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    Deutscher Bundestag 9. Sitzung Bonn, den 1. Dezember 1965 Inhalt: Glückwunsch zum Geburtstag des Bundesministers Dr. Krone 231 A Begrüßung des Gouverneurs des Staates Oregon 253 A Fragestunde (Drucksache V/38) 267 D Frage des Abg. Tönjes: Einnahmeverluste der DB durch Erhöhung der LKW-Kontingente und Senkung der Beförderungsteuer für den Werkfernverkehr Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 267 D Frage des Abg. Haar (Stuttgart) : Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für das Straßenwesen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 268 A Haar (Stuttgart) (SPD) 268 B Frage des Abg. Haar (Stuttgart) : Kosten für die Verbeserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 268 C Haar (Stuttgart) (SPD) 268 D Fragen des Abg. Faller: Kapitaldienst der Deutschen Bundesbahn Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 269 A Faller (SPD) 269 B Frage des Abg. Seibert: Mehrbelastung der Kraftfahrer durch Erhöhung der Mineralölsteuer in Verbindung mit angeblich hoffnungsloser Verschuldung der DB Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 270 C Frage des Abg. Seibert: Fehlbeträge in den Jahresabschlüssen der DB infolge der Auswirkungen nicht kostendeckender Tarife Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 270 D Seibert (SPD) 270 D Fragen des Abg. Wendt: Berufs-, Schüler- und Sozialverkehr der DB Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 271 B Wendt (SPD) . . . . . . . . 271 D Cramer (SPD) 271 D Seibert (SPD) 272 B Brück (Köln) (CDU/CSU) . . . 272 D Frage des Abg. Dr. Tamblé: Aufhebung von Bahnsteigsperren Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 272 D Dr. Tamblé (SPD) 273 A Strohmayr (SPD) 273 B Fellermaier (SPD) 273 C Felder (SPD) . . . . . . . . 273 D II Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 Frage des Abg. Ramms: Parkscheiben — Parkuhren — Erhöhung der Parkzeit-Gebühren Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 274 A Ollesch (FDP) 274 B Flämig (SPD) 274 C Jacobi (Köln) (SPD) 274 D Frage des Abg. Rawe: Aufwendungen des Bundes für Ausbau und Unterhaltung der Binnenwasserstraßen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 275 A Wendt (SPD) 275 B Fragen des Abg. Rawe: Sicherung des Investitionsprogramms der DB Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 275 C Seibert (SPD) 276 A Schoettle, Vizepräsident 276 B Frage des Abg. Dr. Schmidt (Wuppertal) : Erhebung von Autobahngebühren von Ausländern beim Grenzübertritt Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 276 D Frage des Abg. Dr. Müller (München) : Abwanderung leitender Techniker und Wissenschaftler der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt in Braunschweig Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 277 B Dr. Müller (München) (SPD) . . . . 277 C Berkhan (SPD) ........277 D Fragen des Abg. Ramms: Spikes-Winterreifen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 278 B Haage (München) (SPD) . . . . . 278 C Frage des Abg. Felder: Brücke bei der Raststätte Feucht Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 279 A Felder (SPD) 279 A Fragen des Abg. Flämig: Vorrichtung zur Beseitigung schädlicher Abgase an Kraftfahrzeugen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . . 279 B Flämig (SPD) 279 D Dr. Schmidt (Offenbach) (SPD) . . 280 B Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung in Verbindung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung des Haushaltsausgleichs (Haushaltssicherungsgesetz) (Drucksache V/58). Erste Beratung — Dr. Emde (FDP) . . . . . . . . 231 A Dr. Gradl, Bundesminister . . . . 234 D Dr. Schiller (SPD) 237 C Schmücker, Bundesminister . . . 247 B Dr. Dahlgrün, Bundesminister . . . 252 A Dr. Luda (CDU/CSU) . . . . . . 254 B Dr. Dr. Heinemann (SPD) . . . . . 262 B Schmitt-Vockenhausen (SPD), Erklärung nach § 36 GO 267 A Picard (CDU/CSU), Erklärung nach § 36 GO 280 C Benda (CDU/CSU) . . . . . . 281 A Busse (Herford) (FDP) . . . . . 290 B Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundeskanzler 291 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . . 295 A Dr. Stoltenberg, Bundesminister . . 302 A Dr. Martin (CDU/CSU) 304 C Moersch (FDP) 307 B Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . 310 A Illerhaus (CDU/CSU) 310 A Dr. Schellenberg (SPD) 313 A Katzer, Bundesminister 318 A Osswald, Minister des Landes Hessen 324 D Vizepräsident Dr. Schmid . . . . 328 D Seifriz (SPD), Erklärung nach § 36 GO 333 B Dr. Luda (CDU/CSU), Erklärung nach § 36 GO 333 C Dr. Mommer (SPD) 334 A Dr. Barzel (CDU/CSU), Erklärung nach § 36 GO 334 B Erler (SPD) zur GO 334 B Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . . 334 C Nächste Sitzung 334 D Anlagen 335 A Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 231 9. Sitzung Bonn, den 1. Dezember 1965 Stenographischer Bericht Beginn: 9.02 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 335 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Beurlaubungen Dr. Arndt (Berlin/Köln) 2.12. Frau Berger-Heise 18.2. 1966 Dr. Birrenbach 2. 12. Blachstein 2. 12. Borm 2. 12. Damm 2. 12. Dr. h. c. Güde 2. 12. Hilbert 2. 12. Jaschke 2. 12. Dr. Kliesing (Honnef) 1. 12. Koenen (Lippstadt) 31. 12. Kriedemann 31. 12. Kubitza 2. 12. Lemmrich 2. 12. Marquardt 2. 12. Rawe 8. 12. Frau Schanzenbach 31. 12. Frau Schimschok 31. 12. Schmidt (Würgendorf) 2. 12. Dr. Schmidt-Burgk 2.12. Schultz 2. 12. Seuffert 2. 12. Spillecke 2. 12. Spitzmüller 2. 12. Wahl* 3.12. Wienand 2. 12. Dr. Wörner 3. 12. Wolf 10. 12. Zerbe 2. 12. *Für die Teilnahme an einer Ausschußsitzung des Europarats Anlage 2 Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Dr. Wuermeling zur Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung. Gestatten Sie mir als einem der Mitglieder dieses Hauses, das „von Anlang an", also seit 1949, „dabei war", einige Worte jenseits aller parteipolitischen Erwägungen. Es ist mir ein echtes Anliegen, hier einmal einige grundsätzliche Bemerkungen zu machen, die von der Sorge um die Erhaltung des Vertrauens in unsere parlamentarische Demokratie bestimmt sind. Ich bitte, sie weder als Polemik nach der einen noch als solche nach der anderen Seite dieses Hauses aufzufassen, weil es um ein Anliegen geht, das uns allen gemeinsam ist. Es ist mir ausschließlich darum zu tun, daß wir alle uns einmal selbst fragen, ob das Gesetzgebungsjahr 1965 des Deutschen Bundestages das Vertrauen in unsere Anlagen zum Stenographischen Bericht parlamentarische Demokratie zu stärken oder zu gefährden geeignet ist. Die gesetzgebenden Körperschaften haben in der ersten Hälfte dieses Jahres als Träger der höchsten staatlichen Souveränität zahlreiche Gesetze beschlossen, die vom Herrn Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt verkündet worden sind. Durch diese Gesetze sind Rechtsverpflichtungen des Bundes übernommen worden, deren Übernahme wir als Gesetzgeber in Ausübung unseres Mandats als gewählte Vertreter unseres Volkes - sehr oft einmütig — sachlich für geboten hielten. Sehen wir jetzt einmal, ohne dieses oder jenes Gesetz als einzelnes oder die dadurch Begünstigten im Auge zu haben, nur die grundsätzliche Tatsache, daß die höchsten Träger unserer staatlichen Souveränität alle diese Verpflichtungen in der feierlichsten Form, nämlich der des Gesetzes, im Namen von Volk und Staat übernommen haben. Unsere Staatsbürger vertrauen selbstverständlich auf die Einhaltung dieser Rechtsverpflichtungen, weil unser Staat sie in gesetzlicher — also höchstverbindlicher - Form übernommen hat. Nun ergeben sich wenige Monate nach Erlaß dieser Gesetze, ohne daß etwa eine plötzliche Wende in unserer wirtschaftlichen Entwicklung eingetreten wäre, Schwierigkeiten bei der Bereitstellung der Haushaltsmittel, die zur Einhaltung der in feierlicher Gesetzesform übernommenen Verpflichtungen erforderlich sind. Von jedem Staatsbürger verlangen wir ganz selbstverständlich, daß er, wenn er durch übernommene Verpflichtungen in Bedrängnis kommt, alle, aber auch alle seine Existenz nicht bedrohenden Anstrengungen macht, um seine Verpflichtungen zu erfüllen. Wir verlangen von ihm insbesondere, daß er erforderlichenfalls durch Einschränkungen in seiner Lebenshaltung oder durch andere eigene wirtschaftliche Opfer die Erfüllung seiner Verpflichtungen ermöglicht, auch wenn es ihm schwer fällt. Wir verlangen das als ein Gebot der Rechtssicherheit und auch der Honorigkeit und der Fairneß und erzwingen das sogar notfalls durch unsere Gerichte. Mich bewegt schon seit langen Wochen immer wieder die Frage, ob - und gegebenenfalls warum — hier für den Staat andere Maßstäbe gelten oder gelten dürfen. Gewiß, der Staat ist Träger der Souveränität und kann, soweit er nicht direkt gegen das Grundgesetz verstößt, gerichtlich nicht gezwungen werden, seine Gesetze aufrechtzuerhalten. Aber gelten für ihn hier deshalb grundsätzlich andere Regeln? Ist Rechtssicherheit, Fairneß, Honorigkeit und Vertrauenswürdigkeit aller staatlichen Organe nicht etwas, mit dem der Staat seinen Bürgern ein Beispiel geben soll und muß? Unter diesem Aspekt sollten wir nicht zuletzt die im Haushaltssicherungsgesetz für die verschiedensten Bereiche geplanten Maßnahmen sehen, nicht die Einzelmaßnahme oder das jeweils gegebene Gruppeninteresse, sondern nur die Tatsache, daß hier vor wenigen Monaten feierlich in Gesetzesform übernommene Rechtsverpflichtungen des Staates, 336 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 sei es durch Abstriche, sei es durch Hinausschiebung, nicht eingehalten werden sollen. Ich gebe ohne weiteres zu: Wenn jetzt plötzlich eine unerwartete Änderung der Verhältnisse — etwa eine Wirtschaftskrise — eingetreten wäre und einen nicht voraussehbaren Notstand ausgelöst hätte, dann könnte der Staat — etwa wie seine Bürger in einem Vergleichsverfahren — nach Ausschöpfung aller anderen Mittel zu solchen Maßnahmen greifen. Aber doch erst nach Ausschöpfung aller ohne Gefährdung seiner Existenz möglichen anderen Mittel, ehe er zur Kürzung eben übernommener Rechtsverpflichtungen schreitet. Sind hier nun wirklich alle anderen ohne Gefährdung unserer staatlichen Existenz möglichen Mittel ausgeschöpft? Oder will man hier nur unseren Bürgern — denn sie sind ja der Staat — etwa leicht mögliche Einschränkungen nicht zumuten? Oder würde die Erfüllung dieser Rechtsverpflichtungen etwa die Existenz des Staates und damit aller Bürger gefährden? Letzteres wäre sicher der Fall, wenn die Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen 'bedenkliche Auswirkungen auf die Kaufkraft unserer Währung hätte. In diesem Falle besteht gewiß ein so hohes Gemeininteresse, nämlich die Erhaltung der Kaufkraft der Währung für alle Bürger, daß auch radikale Maßnahmen gerechtfertigt wären und auch verstanden würden. Aber müssen nicht erst einmal alle währungs- und wirtschaftsneutralen Anstrengungen gemacht werden, um zu den übernommenen Verpflichtungen zu stehen? Und gibt es solche? Es gibt sie, wenn man sich dazu zu entschließen bereit ist. Wenn keine zusätzliche Kaufkraft geschaffen wird, kann von Gefährdung der Währung keine Rede sein. Kaufkraftverlagerung z. B. ist währungsneutral. Nun haben wir im letzten Jahr — ich nehme die niedrigste, von der Opposition genannte Zahl — eine reale Einkommenserhöhung um jedenfalls rund 5 % gehabt. Ist es wirklich unvertretbar, daß man, wenn andere Wege nicht möglich sind, davon einen kleinen Bruchteil in Form von Genußmittelsteuern zusätzlich erhebt, um die gesetzlich geschaffenen Rechtsverpflichtungen zu erfüllen? Muß der Staat, d. h. die Gesamtheit seiner Bürger, nicht wirklich alle, aber auch alle zumutbaren Anstrengungen machen, um nicht als wortbrüchig — und zwar wortbrüchig in den Handlungen der höchsten staatlichen Organe — zu erscheinen? Es geht hier jetzt nicht darum, die sachliche Angemessenheit der beschlossenen Gesetze zu diskutieren. Diese steht mindestens dann nicht zur Diskussion, wenn dieselbe Mehrheit, die sie beschlossen, und dieselbe Regierung, die sie dem Herrn Bundespräsidenten zur Verkündung vorgelegt hat, heute weiter regiert. Die sachliche Angemessenheit stünde aber auch dann jetzt nicht zur Diskussion, wenn etwa die Opposition, die den Gesetzen zugestimmt und durch ihren „Schattenfinanzminister" für die 5. Wahlperiode noch viel höhere Mehrausgaben, nämlich 76 Milliarden DM, angekündigt hat, heute die Regierung stellte, Denn weder Koalition noch Opposition können heute plötzlich sachlich anderer Meinung sein, als vor wenigen Monaten, wenn sich keine neuen sachlichen Argumente eingestellt haben. Mir sind solche neuen sachlichen Argumente gegen den Inhalt der vor einigen Monaten beschlossenen Gesetze in keinem Falle bekanntgeworden. Nur die Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen macht einige Schwierigkeiten. Aber können sie nicht ohne Gefährdung des Gemeinwohls behoben werden? Dürfen wir uns bei solcher Sachlage der Erfüllung unserer Verpflichtungen entziehen, weil etwa eine leichte Erhöhung etwa auch der Tabaksteuer keine sehr populäre Maßnahme ist? Steht nicht wirklich etwas mehr auf dem Spiel als der Unwille der — sicher nicht der meisten — Raucher, von denen doch nicht einer ernsten Schaden leiden kann, wenn z. B. mit einem zusätzlichen Pfennig auf die Zigarette über 900 Millionen DM zur Erfüllung feierlich übernommener Rechtsverpflichtungen unseres Staates aufgebracht werden? Solche innere Kaufkraftverlagerung ist doch wohl durchaus „währungsneutral". Ich habe diese Forderung in meinen Wahlversammlungen häufig vertreten und erinnere mich nicht, hier auch nur 'einmal auf echten Widerspruch gestoßen zu sein. Unsere Bürger haben schon ein Gefühl für Treu und Glauben auch im öffentlichen Leben und wünschen sich in der großen Mehrheit einen Staat, auf dessen Umgangsformen sie stolz sein können. Dürfen wir diese unsere staatsbewußten Bürger enttäuschen, indem wir ihnen etwas vormachen, was wir schärfstens beanstanden müßten, wenn sie es als einzelne täten? Wir alle hören jetzt im Lande draußen Formulierungen, die uns früher nur aus dem Munde von Gegnern unseres demokratischen Staates zu Ohren kamen: „Die machen da oben ja doch, was sie wollen" oder noch hiel härtere Worte, die ich hier nicht wiederholen möchte. Ist es nicht unser aller Aufgabe, solche Formulierungen Lügen zu strafen, und nicht dazu Anstoß zu geben? Darüber sollten wir bei der Beratung des Haushaltssicherungsgesetzes sehr gründlich nachdenken. Ich möchte meine persönliche Meinung hier klar dahin zum Ausdruck bringen dürfen, daß der kleine Ärger über eine gar nicht erhebliche Erhöhung von Genußmittelsteuern, mit der die Bundesregierung ja schon einen — allerdings sehr schüchternen — Ansatz gemacht hat, eine Kleinigkeit ist gegenüber dem Verlust an Vertrauen in unsere parlamentarisch-demokratische Ordnung, den ein Bruch feierlich übernommener gesetzlicher Verpflichtungen zur Folge haben müßte und nachweislich als Versuch schon hat. Mir lag daran, alle Mitglieder dieses Hauses zu bitten, diese Erwägungen einmal sehr gründlich zu überdenken und sich in aller Ruhe die Frage zu beantworten, ob unsere junge Demokratie solchen Vertrauensverlust überhaupt wieder aufholen kann. Es geht hier im letzten nicht um Gruppeninteressen dieses oder jenes von den Gesetzen betroffenen Bereiches, es geht erst recht nicht um Parteipolitik, es geht hier um etwas ganz Grundsätzliches und Entscheidendes, ohne das weder Koalition noch Opposition auf die Dauer unsere demokratische Ordnung werden erhalten können: um das Vertrauen des Bürgers, vor allem unserer jungen Generation, in ihren und unseren Staat. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 337 Anlage 3 Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Stein (Honrath) zur Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung. Ich darf ein Problem behandeln, das mir und meiner Fraktion besonders am Herzen liegt, das ist der Arbeitsmarkt, sozusagen die Südtangente im magischen Dreieck der Vollbeschäftigung, Preisstabilität und Zahlungsbilanz. Ich warne vor der Illusion, daß durch Rationalisierung und Automation der Arbeitskräftemangel in den nächsten Jahren abnimmt. Er wird selbst dann bestehenbleiben, wenn keine Restriktionspolitik die Rationalisierungsmöglichkeiten hemmen würde. Hier ist der entscheidende Engpaß, der die Produktionskraft der Wirtschaft spürbar einschränkt. Was ist zu tun? Der innerdeutsche Arbeitsmarkt ist fast ausgeschöpft. Das gilt nicht nur für die Männer-, sondern auch für die Frauenarbeit. Der Anteil der Frauenbeschäftigung ist mit 35% heute in der Bundesrepublik höher als in jedem anderen europäischen Land. Vielleicht stecken noch kleine Reserven in der Halbtagsarbeit. Vielleicht sind auch noch einige in der Landwirtschaft vorhanden. Im ganzen ist keine Erleichterung zu erwarten. Das Statistische Bundesamt schätzt bis 1972 noch eine weitere Abnahme von Erwerbstätigen um 600 000. Vielleicht kann noch manches getan werden, um den Anreiz für Arbeiter, Angestellte und Beamte, die über das Pensionsalter hinaus noch arbeiten wollen, zu erhöhen. Aber sie kennen die Probleme, die hier aus der Differenz zwischen Gehalt und Pension, aus der Besteuerung und aus wielen Einzelheiten, nicht zuletzt aus der Generationsfrage an sich entstehen. Die steuerliche Schonung von Überstunden gehört ebenfalls in diesen Bereich. Man muß ganz deutlich sehen, daß hier überall Grenzen gesetzt sind. Wir können es uns nicht erlauben, auf diese Mangelerscheinungen in fatalistischer Abstinenz zu blicken — wie das Kaninchen auf die Schlange — und im Nichtstun zu verharren. Dazu gibt uns am wenigsten die Tatsache Veranlassung, daß es besonders schlecht um die Beschäftigung des Bedarfs an Nachwuchskräften bei uns bestellt ist. Die offenen Lehrstellen dieses Jahres konnten bekanntlich nur bis zu 40 % besetzt werden. Wer weiß, daß es uns gerade an ausgebildeten Kräften fehlt, daß alle Automation den qualifizierten Fachmann nicht ersetzen kann, der muß gerade diese Zahl mit Bestürzung registrieren. Sie ragt über den Parteienstreit hinaus und ist sozusagen eine interfraktionelle Zahl. Wir müssen nicht nur mit Ländern konkurrieren, die eine größere Kapitalkraft ins Treffen führen, sondern auch mit Ländern konkurrieren, in denen länger und härter als bei uns gearbeitet wird, wie Japan. Es ist nicht mit dem Schlagwort Niedrigpreisland getan, sondern nur mit der Erkenntnis, wo die Gründe der zutage tretenden Wettbewerbsverzerrungen liegen. Das Beunruhigende der Zahlungsbilanzsituation ist doch, daß sie deutlich macht, daß auch unsere europäischen Nachbarn uns zu überrunden beginnen. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes der letzten 10 Jahre zeigt uns deutlich, daß wir hier in einer echten Strukturkrise stehen, die wir bewältigen müssen. Diese Strukturkrise wird sichtbar an der Beschäftigung unserer ausländischen Arbeitskräfte und den damit auftretenden Problemen. Diese Gastarbeiter sind im Rahmen unserer Wirtschaftsentwicklung mehr als ein Konjunkturpuffer. Wir hatten in der jüngsten Spanne unserer innerdeutschen Wirtschaftsgeschichte mehrfach Konjunkturpausen. Die Stetigkeit des Anwachsens unserer ausländischen Gastarbeiter zeigt eben die strukturelle Grundlage dieses Bedarfs. Mitte 1954 waren es 73 000, am 30. 9. 1965 waren es 1 217 000. Das ist eine siebzehnfache Steigerung am Laufe von 11 Jahren. Natürlich muß man auch hier die Proportionen sehen. Gewiß, die ausländischen Arbeiter füllen gerade jene Lücke, deren Offenbleiben auch die derzeitige Produktion unmöglich gemacht hätte. Aber wir dürfen uns trösten, daß bei uns ihr Anteil an der Beschäftigtenzahl nur 5,5% beträgt. In der Schweiz sind es 30%, in Frankreich 8-10%, und auch in Belgien und Holland liegt der Anteil höher. Das strukturelle Angespanntsein wird dadurch erschwert, daß die Fluktuation der Ausländer sehr groß ist. Gerade wenn der Anteil der ausländischen Arbeiter an der Gesamtzahl der Beschäftigten noch erträglich gering ist, erfordert dies unser Eingreifen zur richtigen Zeit, d. h. sofort. Wirtschaft und Verwaltung stehen hier in einer gemeinsamen Verantwortung. Beide brauchen die gut ausgebildeten und eingewöhnten ausländischen Arbeitskräfte. Die Wirtschaft bemüht sich bereits heute um eine Vorschuleng künftiger Gastarbeiter in ihren Heimatländern. In Spanien und Italien werden z. B. entsprechende Lehrwerkstätten von der deutschen Industrie auch durch die Entsendung von Meistern und Fachkräften unterstützt. Die Zusammenarbeit mit den Behörden des In- und Auslandes funktioniert im allgemeinen gut. Ich möchte an dieser Stelle vor allem der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung unser aller Dank und Anerkennung aussprechen. So ist auch vorbehaltlos anzuerkennen, daß sich in Deutschland Organisationen und Verbände um die Betreuung der Gastarbeiter bemühen, und es muß auch erwähnt werden, daß öffentliche Mittel zur Überwindung der Sprach- und der Unterkunftsschwierigkeiten beitragen. Allerdings wäre besonders für den Wohnungsbau ein stärkeres Arrangement wünschenswert. Ein naheliegendes Problem, das wir lösen müssen, ist nämlich die regelrechte Einwanderung ganzer Familien. Gerade jene Gastarbeiter, die ihre Familie nachkommen lassen wollen, suchen die dauerhafte Beschäftigung in unserem Land. Sie stellen eine wertvolle Anreicherung des deutschen Arbeitskraftpotentials dar. Für sie müssen Wohnungen bereitgestellt werden. Auch die Frage der Beschäftigung der Frauen am gleichen Ort ist zu beantworten. Daß dies möglich und für alle Beteiligten vorteilhaft ist, hat sich besonders in Südwestdeutschland bereits deutlich gezeigt. Das führt uns schließlich noch zu weitergehenden Überlegungen. Manchmal erinnert der heutige Zustrom der Gastarbeiter an die großen Einwanderungswellen des vorigen Jahrhunderts nach Ame- 338 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 rika. Was damals auf gut Glück und unter großen Härten vor sich ging, können wir in der Gegenwart steuern. Wir müssen uns in dieser Legislaturperiode darüber Gedanken machen, solange die Dinge noch zu übersehen sind. Die volle Integration jener Familien, die dies anstreben, sollte erleichtert werden. Reale Gründe, die eine weitsichtige Politik berücksichtigen muß, gibt es genug, vom Produktionserfordernis über den Bedarf der Dienstleistungsgesellschaft bis zur Vermeidung eines Vakuums gegenüber dem Osten. Reale Gründe, die dagegen sprechen, gibt es nicht, auch nicht im soziologischen Bereich. Untersuchungen haben ergeben, daß von der gelegentlich behaupteten höheren Kriminalität keine Rede sein kann. Die volkswirtschaftlichen Kosten schließlich werden, nimmt man alles in allem, bei der Einbürgerung geringer sein als bei der Fluktuation. Wenn wir der strukturellen Teuerung, die sich aus den erhöhten Ansprüchen bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel ergibt, wirksam entgegentreten wollen, müssen wir nicht nur in der Haushaltspolitik, sondern auch auf diesem Gebiet neue Wege beschreiten. Wir haben das Beispiel aus Übersee, wir erleben es auch in unserem eigenen Lande. Die Entwicklung des Ruhrgebietes vollzog sich unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer Arbeitskräfte. Sie sind längst integriert, und die Träger ihrer Namen stellen nicht nur prominente Stars der Fußballmannschaften, sondern in allen Bereichen hochqualifizierte Arbeiter, Angestellte und Beamte. Die Einfügung von Ausländern in die deutsche Industriegesellschaft bringt auch staatsrechtliche Probleme mit sich. Italien ist schon heute bereit, einen Teil seiner Auswanderungswilligen nach Deutschland zu lenken, das sind Einwanderer zu uns. Das soll kein Hindernis, sondern Ansporn sein. Wir müssen jetzt Überlegungen zur Herabsetzung der Einbürgerungszeit anstellen, die noch 10 Jahre beträgt. Wir brauchen eben nicht nur Fremde, die höchstens 2-3 Jahre bleiben, unsere Zahlungsbilanz verschlechtern und sich dann mit dem verdienten Geld und den erworbenen Kenntnissen daheim selbständig machen. Diese werden ohnehin immer die Mehrheit der ausländischen Arbeitskräfte bilden. Wir brauchen gerade jene Minderheit, die entschlossen ist, durch ihre Leistung ein Teil unseres Volkes zu werden. Sie ist uns willkommen und sie ist uns wertvoll. Sie bedeutet eine der großen Strukturbereinigungen, vor die uns die Industriegesellschaft stellt. Wir sollten daher alles tun, um diesen Menschen bei uns eine neue Heimat zu geben. Wir sollten es bald tun, sofort damit beginnen. In Entlohnung, Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen und jedem Detail des Arbeitsrechts sind sie den Deutschen ohnehin fast völlig gleichgestellt. Sie müssen auch im staatsrechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen die selbstverständliche Gleichberechtigung finden. Damit werden wir einen wichtigen Beitrag zu jener Stabilisierung leisten, die uns zur Zeit so sehr beschäftigt. Gesundes Wachstum auf stabiler Grundlage ist keine Utopie. Man muß allerdings etwas dafür tun, heute und morgen und vorausschauend auf lange Frist.
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    Rede von Dr. Ernst Schellenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung spricht nicht vom sozialen Rechtsstaat. Das mußte Herr Dr. Barzel nachholen. Er tat es in allgemein gehaltenen Bemerkungen.
    Die Regierungerklärung enthält jedoch in bezug auf die Sozial- und Gesundheitspolitik sehr bedenkliche Formulierungen. Ich zitiere: Steigerung des bloßen Sozialkonsums, strukturlose Expansion sozialer Subventionen, opportunistische Befriedigung von Gruppeninteressen, ungewolltes Hineingleiten des einzelnen in die immer stärkere Abhängigkeit vom Staat, Entwicklung, in der alle sozialen Gruppen zunehmend bloß Objekte der staatlichen Fürsorge sind, Totalversicherung als Ansatz zu einer sich selbst nährenden inflationistischen Entwicklung, Hypothek für die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft. — So u. a. spricht die Regierungserklärung von der Sozial- und Gesundheitspolitik.
    Diese Bemerkungen bringen unsere Sozial- und Gesundheitspolitik in ein Zwielicht. Es fällt sehr schwer, anzunehmen, daß ein Bundesarbeitsminister, der mit der christlich-sozialen Arbeitnehmerschaft besonders verbunden ist, an der Abfassung einer Regierungserklärung, die derartige Unterstellungen enthält, mitgewirkt hat.
    Freilich rühmt sich die Regierung der Sozialleistungen in unserem Lande. Man behauptet, die Bundesrepublik sei ein sozialer Gigant. Die Regierungserklärung stellt aber diese Behauptungen und die bisherigen Sozialleistungen in Frage, wenn die Bundesregierung darin im gleichen Atemzug erklärt:
    Aber wir haben auch Grund zur Sorge, daß sich hinter diesen Leistungen zum Teil lediglich Zahlungen und Subventionen verbergen, die auf längere Sicht unsere Leistungsfähigkeit und damit unsere soziale Sicherheit nicht fördern, sondern schwächen.
    Wir fordern die Bundesregierung auf, von dieser Stelle aus zu sagen, hinter welchen Sozialleistungen sich nach ihrer Meinung Subventionen verbergen, die angeblich unsere wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit schwächen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Bundesleistungen für soziale Sicherheit betreffen: Zuschüsse zu den gesetzlichen Rentenversicherungen, Zuschüsse zur Altershilfe für Landwirte, Kindergeldleistungen und soziale Kriegsfolgeleistungen. Wir fragen die Bundesregierung:
    1. Handelt es sich bei den Zuschüssen zur Rentenversicherung etwa um eine strukturlose Expansion sozialer Subventionen?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie selbst mal empfohlen!)

    — Das ist entnommen der Erklärung .der Bundesregierung zur Sozialpolitik!
    2. Dienen die Zuschüsse zur Alterssicherung der Landwirte etwa der in der Regierungserklärung erwähnten opportunistischen Befriedigung von Gruppeninteressen?
    3. Sind Kindergeldzahlungen etwa eine Hypothek für die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft?
    4. Schwächen etwa die Leistungen an Kriegsgeschädigte und Kriegshinterbliebene unsere Sicherheit?
    Da die Regierungserklärung in bezug auf die Sozialleistungen Verdächtigungen enthält, hat unser Volk ein Recht auf eine klare Stellungnahme der Bundesregierung.

    (Beifall bei der ,SPD.)

    Nach unserer Auffassung hat die Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik neben der Vermögensbildung breiter Schichten vor allem drei Aufgaben zu erfüllen: Sie soll
    erstens .den Bürgern die Chance geben, sich in unserer Gesellschaft zu entfalten; sie soll
    zweitens helfen, Gesundheit und Leistungsfähigkeit möglichst zu erhalten oder wiederherzustellen; und sie soll
    drittens bei Arbeitsunfähigkeit im Alter oder bei Tod des Ernährers den Lebensstandard sichern.
    Zu der ersten Aufgabe der Sozialpolitik: Die Sozialpolitik hat dazu beizutragen, daß die Familie ihre Aufgabe als natürliche und sittliche Lebensgemeinschaft voll erfüllen kann. Die Regierungserklärung spricht nur in allgemein .gehaltenen Redewendungen von einer Fortentwicklung ,der Familienpolitik einschließlich des Familienlastenausgleichs. Deshalb fordern wir 'die Bundesregierung auf, konkret
    314 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
    Dr. Schellenberg
    zu sagen, welche Pläne sie für die Fortentwicklung des Familienlastenausgleichs hat.
    Mit Recht weist die Bundesregierung darauf hin, daß sich die Familienpolitik nicht nur in materiellen Leistungen erschöpfen darf. Doch wäre es angebracht, wenn die Bundesregierung auch hier deutlicher sagen würde, was sie in dieser Hinsicht für die Familie zu tun beabsichtigt.
    Der Beruf hat für die Entwicklung der Persönlichkeit eine überragende Bedeutung. Jedem Menschen muß die Möglichkeit gegeben werden, seine Begabungen für sich und die Gesellschaft nutzbar zu machen. Vor über drei Jahren, im Juni 1962, hat der Bundestag auf Initiative der Sozialdemokraten beschlossen: „Die Bundesregierung wird ersucht, dem Deutschen Bundestag bis zum ,1. Februar 1963 den Entwurf eines Berufsausbildungsgesetzes vorzulegen." Diesem Auftrag ist die frühere Bundesregierung nicht nachgekommen. Sie hat vielmehr um Fristverlängerung gebeten. Seitdem sind wiederum fast zwei Jahre vergangen, ohne daß der erbetene Gesetzentwurf vorgelegt wurde.

    (Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

    Bei dieser Sachlage können die unverbindlichen Ausführungen der Regierungserklärung zum Berufsausbildungswesen nicht hingenommen werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Jetzt muß erwartet werden, daß die Bundesregierung einen Termin nennt, zu ,dem sie den Auftrag des Bundestages auf Vorlage eines Berufsausbildungsgesetzes endlich erfüllen wird.

    (Beifall bei der SPD.)

    Berufsausbildung und Aufstiegschancen müssen auch finanziell gesichert werden. Die Bundesregierung spricht in der Regierungserklärung zwar davon, dazu beitragen zu wollen, daß alle bildungswilligen und bildungsfähigen jungen Menschen eine ihren Begabungen und Neigungen entsprechende Ausbildung erhalten. Aber zwischen dieser Ankündigung und den Handlungen der Bundesregierung bestehen eklatante Widersprüche.
    Wir stellen fest: Zur gleichen Zeit, in der die Regierungserklärung von einer weitgespannten Politik der Ausbildungs- und Weiterbildungsförderung spricht, betreibt die Bundesregierung eine Einschränkung der Ausbildungsförderung. Unverständlich ist auch, daß ,die Bundesregierung die Gelegenheit versäumt, die Ausbildungszulage zu einer gezielten Ausbildungsförderung umzugestalten. Mit dem Vorschlag auf pauschale Herabsetzung der Ausbildungszulage von 40 auf 30 DM monatlich hat die Bundesregierung vielleicht verwaltungstechnisch das Einfachste, gesellschaftspolitisch aber das
    Widersinnigste getan.

    (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Sehr richtig! — Abg. Ruf: Wollen sie lieber Einkommensgrenzen?)

    — Ich habe gesagt: Es geht um eine gezielte Ausbildungsförderung. Das ist die Aufgabe, um die
    wir im letzten Bundestag gerungen haben und auch im neuen Bundestag ringen.

    (Beifall 'bei der SPD.)

    Wir werden dabei die Zustimmung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere der Wissenschaft finden.
    Nun zu den Aufgaben der Gesundheitspolitik. In der Regierungserklärung beklagt die Bundesregierung die mangelnden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auf dem Gebiete des Gesundheitswesens. Die Bundesregierung hat aber die Kompetenzen, die ihr das Grundgesetz in der Gesundheitspolitik einräumt, bisher keineswegs ausgeschöpft. Hierfür drei Beispiele: erstens Gesunderhaltung am Arbeitsplatz; zweitens Hilfe für die Krankenhäuser; drittens Mutterschutzgesetzgebung.
    Zum ersten. Es muß alles getan werden, damit die gesundheitlichen Gefahren des Arbeitslebens rechtzeitig und wirksam bekämpft werden. Bereits 1959 hat die Internationale Arbeitsorganisation eine Empfehlung über Betriebsärzte in Arbeitsstätten beschlossen. 1962 hat die EWG eine detaillierte Empfehlung über die Schaffung betriebsärztlicher Dienste herausgegeben. Wir stellen fest: Aus diesen Empfehlungen hat die Bundesregierung bisher keine gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen.
    Weitere Beispiele: Über die Herstellung und den Vertrieb gefahrensicherer Maschinen und Geräte, auch Haushaltsgeräte, den sogenannten Maschinenschutz, hat die Internationale Arbeitsorganisation im Juni 1963 ein Übereinkommen beschlossen. Auch aus diesem Übereinkommen hat die Bundesregierung keine gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen. Die Regierungserklärung vom Februar 1963 versprach, einen Gesetzentwurf über Sicherheitsbeauftragte in den Betrieben vorzulegen. Auch dieser Gesetzentwurf wurde nicht vorgelegt.
    Die Bundesregierung ist also beim betriebsärztlichen Dienst, beim Maschinenschutz, bei den betrieblichen Sicherheitsorganen, bei wichtigen Aufgaben des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen. Wir fordern die Bundesregierung auf, unverzüglich die entsprechenden Gesetzentwürfe einzubringen.

    (Abg. Ruf: Muß denn alles gesetzlich geregelt werden?)

    — Nachdem internationale Organisationen Empfehlungen ausgesprochen haben,

    (Abg. Ruf: Empfehlungen!)

    nachdem auch das Parlament in den Ausschüssen die Dinge beraten und die Regierung gebeten hatte, Entwürfe vorzulegen, ist es deren Pflicht, Gesetzesvorschläge zu machen. Dies ist auch im Hinblick auf den immer noch sehr hohen Stand der Arbeitsunfälle erforderlich.

    (Abg. Ruf: Der Gott sei Dank laufend zurückgeht!)

    Auch das ist Ausdruck einer produktiven Sozialpolitik. Im übrigen erwarten wir auch, daß der Unfallverhütungsbericht, den- die Bundesregierung auf
    Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 315
    Dr. Schellenberg
    SPD-Initiative zu erstatten hat, wie vorgeschrieben Ende dieses Jahres dem Hause vorgelegt wird.
    Nun zu der zweiten gesundheitspolitischen Aufgabe, zur Hilfe für die Krankenhäuser. Bereits im Jahre 1958 auf dem ersten Deutschen Krankenhaustag hat der damalige Bundeskanzler Dr. Adenauer den Krankenhäusern wirksame Hilfe des Bundes versprochen. Diese Zusage wurde von Herrn Dr. Erhard und von Frau Dr. Schwarzhaupt auf dem zweiten und dritten Krankenhaustag wiederholt. Noch auf dem letzten Deutschen Ärztetag am 26. Mai dieses Jahres erklärte der Bundeskanzler — ich zitiere —:
    Unsere Krankenhäuser zehren seit Jahren von ihrer Substanz. Ich bin fest entschlossen, ihrem Notstand im Rahmen dessen, was der Bund tun kann, abzuhelfen. Die Krankenhäuser sollen endlich wieder auf eine gesicherte, gedeihliche Basis gestellt werden.
    Und was sagte der Bundeskanzler noch nicht sechs Monate später in seiner Regierungserklärung?:
    Die Modernisierung der Krankenhäuser dürfte eine Aufgabe im Rahmen des Deutschen Gemeinschaftswerks sein.
    Es ist eine deprimierende Aussicht für die gesundheitlichen Anliegen unseres Volkes, wenn die Zukunft unserer Krankenhäuser von der Verwirklichung der bisher noch unbestimmten Gedankengänge des Bundeskanzlers über das Deutsche Gemeinschaftswerk abhängig gemacht wird. Mehr als an Worten des Bundeskanzlers über das Gemeinschaftswerk liegt unseren Krankenhäusern z. B. — um auf eine konkrete Frage hinzuweisen — daran, daß die Änderung der Pflegesatzverordnung erfolgt, die ihnen seit vier Jahren versprochen wird.
    Nun als drittes Beispiel für die gesundheitlichen Aufgaben, die vernachlässigt sind, der Mutterschutz.
    In der Bundesrepublik sterben heute noch mehr Frauen während der Schwangerschaft, Entbindung und im Wochenbett als in anderen vergleichbaren Staaten. Diese Feststellung läßt sich auch mit statistischen Spitzfindigkeiten nicht widerlegen.
    Dies war ein Zitat aus einer Schrift, die der Bundeskanzler u. a. wie folgt einleitet:
    Ich begrüße es, daß der Öffentlichkeit diese Materialsammlung vorgelegt wird.
    Die Schrift hat den passenden Titel: „Was soll aus Deutschland werden?"
    Wegen der hohen Müttersterblichkeit hat die sozialdemokratische Fraktion im Jahre 1962 einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Mutterschutzes eingebracht, dem dann kurz vor der Wahl ein Entwurf der Regierungsparteien folgte. Nach vielem Hin und Her ist schließlich am 6. Juli 1965 in einer Sondersitzung des Bundestages die Novelle zum Mutterschutzgesetz verabschiedet worden. Es war die Ansicht aller Fraktionen, daß über die Novelle hinaus noch weitere Verbesserungen des Mutterschutzes erforderlich sind. Herr Dr. Barzel
    — den ich leider nicht im Saal sehe —, erklärte beispielsweise:
    Dieses Haus sollte sich aber keinen Illusionen darüber hingeben, daß hier nur ein Teilausschnitt, ein Anfang gesetzt ist.
    Deshalb mußten von der Regierungserklärung Vorschläge für den weiteren Ausbau des Mutterschutzes erwartet werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Bundesregierung schweigt sich aber nicht nur hierüber aus, sondern sie betreibt sogar die Zurückstellung wichtiger Vorschriften des neuen Mutterschutzgesetzes. Im Zusammenhang mit den vorgesehenen Sparmaßnahmen will die Bundesregierung das neue Mutterschutzgesetz für 1966 aussetzen. Statt dessen soll das völlig unzureichende alte Recht unter Gewährung von Vorsorgeuntersuchungen für den kleineren Teil der Mütter und unter Verlängerung von Schutzfristen nach der Entbindung, die für einen großen Teil der Mütter heute praktisch schon gewährt werden, weiterhin Geltung behalten.

    (Abg. Ruf: Sie wissen aber, was wir auf diesem Gebiet vorhaben! — Lachen bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Sie haben viel vor!)

    — Herr Kollege Ruf, ich kenne im Augenblick nur das, was die Bundesregierung dem Hause vorgelegt hat, und das ist ein sehr schlimmes Vorhaben.
    Abgesehen davon, daß Verbesserungen des Mutterschaftsgeldes und des Pauschbetrages für Entbindungen 1966 nicht in Kraft treten sollen, bedeutet das: Erstens. Die Bundesregierung wünscht, daß schwangere Frauen auch 1966 kein Recht auf Krankenhausentbindung hab en.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Zweitens. Die Bundesregierung wünscht, daß alle mitversicherten Frauen — das sind die meisten Frauen — auch 1966 kein Recht auf Vorsorgeuntersuchungen und laborärztliche Untersuchungen während der Schwangerschaft haben. Drittens. Die Bundesregierung wünscht, daß 1966 keine Verbesserungen im Arbeitsschutz für Schwangere und Wöchnerinnen erfolgen. So sollen nicht in Kraft treten: verschiedene Beschäftigungsverbote für werdende und stillende Mütter, Maßnahmen des besseren Schutzes von Leben und Gesundheit werdender oder stillender Mütter am Arbeitsplatz, detaillierte Vorschriften gegen besonderen Arbeitslärm und Sturzgefahr, das generelle Verbot von Akkord- und Fließarbeit für werdende Mütter, die Senkung der Höchstarbeitszeit von 96 Stunden auf 90 Stunden in der Doppelwoche, Verbesserung in der Stillpause sowie zahlreiche andere Arbeitsschutzvorschriften für werdende und stillende Mütter.
    Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung redet davon, den familienpolitischen Leistungen sollte die größtmögliche Wirksamkeit gegeben werden. Die Regierungserklärung redet ferner von der Bedeutung der Gesundheitspolitik für die moderne Industriegesellschaft. Aber gegenüber dem Mutterschutz als einer der wichtigsten Aufgaben der
    316 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
    Dr. Schellenberg
    Familien- und Gesundheitspolitik versagt die Bundesregierung bei der ersten Bewährungsprobe.

    (Beifall bei der SPD.)

    Man muß zur Auffassung kommen, daß die Bundesregierung offenbar den Schutz der werdenden Mutter für eines der Gruppeninteressen hält, denen sie jetzt nach der Wahl so nachdrücklich entgegentreten möchte.

    (Abg. Frau Kalinke: Pfui, Herr Schellenberg!)

    — Sie, meine Damen und Herren, müssen die Konsequenzen daraus ziehen, nicht wir.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    —Schließlich tragen Sie die Bundesregierung und hätten dafür sorgen sollen, daß von der Regierung ein derartiger Entwurf nicht vorgelegt wird. Wir stellen fest:
    Erstens. Die gesundheitlichen Leistungen für Mütter, die 1966 nicht in Kraft treten sollen, betreffen nicht den Bundeshaushalt. Es sind Leistungen, die nach dem neuen Gesetz den Krankenkassen obliegen.
    Zweitens. Die Vorschriften über den Arbeitsschutz für erwerbstätige Mütter, die 1966 nicht in Kraft treten sollen, haben weder direkt noch indirekt irgend etwas mit dem Bundeshaushalt oder den Finanzen der Sozialversicherung zu tun.
    Drittens. Das Presse- und Informationsamt der
    ) Bundesregierung hat die Öffentlichkeit unrichtig informiert. In der Mitteilung der „Sozialpolitischen Umschau" vom 9. November dieses Jahres heißt es, auch mitversicherte Frauen könnten sich während der Schwangerschaft und nach der Geburt kostenlos vorsorglich untersuchen lassen. Das ist falsch.
    Viertens. Elf Tage nach dem Beschluß des Bundeskabinetts über die Suspendierung des neuen Mutterschutzgesetzes veröffentlicht der Herr Bundesarbeitsminister im Bundesgesetzblatt die Neufassung des Mutterschutzgesetzes, das 1966 überhaupt nicht in Kraft treten soll.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung schuldet dem Parlament eine Erklärung für ihr — ich kann nicht anders sagen — unverantwortliches Vorhaben beim Mutterschutz.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nun einige Bemerkungen zur Krankenversicherungsreform. Eine moderne Krankenversicherung hat für die Erhaltung der Gesundheit überragende Bedeutung. Schwerpunkte der Reform haben zu sein: weitblickende Gesundheitsvorsorge sowie Anpassung der Leistungen bei Krankheit an die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Zum sechsten Male redet eine Regierungserklärung von der Neuregelung der Krankenversicherung.

    (Abg Ruf: Weil Sie immer dagegen waren!)

    — Sie hatten ja die Mehrheit! — Jetzt scheint sich die Bundesregierung endlich zu der Auffassung
    durchgerungen zu haben, daß eine Krankenversicherungsreform sorgfältig vorbereitet werden muß. Das kann dem Anliegen, um das es gesundheits- und sozialpolitisch geht, nur dienlich sein.
    Bekanntlich hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bereits am 24. Oktober 1963 die Einsetzung einer Sachverständigenkommission für die Krankenversicherungsreform beantragt. Damals wurde unser Antrag von der Mehrheit abgelehnt. Wenn jetzt die Sozialenquete-Kommission mit den Problemen der Krankenversicherung befaßt werden soll, so wird mit einer Verspätung von zwei Jahren unserem Anliegen teilweise entsprochen.
    Im übrigen gehen auch die beiden anderen Forschungsaufträge, von denen die Bundesregierung spricht, nämlich die Enquete über die Stellung der Frau in Beruf und Familie und die Untersuchung über die Situation der alten Menschen auf sozialdemokratische Initiativen zurück. Entscheidend wird sein, welche politischen Konsequenzen aus den vorzulegenden Untersuchungen gezogen werden.
    Nun zu dem letzten großen Bereich der Sozialpolitik, der sozialen Sicherung des Lebensstandards. Die soziale Sicherung hat dafür zu sorgen, daß dem einzelnen sein Lebensstandard, den er sich durch seine Arbeit geschaffen hat, auch bei Arbeitsunfähigkeit, im Alter oder bei Tod des Ernährers erhalten bleibt. Diesem Ziel dient auch die wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit.
    Bereits dreimal wurde in Regierungserklärungen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle versprochen. Jetzt wird zum vierten Male in einer Regierungserklärung von der Lohnfortzahlung geredet. Erstaunlicherweise kündigt aber die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf zur Lohnfortzahlung an. Vielmehr heißt es lediglich:
    Die Bundesregierung erwartet von dem Bericht über die Sozialenquete einen nützlichen Beitrag unter anderem für die mit der Lohnfortzahlung zusammenhängenden Probleme.
    Eine solche Erklärung, daß erst die Sozialenquete abgewartet werden soll, ist, nachdem die Bundesregierung sich früher mehrfach zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle bekannt hat, eine Ausrede.
    Aus dem Beschluß der Bundesregierung vom April 1964 über die Durchführung der Sozialenquete ergibt sich eindeutig, daß die Wissenschaftler nicht mit der Erforschung von Fragen der Lohnfortzahlung beauftragt wurden. Es ist zu bedenken: „Die Wissenschaftler, denen die Sozialenquete übertragen worden ist, haben sich ausdrücklich dagegen verwahrt, ihre wissenschaftlichen Arbeiten als Vorwand zu benutzen, um Fragen, die der laufenden und praktischen Arbeit angehören, unter Hinweis auf die Ergebnisse der Sozialenquete zurückzustellen. Die Kommission wünscht ausdrücklich, daß solche Äußerungen unterbleiben."
    Das erklärte der damalige Arbeitsminister, Herr Blank, am 3. 12. 1964, also vor noch nicht einem Jahr. Seine Erklärung wurde für so wichtig gehalten, daß sie im Bulletin veröffentlicht wurde.
    Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 317
    Dr. Schellenberg
    In der Tat bringt die Bundesregierung die Wissenschaftler in eine peinliche Lage, wenn sie jetzt die Sozialenquete zum Vorwand nimmt, die politische Entscheidung über die Lohnfortzahlung vor sich herzuschieben.
    Wir Sozialdemokraten stellen fest: Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle geht es nicht um Fragen, die noch wissenschaftlicher Erforschung bedürfen. Es geht um die Verwirklichung gesellschaftspolitischer Gerechtigkeit.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung ist entscheidungsreif.

    (Abg. Ruf: Wer soll das bezahlen?)

    — Aber Herr Ruf, Sie wissen doch genau, wer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall tragen soll; darüber sind wir uns doch hoffentlich einig.

    (Abg. Ruf: Aber nicht alles auf einmal!)

    — Über die arbeitsrechtliche Gestaltung der Lohnfortzahlung waren sich bisher die beiden großen Fraktionen grundsätzlich einig.
    Jetzt komme ich zur sozialen Sicherung bei Erwerbsunfähigkeit im Alter und bei Tod des Ernährers, zur Rentenversicherung. In der Regierungserklärung heißt es zwar, daß die Rentner weiterhin am Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung teilnehmen sollen. Das begrüßen wir. Gleichzeitig spricht aber die Regierungserklärung von Expansion sozialer Subventionen, immer stärkerer Abhängigkeit vom Staat, Entwicklung zum Objekt staatlicher Fürsorge.
    Diese Redewendungen zeigen eine völlige Verkennung der sozialen Sicherung, und zwar erstens hinsichtlich ihrer Finanzierung und zweitens hinsichtlich des Personenkreises, der sozial zu sichern ist.
    Zur Finanzierung: Die Versicherten leisten in der Zeit ihres Arbeitslebens Beiträge, um gegenüber den Wechselfällen des Lebens gesichert zu sein. Sie wenden hierfür einen erheblichen Teil ihres Arbeitseinkommens auf und verzichten insoweit auf Konsum.
    Es ist deshalb irreführend, wenn die Regierungserklärung im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung von einer strukturlosen Expansion sozialer Subventionen spricht. Von den 50 Milliarden DM jährlicher Einnahmen der Sozialversicherung stammen noch nicht 18 % aus dem Bundeshaushalt. Dagegen beruhen 82 % dieser Einnahmen auf Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. In der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten gehen die Zuschüsse des Bundes — bei gestiegenen absoluten Beträgen — anteilmäßig von Jahr zu Jahr zurück. Die Renten werden somit immer mehr von den Beitragszahlern selber und immer weniger vom Bund aufgebracht.

    (Zuruf von der Mitte: So soll es auch sein!)

    Deshalb ist es völlig abwegig, wenn die Bundesregierung glaubt, sie müsse — laut Regierungserklärung — den Bürger vor der Gefahr schützen, zunehmend Objekt staatlicher Fürsorge zu werden.
    Die Bundesregierung täte gut daran, ihre Aufmerksamkeit vielmehr einer wirklichen Gefahr, nämlich der immer stärkeren Verschuldung des Bundes bei der Rentenversicherung zu widmen.
    Nun zum Personenkreis, der sozial zu sichern ist. Soziale Sicherung ist ein lebenswichtiges Element der modernen Industriegesellschaft. Der immer deutlicher werdende Wunsch der Arbeiter, Angestellten und Selbständigen nach sozialer Sicherheit muß respektiert werden. Deshalb bekennen sich die Sozialdemokraten zum Gedanken einer Volksversicherung.
    Die Bundesregierung erklärt zwar, sie habe Verständnis dafür, daß auch Gruppen von Selbständigen zur Sicherung ihrer Altersversorgung die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung anstreben. Im Widerspruch hierzu lehnt die Bundesregierung aber eine allgemeine Rentenversicherung, die sie als Totalversicherung bezeichnet, ab. Vor den Wahlen wurde erklärt, die CDU/CSU werde dem neuen Bundestag zu Beginn der nächsten Legislaturperiode einen neuen Gesetzentwurf vorlegen, der die Rentenversicherung für alle öffne.

    (Zuruf von der Mitte: Warten Sie einmal ab!) — Zu Beginn der Legislaturperiode!


    (Abg. Winkelheide: Wir haben gerade mit der Arbeit angefangen!)

    — Ich werde weiter zitieren, und dann werde ich meine Frage an die Bundesregierung richten; denn wir diskutieren heute vor allen Dingen mit der Regierung über die Regierungserklärung.
    Es hieß weiter, jedem, der gewillt sei, einkommensgerechte Beiträge zu entrichten, werde damit die Gewähr für ein Alter in Sicherheit gegeben.
    Wir fordern die Bundesregierung auf, eindeutig zu sagen, welche Auffassung sie zu einer Öffnung der Rentenversicherung für alle noch nicht versicherten Angestellten und Selbständigen hat und ob sie bereit ist, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Kriegsopferversorgung — darüber sind wir uns in diesem Hause erfreulicherweise prinzipiell einig — muß der Rang zuerkannt werden, welcher der Größe der für die Gemeinschaft erbrachten Opfer an Leben und Gesundheit entspricht. Am 12. Mai dieses Jahres hat die Bundesregierung beschlossen und verkündet, im Haushaltsjahr 1966 ein Neuordnungsgesetz vorzulegen, das die Grundlage für die laufende Anpassung der Kriegsopferrenten bilden soll. In der Regierungserklärung steht zwar, die Bundesregierung stehe zu ihrer Zusage gegenüber den Kriegsopfern. In der Regierungserklärung kündigt die Bundesregierung aber weder ein drittes Neuordnungsgesetz noch einen Regierungsentwurf zur Angleichung der Kriegsopferrenten im Jahre 1966 an. Das gibt Anlaß zu Zweifeln. In der gestrigen Fragestunde hat der Bundesarbeitsminister erklärt, die Bundesregierung ist bestrebt, im Jahre 1966 ein drittes Neuordnungsgesetz vorzulegen. Wir haben mit Interesse von dieser zusätzlichen Erklärung Kenntnis genommen. Aufgabe des Hauses wird es sein, dafür zu sorgen, daß die Zusage der Bundesregierung auch eingehalten wird.
    318 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
    Dr. Schellenberg
    Zusammenfassend stellen wir zur Sozial- und Gesundheitspolitik fest: Noch niemals machte eine Regierungserklärung so viele Worte, noch niemals brachte sie so wenig Konkretes, und noch niemals zeigte sie über Sozial- und Gesundheitspolitik so wenig Sachverstand.
    In der Regierungserklärung heißt es: „Der Bürger muß über Handlungen und Absichten des Staates rasch, korrekt und umfassend unterrichtet werden." Wir erwarten, daß die Bundesregierung dieses Versprechen hält, indem sie unsere Fragen beantwortet, nämlich 1. Sozialleistungen als Hypothek für die Leistungsfähigkeit unseres Volkes, 2. Fortentwicklung der Familienpolitik, 3. Vorlage eines Berufsausbildungsgesetzes, 4. Maßnahmen zur Gesunderhaltung am Arbeitsplatz, 5. Krankenhausfinanzierung, 6. Mutterschutz und 7. Öffnung der Rentenversicherung.
    Das Wort hat die Bundesregierung.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)



Rede von Dr. Carlo Schmid
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans Katzer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schellenberg, Sie haben mich schon auf dem Weg zum Rednerpult gesehen, als Sie mir noch vor der Worterteilung durch den Herrn Präsidenten das Wort erteilt haben. Ich möchte mich für Ihre sachlichen Ausführungen zu wesentlichen Fragen unserer Sozialpolitik sehr herzlich bedanken. Die Sozialpolitik möchte ich allerdings nicht als einen engen sozialpolitischen Bereich verstanden wissen, sondern im Felde der Gesellschaftspolitik sehen. Gestatten Sie mir deshalb vorab einige wenige Bemerkungen, ehe ich zu Einzelheiten komme.
    Der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers ist von meinem Herrn Vorredner und auch von allen anderen Rednern der Opposition der Vorwurf gemacht worden, sie lasse kein konkretes Programm erkennen. Auf Grund der ganzen Diskussion dieser Tage habe ich allerdings den Eindruck, daß die Opposition von uns verlangt, vier Wochen nach der Regierungsbildung in Form einer ersten Lesung von Einzelgesetzgebungswerken nunmehr detaillierte Auskunft zu geben, die wir naturgemäß in dieser Stunde einfach nicht geben können.

    (Beifall bei 'den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

    — Nein, meine Damen und Herren, Sie wissen, ich stehe in dieser Eigenschaft zum erstenmal an diesem Pult, und es ist einfach unzumutbar, jetzt eine Art erste Lesung eines Buketts von Gesetzgebungswerken zu verlangen. Was Sie von uns erwarten können, ist eine Antwort auf die Frage: Hat die Regierung vor, auf diesem und jenem Gebiet initiativ zu werden? Darauf bekommen Sie eine Antwort. Aber Sie können schlechterdings nicht erwarten, daß wir Ihnen
    jetzt detailliert das sagen, was in dritter Lesung hier im Hause zu beraten sein wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie den Versuch des Herrn Bundeskanzlers, zu einer zusammenfassenden Darstellung unserer nationalen Probleme zu kommen, so einfach abtun. Es erhebt sich in der Tat die Frage, ob Sie sich wirklich frei gemacht haben von der großen Illusion, die zukünftige gesellschaftspolitische Struktur könne am Reißbrett konstruiert werden.

    (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Erler:... formiert werden!)

    — Auch dazu eine Bemerkung, Herr Kollege Erler. Ich bin traurig darüber, daß das von Ihrer Seite immer und immer wieder so negativ-ironisierend gesagt wird.

    (Zurufe von der SPD.)

    — Es ist gut. Aber bieten Sie mir die Chance, eine Darstellung zu geben, damit wir ernsthaft darüber diskutieren können. Darum bitte ich Sie sehr herzlich.

    (Zuruf von der SPD: Dazu war die Regierungserklärung da!)

    — Ja, wir sind doch mitten in der Aussprache. (Zuruf von der SPD: Da müssen Sie sich aber beeilen!)

    — Aber entschuldigen Sie, das Tempo der Aussprache haben doch nicht zuletzt Sie mit bestimmt. Dafür sind doch die Diskussionen da. Oder nicht?

    (Zuruf von der SPD: Das hätten Sie in der Regierungserklärung sagen können!)

    — Ich bin schon der Meinung, daß wir darüber ernsthaft und sachlich diskutieren sollten, so wie das Herr Kollege Schellenberg erfreulicherweise getan hat.

    (Abg. Schulhoff: Gebt ihm eine Chance! — Heiterkeit.)

    Mir scheint, meine Damen und Herren, eine Gestaltung der Gesellschaft am Reißbrett, wie Sie es sich vorstellen, ist nicht möglich. Die Gesellschaft ist einem lebendigen und beständigen Prozeß der Umbildung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Struktur unterworfen. Gesellschaftspolitik kann nur der Versuch sein, diesen Prozeß beständig mit zu gestalten.
    Mir scheint, Herr Kollege Schellenberg, die Methode nicht möglich zu sein, aus der Regierungserklärung in diesem einen Punkt nur Auszüge, nur negative Aussagen, aus ,dem Zusammenhang gerissene Sätze, aneinanderzureihen.
    Ich glaube, es ist geradezu ein Charakteristikum dieser Regierungserklärung — lesen Sie diese Stelle einmal nach, Herr Schellenberg —, daß sie in ihrem gesamten innerpolitischen Gehalt von einem Bekenntnis zur Sozialpolitik im Sinne einer modernen Gesellschaftspolitik ausgeht.

    (Beifall in der Mitte. — Zuruf von der SPD.)

    Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 319
    Bundesminister Katzer
    .) Ich glaube, Sie sollten in Ruhe nochmals den Satz lesen, der in der Regierungserklärung steht:
    Die Bedeutung der Sozialpolitik liegt im Grundsätzlichen aber auch darin, daß sie in starkem Maße den Stil der gesamten inneren Politik bestimmt.

    (Beifall in der Mitte.)

    Diese Sozialpolitik will nicht nur dazu beitragen, Reste des Klassenkampfgedankens zu beseitigen; sie will vielmehr auch die Forderungen der sozialen Interessengruppen an objektiven Maßstäben und gesamtgesellschaftlichen Zielen orientieren.
    Meine Damen und Herren der Opposition, ich glaube, es ist nicht gut, es ist sachlich unrichtig, wenn Sie den Herrn Bundeskanzler mehrfach in dem Sinne apostrophiert haben, als sei er ein Gegner der Gewerkschaften oder so ähnlich. Ich möchte Ihnen dazu ein sehr freimütiges Wort sagen. Erstens meine ich, wir sollten differenzieren und nicht immer „die Gewerkschaften" sagen. Es gibt sehr viele Gewerkschaften.

    (Beifall in der Mitte.)

    Zweitens möchte ich sagen: wenn irgendwem die Aussage einer gewerkschaftlichen Richtung nicht paßt, dann soll er die Gewerkschaft und den Betreffenden, der die Aussage gemacht hat, beim Namen nennen. Dann wird die Diskussion in diesem Hause sehr viel sachlicher.

    (Beifall in der Mitte. — Zurufe von der SPD.)

    — Verzeihen Sie, ich bemühe mich ja, ein Klima zu schaffen. Nehmen Sie es doch so hin, wie ich es Ihnen sage;

    (fortgesetzte Zurufe von der SPD)

    es ist so ernst gemeint; denn ich glaube, wir brauchen dieses Klima.
    Ich gehe noch einen Gedanken weiter; vielleicht können Sie dem folgen. Wenn wir diesen Gedanken verwirklichen könnten, würden wir, glaube ich, in der innergesellschaftlichen Diskussion ein ganz gewaltiges Stück vorankommen. Die Sozialpolitik, sagte ich, wolle dazu beitragen, Reste von Klassenkampfdenken zu überwinden. Sie will auch die Forderung der sozialen Interessengruppen an objektiven Maßstäben und gesamtgesellschaftlichen Zielen orientieren, wie es wörtlich heißt. Die Methode, dieses Ziel zu erreichen, liegt — ich zitiere wörtlich die Regierungserklärung — im Dialog mit allen sozialen Gruppen.

    (Abg. Ruf: Mit allen!) — Ja, mit allen sozialen Gruppen. (Sehr gut! in der Mitte.)

    Meine Damen und Herren, damit wachsen diese Gruppen aus der Atmosphäre bloßer Interessenvertreter heraus und kommen in den Rang von Partnern, die durch einen regelmäßigeren, häufigeren, umfassenderen und intensiveren Dialog dazu beitragen, ihren Sachverstand nicht nur ihr en Interessen. sondern dem Gemeinwohl dienstbar und nutzbar zu machen.

    (Beifall in der Mitte.)

    Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat vorhin in die Debatte eingegriffen. Der Herr Bundeskanzler hat dabei davon gesprochen, daß schon in der übernächsten Woche Gespräche mit den Sozialpartnern stattfinden, daß also das beginnt, was hier als der Dialog der gesellschaftlichen Gruppen bezeichnet wird. Ich kann doch nur wünschen und bitten, daß sich alle Angesprochenen an diesem Dialog im Interesse aller konstruktiv beteiligen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, Gesellschaftspolitik ist vor allem als eine gestaltende Tätigkeit zu sehen. Die moderne Gesellschaftspolitik hat das Bild von frei verantwortlichen, urteilsfähigen Bürgern eines Staates vor sich, die sich in Überwindung der früheren Klassengegensätze zu einer Leistungsgemeinschaft zusammenfügen, bei denen Wirtschafts- und Sozialverbände Motor eines permanenten Interessenausgleichs unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Wohles sein sollten.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Die Sozialpolitik kann ihre gestaltende Aufgabe nur erfüllen, wenn sie sich als dynamische Sozialpolitik versteht. Das gilt sowohl für die Umgestaltung ihrer klassischen Bereiche, von denen Herr Kollege Schellenberg vorhin gesprochen hat, als auch für die Eröffnung und Gestaltung neuer Bereiche. Aus diesem Geiste setzt die Regierungserklärung des Kanzlers der Gesellschaftspolitik der kommenden Legislaturperiode einen festen Rahmen — nicht mehr, aber, meine Damen und Herren, auch nicht weniger. Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Rahmen zu füllen.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Aus diesem Geiste läßt sie der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik sowie der Politik sozialer Ordnung einen Spielraum, in dem sich konstruktive Auseinandersetzung mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften entfalten kann. Es gab auf Ihrer Seite etwas Gelächter, als der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung von der formierten Gesellschaft sprach. Meine Damen und Herren, ich möchte sagen, es dient der Sache nicht, wenn wir das einfach abtun. Zugegeben, das ist noch nicht ausdiskutiert; aber ein Gedanke, der noch nicht ausdiskutiert ist, ist doch nicht deshalb schon der Lächerlichkeit anheimzugeben, sondern dann sollte man ihn eben diskutieren, so möchte ich wenigstens meinen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP.)

    Meine Damen und Herren, Thilo Koch hat in einer der letzten Ausgaben der „Neuen Rhein-Zeitung", die ja sicherlich Ihnen nahesteht, geschrieben — ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren —:
    Die Formel „formierte Gesellschaft" verdient mehr Beachtung und förderliche Kritik, als bisher laut wurde.
    In einem weiteren Absatz sagt er — —

    (Zuruf von der SPD.)

    320 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965
    Bundesminister Katzer
    — Nein, das, was ich jetzt sage, haben Sie nicht gehört; deshalb möchte ich es hier an das, was der Herr Bundeskanzler gestern dazu gesagt hat, anschließen. Thilo Koch hat also weiter geschrieben:
    Der Begriff sollte nicht als Schlagwort abgetan werden. Gemeinschaft, Gemeinwohl, Gemeinwesen sind die Worte, die die tragenden Gedanken der formierten Gesellschaft, ihre Idee, am besten umschreiben. Erhard hält den Zeitpunkt für gekommen, eine dritte Phase der Industriegesellschaft anzustreben — von der Klassengesellschaft über die soziale Marktwirtschaft hinein in die formierte Gesellschaft.
    Ich habe gelegentlich einer Eigentumsdiskussion hier in diesem Saale einmal gesagt — und ich wiederhole das mit großem Nachdruck —: „Unsere Politik ist nicht zuerst darauf gerichtet, den Lebensstandard zu verdoppeln, wie das einmal gefordert wurde, sondern ich glaube, das erste Ziel unserer Politik sollte darauf gerichtet sein, die sittlichen, kulturellen und geistigen Kräfte unseres Volkes zu stärken und — wenn Sie wollen — zu verdoppeln."

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zustimmung des Abg. Mischnick.)

    Ich glaube, meine Damen und Herren, genau dies ist der Kerngedanke, der die Regierungserklärung des Bundeskanzlers beherrscht. Ich bin der Meinung, diesen konstruktiven, guten Kerngedanken sollte man herausgreifen. Man sollte den Versuch machen, mit dem Begriff der formierten Gesellschaft und mit der Errichtung eines Deutschen Gemeinschaftswerkes ein Leitbild aufzustellen. Dazu, Herr Kollege Heinemann, gibt es naturgemäß sehr viele Fragen, über die wir hier sprechen müssen; denn ohne Sie können wir es ja nicht verwirklichen. Deshalb bitte ich, so zu verfahren, daß wir nicht Gräben ausheben, wo wir im Grunde erst eine Basis der gemeinsamen Diskussion schaffen müssen, wenn wir dieses Ziel gemeinsam erreichen wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dieser gedankliche Entwurf einer neuen gesellschaftlichen Verfassung liegt naturgemäß fernab von jenen Straßen, auf denen die politischen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts bis hinein in unsere Zeit unser Volk politisch und gesellschaftlich in unversöhnliche Gegensätze aufgesplittert haben. Die Demokratie lebt nicht nur aus dem sozialen und wirtschaftlichen Wohlbefinden des einzelnen, unser sozialer Rechtsstaat, der Staat der modernen Industriegesellschaft braucht vor allem das geistige und sittliche Bemühen aller seiner Mitbürger. Wer heute glaubt, mit rein pragmatischen Zielen den Staat von heute auf morgen regieren zu können, dem möchte ich nur empfehlen, einen Blick über die Zonengrenze zu tun. Das sollten wir uns — auch der Ressortminister — stets vor Augen halten, das gesamte Volk, und dafür sorgen, daß wir bei uns die sozialen Verhältnisse so gestalten, daß an dem Tag, den wir alle miteinander herbeisehnen, an dem sich die Deutschen in freien und geheimen Wahlen entscheiden, sie sich aus Überzeugung für unser System
    entscheiden, weil es begründet ist auf Freiheit und
    auf Gerechtigkeit, auf das, was sie drüben suchen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Matthöfer: Das haben wir schon gehört, aber nicht aus Ihrer Partei!)

    — Herr Kollege Matthöfer, ich darf Ihnen glaubhaft versichern

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — lassen Sie mich es doch erklären —: Hier sitzen ein paar Dutzend Freunde, die wissen, daß ich in den letzten zehn, zwölf Jahren kaum eine Rede gehalten habe, wo ich nicht diesen Satz nachdrücklich gesprochen habe, zuletzt auf dem Düsseldorfer Parteitag. Das können Sie in unseren Protokollen nachlesen. Das ist aber nicht nur von mir getan worden, Herr Kollege Matthöfer, sondern von der gesamten christlich-demokratischen Fraktion. Das möchte ich hier einmal nachdrücklich zum Ausdruck gebracht haben.
    Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt diese Bemerkungen abschließen. Es schien mir aber notwendig zu sein, einmal zu versuchen, den Geist darzustellen, in dem ich an meine Arbeit herangehen möchte. Ich glaube, darauf haben Sie ein Recht. Ich habe versucht — ich hoffe, es ist mir gelungen —, darauf eine Antwort zu geben.
    Lassen Sie mich nun auf einige Schwerpunkte der künftigen Politik eingehen.
    Zunächst soziale Sicherung und Eigentum. Die erste Etappe unserer Sozialpolitik war von der Notwendigkeit diktiert, für die Mehrheit unseres Volkes ein wirksames System sozialer Sicherungen zu schaffen. Ohne diese Gemeinschaftsleistung des ganzen Volkes, die wir nicht genug würdigen können, wäre weder der wirtschaftliche Aufbau noch die soziale Befriedung unseres Volkes möglich gewesen. Doch unser Ziel war nicht die Zementierung des Proletariats, sondern der verantwortliche Staatsbürger und damit auf der Grundlage einer ausreichenden sozialen Sicherung die Differenzierung unserer Gesellschaft nach der Leistung des einzelnen. Das bedeutete die Erweiterung der Sozialpolitik zur Gesellschaftspolitik.
    Rentenreform. Herr Kollege Schellenberg, ich vermag in vielen Punkten durchaus konstruktive Ansätze aus dem zu ersehen, was Sie gesagt haben. Aber ich glaube, in dem Augenblick, wo wir uns heute oder morgen in diesem Hause anschicken, die erste Lesung zur 8. Rentennovelle durchzuführen, kann man doch keine falschen Töne in die Debatte hineinbringen. Der soziale Rechtsstaat ist nicht expressis verbis genannt, aber er ist im Grundgesetz verankert; und was dort verankert ist, das braucht man nicht dauernd zu wiederholen, Herr Kollege Schellenberg; das halten wir für eine Selbstverständlichkeit,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    wie wir für jeden den Willen zur Ausgestaltung des sozialen Rechtsstaates für selbstverständlich halten. Wir haben die Rentenreform, die Reform der Unfallversicherung, den Lastenausgleich, um nur Stich-
    Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1965 321
    Bundesminister Katzer
    worte zu nennen. Sie kennzeichnen die zweite Etappe der Sozialpolitik.
    Von entscheidender Bedeutung für die gesellschaftliche Weiterentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme war vor allem auch unsere Eigentumspolitik, die dem Bedürfnis des einzelnen nach sozialer Sicherung ebenso gerecht wird wie dem Bedürfnis nach freier Entfaltung der Persönlichkeit.
    Ich will jetzt hier nicht in der Vergangenheit herumgraben. Ich will nicht wie Sie, Herr Kollege Schellenberg, sagen, was auf Initiative dieser oder jener Fraktion geschehen ist. Ich freue mich vielmehr und möchte meinen Blick in die Zukunft richten und darauf sehen, daß wir für die Zukunft, für die nächsten vier Jahre, die Punkte setzen, die wir uns gemeinsam vornehmen wollen. Wir sind uns doch, so hoffe ich, mittlerweile im ganzen Hause darin einig, meine Damen und Herren: Eigentumslosigkeit bedeutet wirtschaftliche Abhängigkeit und das Bedürfnis verstärkter sozialer Sicherung. Die soziale und wirtschaftliche Selbständigkeit und Selbstverantwortung stärken kann deshalb für uns nur heißen, in breiten Schichten unseres Volkes den Willen zum Eigentum wecken und die Möglichkeiten zur Eigentumsbildung fördern.
    Wir sind diesen Weg gegangen, und ich glaube sagen zu dürfen, mit einem Erfolg, der in seiner strukturellen Bedeutung für die Zukunft weit über das hinausgeht, was in dieser kurzen Zeit quantitativ erreicht werden konnte.
    Für die nächsten vier Jahre kommt es meines Erachtens in diesen Bereichen entscheidend darauf an, dem 312-DM-Gesetz zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen, und bei der in Aussicht genommenen Harmonisierung der Sparförderung sollten wir, möchte ich glauben, darauf achten, daß die haushaltspolitischen Überlegungen, die in diesem Zusammenhang angestellt werden und auch angestellt werden müssen, nicht zu einer Reduzierung des sozial- und gesellschaftspolitischen Inhalts der bisherigen Maßnahmen führen.
    Was die reformerischen, die ergänzenden Maßnahmen zur Verbesserung der klassischen sozialen Leistungssysteme angeht, so haben Sie, Herr Kollege Schellenberg — und wenn ich Opposition wäre, würde ich das vielleicht ähnlich gemacht haben —

    (Hört! Hört! bei der SPD)

    — natürlich, ich kann mich ja auch in die Lage versetzen —, darauf hingewiesen, daß vor uns drei große Problemkreise stehen, die nicht gelöst sind. Wir wissen das alle. Das brauchen wir gar nicht zu verschweigen. Es handelt sich um die Reform der sozialen Krankenversicherung, die Frage der Lohnfortzahlung und die Frage der Öffnung der Rentenversicherung für die Selbständigen, drei Fragen, auf die Sie drei Antworten verlangt haben. Ich werde Ihnen die drei Antworten geben, obwohl ich weiß, daß ich Sie damit nicht befriedigen kann. Aber das ist eben die Sache der Regierung, und das ist ein anderes Geschäft als die Sache der Opposition.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen mit allem Freimut: Ich habe mich auch bei meinen Fraktionsfreunden leidenschaftlich dafür eingesetzt, daß wir die Zeit, die die Sozialenquete noch braucht — und sie braucht, soweit wir die Dinge übersehen können, etwa Zeit bis zur Mitte des nächsten Jahres; diese Zeit ist für uns vorgegeben — als eine Art Denkpause nutzen sollten — ich habe das einmal gesagt und wiederhole das hier —; denn es scheint mir nicht sinnvoll, nun das, was wir acht Jahre diskutiert haben, jetzt mit denselben Vokabeln noch einmal neu zu diskutieren.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich möchte auch, Herr Kollege Schellenberg, nachdrücklich sagen — ich anerkenne, daß Sie zu denen gehören, die die Sozialenquete zu einem früheren Zeitpunkt gefordert haben; jawohl, das anerkenne ich; ich spreche nicht nach rückwärts, ich spreche nach vorwärts, damit hier kein Mißverständnis entsteht, und ich füge jetzt diesen Satz hinzu —: es ist doch, glaube ich, nicht denkbar, daß man eine Sozialenquete-Kommission an die Arbeit gehen läßt, zur gleichen Zeit aber hingeht und sagt: Was die an Ergebnissen bringt, soll uns nicht so schrecklich viel interessieren, warten wir gar nicht erst ab, sondern wir machen hier jetzt schon im vorhinein Gesetzgebungswerke! Nein, meine Damen und Herren, ich glaube, das ist nicht möglich und nicht denkbar. Ich möchte deshalb nachdrücklich die Auffassung vertreten: wir werden das Ergebnis der SozialenqueteKommission abwarten, wir werden es sorgfältig analysieren und dann unsere politischen Entscheidungen hier in diesem Hause zu treffen haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)