Rede von
Dr.
Ernst
Schellenberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung spricht nicht vom sozialen Rechtsstaat. Das mußte Herr Dr. Barzel nachholen. Er tat es in allgemein gehaltenen Bemerkungen.
Die Regierungerklärung enthält jedoch in bezug auf die Sozial- und Gesundheitspolitik sehr bedenkliche Formulierungen. Ich zitiere: Steigerung des bloßen Sozialkonsums, strukturlose Expansion sozialer Subventionen, opportunistische Befriedigung von Gruppeninteressen, ungewolltes Hineingleiten des einzelnen in die immer stärkere Abhängigkeit vom Staat, Entwicklung, in der alle sozialen Gruppen zunehmend bloß Objekte der staatlichen Fürsorge sind, Totalversicherung als Ansatz zu einer sich selbst nährenden inflationistischen Entwicklung, Hypothek für die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft. — So u. a. spricht die Regierungserklärung von der Sozial- und Gesundheitspolitik.
Diese Bemerkungen bringen unsere Sozial- und Gesundheitspolitik in ein Zwielicht. Es fällt sehr schwer, anzunehmen, daß ein Bundesarbeitsminister, der mit der christlich-sozialen Arbeitnehmerschaft besonders verbunden ist, an der Abfassung einer Regierungserklärung, die derartige Unterstellungen enthält, mitgewirkt hat.
Freilich rühmt sich die Regierung der Sozialleistungen in unserem Lande. Man behauptet, die Bundesrepublik sei ein sozialer Gigant. Die Regierungserklärung stellt aber diese Behauptungen und die bisherigen Sozialleistungen in Frage, wenn die Bundesregierung darin im gleichen Atemzug erklärt:
Aber wir haben auch Grund zur Sorge, daß sich hinter diesen Leistungen zum Teil lediglich Zahlungen und Subventionen verbergen, die auf längere Sicht unsere Leistungsfähigkeit und damit unsere soziale Sicherheit nicht fördern, sondern schwächen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, von dieser Stelle aus zu sagen, hinter welchen Sozialleistungen sich nach ihrer Meinung Subventionen verbergen, die angeblich unsere wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit schwächen.
Die Bundesleistungen für soziale Sicherheit betreffen: Zuschüsse zu den gesetzlichen Rentenversicherungen, Zuschüsse zur Altershilfe für Landwirte, Kindergeldleistungen und soziale Kriegsfolgeleistungen. Wir fragen die Bundesregierung:
1. Handelt es sich bei den Zuschüssen zur Rentenversicherung etwa um eine strukturlose Expansion sozialer Subventionen?
— Das ist entnommen der Erklärung .der Bundesregierung zur Sozialpolitik!
2. Dienen die Zuschüsse zur Alterssicherung der Landwirte etwa der in der Regierungserklärung erwähnten opportunistischen Befriedigung von Gruppeninteressen?
3. Sind Kindergeldzahlungen etwa eine Hypothek für die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft?
4. Schwächen etwa die Leistungen an Kriegsgeschädigte und Kriegshinterbliebene unsere Sicherheit?
Da die Regierungserklärung in bezug auf die Sozialleistungen Verdächtigungen enthält, hat unser Volk ein Recht auf eine klare Stellungnahme der Bundesregierung.
Nach unserer Auffassung hat die Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik neben der Vermögensbildung breiter Schichten vor allem drei Aufgaben zu erfüllen: Sie soll
erstens .den Bürgern die Chance geben, sich in unserer Gesellschaft zu entfalten; sie soll
zweitens helfen, Gesundheit und Leistungsfähigkeit möglichst zu erhalten oder wiederherzustellen; und sie soll
drittens bei Arbeitsunfähigkeit im Alter oder bei Tod des Ernährers den Lebensstandard sichern.
Zu der ersten Aufgabe der Sozialpolitik: Die Sozialpolitik hat dazu beizutragen, daß die Familie ihre Aufgabe als natürliche und sittliche Lebensgemeinschaft voll erfüllen kann. Die Regierungserklärung spricht nur in allgemein .gehaltenen Redewendungen von einer Fortentwicklung ,der Familienpolitik einschließlich des Familienlastenausgleichs. Deshalb fordern wir 'die Bundesregierung auf, konkret
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zu sagen, welche Pläne sie für die Fortentwicklung des Familienlastenausgleichs hat.
Mit Recht weist die Bundesregierung darauf hin, daß sich die Familienpolitik nicht nur in materiellen Leistungen erschöpfen darf. Doch wäre es angebracht, wenn die Bundesregierung auch hier deutlicher sagen würde, was sie in dieser Hinsicht für die Familie zu tun beabsichtigt.
Der Beruf hat für die Entwicklung der Persönlichkeit eine überragende Bedeutung. Jedem Menschen muß die Möglichkeit gegeben werden, seine Begabungen für sich und die Gesellschaft nutzbar zu machen. Vor über drei Jahren, im Juni 1962, hat der Bundestag auf Initiative der Sozialdemokraten beschlossen: „Die Bundesregierung wird ersucht, dem Deutschen Bundestag bis zum ,1. Februar 1963 den Entwurf eines Berufsausbildungsgesetzes vorzulegen." Diesem Auftrag ist die frühere Bundesregierung nicht nachgekommen. Sie hat vielmehr um Fristverlängerung gebeten. Seitdem sind wiederum fast zwei Jahre vergangen, ohne daß der erbetene Gesetzentwurf vorgelegt wurde.
Bei dieser Sachlage können die unverbindlichen Ausführungen der Regierungserklärung zum Berufsausbildungswesen nicht hingenommen werden.
Jetzt muß erwartet werden, daß die Bundesregierung einen Termin nennt, zu ,dem sie den Auftrag des Bundestages auf Vorlage eines Berufsausbildungsgesetzes endlich erfüllen wird.
Berufsausbildung und Aufstiegschancen müssen auch finanziell gesichert werden. Die Bundesregierung spricht in der Regierungserklärung zwar davon, dazu beitragen zu wollen, daß alle bildungswilligen und bildungsfähigen jungen Menschen eine ihren Begabungen und Neigungen entsprechende Ausbildung erhalten. Aber zwischen dieser Ankündigung und den Handlungen der Bundesregierung bestehen eklatante Widersprüche.
Wir stellen fest: Zur gleichen Zeit, in der die Regierungserklärung von einer weitgespannten Politik der Ausbildungs- und Weiterbildungsförderung spricht, betreibt die Bundesregierung eine Einschränkung der Ausbildungsförderung. Unverständlich ist auch, daß ,die Bundesregierung die Gelegenheit versäumt, die Ausbildungszulage zu einer gezielten Ausbildungsförderung umzugestalten. Mit dem Vorschlag auf pauschale Herabsetzung der Ausbildungszulage von 40 auf 30 DM monatlich hat die Bundesregierung vielleicht verwaltungstechnisch das Einfachste, gesellschaftspolitisch aber das
Widersinnigste getan.
— Ich habe gesagt: Es geht um eine gezielte Ausbildungsförderung. Das ist die Aufgabe, um die
wir im letzten Bundestag gerungen haben und auch im neuen Bundestag ringen.
Wir werden dabei die Zustimmung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere der Wissenschaft finden.
Nun zu den Aufgaben der Gesundheitspolitik. In der Regierungserklärung beklagt die Bundesregierung die mangelnden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auf dem Gebiete des Gesundheitswesens. Die Bundesregierung hat aber die Kompetenzen, die ihr das Grundgesetz in der Gesundheitspolitik einräumt, bisher keineswegs ausgeschöpft. Hierfür drei Beispiele: erstens Gesunderhaltung am Arbeitsplatz; zweitens Hilfe für die Krankenhäuser; drittens Mutterschutzgesetzgebung.
Zum ersten. Es muß alles getan werden, damit die gesundheitlichen Gefahren des Arbeitslebens rechtzeitig und wirksam bekämpft werden. Bereits 1959 hat die Internationale Arbeitsorganisation eine Empfehlung über Betriebsärzte in Arbeitsstätten beschlossen. 1962 hat die EWG eine detaillierte Empfehlung über die Schaffung betriebsärztlicher Dienste herausgegeben. Wir stellen fest: Aus diesen Empfehlungen hat die Bundesregierung bisher keine gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen.
Weitere Beispiele: Über die Herstellung und den Vertrieb gefahrensicherer Maschinen und Geräte, auch Haushaltsgeräte, den sogenannten Maschinenschutz, hat die Internationale Arbeitsorganisation im Juni 1963 ein Übereinkommen beschlossen. Auch aus diesem Übereinkommen hat die Bundesregierung keine gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen. Die Regierungserklärung vom Februar 1963 versprach, einen Gesetzentwurf über Sicherheitsbeauftragte in den Betrieben vorzulegen. Auch dieser Gesetzentwurf wurde nicht vorgelegt.
Die Bundesregierung ist also beim betriebsärztlichen Dienst, beim Maschinenschutz, bei den betrieblichen Sicherheitsorganen, bei wichtigen Aufgaben des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen. Wir fordern die Bundesregierung auf, unverzüglich die entsprechenden Gesetzentwürfe einzubringen.
— Nachdem internationale Organisationen Empfehlungen ausgesprochen haben,
nachdem auch das Parlament in den Ausschüssen die Dinge beraten und die Regierung gebeten hatte, Entwürfe vorzulegen, ist es deren Pflicht, Gesetzesvorschläge zu machen. Dies ist auch im Hinblick auf den immer noch sehr hohen Stand der Arbeitsunfälle erforderlich.
Auch das ist Ausdruck einer produktiven Sozialpolitik. Im übrigen erwarten wir auch, daß der Unfallverhütungsbericht, den- die Bundesregierung auf
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SPD-Initiative zu erstatten hat, wie vorgeschrieben Ende dieses Jahres dem Hause vorgelegt wird.
Nun zu der zweiten gesundheitspolitischen Aufgabe, zur Hilfe für die Krankenhäuser. Bereits im Jahre 1958 auf dem ersten Deutschen Krankenhaustag hat der damalige Bundeskanzler Dr. Adenauer den Krankenhäusern wirksame Hilfe des Bundes versprochen. Diese Zusage wurde von Herrn Dr. Erhard und von Frau Dr. Schwarzhaupt auf dem zweiten und dritten Krankenhaustag wiederholt. Noch auf dem letzten Deutschen Ärztetag am 26. Mai dieses Jahres erklärte der Bundeskanzler — ich zitiere —:
Unsere Krankenhäuser zehren seit Jahren von ihrer Substanz. Ich bin fest entschlossen, ihrem Notstand im Rahmen dessen, was der Bund tun kann, abzuhelfen. Die Krankenhäuser sollen endlich wieder auf eine gesicherte, gedeihliche Basis gestellt werden.
Und was sagte der Bundeskanzler noch nicht sechs Monate später in seiner Regierungserklärung?:
Die Modernisierung der Krankenhäuser dürfte eine Aufgabe im Rahmen des Deutschen Gemeinschaftswerks sein.
Es ist eine deprimierende Aussicht für die gesundheitlichen Anliegen unseres Volkes, wenn die Zukunft unserer Krankenhäuser von der Verwirklichung der bisher noch unbestimmten Gedankengänge des Bundeskanzlers über das Deutsche Gemeinschaftswerk abhängig gemacht wird. Mehr als an Worten des Bundeskanzlers über das Gemeinschaftswerk liegt unseren Krankenhäusern z. B. — um auf eine konkrete Frage hinzuweisen — daran, daß die Änderung der Pflegesatzverordnung erfolgt, die ihnen seit vier Jahren versprochen wird.
Nun als drittes Beispiel für die gesundheitlichen Aufgaben, die vernachlässigt sind, der Mutterschutz.
In der Bundesrepublik sterben heute noch mehr Frauen während der Schwangerschaft, Entbindung und im Wochenbett als in anderen vergleichbaren Staaten. Diese Feststellung läßt sich auch mit statistischen Spitzfindigkeiten nicht widerlegen.
Dies war ein Zitat aus einer Schrift, die der Bundeskanzler u. a. wie folgt einleitet:
Ich begrüße es, daß der Öffentlichkeit diese Materialsammlung vorgelegt wird.
Die Schrift hat den passenden Titel: „Was soll aus Deutschland werden?"
Wegen der hohen Müttersterblichkeit hat die sozialdemokratische Fraktion im Jahre 1962 einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Mutterschutzes eingebracht, dem dann kurz vor der Wahl ein Entwurf der Regierungsparteien folgte. Nach vielem Hin und Her ist schließlich am 6. Juli 1965 in einer Sondersitzung des Bundestages die Novelle zum Mutterschutzgesetz verabschiedet worden. Es war die Ansicht aller Fraktionen, daß über die Novelle hinaus noch weitere Verbesserungen des Mutterschutzes erforderlich sind. Herr Dr. Barzel
— den ich leider nicht im Saal sehe —, erklärte beispielsweise:
Dieses Haus sollte sich aber keinen Illusionen darüber hingeben, daß hier nur ein Teilausschnitt, ein Anfang gesetzt ist.
Deshalb mußten von der Regierungserklärung Vorschläge für den weiteren Ausbau des Mutterschutzes erwartet werden.
Die Bundesregierung schweigt sich aber nicht nur hierüber aus, sondern sie betreibt sogar die Zurückstellung wichtiger Vorschriften des neuen Mutterschutzgesetzes. Im Zusammenhang mit den vorgesehenen Sparmaßnahmen will die Bundesregierung das neue Mutterschutzgesetz für 1966 aussetzen. Statt dessen soll das völlig unzureichende alte Recht unter Gewährung von Vorsorgeuntersuchungen für den kleineren Teil der Mütter und unter Verlängerung von Schutzfristen nach der Entbindung, die für einen großen Teil der Mütter heute praktisch schon gewährt werden, weiterhin Geltung behalten.
— Herr Kollege Ruf, ich kenne im Augenblick nur das, was die Bundesregierung dem Hause vorgelegt hat, und das ist ein sehr schlimmes Vorhaben.
Abgesehen davon, daß Verbesserungen des Mutterschaftsgeldes und des Pauschbetrages für Entbindungen 1966 nicht in Kraft treten sollen, bedeutet das: Erstens. Die Bundesregierung wünscht, daß schwangere Frauen auch 1966 kein Recht auf Krankenhausentbindung hab en.
Zweitens. Die Bundesregierung wünscht, daß alle mitversicherten Frauen — das sind die meisten Frauen — auch 1966 kein Recht auf Vorsorgeuntersuchungen und laborärztliche Untersuchungen während der Schwangerschaft haben. Drittens. Die Bundesregierung wünscht, daß 1966 keine Verbesserungen im Arbeitsschutz für Schwangere und Wöchnerinnen erfolgen. So sollen nicht in Kraft treten: verschiedene Beschäftigungsverbote für werdende und stillende Mütter, Maßnahmen des besseren Schutzes von Leben und Gesundheit werdender oder stillender Mütter am Arbeitsplatz, detaillierte Vorschriften gegen besonderen Arbeitslärm und Sturzgefahr, das generelle Verbot von Akkord- und Fließarbeit für werdende Mütter, die Senkung der Höchstarbeitszeit von 96 Stunden auf 90 Stunden in der Doppelwoche, Verbesserung in der Stillpause sowie zahlreiche andere Arbeitsschutzvorschriften für werdende und stillende Mütter.
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung redet davon, den familienpolitischen Leistungen sollte die größtmögliche Wirksamkeit gegeben werden. Die Regierungserklärung redet ferner von der Bedeutung der Gesundheitspolitik für die moderne Industriegesellschaft. Aber gegenüber dem Mutterschutz als einer der wichtigsten Aufgaben der
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Familien- und Gesundheitspolitik versagt die Bundesregierung bei der ersten Bewährungsprobe.
Man muß zur Auffassung kommen, daß die Bundesregierung offenbar den Schutz der werdenden Mutter für eines der Gruppeninteressen hält, denen sie jetzt nach der Wahl so nachdrücklich entgegentreten möchte.
— Sie, meine Damen und Herren, müssen die Konsequenzen daraus ziehen, nicht wir.
—Schließlich tragen Sie die Bundesregierung und hätten dafür sorgen sollen, daß von der Regierung ein derartiger Entwurf nicht vorgelegt wird. Wir stellen fest:
Erstens. Die gesundheitlichen Leistungen für Mütter, die 1966 nicht in Kraft treten sollen, betreffen nicht den Bundeshaushalt. Es sind Leistungen, die nach dem neuen Gesetz den Krankenkassen obliegen.
Zweitens. Die Vorschriften über den Arbeitsschutz für erwerbstätige Mütter, die 1966 nicht in Kraft treten sollen, haben weder direkt noch indirekt irgend etwas mit dem Bundeshaushalt oder den Finanzen der Sozialversicherung zu tun.
Drittens. Das Presse- und Informationsamt der
) Bundesregierung hat die Öffentlichkeit unrichtig informiert. In der Mitteilung der „Sozialpolitischen Umschau" vom 9. November dieses Jahres heißt es, auch mitversicherte Frauen könnten sich während der Schwangerschaft und nach der Geburt kostenlos vorsorglich untersuchen lassen. Das ist falsch.
Viertens. Elf Tage nach dem Beschluß des Bundeskabinetts über die Suspendierung des neuen Mutterschutzgesetzes veröffentlicht der Herr Bundesarbeitsminister im Bundesgesetzblatt die Neufassung des Mutterschutzgesetzes, das 1966 überhaupt nicht in Kraft treten soll.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung schuldet dem Parlament eine Erklärung für ihr — ich kann nicht anders sagen — unverantwortliches Vorhaben beim Mutterschutz.
Nun einige Bemerkungen zur Krankenversicherungsreform. Eine moderne Krankenversicherung hat für die Erhaltung der Gesundheit überragende Bedeutung. Schwerpunkte der Reform haben zu sein: weitblickende Gesundheitsvorsorge sowie Anpassung der Leistungen bei Krankheit an die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Zum sechsten Male redet eine Regierungserklärung von der Neuregelung der Krankenversicherung.
— Sie hatten ja die Mehrheit! — Jetzt scheint sich die Bundesregierung endlich zu der Auffassung
durchgerungen zu haben, daß eine Krankenversicherungsreform sorgfältig vorbereitet werden muß. Das kann dem Anliegen, um das es gesundheits- und sozialpolitisch geht, nur dienlich sein.
Bekanntlich hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bereits am 24. Oktober 1963 die Einsetzung einer Sachverständigenkommission für die Krankenversicherungsreform beantragt. Damals wurde unser Antrag von der Mehrheit abgelehnt. Wenn jetzt die Sozialenquete-Kommission mit den Problemen der Krankenversicherung befaßt werden soll, so wird mit einer Verspätung von zwei Jahren unserem Anliegen teilweise entsprochen.
Im übrigen gehen auch die beiden anderen Forschungsaufträge, von denen die Bundesregierung spricht, nämlich die Enquete über die Stellung der Frau in Beruf und Familie und die Untersuchung über die Situation der alten Menschen auf sozialdemokratische Initiativen zurück. Entscheidend wird sein, welche politischen Konsequenzen aus den vorzulegenden Untersuchungen gezogen werden.
Nun zu dem letzten großen Bereich der Sozialpolitik, der sozialen Sicherung des Lebensstandards. Die soziale Sicherung hat dafür zu sorgen, daß dem einzelnen sein Lebensstandard, den er sich durch seine Arbeit geschaffen hat, auch bei Arbeitsunfähigkeit, im Alter oder bei Tod des Ernährers erhalten bleibt. Diesem Ziel dient auch die wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit.
Bereits dreimal wurde in Regierungserklärungen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle versprochen. Jetzt wird zum vierten Male in einer Regierungserklärung von der Lohnfortzahlung geredet. Erstaunlicherweise kündigt aber die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf zur Lohnfortzahlung an. Vielmehr heißt es lediglich:
Die Bundesregierung erwartet von dem Bericht über die Sozialenquete einen nützlichen Beitrag unter anderem für die mit der Lohnfortzahlung zusammenhängenden Probleme.
Eine solche Erklärung, daß erst die Sozialenquete abgewartet werden soll, ist, nachdem die Bundesregierung sich früher mehrfach zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle bekannt hat, eine Ausrede.
Aus dem Beschluß der Bundesregierung vom April 1964 über die Durchführung der Sozialenquete ergibt sich eindeutig, daß die Wissenschaftler nicht mit der Erforschung von Fragen der Lohnfortzahlung beauftragt wurden. Es ist zu bedenken: „Die Wissenschaftler, denen die Sozialenquete übertragen worden ist, haben sich ausdrücklich dagegen verwahrt, ihre wissenschaftlichen Arbeiten als Vorwand zu benutzen, um Fragen, die der laufenden und praktischen Arbeit angehören, unter Hinweis auf die Ergebnisse der Sozialenquete zurückzustellen. Die Kommission wünscht ausdrücklich, daß solche Äußerungen unterbleiben."
Das erklärte der damalige Arbeitsminister, Herr Blank, am 3. 12. 1964, also vor noch nicht einem Jahr. Seine Erklärung wurde für so wichtig gehalten, daß sie im Bulletin veröffentlicht wurde.
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In der Tat bringt die Bundesregierung die Wissenschaftler in eine peinliche Lage, wenn sie jetzt die Sozialenquete zum Vorwand nimmt, die politische Entscheidung über die Lohnfortzahlung vor sich herzuschieben.
Wir Sozialdemokraten stellen fest: Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle geht es nicht um Fragen, die noch wissenschaftlicher Erforschung bedürfen. Es geht um die Verwirklichung gesellschaftspolitischer Gerechtigkeit.
Die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung ist entscheidungsreif.
— Aber Herr Ruf, Sie wissen doch genau, wer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall tragen soll; darüber sind wir uns doch hoffentlich einig.
— Über die arbeitsrechtliche Gestaltung der Lohnfortzahlung waren sich bisher die beiden großen Fraktionen grundsätzlich einig.
Jetzt komme ich zur sozialen Sicherung bei Erwerbsunfähigkeit im Alter und bei Tod des Ernährers, zur Rentenversicherung. In der Regierungserklärung heißt es zwar, daß die Rentner weiterhin am Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung teilnehmen sollen. Das begrüßen wir. Gleichzeitig spricht aber die Regierungserklärung von Expansion sozialer Subventionen, immer stärkerer Abhängigkeit vom Staat, Entwicklung zum Objekt staatlicher Fürsorge.
Diese Redewendungen zeigen eine völlige Verkennung der sozialen Sicherung, und zwar erstens hinsichtlich ihrer Finanzierung und zweitens hinsichtlich des Personenkreises, der sozial zu sichern ist.
Zur Finanzierung: Die Versicherten leisten in der Zeit ihres Arbeitslebens Beiträge, um gegenüber den Wechselfällen des Lebens gesichert zu sein. Sie wenden hierfür einen erheblichen Teil ihres Arbeitseinkommens auf und verzichten insoweit auf Konsum.
Es ist deshalb irreführend, wenn die Regierungserklärung im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung von einer strukturlosen Expansion sozialer Subventionen spricht. Von den 50 Milliarden DM jährlicher Einnahmen der Sozialversicherung stammen noch nicht 18 % aus dem Bundeshaushalt. Dagegen beruhen 82 % dieser Einnahmen auf Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. In der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten gehen die Zuschüsse des Bundes — bei gestiegenen absoluten Beträgen — anteilmäßig von Jahr zu Jahr zurück. Die Renten werden somit immer mehr von den Beitragszahlern selber und immer weniger vom Bund aufgebracht.
Deshalb ist es völlig abwegig, wenn die Bundesregierung glaubt, sie müsse — laut Regierungserklärung — den Bürger vor der Gefahr schützen, zunehmend Objekt staatlicher Fürsorge zu werden.
Die Bundesregierung täte gut daran, ihre Aufmerksamkeit vielmehr einer wirklichen Gefahr, nämlich der immer stärkeren Verschuldung des Bundes bei der Rentenversicherung zu widmen.
Nun zum Personenkreis, der sozial zu sichern ist. Soziale Sicherung ist ein lebenswichtiges Element der modernen Industriegesellschaft. Der immer deutlicher werdende Wunsch der Arbeiter, Angestellten und Selbständigen nach sozialer Sicherheit muß respektiert werden. Deshalb bekennen sich die Sozialdemokraten zum Gedanken einer Volksversicherung.
Die Bundesregierung erklärt zwar, sie habe Verständnis dafür, daß auch Gruppen von Selbständigen zur Sicherung ihrer Altersversorgung die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung anstreben. Im Widerspruch hierzu lehnt die Bundesregierung aber eine allgemeine Rentenversicherung, die sie als Totalversicherung bezeichnet, ab. Vor den Wahlen wurde erklärt, die CDU/CSU werde dem neuen Bundestag zu Beginn der nächsten Legislaturperiode einen neuen Gesetzentwurf vorlegen, der die Rentenversicherung für alle öffne.
— Zu Beginn der Legislaturperiode!
— Ich werde weiter zitieren, und dann werde ich meine Frage an die Bundesregierung richten; denn wir diskutieren heute vor allen Dingen mit der Regierung über die Regierungserklärung.
Es hieß weiter, jedem, der gewillt sei, einkommensgerechte Beiträge zu entrichten, werde damit die Gewähr für ein Alter in Sicherheit gegeben.
Wir fordern die Bundesregierung auf, eindeutig zu sagen, welche Auffassung sie zu einer Öffnung der Rentenversicherung für alle noch nicht versicherten Angestellten und Selbständigen hat und ob sie bereit ist, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Der Kriegsopferversorgung — darüber sind wir uns in diesem Hause erfreulicherweise prinzipiell einig — muß der Rang zuerkannt werden, welcher der Größe der für die Gemeinschaft erbrachten Opfer an Leben und Gesundheit entspricht. Am 12. Mai dieses Jahres hat die Bundesregierung beschlossen und verkündet, im Haushaltsjahr 1966 ein Neuordnungsgesetz vorzulegen, das die Grundlage für die laufende Anpassung der Kriegsopferrenten bilden soll. In der Regierungserklärung steht zwar, die Bundesregierung stehe zu ihrer Zusage gegenüber den Kriegsopfern. In der Regierungserklärung kündigt die Bundesregierung aber weder ein drittes Neuordnungsgesetz noch einen Regierungsentwurf zur Angleichung der Kriegsopferrenten im Jahre 1966 an. Das gibt Anlaß zu Zweifeln. In der gestrigen Fragestunde hat der Bundesarbeitsminister erklärt, die Bundesregierung ist bestrebt, im Jahre 1966 ein drittes Neuordnungsgesetz vorzulegen. Wir haben mit Interesse von dieser zusätzlichen Erklärung Kenntnis genommen. Aufgabe des Hauses wird es sein, dafür zu sorgen, daß die Zusage der Bundesregierung auch eingehalten wird.
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Zusammenfassend stellen wir zur Sozial- und Gesundheitspolitik fest: Noch niemals machte eine Regierungserklärung so viele Worte, noch niemals brachte sie so wenig Konkretes, und noch niemals zeigte sie über Sozial- und Gesundheitspolitik so wenig Sachverstand.
In der Regierungserklärung heißt es: „Der Bürger muß über Handlungen und Absichten des Staates rasch, korrekt und umfassend unterrichtet werden." Wir erwarten, daß die Bundesregierung dieses Versprechen hält, indem sie unsere Fragen beantwortet, nämlich 1. Sozialleistungen als Hypothek für die Leistungsfähigkeit unseres Volkes, 2. Fortentwicklung der Familienpolitik, 3. Vorlage eines Berufsausbildungsgesetzes, 4. Maßnahmen zur Gesunderhaltung am Arbeitsplatz, 5. Krankenhausfinanzierung, 6. Mutterschutz und 7. Öffnung der Rentenversicherung.
Das Wort hat die Bundesregierung.