Herr Kollege Heinemann, ich wollte soeben auf diese Frage kommen. Das war der zweite Teil Ihrer Bemerkungen zum Bundesverfassungsgericht. Ich sage dazu folgendes. Ich halte die Behauptung so, wie sie hier aufgestellt worden ist, für sachlich falsch,
die Behauptung, die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts sei eingeengt. Es gilt unverändert § 90 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, in welchem steht — ich zitiere sinngemäß aus dem Gedächnis; der Text steht ja sicher irgendwo zur Verfügung —: Jedermann kann das Bundesverfassungsgericht mit dem Mittel der Verfassungsbeschwerde anrufen, wenn er behauptet, in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Es gibt sodann eine Änderung — und diese meinen Sie, Herr Kollege Dr. Heinemann —, die in § 93 a des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes enthalten ist. Diese Bestimmung gibt dem Gericht die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung anzunehmen, die es entweder für offensichtlich unbegründet hält oder von denen es glaubt, daß sie keine grundsätzliche Verfassungsfrage klären oder daß sie — um es jetzt mal simplifiziert zu sagen; ich werde Ihnen gleich ein Beispiel aus der Rechtsprechung geben — der Entscheidung durch das höchste deutsche Gericht nicht würdig sind.
Herr Kollege Heinemann, Sie wissen genauso wie ich und jeder andere Jurist im Hause, der täglich mit einer ganzen Reihe von Briefen aus unserer Bürgerschaft befaßt wird, in denen sehr häufig die Behauptung auftaucht, diese oder jene Behörde, dieses oder jenes Gericht habe Verfassungsgrundsätze verletzt, daß nur ein Teil der in diesen Briefen enthaltenen Behauptungen einer ernsthaften Nachprüfung standhält. Das ist ein Faktum, von dem
284 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Benda
wir, glaube ich, alle wissen, sofern wir solche Briefe
kriegen; und insbesondere die Juristen kriegen sie.
Ich darf statt vieler Ausführungen zu diesem Thema eine Entscheidung zitieren, die Entscheidung eines dieser Ausschüsse des Bundesverfassungsgerichts, die jüngsten Datums ist, nämlich vom 5. Oktober dieses Jahres, die ich in diesen Tagen zufällig in die Hände bekommen habe, in der der Urteilstenor lautet, daß die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung nicht angenommen wird. So lautet der für diese Fälle übliche Tenor. Das Gericht stellt den Tatbestand dar — das kann ich mir jetzt schenken; er ist in diesem Zusammenhang nicht wichtig — und sagt, daß die Verfassungsbeschwerde weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet sei, so daß eine Ablehnung nach § 93 a Abs. 3 nicht in Frage komme — da steht eben dieses drin —, aber die Annahme nach § 93 a Abs. 4 abzulehnen sei, und zwar mit folgender Begründung — ich zitiere —: Von der Entscheidung ist weder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten noch entsteht dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung ein schwerer und Unanwendbarer Nachteil.
Um das zu verstehen und zu würdigen, meine Damen und Herren, muß man wissen, daß sich der Beschwerdeführer aus Gründen, die möglicherweise nicht von der Hand zu weisen sind, gegen eine gerichtliche Kostenfestsetzung in einem Räumungsprozeß vor dem Amtsgericht gewendet hat, bei der es sich um einen Betrag von 27,04 DM handelte. Das ist noch nicht der extremste Fall. Es gibt Fälle, in denen wegensehr viel geringerer Beträge das Bundesverfassungsgericht angerufen worden ist. Ich stehe gar nicht an, hier zu sagen, daß mir die Arbeitskraft des höchsten deutschen Gerichtes, das über die Wahrung der verfassungsmäßigen Grundrechte und der Verfassung zu wachen hat, für derartige — wie es das Bundesverfassungsgericht nennt — Bagatellsachen zu wert ist, und daß ich meine, daß das Gericht nicht nur .das Recht hat, sondern nach Möglichkeit davon Gebrauch machen sollte, solche Dinge von einer Entscheidung und der damit verbundenen Belastung fernzuhalten.
Das, Herr Kollege Dr. Heinemann, ist die Frage, ob man sich in dieser Frage verständigen kann. Ich bin dieser Meinung.
Eine weitere Belastung des Gerichts — und das war der Sinn der damaligen gesetzlichen Regelung — mit den ausgesprochen querulatorischen und mit den ausgesprochenen Bagatellsachen würde die Arbeitskraft des Gerichts nicht stärken, ,sondern schwächen. Damit würde im Ergebnis das, was wir gemeinsam erreichen wollen, nämlich den Schutz der Verfassung und den Schutz der Grundrechte des Bürgers, nicht erleichtert, sondern erschwert. Das ist meine Auffassung dazu.
Herr Kollege Dr. Heinemann hat dann in einem anderen Zusammenhang gleich zu Anfang seiner Ausführungen sich mit dem Deutschen Gemeinschaftswerk und damit zusammenhängenden Fragen beschäftigt. Ich will jetzt nicht, zumal es vielleicht nicht meine Aufgabe ist, hier auf Einzelheiten des Inhalts dieser Vorstellungen eingehen. Ein Kollege meiner Fraktion wird sich dazu noch im einzelnen äußern. Ich möchte nur grundsätzlich etwas sagen. Herr Kollege Dr. Heinemann, ich würde doch davor warnen — das gilt für uns alle —, daß wir es uns so einfach machen, daß wir uns über das, was wir Visionen nennen, in diesem Hause lustig machen. Die soziale Marktwirtschaft war damals in den Jahren des Wirtschaftsrates — Herr Kollege Dr. Strauß hat das gestern gesagt — auch nur eine Vision.
Damals hat es von der SPD dieselben Bemerkungen und dieselben Fragen gegeben wie heute. Heute ist das keine Vision mehr; heute ist das unsere Wirklichkeit.
Oder soll ich — ich will es nur am Rande tun — an das erinnern, was Präsident Kennedy in einer unvergeßlichen Rede in der Paulskirche gesagt hat? Wir alle sind doch dabeigewesen, als er zum Schluß seiner Rede davon gesprochen hat, daß wir alle in einem bestimmten Sinne, den er näher gekennzeichnet hat, Idealisten sein müssen, daß wir alle Visionäre sein müssen.
Ich weiß, Herr Kollege Dr. Heinemann, daß manches, was in den Vorstellungen, wie sie Herr Bundeskanzler Erhard hier vorgetragen hat, der Diskussion in diesem Hause bedarf. Darüber gibt es gar keinen Streit. Das ist eine bare Selbstverständlichkeit. Ich weiß genauso gut wie Sie, daß die verfassungsrechtlichen Fragen ganz schwierig sind und einer ganz ernsten Prüfung bedürfen. Dazu gehören die Fragen, die Sie angesprochen haben. Dazu gehört darüber hinaus ein Punkt, den Sie gar nicht angesprochen haben, den ich hier erwähnen will, nämlich die Frage, ob der Grundsatz jenes Artikels unseres Grundgestzes auf die Dauer noch aufrechterhalten werden kann, in dem lapidar davon die Rede ist, daß die Einnahmen und Ausgaben des Bundes jedes Jahr neu durch Haushaltspläne festgestellt werden. Meine Damen und Herren, jeder von uns, der mit Haushaltsfragen zu tun hat — ich zähle gar nicht zu diesem Personenkreis —, weiß doch, daß das heute schon nicht mehr die Realität ist, daß eine Grundsatzentscheidung etwa auf dem Gebiete der Verteidigung, die vor fünf oder vor zehn Jahren gefallen ist, den Haushaltgesetzgeber und damit uns alle für einen langen Zeitraum, meist über den Zeitraum einer Wahlperiode hinaus, jedenfalls aber über den Zeitraum eines einzelnen Jahres hinaus, festlegt, daß wir dann, wenn wir so etwas einmal beschlossen haben — und wir haben eine Reihe von Grundsatzentscheidungen in dieser Frage getroffen —, ohne Schaden für unser Volk gar nicht mehr davon abgehen können, sondern den
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 285
Benda
einmal eingeschlagenen Weg konsequent durchführen müssen. Sie irren, Herr Kollege Dr. Heinemann, wenn Sie sich darüber mokieren — anders möchte ich es in diesem Zusammenhang wirklich nicht bezeichnen, abgesehen von der Spitze gegen unseren Kollegen Dr. Pohle, die ich als sehr unpassend empfunden habe —,
wenn Sie meinen, rügen zu müssen, daß es innerhalb der CDU, die sich dazu nicht näher geäußert habe, für diese Vorstellung keine Begeisterung gebe. Herr Kollege Dr. Heinemann, unter Juristen wissen wir, daß es einen Rechtsgrundsatz gibt, wonach derjenige, der schweigt, mindestens zuzustimmen schein t. So weit werden Sie mir vielleicht sogar folgen.
— Nein, Herr Kollege Jahn, das ist ein altrömischer Rechtsgrundsatz. Nicht immer paßt er, aber in diesem Zusammenhang paßt er. Wir sind doch nicht gehalten, in einer Diskussion über die Regierungserklärung den Herrn Bundeskanzler hier — wie es so schön heißt — zu unterstreichen, zu bestätigen, zu wiederholen. Wir stimmen dem, was er zu diesen Punkten gesagt hat, zu. Wir werden uns im einzelnen mit diesen Dingen weiterhin auseinandersetzen.
Ich meine, daß man es der Bundesregierung bzw. dem Bundeskanzler dankbar abnehmen sollte, wenn er in eine Diskussion, die formell die Beratungen eines Zeitraums von vier Jahren einleitet, einen zündenden Gedanken wirft, der hinausweist über einen Zeitraum von vier Jahren, der, wenn er vernünftig durchgeführt wird, vielleicht bis an das Ende dieses Jahrhunderts weisen könnte. Ich halte das für seriöser — um auch das noch zu sagen — als den Wahlschlager der SPD-Wahlillustrierten mit der „Gesundheitsrakete". Das war dasselbe, nur nicht ganz so seriös.
Ich komme schließlich zu einem Punkt, den sowohl Herr Kollege Erler in seinen einleitenden Ausführungen als auch heute Herr Kollege Heinemann angesprochen hat, Herr Dr. Heinemann ausgehend von der Frage der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Verfassungsänderungen allgemein, Herr Kollege Erler auch in diesem allgemeineren Zusammenhang und dann speziell auf das Problem des Notstands bezogen.
Zunächst Herr Dr. Heinemann. Es gibt einen Gedankengang, in dem ich Ihnen im Prinzip durchaus folgen möchte. Es ist durchaus richtig, daß dieses Haus, das — zusammen mit dem Bundesrat — für Änderungen unseres Grundgesetzes verantwortlich und zuständig ist, vorsichtig sein sollte. Wir haben in der Vergangenheit bei mehreren Gelegenheiten — ich erinnere Sie etwa an die Diskussion über den Antrag der FDP auf Änderung des Art. 15 des Grundgesetzes; es war in der vorigen oder vorvorigen Wahlperiode — gemeinsam die Auffassung vertreten, daß man solche Grundfragen nicht jederzeit, nicht ad hoc klären, sondern sehr sorgfältig
überlegen sollte, bevor man sich zu einer Verfassungsänderung entschließt.
Ich gehöre durchaus nicht zu den Kollegen in diesem Hause — solche gibt es auch —, die, wenn ein Problem auftaucht, dem man nicht so recht beikommen kann, der Auffassung sind: Nun, ändern wir doch einfach das Grundgesetz! Natürlich geht es nicht so einfach. Natürlich haben wir auf der einen Seite zu beachten, daß dieses Grundgesetz die verfassungsrechtlichen Leitlinien festlegt, nach denen sich unsere Tätigkeit auch als Gesetzgeber zu vollziehen hat, und daß wir uns, wenn wir uns nur in der Sache einig sind, nicht einfach darüber hinwegsetzen können.
Auf der anderen Seite wissen Sie so gut wie ich, daß das Grundgesetz nach seiner Entstehungsgeschichte, nach der Zeit, in der es entstanden ist, nach den politischen Umständen, in denen es entstanden ist, einige Fragen aufwirft, die eben einer neuen Überprüfung und Beantwortung bedürfen. Sie selbst haben das Gemeinschaftswerk genannt, das solche Grundfragen aufwirft. Die „Wehrergänzung" des Jahres 1956 war ein solcher Anlaß. Die Notstandsverfasung wird ein solcher Anlaß sein müssen nach den Erklärungen, die in der vorigen Wahlperiode auch von den Kollegen Ihrer Fraktion hier abgegeben worden sind. Ich meine daher, daß man von Fall zu Fall prüfen muß.
Der Hinweis auf die amerikanische Verfassung, Herr Kollege Dr. Heinemann, macht mich nachdenklich. Er veranlaßt mich aber zu der Bemerkung, ob denn in der Bundesrepublik eine verfassungsrechtliche Regelung denkbar wäre, die in der Form so einfacher und so allgemein gehaltener Generalklauseln wie die amerikanische Verfassung nur einige wenige Grundsätze normiert und es dem Verfassungsleben und der Rechtsprechung überläßt, diese Grundsätze auszufüllen.
Sie brauchen doch nur die praktisch unbeschränkten Befugnisse des Präsidenten der Vereinigten Staaten als des Inhabers der obersten Exekutivgewalt gegenüberzustellen den sehr detaillierten und sehr schwierigen Diskussionen, die wir hier im Hause über eine verfassungsrechtliche Regelung des Notstands gehabt haben. Daß der Rechtsausschuß der vorigen Wahlperiode am Ende seiner Beratungen vorgeschlagen hat, das Grundgesetz in nicht weniger als 21 Artikeln zu ändern, beruht doch u. a. auf durchaus nicht unberechtigten Bedenken dagegen, hier nun in Form einer Generalklausel — etwa nach dem Muster des Art. 48 der Weimarer Verfassung oder nach dem Vorbild der französischen oder amerikanischen Verfassung — einfach Vollmachten an eine Stelle zu geben. Darüber sind wir uns doch im Grundsatz einig. Aber es ist sehr schwer, das beides zugleich zu erreichen.
Was die Herrren Erler und Dr. Heinemann über die weitere Zukunft der Notstandsverfassung gesagt haben, habe ich — ich kann es nicht anders sagen — mit einer gewissen Sorge gehört. Ich habe von dem Kollegen Erler gehört, daß man die Fragen der Notstandsverfassung — ich zitiere Herrn Erler —: „mir
286 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Benda
im Zusammenhang mit allgemeinen politischen Prioritäten" lösen kann.
Das gehört in die Kategorie, die von Ihrer Seite, wenn Sie andere Äußerungen von seiten der Regierung und auch von unserer Seite angesprochen haben, als wolkenweich bezeichnet worden ist. Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Herr Kollege Erler, und ich wäre sehr dankbar für eine Erläuterung, was hier Prioritäten sind. Ist es die Frage der Klärung des Verhältnisses der Sozialdemokratischen Partei zu den Gewerkschaften? Sind es Überlegungen im Hinblick auf das Jahr 1969? Oder was sind hier die politischen Prioritäten, um die es im Zusammenhang mit dieser Frage geht?
Ich muß bekennen, daß ich nicht weitere Klarheit dadurch gewonnen habe, daß Herr Kollege Heinemann heute — allgemein, wie ich annehme, und auch für diesen speziellen Komplex — erklärt, die SPD wolle nicht Zulieferer für die Regierungsparteien sein. Herr Kollege Heinemann, das verlangen wir gar nicht. Es geht ja doch bei der Notstandsverfassung und bei anderen Dingen nicht darum, daß Sie uns einen Gefallen tun, es geht darum, daß Sie uns die Frage beantworten — und die allerdings dann klar —, ob eine bestimmte Regelung im Interesse nicht der CDU oder CSU oder FDP oder der Bundesregierung, sondern im Interesse des deutschen Volkes notwendig ist oder nicht.