Rede von
Dr.
Johann Baptist
Gradl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einige Bemerkungen zu Fragen machen, die im Laufe der Debatte aus meinem Arbeitsbereich angesprochen worden sind. Ich denke dabei insbesondere an Bemerkungen, die der Herr Kollege Erler vorgestern gemacht hat. Herr Kollege Erler hat in seiner ersten Stellung-
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Bundesminister Dr. Gradl
nahme zur Regierungserklärung u. a. bemängelt, daß in der Regierungserklärung — ich zitiere — kein Wort über die rechtliche Gleichstellung der Zonenflüchtlinge mit den Vertriebenen stehe.
Dazu darf ich folgendes sagen. Mir liegt in keiner Weise daran, hier einen Streit um Worte zu entfachen; dazu ist die Sache zu ernst. Aber ich glaube, daß bei der Interpretation der Regierungserklärung ein Mißverständnis unterlaufen ist, und ich hoffe, daß ich es aufklären kann. Es ist richtig, Herr Kollege Erler: das Wort „rechtliche Gleichstellung" oder, wie man auch zu sagen pflegt, „Gleichberechtigung" ist in der Regierungserklärung nicht ausgesprochen. Nun, wir wissen. auf allen Seiten, daß dabei sowohl politisch als auch materiell mancherlei zu bedenken ist. Ich komme nachher auf einen Punkt, der mir besonders wichtig erscheint, noch zurück. Ich möchte in diesem Augenblick nur folgendes sagen: ich glaube, die Bundesregierung ist gut beraten, und ich glaube, auch alle hier im Hohen Hause, nicht nur eine Seite, sind gut beraten, wenn sie angesichts der Erwartungen, welche die Betroffenen an den Begriff „rechtliche Gleichstellung" oder „Gleichberechtigung" knüpfen, und angesichts der materiellen Schwierigkeiten, die da bestehen, in ihren Aussagen dazu Zurückhaltung üben. Ich glaube, es wäre nicht richtig, wenn man die Erwartungen, die an diesen Begriff geknüpft werden oder die dahinterstehen, durch schlichte Übernahme des Begriffes bestätigen würde, solange man nicht weiß, wann und in welcher Weise diese Erwartungen erfüllt werden können. Wir alle werden uns nach den Erfahrungen und Erlebnissen der letzten Monate vorgenommen haben, nichts zu versprechen — das gilt nicht nur für meinen Sektor —, wenn wir nicht wirklich davon überzeugt sind, daß wir das Versprochene in absehbarer Zeit realisieren können.
Das heißt nun nicht, daß wir uns wegen der finanziellen Enge, in der wir uns befinden, zur Passivität in der Betreuung der Vertriebenen, Flüchtlinge und der anderen Gruppen verleiten lassen dürfen. Das wäre schlecht; da würden wir es uns zu bequem machen. Ich glaube, wir müssen daran festhalten, daß die Gruppen, die nicht nur materiell geschädigt worden sind, sondern die darüber hinaus auch einen tiefen zusätzlichen Verlust dadurch erlitten haben, daß sie aus der Heimat vertrieben worden sind oder als Flüchtlinge die Heimat haben aufgeben müssen, ein zusätzliches Anrecht auf materielle Obhut, also auf Priorität haben. Ich jedenfalls will mich für diese Vorrangigkeit einsetzen.
Nach dieser allgemeinen Bemerkung zu dem Thema Gleichberechtigung oder rechtliche Gleichstellung möchte ich doch auch folgendes sagen. Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung zu dieser Frage nicht geschwiegen, sondern sie hat sich ausdrücklich zu weiteren gleichstellenden Maßnahmen bekannt — ich betone: zu weiteren. Was heißt das? Das heißt doch in Wahrheit, daß wir auf dem Wege, dessen Ziel von den Betroffenen durch den Begriff rechtliche Gleichstellung oder Gleichberechtigung umschrieben wird, vorwärtsgehen wollen. Wieweit das möglich ist und wieweit das unter mancherlei Gesichtspunkten morgen, übermorgen
richtig ist, das muß die Zukunft zeigen. Es besteht jedenfalls der Wille der Regierung, da weiterzugehen.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Erklärung auch nicht nur auf diese allgemeine Feststellung beschränkt, also auf das Bekenntnis zur Weiterführung gleichstellender Maßnahmen, sondern sie hat ja in der Erklärung auch einige präzise Aussagen gemacht. Ich darf einmal daran erinnern, daß sie hier den Entwurf eines Gesetzes zum Währungsausgleich für die aus der Zone und dem Ostsektor von Berlin geflüchteten Deutschen angekündigt hat. Ich kann sagen, daß dieser Entwurf praktisch — in meinem Hause jedenfalls — fertig ist. Wir werden ihn sehr schnell, auf alle Fälle früher als zu dem Termin, der in dem gemeinsamen Beschluß des vorigen Bundestages genannt worden war, hier einreichen können. Es ist unsere Vorstellung, daß wir nachher bei der Verwirklichung dieses Gesetzes vor allen Dingen die Leistungen für die älteren Leute beschleunigen.
Die Bundesregierung hat sich auch — im Grunde selbstverständlich, werden Sie sagen; das ist es auch — zu einer 19. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz bekannt. Es konnte gar nicht anders sein. Zu den seinerzeit vom Vermittlungsausschuß abgelehnten Teilen der 18. Novelle gehörte die Stundung der Abgabepflicht für geschädigte Zonenflüchtlinge. Ich will nicht voraussagen, was alles in der 19. Novelle stehen wird. Sie werden gleich sehen, warum ich das jetzt nicht will. Aber in dem Entwurf der 19. Novelle wird dieser Punkt: Stundung der Abgabepflicht, die gebührende Beachtung finden. Dies ist auch eine gleichstellende Maßnahme.
Nun zu einem weiteren Punkt. Ich habe das in den letzten Tagen oder Wochen mehrfach schon bei anderer Gelegenheit draußen gesagt: Das Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz ist bereits in Kraft. Wir alle haben dieses Gesetz ja nicht geschaffen, um die Ämter und Behörden zu beschäftigen und um Statistiken zu erstellen, sondern wir alle waren uns doch darüber einig, daß dieses Gesetz einmal Unterlagen für Leistungen liefern soll. Über Art und Zeitfolge dieser Leistungen kann man erst etwas sagen, wenn man hinreichende Unterlagen für eine einigermaßen exakte Schätzung des Gesamtkomplexes hat. Gegenwärtig schwanken die Schätzungen zwischen 4 und 12 Milliarden DM. Nun darf ich aber hinzufügen: was auch immer möglich sein wird, was auch immer bewilligt werden wird, immer wird es in der Masse aus dem Bundeshaushalt aufgebracht werden müssen.
Da davon auch in den Ausführungen des Kollegen Erler die Rede war, möchte ich auch dies klarstellen: Die angekündigte 19. Novelle ist nicht an einen Vorbehalt geknüpft. Ich bitte jedenfalls, das nicht so zu verstehen. Was wir allerdings wollten, war die Vorschaltung einer Sicherung. Ich glaube, Sie werden alle zustimmen müssen, daß diese Sicherung notwendig war und ist. Denn niemand in diesem Hohen Hause kann ja die Tragödie wiederholt sehen wollen, die wir mit der 18. Novelle erlebt haben. Das ist vor allen Dingen für die Betroffenen selbst nicht zumutbar, Jedenfalls möchte ich — und Sie sicher
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auch — dem Gesetz, dem Lastenausgleichsgedanken und den Geschädigten die Wiederholung einer solchen Enttäuschung ersparen. Darum habe ich sofort bei Amtsantritt die Prüfung der sogenannten Reserven im Lastenausgleich durch ein unabhängiges Sachverständigengremium als notwendig bezeichnet.
Ich darf zu diesem Punkt in Übereinstimmung mit dem Herrn Finanzminister folgendes sagen: Die Bundesregierung hat in der Regierungserklärung die Vorlage einer 19. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz nach Maßgabe vorhandener und liquide zu machender Reserven des Ausgleichsfonds in Aussicht gestellt. Sie fühlt sich daher zunächst zu einer sorgfältigen Prüfung der Reserven des Ausgleichsfonds verpflichtet. Die Bundesregierung möchte aus diesen Gründen und auch, um den in diesem Hohen Hause vielfach geäußerten Wünschen zu entsprechen, beschleunigt eine gründliche und sachverständige Prüfung der bisherigen Schätzungsergebnisse, insbesondere des künftigen Vermögensteueraufkommens, herbeiführen. Unter maßgeblicher Mitwirkung namhafter Wirtschaftsforschungsinstitute soll ein objektives Fachgremium gebildet werden, dem das gesamte verfügbare Material zu überlassen ist und das selbstverständlich auch Sachverständige der Verbände anhören soll. Einzelheiten über die Zusammensetzung der Kommission sind noch offen und müssen der Klärung mit den Instituten vorbehalten bleiben. Auf alle Fälle aber wird Sorge getragen werden, daß die Kommission Gewähr für eine sorgfältige, objektive und schnelle Erledigung ihrer Aufgaben bietet.
Das Gutachten, das von einem solchen Gremium unter eigener Verantwortung zu erarbeiten ist, wird in verhältnismäßig kurzer Zeit erstellt werden und dann eine, wie wir hoffen, allgemein anzuerkennende Grundlage für die weiteren Entschließungen bieten.
Ich darf dem, was ich hier in Übereinstimmung mit dem Herrn Finanzminister gesagt habe, noch hinzufügen: Wir legen Wert darauf — und ich ganz besonders —, daß die Arbeit dieses Gremiums nicht zu einer wesentlichen Verzögerung führt. Ich habe deshalb auch in meinem Hause veranlaßt, daß der Entwurf einer 19. Novelle so weit wie möglich vorbereitet und abgeschlossen wird, und zwar mit Alternativen, je nachdem, wie das Schätzungsergebnis sein wird.
Das Interesse, schnell dazu zu kommen, haben wir alle in diesem Hohen Hause, alle Parteien.
Ich muß nach den Erfahrungen, die wir bei der 18. Novelle gemacht haben, auch darauf bedacht sein, daß wir mit den Ländern in den wesentlichen Punkten zu einer Übereinstimmung kommen. Ich habe deshalb eine Konferenz mit den zuständigen Länderministern noch vor Weihnachten veranlaßt, in der wir diese Angelegenheiten vorbesprechen werden.
Meine Damen und Herren, es geht hier um die Feststellung der Reserven. Wir wissen alle, daß die
Tatsache, daß Reserven festgestellt worden sind, noch nicht bedeutet, daß im Augenblick auch entsprechende Barmittel zur Verfügung stehen. Aber natürlich: die Reserven gehören den Geschädigten, und sie sollen nach unseren Vorstellungen in erster Linie der Hauptentschädigung und der Altersversorgung ehemals Selbständiger dienen.
Herr Kollege Erler hat in seinen Bemerkungen die Anpassung der Unterhaltshilfe an die allgemeine Einkommensentwicklung gefordert. Dazu muß ich sagen: es ist leider so, daß die Einnahmen des Fonds mit der allgemeinen Einkommensentwicklung — ich betone: Einkommensentwicklung — nicht parallel gehen. Infolgedessen engt z. B. jede Erhöhung der Sozialleistungen, die wir für notwendig halten, die Mittel, die für die Entschädigungsleistungen notwendig und wünschbar sind, ein. Ich darf folgendes Beispiel nennen, um deutlich zu machen, was für eine Entwicklung dahintersteht: Unterhaltshilfe für ein Ehepaar 1952 im Monat 100 DM, 1965 im Monat 310 DM. Dies bedeutet natürlich, daß die Möglichkeiten der Hauptentschädigung entsprechend belastet werden. Man kann also die Forderung nach Anpassung stellen — sie läßt sich durchaus hören —; aber auch hier stößt die Erfüllung an harte Tatsachen.
Dann hat der Herr Kollege Erler von der Eingliederung vertriebener und geflüchteter Bauern gesprochen. Natürlich, sie ist eine unerhört wichtige Aufgabe. Jeder von uns hat ein Gespür dafür, daß ein Bauer, der vertrieben worden ist oder der geflüchtet ist, gewissermaßen — ich habe das neulich so ausgedrückt — die Heimat zweimal verloren hat, die engere Heimat und außerdem den Hof. Jeder von uns weiß, wie ein Bauer an seinem Land hängt. Deswegen sind wir durchaus der Meinung — und ich glaube, da gibt es auch keine Unterschiede —, daß wir da besondere materielle und moralische Verpflichtungen haben.
Ich selber habe mich — dies war eigentlich der erste Amtsakt dieser Art — mit den legitimierten Vertretern dieser Gruppe noch am Tage, bevor die Besprechungen über den Entwurf der Regierungserklärung begannen, zusammengesetzt, um mit ihnen diese Dinge zu besprechen. Der Rotstift ist ja, wie Sie wissen, auch an der Finanzierung des Fünfjahresplans für die Ansiedlung geflüchteter und vertriebener Bauern nicht vorübergegangen. Aber hier bin ich heute in der glücklichen Lage, Ihnen positiv folgendes sagen zu können. Zum einen: die im Jahre 1965 noch nicht zur Verteilung gekommenen Mittel in Höhe von 50 Millionen DM konnten Ende vergangener Woche zugeteilt werden. Zum zweiten: die von Ihnen mit Recht kritisch betrachtete Kürzung im Haushaltsansatz 1966 um 50 Millionen DM kann durch innere Verlagerungen und — mit fast völliger Sicherheit — durch kleinere Dosierungen aus dem organisierten Kapitalmarkt gemildert, ja, fast möchte ich wagen, zu sagen: ausgeglichen werden.
Ich bitte, daraus zu ersehen, daß wir dieser Aufgabe, die nicht nur finanziellen Charakter hat, sondern die von einer eminenten politischen und sozia-
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len Bedeutung ist, wirklich unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden. Sosehr wir wissen, daß noch viele, viele Zehntausende aus den Reihen der vertriebenen und geflüchteten Bauern warten, so können wir uns doch alle darüber freuen, daß es nach der letzten vorliegenden Zahl im Laufe der Jahre gelungen ist, etwa 150 000 vertriebenen und geflüchteten Bauern entweder zu einer Vollerwerbs-stelle zu verhelfen — das ist die kleinere Zahl — oder sie doch wenigstens mit einer ländlichen Heimstatt auszustatten. Darauf kann wohl das ganze Haus stolz sein.
In jenen schwierigen Tagen der Vorbereitung der Regierungserklärung, der Tätigkeit des Streichquartetts und dem, was danach gewesen ist, habe ich besonders viel Verständnis — und nicht nur platonisches Verständnis, sondern reale Hilfe — bei meinen Kollegen Dahlgrün und Höcherl gefunden. Das zu sagen halte ich gerade bei diesem Thema für geboten.
Ich brauche hier nicht hervorzuheben, daß wir alle — entgegen einer im Lande nicht selten anzutreffenden Meinung — der Überzeugung sind, daß das Eingliederungswerk für die Vertriebenen und Flüchtlinge, auch für die Kriegssachgeschädigten, noch keineswegs vollendet ist, auch wenn das, wie gesagt, viele glauben. Man muß sich dazu noch vor Augen halten, daß z. B. aus dem Kreise der Aus-und Umsiedler Jahr für Jahr Zehntausende neu zu uns kommen. Aber wir werden uns natürlich bemühen müssen — und ich will das zu meinem Teil versuchen —, dem Abschluß des Eingliederungswerkes in dieser Legislaturperiode spürbar näherzukommen.
Die Vertriebenen und die Flüchtlinge werden bei der Vertretung ihrer materiellen Interessen draußen im Lande nicht immer mit guten Urteilen bedacht. Dabei tut man ihnen bitter Unrecht.
Die Einsicht bei den Betroffenen ist wesentlich größer, als dies hämische und bösartige Kritiker vielfach annehmen.
Kollegen von allen drei Parteien haben an den großen Tagungen des Gesamtverbandes der Zonenflüchtlinge und des Bundes der Vertriebenen in Braunschweig bzw. Hannover teilgenommen. Alle werden mir wohl zustimmen, wenn ich sage: Wenn man zu den Menschen offen spricht und ihnen erklärt, wie die Situation ist, dann sind sie zwar nicht beglückt von dem, was man ihnen da eröffnet — das wäre auch zuviel verlangt —, aber sie sehen ein, daß wir eine Weile in diesen Dingen langsamer gehen müssen. Dies ist doch eine sehr positiv zu wertende Haltung.
Meine Damen und Herren, ich habe die Bitte an Sie — es klingt etwas sentimental in diesem Hohen Hause, in dem ja Gegensätze ausgetragen werden sollen, notfalls hart —: wollen wir gemeinsam in dieser unbestreibar schwierigen Situation suchen, was für diese großen Gruppen möglich gemacht
werden kann, was verantwortet werden kann. Ich verspreche Ihnen, nach besten Kräften mitzutun.