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    Deutscher Bundestag 9. Sitzung Bonn, den 1. Dezember 1965 Inhalt: Glückwunsch zum Geburtstag des Bundesministers Dr. Krone 231 A Begrüßung des Gouverneurs des Staates Oregon 253 A Fragestunde (Drucksache V/38) 267 D Frage des Abg. Tönjes: Einnahmeverluste der DB durch Erhöhung der LKW-Kontingente und Senkung der Beförderungsteuer für den Werkfernverkehr Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 267 D Frage des Abg. Haar (Stuttgart) : Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für das Straßenwesen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 268 A Haar (Stuttgart) (SPD) 268 B Frage des Abg. Haar (Stuttgart) : Kosten für die Verbeserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 268 C Haar (Stuttgart) (SPD) 268 D Fragen des Abg. Faller: Kapitaldienst der Deutschen Bundesbahn Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 269 A Faller (SPD) 269 B Frage des Abg. Seibert: Mehrbelastung der Kraftfahrer durch Erhöhung der Mineralölsteuer in Verbindung mit angeblich hoffnungsloser Verschuldung der DB Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 270 C Frage des Abg. Seibert: Fehlbeträge in den Jahresabschlüssen der DB infolge der Auswirkungen nicht kostendeckender Tarife Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 270 D Seibert (SPD) 270 D Fragen des Abg. Wendt: Berufs-, Schüler- und Sozialverkehr der DB Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 271 B Wendt (SPD) . . . . . . . . 271 D Cramer (SPD) 271 D Seibert (SPD) 272 B Brück (Köln) (CDU/CSU) . . . 272 D Frage des Abg. Dr. Tamblé: Aufhebung von Bahnsteigsperren Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 272 D Dr. Tamblé (SPD) 273 A Strohmayr (SPD) 273 B Fellermaier (SPD) 273 C Felder (SPD) . . . . . . . . 273 D II Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 Frage des Abg. Ramms: Parkscheiben — Parkuhren — Erhöhung der Parkzeit-Gebühren Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 274 A Ollesch (FDP) 274 B Flämig (SPD) 274 C Jacobi (Köln) (SPD) 274 D Frage des Abg. Rawe: Aufwendungen des Bundes für Ausbau und Unterhaltung der Binnenwasserstraßen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 275 A Wendt (SPD) 275 B Fragen des Abg. Rawe: Sicherung des Investitionsprogramms der DB Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 275 C Seibert (SPD) 276 A Schoettle, Vizepräsident 276 B Frage des Abg. Dr. Schmidt (Wuppertal) : Erhebung von Autobahngebühren von Ausländern beim Grenzübertritt Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 276 D Frage des Abg. Dr. Müller (München) : Abwanderung leitender Techniker und Wissenschaftler der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt in Braunschweig Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 277 B Dr. Müller (München) (SPD) . . . . 277 C Berkhan (SPD) ........277 D Fragen des Abg. Ramms: Spikes-Winterreifen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 278 B Haage (München) (SPD) . . . . . 278 C Frage des Abg. Felder: Brücke bei der Raststätte Feucht Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 279 A Felder (SPD) 279 A Fragen des Abg. Flämig: Vorrichtung zur Beseitigung schädlicher Abgase an Kraftfahrzeugen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 279 B Flämig (SPD) 279 D Dr. Schmidt (Offenbach) (SPD) . . 280 B Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung in Verbindung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung des Haushaltsausgleichs (Haushaltssicherungsgesetz) (Drucksache V/58). Erste Beratung — Dr. Emde (FDP) . . . . . . . . 231 A Dr. Gradl, Bundesminister . . . . 234 D Dr. Schiller (SPD) 237 C Schmücker, Bundesminister . . . 247 B Dr. Dahlgrün, Bundesminister . . . 252 A Dr. Luda (CDU/CSU) . . . . . . 254 B Dr. Dr. Heinemann (SPD) . . . . . 262 B Schmitt-Vockenhausen (SPD), Erklärung nach § 36 GO 267 A Picard (CDU/CSU), Erklärung nach § 36 GO 280 C Benda (CDU/CSU) . . . . . . 281 A Busse (Herford) (FDP) . . . . . 290 B Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundeskanzler 291 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . . 295 A Dr. Stoltenberg, Bundesminister . . 302 A Dr. Martin (CDU/CSU) 304 C Moersch (FDP) 307 B Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . 310 A Illerhaus (CDU/CSU) 310 A Dr. Schellenberg (SPD) 313 A Katzer, Bundesminister 318 A Osswald, Minister des Landes Hessen 324 D Vizepräsident Dr. Schmid . . . . 328 D Seifriz (SPD), Erklärung nach § 36 GO 333 B Dr. Luda (CDU/CSU), Erklärung nach § 36 GO 333 C Dr. Mommer (SPD) 334 A Dr. Barzel (CDU/CSU), Erklärung nach § 36 GO 334 B Erler (SPD) zur GO 334 B Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . . 334 C Nächste Sitzung 334 D Anlagen 335 A Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 231 9. Sitzung Bonn, den 1. Dezember 1965 Stenographischer Bericht Beginn: 9.02 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 335 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Beurlaubungen Dr. Arndt (Berlin/Köln) 2.12. Frau Berger-Heise 18.2. 1966 Dr. Birrenbach 2. 12. Blachstein 2. 12. Borm 2. 12. Damm 2. 12. Dr. h. c. Güde 2. 12. Hilbert 2. 12. Jaschke 2. 12. Dr. Kliesing (Honnef) 1. 12. Koenen (Lippstadt) 31. 12. Kriedemann 31. 12. Kubitza 2. 12. Lemmrich 2. 12. Marquardt 2. 12. Rawe 8. 12. Frau Schanzenbach 31. 12. Frau Schimschok 31. 12. Schmidt (Würgendorf) 2. 12. Dr. Schmidt-Burgk 2.12. Schultz 2. 12. Seuffert 2. 12. Spillecke 2. 12. Spitzmüller 2. 12. Wahl* 3.12. Wienand 2. 12. Dr. Wörner 3. 12. Wolf 10. 12. Zerbe 2. 12. *Für die Teilnahme an einer Ausschußsitzung des Europarats Anlage 2 Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Dr. Wuermeling zur Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung. Gestatten Sie mir als einem der Mitglieder dieses Hauses, das „von Anlang an", also seit 1949, „dabei war", einige Worte jenseits aller parteipolitischen Erwägungen. Es ist mir ein echtes Anliegen, hier einmal einige grundsätzliche Bemerkungen zu machen, die von der Sorge um die Erhaltung des Vertrauens in unsere parlamentarische Demokratie bestimmt sind. Ich bitte, sie weder als Polemik nach der einen noch als solche nach der anderen Seite dieses Hauses aufzufassen, weil es um ein Anliegen geht, das uns allen gemeinsam ist. Es ist mir ausschließlich darum zu tun, daß wir alle uns einmal selbst fragen, ob das Gesetzgebungsjahr 1965 des Deutschen Bundestages das Vertrauen in unsere Anlagen zum Stenographischen Bericht parlamentarische Demokratie zu stärken oder zu gefährden geeignet ist. Die gesetzgebenden Körperschaften haben in der ersten Hälfte dieses Jahres als Träger der höchsten staatlichen Souveränität zahlreiche Gesetze beschlossen, die vom Herrn Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt verkündet worden sind. Durch diese Gesetze sind Rechtsverpflichtungen des Bundes übernommen worden, deren Übernahme wir als Gesetzgeber in Ausübung unseres Mandats als gewählte Vertreter unseres Volkes - sehr oft einmütig — sachlich für geboten hielten. Sehen wir jetzt einmal, ohne dieses oder jenes Gesetz als einzelnes oder die dadurch Begünstigten im Auge zu haben, nur die grundsätzliche Tatsache, daß die höchsten Träger unserer staatlichen Souveränität alle diese Verpflichtungen in der feierlichsten Form, nämlich der des Gesetzes, im Namen von Volk und Staat übernommen haben. Unsere Staatsbürger vertrauen selbstverständlich auf die Einhaltung dieser Rechtsverpflichtungen, weil unser Staat sie in gesetzlicher — also höchstverbindlicher - Form übernommen hat. Nun ergeben sich wenige Monate nach Erlaß dieser Gesetze, ohne daß etwa eine plötzliche Wende in unserer wirtschaftlichen Entwicklung eingetreten wäre, Schwierigkeiten bei der Bereitstellung der Haushaltsmittel, die zur Einhaltung der in feierlicher Gesetzesform übernommenen Verpflichtungen erforderlich sind. Von jedem Staatsbürger verlangen wir ganz selbstverständlich, daß er, wenn er durch übernommene Verpflichtungen in Bedrängnis kommt, alle, aber auch alle seine Existenz nicht bedrohenden Anstrengungen macht, um seine Verpflichtungen zu erfüllen. Wir verlangen von ihm insbesondere, daß er erforderlichenfalls durch Einschränkungen in seiner Lebenshaltung oder durch andere eigene wirtschaftliche Opfer die Erfüllung seiner Verpflichtungen ermöglicht, auch wenn es ihm schwer fällt. Wir verlangen das als ein Gebot der Rechtssicherheit und auch der Honorigkeit und der Fairneß und erzwingen das sogar notfalls durch unsere Gerichte. Mich bewegt schon seit langen Wochen immer wieder die Frage, ob - und gegebenenfalls warum — hier für den Staat andere Maßstäbe gelten oder gelten dürfen. Gewiß, der Staat ist Träger der Souveränität und kann, soweit er nicht direkt gegen das Grundgesetz verstößt, gerichtlich nicht gezwungen werden, seine Gesetze aufrechtzuerhalten. Aber gelten für ihn hier deshalb grundsätzlich andere Regeln? Ist Rechtssicherheit, Fairneß, Honorigkeit und Vertrauenswürdigkeit aller staatlichen Organe nicht etwas, mit dem der Staat seinen Bürgern ein Beispiel geben soll und muß? Unter diesem Aspekt sollten wir nicht zuletzt die im Haushaltssicherungsgesetz für die verschiedensten Bereiche geplanten Maßnahmen sehen, nicht die Einzelmaßnahme oder das jeweils gegebene Gruppeninteresse, sondern nur die Tatsache, daß hier vor wenigen Monaten feierlich in Gesetzesform übernommene Rechtsverpflichtungen des Staates, 336 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 sei es durch Abstriche, sei es durch Hinausschiebung, nicht eingehalten werden sollen. Ich gebe ohne weiteres zu: Wenn jetzt plötzlich eine unerwartete Änderung der Verhältnisse — etwa eine Wirtschaftskrise — eingetreten wäre und einen nicht voraussehbaren Notstand ausgelöst hätte, dann könnte der Staat — etwa wie seine Bürger in einem Vergleichsverfahren — nach Ausschöpfung aller anderen Mittel zu solchen Maßnahmen greifen. Aber doch erst nach Ausschöpfung aller ohne Gefährdung seiner Existenz möglichen anderen Mittel, ehe er zur Kürzung eben übernommener Rechtsverpflichtungen schreitet. Sind hier nun wirklich alle anderen ohne Gefährdung unserer staatlichen Existenz möglichen Mittel ausgeschöpft? Oder will man hier nur unseren Bürgern — denn sie sind ja der Staat — etwa leicht mögliche Einschränkungen nicht zumuten? Oder würde die Erfüllung dieser Rechtsverpflichtungen etwa die Existenz des Staates und damit aller Bürger gefährden? Letzteres wäre sicher der Fall, wenn die Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen 'bedenkliche Auswirkungen auf die Kaufkraft unserer Währung hätte. In diesem Falle besteht gewiß ein so hohes Gemeininteresse, nämlich die Erhaltung der Kaufkraft der Währung für alle Bürger, daß auch radikale Maßnahmen gerechtfertigt wären und auch verstanden würden. Aber müssen nicht erst einmal alle währungs- und wirtschaftsneutralen Anstrengungen gemacht werden, um zu den übernommenen Verpflichtungen zu stehen? Und gibt es solche? Es gibt sie, wenn man sich dazu zu entschließen bereit ist. Wenn keine zusätzliche Kaufkraft geschaffen wird, kann von Gefährdung der Währung keine Rede sein. Kaufkraftverlagerung z. B. ist währungsneutral. Nun haben wir im letzten Jahr — ich nehme die niedrigste, von der Opposition genannte Zahl — eine reale Einkommenserhöhung um jedenfalls rund 5 % gehabt. Ist es wirklich unvertretbar, daß man, wenn andere Wege nicht möglich sind, davon einen kleinen Bruchteil in Form von Genußmittelsteuern zusätzlich erhebt, um die gesetzlich geschaffenen Rechtsverpflichtungen zu erfüllen? Muß der Staat, d. h. die Gesamtheit seiner Bürger, nicht wirklich alle, aber auch alle zumutbaren Anstrengungen machen, um nicht als wortbrüchig — und zwar wortbrüchig in den Handlungen der höchsten staatlichen Organe — zu erscheinen? Es geht hier jetzt nicht darum, die sachliche Angemessenheit der beschlossenen Gesetze zu diskutieren. Diese steht mindestens dann nicht zur Diskussion, wenn dieselbe Mehrheit, die sie beschlossen, und dieselbe Regierung, die sie dem Herrn Bundespräsidenten zur Verkündung vorgelegt hat, heute weiter regiert. Die sachliche Angemessenheit stünde aber auch dann jetzt nicht zur Diskussion, wenn etwa die Opposition, die den Gesetzen zugestimmt und durch ihren „Schattenfinanzminister" für die 5. Wahlperiode noch viel höhere Mehrausgaben, nämlich 76 Milliarden DM, angekündigt hat, heute die Regierung stellte, Denn weder Koalition noch Opposition können heute plötzlich sachlich anderer Meinung sein, als vor wenigen Monaten, wenn sich keine neuen sachlichen Argumente eingestellt haben. Mir sind solche neuen sachlichen Argumente gegen den Inhalt der vor einigen Monaten beschlossenen Gesetze in keinem Falle bekanntgeworden. Nur die Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen macht einige Schwierigkeiten. Aber können sie nicht ohne Gefährdung des Gemeinwohls behoben werden? Dürfen wir uns bei solcher Sachlage der Erfüllung unserer Verpflichtungen entziehen, weil etwa eine leichte Erhöhung etwa auch der Tabaksteuer keine sehr populäre Maßnahme ist? Steht nicht wirklich etwas mehr auf dem Spiel als der Unwille der — sicher nicht der meisten — Raucher, von denen doch nicht einer ernsten Schaden leiden kann, wenn z. B. mit einem zusätzlichen Pfennig auf die Zigarette über 900 Millionen DM zur Erfüllung feierlich übernommener Rechtsverpflichtungen unseres Staates aufgebracht werden? Solche innere Kaufkraftverlagerung ist doch wohl durchaus „währungsneutral". Ich habe diese Forderung in meinen Wahlversammlungen häufig vertreten und erinnere mich nicht, hier auch nur 'einmal auf echten Widerspruch gestoßen zu sein. Unsere Bürger haben schon ein Gefühl für Treu und Glauben auch im öffentlichen Leben und wünschen sich in der großen Mehrheit einen Staat, auf dessen Umgangsformen sie stolz sein können. Dürfen wir diese unsere staatsbewußten Bürger enttäuschen, indem wir ihnen etwas vormachen, was wir schärfstens beanstanden müßten, wenn sie es als einzelne täten? Wir alle hören jetzt im Lande draußen Formulierungen, die uns früher nur aus dem Munde von Gegnern unseres demokratischen Staates zu Ohren kamen: „Die machen da oben ja doch, was sie wollen" oder noch hiel härtere Worte, die ich hier nicht wiederholen möchte. Ist es nicht unser aller Aufgabe, solche Formulierungen Lügen zu strafen, und nicht dazu Anstoß zu geben? Darüber sollten wir bei der Beratung des Haushaltssicherungsgesetzes sehr gründlich nachdenken. Ich möchte meine persönliche Meinung hier klar dahin zum Ausdruck bringen dürfen, daß der kleine Ärger über eine gar nicht erhebliche Erhöhung von Genußmittelsteuern, mit der die Bundesregierung ja schon einen — allerdings sehr schüchternen — Ansatz gemacht hat, eine Kleinigkeit ist gegenüber dem Verlust an Vertrauen in unsere parlamentarisch-demokratische Ordnung, den ein Bruch feierlich übernommener gesetzlicher Verpflichtungen zur Folge haben müßte und nachweislich als Versuch schon hat. Mir lag daran, alle Mitglieder dieses Hauses zu bitten, diese Erwägungen einmal sehr gründlich zu überdenken und sich in aller Ruhe die Frage zu beantworten, ob unsere junge Demokratie solchen Vertrauensverlust überhaupt wieder aufholen kann. Es geht hier im letzten nicht um Gruppeninteressen dieses oder jenes von den Gesetzen betroffenen Bereiches, es geht erst recht nicht um Parteipolitik, es geht hier um etwas ganz Grundsätzliches und Entscheidendes, ohne das weder Koalition noch Opposition auf die Dauer unsere demokratische Ordnung werden erhalten können: um das Vertrauen des Bürgers, vor allem unserer jungen Generation, in ihren und unseren Staat. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 337 Anlage 3 Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Stein (Honrath) zur Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung. Ich darf ein Problem behandeln, das mir und meiner Fraktion besonders am Herzen liegt, das ist der Arbeitsmarkt, sozusagen die Südtangente im magischen Dreieck der Vollbeschäftigung, Preisstabilität und Zahlungsbilanz. Ich warne vor der Illusion, daß durch Rationalisierung und Automation der Arbeitskräftemangel in den nächsten Jahren abnimmt. Er wird selbst dann bestehenbleiben, wenn keine Restriktionspolitik die Rationalisierungsmöglichkeiten hemmen würde. Hier ist der entscheidende Engpaß, der die Produktionskraft der Wirtschaft spürbar einschränkt. Was ist zu tun? Der innerdeutsche Arbeitsmarkt ist fast ausgeschöpft. Das gilt nicht nur für die Männer-, sondern auch für die Frauenarbeit. Der Anteil der Frauenbeschäftigung ist mit 35% heute in der Bundesrepublik höher als in jedem anderen europäischen Land. Vielleicht stecken noch kleine Reserven in der Halbtagsarbeit. Vielleicht sind auch noch einige in der Landwirtschaft vorhanden. Im ganzen ist keine Erleichterung zu erwarten. Das Statistische Bundesamt schätzt bis 1972 noch eine weitere Abnahme von Erwerbstätigen um 600 000. Vielleicht kann noch manches getan werden, um den Anreiz für Arbeiter, Angestellte und Beamte, die über das Pensionsalter hinaus noch arbeiten wollen, zu erhöhen. Aber sie kennen die Probleme, die hier aus der Differenz zwischen Gehalt und Pension, aus der Besteuerung und aus wielen Einzelheiten, nicht zuletzt aus der Generationsfrage an sich entstehen. Die steuerliche Schonung von Überstunden gehört ebenfalls in diesen Bereich. Man muß ganz deutlich sehen, daß hier überall Grenzen gesetzt sind. Wir können es uns nicht erlauben, auf diese Mangelerscheinungen in fatalistischer Abstinenz zu blicken — wie das Kaninchen auf die Schlange — und im Nichtstun zu verharren. Dazu gibt uns am wenigsten die Tatsache Veranlassung, daß es besonders schlecht um die Beschäftigung des Bedarfs an Nachwuchskräften bei uns bestellt ist. Die offenen Lehrstellen dieses Jahres konnten bekanntlich nur bis zu 40 % besetzt werden. Wer weiß, daß es uns gerade an ausgebildeten Kräften fehlt, daß alle Automation den qualifizierten Fachmann nicht ersetzen kann, der muß gerade diese Zahl mit Bestürzung registrieren. Sie ragt über den Parteienstreit hinaus und ist sozusagen eine interfraktionelle Zahl. Wir müssen nicht nur mit Ländern konkurrieren, die eine größere Kapitalkraft ins Treffen führen, sondern auch mit Ländern konkurrieren, in denen länger und härter als bei uns gearbeitet wird, wie Japan. Es ist nicht mit dem Schlagwort Niedrigpreisland getan, sondern nur mit der Erkenntnis, wo die Gründe der zutage tretenden Wettbewerbsverzerrungen liegen. Das Beunruhigende der Zahlungsbilanzsituation ist doch, daß sie deutlich macht, daß auch unsere europäischen Nachbarn uns zu überrunden beginnen. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes der letzten 10 Jahre zeigt uns deutlich, daß wir hier in einer echten Strukturkrise stehen, die wir bewältigen müssen. Diese Strukturkrise wird sichtbar an der Beschäftigung unserer ausländischen Arbeitskräfte und den damit auftretenden Problemen. Diese Gastarbeiter sind im Rahmen unserer Wirtschaftsentwicklung mehr als ein Konjunkturpuffer. Wir hatten in der jüngsten Spanne unserer innerdeutschen Wirtschaftsgeschichte mehrfach Konjunkturpausen. Die Stetigkeit des Anwachsens unserer ausländischen Gastarbeiter zeigt eben die strukturelle Grundlage dieses Bedarfs. Mitte 1954 waren es 73 000, am 30. 9. 1965 waren es 1 217 000. Das ist eine siebzehnfache Steigerung am Laufe von 11 Jahren. Natürlich muß man auch hier die Proportionen sehen. Gewiß, die ausländischen Arbeiter füllen gerade jene Lücke, deren Offenbleiben auch die derzeitige Produktion unmöglich gemacht hätte. Aber wir dürfen uns trösten, daß bei uns ihr Anteil an der Beschäftigtenzahl nur 5,5% beträgt. In der Schweiz sind es 30%, in Frankreich 8-10%, und auch in Belgien und Holland liegt der Anteil höher. Das strukturelle Angespanntsein wird dadurch erschwert, daß die Fluktuation der Ausländer sehr groß ist. Gerade wenn der Anteil der ausländischen Arbeiter an der Gesamtzahl der Beschäftigten noch erträglich gering ist, erfordert dies unser Eingreifen zur richtigen Zeit, d. h. sofort. Wirtschaft und Verwaltung stehen hier in einer gemeinsamen Verantwortung. Beide brauchen die gut ausgebildeten und eingewöhnten ausländischen Arbeitskräfte. Die Wirtschaft bemüht sich bereits heute um eine Vorschuleng künftiger Gastarbeiter in ihren Heimatländern. In Spanien und Italien werden z. B. entsprechende Lehrwerkstätten von der deutschen Industrie auch durch die Entsendung von Meistern und Fachkräften unterstützt. Die Zusammenarbeit mit den Behörden des In- und Auslandes funktioniert im allgemeinen gut. Ich möchte an dieser Stelle vor allem der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung unser aller Dank und Anerkennung aussprechen. So ist auch vorbehaltlos anzuerkennen, daß sich in Deutschland Organisationen und Verbände um die Betreuung der Gastarbeiter bemühen, und es muß auch erwähnt werden, daß öffentliche Mittel zur Überwindung der Sprach- und der Unterkunftsschwierigkeiten beitragen. Allerdings wäre besonders für den Wohnungsbau ein stärkeres Arrangement wünschenswert. Ein naheliegendes Problem, das wir lösen müssen, ist nämlich die regelrechte Einwanderung ganzer Familien. Gerade jene Gastarbeiter, die ihre Familie nachkommen lassen wollen, suchen die dauerhafte Beschäftigung in unserem Land. Sie stellen eine wertvolle Anreicherung des deutschen Arbeitskraftpotentials dar. Für sie müssen Wohnungen bereitgestellt werden. Auch die Frage der Beschäftigung der Frauen am gleichen Ort ist zu beantworten. Daß dies möglich und für alle Beteiligten vorteilhaft ist, hat sich besonders in Südwestdeutschland bereits deutlich gezeigt. Das führt uns schließlich noch zu weitergehenden Überlegungen. Manchmal erinnert der heutige Zustrom der Gastarbeiter an die großen Einwanderungswellen des vorigen Jahrhunderts nach Ame- 338 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 rika. Was damals auf gut Glück und unter großen Härten vor sich ging, können wir in der Gegenwart steuern. Wir müssen uns in dieser Legislaturperiode darüber Gedanken machen, solange die Dinge noch zu übersehen sind. Die volle Integration jener Familien, die dies anstreben, sollte erleichtert werden. Reale Gründe, die eine weitsichtige Politik berücksichtigen muß, gibt es genug, vom Produktionserfordernis über den Bedarf der Dienstleistungsgesellschaft bis zur Vermeidung eines Vakuums gegenüber dem Osten. Reale Gründe, die dagegen sprechen, gibt es nicht, auch nicht im soziologischen Bereich. Untersuchungen haben ergeben, daß von der gelegentlich behaupteten höheren Kriminalität keine Rede sein kann. Die volkswirtschaftlichen Kosten schließlich werden, nimmt man alles in allem, bei der Einbürgerung geringer sein als bei der Fluktuation. Wenn wir der strukturellen Teuerung, die sich aus den erhöhten Ansprüchen bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel ergibt, wirksam entgegentreten wollen, müssen wir nicht nur in der Haushaltspolitik, sondern auch auf diesem Gebiet neue Wege beschreiten. Wir haben das Beispiel aus Übersee, wir erleben es auch in unserem eigenen Lande. Die Entwicklung des Ruhrgebietes vollzog sich unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer Arbeitskräfte. Sie sind längst integriert, und die Träger ihrer Namen stellen nicht nur prominente Stars der Fußballmannschaften, sondern in allen Bereichen hochqualifizierte Arbeiter, Angestellte und Beamte. Die Einfügung von Ausländern in die deutsche Industriegesellschaft bringt auch staatsrechtliche Probleme mit sich. Italien ist schon heute bereit, einen Teil seiner Auswanderungswilligen nach Deutschland zu lenken, das sind Einwanderer zu uns. Das soll kein Hindernis, sondern Ansporn sein. Wir müssen jetzt Überlegungen zur Herabsetzung der Einbürgerungszeit anstellen, die noch 10 Jahre beträgt. Wir brauchen eben nicht nur Fremde, die höchstens 2-3 Jahre bleiben, unsere Zahlungsbilanz verschlechtern und sich dann mit dem verdienten Geld und den erworbenen Kenntnissen daheim selbständig machen. Diese werden ohnehin immer die Mehrheit der ausländischen Arbeitskräfte bilden. Wir brauchen gerade jene Minderheit, die entschlossen ist, durch ihre Leistung ein Teil unseres Volkes zu werden. Sie ist uns willkommen und sie ist uns wertvoll. Sie bedeutet eine der großen Strukturbereinigungen, vor die uns die Industriegesellschaft stellt. Wir sollten daher alles tun, um diesen Menschen bei uns eine neue Heimat zu geben. Wir sollten es bald tun, sofort damit beginnen. In Entlohnung, Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen und jedem Detail des Arbeitsrechts sind sie den Deutschen ohnehin fast völlig gleichgestellt. Sie müssen auch im staatsrechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen die selbstverständliche Gleichberechtigung finden. Damit werden wir einen wichtigen Beitrag zu jener Stabilisierung leisten, die uns zur Zeit so sehr beschäftigt. Gesundes Wachstum auf stabiler Grundlage ist keine Utopie. Man muß allerdings etwas dafür tun, heute und morgen und vorausschauend auf lange Frist.
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    Rede von Dr. Manfred Luda


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Nein, jetzt nicht, Herr Präsident! Alle Zwischenfragen bitte zum Schluß.


Rede von Dr. Carlo Schmid
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Abgelehnt!

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Manfred Luda


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Meine Damen und Herren, wir sind nicht gegen Sozialinvestitionen; wir sind für Sozialinvestitionen.

    (Oh-Rufe bei der SPD.)

    Diese Regierung ist schließlich für die höchsten Wachstumsraten, die es in einer deutschen Volkswirtschaft jemals gegeben hat, seit 17 Jahren verantwortlich.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir brauchen Sozialinvestitionen; aber wenn sie nur durch Inflation zu finanzieren sind, sind sie in I) Wahrheit eine soziale Demontage.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich möchte das Kapitel „Hessen" mit der Feststellung abschließen: Hessen ist kein Musterland, Hessen ist in diesem Punkte ein Beispiel, das abschrecken sollte.

    (Zurufe von der SPD.)

    Angesichts dieser Zahlen, die auch Sie nicht bestreiten können, die Sie nur ärgern, meine Damen und Herren, bringt es der hessische Finanzminister in der Bundesratssitzung der letzten Woche hier nebenan in diesem Hause fertig, zu sagen, Hessen sei das „finanzpolitische Gewissen des Bundesrates".

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    Das ist eine Äußerung, die an Zynismus wahrlich nicht mehr überboten werden kann.

    (Zurufe von der SPD.)

    Diese Beispiele zeigen: Alle Beteiligten in der Bundesrepublik Deutschland, in der deutschen Volkswirtschaft müssen zur fiskalischen Rechtgläubigkeit zurückgeführt werden. Notwendig ist, wie schon in der Regierungserklärung ausgeführt, ein Mindestmaß konjunkturorientierter zentraler Haushaltssteuerung, wie es der Bundeskanzler ja im Juni 1964 versucht hat. Der Erfolg schien positiv, aber einige wichtige Länder haben sich nicht daran gehalten. Es geht also um die Notwendigkeit der Koordinierung aller drei öffentlichen Haushaltsebenen. Es geht darum, daß die formierte Gesellschaft kooperativ sein muß, wenn sie Erfolg haben will.
    Nun, es ist auf diesem Gebiete schon so einiges I geschehen. Wir haben den Kapitalmarktausschuß zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, und Sie wissen, daß er, seit er zusammengetreten ist, mit gutem Erfolg arbeitet. Wir haben einen haushaltspolitischen Ausschuß zwischen der Bundes- und Länderebene — Herr Minister Schmücker hat es schon erwähnt —; wir haben außerdem den wirtschaftspolitischen Ausschuß zwischen der Bundes- und der Länderebene, und schließlich — Herr Kollege Schiller, das war für Sie sicherlich die große Überraschung dieser Debatte über die Regierungserklärung —: den Konjunkturrat, den Sie vorschlagen, haben wir schon seit zehn Jahren in der Bundesrepublik. Es ist bloß so — wie Herr Kollege Schmücker schon gesagt hat —, daß dieser Konjunkturrat von Anfang an bis zum heutigen Tage seine Sitzungen nie öffentlich angekündigt und auch hinterher über das Ergebnis der Sitzungen nichts an die Presse gegeben hat.
    Andererseits können wir nicht umhin, hier festzuhalten, daß die Wohlstandsentwicklung, die durch unsere Regierung initiiert werden konnte, maßgebliches Verdienst auch dieses Konjunkturrates ist, der seit zehn Jahren arbeitet. Die Bedeutung und die Publizität dieses Konjunkturrates sind umgekehrt proportional zu der Bedeutung und der Publizität derjenigen Vorschläge, die der deutschen Öffentlichkeit am laufenden Band von seiten der Opposition auf den Tisch gelegt werden.

    (Beifall in der Mitte.)

    Ziel der Koordinierung müßte so einiges sein — ich will es hier nicht allzu sehr ausweiten. Ziel der Koordinierung müßte z. B. aber auch die Herbeiführung gewisser Ad-hoc-Maßnahmen sein, und hier möchte ich die Initiative eines unserer elf Bundesländer lobend erwähnen, nämlich die Zinsbeschränkung für alle Kommunen im Lande Nordrhein-Westfalen auf 7,6%. Wenn auch die anderen Bundesländer, vor allem die, die ich eben nicht gerade sehr lobend erwähnt habe, in ähnlicher Weise verfahren wären, hätte sich manches von dem erledigt, was ich eben hier vorbringen mußte. Die EWG-Kommission hat in ihrem dritten Konjunktur-Quartalbericht für 1965 diese Maßnahme der Landesregierung Nordrhein-Westfalen ausdrücklich gelobt. Meine Damen und Herren, das sollten wir alle tun. Wir alle sollten Nordrhein-Westfalen dafür loben.
    Wie ist die Koordinierung zu erreichen? Finanzreform, Deutsches Gemeinschaftswerk — all das will ich jetzt nicht ausweiten. Eines möchte ich jedoch sagen: Die Finanzverfassungsreform ist natürlich ein weites Feld und dauert noch eine gewisse Zeit, aber es sollten sich alle drei Ebenen — Bund, Länder und Gemeinden — sofort an einen Tisch setzen und jetzt schon in der Form eines Verwaltungsabkommens im Sinne dessen, was durch Finanzverfassungsreform nur auf lange Frist zu erreichen ist, das Notwendige beschließen und vereinbaren. Ich glaube, dann wären wir für unsere Konjunkturpolitik schon einen ganz gewaltigen Schritt weiter.
    260 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
    Dr. Luda
    Meine Damen und Herren, ich möchte dann doch noch einiges zu unseren drei Gemeinwohlzielen sagen, die ja mit alledem in einem engen Zusammenhang stehen und auch in der Debatte seit zwei Tagen hier schon ausführlich erörtert worden sind. Sie wissen, erstmals in der Geschichte unserer Volkswirtschaft und wahrscheinlich auch erstmals in der Geschichte aller vergleichbaren Industrienationen haben wir die Ziele unserer Wirtschaftspolitik gesetzlich festgelegt, nämlich in dem § 2 des Gutachtergesetzes, wo die Worte stehen „Stabilität des Preisniveaus, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Vollbeschäftigung" und wo weiter steht „bei stetigem angemessenem Wachstum".

    (Zuruf von der SPD: Aber nur Worte!)

    Sie ersehen aus diesem Wortlaut des Gesetzes, meine Damen und Herren: Der Gesetzgeber — und das sind wir alle — wollte von einer absoluten Gleichrangigkeit sämtlicher Gemeinwohlziele ausgehen und wollte nicht etwa die Vorrangigkeit irgendeines Gemeinwohlzieles, z. B. des Wachstumszieles.
    Das müssen wir hier zunächst einmal festhalten. Es gibt natürlich immer wieder in diesen drei Richtungen Friktionen; das wird wahrscheinlich die Politik immer und ewig beschäftigen. Anzustreben ist ein optimaler Kompromiß zwischen allen drei Gemeinwohlzielen; darum geht es. Wir müssen das Ganze im Sinne der Gleichrangigkeit deuten.
    Aber es kommt noch eines hinzu. Wir müssen uns
    jederzeit besonders das Ziel vor Augen halten, welches gerade notleidend werden könnte. In dem Zusammenhang können wir heute natürlich nicht umhin, in erster Linie über die preisliche Situation zu sprechen. Wir haben die Aufgabe der Stabilisierung des Preisniveaus, vor allem auch durch die Haushaltsgebarung aller öffentlichen Hände, wie ich es soeben hier angedeutet habe.
    Von den Sprechern der Opposition ist in sehr anklägerischer Weise von dem Phänomen unserer Preise gesprochen worden. Ich möchte da auch gar nichts verniedlichen. Das ist natürlich ein großes Problem, mit dem wir es im Moment zu tun haben. Aber das eine möchte ich hier doch aussprechen: wollen wir bitte die Dinge nicht unnötig dramatisieren! Es muß immer wieder die Gesamtschau hergestellt werden. Wenn man sich bemüht, die Gesamtschau herzustellen, kann man nicht umhin, nicht nur vom Phänomen der Preise, sondern zugleich auch vom Phänomen der Vollbeschäftigung und unserer Wohlstandsentwicklung zu sprechen.

    (Beifall in der Mitte.)

    Die Opposition tut so, als ob so etwas heutzutage selbstverständlich wäre. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Vollbeschäftigung ist auch heute noch in führenden Industriestaaten in Frage gestellt. Denken wir an die 4 Millionen Arbeitslosen in den USA, an die Arbeitslosen in Kanada, in unserem Nachbarland Belgien, dessen strukturelle Verhältnisse doch sehr gut mit unseren vergleichbar sind; von Italien will ich erst gar nicht einmal reden. Diese Vollbeschäftigung und Wohlstandsentwicklung ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis einer richtigen und daher erfolgreichen Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Bei alledem, was da an berechtigter oder vielleicht auch übertriebener Kritik von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, gesagt worden ist, müssen wir uns zur Abrundung des Bildes heute auch eine Bemerkung vor Augen führen, die im Juli dieses Jahres in dem Leitartikel einer Sondernummer der englischen Zeitung „Times" geschrieben stand. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten möchte ich einen Satz zitieren; es heißt wörtlich:
    Wie konnte das alles erreicht werden? Vor allem deshalb, weil Deutschland erfolgreicher als die meisten Länder ein schnelles Wachstum mit einer relativen Preisstabilität zu verbinden gewußt hat.
    Das schreibt die doch ganz gewiß sachkundige Times im Juli dieses Jahres, in einem Zeitpunkt, in dem die volkswirtschaftlichen Tatbestände nicht anders als am heutigen Tage waren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Unsere Aufgabe ist dann, die Gesamtschau herzustellen, damit die Dinge in der deutschen Öffentlichkeit nicht schief betrachtet werden.
    Ich müßte dann so einiges zum bisherigen Verhalten der Bundesbank sagen, das sehr positiv zu beurteilen ist; aber das würde jetzt zu weit führen. Der Bremsweg der Bundesbank war zu lang; das ist einhellige Meinung. Das lag nicht an der Bundesbank, sondern an zahlreichen Faktoren, die wir heute hier nicht erörtern können. Diejenigen, die so sehr den Wunschtraum eines ständigen und ständigen und ständigen und ständigen Wachstums mit ihrer Politik verfolgen, sollten sich das eine vor Augen führen: bisher haben sich die Restriktionsmaßnahmen der Bundesbank auf die Diskontpolitik, die Mindestreservepolitik und die Offenmarktpolitik beschränkt. Nach meiner Ansicht ist in der deutschen Öffentlichkeit und im Publizistik allzusehr in Vergessenheit geraten, was Herr Emminger von der Bundesbank am 8. Juli 1965 in Düsseldorf gesagt hat. Er hat davon gesprochen, daß von der Bundesbank notfalls — das heißt, wenn auch in Zukunft sich nicht alle Beteiligten und alle Ebenen, nämlich Bund, Länder und Gemeinden, an gewisse Mindestregeln hielten — eine mengenmäßige Beschränkung der Kredite ins Auge gefaßt würde. Dann würden wahrscheinlich alle Wachstumsfanatiker sehr betroffen dreinschauen; die — vor allem auch Ihre Freunde in Hessen und Niedersachsen — sollten sich das heute schon vor Augen führen.

    (Zurufe von der SPD.)

    Jetzt noch die Sache des Herrn Kollegen Schiller. — Leider ist er wieder nicht da. Der § 46 der Geschäftsordnung bezieht sich nur auf Minister; für Abgeordnete gibt es eine solche Bestimmung leider noch nicht.
    Herr Professor Schiller hat gesagt, und das ist ja das Wahlprogramm der SPD gewesen, eine sozial-
    Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 261
    Dr. Luda
    demokratische Bundesregierung würde nach dieser Bundestagswahl hingehen und Jahr für Jahr von unserer Preisauftriebsrate 1 % abschneiden. Dieses Salami-Rezept wollen wir doch jetzt einmal ganz kurz unter die Lupe nehmen. Hier haben Sie eine Wurst, da haben Sie ein Messer, und mit Hilfe dieses Messers können Sie millimetergenau Scheibe für Scheibe von der Wurst abschneiden! Aber der Herr Kollege Schiller weiß ganz genau, wie wir alle hier in diesem Hause, daß volkswirtschaftliche Tatbestände nicht in ähnlicher Weise manipulierbar sind.

    (Beifall in der Mitte.)

    Er sollte deshalb doch damit aufhören, der deutschen Öffentlichkeit solche Geschichten zu erzählen. Das ist doch der reinste Karl May!

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Die SPD hätte das, wenn sie an die Regierung gekommen wäre, um so weniger durchführen können, als sie ja doch der deutschen Öffentlichkeit eine ganze Menge versprochen hatte. Wenn Sie von angeblichen Wahlgeschenken sprechen, so möchte ich einmal von den Wahlversprechungen reden, die Sie, gemacht haben. Die kommen nämlich noch dazu: Kindergeld für alle, Annäherung der Kriegsopferrenten an die Sozialrenten gleich plus 7,5 Milliarden DM für den Bundeshaushalt pro Jahr, Versicherungsplan der SPD gleich plus 1,1 Milliarden DM, Einbeziehung aller Angestellten in die Rentenpflichtversicherung gleich plus 1 Milliarde DM im Jahr für Bund und Wirtschaft — vom 312-DM-Gesetz will ich gar nicht erst reden — und die Herabsetzung des Rentenalters auf 62 Jahre. Also das wollten Sie außerdem noch volkswirtschaftlich verkraften. Mich hat nur gewundert, daß Sie nicht im Jahre 1965 mit der gleichen Forderung wie 1961 in den Bundestagswahlkampf eingezogen sind, nämlich zu alledem noch den Lebensstandard des deutschen Volkes zu verdoppeln.

    (Zurufe von der SPD. — Gegenrufe von der Mitte.)

    Meine Damen und Herren, das alles ist der Ausdruck eines unglaublichen Wachstumsfiebers, eines Wachstumsfanatismus. Ich habe vorhin von praktischen Auswirkungen gesprochen. Sie sehen, in welcher geistigen und politischen Haltung diese praktischen Auswirkungen begründet sind.

    (Zurufe von der SPD.)

    Im Herbst 1961 proklamierte der OECD-Ministerrat die sogenannte kollektive Wachstumspolitik. Der Gedanke kam von den USA. Herr Kollege Schiller hat das vorhin im Zusammenhang mit seiner Eisenhower-Ara-Geschichte lobend erwähnt. Im Herbst 1961 hat der OECD-Ministerrat diesen Gedanken für seinen gesamten Bereich übernommen. Das sollte bewirken, daß das Wirtschaftswachstum auch hier in Europa künftig nicht mehr unterbrochen werde.
    Es dauerte nur zwei oder drei Jahre, da kamen infolge dieser kollektiven Wachstumspolitik in einigen unserer Partnerstaaten die inflatorischen Spannungen. Wir brauchen hier keinen beim Namen zu
    nennen. Inzwischen ist diese kollektive Wachstumspolitik, die bis dahin in den Partnerstaaten der Bundesrepublik noch angebetet worden ist, ebenso wie Herr Professor Schiller sie vorhin in diesem Saal noch angebetet hat, wegen der inflatorischen Spannungen fallengelassen worden von Italien, von Frankreich, — wen soll ich Ihnen sonst noch nennen? Nur die USA betreiben heute noch eine solche Wachstumspolitik. Sie sehen sich aber von den übrigen genötigt, den Kapitalexport zu drosseln. Das ist der Tatbestand, das ist die Lehre, die wir aus den Ereignissen der letzten Jahre ziehen müssen.
    Die EWG hat in ihrem letzten Vierteljahresbericht den notwendigen Schlußstrich unter diese Wachstumspolitik gezogen. Sie hat wörtlich geschrieben:
    Wachstumspolitische Gesichtspunkte sind für die Konjunkturpolitik nicht allein maßgeblich. Diese bleibt vielmehr in erster Linie dem Ziel der Wiederherstellung der Stabilität des Preisniveaus verpflichtet.
    Das bedeutet, wie ich Ihnen anfangs und danach mehrfach sagte, die Gleichrangigkeit aller Gemeinwohlziele. Im Moment aber könnte vor allen Dingen das Gemeinwohlziel der Preisstabilität notleidend gewesen sein. Deshalb haben wir uns eben im Moment in erster Linie über diesen Punkt zu unterhalten. — Damit ist das, was der Kollege Schiller hier noch so laut gepriesen hat, von allen anderen Staaten, mit denen wir enger zu tun haben, erledigt worden.
    Der Herr Kollege Schiller hat in seinen Verlautbarungen immer wieder dreierlei herausgestellt. Sein Ziel sei einmal die Marktwirtschaft, sodann die Globalsteuerung und drittens die Wohlfahrtspolitik. Das in einem Land zu sagen, das mit seinen Sozialleistungen ohnehin an der Spitze in der Welt steht, ist an sich schon erstaunlich. Aber was unter dieser Art von Wohlfahrtspolitik verstanden wird, das sehen wir ja am Beispiel derjenigen Länder und Gemeinden, in denen die SPD an der Regierung ist.
    Der Punkt Wohlfahrtspolitik mag der Abschluß meiner Ausführungen sein. Ich zitiere den geistigen Vater des britischen Wohlfahrtstaates, den es, wie Sie wissen, von 1945 bis 1951 dort gegeben hat, Lord Beveridge, der am 23. 5. 1953, also rückblickend auf die praktischen Erfahrungen, die er hat sammeln können, wörtlich folgendes gesagt hat:
    Der Wohlfahrtsstaat muß ein Mittel finden zur Aufrechterhaltung des Geldwertes, wenn er nicht ein Staat ohne Freiheit werden soll.

    (Beifall in der Mitte.)

    Das hat der geistige Vater des britischen Wohlfahrtsstaates gesagt!
    Am 31. 12. 1951 hat derselbe Lord Beveridge über den englischen Rundfunk wörtlich folgendes erklärt:
    Um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, an
    den ich gewöhnt bin, muß ich lange über das gewöhnliche Alter hinaus, wo man sich zur Ruhe setzt, für Geld weiterarbeiten, und ich bin keineswegs sicher, daß auch mit ,Hilfe des gegenwärtigen Verdienstes die Ersparnisse, die ich als junger Mann machte, hinreichen werden,
    262 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
    Dr. Luda
    'solange ich lebe. Ich kann nur hoffen, daß ich nicht zu lange lebe.
    Das, meine Damen und Herren, war die Bilanz des geistigen Vaters des britischen Wohlfahrtsstaates, nachdem im Jahre 1951 dieser Wohlfahrtsstaat an den harten Realitäten dieser unserer Welt zerschellt ist. Das, meine Damen und Herren, sollten Sie sich alle vor Augen halten.
    Zum Schluß möchte ich folgendes sagen. Es war und ist das gute Recht der Opposition, die notwendige Kritik in der notwendigen Härte hier vorzutragen. Die Opposition hat das Recht zu einer gewissen Einseitigkeit. Wir haben deshalb die Gelegenheit wahrgenommen, das Bild jetzt ein klein wenig abzurunden. Ich möchte aber doch das Folgende sagen und hoffe mich darin mit den Damen und Herren von der SPD einig: Obwohl Sie hier in Opposition stehen, haben auch Sie bundespolitische Verantwortung. Der Bund erschöpft sich nicht in der obersten Ebene, die wir hier in Bonn repräsentieren. Der Bund sind wir alle, Bund, Länder und Gemeinden. Ich muß Sie deshalb bitten, sich angesichts dessen, was da vor allem in bezug auf die Länderebene meinerseits moniert werden mußte, verantwortungsbewußt zu verhalten und das, was Herr Kollege Möller gesagt hat — hier hat er das Verantwortungsbewußtsein der SPD in finanzpolitischer Hinsicht gerühmt —, auf der Ebene aller Länder und Gemeinden, die von Ihnen regiert werden, wahr zu machen. Ich glaube, dann wird es uns in Zukunft besser als in den letzten Jahren möglich sein, die Preisentwicklung in den Griff zu bekommen.

    (Beifall in der Mitte.)

    Wenn jetzt noch Unklarheiten sind, meine Damen
    und Herren von der SPD, bitte ich, Fragen zu stellen.

    (Heiterkeit.)

    — Das ist offenbar nicht der Fall.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)