Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat in diesem Hause bisher dritthalb Tage lang zunächst von den handfesten Sachen gesprochen, die für unser staatliches Dasein von Bedeutung sind, von Steuern, Außenpolitik, Export, Mineralöl, von Militärbündnissen und einer ganzen Reihe anderer gewichtiger Dinge. Man hat dies sehr ausgiebig und sachkundig getan. Vor mir haben die Abgeordneten Heinemann und Benda zu Problemen des rechtlichen Gefüges unseres Staatswesens gesprochen.
Was mich anlangt, so möchte ich ein Weniges von Dingen reden, die in der Regierungserklärung ein wenig kurz weggekommen sind. Wo sie erwähnt werden, wird die Problematik höchstens gestreift. Aber das sind Dinge, von denen ich glaube, daß man von ihnen zu sprechen habe, wenn man von den Sachen spricht, die den Staat angehen. Sie sind freilich nicht so handfest wie jene anderen Dinge, die Gegenstände unserer bisherigen Debatte gewesen sind. Ich finde es ganz verständlich, daß man von diesen handfesteren Dingen zuerst gesprochen hat; denn es ist natürlich, daß man zunächst von dem spricht, von dem unser tägliches Brot abhängt. Zuerst muß natürlich das Brot geschaffen werden. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Verzeihen Sie, daß ich hier eine Binsenwahrheit ausspreche, aber manchmal ist es notwendig, gerade Binsenwahrheiten zu wiederholen. Denn wir glauben zu leicht — was ich jetzt sage, das betrifft jeden einzelnen von uns —daß mit dem, was sich in Soll und Haben ausdrücken läßt, schon alles getan sei. Nun, das glaube ich nicht.
Bei dem, was den Staat angeht, geht es auch um anderes, in hohem Maße um anderes, in hohem Maße um wesentlich anderes als Soll und Haben allein. Es geht darum, ein Feld zu vermessen, ein Feld zu umschreiten, ein Feld, das dem Geiste zugeordnet ist. Davon will ich reden. Der Kollege Strauß hat dieses Thema gestern angesprochen, und ich danke ihm, für die Art, wie er es getan hat; denn er hat in einer höchst dankenswerten Weise die Priorität dieses Gebietes betont. Er hat gegen den Satz polemisiert, der Geist stehe links. Nun, Herr Kollege Strauß, dieser Satz ist nicht in diesem Hause geprägt worden. Vielleicht darf ich Ihnen
sagen, wo er zum erstenmal ausgesprochen worden ist. In jenen Jahren, in denen die Literatur des Alldeutschen Verbandes immer mehr in die Hausbüchereien einzog, hat ein Mann, dem - der Sinn davon schwer geworden war, diesen Satz gesprochen: Kurt Hiller. Man mag zu ihm stehen, wie man will. — Ich war nie einer von denen, .die meinten, er habe recht. — Aber in einem hatte er recht: in den Reihen des Alldeutschen Verbandes auf dieser „rechten" Seite — war der Geist nicht zu Hause.
Nun, solche allgemeinen Behauptungen, der Geist stehe links oder stehe rechts, gehören zu den höchst verdammenswerten schrecklichen Vereinfachungen, von denen man seit Jacob Burckhardt nicht mehr sprechen sollte.
— Darauf komme ich noch. Sie nehmen mir etwas vorweg. — Aber wie gesagt, wir sündigen hier auf beiden Seiten der Barrikade.
Es gab und es gibt rechts — das Wort verstanden im Sinne von „konservativ" — in Gegenwart und in der Vergangenheit Männer erlauchten Geistes. Unter „konservativ" verstehe ich, daß man die Gegenwart entscheidend aus der Vergangenheit herauswachsen lassen will. Ich nenne einen Mann, Friedrich Julius Stahl, der den preußischen Konservativen ihre Ideen geschenkt hat. Ich nenne einen weniger großartigen, aber sehr geistreichen Mann, den Freiherrn von Gentz, Mitarbeiter von Metternich, der zeigte, daß man sogar reaktionär auf geistreiche Weise sein konnte. Ich nenne auf der anderen Seite links einen Mann, der sich dem Fortschritt verschrieb und der Freiheit, Heinrich Heine, den Mann, dem man zwar lange keine Denkmäler errichtet hat in Deutschland, seinem Vaterland.
— Jetzt, ja; wie aber hat man drängen müssen, wie hat man pressen müssen, bis es endlich gelungen ist! Dieser Mann, den es um den Schlaf brachte, wenn er in der Nacht an sein Vaterland Deutschland dachte! Ich möchte gerne, daß recht viele Menschen bei uns heute um den Schlaf gebracht werden, wenn sie an Deutschland denken!
Aber — und nun komme ich zu dem Herzen, das links ist — es ist eine Tatsache, daß die geistig Schaffenden sich mehr zum Fortschritt als zur Beharrung hingezogen fühlten und fühlen. Das mag vielleicht ein Irrtum dieser Leute sein. Aber es ist nun einmal so — vielleicht, weil sie Links für die Herzseite der Menschheit halten.
Verehrter Herr Kollege, der Sie, mich vorwegnehmend, vorhin den Zwischenruf machten, das Wort stammt nicht von mir und von keinem Nihilisten, es stammt von Gottfried Keller, einem Mann, den ich einen demokratischen liberalen Konservativen nennen würde. Das gibt es nämlich. Jene, die über den Staat zu wachen haben, haben nicht nur zu
296 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
Dr. Schmid
den Problemen und zu den Sachwaltern der Wirtschaft, des sozialen Lebens, und zu den Bereichen der Zwecke ein positives Verhältnis zu suchen, sondern auch zu jenen, von denen der Herr Bundeskanzler — nicht in diesem Jahre, aber in der Regierungserklärung des Jahres 1963 — in schöner Weise gesagt hat, daß ihr Beruf sei, „über die Geschäfte der Menschen nachzudenken". Das ist eine ausgezeichnete Definition für das, was man ein bißchen abgekürzt „die Intelektuellen" zu nennen pflegt.
In dieser anderen, vorletzten Regierungserklärung hat er auch schöne Worte gefunden über — ich zitiere ihn — „die Notwendigkeit des Kontakts zu den geistig und kulturell führenden Schichten". Er hat dort auch gesagt — ich zitiere wiederum —:
Auch die Politik kann nicht darauf verzichten, ihre Probleme durch den menschlichen Geist durchleuchten zu lassen und für ihre Zwecke alle Kräfte
— er meint offenbar die geistigen Kräfte — zu mobilisieren.
Er sprach weiter von der Achtung, die der Wissenschaft gebühre. Er hat sich dabei auf das Wort Karl Friedrich von Weizsäckers berufen, daß die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das neunzehnte Jahrhundert, jene soziale Frage, die man — wir werden darüber wohl alle einig sein — zu spät erkannt hat. Man hat zu spät erkannt, was die Dampfmaschine alles mit sich bringen würde, an Gutem wie an Verhängnisvollem; es war verhängnisvoll, solange man nicht damit fertig werden konnte. Diese Aufgabe, die soziale Frage, ist noch nicht gelöst. Wir werden noch lange brauchen, bis wir sagen können: Jetzt sind wir wirklich an einem Punkt angelangt, wo es nicht besser zu machen ist.
Wir sollten auf jenem Aufgabengebiet — Lösung der Bildungsfrage, der Problematik der wissenschaftlichen Forschung — nicht durch Unterlassen des heute Gebotenen schuldig werden wollen, wie die Generation vor uns schuldig wurde, weil sie die sozialen Forderungen des Tages nicht rechtzeitig erkannte.
Jene andere Regierungserklärung — die von 1963 — sprach weiter davon, daß man den Dialog auch mit den Intellektuellen suchen müsse, was besser sei als eine einseitige Polemik gegen sie. Welch vortrefflicher Vorsatz! Aber wir wissen ja, womit der Weg zur Hölle gepflastert ist...
Noch viele andere gute Dinge waren in der Regierungserklärung von 1963 gesagt worden, Sätze, von denen ich manchen unterschreiben kann und von denen ich möchte, daß sie nicht vergessen worden wären, gerade von denen nicht, die ihnen vor zwei Jahren so lauten Beifall spendeten. Und weil das im Jahre 1963 in der Regierungserklärung so wohl bestellt war, hat es mich bekümmert, daß in der Regierungserklärung dieses Jahres von diesem Geist nicht mehr so sehr viel zu spüren war. Ich weiß nicht, woher es kommt. Vielleicht hielt es der Herr Bundeskanzler für überflüssig, davon zu sprechen,
nachdem er vor zwei Jahren schon davon gesprochen hatte. Aber wir sollten uns angewöhnen, zu begreifen, daß nach einer Wahl, auch wenn die Personen der Regierung die gleichen bleiben sollten, eine neue Regierung im Amt ist und daß diese neue Regierung all das, was sie glaubt anfassen zu sollen, in ihrer Regierungserklärung ausreichend zu umschreiben hat.
Wir finden in der neuen Regierungserklärung zwar einige Worte über die Notwendigkeit, Bildung und Wissenschaft zu fördern, aber mit dem Unterton: wenn wir das nicht täten, kämen wir ökonomisch ins Hintertreffen. Sicher kommen wir dann ins Hintertreffen. Aber ich frage, ob das allein entscheidend ist; ich frage, ob denn Wissenschaft und Bildung nicht schon deshalb gefördert werden müssen, weil sie zu den edelsten und unverzichtbarsten Äußerungen und Selbstbestätigungen der Menschenwürde gehören.
Natürlich bedarf es vordringlich der Vorsorge für die materiellen Lebensbedingungen, die für die Erhaltung des physischen Bestands und der seelischen Kräfte der Nation unumgänglich sind. Aber davon allein kann eine Nation nicht zu sich selber finden, vor allen Dingen nicht eine Nation mit dem Schicksal der deutschen. Eine Nation ist mehr als nur eine Bevölkerung, ist mehr als nur eine Produzenten-und Konsumentengesellschaft. Sie ist auch mehr als eine bloße Sprachgemeinschaft. Eine Nation erschafft sich immer neu durch das Bewußtsein, daß sie durch gemeinsame Liebe ihrer Glieder zu gemeinsam als gültig anerkannten und gewollten Menschheitswerten, zu einer geschichtlichen Gemeinschaft zusammengewachsen ist und durch das tägliche Bekenntnis dazu zusammengewachsen bleibt. Diese Definition ist nicht von mir, sie ist alt, fünfzehnhundert Jahre alt; sie stammt vom heiligen Augustinus, und ihr ist nichts hinzuzufügen.
Dieses Zur-Nation-werden-Wollen, indem man sich als eine Wertegemeinschaft erkennt und will, macht die Geschichtsmächtigkeit und die schöpferische Kraft einer Nation im Kontext der Weltgeschichte aus.
Diese Menschheitswerte, geistige Werte und seelische Werte, sind nicht uniform, sowenig wie das Bekenntnis dazu uniform zu sein braucht. Sie stellen sich in den verschiedensten Ausprägungen dar, links und rechts. Das zeigen einige Jahrhunderte unserer Geistesgeschichte, auch unserer Literatur, soweit sie zum Bildungsgut geworden ist. Und oft gibt sich das Gute am stärksten in der Darstellung seines Gegenteils zu erkennen, so wie man das Rechte manchmal am ehesten und gültigsten findet, wenn man zunächst über das Ziel hinausgeschossen ist.
Es gibt ein französisches Wort, das um die Jahrhundertwende herum geprägt wurde, als ein Teil der Nation dem anderen das Nationalsein bestritt. Da sprach ein großer Mann — es war Jean Jaurès — den Satz: „Tout ce qui est national est nôtre" — alles, was zur Bildung dieser Nation beigetragen hat, gehört uns allen gemeinsam und- zusammen.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 297
Dr. Schmid
In Frankreich und in England — wo man genauso denkt — erkennt man sich in seinen „linken" und in seinen „rechten" Lebenswerten als gültige Glieder einer und derselben Nation. Im Linkssein ist man Franzose oder Brite, wie man im Rechtssein Franzose oder Brite ist, und beides in erster Linie, ehe man die Seiten aufspürt. Keiner ist weniger „echt national" als der andere, wenn er sich selber in seinem Volke wiedererkennt.
Allen Erscheinungsformen des Nationalen ist eines gemeinsam oder sollte es gemeinsam sein: es geht dabei — bei diesem immerwährenden Plebiszit, eine Nation werden und sein zu wollen — auf allen Seiten um den Menschen, um die Erkenntnis der ganzen Spannweite seiner. Wirklichkeit, um sein Verhältnis zur materiellen Welt und zur geistigen Welt, in die er hineingestellt ist, so gut wie zur Überwelt. Immer geht es um Aussagen und Darstellung dessen, was dem Menschen Selbstverwirklichung, Wesensbejahung möglich macht oder unmöglich macht. Diese Ausprägungen und Aussagen sind für die Menschen und sind für die Völker so wichtig wie die materiellen Bedingungen ihrer Existenz. Ich gehe weiter und sage: sie geben letztlich all dem ihren Sinn.
Wir haben in Deutschland die leidige Gewohnheit, unsere Schriftsteller einzuteilen in staatserhaltende und werteschaffende und in Nihilisten und daher Wertezerstörende. Nun, solche Urteile dauern selten für alle Zeiten, und mancher, der als Nihilist verschrien war, ist eine Generation später als ein Mann erkannt worden, der neue Werte ge) setzt hat, die Staat und Gesellschaft weitertragen. In der Reihe der Schriftsteller, auf die es heute ankommen mag, erscheint mir, lieber Kollege Strauß
— Sie werden mir wahrscheinlich nicht widersprechen —, ein Günter Grass erheblich ergiebiger als eine Literatur, für die der Name Ganghofer stehen mag,
eine Literatur, deren Werke heute wieder bedauerlich starke Auflagen erfahren.
— Bitte!