei denen Wirtschafts- und Sozialverbände Motor eines permanenten Interessenausgleichs unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Wohles sein sollten.
Die Sozialpolitik kann ihre gestaltende Aufgabe nur erfüllen, wenn sie sich als dynamische Sozialpolitik versteht. Das gilt sowohl für die Umgestaltung ihrer klassischen Bereiche, von denen Herr Kollege Schellenberg vorhin gesprochen hat, als auch für die Eröffnung und Gestaltung neuer Bereiche. Aus diesem Geiste setzt die Regierungserklärung des Kanzlers der Gesellschaftspolitik der kommenden Legislaturperiode einen festen Rahmen — nicht mehr, aber, meine Damen und Herren, auch nicht weniger. Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Rahmen zu füllen.
Aus diesem Geiste läßt sie der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik sowie der Politik sozialer Ordnung einen Spielraum, in dem sich konstruktive Auseinandersetzung mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften entfalten kann. Es gab auf Ihrer Seite etwas Gelächter, als der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung von der formierten Gesellschaft sprach. Meine Damen und Herren, ich möchte sagen, es dient der Sache nicht, wenn wir das einfach abtun. Zugegeben, das ist noch nicht ausdiskutiert; aber ein Gedanke, der noch nicht ausdiskutiert ist, ist doch nicht deshalb schon der Lächerlichkeit anheimzugeben, sondern dann sollte man ihn eben diskutieren, so möchte ich wenigstens meinen.
Meine Damen und Herren, Thilo Koch hat in einer der letzten Ausgaben der „Neuen Rhein-Zeitung", die ja sicherlich Ihnen nahesteht, geschrieben — ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren —:
Die Formel „formierte Gesellschaft" verdient mehr Beachtung und förderliche Kritik, als bisher laut wurde.
In einem weiteren Absatz sagt er — —
320 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Bundesminister Katzer
— Nein, das, was ich jetzt sage, haben Sie nicht gehört; deshalb möchte ich es hier an das, was der Herr Bundeskanzler gestern dazu gesagt hat, anschließen. Thilo Koch hat also weiter geschrieben:
Der Begriff sollte nicht als Schlagwort abgetan werden. Gemeinschaft, Gemeinwohl, Gemeinwesen sind die Worte, die die tragenden Gedanken der formierten Gesellschaft, ihre Idee, am besten umschreiben. Erhard hält den Zeitpunkt für gekommen, eine dritte Phase der Industriegesellschaft anzustreben — von der Klassengesellschaft über die soziale Marktwirtschaft hinein in die formierte Gesellschaft.
Ich habe gelegentlich einer Eigentumsdiskussion hier in diesem Saale einmal gesagt — und ich wiederhole das mit großem Nachdruck —: „Unsere Politik ist nicht zuerst darauf gerichtet, den Lebensstandard zu verdoppeln, wie das einmal gefordert wurde, sondern ich glaube, das erste Ziel unserer Politik sollte darauf gerichtet sein, die sittlichen, kulturellen und geistigen Kräfte unseres Volkes zu stärken und — wenn Sie wollen — zu verdoppeln."
Ich glaube, meine Damen und Herren, genau dies ist der Kerngedanke, der die Regierungserklärung des Bundeskanzlers beherrscht. Ich bin der Meinung, diesen konstruktiven, guten Kerngedanken sollte man herausgreifen. Man sollte den Versuch machen, mit dem Begriff der formierten Gesellschaft und mit der Errichtung eines Deutschen Gemeinschaftswerkes ein Leitbild aufzustellen. Dazu, Herr Kollege Heinemann, gibt es naturgemäß sehr viele Fragen, über die wir hier sprechen müssen; denn ohne Sie können wir es ja nicht verwirklichen. Deshalb bitte ich, so zu verfahren, daß wir nicht Gräben ausheben, wo wir im Grunde erst eine Basis der gemeinsamen Diskussion schaffen müssen, wenn wir dieses Ziel gemeinsam erreichen wollen.
Dieser gedankliche Entwurf einer neuen gesellschaftlichen Verfassung liegt naturgemäß fernab von jenen Straßen, auf denen die politischen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts bis hinein in unsere Zeit unser Volk politisch und gesellschaftlich in unversöhnliche Gegensätze aufgesplittert haben. Die Demokratie lebt nicht nur aus dem sozialen und wirtschaftlichen Wohlbefinden des einzelnen, unser sozialer Rechtsstaat, der Staat der modernen Industriegesellschaft braucht vor allem das geistige und sittliche Bemühen aller seiner Mitbürger. Wer heute glaubt, mit rein pragmatischen Zielen den Staat von heute auf morgen regieren zu können, dem möchte ich nur empfehlen, einen Blick über die Zonengrenze zu tun. Das sollten wir uns — auch der Ressortminister — stets vor Augen halten, das gesamte Volk, und dafür sorgen, daß wir bei uns die sozialen Verhältnisse so gestalten, daß an dem Tag, den wir alle miteinander herbeisehnen, an dem sich die Deutschen in freien und geheimen Wahlen entscheiden, sie sich aus Überzeugung für unser System
entscheiden, weil es begründet ist auf Freiheit und
auf Gerechtigkeit, auf das, was sie drüben suchen.
— Herr Kollege Matthöfer, ich darf Ihnen glaubhaft versichern
— lassen Sie mich es doch erklären —: Hier sitzen ein paar Dutzend Freunde, die wissen, daß ich in den letzten zehn, zwölf Jahren kaum eine Rede gehalten habe, wo ich nicht diesen Satz nachdrücklich gesprochen habe, zuletzt auf dem Düsseldorfer Parteitag. Das können Sie in unseren Protokollen nachlesen. Das ist aber nicht nur von mir getan worden, Herr Kollege Matthöfer, sondern von der gesamten christlich-demokratischen Fraktion. Das möchte ich hier einmal nachdrücklich zum Ausdruck gebracht haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt diese Bemerkungen abschließen. Es schien mir aber notwendig zu sein, einmal zu versuchen, den Geist darzustellen, in dem ich an meine Arbeit herangehen möchte. Ich glaube, darauf haben Sie ein Recht. Ich habe versucht — ich hoffe, es ist mir gelungen —, darauf eine Antwort zu geben.
Lassen Sie mich nun auf einige Schwerpunkte der künftigen Politik eingehen.
Zunächst soziale Sicherung und Eigentum. Die erste Etappe unserer Sozialpolitik war von der Notwendigkeit diktiert, für die Mehrheit unseres Volkes ein wirksames System sozialer Sicherungen zu schaffen. Ohne diese Gemeinschaftsleistung des ganzen Volkes, die wir nicht genug würdigen können, wäre weder der wirtschaftliche Aufbau noch die soziale Befriedung unseres Volkes möglich gewesen. Doch unser Ziel war nicht die Zementierung des Proletariats, sondern der verantwortliche Staatsbürger und damit auf der Grundlage einer ausreichenden sozialen Sicherung die Differenzierung unserer Gesellschaft nach der Leistung des einzelnen. Das bedeutete die Erweiterung der Sozialpolitik zur Gesellschaftspolitik.
Rentenreform. Herr Kollege Schellenberg, ich vermag in vielen Punkten durchaus konstruktive Ansätze aus dem zu ersehen, was Sie gesagt haben. Aber ich glaube, in dem Augenblick, wo wir uns heute oder morgen in diesem Hause anschicken, die erste Lesung zur 8. Rentennovelle durchzuführen, kann man doch keine falschen Töne in die Debatte hineinbringen. Der soziale Rechtsstaat ist nicht expressis verbis genannt, aber er ist im Grundgesetz verankert; und was dort verankert ist, das braucht man nicht dauernd zu wiederholen, Herr Kollege Schellenberg; das halten wir für eine Selbstverständlichkeit,
wie wir für jeden den Willen zur Ausgestaltung des sozialen Rechtsstaates für selbstverständlich halten. Wir haben die Rentenreform, die Reform der Unfallversicherung, den Lastenausgleich, um nur Stich-
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 321
Bundesminister Katzer
worte zu nennen. Sie kennzeichnen die zweite Etappe der Sozialpolitik.
Von entscheidender Bedeutung für die gesellschaftliche Weiterentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme war vor allem auch unsere Eigentumspolitik, die dem Bedürfnis des einzelnen nach sozialer Sicherung ebenso gerecht wird wie dem Bedürfnis nach freier Entfaltung der Persönlichkeit.
Ich will jetzt hier nicht in der Vergangenheit herumgraben. Ich will nicht wie Sie, Herr Kollege Schellenberg, sagen, was auf Initiative dieser oder jener Fraktion geschehen ist. Ich freue mich vielmehr und möchte meinen Blick in die Zukunft richten und darauf sehen, daß wir für die Zukunft, für die nächsten vier Jahre, die Punkte setzen, die wir uns gemeinsam vornehmen wollen. Wir sind uns doch, so hoffe ich, mittlerweile im ganzen Hause darin einig, meine Damen und Herren: Eigentumslosigkeit bedeutet wirtschaftliche Abhängigkeit und das Bedürfnis verstärkter sozialer Sicherung. Die soziale und wirtschaftliche Selbständigkeit und Selbstverantwortung stärken kann deshalb für uns nur heißen, in breiten Schichten unseres Volkes den Willen zum Eigentum wecken und die Möglichkeiten zur Eigentumsbildung fördern.
Wir sind diesen Weg gegangen, und ich glaube sagen zu dürfen, mit einem Erfolg, der in seiner strukturellen Bedeutung für die Zukunft weit über das hinausgeht, was in dieser kurzen Zeit quantitativ erreicht werden konnte.
Für die nächsten vier Jahre kommt es meines Erachtens in diesen Bereichen entscheidend darauf an, dem 312-DM-Gesetz zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen, und bei der in Aussicht genommenen Harmonisierung der Sparförderung sollten wir, möchte ich glauben, darauf achten, daß die haushaltspolitischen Überlegungen, die in diesem Zusammenhang angestellt werden und auch angestellt werden müssen, nicht zu einer Reduzierung des sozial- und gesellschaftspolitischen Inhalts der bisherigen Maßnahmen führen.
Was die reformerischen, die ergänzenden Maßnahmen zur Verbesserung der klassischen sozialen Leistungssysteme angeht, so haben Sie, Herr Kollege Schellenberg — und wenn ich Opposition wäre, würde ich das vielleicht ähnlich gemacht haben —
— natürlich, ich kann mich ja auch in die Lage versetzen —, darauf hingewiesen, daß vor uns drei große Problemkreise stehen, die nicht gelöst sind. Wir wissen das alle. Das brauchen wir gar nicht zu verschweigen. Es handelt sich um die Reform der sozialen Krankenversicherung, die Frage der Lohnfortzahlung und die Frage der Öffnung der Rentenversicherung für die Selbständigen, drei Fragen, auf die Sie drei Antworten verlangt haben. Ich werde Ihnen die drei Antworten geben, obwohl ich weiß, daß ich Sie damit nicht befriedigen kann. Aber das ist eben die Sache der Regierung, und das ist ein anderes Geschäft als die Sache der Opposition.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen mit allem Freimut: Ich habe mich auch bei meinen Fraktionsfreunden leidenschaftlich dafür eingesetzt, daß wir die Zeit, die die Sozialenquete noch braucht — und sie braucht, soweit wir die Dinge übersehen können, etwa Zeit bis zur Mitte des nächsten Jahres; diese Zeit ist für uns vorgegeben — als eine Art Denkpause nutzen sollten — ich habe das einmal gesagt und wiederhole das hier —; denn es scheint mir nicht sinnvoll, nun das, was wir acht Jahre diskutiert haben, jetzt mit denselben Vokabeln noch einmal neu zu diskutieren.
Ich möchte auch, Herr Kollege Schellenberg, nachdrücklich sagen — ich anerkenne, daß Sie zu denen gehören, die die Sozialenquete zu einem früheren Zeitpunkt gefordert haben; jawohl, das anerkenne ich; ich spreche nicht nach rückwärts, ich spreche nach vorwärts, damit hier kein Mißverständnis entsteht, und ich füge jetzt diesen Satz hinzu —: es ist doch, glaube ich, nicht denkbar, daß man eine Sozialenquete-Kommission an die Arbeit gehen läßt, zur gleichen Zeit aber hingeht und sagt: Was die an Ergebnissen bringt, soll uns nicht so schrecklich viel interessieren, warten wir gar nicht erst ab, sondern wir machen hier jetzt schon im vorhinein Gesetzgebungswerke! Nein, meine Damen und Herren, ich glaube, das ist nicht möglich und nicht denkbar. Ich möchte deshalb nachdrücklich die Auffassung vertreten: wir werden das Ergebnis der SozialenqueteKommission abwarten, wir werden es sorgfältig analysieren und dann unsere politischen Entscheidungen hier in diesem Hause zu treffen haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schellenberg?
Bitte!
Herr Minister, ich frage Sie: Kann die Sozialenquete für Sie neue Erkenntnisse zum Problem, zu der Aufgabe der Lohnfortzahlung bringen?
Ja, Herr Kollege Schellenberg. Ich bedanke mich für die Frage; denn da kann ich gleich etwas richtigstellen, was Sie vorhin geäußert haben. Ich bin mit den Herren der Sozialenquete-Kommission zusammengewesen, und ich habe ausdrücklich die Frage gestellt, ob sie die Probleme der Lohnfortzahlung mit in ihre Überlegungen einbeziehen würden oder nicht. Die Antwort, Herr Kollege Schellenberg, die ich vor vierzehn Tagen bekommen habe, war entgegen Ihrer Auffassung ein klares und eindeutiges Ja: Jawohl, diese Frage prüfen wir auch. Deshalb glaube ich, daß wir auch in dieser Frage das Ergebnis der Prüfung abzuwarten haben. Ich füge hinzu, daß praktisch — und das werden Sie
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Bundesminister Katzer
nicht bestreiten — natürlich auch ein Sachzusammenhang zwischen der Frage der Lohnfortzahlung und der Frage des vertrauensärztlichen Dienstes besteht.
Ich möchte das nur zur Abrundung gesagt haben. Es scheint mir wichtig zu sein.
Lassen Sie mich einen dritten Punkt ansprechen, der mir von Bedeutung zu sein scheint. Ich habe mit großer Freude den Darlegungen des Herrn Kollegen Schellenberg entnehmen können, daß er — und das ist auch ein Schwerpunkt der Arbeit, den ich für die Zukunft herausstellen möchte — der beruflichen Bildung und Ausbildung einen großen Vorrang einräumt. Nun kommt Ihre Zwischenfrage, Herr Kollege Schellenberg, wie es denn komme, daß für dieses Jahr im Leistungsförderungsgesetz 50 Millionen DM ausgesetzt worden sind. Das liegt einfach daran, daß wir noch 44 Millionen DM Rest aus dem letzten Jahr haben.
— Nein, das ist nicht schlecht. Wir haben eine Bindungsermächtigung für das nächste Jahr; wir können die Arbeiten zügig fortsetzen.
Aber ich bin ja ganz mit Ihnen einig, und ich betone das mit Freimut: Auch ich glaube, daß das nur ein Anfang sein kann. Ich kann Ihnen jetzt noch keine konkreten Vorstellungen entwickeln, obwohl ich mir dazu durchaus bereits einige Gedanken gemacht habe. Ich glaube, wir werden uns überlegen müssen, ob wir nicht in Anpassung an bestehende Einrichtungen gerade diesen Problemen der beruflichen Ausbildung und beruflichen Weiterbildung wesentlich größeren Raum geben müssen, als es bisher geschehen ist. Immerhin möchte ich mit Dankbarkeit ausdrücklich sagen, daß die Vorarbeiten, die mein Herr Vorgänger, unser verehrter Kollege Blank, gerade auf diesem Gebiet geleistet hat, eine ausgezeichnete Grundlage für eine Weiterentwicklung sind.
Ich brauche nur an das Ausbildungsförderungsgesetz und an das Leistungsförderungsgesetz zu erinnern, die wir ja in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben.
Nun hat bei der Opposition immer eine große Rolle der Satz in der Regierungserklärung gespielt, daß eine formierte Gesellschaft eine informierte Gesellschaft voraussetzt. Herr Kollege Schellenberg hat sich ja auch noch einmal eigens darauf bezogen. Nun ja, wir werden uns in der Tat bemühen, unseren Beitrag zu dieser informierten Gesellschaft zu leisten. Das gilt nicht nur für den Dialog zwischen Regierung und Parlament, sondern das gilt auch für unsere Ausbildungsarbeit. „Der Bürger kann sich nur dann richtig entscheiden, wenn er umfassend informiert ist" ; so heißt es wörtlich in der Regierungserklärung. Die Notwendigkeit einer besseren Information, und zwar von unten nach oben, ist nicht nur hinsichtlich einer sack- und gemeinwohlgerechteren Politik gegeben. Besser informiert sein heißt für den einzelnen, leistungsfähiger zu sein. Besser informiert sein heißt für den einzelnen, alle Entscheidungen — die politischen, die wirtschaftlichen — sachgerechter und damit auf das Ganze gesehen gemeinwohlgerechter zu treffen. Mehr zu wissen, mehr zu können bedeutet aber für den einzelnen heutzutage auch wirtschaftlichen Aufstieg, bedeutet für die Wirtschaft zusätzlich zur fortschreitenden technischen Rationalisierung eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität.
Bildung, Ausbildung, Weiterbildung werden also Schwerpunkte unserer zukünftigen Arbeit sein. Was mir in diesem Zusammenhang bedeutsam zu sein scheint, ist, daß wir bei unseren künftigen Überlegungen die Einzelinitiativen, die auf diesem Gebiet in den verschiedendsten Bereichen gemacht worden sind — von Unternehmungen und Organisationen —, mit berücksichtigen werden.
Herr Kollege Schellenberg, es ist natürlich kein Geheimnis, daß es für mich als den zuständigen Ressortminister schwierig war, in der Frage Mutterschutzgesetz meine Zustimmung zu den Sparvorschlägen zu geben. Das ist doch ganz klar. Ich hätte das hier auch gar nicht anders sagen können, und ich werde selbstverständlich — ich hoffe, mit Ihnen gemeinsam — dafür sorgen, daß dieses eine Jahr dies eine bleibt und daß wir im nächsten Jahr unsere Vorstellung voll werden entwickeln können, wie das jedermann auf der Regierungsbank sehr gern tun würde. Wir haben nun drei Tage darüber diskutiert. Ich möchte das mit dieser Bemerkung weiß Gott nicht neu aufzäumen, desgleichen die Fragen der Währungsstabilität, die diesem Hause nun gestellt sind. Aus diesem Grunde habe ich meine Zustimmung gegeben. — Herr Kollege Schellenberg, bitte!
Herr Minister, wollen Sie auch erklären, daß Sie den Einschränkungen zustimmen, die mit dem Haushalt überhaupt nichts zu tun haben, die reiner Arbeitsschutz und Mutterschutz sind?
Nein, Herr Kollege Schellenberg. Ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar. Ich darf das bei dieser Gelegenheit gleich ausräumen; das wird auch der Fraktionssprecher noch tun. Es war etwas Zeitdruck, da sind diese Dinge mit hineingekommen. Das wird morgen von den Koalitionsfraktionen noch berichtigt. Wir haben nicht die Absicht.
— Ich hoffe, das beruhigt Sie. Bei dem Ernst, mit dem Sie es vorhin vorgetragen haben, kann ich doch nur hoffen, daß Sie das beruhigt. Wir haben nicht die Absicht, das zu tun.
— Vielen Dank, Herr Kollege Schellenberg; ich hoffe, wir korrigieren uns noch recht oft in diesem Hause. Den Mut zum Korrigieren jedenfalls bringe ich von ganzem Herzen mit.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 323
Bundesminister Katzer
Das habe ich nie als Schwäche, sondern stets als eine Stärke angesehen.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch einen letzten Punkt ganz kurz behandeln; ich will es etwas straffen, um in der vorgerückten Stunde der Diskussion noch Raum zu lassen.
Es wurde sehr viel von Schwerpunktbildung, von Rangfolgen gesprochen. Nun, in der Sozialpolitik haben wir eine solche Rangfolge. Seit der Rentenreform ist mit dem Sozialbeirat und seinen jährlichen Berichten in dieser Richtung gearbeitet worden. Ihm verdanken wir eine langfristige Analyse der Situation der Rentenversicherung auf Jahrzehnte hinaus.
Und, Herr Kollege Schellenberg, die 750 Millionen DM Schuldverschreibungen sind auch keine sehr schöne Sache; darüber ist gar kein Zweifel. Aber immerhin ist doch zu erkennen und klar zu sehen, daß der Bund sich seiner Verpflichtung bewußt ist. Sie haben das vorhin so etwas in Zweifel zu ziehen versucht. Ich sage hier nachdrücklich: wir werden an dem soliden Werk der Rentenversicherung nicht rütteln lassen, und wir werden auch die Frage der Öffnung der Rentenversicherung für die Selbständigen prüfen; allerdings, darüber herrscht Übereinstimmung, zu gleichen Rechten und zu gleichen Pflichten für alle Beteiligten.
Wir haben die Sozialenquete, eine langfristige Planung. In Kürze folgt ein zusammenfassender Bericht über die Situation der alten Menschen. Ich möchte hier jetzt nicht zu viel sagen; aber mir schwebt vor, etwa nach dem Muster, wie das Land Nordrhein-Westfalen er hervorragend gestaltet hat, einen Altenplan ins Leben zu rufen, um denen helfen zu können, die unserer Mithilfe bedürfen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bei diesem Punkt einmal ganz deutlich und klar sagen: Ich glaube, wir sollten es uns angewöhnen, daß man in der Sozialpolitik nicht immer und nur mit Mark und Pfennig rechnen kann, sondern daß dazu der Mensch gehört, der ganze Mensch und der helfende Mensch, den wir zu dieser Mitarbeit aufrufen sollten.
Auch das gehört zur Sozialpolitik, wie wir sie zum mindesten verstehen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Ich sehe es als eine besondere Auszeichnung für das Land Hessen an, daß es bei der Bundestagsdebatte über die Regierungserklärung in den heutigen Verhandlungen mit dem, was es tut, eine so breite Resonanz gefunden hat.
Ich muß mir allerdings dabei die Anmerkung erlauben, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß das, was hier an Zahlen und konkreten Fakten vorgetrogen, — vorgetragen worden ist
— sehen Sie, dieser Sprechfehler mit dem „vorgetrogen" war schon so charmant, daß es fast eine Sache für sich war —, leider sehr gut in die vorweihnachtliche Zeit paßt, in der gelegentlich den Kindern Märchen erzählt werden. Nur sollten in
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 325
Landesminister Osswald
einem so Hohen Hause wie dem Bundestag konkretere Fakten auf den Tisch gelegt werden, wenn sich einer der Herren mit den Problemen befaßt, die die Länder in der Gesamtheit betreffen.
Nun eine Bemerkung. Ich war bisher der Auffassung, daß die Länder ihre finanzwirtschaftlichen Probleme vor dem Forum des Bundesrates behandeln und daß das Forum des Bundesrates seinerseits klärt, in welchem Umfang die finanzwirtschaftlichen Gesamtprobleme, die hier angesprochen worden sind, alsdann ländereinheitlich unter Betrachtung der Bundesfinanzsituation behandelt werden.
Aber nun zum Konkreten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das Land Hessen ist heute morgen von dem Herrn Abgeordneten Dr. Luda wiederholt zitiert worden. Ich persönlich bin darüber hinaus mit meinen Äußerungen im Bundesrat zitiert worden. Ich muß zunächst einmal einige Zahlen und Fakten richtigstellen, die hier vorgetragen worden sind und die falsch sind.
Es ist hier von dieser Stelle aus erklärt worden, der Zuwachs des Haushaltsvolumens für das dreiviertel Jahr 1965 im Vergleich zu 1964 betrage im Land Hessen 20 %. Ich habe mir vom Statistischen Bundesamt die exakten Zahlen der ersten drei Vierteljahre für sämtliche Länder geben lassen. Der Zuwachs des Landes Hessen beträgt 1964/65 für die ersten drei Vierteljahre 10,54 %, nicht 20%, wie hier behauptet worden ist.
Meine Damen und Herren von der CDU, -ich entnehme dem Protokoll, daß Sie hier stark applaudiert haben und daß Zurufe bei diesen Zahlen gemacht worden sind.
Lassen Sie mich aber noch einige nennen, weil diese Zahlen interessant sein dürften. Das Land Baden-Württemberg hatte eine Zuwachsrate 1964/65 in den ersten drei Vierteljahren von 13,81%.
13,81%! Bitte, ich habe diese Zahlen heute telefonisch beim Statistischen Bundesamt eingeholt. Das Land Rheinland-Pfalz hat eine Zuwachsrate von 8 %, das Saarland eine Zuwachsrate von 9,48 %. Es schien mir notwendig, das einmal durch diese schlichte Zahlenbetrachtung richtigzustellen.
— Damit hier keine Irrtümer entstehen: auch die anderen Länder haben entsprechende Zahlen, hoch und niedrig. Sie sind aber im Augenblick ohne Bedeutung. Mir geht es darum, hier richtigzustellen, daß das, was heute morgen mit 20% angegeben wurde, falsch ist. Darum geht es mir, das muß korrigiert werden.
Herr Minister, gestatten Sie dem Abgeordneten Besold eine Frage?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Aber selbstverständlich!
Herr Minister, Sie sagten zu Beginn bei der Bekanntgabe Ihrer Zahlen, das seien Zahlen von 1964/65. Sind das nur die Zahlen der ersten drei Vierteljahre von 1965, oder ist es ein Durchschnitt von 1964/65?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Entschuldigen Sie bitte, die Zahlen für das Jahr 1965 können, da wir jetzt Anfang Dezember haben, nur für die ersten drei Vierteljahre rechnungsmäßig exakt vorliegen.
Ich wiederhole: was Ihr Sprecher heute morgen hier im Hinblick auf die 20 % erklärt hat. Ihr .Sprecher hat erklärt: „ ... hat in den ersten drei Vierteljahren dieses Haushaltsjahres 1965 die Zuwachsrate um 20 % gesteigert."
— Das stimmt nicht; es sind 10,34%.
— Das ist die Hälfte; machen wir es für die Hälfte; nehmen wir es vorwiegend heiter; wir sind in der vorweihnachtlichen Zeit.
Nun ist heute morgen von dem Herrn Abgeordneten Dr. Luda des weiteren erklärt worden
— ich darf aus dem Protokoll zitieren —, daß das Land Hessen am 30. September 1964 je Einwohner eine Schuldenlast von 28 DM gehabt habe und daß diese Schuldenlast ein Jahr später, am 30. September 1965, 94 DM betragen habe. Da muß ich Sie leider enttäuschen. Das Land Hessen hat leider am 31. Dezember 1964 eine Schuldenlast pro Kopf in Höhe von 440 DM gehabt und nicht die, die hier fälschlich angegeben worden ist. Es handelt sich um eine Gesamtschuld von 2271,3 Millionen DM, die auf den Kopf der Bevölkerung umgeschlagen die von mir skizzierte Zahl ergeben. Ich weiß gar nicht, was der Herr Abgeordnete hier vorgetragen hat. Es entzieht sich vollkommen meiner Kenntnis, wie man eine solche Zahl, die keinen Bezug zu irgendwelchen tatsächlichen Gegebenheiten hat, in den Raum stellen kann. Ich kann sie nur wieder als falsch bezeichnen.
In diesem Zusammenhang ist heute morgen des weiteren erklärt worden, daß der „Große Hessenplan", den die hessische Landesregierung vorgelegt habe, in seiner finanziellen Auswirkung eine Verschuldung der Gemeinden und des Landes selbst herbeiführen würde, daß damit über die Investitionspolitik eine Inflationsentwicklung allgemeiner Art in Gang gesetzt würde. Auch hier muß ich sagen, daß der Sprecher diesen Plan weder seinem Inhalt noch der Sache nach kennt — weder die Zahlen noch den Text noch die Ideen oder Gedanken dieses Planes —, es aber gewagt hat, diesem Hohen Hause hier eine Erklärung abzugeben, ohne daß er die Sache überhaupt kennt.
326 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Landesminister Osswald
Die Konzeption des Großen Hessenplans bedeutet ihrem Inhalt und der Sache nach, daß die hessische Landesregierung den Versuch unternommen hat, eine längerfristige, d. h. eine Globalbetrachtung ihrer Investitionsausgaben vorzunehmen. Das ist etwas, was dieser Finanzminister und die hessische Landesregierung seit Jahren im Bundesrat von der Bundesregierung fordern,
daß es nämlich nach dieser Aufbauphase erforderlich sei, um den vorhandenen Bestand für die Zukunft zu sichern, längerfristige Leitvorstellungen zu entwickeln, um damit auch wirtschaftspolitische Informationsreihen zu schaffen, die uns für die Zukunft eine kontinuierliche Entwicklung sicherstellen.
.
Meine Damen und Herren, das ist das, was ich im Bundesrat an der Politik der Bundesregierung kritisiert habe, daß es nämlich seither an einer vorausschauenden Globalbetrachtung, die sich auf wirtschaftswissenschaftlichen Fakten aufbaut, fehlt. Sie könnte den Finanz- und wirtschaftlichen Effekt haben, daß der Blick auf das Gesamte bei den jeweiligen Tages- und Jahresentscheidungen sichtbar wird, ohne daß man den Überblick über das, was in der Zukunft zu leisten ist, verliert. Sie haben diesen Überblick verloren. Das zeigt die Entwicklung.
Das zeigt die Entwicklung sehr eindeutig. Das zeigen vor allen Dingen die Ausführungen, die Sie im Zusammenhang mit dem Großen Hessenplan hier mit der Anspielung auf das Land Hessen gemacht haben. Um was geht es denn eigentlich? Sie alle wissen, der Bundeshaushalt ist noch mehr angesprochen als die Landeshaushaltspläne. Der Bundeshaushalt hat in einem größeren Ausmaße konsumtiven, d. h. verbrauchenden Charakter. Die Investitionen spielen nicht die Rolle wie in den Landeshaushaltsplänen. In den Landeshaushaltsplänen haben die Investitionen eine erheblich größere Bedeutung. Wenn ich heute morgen richtig gehört und gelesen habe, hat der Herr Bundesfinanzminister für die kommenden fünf Jahre eine längerfristige Übersicht ja in Aussicht gestellt. Er nickt mit dem Kopf. Es scheint der Sache nach so zu sein. Deshalb verstehe ich nicht, mit welchen Vorstellungen Sie an diesen Großen Hessenplan herangehen, der weiter nichts bedeutet als eine flexible, jederzeit an den volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten zu orientierende Konzeption für die Gestaltung der Zukunft. Wir wollen politisch mitgestalten und es nicht den zufälligen Entwicklungen überlassen, die sich aus der jeweiligen Situation ergeben.
Meine Damen und Herren, das ist eine politische Zukunftskonzeption, und wir werden sicher in den kommenden Jahren noch darüber zu sprechen haben. Da ich die Auffassungen aus dem Bundeswirtschaftsministerium über unsere Konzeption kenne, weiß ich, in welchem Umfang und in welchem Ausmaße sich die Bundesregierung Teile der Gedanken, die diesem Plan zugrunde liegen, zu eigen macht, um
alsdann für die gesamte Bundesrepublik eine solche Konzeption zu gestalten, damit die Länder sich einordnen können, was seither nicht gelungen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang wurde von Schulden gesprochen, von Schulden der Gemeinden, von Schulden des Landes, von Schulden, die durch diesen Großen Hessenplan entstehen sollten. Hier wurde neben anderem erwähnt, daß diese Planziffer für das Jahr 1964 bedeuten würde, daß eine Kreditmarktverschuldung der hessischen Gemeinden in Höhe von 7,7 Milliarden DM zu verzeichnen wäre. Das ist genauso falsch — es tut mir sehr leid, daß ich im Zusammenhang mit diesem Plan hier dauernd von „falsch" reden muß — wie das andere, was vorher geäußert worden ist. Es ist sehr betrüblich, daß in einem solchen Hohen Hause, in diesem Bundestag, solche Ausführungen gemacht werden und die betreffenden Redner sich gefallen lassen müssen, daß man ihnen sagt, die Ausführungen seien in jedem einzelnen Fakt, in jeder einzelnen Zahl falsch. Ich bedauere außerordentlich, aus der Sicht einer Landesregierung das hier vortragen zu müssen. Ich wäre viel lieber gekommen, um eine Konzeption zu interpretieren, die man vielleicht nicht verstanden hat, aber nicht, um mich mit Fakten auseinanderzusetzen, die man hätte zur Kenntnis nehmen müssen, bevor man sich dazu geäußert hat.
Wissen Sie denn, daß die Gesamtleistungen der hessischen Gemeinden zu diesem Plan nur 7,5 Milliarden DM betragen? Wie können Sie denn von 7,7 Milliarden DM Schulden sprechen? Unverständlich! Das ist eigenartig.
Bitte schön!
Herr Minister, ist es richtig, daß die hessischen Gemeinden im Querschnitt die am meisten verschuldeten Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland sind?
Osswald, Minister des Landes Hessen: -Nein, ich werde Ihnen das sofort exakt und im einzelnen mit Zahlen beantworten.
Warum haben Sie das bisher noch nicht in der Bundesrepublik bekanntgemacht? Das wird doch übereinstimmend gesagt.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Frage? Osswald, Minister des Landes Hessen: Bitte!
Sie haben vorhin gesagt, die Schulden des Landes Hessen zum Zeitpunkt X — wenn ich richtig gehört habe, am 31. Dezember 1964 — hätten vierhundertundsoundsoviel DM betragen. Sind das allein die Schulden des Landes oder die Schulden des Landes einschließ-
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 327
Dr. Hofmann
lich der Schulden der Gemeinden des Landes Hessen?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Wenn ich von den Schulden des Landes spreche, spreche ich von den Schulden des Landes allein. Ich vermenge nicht Wasser und Wein. Ich habe hier die Zahl von 2271 Millionen DM genannt. Wenn Sie hier kurz
einmal durch die Bevölkerungszahl von Hessen —5 Millionen — dividiert. hätten —, wären Sie auf die von mir genannte Zahl gekommen. Die Gemeinden in Hessen haben in ihrer Gesamtheit Schulden in Höhe von 3274,6 Millionen DM. Beide Beträge zusammen stellen die Schulden des Landes und der Gemeinden dar.
Aber meine sehr verehrten Damen und Herren, da sind wir doch bei einem der interessantesten Themen. In der Bundesrepublik haben die Gemeinden insgesamt eine Schuldenlast von rund 25 Milliarden DM; das sollte auch Ihnen bekannt sein. Davon entfallen auf die hessischen Gemeinden etwas über 3 Milliarden DM. Die Situation in den Gemeinden anderer Länder ist mit der der hessischen Gemeinden durchaus vergleichbar. In der gesamten Bundesrepublik sind es etwa 25 Milliarden DM, davon etwas über 3 Milliarden DM in Hessen.
— Der Herr Finanzminister kann Ihnen leider keine anderen Zahlen geben, als ich sie habe, weil meine Zahlen auch vom Finanzminister stammen; in der Frage sind wir uns einig.
Meine Damen und Herren, Sie brauchen keine Bedenken zu haben. Bei diesen Zahlen sind sich die Finanzminister der Länder mit dem Bundesfinanzminister einig. Da gibt es kein Problem. Befürchten Sie nicht, daß ich den Versuch unternehme, hier Zahlen vorzulegen, die einer kritischen Prüfung nicht standhalten.
Aber nun zu den Schulden der Gemeinden. Sie machen es sich sehr bequem. Sie wissen, daß die Verschuldungssituation der Gemeinden ein Problem ist, das in engem Zusammenhang mit der in vielen Regierungserklärungen — auch in dieser — versprochenen Finanzreform steht, die bis jetzt noch nicht durchgeführt worden ist.
Sie wissen, daß seit Jahren die Investitionsnotwendigkeiten im Bereich der Gemeinden, um die Grundversorgung sicherzustellen, sehr, sehr hoch sind und daß daraus die Schuldenlast in der ganzen Bundesrepublik, nicht nur in Hessen, resultiert, — aus keinem anderen Fakt. Das konnte aus eigenen Einnahmen nicht abgedeckt werden, weil die Steuereinnahmen der Gemeinden in einem geringeren Maße gewachsen sind als die Einnahmen des Bundes und der Länder. Diese Tatsache müssen wir sehen. Daraus ergibt sich überhaupt erst die Notwendigkeit einer Finanzreform. Aufgabenstellung — das, was geschehen muß — und finanzielle Möglichkeiten sind miteinander in Übereinstimmung zu bringen.
Aber nun zu den konkreten Zahlen. Die 3,2 Milliarden DM in Hessen teilen sich wie folgt auf: Zunächst 2,9 Milliarden DM Kreditmarktschulden der Gemeinden. Davon entfallen etwa 60,8% auf die kreisfreien Städte, 37,5 % auf die Landkreise. Und nun hören Sie bitte genau zu — das ist heute morgen schon zitiert worden —: Wir haben in Hessen — —
Gestatten Sie eine Frage?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Bitte.
Herr Minister, Sie sagten soeben, daß die Einnahmen der Gemeinden nicht in gleichem Maße gestiegen sind wie die Einnahmen des Bundes und der Länder. Ich darf hier auf den Kalender des Deutschen Städtetages verweisen. Danach sind in der Zeit von 1955 bis 1963 die Einnahmen gestiegen: beim Bund von 100 auf 209%, bei den Ländern von 100 auf 277 % und bei den Gemeinden und Gemeindeverbänden von 100 auf 218 %. Nach diesem Kalender ergibt sich also, daß die Einnahmen in diesem Zeitraum bei den Gemeinden und Gemeindeverbänden stärker angewachsen sind als beim Bund.
Osswald, Minister des Landes Hessen: Darf ich daran die Frage anschließen: Sie sind also der Auffassung, daß die Gemeinden zur Erfüllung ihrer Aufgaben keine zusätzlichen Finanzmittel brauchen?
— Nicht?
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Minister, Ich darf darauf verweisen, daß Sie vorher erklärt haben, daß die Einnahmen der Gemeinden nicht in dem Ausmaß gestiegen sind wie die Einnahmen des Bundes. Ich habe Ihnen diese Zahlen .gegeben. Eine andere Frage war nicht gestellt.
Osswald, Minister des Landes Hessen: Ich habe gesagt: nach dem, was hier in einzelnen Zahlen nachgewiesen worden ist, hatten die Länder höhere Einnahmen als die Gemeinden. Wenn Sie diese Zahlen verwenden, würden die Einnahmen des Bundes vergleichbar minimal darunter liegen. Schön, aber darüber ließe sich debattieren.
— Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren,
lassen Sie mich doch einmal diese Dinge aus der
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Landesminister Osswald
Sicht meines Landes 'betrachten. Wir wollen sie insgesamt sehen,
ganz genau, in exakten Zahlen, 1950/1964. Wir haben eine Einnahme an Gemeindesteuern in diesen Jahren in Hessen von 250 bis 1196 Millionen DM — an Landessteuern von rund 600 bis rund 3100 Millionen DM; ich kann die Zahlen, die da noch kommen, vernachlässigen — und an Bundessteuern in diesem Land von rund 600 bis 3994 Millionen DM. Nach einer vergleichenden Gegenüberstellung entfallen von dem Gesamtkuchen des hessischen Steueraufkommens 1964 47,8 % auf den Bund, 37,9% auf das Land und 14,3 % auf die Gemeinden. Sie wissen nun selber: i plus 0,5 gibt 1,5. Wenn Sie aber wie beim Bund eine Ausgangsbasis von 7, 8, 9 oder 10 Milliarden haben und darauf 50 oder 60% aufstocken, macht das einen wesentlich höheren Betrag aus, als ihn die Gemeinden erhalten. Ich kann nur feststellen, daß die Steigerungsquoten bei den Landessteuern und Bundessteuern im Vergleich zu denen der Gemeindesteuern — ich sage das auf Grund der Zahlen in meinem Lande; Sie können diese eindeutigen Zahlen haben — wesentlich höher liegen als die Steigerungsquoten bei den Gemeinden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Aber gern.
Herr Minister, sind Sie nicht der Meinung, daß das überhaupt ein unzulängliches Zahlenspiel ist, wenn Sie — —
— Lassen Sie mich aussprechen! Wir lassen Sie ja auch ausreden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie bitte den Abgeordneten eine Frage stellen.
Sind Sie nicht der Meinung, daß man die Dinge nur in Vergleich setzen kann, wenn man zugleich die Aufgaben berücksichtigt, die die einzelnen Körperschaften haben?
Herr Minister, sind Sie nicht der Meinung, daß es für uns sehr viel interessanter wäre, wenn Sie nicht nur sagten, daß die Gemeinden mehr Geld haben müßten, sondern zugleich sagten, ob die Länder etwa auf Teile ihres jetzigen Aufkommens verzichten würden oder ob sie sich etwa neue Einnahmequellen vorstellen könnten?
Wäre das nicht interessanter, als nur zu sagen, die Gemeinden müßten mehr Geld haben? Ich teile Ihre Auffassung weithin; aber ich meine, damit kommen wir nicht an den Kern der Sache.
.
Osswald, Minister des Landes Hessen: Darf ich dazu sagen, daß ich selbstverständlich derselben Auffassung bin, die Sie vorgetragen haben, daß es notwendig ist, den Finanzbedarf von der Aufgabenstellung her einzuteilen. Ich glaube, diese Frage ist gar nicht strittig. Nun haben Sie von mir einen Vorschlag erwartet; ich sollte Ihnen noch sagen, wie man das im einzelnen regeln könnte, ob durch Steuererhöhung oder durch sonst irgend etwas. Aber das ist doch gerade das, was in dieser ganzen Debatte um die Regierungserklärung erörtert worden ist, daß Sie verantwortlich deutlich machen müssen, wie Sie Ihre Politik in Zukunft gestalten wollen, und daß Sie nicht ständig die Opposition nach Plänen für diese Konzeption fragen können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Ja, selbstverständlich.
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Minister, gestatten Sie die Frage: Sind Sie hier als Minister des Landes Hessen oder als Angehöriger der SPD-Fraktion?
Herr Abgeordneter, diese Frage habe ich beantwortet, ehe Sie sie gestellt haben. Ich habe gesagt, daß ein Mitglied des Bundesrates, der hessische Finanzminister, um das Wort gebeten habe. Ich habe ihm das Wort erteilt, und damit hat er ein Recht, hier zu sprechen.
Osswald, Minister des Landes Hessen: Darf ich mir dazu eine Bemerkung erlauben. Ich bin gar nicht der Auffassung, daß ich hier von der Sache her — ich bin als Landesminister angesprochen, und mein Land ist heute in der Debatte mehrmals zitiert worden — eine politische Aussage, d. h. eine Aussage mit politischer Brisanz, zu machen habe. Wenn Sie mir aber Fragen stellen, die politischen Inhalt haben, dann müssen Sie mir gestatten, daß ich diese Fragen, die politisch gestellt sind,
auch politisch beantworte. Oder was soll ich sonst tun?
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, .den 1. Dezember 1965 329
Herr Minister, gestatten Sie folgende Frage. Ihr Parteivorsitzender Brandt hat gesagt: Nicht alles anders, aber — —
— Einen Augenblick — Willy Brandt — —
— Ich darf eine Frage stellen.
Hat ihr Parteivorsitzender — —
— Meine Herren, warum regen Sie sich so auf? Darf ich nicht fragen?
— Ich stelle eine Frage.
Gestatten Sie, Herr Minister: Hat Herr Brandt behauptet oder gesagt, die SPD wolle nicht alles anders, aber vieles besser machen?
Ich unterstelle, daß er das gesagt hat. Wenn er das gesagt hat, dürfen wir dann nicht danach fragen, wie die Pläne der SPD aussehen, was er alles anders und besser machen will?
Gestatten Sie noch eine andere Frage?
Herr Minister, welche Gemeinden in welchem Lande sind mehr verschuldet als die hessischen Gemeinden?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Zur ersten Frage darf ich daran erinnern — was ein Kollege von Ihnen mir vorhin zum Vorwurf machen wollte. —, daß ich mich möglichst politischer Äußerungen mit Brisanz enthalten möchte. Ich war an und für sich der Meinung, daß Sie sich für eine solche Frage nicht einen schlichten hessischen Finanzminister aussuchen würden, sondern die profilierten politischen Köpfe meiner Fraktion in diesem Hause.
Zur Frage 2 darf ich Ihnen noch einmal sagen: Übersehen Sie bitte nicht, daß die Gemeinden in der Bundesrepublik insgesamt 25 Milliarden DM Schulden haben, daß die hessischen Gemeinden 3,2 Milliarden DM Schulden haben.
Aber nun lassen Sie mich noch etwas zu der Situation Hessens sagen. Ich hätte Ihnen auf Ihre Frage vorhin, die Sie über Herrn Brandt gestellt haben,
ja auch sehr einfach und schlicht sagen können: Schauen Sie sich sozialdemokratische Gesellschaftspolitik an, sehen Sie, wie sie im Lande Hessen durchgeführt wird. Damit können wir uns sehen lassen.
Wissen Sie, warum ich diese Bemerkung gemacht habe? Ich sehe gerade Ihren Kollegen Barzel dort sitzen, und ich erinnere mich an ein Rundfunkgespräch vor der Wahl, an dem die Kollegen Wehner, Barzel und noch einige andere Freunde teilgenommen haben. Da ging es auch um Hessen und Bayern. Der Kollege Barzel war so freundlich, in diesem Gespräch zu erwähnen, als er sich dann aus dem Lande Hessen nach Bayern bewegt habe, sei ihm so recht der Unterschied in den gesellschaftspolitischen Investitionsmaßnahmen in den Gemeinden zum Bewußtsein gekommen, und da müsse doch etwas geschehen. Sie werden sich sicher noch dessen erinnern. Ich glaube, daß er an diesem Beispiel deutlich machen wollte, daß die Investitionspolitik zur Grundversorgung der Bürger im Lande Hessen, gemessen an diesen Leistungen im Lande Bayern, gewisse Differenzen aufweist, und daß er der Auffassung war, daß sie irgendwie einmal über finanzwirtschaftliche Maßnahmen zu korrigieren wären.
Aber es war für mich immerhin interessant, das aus einem Gespräch festzuhalten. Das nur als eine Bemerkung, weil Sie sich hier rein zufällig mit der Zitierung aus der Anfrage beschäftigt haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Frage?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Aber selbstverständlich.
Sie haben jetzt den Vergleich von Hessen mit Bayern herangezogen. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es in Bayern keine Großstadt gibt, die so hoch verschuldet ist wie Frankfurt?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Ich möchte in diesem Zusammenhang eine andere Bemerkung machen, die sicher auch auf die Finanzpolitik Bezug hat. Sie wissen, daß die Länder über den Steuerkraftverbund untereinander einen Ausgleich durchführen. Das heißt, diejenigen Länder, die mehr Steuern einnehmen und damit mehr Finanzkraft haben, Zahlen an die Länder, die weniger Finanzkraft haben. Das ist wichtig im Zusammenhang mit dem Großen Hessenplan. Das sollte man sehen. So leistet z. B. das Land Hessen in diesem horizontalen Finanzausgleich und gibt damit zu erkennen, daß es diesen föderativen Staatsaufbau bejaht und von ganzem Herzen mitträgt — im Jahre 1965 rund 410 Millionen DM. Das Land Bayern bekommt einen Betrag von etwa zwei Dritteln dieser Größenordnung, das Land Rheinland-Pfalz etwa den vollen Betrag, den Hessen zahlt, und so weiter.
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Landesminister Osswald
Hier soll gar nicht abgewogen werden. Ich muß es nur erwähnen, weil es im Hinblick auf die Verschuldung sehr wichtig ist.
Wenn Sie sich das Beispiel Bayern/Hessen noch einmal betrachten und wenn Sie wissen, was in Hessen an Grundversorgungseinrichtungen im Vergleich zu anderen Ländern schon investiert ist, dann könnten Sie theoretisch auch die Rechnung aufmachen, daß der Verschuldungsstand der anderen Länder, wenn sie in diesen Investitionen gleichgezogen hätten,' unter Umständen noch ganz anders aussähe, als sich der Verschuldungsstand in Hessen im Augenblick darstellt.
Lassen Sie mich nun von Hessen, da Sie ja den Hessen-Plan angesprochen haben, noch etwas sagen. Es kommt doch nicht von irgendwo her, daß die Steigerung des Sozialprodukts in Hessen um 2 bis 3 % höher liegt als im Bundesdurchschnitt.
Es kommt auch nicht von ungefähr, daß die bei dem Land Hessen und seinen Gemeinden eingehenden Steuern wesentlich höher liegen als im Bundesdurchschnitt.
Lassen Sie mich das einmal in konkreten Zahlen darstellen. Das Sozialprodukt betrug im Jahre 1963 in den Flächenstaaten 6347 DM auf den Kopf der Bevölkerung, in Hessen 6726 DM, also 379 DM mehr. Es betrug im Jahre 1964 6883 DM, im Bundesdurchschnitt in Hessen 7440 DM, also 557 DM mehr. Bei den Steuern ist es ähnlich. Das verdanken wir unserer aktiven Wirtschafts-, Gesellschafts- und Investitionspolitik in diesem Lande und unserem Großen Hessenplan. Hätten wir nur überall so einen!
Zum Abschluß scheint mir eines doch noch sehr wesentlich zu sein. Mit dieser Zitierung von Hessen und der Nennung der falschen Zahlen, die heute morgen hier erfolgt ist, wurde der Versuch unternommen, eine Landesregierung, die zur Zeit verantwortlich von Sozialdemokraten getragen wird, als den Ausgangspunkt für die inflationistischen Entwicklungen oder überhaupt die Preisentwicklungen hinzustellen, die allgemein in der Bundesrepublik eingetreten sind. Ich muß dieses Unterfangen schärfstens zurückweisen und muß hier mit Nachdruck deutlich machen, daß die hessische Landespolitik den Bemühungen der Bundesregierung und des Herrn Bundesfinanzministers Rechnung trägt, koordinierende Elemente zu finden für ein gemeinsames verantwortliches finanzwirtschaftliches Verhalten.
Es ist leichtfertig, wenn hier in dieser Frage eine andere Äußerung getan wird. Der Herr Bundesfinanzminister weiß, daß er mich in den Fragen, wo es um eine echte Betrachtung der Finanzmittel und der Haushaltsentwicklung für die Bundesrepublik geht, auf seiner Seite hat, auch bei den Betrachtungen, die dazu führen, durch längerfristige Maßnahmen und gewisse Schwerpunktbildungen das zu tun, was der Stunde ,gemäß ist.
Nun will ich Ihnen etwas sagen. Wir haben 10,54% Zuwachs in den ersten 9 Monaten 1965. Sie wissen, daß der Bundesetat 1965, als er vorgelegt wurde, eine Zuwachsrate von 6,3 % hatte. Sie wissen nach diesen drei Vierteljahren in 1965, daß dieser Bundesetat wahrscheinlich ein Defizit von 1,2 bis 1,3 Milliarden DM haben wird. Das bedeutet, daß diese 6,3% aufzustocken sind und damit ein Betrag von mehr als 8% als Steigerungsrate gesehen werden muß. Nun überlasse ich Ihnen die Frage, was im Hinblick auf die Preisentwicklung, auf den Konjunkturablauf und die Finanzpolitik ausschlaggebender gewesen ist: diese 6,3 plus 1,5 aufzustocken
zu schweigen von dem, was neben dem Haushalt im einzelnen finanziert wird — oder das, was sich heute im Verlauf dieser Debatte mit etwas mehr als 10% für Hessen darstellt. Ich glaube, so einfach dürfen Sie es sich, meine Damen und Herren, in diesem Hohen Hause hier nicht machen, wenn Sie Verantwortliche dafür suchen, die Dinge in Ordnung zu bringen, die finanzwirtschaftlich im Augenblick nicht in Ordnung sind, so einfach dürfen Sie es sich nicht machen, mit dem Finger auf das Land Hessen zu weisen. Bei uns sind die Dinge in Ordnung. Bringen Sie sie hier in Ordnung, dann ist alles in Ordnung.
Das Wort hat der Herr Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann aus der Kontroverse mit Herrn Kollegen Schiller und aus der Debatte heute nachmittag, an der ich bei den Ausführungen von Herrn Kollegen Picard und von Herrn Kollegen Schmitt-Vockenhausen allerdings nicht teilnehmen konnte, eines feststellen: Der Umgang mit Zahlen und Prozentsätzen scheint außerordentlich schwierig zu sein.
Ich will aber gleich mit Herrn Kollegen Osswald anfangen. Die Steigerung des Bundeshaushalts 1965 gegenüber dem Vorjahr — mutmaßlich- komme ich auf 65,8 Milliarden DM, jedenfalls bleibe ich in diesem Jahr unter 66 Milliarden DM — beträgt 7,7 und nicht über 8 %, Herr Kollege Osswald.
— Einen Augenblick! Das ist aber keine lebensgefährliche Abweichung.
Gestatten Sie eine Frage?
Sind darin nicht im außerordentlichen Haushalt nachgewiesenen Beträge für die Schuldverschreibungen an die Sozialversicherungsanstalten 'und die Verweisung Berlins an den Kapitalmarkt enthalten?
Wenn ich sage, wieviel Kapitalmarktmittel benötigt werden, meine ich wie im Vorjahr die Anleihen
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 331
Bundesminister Dr. Dahlgrün
plus Offa- und Berlin-Mittel, also alle die abgesicherten Mittel.
Ich möchte nun auch sagen, was weiterhin geschehen ist. Herr Kollege Picard hat Zahlen über die Verschuldung der Gemeinden in Hessen genannt. Herr Schmitt-Vockenhausen hat sie bestritten. Ich kann hier nur feststellen: Sie haben beide recht. Die Zahlen des Herrn Kollegen Picard stimmen mit geringfügigen Abweichungen. Sie umfassen jedoch nicht die Gesamtschulden der hessischen Gemeinden, sondern nur die Kreditmarkt-Schulden, d. h. nicht die Schulden aus öffentlichen Sondermitteln und nicht die Schulden bei öffentlichen Gebietskörperschaften. Damit hat auch Herr Schmitt-Vockenhausen bei der Kritik an den Zahlen recht.
Herr Kollege Osswald war so erregt über die 20%. Herr Schiller, da werden auch Monate, Quartale mit Vorjahrsmonaten und Vorjahrsquartalen verglichen. Wir haben uns" heute morgen darüber auseinandergesetzt, daß das nicht geht.
Das zeigt sich auch hier. Ich will es Ihnen gleich sagen. Die 20 %, die Herr Kollege Dr. Luda für einen Teil des Jahres genannt hat, sind von uns errechnet auf Grund der Angaben des Landes Hessen.
— Bitte, meine Herren, freuen Sie sich nicht zu früh! Da handelt es sich nämlich um die Reinausgaben, also um das, was Hessen in Mark und Pfennig in diesem Teil des Jahres ausgegeben hat,
ohne die Abwicklung der Vorjahrsdefizite.
Meine Damen und Herren, es ist sehr schwer, das verständlich zu machen. Aber es hilft nichts, es ist so.
Ich habe im Augenblick, meine Damen und Herren, von Hessen selber ausgerechnet, folgende Zahlen: 4,4 bis 4,5 Milliarden DM als Volumen für 1964 und ein Volumen von ungefähr 5 Milliarden DM für 1965. Das stimmt ungefähr. Dann haben Sie von 1964 auf 1965 einen Haushaltszuwachs von 10% gehabt. Aber, meine Damen und Herren — und wir alle hier im Hause sollten uns das ernst ansehen —, Hessen hat für 1966 — ich weiß im Augenblick nicht, ob der Etat schon durch ist — eine Zuwachsrate von nur 6 % veranschlagt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Berkhan?
Bitte!
Ich habe Herrn Picard und Herrn Schmitt-Vockenhausen überhaupt nicht gehört.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Minister, wenn es richtig ist, wie Sie behauptet haben, daß diese Zahlen von Ihrem Hause geliefert sind, kann ich nicht verstehen, warum diese Erklärung Herrn Luda nicht gleich mitgeliefert worden ist.
Herr Berkhan, sie sind ja nicht aus meinem Hause geliefert, sondern aus dem Lande Hessen. — Herr Börner!
Herr Minister, ist die Annahme berechtigt, daß es sich hier um durch Sie formierte Zahlen handelt?
Herr Kollege Börner, ich kann Sie nur dringend warnen, formierte Zahlen zu gebrauchen.
Als der Große Hessenplan veröffentlicht wurde, habe ich ihn mit sehr großem Interesse studiert. Ich bekenne offen, daß das schon eine ganze Zeit her ist und daß ich selbstverständlich heute abend nicht in der Lage bin, im einzelnen zum Großen Hessenplan Stellung zu nehmen. Er war sehr interessant. Aber das, was ich heute morgen allgemein und nicht zuletzt in bezug auf Herrn Kollegen Schiller über die Gewichtigkeit, die Bedeutung und die Einsatzmöglichkeiten von Vorausschauen und Plänen gesagt habe, gilt auch für den Großen Hessenplan, der — und das vermisse ich in den Erklärungen von Herrn Kollegen Osswald — ebenfalls diesen Unsicherheitsfaktor enthält. Und wenn ich heute morgen in bezug auf die Aufstellung mittelfristiger und langfristiger Vorausschauen davor gewarnt habe, den Optimismus zu hoch zu spannen und die Leidenschaft dafür nicht zu dämpfen, so gilt das nicht zuletzt auch für eine Ausarbeitung
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Bundesminister Dr. Dahlgrün
wie den Großen Hessenplan; je nachdem, wie die Entwicklung läuft, können sich am Ende ungeheure Abweichungen ergeben. Das wollte ich dazu noch sagen.
Nun aber, meine Damen und Herren, möchte ich — da ja nicht der Hessenplan der Gegenstand unserer Beratung hier ist —
auf etwas anderes zurückkommen, und zwar möchte ich trotz der vorgerückten Stunde noch ein paar kurze Bemerkungen zur Verschuldung der öffentlichen Haushalte ganz allgemein machen. Wie gesagt, es ist sehr schwer, mit Zahlen umzugehen. Ich möchte hier folgendes sagen.
Unter preis-, währungs- und konjunkturpolitischen Gesichtspunkten ist die öffentliche Verschuldung, ganz abgesehen von der objektiven Höhe', ill den letzten Jahren viel zu rasant angestiegen. Das ist ein Trend, den man aus den Zahlen entnehmen kann. Seit 1962 dürfte bei Bund, Ländern und Gemeinden der Schuldenstand um gut 20 Milliarden DM angewachsen sein. Allein 1965 werden die öffentlichen Schulden am Kreditmarkt — nach Abzug der Tilgung — um etwa 71/2 Milliarden DM gestiegen sein, und zwar um 41/2 Milliarden bei den Gemeinden, um 2 Milliarden bei den Ländern und um annähernd 1 Milliarde beim Bund. Diese Ausdehnung, dieser meiner Überzeugung nach zu schnelle Anstieg der öffentlichen Finanzen wirkt den Stabilisierungsbestrebungen entgegen. Wir — nämlich Bund, Länder und Gemeinden — müssen also alles tun — wie oft ist das schon gesagt worden! —, um dieses Verhalten der öffentlichen Haushalte zu ändern.
Meine Damen und Herren, ich sehe, daß es kaum viel Sinn hat, noch in Einzelheiten einzugehen. Ich wollte nur hinsichtlich der Verschuldung noch einmal folgendes zum Ausdruck bringen.
Die objektive Höhe ist im Augenblick noch nicht das Besorgniserregende, sondern das Tempo des Ansteigens, das schlechte Auswirkungen in jeder Hinsicht hat. Bei einem internationalen Vergleich des Schuldenstandes kann sich die Bundesrepublik zwar unter den vergleichbaren Industrieländern durchaus sehen lassen, ja sie steht mit ihrer Belastung sogar an geringster Stelle. Aber das ist wieder eine Zahl, die verwirren kann. Denn wir haben dabei zu bedenken, daß wir zwei drastische Währungsschnitte, relativ hohe Sonderlasten und Kriegsfolgelasten berücksichtigen müssen, durch die über die Steuereinnahmen zum Teil schon vorweg verfügt wird.
Herr Minister, gestatten Sie dem Abgeordneten Erler eine Zwischenfrage?
Sofort, Herr Präsident.
Trotz eines auf Dauer gesehen noch bestehenden Spielraums für eine höhere Verschuldung der öffentlichen Hand — wir haben wegen der erwähnten Voraussetzungen noch nicht zu viel Schulden — sollte aber in der gegenwärtigen Lage hierin keineswegs ein Ausweg aus der finanzpolitischen Enge gesehen werden.
Herr Erler!
Herr Minister, können Sie mir darin beipflichten, daß der auch im internationalen Vergleich relativ geringe Schuldenstand der Bundesrepublik Deutschland, daß auf der anderen Seite das beängstigende Anwachsen der öffentlichen Verschuldung in jüngster Zeit und das insbesondere die hohe Verschuldung unserer Gemeinden mit etwa 25 Milliarden DM u. a. darauf zurückzuführen sind, daß der Bund in den vergangenen Legislaturperioden seine aus dem außerordentlichen Haushalt zu finanzierenden Ausgaben nicht über den Kapitalmarkt, sondern aus den Überschüssen des ordentlichen Haushalts bestritten hat und insofern also schuldenfrei blieb, während durch diese Art Finanzpolitik den Gemeinden die Mittel für ihre Aufgaben vorenthalten wurden und sie sich infolgedessen verschulden mußten?
Herr Kollege Erler, das ist eine Frage, die nicht einfach mit Ja oder nein beantwortet werden kann; das werden auch Sie mir zugeben. Ich habe im Augenblick die Zahlen aus der Vergangenheit nicht sur Hand. Wir können uns eventuell morgen näher darüber unterhalten, da mir das eine sehr interessante Frage zu sein scheint. Es ist sicher so, daß der Bund so gehandelt hat und daß die Länder so gehandelt haben, weil durch den rasanten Wirtschaftsaufschwung, den wir ja alle in diesem Tempo nicht vorausgesehen haben — ich möchte glauben, daß wenige hier in diesem Raum anwesend sind, die bestreiten werden, daß sie Ende der vierziger Jahre den deutschen Wiederaufstieg unter dreißig Jahren Zeitdauer angesetzt haben —, auch ein sehr schnelles Anwachsen der Steuereinnahmen zu verzeichnen war. Das trifft aber zum Teil auch auf die Gemeinden zu.
Bei der Beurteilung muß man weiter berücksichtigen, daß die Gemeinden durch die Zerstörungen des Krieges infolge der Bombenangriffe besonders hart in ihren gemeindlichen Investitionen betroffen waren. Denken Sie nur einnmal an das Problem der Schulen usw. Die Gemeinden, insbesondere die finanzstarken Gemeinden, haben diese Ausgaben sicher genau wie Bund und Länder zum Teil aus dem hohen Steueraufkommen bestritten. Daß diese geringe Verchuldung, die uns vom Ausland, wenn wir Anforderungen stellen, vorgehalten wird, auch im Zusammenhang mit den Währungsschnitten, mit den Kriegsfolgelasten und mit den Steuereinnahmen gesehen werden muß, trifft auch auf die Gemeinden und die Länder zu.
Für die Beantwortung ihrer Frage müßte ich mir erst das Zahlenmaterial beschaffen, das ich so schnell nicht zur Hand habe. Aber Ihre Frage führt dahin, daß letzten Endes Bund, Länder und Gemein-
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 333
Bundesminister Dr. Dahlgrün
den, nachdem dieser rasante Aufstieg vorbei ist, wieder mit normalen Zuwachsraten rechnen müssen. Ich habe gestern gesagt, daß wir in den dunklen Jahren unserer Geschichte schon mit Bruchteilen dieser Zuwachsraten sehr zufriedengestellt gewesen wären. Nun muß auf allen Ebenen, auch bei den Gemeinden das Aufschwungtempo gebremst werden. Auch die Gemeinden müssen sich einmal überlegen, ob es wirklich erforderlich ist, z. B. ein großes Theater schon in diesem Jahr zu bauen. Ich will keiner Großstadt bestreiten, daß sie sich solche Einrichtungen schaffen sollte. Aber ob sie es sofort und gleich haben muß oder ob man vielleicht noch dringendere Dinge hat, darüber sollte man sich unterhalten dürfen. In der Zukunft werden wir uns, Herr Erler — das ist der unausweichliche Weg —, im Zuge der Finanzreform auch über die Gemeindefinanzen unterhalten.
Meine Damen und Herren, zur Geschäftslage. Es ist 10 Minuten vor 9. Das Haus hat beschlossen, bis 9 Uhr zu verhandeln. Ich möchte dem Haus nicht raten, diese Zeit zu verlängern. Ich habe zwei Meldungen für persönliche und tatsächliche Erklärungen nach § 36 der Geschäftsordnung. Ich schlage vor, diese Erklärungen noch anzuhören und dann auf morgen zu vertagen.
— Werden Sie morgen da sein, Herr Minister Osswald?
Osswald, Minister des Landes Hessen: Jawohl, ich bleibe da.
Na, dann geht es ja morgen. Meine Damen und Herren, ich bitte, mich zu verstehen. Wir haben in früheren Legislaturperioden nur schlechte Erfahrungen gemacht mit Sitzungen, die über 9 Uhr hinausgingen. Ich bitte, nicht zu vergessen, daß das Restaurant in der Nähe ist, und das ist nicht sehr gut.
Herr Abgeordneter Seifriz zu einer Erklärung nach § 36.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, ich möchte Ihren Hinweis auf den Zeitablauf unterstützen und darf Ihnen versprechen, daß ich mich in der folgenden Erklärung sehr kurz fassen werde, ,die ich in der gleichen Sache, die hier zur Zeit verhandelt wird, abgeben möchte. Sie betrifft aber zur Abwechslung einmal nicht ein großes Flächenland, sondern einen Stadtstaat, nämlich den Stadtstaat Bremen, den Herr Abgeordneter Dr. Luda so freundlich war in seinen Bemerkungen auch anzusprechen, offensichtlich auf Grund eines Presseberichts.
Ich bitte, die Erklärung zu verlesen.
Weder Herr Boljahn, der Fraktionsvorsitzende ,der SPD, noch die Koalitionsparteien SPD und FDP haben erklärt, daß die 12%ige Verschuldung ausgeweitet werden soll. Dagegen hat der Präsident des Senats, Bürgermeister Dehnkamp, heute vor der Presse verbindlich für den Koalitionsausschuß ausgeführt, daß die Verschuldungsgrenze nicht überschritten, sondern die Finanzierung weiterer wesentlicher Aufgaben auf andere, vertretbare Weise gesichert werde.
Bremen verhält sich absolut konjunkturgerecht. Der Investitionshaushalt von 1964/65 wurde überhaupt nicht, der von 1965/66 lediglich um 1 bis 2% ausgeweitet. Diese Linie der sparsamen Haushaltsführung wird beibehalten, obwohl durch Maßnahmen des Bundes für Land und Gemeinden Bremens erhebliche Finanzausfälle entstanden sind, die für 1965 rund 59 Millionen DM und für 1966 über 60 Millionen DM betragen.
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat der Herr Abgeordnete Dr. Luda.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure ,sehr, daß es mir wegen der vorgeschrittenen Zeit heute abend noch nicht möglich ist, in aller Ausführlichkeit zu den Ausführungen des Herrn Finanzministers Osswald Stellung zu nehmen. Ich habe die Absicht, diese Stellungnahme morgen hier in unserer Debatte sehr ausführlich abzugeben. Ich habe mich gefreut, daß der Herr Finanzminister Osswald heute hierher angereist ist, weil wir die Probleme seines Landes zum Gegenstand der Diskussion gemacht haben.
Ich würde mich freuen, wenn er auch morgen hier zugegen wäre, damit wir in der notwendigen Objektivität über ,diese Probleme hier miteinander reden können,
in der notwendigen Objektivität und Sachlichkeit, die der Bedeutung dieser Sache entspricht.
Meine Damen und Herren, ich hoffe aber sehr, daß bei der Debatte, die dann hier stattfinden wird, die Taktik des Herrn Finanzministers Osswald eine andere sein wird als die, die er bei der Zwischenfrage meines Fraktionskollegen Ott angewandt hat.
Meine Damen und Herren, es mag in Zukunft hier sein, wie es will — und das, was ich jetzt sage, bezieht sich nicht auf Herrn Finanzminister Osswald; ich beziehe mich auf den Fall Ott —, auf Taschen-
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Dr. Luda
spielertricks statistischer Art werden wir nicht hereinfallen.
Zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Mommer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war keineswegs eine persönliche Erklärung,
sondern der erste Teil einer polemischen Debattenrede. Herr Kollege Luda, es hätte Ihnen viel besser angestanden, wenn Sie sich hier bei dem Herrn Finanzminister des Landes Hessen entschuldigt hätten.
— Wozu sind denn Debatten hier gut,
wenn jemand, der so reingefallen ist oder so reingeritten worden ist — ich weiß es nicht —, nicht den Mut hat, hier zu bekennen, daß er sich geirrt hat, und um Entschuldigung bittet?
Herr Abgeordneter Mommer, das war keine Erklärung zur Geschäftsordnung.
— Ja.
Dr. Barzel Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine persönliche Erklärung nach § 36 der Geschäftsordnung abgeben. Der Herr hessische Finanzminister war so freundlich, davon zu sprechen, daß Herr Kollege Wehner, der Herr Kollege Barzel und andere „Freunde" folgendes erklärt haben. Dies geht zu weit, Herr hessischer Finanzminister; Kollege ja, Freund noch nicht.
Ich bedanke mich und ich glaube, dies ist ein versöhnlicher Schluß dieser Debatte.
Herr Abgeordneter Erler!
Herr Präsident! Meine sehr verehrehrten Damen und Herren! Ich möchte zur Geschäftsordnung dieses Hauses eine Bitte an alle Seiten richten. Ich glaube, wir sollten uns überlegen, ob es richtig ist, daß wir für unsere politischen wichtigen Auseinandersetzungen nicht den richtigen Saal wählen. Ich bin der Meinung, daß es selbstverständlich Probleme gibt, bei denen wir über das Verhalten von Bund und Ländern zueinander reden müssen. Ich halte es nicht für gut, hier Detail-Debatten zu führen, die einzelne Länder betreffen und die wir hier in Unkenntnis jedes Dokuments und jedes Zahlenwerks auf gut Glück auf Grund der zufälligen Information von Abgeordneten oder auch der Anwesenheit einesSachverständigen aus dem Bundesrat dann führen müssen. Wenn wir das so fortführen, haben wir künftig hier sämtliche Landtagsdebatten noch einmal.
Ich würde dringend darum bitten, daß wir uns — auch wenn Landtagswahlen bevorstehen — alle miteinander etwas Disziplin auferlegen und' die Probleme behandeln, zu denen uns in diesem Hause die Unterlagen zur eigenen Urteilsbildung zur Verfügung stehen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aussprache wird auf morgen vertagt. Wir beginnen morgen früh um 9 Uhr mit der Fragestunde.
Die Sitzung ist geschlossen.