Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD betr. Verwaltungsrat der Lastenausgleichsbank
Widerspruch erfolgt nicht; damit ist der Punkt auf die Tagesordnung gesetzt.
Ich _glaube, wir können diesen Punkt auch gleich verabschieden. — Gegen die Verabschiedung wird kein Widerspruch eingelegt. Das Haus ist einverstanden; es ist so beschlossen.
Nach einer Mitteilung des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses muß das Verkehrssicherstellungsgesetz in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. — Das Haus ist auch damit einverstanden; es ist so beschlossen.
Der Vorsitzende des Ausschusses für Inneres hat mit Schreiben vom 20. Mai darum gebeten, Punkt 13 der heutigen Tagesordnung — zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Erkennungsmarkengesetzes — abzusetzen, da die Vorlage nochmals im Ausschuß behandelt werden muß. Zu diesem Zweck müßte allerdings die Rückverweisung an den Ausschuß beschlossen werden. Ich nehme an, daß das Haus mit der Absetzung von der heutigen Tagesordnung und mit der Rückverweisung an den zuständigen Ausschuß einverstanden ist. — Es ist so beschlossen.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 23. Februar 1962 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Einundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz — Drucksache IV, 3432 —an den Außenhandelsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 23. Juni 1965
Vierundzwanzigste Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1965 — Drucksache IV/3431 —
an den Außenhandelsausschuß mit der Bitte um fristgemäße Behandlung.
Zu den in der Fragestunde der 184. Sitzung des Deutschen Bundestages am 19. Mai 1965 gestellten Fragen des Abgeordneten Dr. Müller-Emmert Nrn. VII/3 und VII/4 ist inzwischen die schriftliche Antwort des Bundesministers Dr. Dahlgrün vom 19. Mai 1965 eingegangen. Sie lautet:
Zu Frage VII/3:
Nach den mir vom Amt für Verteidigungslasten Frankfurt/M. übermittelten Angaben ist der Stand der Abwicklung der Entschädigungsfälle wie folgt:
Von den deutschen Behörden wurden
2237 Schadensfälle mit Entschädigungsvorschlägen über rd. 3,6 Mio DM
den amerikanischen Streitkräften zur Entscheidung vorgelegt. Etwa 500 Schadensfälle sind noch von den deutschen Behörden zu erledigen.
Die amerikanischen Streitkräfte haben in
579 Schadensfällen Entschädigungen in Höhe von rd. 465 000,— DM
gewährt.
Zu Frage VII/4:
Zu der in Ihrer zweiten Frage enthaltenen Anregung darf ich bemerken, daß der Bund bislang bei Entschädigungen, welche die ausländischen Streitkräfte selbst zu leisten haben, aus grundsätzlichen Erwägungen nicht in Vorlage getreten ist. In Anbetracht der besonderen Umstände des Brandaris-Komplexes habe ich jedoch veranlaßt zu prüfen, ob nicht wenigstens in besonderen Härtefällen Ihrer Anregung in geeigneter Weise entsprochen werden kann.
Von dem Ergebnis der Prüfung werde ich Sie unterrichten.
Wir kommen damit zu Punkt 1:
Fragestunde
Zuerst rufe ich die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf, und zwar beginnen wir mit der Frage VIII/1 — des Herrn Abgeordneten Paul —:
Sind die Zeitungsberichte zutreffend, daß der Bundeskanzler am 10. Mai 1965 vor der Aktionsgemeinschaft „Soziale Marktwirtschaft" eine heftige Kritik an der Zusammensetzung der Ausschüsse im Deutschen Bundestag geübt und von einer „Addition von Gruppeninteressen im Parlament" gesprochen hat?
Bitte sehr, Herr Bundesminister!
Die Frage beantworte ich für den Herrn Bundeskanzler wie folgt.Der Herr Bundeskanzler hat sich 'in seinen Ausführungen anläßlich der Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 10./11. Mai 1965 mit dem Überhandnehmen von Interessentenanforderungen kritisch auseinandergesetzt und auf die Gefahr hingewiesen, die für die Gesellschaft darausentstehen könne. Er hat damit ein heute viel diskutiertes Problem angesprochen und dabei besonders
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Bundesminister Schmückerbedauert, daß auch einige Parlamentarier die Dinge zu sehr aus der Sicht ihres Berufsstandes heraus beurteilen und sich damit zum Sprecher von Gruppen machen. Der Herr Bundeskanzler hat in diesem Zusammenhang zu bedenken gegeben, daß bei aller Notwendigkeit, das Fachwissen ausreichend heranzuziehen, die Zusammensetzung der Ausschüsse nicht zu einseitigen Beschlüssen führen dürfe; denn eine Addition von Gruppeninteressen im Parlament müsse vermieden werden.Dem Herrn Bundeskanzler ging es bei seinen Ausführungen nicht um die Kritik, sondern um die Mahnung, nicht vorwiegend die Interessen bestimmter Gruppen des Volkes 2u vertreten, sondern sich jederzeit der Verpflichtung dem ganzen Volke gegenüber bewußt zu ,sein, so wie es bekanntlich in Art. 38 desGrundgesetzes festgelegt ist.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Paul.
Herr Bundesminister, wäre es nicht sinnvoller gewesen, wenn der Herr Bundeskanzler diese seine Auffassung vor dem Bundestag oder, was vielleicht noch zweckmäßiger gewesen wäre, vor den einzelnen Fraktionen des Bundestages, insbesondere den ihm befreundeten Fraktionen, vertreten hätte?
Herr Kollege Paul, mir ist zwar das Datum nicht geläufig; ich kann aber aus ,der Erinnerung dochsagen, daß der Herr Bundeskanzler dieses Problem im Plenum häufig angesprochen hat. Es ist auch richtig, daß man Fragen, die hier im Hause 'diskutiert werden, ebenfalls draußen in anderen Gremien behandelt.
Sind Sie der Meinung, Herr Bundesminister — Sie haben Idle Frage auch selber angeschnitten —, daß ein Parlament, das vom Volk gewählt ist, in den Ausschüssen — gegenüber den Fachleuten der Ministerien — mit Nichtfachleuten sitzen soll?
Herr Kollege Paul, ich sehe in der Politik nicht die Summe von Fachwissen, sondern eben che Notwendigkeit, über das Fachwissen hinaus eine politische Entscheidung zu fällen. Der Herr Bundeskanzler hat selber darauf hingewiesen, daß natürlich das Fachwissen ausreichend herangezogen werden muß. Aber wir sind nicht eine Ständeversammlung, sondern ein politisches Parlament. Ich glaube, dorthin sollten wir auch das Schwergewicht legen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Berkhan.
Herr Bundesminister, können Sie uns Auskunft darüber geben, an welche Gruppen der Herr Bundeskanzler gedacht hat, ,die hier im Parlament ihr Interesse addiert haben sollen?
Nein. Ich glaube, .Sie brauchen nur die Rede nachzulesen. Dort ist angedeutet, an wen der Herr Bundeskanzler gedacht hat.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Berkhan.
Herr Bundesminister, würden Sie mir meine Arbeit erleichtern und mir die Gruppen hier nennen?
Herr Kollege, ich will Ihnen gern die Arbeit erleichtern. Ich glaube, das ist ein Problem, das uns alle in allen Berufen angeht. Hier gibt es keine Ausnahme für irgendwen.
Wir kommen zur Frage VIII/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Kohut —:
Wie lange will die Bundesregierung die durch das Röhrenembargo geschädigten Firmen auf die Erfüllung ihrer berechtigten Entschadigungsansprüche noch warten lassen?
Herr Bundesminister, darf ich bitten!
Herr Abgeordneter Dr. Kohut, Sie haben in Ihrer Frage eine Behauptung aufgestellt, der ich zunächst widersprechen muß. Ich tue das nicht nur, weil es der Einzelfall erfordert, sondern weil ich meine, daß grundsätzlich Fragen der Fragestunde keine Unterstellungen enthalten dürfen. Sie unterstellen die Berechtigung von Entschädigungsansprüchen im Zusammenhang mit dem Großrohrembargo vom Herbst 1962. Die Bundesregierung hat in keiner Form das Bestehen derartiger Ansprüche anerkannt. Es ist über das Entschädigungsverlangen der betroffenen Röhrenhersteller, der drei Konzerne, ausführlich diskutiert worden. Das Ergebnis dieser Erörterungen ist: die Bundesregierung erkennt die Berechtigung des Petitums nicht an. Das ist auch den Konzernen bekannt.
Zum besseren Verständnis der Situation möchte ich darauf hinweisen, daß es sich hier für die Bundesregierung nicht um eine Frage, sagen wir, nur des guten Willens handelt. Mit der Anerkennung einer Entschädigungspflicht des Bundes gegenüber den Röhrenherstellern würde weit über den Einzelfall hinaus ein für die Anwendung des Außenwirtschaftsgesetzes höchst wichtiges Präjudiz geschaffen. Auch darüber ist mit den Vertretern der Konzerne in aller Offenheit gesprochen worden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Kohut.
Hält es die Bundesregierung nicht für selbstverständlich, daß ein Industriezweig, der durch plötzliche unvorgesehene politische Maßnahmen des Parlaments geschädigt wird, für den Schaden, den er erlitten hat, entsprechenden Ersatz bekommt?
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Verzeihen Sie, Herr Kollege. Ich muß dann wieder an die Debatte erinnern: Im Außenwirtschaftsgesetz ist festgelegt, daß diese Eingriffsmöglichkeit des Parlaments besteht. Das heißt für den Unternehmer: er muß mit dieser Möglichkeit rechnen; insofern ist sie nicht unvorhergesehen. Da Sie das als Grundlage Ihrer Frage benutzt haben, entfällt nach meiner Meinung der zweite Teil, denn die Grundlage ist nicht richtig.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Kohut.
Ist nicht in aller Offentlichkeit deutlich geworden, daß dieser Beschluß des Parlaments .nur durch den taktischen Auszug einer Partei hier im Parlament zustande gekommen ist, also ein reines Zufallsergebnis ist?
Es steht mir nicht zu, das Zustandekommen von Parlamentsmehrheiten zu werten. Ich glaube, ein rechtlicher Einwand gegen das Zustandekommen dieses Beschlusses ist nicht möglich.
Ich rufe auf die Fragen VIII/3 und VIII/4 — des Herrn Abgeordneten Seibert —:
Treffen Vermutungen zu, denen zufolge der Bundeswirtschaftsminister am 28. April 1965 den Vertretern von Großunternehmen des Einzelhandels im Wettbewerb mit dem mittelständischen Handel eine Selbstbeschränkung nahegelegt haben soll?
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß eine Selbstbeschränkung wie in Frage VIII/3 bezeichnet und ein Verzicht auf — von der Kostenlage rationeller Verteilerbetriebe aus betrachtet — mögliche Preissenkungen die Gefahr in sich bergen, das Warenangebot zu verteuern bzw. Verbilligungen zu verhindern?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Die Fragen VIII/5 und VIII/6 sind vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Die Fragen III/1 und III/2 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen sind vom Fragesteller zurückgestellt.
Damit kommen wir zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern, zunächst zur Frage V/1 — des Herrn Abgeordneten Jahn —:
Ist die Bundesregierung nunmehr bereit, meine Frage zu beantworten, ob sie willens ist, im Entwurf des Vierten Gesetzes zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften eine Änderung des § 53 Abs. 2 Bundesbesoldungsgesetz dahin vorzuschlagen, daß Richter in der Eingangsgruppe ihrer Laufbahn bereits von der 6. Dienstaltersstufe an das Grundgehalt der Besoldungsgruppe A 14 erhalten können?
Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird dann schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe auf die Frage V/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Kempfler —:
Hat die Bundesregierung schon darüber Erwägungen angestellt, ob die Tatsache der erhöhten Lebenserwartung und der gesteigerten Leistungsfähigkeit im Alter nicht Konsequenzen in der Beamtengesetzgebung, namentlich hinsichtlich der Festsetzung dei Altersgrenzen haben muß?
Die Frage wird von Herrn Abgeordneten Hübner übernommen. Herr Bundesminister, ich darf bitten.
Die Anregung ist außerordentlich interessant. Trotzdem glaubt die Bundesregierung ihr nicht entsprechen zu können, und zwar aus folgenden Gründen. Die Lebenserwartung hat sich zweifellos erhöht. In der letzten Zeit hat sich aber herausgestellt, daß gerade bei den Männern über 50 Jahre die Sterblichkeit nicht unerheblich angestiegen ist. Im übrigen müssen im Tarifbereich wie im Besoldungsbereich die Grenzen der Pensionierung ungefähr dieselben sein. Angesichts der allgemeinen Tendenz im Tarifbereich glaube ich nicht, daß eine solche Übereinstimmung freiwillig zu erzielen wäre. Im übrigen sind auch die Zahlen über die vorzeitige Erwerbsminderung nicht unbedenklich.
Eine Zusatzfrage!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, lassen Ihre Ausführungen nicht den Schluß zu, daß dann die in § 41 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes getroffene Regelung, wonach Verlängerungen über das 65. Lebensjahr hinaus von Jahr zu Jahr bis zum 70. Lebensjahr vorgenommen werden können, ebenfalls ihre Existenzberechtigung verloren hat?
Nein. Diese Verlängerungen sind individueller Natur und ereignen sich immer wieder. Ich halte sie auch für berechtigt. Gerade in diesem Bereich ist die individuelle Entwicklung naturgemäß ganz besonders praktisch.
Eine zweite Zusatzfrage!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, sehen Sie nicht in diesen Regelungen einen Sperriegel gegen den Aufstieg verdienter Spezialisten, die dadurch gehindert werden, in Stellen nachzurücken, weil ihnen Kräfte, die das 65. Lebensjahr schon passiert haben, die Posten wegnehmen?
Das sind durchweg Ausnahmen.
Die Frage V/3 — des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen — ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.Ich rufe dann auf die Frage V/4 — des Herrn Abgeordneten Kahn-Ackermann —:Ist die Bundesregierung bereit, bei von der deutschen UNESCO-Kommission auszusprechenden Einladungen an Angehörige osteuropäischer Länder die langwierigen Visaprozeduren durch ein vereinfachtes Verfahren abzukürzen?Sie wird von Frau Geisendörfer übernommen.
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Von „langwierigen Visaprozeduren" kann nicht mehr die Rede sein, weil die Bearbeitungszeit auf 14 Tage verringert worden ist. Im internationalen Vergleich ist das eine sehr kurze Bearbeitungszeit.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Geisendörfer!
Herr Bundesminister, da die Frage auf Grund tatsächlicher Ereignisse gestellt worden ist, möchte ich fragen: darf ich Ihre Antwort so interpretieren, daß der Kulturaustausch durch die deutsche UNESCO-Kommission in Zukunft erleichtert werden soll und durch diese neuen Bestimmungen nicht mehr erschwert und belastet wird?
Ich möchte sagen: über das schon erreichte Maß hinaus erleichtert werden soll.
Ich rufe auf die Frage V/5 — des Herrn Abgeordneten Dröscher —:
Wann können die Familien der Wehrpflichtigen, die zur Zeit ihren Grundwehrdienst leisten, mit der seit langem in Aussicht gestellten Erhöhung der Sätze des Unterhaltssicherungsgesetzes rechnen?
Bitte, Herr Bundesminister!
Das Bundesinnenministerium hat an das Verteidigungsministerium, mit dem es gemeinsam federführend ist, eine Vorlage geschickt. Es sind aber so viele Fragen über Pauschalierungen und sonstige Änderungen entstanden, daß bisher keine Einigung erzielt werden konnte, die vorlagereif wäre.
Eine Zusatzfrage!
Herr Bundesminister, erkennen Sie an, daß der Zustand für Tausende von Familien von Wehrpflichtigen, welche jetzt seit vier Jahren auf die gleichen Sätze angewiesen sind, die insbesondere in der unteren Stufe außerordentlich niedrig sind, unerträglich wird, wenn nicht bald etwas geschieht?
Das ergibt sich aus der Vorlage des Innenministeriums.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dröscher.
Bis wann, glauben Sie, Herr Bundesinnenminister, wird dieses Ziel erreicht sein?
Ich kann keinen genauen Zeitpunkt angeben weil die Mitentscheidung in einem anderen Hause liegt. Ich werde aber alles tun, um die Dinge zu beschleunigen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Börner.
Nachdem dieser Fragenkomplex das Hohe Haus schon mehrfach beschäftigt hat, frage ich Sie: Würden Sie mit mir darin übereinstimmen, daß es gerade im Hinblick auf die baldige Erhöhung des Wehrsolds sinnvoll wäre, beide Gesetzgebungswerke synchron zu verabschieden, weil sie den gleichen Personenkreis betreffen?
Ich stimme Ihnen zu.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Börner.
Würden Sie sich im Kabinett dafür einsetzen, daß die Vorlage möglichst innerhalb der nächsten 14 Tage an den Bundestag geht, weil sonst die Verabschiedung vor Ende der Legislaturperiode gefährdet sein könnte?
Was von meiner Seite aus geschehen kann, wird geschehen.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz, zuerst zur Frage VI/1 — des Abgeordneten Dr. Bucher —:
Trifft es zu, daß in dem Falle des am 27. November 1947 vom Schwurgericht Lindau wegen Mordes zu Zuchthaus und Sicherungsverwahrung verurteilten Johann Lettenbauer die Polizeibehörde von Eitorf am 9. Januar 1950 in einem Schreiben die Kriminalpolizei in Lindau darauf hingewiesen hat, daß für jenen Mord zwei andere Personen als Täter in Frage kommen?
Sie wird übernommen von dem Abgeordneten Dürr. Herr Bundesminister, darf ich bitten!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie mir das Bayerische Staatsministerium der Justiz mitgeteilt hat, trifft es zu, daß die Polizeibehörde in Eitorf mit Schreiben vom 9. Januar 1950 den Polizeibehörden in Lindau, Konstanz, Ludwigshafen und Friedrichshafen mitgeteilt hat, nach vertraulicher Mitteilung seien der Gärtner Junge und der Arbeiter Schwall verdächtig, in den Jahren 1945 oder 1947 in der Gegend am Bodensee ein Kapitalverbrechen verübt zu haben, bei welchem eine Frau und ein Kind mit einem Beil und mit einer Flasche erschlagen worden seien.
Die Kriminalpolizei in Lindau gab die Mitteilung an das Kriminalpolizeikommissariat in Ravensburg ab, das den Fall im Jahre 1947 bearbeitet hatte. Diese Behörde teilte der Kriminalpolizei in Eitorf mit Schreiben vom 1. Februar 1950 mit, der Fall sei geklärt, der Täter hatbe ein umfassendes Geständnis abgelegt und sei inzwischen abgeurteilt worden.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode. — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 9285
Wir kommen zu r Frage VI/2 — des Abgeordneten Dr. Bucher —:
Treffen Pressemeldungen zu, daß die Beamten der Kriminalpolizei in Eitorf von der Staatsanwaltschaft in Kempten zum Stillschweigen über die in Frage VI/1 erwähnten und die damit zusammenhängenden Vorgänge verpflichtet worden sind?
Sie wird ebenfalls von Herrn Abgeordneten Dürr übernommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die von Ihnen angeführten Pressemeldungen treffen nach Mitteilung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz nicht zu.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dürr.
Herr Minister, wären solche Schweigegebote, wenn es sie je gegeben hätte oder wenn sie in anderen Fällen ergehen würden, überhaupt von irgendeiner Rechtsnorm gedeckt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie wissen, unter welchen Umständen die Behörden ein Schweigegebot verhängen können. Das könnte geschehen, wenn das öffentliche Wohl gefährdet wäre und dergleichen Umstände vorliegen; sonst nach meiner Meinung selbstverständlich nicht.
Wir kommen zur Frage VI/3 — des Abgeordneten Fritsch :
Hält die Bundesregierung den Begriff des Armenrechts noch für zeitgerecht?
Bitte sehr, Herr Bundesminister!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bezeichnung „Armenrecht" entstammt der Zivilprozeßordnung vom Jahre 1877. Auf Grund einer Verwaltungsanordnung vom 22. August 1944 und des § 8 der Zweiten Kriegsmaßnahmenverordnung wurde vorübergehend der Ausdruck „einstweilige Kostenbefreiung" verwendet.
Bei der Neufassung der Zivilprozeßordnung durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz von 1950 wurde diese Bezeichnung aber nicht übernommen, weil sie die gewährten Vergünstigungen nur unvollkommen erfaßte und eine andere, passendere Bezeichnung nicht gefunden werden konnte.
Nach meiner persönlichen Erinnerung haben darüber damals im Rechtsausschuß eingehende Debatten stattgefunden. Eine andere Lösung wurde aber, wie gesagt, nicht gefunden. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Bezeichnung „Armenrecht" nach Möglichkeit durch eine bessere ersetzt werden sollte. Sie wird im Rahmen der zur Zeit noch laufenden Arbeiten an einer Reform der Zivilprozeßordnung, die auch das bisherige Armenrecht umfassen werden, um eine zeitgemäße Bezeichnung bemüht sein.
Herr Abgeordneter Fritsch!
Herr Minister, dann ist es also Ihre Auffassung, daß die Bezeichnung „Armenrecht" eine Diskriminierung des Rechtsuchenden darstellt und alsbald durch einen anderen Begriff ersetzt werden sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bezeichnung ist, wie ich gesagt habe, nicht mehr zeit-' gemäß und soll durch eine bessere Bezeichnung ersetzt werden.
Ich komme zu der von dem Abgeordneten Dr. Wuermeling gestellten Frage VI/4, die von dem Abgeordneten Bausch übernommen wird:
Welches Ergebnis hatte die vom Bundesjustizminister in der Fragestunde am 6. Mai zugesagte Fühlungnahme mit Bundesminister Dr. Mende betr. Abgabe einer fairen Erklärung zu der Meldung der Rheinzeitung vom 3./4. April, derzufolge der Bundestag bei seinem Beschluß zur Verjährung der nationalsozialistischen Mordtaten unter dem Druck oder Eindruck innerer und äußerer Pressionen gehandelt habe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe entsprechend meiner Zusage in der Fragestunde vom 6. Mai mit Herrn Bundesminister Dr. Mende gesprochen. Er hat mir dabei bestätigt, daß ich in der letzten Fragestunde seine Ausführungen durchaus zutreffend interpretiert habe. Eine weitere Erklärung hält Herr Bundesminister Dr. Mende nicht mehr für notwendig, nachdem die von mir gegebene Sachdarstellung durch die Beantwortung in der Fragestunde eine so weite Verbreitung gefunden hat, wie es bei einer persönlichen Berichtigungserklärung nicht der Fall sein würde. Außerdem ist die Auskunft, die ich in der Fragestunde vorn 6. Mai gegeben habe, auch in der „Rheinzeitung", in der ja die ursprüngliche Veröffentlichung stattgefunden hatte, am 7. Mai auf Seite 2 veröffentlicht und damit dem in Frage kommenden Leserkreis zur Kenntnis gebracht worden, und zwar in einem weiteren Umfang, als das bei der ursprünglichen Zeitungsnotiz der Fall gewesen ist.
Ich komme zu der von dem Abgeordneten Dr. Wuermeling gestellten Frage VI/5:
Hat Bundesminister Dr. Mende sein Einverständnis dazu gegeben, daß das Tonband der Aufnahme seiner Ausführungen zu dem in Frage VI/4 berührten Punkt einschließlich der „enthusiastischen" Beifallskundgebungen zur Vorführung in einem Bundestagsausschuß zur Verfügung gestellt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe die Bitte des Herrn Kollegen Wuermeling entsprechend meiner Zusage an Herrn Bundesminister Mende weitergeleitet. Dieser bemerkt dazu, daß es mit der Stellung, die das Grundgesetz den politischen Parteien einräumt, wohl nicht vereinbar wäre, wenn er diesem Wunsch entspräche. Herr Bundesminister Dr. Mende hat hinzugefügt, selbstverständlich entspreche die Tonbandaufnahme dem mir zur Verfügung gestellten Text, und er halte es für ungewöhnlich, daß die Übereinstimmung von Text und Tonbandaufnahme offenbar angezweifelt werde.
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9286 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Ich rufe die von dem Abgeordneten Dr. Wuermeling gestellte Frage VI/6 auf:
Warum hat Bundesminister Dr. Mende nicht sofort nach Kenntnis des Berichtes der Rheinzeitung vom 3./4. April eine Berichtigung an die Rheinzeitung gesandt, nachdem er festgestellt hatte, daß mindestens die in der Rheinzeitung wiedergegebene Fassung seiner Ausführungen nicht nur „die Zusammenarbeit im Kabinett gefährden" muß, sondern auch „das Ansehen demokratischer Einrichtungen zu mindern" geeignet ist, wie der Bundesjustizminister in der Fragestunde am 6. Mai formuliert hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Hiermit greifen Sie wiederum eine Frage auf, die damals von mir schon als Zusatzfrage beantwortet worden war. Ich habe dem, was ich in der Beantwortung dieser Zusatzfrage in der letzten Fragestunde bereits gesagt habe, nichts mehr hinzuzufügen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dürr!
Herr Minister, teilen Sie meine Ansicht, daß eine Äußerung vor diesem Hohen Hause weiter verbreitet wird und weitaus wichtiger ist als ein kleines Berichtigungsschreiben an irgendeine Zeitung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe das in meiner Antwort auf die erste Frage bereits erklärt.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister.
Wir stehen damit am Ende der Fragestunde.
Ich rufe nunmehr den als nächstes zu behandelnden Punkt 11 der gemeinsamen Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schlußtermins für den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und über weitere Maßnahmen auf dem Gebiete des Mietpreisrechts ..
Das Wort zur Begründung des Gesetzentwurfs hat der Herr Bundesminister für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor fast fünf Jahren hat das Hohe Haus das Gesetz über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und über ein soziales Miet- und Wohnrecht beschlossen. - Wie Sie wissen, ist das Ziel dieses Gesetzentwurfs, die fast fünfzig Jahre währende Zwangswirtschaft auf dem Gebiete des Wohnungswesens nach einem ausgewogenen Stufenplan mit allen notwendigen sozialen Sicherungen abzubauen. Dank der seit Jahren anhaltenden hohen Leistungen im Wohnungsbau ist dieses Ziel in 462 von 566 Stadt- und Landkreisen bereits erreicht. In weiteren 50 Stadt- und Landkreisen sollen am 1. Juli dieses Jahres die zwangswirtschaftlichen Bindungen durch Rechtsverordnungen der Landesregierungen aufgehoben werden.Als Schlußtermin für die Überführung des Wohnungsbestandes in die soziale Marktwirtschaft hatten Sie, meine Damen und Herren, im Jahre 1960 den 31. Dezember 1965 festgelegt. Dieser Beschluß des Hohen Hauses ging von der Annahme aus, daß zu diesem Zeitpunkt der Wohnungsfehlbestand überall im gesamten Bundesgebiet im wesentlichen beseitigt sein würde. Gewiß hat die Wohnungsnot, die nach der Ihnen bekannten Defizitberechnung ermittelt wird, auch in den sogenannten Verdichtungsräumen in den letzten Jahren spürbar abgenommen. Ich darf daran erinnern, daß allein im letzten Jahre 623 000 Wohnungen gebaut wurden und damit seit Gründung der Bundesrepublik 81/2 Millionen Wohnungen neu geschaffen worden sind. Das ist sicherlich — darüber sollten keine Meinungsverschiedenheiten bestehen und bestehen wohl auch keine —eine in der Welt einmalige Gemeinschaftsleistung von Bund, Ländern, Gemeinden, Wohnungsunternehmen und allen am Wohnungsbau Beteiligten. Ich möchte von mir aus bei dieser Gelegenheit vor allem den Bauarbeitern dafür den Dank aussprechen, daß sie auch bereits im Winter dabei sind, dieses große Aufbauwerk zu vollbringen.Trotz dieser hohen Bauleistung ist jedoch vorauszusehen, daß das sogenannte rechnerische Wohnungsdefizit in einigen großstädtischen Verdichtungsräumen sowie in einigen kleineren Stadt- und Landkreisen am 31. Dezember 1965 noch nicht unter 3 O/o abgesunken sein wird. Das hängt einmal damit zusammen, daß sich die Wanderungsbewegung in unserem Vaterland in verschiedenen Industriezentren unterschiedlich dm Tempo und in der Konzentration vollzieht. Ich erinnere z. B. an die anhaltend starke Zuwanderung in die Stadt München mit jährlich 20 000 bis 35 000 Menschen. Es hängt zum anderen aber auch damit zusammen, daß die dringend notwendigen Raumordnungsmaßnahmen nur langsam vorwärtskommen konnten. Erst im letzten Monat konnte das Bundesraumordnungsgesetz verabschiedet werden.Schließlich forderten die für das Bau- und Wohnung swesen zuständigen Länderminister in diesem Zusammenhang bereits im letzten Herbst einstimmig eine Verschiebung des Schlußtermins, und zwar um drei Jahre. Nach eingehender Überprüfung hat die Bundesregierung daher mit Drucksache IV/3199 dem Hohen Hause einen Gesetzentwurf zur Verschiebung des Schlußtermins um zwei Jahre vorgelegt. Der Bundesrat hat beim ersten Durchgang gegen den Entwurf keinerlei Einwendungen erhoben.Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß eine Verschiebung deis Endtermins um 'zwei Jahre ausreicht. Angesichts der hohen Bautätigkeit kann erwartet werden, daß bis zum Jahresschluß 1965 weitere 25 bis 30 Kreise in ihrem rechnerischen Wohnungsdefizit unter die 3-%-Grenze sinken werden. Es bleibendamit noch rund 25 bis 30 Stadt- und Landkreise übrig. Unter ihnen befinden sich allerdings die Großstädte Hamburg, München, Stuttgart, Hannover, Bonn und einige Stadt- und Landkreise, bei denen das ,auch zutreffen wird.Durch die Verschiebung des Schlußtermins um zwei Jahre kann mit an Sicherheit grenzender Wahr-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 9287
Bundesminister Lückescheinlichkeit angenommen werden, daß auch hier das Wohnungsdefizit beseitigt werden wird. Die beste Gewähr dafür ist die anhaltend hohe Bauleistung, die für das Baujahr 1965, also für das laufende Jahr, mit über 550 000 Wohnungen angegeben wird und für 1966 und 1967 bereits jetzt mit mehr als 500 000 Wohnungen als gesichert angesehen werden kann.Verschiebung deis Schlußtermins um zwei Jahre bedeutet für die nach dem 31. Dezember 1965 noch „schwarz" verbleibenden Kreise, daß dort sowohl die Preisbindung für preisgebundenen Wohnraum als auch die Wohnraumbewirtschaftung und derbisherige Mieterschutz bis längstens 31. Dezember 1967 bestehenbleiben wird. Das 'bedeutet aber nicht, daß die restlichen Kreise ausnahmslos erst Ende 1967 aus der Zwangsbewirtschaftung entlassen werden. Vielmehr bleibt es auch weiterhin bei den Grundregeln des Abbaugesetzes. In der Zeit von 1965 bis 1967 werden also jeweils am 1. Juli durch Rechtsverordnungen der Landesregierungen — wie das bisher schon geschieht —die kreisfreien Städte und Landkreise zu „weißen" Kreisen erklärt, in denen am 31. Dezember des vorhergegangenen Jahres .das rechnerische Defizit unter 3 % liegt.Unter diesen Umständen, meine Damen und Herren, darf die Frage 'der Wirtschaftlichkeit des Hausbesitzes nicht außer facht gelassen werden. Es liegt ebenso im Interesse der Mieter wie auch der Vermieter, daß in den „schwarzen" Kreisen die notwendigen Reparaturen durchgeführt werden können. Die Bundesregierung schlägt deshalb in ihrer Gesetzesvorlage vor, in den noch in der Zwangswirtschaft verbleibenden Kreisen für den preisgebundenen Altwohnraum und die nach dem Ersten Wohnungsbaugesetz preisgebundenen Sozialwohnungen eine Mieterhöhung ab 1. Januar 1966 zuzulassen. Sie wäre ohnehin eingetreten, wenn der Schlußtermin nicht hinausgeschoben worden wäre. Entsprechend ist für Altbauwohnungen eine Erhöhung der Miete bis zu den Mietsätzen der sogenannten Angemessenheitsverordnung vorgesehen. Die Mieten entsprechen den Beträgen, die die Vermieter in den bereits „weißen" Kreisen schon jetzt fordern können. Eine solche begrenzte Mietanhebung ist ebenso notwendig wie sachlich 'berechtigt.Das gleiche gilt für die Sozialwohnungen des Ersten Wohnungsbaugesetzes, .die 'im Gegensatz zu den Sozialwohnungen des Zweiten Wohnungsbaugesetzes noch keine sogenannte kostendeckende Miete erzielen. Für diese Wohnungen soll nach dem Vorschlag der Bundesregierung eine Erhöhung der Richtsatzmiete bis zur Kostenmiete, höchstens jedoch eine Erhöhung um 25 % der zuletzt preisrechtlich zugelassenen Einzelmiete, ab 1. Januar 1966 zugelassen werden. Auch nach dieser Anpassung der Richtsatzmieten für die älteren und damals besonders preisgünstig ferrichteten Sozialwohnungen an die Kostenmiete bleiben diese immer noch erheblich unter den vergleichbaren Mieten für Sozialwohnungen des Zweiten Wohnungsbaugesetzes.Hier möchte ich klarstellen, daß es eine Marktmiete, also eine freie Marktmiete für öffentlich geförderte Sozialwohnungen, auch künftighin nicht geben wird. Die 4 Millionen öffentlich geförderten Wohnungen bleiben an die kostendeckende Miete gebunden und üben damit ihre preisregulierende Wirkung im Wohnungsmarkt aus.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einige Worte über die allgemeine Wohnungssituation in unserem Lande sagen. Ich tue dies, weil immer und immer wieder Sorgen laut werden wegen der Folgen, die der Wegfall der überholten zwangswirtschaftlichen Bindungen haben könnte. Ich denke dabei sowohl an die kritischen Stimmen, die aus echter sozialer Verantwortung laut geworden sind, als auch an die, bei denen ich das nach manchen Erfahrungen bezweifeln muß. Diese Befürchtungen sind nicht begründet. Ich habe die Entwicklung in den vergangenen fünf Jahren, besonders seit Beginn des Wegfalls der Mietpreisbindungen und des überholten starren Mieterschutzes aus der Notzeit der Kriege, sehr sorgsam verfolgt. Von wenigen Fällen abgesehen hat sich der bisher erfolgte Übergang in die soziale Marktwirtschaft im wesentlichen reibungslos und ohne soziale Störungen vollzogen. Das von mir angestrebte Partnerschaftsverhältnis von Mietern und Vermietern setzt sich immer mehr durch. Die jährlichen Rekordleistungen im Wohnungsbau erleichtern diesen Prozeß.Echte Sorgen um sozial nicht vertretbare Auswirkungen des Abbaus der Wohnungszwangswirtschaft wären berechtigt, wenn mit dem Augenblick des Abbaus der überholten Bindungen der Wohnungsbau von heute auf morgen aufhörte und der Staat beabsichtigte, sich um das Wohnen seiner Bürger in Zukunft überhaupt nicht mehr zu kümmern. Das ist nicht der Fall. Es hat sich gezeigt, daß über 50 °/o der neu errichteten Wohnungen in „weißen" Kreisen gebaut worden sind. Sie alle aber wissen, daß weder das eine noch das andere der Fall ist. Erst vor wenigen Monaten haben alle Fraktionen dieses Hohen Hauses einstimmig das Wohngeldgesetz 'beschlossen. Sein Ziel ist, allen Menschen, vor allem den einkommensschwachen und kinderreichen Familien und denen, die unverschuldet in Not geraten sind, ein Wohnen und auch den Besitz an Eigentum wirtschaftlich zu ermöglichen.Ich sehe in diesem gesellschaftspolitisch so wichtigen Gesetzeswerk den Ausdruck des echten Willens, im Rahmen unserer freiheitlichen Wirtschafts-und Sozialordnung jeder Familie und jedem Alleinstehenden den notwendigen Wohnraum wirtschaftlich zu sichern.Ich darf weiter auf das dem Hohen Hause vorliegende Wohnungsbauänderungsgesetz 1965 hinweisen. Dieses Gesetz wird für die kommenden Jahre die Fortsetzung des sozialen Wohnungsbaus sichern. Es wird im Rahmen einer gezielten Wohnungsbaupolitik ermöglichen, daß auch der letzte Wohnungsuchende zu einer angemessenen Wohnung kommt. Schon heute ist sicher, daß in den nächsten drei Jahren mindestens weitere 1,5 Millionen Wohnungen für die Abdeckung des restlichen Wohnungsdefizits, vor allem in den Schwerpunkten der Wohnungsnot, zur Verfügung gestellt werden können.9288 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965Bundesminister LückeKürzlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, wurde in einer Vortragsveranstaltung ausgeführt, daß in unserem Vaterland bis 1975 noch über 4 Millionen Wohnungen gebaut werden müßten. Das ist richtig; nur das „müßten" ist falsch, sondern sie w er den gebaut werden. Das ist der Unterschied! Diese Wohnungen werden gebaut werden, nicht nur um den laufenden Zuwachsbedarf zu decken, der durch Ehegründungen, Abriß von Altbauten, Straßenverkehrsplanungen usw. entsteht, sondern um die noch ständig steigenden Wohnwünsche der Bürger nach besseren Wohnungen, nach einem Eigenheim oder gelegentlich auch nach Erstellung einer zweiten Wohnung zu befriedigen. Das ist aber die Bauaufgabe von morgen und nicht die Aufgabe des sozialen Wohnungsbaus. Unsere Sorge gilt denjenigen, die nicht selber in der Lage sind, diese Wohnungsnot für sich und ihre Familie zu beseitigen.Außerdem wird der künftige Wohnungsbau in wachsendem Umfang auch Ersatz für die Wohnungen schaffen müssen, die im Rahmen der weitgreifenden und sehr langfristigen Zielsetzungen der Erneuerung unserer Dörfer und Städte abgerissen werden müssen. Meine Damen und Herren, das ist aber die Bauaufgabe von morgen und von übermorgen.Sie sehen, die Auffassungen und Vorstellungen der verschiedenen Gruppen liegen gar nicht so weit auseinander, wie dies gelegentlich behauptet wird.Kein europäisches Land hat die gleichen Anstrengungen unternommen und die gleichen Erfolge erzielen können, wie es bei uns möglich war. Schon in wenigen Jahren wird jede zweite Wohnung im Bundesgebiet eine Neubauwohnung sein, die seit 1948/49 gebaut worden ist.Ich glaube, man sollte endlich aufhören, mit den schwierigen Begriffen „Wohnungsdefizit" und „Wohnungsbedarf" den Eindruck zu erwecken, als gebe es in unserem Lande eine ungeheure Wohnungsnot. Wohnungsbedarf und Wohnungsfehlbestand sind zwei Paar verschiedene Schuhe. Alle Versuche, die Wohnwünsche heute zu ermitteln, müssen scheitern. Man kann natürlich lokal für den Städtebau und die regionale Planung die Wohnwünsche und den Wohnungsbedarf der Zukunft ermitteln und muß dies auch tun. Aber die Wohnwünsche und der Wohnungsbedarf, der aus den Wohnwünschen erwächst, hängt entscheidend von der Wirtschafts- und Einkommensentwicklung ab.Meine Damen und Herren, vor 15 Jahren erklärte der inzwischen leider verstorbene Kollege Klabunde, es müsse gelingen, in der Bundesrepublik jährlich 250 000 Wohnungen fertigzustellen. Was ist aus diesen Forderungen und Prognosen geworden? Wir wissen, daß seit 12 Jahren in unserem Lande regelmäßig jährlich über eine halbe Million Wohnungen fertiggestellt werden. Das ist der Erfolg der Dynamik der sozialen Marktwirtschaft Professor Ludwig Erhards, der nicht nur diese, sondern auch alle anderen Prognosen einfach überrollt hat. Wir können heute nicht feststellen, wie viele Automobile unsere Bundesrepublik in 5 Jahren, in 10 Jahren besitzen wird, wir können auch nicht feststellen, wieviel Anzüge sich der einzelne Bürger beschaffen kann; diese Dinge hängen von der Wirtschaftskraft, von der gesunden weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ab.Je näher wir den Wahlen am 19. September kommen, desto heftiger wird die Frage diskutiert werden, ob sich das neue Mietrecht bewährt hat. Ich scheue diese Diskussion nicht. Alle Erfahrungen der letzten Jahre bestätigen, daß meine Erwartungen eingetroffen sind. Weder kam es zu einer Flut wucherischer Mietforderungen noch zu einer Welle von Räumungsklagen.Die Erfahrungen bestätigen aber auch noch etwas anderes — und das ist das Entscheidende —: der Wohnungsbaurekord des letzten Jahres mit 623 000 Wohnungen hätte sicher nicht in diesem Umfange erzielt werden können, wenn wir nicht den Mut zum Abbau der antiquierten Zwangswirtschaft gehabt hätten. Erst der Abbau der Zwangswirtschaft gab dem privaten Kapital wieder den Mut, das Geld im Wohnungsbau zu investieren. Nur so sind die Wohnungsbauleistungen in diesem und im nächsten Jahre sowie in den nächsten 10 Jahren zu erklären. Die großen Leistungen der letzten Jahre wären ohne die soziale Marktwirtschaft unmöglich gewesen. Diese unsere soziale Marktwirtschaft hat auch die Vorausetzungen dafür geschaffen, daß weitergebaut werden kann, daß weitergebaut werden wird, bis nicht nur jeder eine, sondern schließlich jeder seine Wohnung hat. Die Alternative „Planwirtschaft statt sozialer Marktwirtschaft" sollte es daher heute nicht mehr geben. Wer heute noch der Meinung ist, daß man mit dirigistischen Maßnahmen mehr erreichen könne als durch die dynamischen, aber sozial gebändigten Kräfte der Marktwirtschaft, der schaut nicht nach vorn, der schaut zurück. Wer aber Häuser baut, gestaltet die Zukunft. Wir 'schauen mit diesem Gesetz nach vorn.
Das Haus hat die Begründung des Gesetzentwurfs zur Kenntnis genommen. Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat Frau Abgeordnete Kiep-Altenloh. — Es hat sich bisher niemand außer Ihnen gemeldet.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Mit diesem Gesetz haben wir eine Korrektur an den Gesetzen vorgenommen, die wir Ende Juni 1963 verabschiedet haben. Nach 40 Jahren Zwangswirtschaft war zu erwarten, daß hier und da noch Engpässe auftreten würden. Es ist richtig und gut, daß man eingesehen hat: in den Ballungszentren wird es aus den verschiedensten Gründen, die der Herr Minister vorhin dargelegt hat, noch Schwierigkeiten geben, und denen müssen wir begegnen.Es sind seitdem, in diesen 11/2 Jahren, so überraschende Erfolge in der Lockerung des Wohnungsbestandes eingetreten, daß man nur staunen kann. Wenn ich die zahlreichen Erfahrungen, die ich als Sprecherin der Freien Demokratischen Partei sam-
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Frau Dr. Kiep-Altenlohmein durfte, einmal zusämmenfasse, ergibt sich folgendes Bild. Nach einer Zeit eines allerdings angstvollen Überganges für die gekündigten Mieter fand sich eine Lösung. Wenn das nicht in allen Fällen möglich war, müssen wir untersuchen, woran es liegt. Zunächst große Aufregung über Kündigungen, die eigentlich keine echten Kündigungen waren, sondern eine Erhöhung des Mietpreises bezweckten, die aber ohne diesen Hinweis gemacht wurden und deswegen bei den Betroffenen eine begreifliche Bestürzung und besonders bei den alten Leuten eine unerhörte Aufregung verursacht haben. Ich frage mich, ob es nicht zweckmäßiger gewesen wäre, gleich den Grund mit anzugeben; das ist aber in sehr zahlreichen Fällen leider nicht erfolgt.
Aber da hat sich dann viel erledigt.
Das zweite ist, daß sich viele bei Mietpreiserhöhungen schon auf der Straße sehen, weil die Kenntnis der großen Hilfe, die mit den Wohnbeihilfen für die Aufbringung der Mieten geschaffen worden ist, immer noch nicht überall vorhanden ist. Ich mache mir die Mühe, jedem Brief, den ich schreibe, wenn mir die Leute sagen, eine Miete von soundsoviel könnten sie nicht zahlen, die Übersicht beizufügen, was ,sie an Zuschüssen bekommen können. Das wäre vielleicht zu diskutieren. Hier ist tatsächlich immer noch sehr viel Aufklärung möglich, und daran fehlt es sehr oft. Vorige Woche erst würde der letzte Fall erledigt, den ich bis dahin noch nicht hatte zu Ende bringen können. Auch hier hat die Stadt — ich setze mich jedesmal mit dem Bürgermeister oder dem Gemeindevorsteher in Verbindung — inzwischen eine Wohnung beschaffen können.Aber eine Möglichkeit ist nicht genügend ausgenutzt worden. In den allerdings seltenen Fällen von echten, schamlosen Mietüberforderungen — ich betone: in den seltenen Fällen — sind nicht genug Klagen erhoben worden. Einige Bürgermeister haben es von sich aus gemacht. Andere, denen ich das gleiche Vorhaben in unserer Korrespondenz vorschlug, haben es nicht getan. Solche Klagen haben Wunder gewirkt; es wurde dann von überhöhten Mieterhöhungen Abstand genommen.Nun sehen wir uns einmal an, was nicht hat bereinigt werden können. Es sind bittere Fälle einer wirklichen Kündigung, die auch durchgeführt wurde, verblieben. Aber, meine Herren und Damen, können wir die Wirkung des gesamten Gesetzes, die ungeheure Lockerung und die bessere Belegung der Wohnungen nicht auch angesichts der zweifellos vorgekommenen Härtefälle begrüßen? Die Härtefälle müssen wir ergründen und ihnen nachgehen. Für die einzelnen Betroffenen sind sie schlimm genug. Aber sie können nicht als. Indiz dafür angesehen werden, daß die Aufhebung der Wohnraumbewirtschaftung in den weißen Kreisen schlechthin verfehlt gewesen wäre. Das stimmt nicht, wenn es auch der einzelne so empfinden mag.Wo sind nun die neuralgischen Punkte? Ich möchte nach meinen Erfahrungen ziemlich obenan neben meiner Heimatstadt Hamburg Bonn nennen. Von dort sind doch ganz erhebliche Klagen gekommen. Das hat wohl zwei Ursachen. Die eine ist der Zuzug, den die Funktion als Bundeshauptstadt mit sich gebracht hat und der unerhört groß ist. Der andere ist, daß es, wie in allen Studentenstädten, auch hier große Engpässe gegeben hat. Man sollte also in Zukunft, um gerade dem letzten Engpaß zu begegnen, intensiv mit dem Bau von Studentenheimen fortfahren, um wenigstens insoweit eine Lockerung herbeizuführen. Zweitens sollte man sich überlegen, ob nicht angesichts der ungewöhnlichen Verhältnisse, die natürlich in einer Hauptstadt entstehen, die vorher eine mittlere Universitätsstadt war, von selten des Bundes auf dem Wohnungssektor noch etwas mehr getan werden kann.Ich komme noch einmal auf das oft umstrittene Defizit von 3 % zurück. Wir müssen uns zunächst einmal eines klarmachen. Ein Defizit von 3 % entspricht in den meisten Städten, in denen überall intensiv gebaut wird, ungefähr dem Wohnungsbau von einem Jahr. Man kann also annehmen, daß dieses Wohnungsdefizit im Laufe des nächsten Jahres ausgeglichen werden kann. Es entstehen natürlich neue Nachfragen. Aber, wie der Herr Minister schon sagte, ist Wohnungsnachfrage nicht gleich echtem Wohnungsdefizit. Es fragt sich, ob nicht auch diese zusätzliche Nachfrage, die kein echtes Defizit mehr bedeutet, angesichts der stark angekurbelten Bautätigkeit befriedigt werden kann.Ich möchte nur noch ein paar Worte zu der in den „schwarzen" Kreisen jetzt vorgesehene Verlängerung der Abbauzeit sagen. Ich habe in meiner ersten Rede vor anderthalb Jahren mit der Möglichkeit gerechnet, -daß wir hier und da eine Verlängerung der Abbauzeit würden in Betracht ziehen müssen. Das ist geschehen, und ich finde es sehr gut, daß diese Korrektur vorgenommen worden ist. Was in den „weißen" Kreisen nur in einzelnen Fällen zu echten Härten geführt hat, würde in den Zentren, in denen der Wohnungsbedarf am Ende dieses Jahres noch weit über 3 % liegt, viel schlimmer in Erscheinung treten, weil hier erheblich weniger Ausweichmöglichkeiten .als in den „weißen" Kreisen gegeben sind, in denen man solche Möglichkeiten doch immerhin nach einigem Suchen findet.Man sollte sich auch überlegen, ob man nicht in besonderen Härtefällen die von einer Räumung Betroffenen vorübergehend — denn es handelt sich wirklich immer nur um vorübergehende Schwierigkeiten —, wie wir es in der Hansestadt Hamburg in früherer Zeit getan haben, in einfachen Hotels unterbringen kann, damit nicht in allen Fällen mit der Räumung unbedingt eine Lagerunterbringung verbunden ist. Es gibt auch hier Möglichkeiten, die die einzelnen Städte ins Auge fassen sollten. Es handelt sich ja immer nur um eine kürzere Zeit. Man sollte, wenn so etwas eingeleitet wird, auch erwägen, ob es möglich ist, für die Kosten die nötigen Wohnbeihilfen zu bewilligen. Das würde keine sehr große Änderung bedeuten. Wir haben in Hamburg damit doch in sehr vielen dringlichen Fällen in befriedigender Weise über eine Übergangszeit hinweghelfen können.Ich möchte darauf nicht weiter eingehen. Meine Fraktion begrüßt es mit mir, daß für die Ballungs-
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Frau Dr. Kiep-Altenlohzentren diese Verlängerung der Abbauzeit vorgesehen worden ist. Nach den Erfahrungen, die ich in Hamburg machen konnte, liegt das Defizit jetzt schon weit unter dem, was zunächst noch in den Karteien vorhanden war. Das hat eine ziemlich breit angelegte Stichprobennachzählung gezeigt. Man wird, so hoffen wir, bei der jetzigen Bautätigkeit in zwei Jahren zunächst einmal dieses jetzt ermittelte nominelle Wohnungsdefizit beseitigen können.Bezüglich der Höhe der Mieten herrschte unter den Haus- und Grundbesitzern — und dies sind ja, wie gesagt und wie von dieser Stelle oft betont, nicht ausschließlich reiche Leute — große, große Sorge. Die Bindungen der Wohnraumbewirtschaftung kann man in den Ballungszentren zur Zeit zweifellos nicht lockern. Aber es wäre nicht zu verantworten gewesen, weiterhin die starren Richtsatzmieten beizubehalten; denn abgesehen von dem einzelnen Betroffenen, dessen Wert und dessen Substanz verfiel, verfiel hier auch eine nationale Substanz. In den Wohnungen steckt ja ein Gesamtwert, und ihre Erhaltung ist nicht nur die Angelegenheit des einzelnen, der sie besitzt, zumal wir den Wohnungsbau weitgehend bezuschußt haben. Hier würde sonst ein nationaler Verlust entstehen. Daher ist es sehr zu begrüßen, daß jetzt über die Richtsatzmieten im Rahmen der Angemessenheits-Verordnung hinausgegangen werden kann. Im allgemeinen werden diese Sätze wohl ausreichen.So dürfen wir hoffen, daß Sorge und Not, die in den Ballungszentren 'ob der noch immer drohenden Gefahr einer Beendigung der Wohnraumbewirtschaftung Ende 1965 für viele am Himmel standen, nunmehr durch schleunige Bearbeitung und Verabschiedung dieses Verlängerungsgesetzes dem einzelnen genommen werden. Damit werden sicherlich viel Sorge und viele schon im voraus hochgekommene Nöte behoben sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Jacobi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Herr Bundeswohnungsbauminister seine Ausführungen begann, glaubte ich, er würde sich auf eine Darlegung des Gesetzentwurfs und auf eine nochmalige mündliche Begründung beschränken. Er hat dann aber einen Rückblick gegeben. Er hat die Wohnungsbauleistungen der letzten Jahre noch einmal hervorgehoben und anschließend auch von Gesetzentwürfen gesprochen, die dieses Haus noch passiern können, zum Teil aber nicht mehr passieren werden. Damit hat er einige Feststellungen verbunden, zu denen ich nachher doch ein kritisches Wort zu sagen habe. Wir haben in diesem Hause im Augenblick ja schon unter einer gewissen Zeitnot zu leiden. Vorlagen, die jetzt noch in erster Lesung anstehen, können nur dann noch verabschiedet werden, wenn sie nicht sehr umstritten sind und wenn sie sehr konzentriert in den Ausschüssen beraten werden.Ich möchte vorab sagen, daß die sozialdemokratische Opposition gerade wegen der so späten Vorlage dieses Entwurfs von sich aus bemüht sein wird, zu einer Verabschiedung noch im gegenwärtigen Bundestag beizutragen. Wir stimmen dem Hauptanliegen des Entwurfs — der Verlängerung der Fristen für die Abbaugesetzgebung — grundsätzlich zu. Das kann den ja auch nicht verwundern, der weiß, wie stark von Anfang an unsere Bedenken besonders gegen die zeitlichen Fristsetzungen der Abbaugesetzgebung — des sogenannten Lückeplans — gewesen sind. Andererseits ist uns seit langem bekannt, daß es starke Kräfte gibt, die nur an einem Teil des Gesetzes interessiert sind, nämlich an den Regelungen, die der Entwurf hinsichtlich bestimmter Mieterhöhungen vorsieht. Diese Tendenzen sind uns noch einmal in aller Deutlichkeit durch eine Stellungnahme nahegebracht worden, die gestern in den Fächern der Mitglieder des Bundestagsausschusses für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung lag. Ihr Absender ist der Zentralverband der Hausund Grundbesitzer. Er beruft sich eingangs auf die amtliche Begründung einer anderen Regierungsvorlage. Es handelt sich hierbei um den Entwurf des Abbaugesetzes aus dem Jahre 1959. Das Zitat, das der Zentralverband dabei- anführt, hat folgenden Wortlaut — das sind also Worte aus der amtlichen Begründung des seinerzeitigen Entwurfs; ich darf das Zitat mit Genehmigung des Herrn Präsidenten verlesen: Weder mit der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes noch mit dem Gleichheitsgrundsatz ist es vereinbar, das Grundeigentum auf die Dauer unter ein Ausnahme- und Sonderrecht zu stellen. Es ist auch nicht möglich, im Wohnungsbau für die Bildung neuen Eigentums zu werben, wenn nicht sichergestellt wird, daß das bereits vorhandene Eigentum in seinem rechtlichen und wirtschaftlichen Bestand erhalten werden kann. Die Eingriffe der Wohnungszwangswirtschaft in das private Eigentum und in die Vertragsfreiheit müssen daher aufhören, wenn eine etwa ausgeglichene Wohnungsversorgung gegeben ist.Meine Damen und Herren, ich möchte keinen Zweifel darüber lassen, daß auch wir uns diese Feststellung zu eigen machen. Wenn wir eine einigermaßen ausgeglichene Wohnungsversorgung haben, muß in der Tat auf jeden Eingriff des Staates verzichtet werden — aber erst dann ist es möglich. Wir haben in diesem Hause, obwohl das oft angezweifelt worden ist, nie darüber Zweifel gelassen, daß wir Zwangswirtschaft nur so lange für vertretbar halten, wie die Not sie gebietet. Zwangswirtschaft ist Notwirtschaft. Ist die Not behoben, kann man auf sie verzichten.Aber es ist durchaus die Frage zu stellen, ob wir schon heute so weit sind, daß wir in absehbarer Zeit von einem wirklich ausgeglichenen Wohnungsmarkt sprechen können. Dazu werde ich nachher noch ein paar Bemerkungen machen müssen, um die Realitäten herauszustellen und Irrtümer zu vermeiden.Die Schlußfolgerung, die der Zentralverband der Haus- und Grundbesitzer in dieser Eingabe im Zu-
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sammenhang mit seinem Hinweis, hier sei ja ausgesprochen, was nottue und was möglich sei, zieht, daß es nämlich keinerlei Revision des sogenannten Lücke-Plans hinsichtlich der Hinausschiebung seiner Schlußtermine bedürfe, teilen wir trotz aller Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Feststellung nicht.Ich bin Frau Dr. Kiep-Altenloh dankbar, daß sie auch namens der FDP-Fraktion keinen Zweifel darüber gelassen hat, daß hier eine Forderung vertreten wird, die man nicht akzeptieren kann, daß die Verhältnisse uns nun einmal zwingen, hier Verschiebungen vorzunehmen.Wir haben nie die Meinung vertreten, daß der Wohnungsmangel bis auf Restbestände in einigen Ballungsgebieten beseitigt worden ist oder bis zum 31. Dezember 1965 beseitigt sein wird, wie dies der Zentralverband der Haus- und Grundbesitzer meint. Wir halten die endgültige und generelle Liberalisierung des Wohnungswesens zu diesem Zeitpunkt nun einmal nicht für vertretbar, sondern insoweit die von der Bundesregierung — man kann allerdings sagen: der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe — vorgeschlagene Fristenverschiebung für das mindeste, was geboten ist.Wir wissen, daß sich der Herr Bundeswohnungsbauminister diese Kabinettsvorlage förmlich hat abringen lassen müssen, daß er sie nicht sehr gern vertreten hat. Was immer die Motive dieser Zurückhaltung gewesen sein mögen, ob er im Worte stand oder ob er der Gefangene seiner eigenen, immer wiederholten optimistischen Lagebetrachtungen war, — es ist nicht ganz angenehm, bei einem großen Gesetzgebungswerk plötzlich in einem Punkt nachgeben zu müssen. Menschlich habe ich Verständnis für das Zögern. Von der Sache her habe ich es nie begriffen, weil die Einschätzung der Lage von Ihnen, Herr Minister, eben doch von Anfang an nicht real genug gewesen ist.Sie haben oft verlautbart, daß es keine echte, keine eigentliche Wohnungsnot mehr gibt. Neulich haben Sie in diesem Hause erklärt, Ihnen sei unterstellt worden, Sie hätten gesagt, es gebe überhaupt keine Wohnungsnot mehr. Das haben wir Ihnen nicht unterstellt. Wir haben festgestellt, daß Sie wiederholt davon gesprochen haben, es gebe keine eigentliche, keine echte Wohnungsnot mehr. Es ist eine Frage der Interpretation, was man darunter verstehen soll.Nun, Herr Minister, Sie haben in diesem Punkt ein ganz klein wenig zurückgesteckt. Vielleicht kostete es sogar die Überwindung des Selbstbewußtseins, das Ihnen nicht gestatten wollte, Irrtümer, die Ihnen bei der Bewertung der Wohnungsmarktlage unterlaufen waren, zuzugeben.Es ist andererseits kein Geheimnis — Sie haben es ja auch angedeutet —, daß es vor allem die Länderwohnungsbauminister waren, die die Hinausschiebung der Schlußtermine verlangt haben, darunter nicht zuletzt die Wohnungsbauminister der Länder, in denen die CDU regiert; denn dieses Verlangen ist nicht davon abhängig, ob man das, was man im Lande vor sich zu sehen vermag, durch eineParteibrille sieht. Die Wohnraumsituation sieht in sehr vielen Gebieten bei nüchterner Betrachtung eben doch ein wenig anders aus, als es regierungsamtlich zumeist verlautet.E:s ist uns verständlich, daß das in der amtlichen Begründung und auch von Ihnen vorhin nur sehr zögernd, ,etwas eingepackt in Watte, zugegeben worden ist. Sie haben auch am Tage nach der Kabinettsentscheidung für ,diese Vorlage, am 3. Dezember 1964, in einer Rundfunkansprache nur sehr vorsichtig von einer „sinnvollen Anpassung an den Abbaurhythmus" gesprochen, die der Wanderungsbewegung vom Land in die großen Städte Rechnung tragen solle. Sie taten das wie ein von der Entwicklung Überraschter. Dabei spielte und spielt bei dem hier Angesprochenen die entscheidende Rolle, daß die Bundesregierung und Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, die Abbaugesetzgebung unverändert auf die These stützen, die statistischen Defizitzahlen seien ,ein ausreichender Maßstab für die Ingangsetzung des Lücke-Plan-Automatismus.Sie betreiben — ich muß das feststellen — weitgehend eine Politik des Als-Ob. Sie stellen die Verhältnisse in den großen Zentren, in denen immer noch eine besonders krasse Unterversorgung des Wohnungsmarktes besteht, .im wesentlichen so dar, ,als ob die Mangellage auf Zuwanderungen der letzten beiden Jahre beruhe, die bei der Verabschiedung des sogenannten Lücke-Planes nicht hätten vorausgesehen werden können. Sie verhalten sich hinsichtlich der weißen Kreise so, als ob in diesen bereits ein funktionsfähiger Wohnungsmarkt bestehe. Sie weisen auf die neuen Mietrechtsbestimmungen hin, als ob sie ohne Fehl, als ob sie ein wirklich ausreichendes soziales Mietrecht seien. Sie betonen immer wieder, daß es einer verstärkten Förderung von Eigenheim- und 'Eigentumsmaßnahmen bedürfe, als ob dies wirklich allüberall das Vordringlichste und Mögliche sei, als ob nicht ebenso in vielen Orten noch vordringlicher der Bau von Miet- und Genossenschaftswohnungen wäre. Da gibt es keine allgemeingültige Feststellung, da kommt es auf die Analyse des Marktes an, eines Marktes, der aus Teilmärkten besteht und dessen Verhältnisse demzufolge nicht nur unterschiedlich sind, sondern auch unterschiedlich gewertet werden müssen.Sie reiben sich immer wieder ianunseren Vorschlägen, die Wohnungsbaupolitik den erkennbaren und nachweisbaren Bedürfnissen der Wohnungsuchenden entsprechend anzupassen, ,als ob wir damit eine rückwärts gewandte unzeitgemäße Alternative verträten. In Wirklichkeit sind Sie es, die an den Realitäten vorbeiregieren und sich von Fiktionen leiten lassen.
Sie sprechen von einem Markt, als ob er schon vorhanden wäre. Sie spielen Markt, statt ihn durch eine seine Engpässe beachtende und respektierende Wohnungspolitik zu schaffen. Die aber, die sich um eine entsprechende Konzeption bemühen, verdächtigen Sie doch sehr gern, daß 'sie, die den Realitäten des Alltags Rechnung zu tragen versuchen, ,es an
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einem eindeutigen Ja zur Eigentumspolitik fehlen ließen oder gar doktrinäre Anhänger eines vorrangigen Mietwohnungsbaues seien. Das ist nicht der Fall.Wie ist die Lage denn wirklich? Der in äußerst unterschiedliche Teilmärkte zerfallende Wohnungsmarkt ist keineswegs gesättigt. Eine der wesentlichsten marktmäßigen Voraussetzungen, die freie Konsumentenwahl, existiert auch in den weißen Kreisen nicht. Der von einer Kündigung betroffene Mieter findet weder ohne weiteres eine neue Wohnung, die in ihrer Lage, Größe, Ausstattung oder in ihrem Preis seinen Bedürfnissen oder Möglichkeiten entspricht, noch einen ausreichenden Mieterschutz. Er droht in den Status eines Obdachlosen abzusinken oder Bedingungen in Kauf nehmen zu müssen, die entweder unangemessen sind oder eine Überforderung darstellen. Jedenfalls gilt das für viele Mieter, nicht generell, aber solche Fälle gibt es. Von ihnen hat auch Frau Kiep-Altenloh vorhin gesprochen. Sie sagte: Es gibt bittere Fälle, die in vielen Städten auftreten und mit denen die Leute nicht fertig werden. Eines ist jedenfalls unbestreitbar: der Hinweis auf die statistischen Zahlen, die einen angeblich funktionsfähigen Wohnungsmarkt ausweisen, nutzt den Betroffenen, den gekündigten Mietern oder den Wohnungsuchenden, ebensowenig wie der Hinweis auf die neue Wohngeldregelung, die in vielen Fällen einfach keine Hilfe darstellt.Die sozialdemokratische Opposition hat ebenso wie die Fachleute der Wohnungswirtschaft und besonders die Sprecher der Gemeinden von Anfang an die statistischen Ausgangsgrundlagen der Abbaugesetzgebung als unzulänglich bezeichnet. Die statistische Defizitberechnung gibt nur vage Anhaltspunkte für die Beurteilung des Wohnungsmarktes. Sie liefert nur ungewisse Indizien. Nach wie vor fehlt es an einem auch nur einigermaßen aussagekräftigen Überblick über die wirklichen Verhältnisse. Erst jetzt hat die Bundesregierung den Entwurf eines Wohnungsstichprobengesetzes vorgelegt, der möglicherweise nach einer langen Zeit, die für die Erhebung und Auswertung nun einmal benötigt wird, den Nebel ein wenig lichten helfen wird, jedoch in jedem Fall den Nachteil hat, sich nur auf eine repräsentative Erhebung zu beschränken.Die späte Initiative des Bundes — es war ja schon vor Jahren beabsichtigt, diese Erhebung anzustellen — hat dazu geführt, daß wenigstens in einem Land, in Nordrhein-Westfalen, vorab eine Teilerhebung angestellt wird. Sie dient insbesondere dem Zweck, endlich genaue Zahlen über den Wohnungsbedarf, insbesondere der jungen Ehepaare, der kinderreichen Familien und der Familien in überbelegten Wohnungen zu erhalten. Von ihr sollen 10 % aller bewohnten Gebäude erfaßt werden. 6000 Interviewer erhalten den Auftrag, in 200 000 Gebäuden mit rund 500 000 Wohnungen etwa 600 000 Wohnparteien zu befragen. Daß derartige Feststellungen überhaupt notwendig sind, ist doch wohl der beste Beweis für die Unzuverlässigkeit und Unzulänglichkeit der bisherigen Ermittlungen.Zugleich wird damit bestätigt, wie recht wir hatten, daß wir von Anfang an unsere Zweifel und Bedenken gegenüber den Berechnungsmethoden geäußert haben, die der Bestimmung der weißen Kreise zugrunde liegen. Ich darf mich auf die Zahlen berufen, die wir dem Hohen Hause zuletzt im März dieses Jahres anläßlich der Einbringung der Regierungsvorlage für das Wohnungsänderungsgesetz, gestützt auf eine Umfrage des Deutschen Städtetages, unterbreitet haben. Sie spiegelten den eklatanten Widerspruch zwischen dem statistischen und dem tatsächlichen Wohnungsdefizit in Städten wie München, Köln, Wuppertal, aber auch in weniger großen Orten wie Herne, Lüdenscheid, Regensburg und anderen wider. Die Kette kann beliebig verlängert werden; doch will ich mich heute auf nur zwei weitere Beispiele beschränken.In Bremen beträgt das statistische Defizit Ende 1964 1,2 "/o. Das wären 2444 Wohnungen. Tatsächlich verzeichnet diese Stadt 13 000 echte, noch jüngst überprüfte Dringlichkeitsfälle Wohnungsuchender, darunter über 1000 zur Räumung verurteilter Familien.Dortmund — seit einiger Zeit bereits „weißer" Kreis — hat nach der Defizitberechnung Ende des vergangenen Jahres einen Überschuß von 10 148 Wohnungen. Das würde bedeuten, daß 4,7 "/o des Wohnungsbestandes — er beträgt in dieser Stadt 226 800 Wohnungen — überzählig sind. In Wirklichkeit befinden sich in dieser statistisch defizitfreien, ja überversorgten „Musterstadt" allein 10 400 Familien in einem echten Wohnungsnotstand.Am 31. Dezember 1964 gab es in Dortmund 450 Familien, die in Baracken und Lauben hausten, 130 Familien, die mit tbc-kranken Angehörigen zusammenwohnten, 7707 Familien mit zwei und mehr Personen in einem Raum — nach der Statistik versorgt, aber doch wohl nicht menschenwürdig untergebracht. Es gab in Dortmund am 31. Dezember 1964 2105 Familien in Wohnungen, die nach Gerichtsurteilen zu räumen sind, und 29 Familien in Häusern, die einsturzgefährdet waren. Das sind 10 422 Familien mit 31 217 Personen, die nach der Statistik und den an sie geknüpften Schlußfolgerungen des Bundeswohnungsministeriums eigentlich überhaupt nicht vorhanden sein können. Aber diese Menschen leben. Sie sind nicht etwa in den letzten. Jahren zugewandert. Sie bedrängen heute so wie gestern die Behörden. Sie verlangen Abhilfe, und sie haben ein Recht dazu. Sie sind in dieser Stadt im übrigen nicht die einzigen, die eine Wohnung suchen. Das sind ja nur die schlimmsten Fälle, wie Dortmund nicht die einzige Stadt ist, in der es entgegen den papiernen Defizitberechnungen noch eine vielfältige Wohnungsnot gibt.Das, meine Damen und Herren, ist die Wirklichkeit, die wir zu bewältigen haben. Deshalb sollten auch Sie sich zu einer Wohnungspolitik aufgerufen fühlen, die die öffentliche Veranwortung für das Wohnungswesen nicht immer mehr einschränkt, sondern konsequent und energisch weiterführt, und zwar unter dem Aspekt der Deckung des nachgewiesenen Bedarfs.
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Gewiß, Herr Minister — Sie haben das dankenswerterweise soeben wieder festgestellt—, ist in einer großen gemeinsamen Anstrengung Beachtliches geleistet worden, und wir wollen keineswegs übersehen, daß hier alle beteiligt waren und daß es gut ist, sich dessen zu entsinnen. Es scheint aber heute schwerer zu sein, sich für die Zukunft zusammenzufinden und Abstand zu nehmen von einer Politik, in die man sich sozusagen verrannt hat und von der man glaubt, daß sie die einzig mögliche sei. Ich glaube, die Verhältnisse müssen Sie dazu bringen, auch hier ein wenig umzulernen. Es genügt nun einmal nicht, auf das Erreichte und Geleistete stolz zu sein und zu glauben, nun gehe es an, in den Anstrengungen nachzulassen, im wesentlichen, dazu mit verminderten Mitteln, nur noch Eigentumsmaßnahmen zu fördern und den sozialen Wohnungsbau — soweit Miet- und Genossenschaftswohnungen in Frage stehen — praktisch nachrangig zu behandeln. Das tun Sie mit dem soeben vom Herrn Minister erwähnten Wohnungsänderungsgesetz, das wir im Augenblick im Ausschuß beraten.Wir halten eine solche Politik für ebenso unvertretbar, wie die von mir eingangs angeprangerte Politik des Als-Ob, der Sie bisher so weitgehend unterlegen waren. Noch haben wir keinen ausreichenden Wohnungsmarkt; noch gibt es in weiten Gebieten der Bundesrepublik eine quantitative Unterversorgung, von den qualitativen Wohnungsverhältnissen, den Sanierungserfordernissen, den auf lange Sicht in Angriff zu nehmenden Problemen der Stadt- und Dorferneuerung ganz abgesehen. Da genügt es auch nicht, sozusagen nur die Überschrift eines Gesetzes zu nennen. Wenn man in den Entwurf des Städtebauförderungsgesetzes schaut, dann vermißt man klare Bestimmungen über die finanzielle Mitbeteiligung des Bundes; dann sieht man in diesem Entwurf kein Instrumentarium, mit dem diese große Zukunftsaufgabe bewältigt werden könnte.Wir haben von dieser Stelle aus und nicht nur in diesem Hause immer wieder nicht nur Kritik geübt, sondern auch konstruktive Vorschläge unterbreitet. Wir werden das auch in Zukunft tun. Wir haben gerade kürzlich noch auf dem Wohnungs- und Städtebaukongreß unserer Partei in Bremen Leitsätze verkündet. Wir haben Ihnen damit die Möglichkeit gegeben, zu überprüfen, was unsere Meinung ist, und endlich Abstand zu nehmen von dem Versuch, gelegentlich die Reden des einen oder anderen von uns gegeneinander auszuspielen oder Fragen zu stellen, die manchmal geradezu naiv anmuten, wie wir uns denn in diesen oder jenen Fragen verhielten. ,Es gibt also genügend parteioffiziöse Erklärungen der SPD. Es gibt die Parteitagsbeschlüsse, es gibt das Godesberger Programm, das Sie uns gegenüber gelegentlich sogar mit erhobenem Zeigefinger zu interpretieren versuchen, als wenn Sie es erarbeitet und erdacht hätten. Jetzt haben Sie unsere Leitsätze von Bremen, die Sie sorgfältig studieren sollten, bevor Sie uns wieder einmal Meinungen unterschieben, die nicht die unsrigen sind. Sie haben mit diesen Leitsätzen und mit anderen Unterlagen eine geschlossene Konzeption unserer marktwirtschaftlichen Vorstellungen. Da finden Sie eine Antwort auf die törichte Frage, ob wir denn nicht eigentlich im Grunde doch Anhänger der Zwangswirtschaft seien, wie ich es dieser Tage wieder gelesen habe. Die Antwort ist ein klares Nein. Sie wurde von meinem Parteifreund Georg Leber gegeben, als er in Bremen der Verkündung unserer Leitsätze u. a. folgende Feststellungen voranstellte:Wir werfen der gegenwärtigen Bundesregierung nicht die Überführung des Wohnungswesens in die Marktwirtschaft vor, sondern mangelnde Gewissenhaftigkeit bei dieser schwierigen Operation, die zu Lasten derjenigen Bürger geht, die sich in unterversorgten Gemeinden nicht selbst helfen können. Wir werfen ihr vor, daß sie die Gesetze des Marktes zu früh, also bereits zu einem Zeitpunkt angewandt hat, in dem ein funktionsfähiger Markt nicht da war. Wir werfen dem Minister vor, daß er bei den Wohnungsbeständen keinen Unterschied gemacht hat zwischen einer Notwohnung und einer wirklich menschenwürdigen Wohnung und daß es ihn nicht zu interessieren scheint, wie die Belegungsverhältnisse in den Wohnungen in den einzelnen Gemeinden sind.In den Leitsätzen aber finden Sie Feststellungen wie diese:Ziel sozialdemokratischer Wohnungspolitik ist eine soziale Wohnungsmarktwirtschaft, die jedem die Möglichkeit bietet, qualitativ einwandfreien Wohnraum zu angemessenen Bedingungen frei zu wählen.Ich will Ihnen die Verlesung der Leitsätze im einzelnen ersparen, obwohl es vielleicht für Sie ganz gut wäre, sie von dieser Stelle einmal zur Kenntnis zu nehmen. Ich möchte Rücksicht auf die Zeitbedrängnis dieses Hauses auch am heutigen Tage nehmen und zum Schluß kommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe einiges Kritische bemerken müssen, und sicherlich muß es Ihnen schwerfallen, eigene Irrtümer und Fehler einzugestehen. Immerhin, der vorliegende Gesetzentwurf bahnt wenigstens eine Teilrevision Ihrer bisherigen Beschlüsse an. Er zeigt, daß auch Ihnen das Tempo übereilt erscheint, mit dem Sie den Schritt in die Marktwirtschaft betrieben haben. Hier sind wir uns wenigstens grundsätzlich einig. Es wäre begrüßenswert, wenn es darüber hinaus eine Versachlichung der wohnungspolitischen Auseinandersetzungen geben könnte. Wir sind bestrebt, eine Politik zu betreiben, die die heute weitgehend noch fehlenden Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Wohnungsmarkt schafft und so auch hier mit der Beseitigung der noch bestehenden Notstände die Notwendigkeit zwangswirtschaftlicher Maßnahmen endgültig beseitigt. Maßstab ist hierbei für uns aber nicht eine papierne, die Realitäten mißachtende Defizitberechnung, sondern allein eine Marktsituation, die es wirklich gestattet, jedermann als freiem Konsumenten eine menschenwürdige Wohnung zugänglich zu machen. Wir sagen nein zur Wohnungszwangswirtschaft, ebenso aber nein zu einer Wohnungspolitik, die sich auf einen fingierten Markt stützt und deshalb korrigiert werden muß.
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9294 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Jacobi
Die heute in erster Lesung zur Beratung anstehende Novelle wäre Ihnen und uns erspart geblieben, wenn der sogenannte Lücke-Plan durchdachter und fundierter, wenn er in einer besseren Einschätzung der Wohnungswirklichkeit begonnen worden wäre. Das ist leider nicht geschehen. Die Vorlage des Fristenverlängerungsgesetzes ist aber wenigstens ein Teileingeständnis der Unzulänglichkeit früherer Beschlüsse der Mehrheit dieses Hauses. Wir werden, wie ich schon sagte, an den Beratungen konstruktiv und in dem Bemühen mitwirken, daß diese Vorlage vor Ende der Legislaturperiode noch in diesem Hause in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Mick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Jacobi, daß Sie ankündigen, an der Verabschiedung des uns vorliegenden Gesetzes mitzuarbeiten, verwundert uns etwas. Es verwundert uns deshalb etwas, weil daraus der Schluß gezogen werden könnte, wir hätten in irgendeiner Weise unterstellt, daß Sie nicht mitarbeiten würden. Ich erkläre hier ausdrücklich, daß wir eine derartige Unterstellung niemals und in keinem Falle ausgesprochen haben, sondern daß wir diese Mitarbeit als eine Selbstverständlichkeit voraussetzen.
— Herr Kollege Jacobi, es ist doch selbstverständlich, daß man in diesem Hause konstruktiv mitarbeitet und keine Obstruktion oder sonst etwas betreibt. Ich persönlich bin der Meinung, daß man Selbstverständlichkeiten von dieser Stelle aus nicht besonders herausstellen sollte.Nun zur Sache selbst! Herr Kollege Jacobi, Sie zitierten die Stellungnahme des Haus- und Grundbesitzervereins. Ich habe nun gedacht, daß Sie eine Kanone in Stellung gebracht hätten. Aber ganz im Gegenteil! Sie scheinen doch sehr daran interessiert zu sein, das Wählerpotential der Haus- und Grundbesitzer nicht grundsätzlich zu verärgern. Sonst kann ich mir diese Ihre Erklärung kaum erklären. Es ist doch selbstverständlich, daß man, wenn man neues Eigentum schafft, zunächst altes erhalten muß. Wie sollte man denn eine Eigentumspolitik, von der Sie betont haben, daß Sie konstruktiv an ihr mitarbeiten wollen, in Szene setzen, wenn man altes Eigentum verrotten läßt! Aber, Herr Kollege Jacobi, zwischen platonischen Erklärungen, die Sie hier abgeben, und praktischer Politik besteht ein himmelweiter Unterschied.Herr Kollege Jacobi, auf Ihrem Kongreß haben Sie durch den Mund des Kollegen Leber die Forderung aufgestellt, daß man die Zwangswirtschaft erst beseitigen dürfe, wenn ein Wohnungsüberschuß von 3 % vorhanden sei. Das bedeutet in der Tat und in der Praxis, daß ein gut Teil bestehenden Eigen-turns schon verrottet sein muß, ehe Sie auf den Gedanken kommen, die Zwangswirtschaft aufzuheben.
Sehen wir uns weiter die Argumente an, Herr Kollege Jacobi, die Sie in § 8 Ihres Entwurfs zum Dritten Wohnungsbaugesetz verkünden, daß nämlich die Gemeinden ermitteln sollen, was überhaupt noch eine Wohnung ist usw. Ich muß unterstellen, daß zu den 3 %, die der Kollege Leber meint, dann noch eine Menge Prozente hinzukommen von Wohnungen, die nach der Feststellung irgendeiner Gemeindebehörde nicht mehr den Ansprüchen genügen. Hiermit komme ich schon zu einem Wohnungspotential, zu einem Eigentumspotential, welches weit über 3 % liegt und damit meine These — die ich hier aufstelle von der Verrottung privaten Eigentums in einem noch grelleren Lichte erscheinen läßt.Herr Kollege Jacobi, ich glaube, es besteht zwischen Ihrer und unserer Auffassung ein grundsätzlicher Unterschied. Sie wollen grundsätzlich jeden zu seinem Glück zwingen,
wir aber sind der Meinung, Herr Kollege Jacobi, daß jeder zu seinem Glück auch selbst. etwas beitragen muß.
Sie sprechen davon, daß wir mit dieser Novelle auf Grund grober Fehlprognosen gekommen seien. Im Vertrauen gesagt, Herr Kollege Jacobi: Ich habe dem Minister gesagt, er solle dieses Gesetz nicht machen, vielmehr solle er die Rechtsverordnung so gestalten, daß die Bundesregierung von sich aus in den Kreisen, wo sie das für nötig hält, die Frist verlängern könne. Der Herr Wohnungsbauminister hat einen anderen Weg gewählt.Sie sprechen von groben Fehleinschätzungen, wenn — man höre und staune — noch 5 % aller Kreise an dem von uns ursprünglich gewählten Schlußtermin mehr als 3 % Wohnungsdefizit aufweisen. Wenn Sie also so wollen, so ist das eine Fehleinschätzung von 5 %. Und diese 5 % sind sehr wohl — das hat der Herr Minister sehr schlüssig nachgewiesen — aus Gründen zu erklären, die der Wohnungsbauminister nicht zu vertreten hat.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 9295
MickSie greifen in Permanenz die statistischen Zahlen an, die dem rechnerischen Wohnungsdefizit zugrunde liegen. Wir haben zu keinem Zeitpunkt behauptet, daß diese statistischen Zahlen ' den Stein der Weisen, daß sie ein Evangelium darstellen. Wir haben vielmehr stets nur gesagt, daß sie für uns die einzig mögliche Bezugsquelle sein können, um überhaupt ein Gesetz aufzubauen. Wir waren immer der Meinung, daß ein Wohnungsdefizit nicht in statistischen Zahlen nachgewiesen werden kann, sondern daß ein Wohnungsdefizit nur nachgewiesen werden kann im freien Raum, im Raum der sozialen Marktwirtschaft. Dann wird sich nämlich herausstellen was echt und was unecht ist. Es hat sich zum großen Teil bereits herausgestellt. Was würden Sie uns heute vorwerfen, wenn wir in dem Maße am Bedarf vorbeigebaut hätten, wie es- etwa durch die Zahlen bei den Wohnungsämtern unserer Städte und Kreise ausgewiesen wurde? Und in welchem Umfang haben sich diese Zahlen als stichhaltig erwiesen, Herr Kollege Jacobi? Was würden Sie sagen, wenn wir öffentliche Mittel in Milliardenhöhe am Bedarf vorbei verbaut hätten, den die Wohnungsämter unserer Städte tatsächlich ausgewiesen haben!Wohnungsnotstand, Wohnungsbedarf und Wohnungswünsche sind drei verschiedene Dinge. Ich kenne Beispiele von Erhebungen in Städten — auch in solchen, in denen der Deutsche Gewerkschaftsbund Erhebungen angestellt hat —, die einem manche Hinweise geben konnten, in anderer Hinsicht aber sehr zweifelhaft waren. Jeder, der in der Wohnungswirtschaft tätig ist, weiß, daß es die Familie Schmitz oder Müller oder Meier gibt, die lieber in einer unvollkommenen Wohnung bleibt, weil sie in ihrem Pfarrbezirk oder in der Nähe ihrer Verwandten und Bekannten wohnen bleiben möchte, als etwa in die chemisch einwandfreiste Wohnung irgendwo auf der grünen Wiese zu ziehen, die allen Anforderungen gerecht wird. Solche Dinge kann man nicht mit Statistiken erfassen, das gebe ich Ihnen zu; die können Sie auch nicht erfassen, Herr Kollege Jacobi, indem Sie nach Wohnungswünschen fragen. Wenn Sie z. B. die Erhebung in Solingen vornehmen und sich die Wohnungswünsche ansehen, dann stellen Sie fest, daß das Gros derer, die eine andere Wohnung haben wollen, diese gerade und unter allen Umständen dort haben wollen, wo diese Wohnungen nicht erstellt werden können, nämlich in den Bezirken, in denen Wohnungen abgerissen werden müssen, weil sowieso alles zu eng aufeinanderhängt.
— Entschuldigen Sie, zunächst habe ich es auch hier damit zu tun, was der Konsument will. Man kann nicht auf der einen Seite sagen, wie Sie das machen, dort herrsche ein Wohnungsnotstand, denn soundsoviele Tausende wünschten eine andere Wohnung, und auf der anderen Seite, wenn eine andere' Wohnung angeboten wird, erklären: Nein, ich ziehe doch nicht hinten irgendwo auf die grüne Wiese, sondern ich möchte hier im Zentrum von A-Dorf oder B-Dorf oder in der Neustadt oder Altstadt wohnen bleiben; d. h. in Bezirken, die gelichtetwerden müssen, in Bezirken, in denen man nicht noch zusätzlich neue Wohnungen bauen kann.Nun noch einmal -zur Frage des Eigentums. Ich muß Ihnen sagen — ich hätte jetzt bald -einen unparlamentarischen Ausdruck gebraucht —, daß eis einem fast leid wird, mit Ihnen zu diskutieren. Sie stellen hier dauernd Alternativen auf: Eigenheim oder Mietwohnung, als wenn wir in einer unendlichen Zahl Eigenheime und keine Mietwohnungen bauten. Was die Eigenheime angeht, so ist doch, Herr Kollege Jacobi, Tatsache, daß ihre Zahl nur ,einen geringen Teil der Zahl der Mietwohnungen ausmacht. Wir sind jedoch stolz darauf, daß wir von rund 81/2 Millionen Wohnungen überhaupt etwas über 2 Millionen Eigenheimehaben bauen können. Wir müssen aber z. B. für das Jahr 1964 ,die Feststellung treffen, daß im Bundesdurchschnitt 84 % aller Eigenheime — in unserem Land Nordrhein-Westfalen sind es sogar 85 % — in Landkreisen gebaut worden sind. Es bleiben also ganze 16 % gebaute Eigenheime in den Bezirken, in denen .der größere Teil der Bevölkerung wohnt.Wollen Sie bei solchen Zahlen, die uns veranlassen, unsere Eigentumspolitik zu überdenken, immer noch mit der These kommen, daß wir die Mietwohnung auf Kosten ,des Eigenheims verkümmern lassen und damit am Wohnungsbedarf vorbei arbeiteten? Ich glaube, diesen Zahn sollten Sie sich einmal ziehen lassen. Sie sollten dann lieber in aller Ehrlichkeit sagen: Wir halten nichts von dieser Eigenheimförderung, wir wollen Mietwohnungen, und zwar aus Gründen, die Ihnen wahrscheinlich besser bekannt sind als uns.
— Herr Kollege Wehner, es freut mich, daß auch Sie sich für Wohnungspolitik interessieren. Das habe ich bisher nicht festgestellt.
Dann wurde hier das Land Nordrhein-Westfalen als Kronzeugegegen die statistischen Zahlen angeführt, auf denen ,das Abbaugesetz aufgebaut ist. Welcher Irrtum, Herr Kollege Jacobi! Mir 'scheint, daß Sie nicht zur Kenntnis genommenhaben, warum das Land Nordrhein-Westfalen diese Erhebungen anstellt. Sie werden aus einem sehr vernünftigen Grunde angestellt: um nicht an den Wirklichkeiten vorbeizubauen. Das Land Nordrhein-Westfalen tut das, was heute in der Wirtschaft selbstverständlich ist, auch und gerade in den Wirtschaftszweigen, in denen der Bedarf mehr als gedeckt werden kann: man betreibt Marktanalyse, um nicht nur heute auf der Höhe der Zeit zu sein, sondern auch morgen und übermorgen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat also gar nicht vor, etwa eine Berichtigung der statistischen Zahlen zu erreichen oder diese Zahlen aus den Angeln zu heben, sondern es geht darum, eine Marktanalyse vorzunehmen, um die Wohnungswünsche von heute und nach Möglichkeit, wenn es möglich ist, bereits heute schon die Woh-
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9296 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Micknungswünsche sogar von morgen und übermorgen festzustellen, um darauf die Wohnungspolitik einstellen zu können. Das scheint mir schon deshalb notwendig zu sein, um mit den öffentlichen Mitteln vernünftig umgehen zu können.Sie nannten hier die Zahlen der Stadt Dortmund, die sehr erschütternd klingen könnten. Aber Sie haben nur eine Seite der Medaille gezeigt. Es ist ein bekannter Tatbestand, Herr Kollege Jacobi, daß Dortmund eine Stadt mit abnehmender Bevölkerungszahl ist. Ich füge noch hinzu, daß wahrscheinlich in Dortmund auch weiter gebaut wird. Sie haben kein Wort davon gesagt, wie hoch die Wohnungsproduktion der Stadt Dortmund gegenwärtig ist. Ich nehme an, daß bei dem Notstand, den Sie hier aufgezeigt haben, die Wohnungsproduktion der Stadt Dortmund sehr groß sein wird. Herr Kollege Jacobi, sie kann auch sehr groß sein, denn die Mittelzuteilung des Landes Nordrhein-Westfalen ist dazu angetan, daß weiß Gott alles ausgeschöpft werden kann, was im Rahmen unserer bauwirtschaftlichen Möglichkeiten drin ist.
— Herr Kollege Jacobi, diese Schlüsselzuweisungen in Nordrhein-Westfalen — informieren Sie sich einmal darüber — sind so hoch, daß viele Städte und gerade Großstädte diese Mittel am Jahresende zum Teil zurückgeben mußten, weil sie einfach nicht verbaut werden konnten,
und zwar aus Gründen, die ich hier nicht näher untersuchen will. Das ist Ihnen genauso bekannt wie mir. Also nehmen wir an, daß die Stadt Dortmund in ihrer Not nicht untätig bleibt, sondern die Möglichkeiten, die wir und die das Land Nordrhein-Westfalen ihr bietet, auch ausnutzt, um der Not Herr zu werden, die Sie geschildert haben.
Abhilfe von Notständen! Wer ist so vermessen, abzustreiten, daß es keine Notstände mehr gibt? Auf welchem Gebiet gibt es keine Notstände mehr? Die Notstände beseitigen kann ich nicht dadurch, daß ich mich in Permanenz darüber unterhalte, ob diese oder jene statistische Zahl falsch ist, sondern den Notständen kann ich nur dadurch begegnen, daß ich baue, baue und nochmals baue und hier alle Möglichkeiten ausnutze.
Eines entspricht nicht den Tatsachen — das hätte ich eigentlich von Ihnen nicht erwartet —: Sie haben wider besseres Wissen gesagt,
— Sie haben wider besseres Wissen gesagt, daß der Bund in seinen Anstrengungen nachlasse. Das haben Sie zu einem Zeitpunkt gesagt, Herr Kollege Jacobi, in dem wir in der dritten Beratung eines Gesetzes stehen, welches festlegt, daß die finanzielle Degression nach dem Zweiten Wohnungsbaugesetz fortfällt. Mit dieser Streichung der Degression übernimmt der Bund eine Dauerverpflichtung im sozialen Wohnungsbau auch über den Fall eines akuten Wohnungsnotstands hinaus.
In diesem Zusammenhang von einem Nachlassen des Bundes in seiner Anstrengung für die Beseitigung der Wohnungsnot zu sprechen, halte ich nicht für richtig.
Die Tatsachen beweisen genau das Gegenteil. Der Bund stellt nicht verminderte Mittel zur Verfügung, sondern er verpflichtet sich, die Mittel durchzuhalten, zu denen er nach dem Zweiten Wohnungsbaugesetz nicht verpflichtet war.Herr Kollege Jacobi, was die Leitsätze der SPD zum Wohnungsbau angeht, so will ich mich darüber heute nicht verbreiten. Sie wissen, daß wir ebenfalls unseren Kongreß hierzu haben, und Sie werden von da das Notwendige zu unserem Wollen und zu unseren Vorstellungen in 'bezug auf die Raumordnung und die Wohnungspolitik hören. Wenn wir beide Ergebnisse auf dem Tisch haben, werden wir auf dieser Grundlage — was wir übrigens gewohnt sind — eine fruchtbare Diskussion führen können. Denn — das möchte ich ausdrücklich feststellen — daß unsere Diskussionen fruchtbar waren, ersehen wir an der gigantischen Leistung, die wir gerade im Wohnungsbau vollbracht haben.Einige Bemerkungen noch zum Schluß. Es ist auch mir aufgefallen — und damit wende ich mich an Sie, verehrte Frau Kollegin —, daß gerade in den Städten, die Hochschulen oder Universitäten haben, in der Tat das Wohnungsdefizit gewaltig über dem Durchschnitt vergleichbarer Orte liegt. Wir werden ganz zweifellos zu untersuchen haben, woher das kommt. Ich bin der Meinung, es kommt von den Ein-Personen-Haushalten, die dort in der Hauptsache von den Studierenden gebildet werden. Wenn wir exakt feststellen, daß diese Vermutung richtig ist, werden wir zu überlegen haben, wie wir diesen Mißständen beikommen. Ich glaube aber, wir sind uns darin einig, daß in den letzten Jahren auch auf diesem Gebiet immerhin schon Gewaltiges geschehen ist — ich denke z. B. an meine Vaterstadt Köln — und daß wir das fortsetzen und unter Umständen verstärken müssen, um diese irregulären Zahlen, die ein falsches Bild vermitteln, auf ihren Gehalt zurückzuführen.Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen 'Sie mich mit dem schließen, was wir hier nicht zum erstenmal sagen, sondern was wir immer sagen: daß es unser Ziel in der Wohnungspolitik war und ist, zunächst jedem eine Wohnung zu geben .und dann, wenn jeder eine Wohnung hat, jedem seine Wohnung.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich 'schließe die Aussprache. Ich schlage Ihnen vor, den
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Vizepräsident Dr. Jaeger
Gesetzentwurf an den Ausschuß für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung sowie an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Ich rufe auf Punkt 12 der Tagesordnung:
a) Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Mommer und Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der deutschen Mitglieder in das Europäische Parlament ; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (3. Ausschuß) (Drucksache IV/3130)
,
b) Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten
über den Antrag der Fraktion . der FDP betr. parlamentarische Kontrolle der europäischen Organe,
über den Antrag der Abgeordneten Frau Strobel, Birkelbach, Arendt , Bergmann, Frau Dr. Elsner, Faller, Kulawig, Dr. Kreyssig, Kriedemann, Metzger, Rohde, Seifriz, Wischnewski und Fraktion der SPD betr. Demokratisierung der europäischen Gemeinschaften,
über den Antrag der Abgeordneten Frau Strobel, Birkelbach, Arendt , Bergmann, Frau Dr. Elsner, Faller, Kulawig, Dr. Kreyssig, Kriedemann Metzger, Rohde, Seifriz, Wischnewski und Fraktion der SPD betr. Haushaltskontrolle der europäischen Organe,
über den Antrag der Fraktion der SPD betr. Förderung des europäischen Zusammenschlusses in der EWG .
Ich schlage Ihnen vor, meine Damen und Herren, diese beiden Punkte in der Beratung miteinander zu verbinden. Berichterstatter ist für beide Punkte der Abgeordnete Dr. Furler, der jeweils einen schriftlichen Bericht erstattet hat, wofür ich ihm danke. Er wünscht die beiden Berichte zu ergänzen. Ich erteile ihm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die verschiedenen Vorlagen, die hier gemeinsam aufgerufen sind, haben einen einheitlichen größeren Inhalt, nämlich die Stellung des Europäischen Parlaments, um die wir hier und im Europäischen Parlament selbst kämpfen. Im Grunde handelt es sich aber doch um zwei verschiedene Materien. In der ersten Vorlage, zu der ein besonderer Bericht des Auswärtigen Ausschusses vorliegt, wird vorgeschlagen, die deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments einer Direktwahl zu unterziehen.Zur Ergänzung des vorliegenden Schriftlichen Berichts und zum Verständnis muß ich kurz sagen, daß in den Römischen Verträgen eine direkte Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments vorgesehen ist. Diese direkte Wahl setzt voraus, daß das Europäische Parlament einen entsprechenden Wahlrechtsentwurf vorlegt. Das ist schon sehr bald nach der Konstituierung des Europäischen Parlaments, schon im Jahre 1960, geschehen. Dieser Entwurf wurde auch dem Ministerrat vorgelegt. Der Ministerrat muß über diesen Entwurf einstimmig entscheiden, und anschließend müssen die nationalen Parlamente die europäischen Wahlen zum Gegenstand einer Ratifizierung machen. Der Wahlgesetzentwurf liegt beim Ministerrat. Er stößt dort auf Widerspruch. Es ist bisher nicht über ihn entschieden. Daher — ich kann das vom Ausschuß aus erläuternd sagen — wohl die Idee, in einem einzelnen Land direkte Wahlen durchzuführen.Dér Entwurf des Herrn Kollegén Mommer — er wird ihn ja nachher persönlich erklären — sieht vor, daß diese Direktwahl der deutschen Abgeordneten mit unseren Bundestagswahlen verbunden wird, und zwar praktisch so, daß neben der Stimme für den Wahlkreisabgeordneten und der Stimme für die Partei eine dritte Stimme für einen europäischen Wahlvorschlag, d. h. also für eine Bundesliste, gewährt wird. Gewählt sollen dann nach dem Entwurf diejenigen sein, die nach den Grundsätzen der Verhältniswahl ein Mandat erhalten, allerdings nur, soweit sie auch in den Deutschen Bundestag gewählt werden.Der Auswärtige Ausschuß hat die Dinge eingehend geprüft. Wir hatten diese Prüfung in der ersten Plenardebatte in Aussicht gestellt. Die Prüfung erstreckte sich auf zwei Gesichtspunkte, einmal auf die Rechtslage nach den Römischen Verträgen und zum anderen auf die politische Stellungnahme, die der Ausschuß zu diesem Vorschlag abzugeben hatte.Der Ausschuß war mit Mehrheit der Meinung, daß die Römischen Verträge eine solche Wahl einzelner Delegationen unmittelbar durch das Volk, wie sie hier vorgeschlagen wird, nicht vorsehe und auch nicht für zulässig erkläre. Die europäischen Verträge enthalten eine Alternative. Die eine Möglichkeit ist die — und danach wird jetzt verfahren —: die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden nach einem den Staaten an sich freistehenden Verfahren von den nationalen Parlamenten aus ihrer Mitte bestellt oder gewählt. Wir gehen im Bundestag nach dem d'Hondtschen Verfahren vor. Nach diesem Verfahren wird eine Liste der 36 deutschen Mitglieder aufgestellt, und auf Grund dieser Liste werden diese Mitglieder dann gewählt.Wie ich sagte, sehen die Römischen Verträge auch eine direkte allgemeine Wahl vor. Diese Wahl muß aber nach den Verträgen als eine allgemeine, insgesamt für alle Mitglieder des Europäischen Parlaments in allen sechs Staaten der Gemeinschaft durchgeführt werden. Der Vertrag kennt keine Mittelsituation. Er kennt nur die eine oder die andere Alternative.
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Dr. FurlerDer Ausschuß war der Meinung, daß die Auffassung, es handle sich bei der Gesetzesvorlage nur um eine Verfahrensregelung, nicht zutrifft, sondern daß es sich um eine echte Direktwahl handelt. Der Bundestag ist gezwungen, diejenigen, die auf dieser Bundesliste nach dem Verhältniswahlsystem die nötigen Stimmen bekommen, auch in das Europäische Parlament zu entsenden. Er war aber der Meinung, daß das Wesentliche an der direkten Wahl nach den Verträgen die allgemeine Wahl ist, also der europäische Gesamtakt, der stattfinden muß.Eine Aufsplitterung nach Delegationen paßt nach Auffassung des Ausschusses auch nicht in das Integrierungssystem, in das Gemeinschaftsdenken. Denn wir wollten ja im Europäischen Parlament gerade die Delegation überwinden und durch Fraktionen ersetzen, keine Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten schaffen.Nun einige politische Gesichtspunkte, die erwogen wurden und die ich hier auch kurz erwähnen muß. Einmal fehlt natürlich einer solchen nationalen Wahl der europäische Charakter. Ich habe das schon betont. Der Wahlgesetzentwurf des Europäischen Parlaments sagt in seinem Art. 14 dazu ausdrücklich:Die Wahlen dürfen nicht mit den nationalen Wahlen zusammenfallen.Das war eine grundlegende Entscheidung. Man wollte eben das Europäische in den Vordergrund stellen.Sodann: Was ist der Sinn der allgemeinen Wahlen? Der Sinn der allgemeinen europäischen Wahlen besteht darin, die Stellung des Parlaments zu verstärken. Ein sehr schwieriger Punkt! Zwar werden mit den allgemeinen Wahlen nicht unmittelbar die Befugnisse des Parlaments erweitert. Immerhin glaubt man — und davon bin ich auch überzeugt —, daß eine Wahl — in allen sechs Staaten der Gemeinschaft an einem Tag durchgeführt — für das ganze Parlament einen sehr positiven Einfluß bezüglich der europäischen und auch bezüglich der Stellung des Parlaments ausüben würde. Selbstverständlich wird, wenn nur einzelne Delegationen getrennt direkt gewählt werden, die Position dieser einzelnen Delegationen nicht verstärkt. Es gibt im Europäschen Parlament nur einheitlich gleichberechtigte Abgeordnete. Eine Differenzierung würde also gar keinen Erfolg haben.Der Ausschuß hat noch erwogen, daß einzelne Punkte sehr schwierig sind. Ich darf auf drei abheben.Wer nicht in den Bundestag gewählt wird, kommt trotz der direkten Wahl über die Bundesliste auch nicht in das Europäische Parlament. Wer im Wahlkreis durchfällt und nicht auf der Landesliste abgedeckt ist, wird zwar eventuell mit großer Stimmenmehrheit in das Europäische Parlament gewählt, er kann aber nicht in das Europäische Parlament einziehen. Sie sehen, eine sehr starke Schwäche dieser national begrenzten Direktwahl.Das zweite, was erwogen wurde, ist, daß ein so gewählter Abgeordneter zwar die Wahl zum Europäischen Parlament ausschlagen kann, aber niemals die Wahl zum Bundestag, wodurch natürlich auch eine gewisse Manipuliermöglichkeit über .die Listen geschaffen würde. Ich will das aus den Erwägungen des Auswärtigen Ausschusses nur andeuten.Wenn schließlich einer den nationalen Sitz verliert, verliert er ohne weiteres auch die Mitgliedschaft im Parlament.Was aber der Ausschuß als besonders schwierig ansah, war, daß durch solche getrennten direkten Wahlen der große Gedanke der unmittelbaren Wahl, diese Verstärkung durch den Willen der Völker eben nicht erreicht wird. Es besteht im Gegenteil die Gefahr, daß der Gedanke der allgemeinen Wahl verbraucht wird, wenn die Menschen sehen, daß man in Deutschland jetzt direkt wählt und dieses überhaupt keinen Einfluß — weder auf das Parlament als solches noch auf seine Mitglieder — hat.Wir waren im Ausschuß im Ziel, das Herr Mommer erstrebt, einig; wir waren aber der Meinung, daß diese Methode einmal nicht zulässig und zum andern auch politisch nicht nur nicht erfolgreich, sondern auch mit Gefahren verbunden ist. Denn es ist natürlich so: Auch wenn in einem, oder in zwei oder drei, ja selbst in sechs einzelnen Ländern direkte Wahlen stattfinden, ist das immer noch kein europäischer Wahlakt mit den Voraussetzungen und Folgen, die man erstrebt.
— Nein, ganz und gar nicht. Darum geht es nicht, Herr Wehner, sondern es geht um die Gemeinsamkeit in Europa, um durch die gemeinsame Wahl eine— wie Herr Mommer sich einmal ausdrückte Weihe zu geben, die die direkten Wahlen haben.
Der Ausschuß hat aber immer betont — und ich freue mich deshalb, daß das in einem Entschließungsantrag vorgelegt worden ist —, daß er nach wie vor streng fordert, daß die europäischen allgemeinen Wahlen durchgeführt werden, und daß er von der Bundesregierung auch verlangt, daß sie alles einsetzt, um diese europäischen Wahlen in der Art, wie sie in den Verträgen vorgesehen sind, vorwärtszutreiben.Der Ausschuß kam zu dem Ergebnis, Ihnen vorzuschlagen, den Gesetzentwurf aus den Gründen, die ich dargelegt habe, abzulehnen.Nun der zweite Komplex, der auch das Europäische Parlament betrifft, nämlich die Stärkung seiner Stellung. Auch da gibt es eine interessante Besonderheit. Wir machen 'hier Vorschläge, obwohl wir die Stellung des Europäischen Parlaments gar nicht unmittelbar stärken können; das kann nur im Rahmen der Verträge über die Europäischen Gemeinschaften geschehen. Aber wir wollen, daß der Bundestag die Regierung auffordert, Verschiedenes zu tun, um zu versuchen, die Stellung des Europäischen Parlaments zu verstärken.Die Dinge haben sich, seit die Anträge eingereicht wordensind, weiterentwickelt. Einiges ist überholt. Wir haben auch verlangt — es steht heute noch in
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 929
g
Dr. Furlerden Anträgen —, daß die Stellung ides Parlaments im Zusammenhang mit der Fusion der Exekutiven verstärkt und nicht geschwächt wird. Wir haben diesen Kampf verloren. Sie werden in einigen Tagen den Fusionsvertrag bekommen. Das Europäische Parlament hat sich nicht durchgesetzt. Ich glaube, die Wichtigkeit ,der Fusion war sehr groß, aber man ist in ,dieser besonderen Beziehung leider nicht weitergekommen.
— Ich glaube, ja. Aber Sie wissen — ich brauche das hier nicht darzulegen —, wie sehr von anderer Seite eine Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments blockiert wird. Man stand vor der Wahl, entweder die Verstärkung der Gemeinschaft durch die Fusion, die auch das Europäische Parlament forderte, weil ja die Kommissionen, die fusioniert werden, dem Parlament unmittelbar gegenüberstehen, zu akzeptieren oder sie scheitern zu lassen. Ich glaube, auch Sie, Frau Strobel, werden nachher nicht den Standpunkt vertreten, daß man es deshalb hätte scheitern lassen sollen.Wir schlagen Ihnen nun folgendes vor. Das Europäische Parlament — die Anträge sind meistens aus den Beschlüssen des Europäischen Parlaments übernommen — fordert aus ganz klaren Gründen eine stärkere Stellung. Es ergehen in Brüssel Gesetze, die unmittelbar für alle Bürger der sechs Länder berechtigend und verpflichtend sind. Diese Gesetze ergehen 'in einem Verfahren, das wir parlamentarisch für unzureichend halten. Sie werden durch den Ministerrat erlassen. Das Europäische Parlament ist zwar eingeschaltet, aber nur konsultativ, d. h. es gibt eine Stellungnahme ab. Der Ministerrat ist an diese Stellungnahme nicht gebunden. Er entscheidet souverän.Ich darf sagen, daß sich das Europäische . Parlament bemüht — das hat auch im Ausschuß eine große Rolle gespielt —, einen faktischen Einfluß zu haben. Es arbeitet sehr fleißig in seinen Ausschüssen und Plenarsitzungen. Es setzt sich auch oft mit seinen Gedanken durch. Aber es hat hier keine entscheidende Rechtsposition.Wir wissen, daß das Zustimmungsrecht, das gefordert wird, nur durch eine Vertragsänderung geschaffen werden kann. Diese ist im Augenblick nicht erreichbar. Wir hoffen da auf die Fusion der Verträge. Wir hoffen auch auf den Kampf — das wird nachher noch dargelegt werden — um die haushaltsrechtlichen Fragen und um den Agrarfonds. Der -Kampf wird gegenwärtig geführt. Wir müssen da über eine Vertragsänderung unbedingt zu einer Verstärkung der Stellung des Europäischen Parlaments kommen.Was hier jetzt gefordert wird, können die Regierungen, wenn sie eine positive europäische Haltung einnehmen, ohne Änderung der Verträge schon jetzt tun. Es wird nämlich vorgeschlagen, daß sich der Ministerrat durch ein Gentleman's Agreement eine Selbstbindung auferlegt insofert, als zunächst eine nochmalige Sitzung stattfinden muß, wenn das Europäische Parlament eine andere Meinung vertritt als der Ministerrat. Wenn dort das Parlament mit Zweidrittelmehrheit seinen Standpunkt aufrechterhält, muß der Ministerrat entweder einstimmig ablehnen oder einen paritätischen Ausschuß anrufen. Dieses einstimmige Ablehnen ist natürlich nicht leicht. Das ist eine Bindung, die die Stellung des Europäischen Parlaments verstärken würde. Auf die Einzelheiten will ich nicht eingehen. Ich will nur sagen: was in diesem Antrag steht, der Ihnen vom Auswärtigen Ausschuß einstimmig vorgelegt wird, ist alles aus den Gedankengängen des Europäischen Parlaments entnommen und die einzige Möglichkeit, um im Augenblick ohne Vertragsänderung weiterzukommen.Ich darf aber auch darauf hinweisen, daß sich die Dinge in den letzten Wochen weiterentwickelt haben. Im Zusammenhang mit der Vorlage, die Ihnen auch bald zugeht, über die Agrarfinanzpolitik, über die eigenen Mittel, die für die Europäische Gemeinschaft kommen, über die Abschöpfungen, über die Zölle werden wir auch im Bundestag eine Verstärkung des Europäischen Parlaments und seiner Stellung verlangen. Aber ich glaube, es ist gut, daß wir uns einmal mit diesen Dingen befaßt haben und daß Ihnen vom Auswärtigen Ausschuß ein Antrag vorgelegt wird, der dem Anliegen, das Europäische Parlament in seiner Position vorwärtszuführen, Rechnung trägt.Wir sind der Meinung, daß mit der Entwicklung der Gemeinschaften diese schwache Stellung des Europäischen Parlaments nicht bleiben kann. Immerhin ist sie politisch ausgebaut worden; sie ist erheblich stärker, als es sich nach den Verträgen vermuten läßt. Es fehlt aber die entscheidende Rechtsposition, auch im Haushaltsrecht. In dem Moment, wo — wie bei einem Staat — eigene Einnahmen da sind, ist natürlich ein echtes Haushaltsrecht die Grundlage und die erste Forderung jedes Parlaments.Ich schlage Ihnen im Namen des Auswärtigen Ausschusses vor, den einstimmig gefaßten Beschluß zu den Anträgen, die die Stellung des Europäischen Parlaments angehen, zu akzeptieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Mommer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in der wirtschaftlichen Einigung Europas in den letzten Jahren durchaus erfreuliche Fortschritte erreichen können, trotz der großen Schwierigkeiten, die es gab. Aber je mehr die wirtschaftliche Einigung Europas fortschreitet, je mehr eingreifende folgenschwere Beschlüsse in die Organe der Gemeinschaften verlagert werden, je größer die Geldsummen sind, über die dort entschieden wird, um so dringender wird es, daß der unterentwickelte Teil Europas, der leider von vorn-
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9300 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Dr. Mommerherein unterentwickelt war, nämlich der demokratische Teil, der demokratisch-parlamentarische Unterbau für die europäischen Institutionen ausgebaut wird. Das ist nichts Neues. Wir reden schon immer darüber, seit wir mit den Verträgen über die Gemeinschaften befaßt waren. Aber ich stelle fest, daß wir da nicht vorwärtsgekommen sind, weder was die Rechte des Europäischen Parlaments, noch was die andere Forderung angeht: dieses Parlament muß ein wirkliches Parlament auch dadurch werden, daß es von dem dort zu vertretenden europäischen Volke oder den Völkern direkt gewählt wird, und zwar so direkt gewählt wird, wie es im Art. 138 des Vertrages vorgesehen ist.Wir haben immer wieder feststellen müssen, daß der direkte Weg, den wir gehen möchten — über die Erfüllung des Art. 138 und, was die Rechte angeht, über Änderungen, Ergänzungen der Verträge —, nicht gangbar ist, seitdem die Regierung eines Mitgliedsstaates diesen Weg blockiert. Wir sind seitdem darauf angewiesen, zwei Dinge zu tun: einmal unseren festen Willen zu bekunden, daß wir uns auch durch die Hindernisse, die wir vielleicht im Augenblick gar nicht aus dem Wege räumen können, nicht in unserer Entschlossenheit beeinflussen lassen, die Demokratisierung doch durchzusetzen.Zweitens sind wir . gezwungen, eine Politik der kleinen Schritte und auch eine Politik der Behelfslösungen zu betreiben, die uns weiß Gott nicht gefallen, aber die uns doch vorwärtsbringen und jedenfalls sehr viel besser sind als das Stillstehen und Garnichtstun. Das müssen wir tun, wenn wir nicht nach dem Grundsatz: „Ruhe ist die erste Pflicht der Europäer" verfahren wollen — Ihnen, Herr Kollege Furler, wurde soeben von Herrn Wehner dieser Zwischenruf gemacht —, wenn wir nicht in Immobilismus auf diesem Gebiet der parlamentarischen Rechte versinken wollen.Ich weiß, wie angreifbar jede Politik der kleinen Schritte ist. Wie leicht haben es die Kritiker, da zu sagen: Nun schaut mal an, wir wollen doch .die Wiedervereinigung, freie Wahlen in ganz Deutschland, und was bietet man uns an? — Kleine Schritte! Diese Kritik wäre berechtigt, wenn nicht die Alternative eben der Immobilismus wäre, der Verzicht auf jedes Tun überhaupt.Der Gesetzentwurf, durch den die 36 deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments bei der Bundestagswahl direkt gewählt werden sollen, hat große Mängel. Dessen sind wir uns bewußt. Er hat die Mängel, die jede Politik der kleinen Schritte hat. Da ist es dann leicht, zu sagen: Das ist nicht die europäische Lösung; da wird nicht wie vorgesehen gleichzeitig in allen sechs Staaten gewählt, da wird nicht das gemacht, was in Art. 138 des Vertrages und in der schon ,1960 beschlossenen Wahlordnung vorgesehen ist, da wird nicht .die Zahl der Parlamentarier vermehrt usw. All das stimmt. Trotzdem ist diese Politik grundfalsch, weil sie im Ansatzpunkt falsch ist, weil sie so tut, als hätten wir etwas Besseres anzubieten als das Unzulängliche — jawohl: Unzulängliche —, das hier angeboten wird.Was Sie jetzt in dem Umdruck als Alternative anbieten, ist sehr viel weniger als das, was in unserer Vorlage enthalten ist. Sie wollen es dabei bewenden lassen, daß die Bundesregierung sich in den Räten der Gemeinschaften wieder einmal — ich glaube, sie hat es gar nicht so oft getan — dafür einsetzt, daß entsprechend dem vom Europäischen Parlament ausgearbeiteten Entwurf eines Wahlabkommens verfahren werde. Aber, meine verehrten Kollegen von der CDU: Was kommt dabei heraus? Sie wissen doch, daß Sie da gerade wieder auf den Ideologen des Neunationalismus treffen, auf den Politiker der Nichtintegration in Europa und der Nichtdemokratisierung der Europäischen Gemeinschaft. Sie stoßen da wieder auf das Hindernis, über das wir im frontalen Angriff nicht hinwegkommen können. Da wäre es dann wenig ,eindrucksvoll, wenn die Bundesregierung das täte, was in Ihrem Entschließungsentwurf steht. Ich bedaure, daß die Bundesregierung das nicht schon immer und immer wieder getan hat. Ich bedaure ebenfalls, daß in der Europa-Initiative der 'Bundesregierung vom vorigen Herbst zwar etwas über die Vermehrung der Rechte des Europäischen Parlaments steht, aber nicht der mindeste Hinweis auf die Forderung nach Direktwahl des Europäischen Parlaments in diesen Texten enthalten ist. Da hätte man das hineinschreiben müssen und nicht hier in eine Entschließung, die ein mangelhafter, sehr mangelhafter Ersatz für eine Vorlage ist, die wir Ihnen unterbreiten, die den Vorzug hat, uns auf jeden Fall ein Stück vorwärtszubringen.Ich habe mir die Protokolle unserer Verhandlungen im Auswärtigen Ausschuß nochmal angesehen und habe mir überlegt: Was ist denn nun eigentlich das wirkliche Motiv, das Sie zur Ablehnung der Vorlage veranlaßt hat? Ich glaube, daß es letzten Endes eine gewisse Furcht ist, die bei Ihnen verbreitet ist, etwas zu tun, was dem französischen Staatschef nicht gefällt. Sie wollen ihn nicht verärgern. Ein Mitglied des Ausschusses hat das auch offen ausgesprochen. Nun, ich glaube, daß das ein durchgehender Zug der Verhaltensweise der Bundesregierung insgesamt gegenüber der französischen Regierung in allen politischen Fragen der letzten Jahre gewesen ist. Da lag ein Fehler, der auch bei Ihnen im übrigen in letzter Zeit erkannt worden ist, daß Sie viel zu zaghaft in der 'Behauptung und Durchsetzung unserer Standpunkte und unserer Interessen gegenüber dem General gewesen sind. Hier in den europäischen Dingen muß es ja doch immer möglich sein, daß wir seinem Credo, dein Credo des Nationalismus, der absoluten, uneingeschränkten Souveränität, unser europäisches Credo entgegensetzen und daß wir das ebenso oft und hart und deutlich tun, wie er es tut. Obschon er ganz allein steht in Europa, hat er keine Furcht, sein Bekenntnis zur Nichtintegration — Nichtintegration in Europa, Nichtintegration im atlantischen Rahmen — laut zu verkünden.Wenn das so ist, daß bei uns hier, bei der Bundesregierung und bei Ihnen, bei der Mehrheit des Hauses, ein Mangel an Dispositionen besteht, unsererseits nachdrücklich das zu sagen und zu fordern,
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 9301
Dr. Mommerwas wir im Interesse Europas für nötig halten, dann sollten Sie da doch auch aus der Beobachtung des Verhaltens de Gaulles zu anderen Staatsmännern etwas lernen. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" konnten Sie nach dem Wilson-Besuch in Paris lesen:De Gaulle mag harte, zähe Verhandlungspartner, und Wilson kam sehr viel besser mit demGeneral zurecht, als man vorher erwartet hätte.Die Annahme des Gesetzes, das wir Ihnen hier vorgelegt haben, würde natürlich die Aufgabe nicht lösen, die in dem Art. 138 des EWG-Vertrags gestellt ist. Aber, meine Herren, es wäre das eindruckvollste Bekenntnis zu Europa und zu dem Grundsatz der allgemeinen und direkten Wahlen und zur Demokratisierung der europäischen Gemeinschaften, das man sich überhaupt denken kann. Ihr Umdruck dagegen ist in Wirklichkeit doch nur ein Alibi und ein Ausdruck des Verzichtes auf jede Aktion.Nun, ich will nicht auf Einzelheiten des Gesetzentwurfs eingehen. Uns lag daran, daß hier ein Exempel statuiert werde. Die 36 deutschen Vertreter sollten in der Volkswahl anläßlich der Bundestagswahl direkt gewählt werden. Wir wollten durch dieses Exempel der Welt auch zeigen, daß dieses deutsche Volk in seiner Gesamtheit für Europa und für die europäische Integration und für ein demokratisches Europa eintritt. Das können Sie mit Entschließungen dieser Art und mit Anträgen der Bundesregierung in den Räten der Gemeinschaften niemals erreichen.Durch dieses Verfahren würde dann auch Europa ins Volk getragen. Zwangsläufig müßte sich jeder von uns in jeder Wahlrede mit den europäischen Problemen auseinandersetzen. Da bemühen sich jetzt europäische Organisationen, den kommenden Wahlkampf nicht ganz ohne Europa sich abwickeln zu lassen. Sie arbeiten Fragen aus, die uns in Wahlversammlungen gestellt werden sollen. Welch schwacher, schwacher Ersatz kann das nur sein für die Beschäftigung mit europäischen Problemen, die sich ergäbe, wenn man entsprechend unserem Vorschlag verführe!Nun arbeiten Sie in der Ablehnung vor allem auch mit juristischen Gründen. Sie meinen, der Vorschlag sei mit Art. 138 nicht vereinbar. Wir sind durch Ihre Argumente nicht überzeugt worden. Der Text läßt das Verfahren zu. „Die Versammlung", so heißt es da, „besteht aus Abgeordneten, die nach einem von jedem Mitgliedsstaat bestimmten Verfahren von den Parlamenten aus ihrer Mitte ernannt werden". Daran haben-wir uns in der Formulierung der Bestimmungen des Gesetzes strikt gehalten. Außerdem wäre es doch eine eigenartige Sache, wenn man im demokratischen Westen eine Sünde und einen Verstoß gegen Geist und Buchstaben der Römischen Verträge darin sähe, daß die zu Entsendenden einer Vorentscheidung des Wählervolkes unterworfen werden. Wenn man das tut, erfüllt man da nicht gerade die Grundforderung, die in .den Verträgen enthalten ist: ein demokratisches, parlamentarisches Europa aufzubauen?!Ich glaube, daß auch Sie selber diese Einwände nicht als sehr durchschlagend ansehen. Früher hatten Sie auch einen guten Anlauf genommen, um eine solche direkte Wahl zunächst im nationalen Rahmen möglich zu machen. Der Generalsekretär der CDU wandte sich damals an die Europa-Union und setzte sich nachdrücklich dafür ein, daß die Bundesrepublik das erste Land sein sollte, das dieses Verfahren anwendete. Auch Herr Dr. Adenauer und andere prominente Mitglieder der CDU haben sich in ähnlichem Sinne ausgesprochen.Wir haben hier eine Wahl zu treffen. Leider können wir nicht das Beste tun und Beschlüsse über die eigentlich notwendigen allgemeinen, direkten, gleichzeitigen Wahlen in allen europäischen Ländern fassen. Wenn wir etwas tun wollen, müssen wir das Mögliche tun, auch dann, wenn es nur das Zweitbeste ist. Was wir auf jeden Fall nicht tun sollten, ist, uns für das Nichtstun zu entscheiden, und genau das ist der Vorschlag, den Sie dem Hause unterbreiten.Im Auswärtigen Ausschuß ist der Antrag der Fraktion der SPD mit dem geringstmöglichen Votum abgelehnt worden, nämlich bei Stimmengleichheit mit 11 : 11 Stimmen. Das Plenum hat die Möglichkeit, das zu korrigieren. Hier liegt ein praktikabler Vorschlag vor. Wenn er realisiert wird, können wir eine politische Tat setzen, anstatt nach dem Grundsatz zu verfahren: wenn wir schon das Ganze nicht bekommen können, dann wollen wir gar nichts haben. Wir sind nicht der Meinung, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht ist.
Vizepräsident Schoettle Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kopf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vier Anträge, die in der Drucksache IV/3129 zusammengefaßt sind, verfolgen ein einheitliches Ziel: die Stärkung des Europäischen Parlaments und seiner Rechte. Das Parlament soll ein Organ der legislativen Gewalt ,der europäischen Gemeinschaften werden.In den Römischen Verträgen ist das Parlament als Institution der europäischen Gemeinschaften allerdings in einer etwas stiefmütterlichen Weise ausgestattet worden. Es ist in unzulänglicher Weise mit Kompetenzen versehen worden. Das Gewaltentrennungsprinzip, das längst in allen europäischen demokratischen Staaten verwirklicht ist, ist im europäischen Raum nur in unvollkommener Weise durchgeführt worden. Die rechtsetzende Gewalt innerhalb der europäischen Gemeinschaften steht in überwiegendem Maße dem Ministerrat zu.Es ist aber -die Aufgabe des Europäischen Parlaments, darum zu kämpfen und nicht in seinen Bemühungen zu erlahmen, um aus einer parlamentarischen Versammlung wirklich zu einem vollgültigen, mit richtigen Kompetenzen ausgestatteten, entscheidungsfähigen und legislativen Parlament zu werden. Diesem Ziele dienen auch diese Anträge. Sie
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9302 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Dr. Kopfbefassen sich zunächst mit einer Reihe institutioneller Fragen.Wir freuen uns, daß uns heute die Drucksache zugeleitet worden ist, in der eine Fusion der Exekutiven der drei Gemeinschaften vorgesehen ist. Bisher bestand in einer dieser Gemeinschaften, in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Möglichkeit, daß der Präsident des Europäischen Parlaments im Rate der vier Präsidenten ein gewisses Mitwirkungsrecht bei der Gestaltung des Haushalts ausübt. Wir würden es bedauern, wenn dieses bescheidene Mitwirkungsrecht im Verlaufe der Fusion verlorenginge. Wir müssen die Vorlage daraufhin prüfen. Wir möchten ein Höchstmaß an Mitwirkungsrecht des Parlaments, insbesondere bei der Haushaltsgestaltung, haben.Sehr eingehend ist darüber gesprochen worden, ob es möglich ist, daß die Beschlußfassung in den Ministerräten in einer öffentlichen Form erfolgen kann. Schon heute sehen die Römischen Verträge die Möglichkeit vor, daß dies geschieht, wenn es auch bisher noch nicht geschehen ist. Es ist aber nicht mit Unrecht gefragt worden, ob dieses Prinzip der Öffentlichkeit nicht in stärkerem Maße angewendet werden könne, damit auch die europäische Offentlichkeit, damit die Wähler der sechs verbundenen Länder die Möglichkeit haben, festzustellen, wieweit die Minister bei den Entscheidungen nur von rein nationalen Gesichtspunkten oder auch vom europäischen Gemeinschaftsgedanken geleitet sind. Es sollte in der Tat erwogen werden, wieweit man ) dieser Anregung Folge leisten kann.Der Ihnen zur Beschlußfassung vorliegende Entwurf enthält eine andere Anregung, die ich als sehr wichtig ansehe. Es ist vorgeschlagen worden, daß die regelmäßigen Konsultationen der Regierungen und der Außenminister, die bis vor einigen Jahren durchgeführt und dann eingestellt worden sind, wiederaufgenommen werden. In der Tat haben eine Zeitlang mit Erfolg regelmäßig Konferenzen und Konsultationen der Außenminister der sechs Länder der Gemeinschaften stattgefunden. Das Parlament hat dies begrüßt. Wir bedauern, daß diese Praxis nicht fortgeführt worden ist. Wir bemühen uns zur Zeit um die Schaffung einer europäischen politischen Union. Wenn sie geschaffen ist, sollte gerade sie zu einem Koordinationszentrum werden, und es sollte ermöglicht werden, daß derartige regelmäßige Konferenzen der Minister stattfinden. Aber noch haben diese Bemühungen nicht zum Ziel geführt. Solange sie noch in der Schwebe sind, wäre zu erwägen. diese leider eingestellte Praxis neu zu beleben und die Außenminister der sechs Länder zu veranlassen, wieder in regelmäßigen Abständen zu einer gemeinsamen Konsultation zusammenzukommen.Es muß aber dann zugleich noch ein weiterer Wunsch ausgesprochen werden, der schon in den vergangenen Jahren vom Europäischen Parlament geltend gemacht worden ist, daß nämlich insoweit, als eine derartige Konsultation der Minister der sechs Länder stattfindet, auch die Möglichkeit gegeben sein muß, daß das Parlament diese behandeltenGegenstände zum Gegenstand einer Aussprache macht.Die Anträge haben sich sehr eingehend mit der Frage des Konsultationsrechts befaßt. Wir haben zur Zeit auf dem legislativen Gebiete, das den Gemeinschaften zugewiesen ist, ein gewisses parlamentarisches Vakuum. Wir haben eine weitgehende Rechtsetzungsbefugnis des Ministerrats. Wir haben im Rahmen dieser Rechtsetzungsbefugnis leider keine parlamentarische Kontrolle, weder im nationalen Bereich — hier ist die Kontrolle nur gegenüber der eigenen Regierung, gegenüber den eigenen Ministern gegeben — noch im europäischen Bereich. Das ist eine bedauerliche Lücke. Die Römischen Verträge sehen wohl ein Anhörungsrecht des Parlaments vor, und sie haben in einer kasuistisch aufgestellten Liste eine Reihe von Fällen festgelegt, in denen das Parlament angehört werden muß, bevor der Ministerrat wichtige Beschlüsse faßt.Es gibt hier gewisse Anomalien. Eine dieser Anomalien besteht beispielsweise darin, daß ein Anhörungsrecht des Parlaments dann gegeben ist, wenn ein dritter Staat der Gemeinschaft assoziiert werden soll, wie dies im Falle von Griechenland und der Türkei geschehen ist, daß jedoch bei einem Beitritt neuer Staaten eine Anhörung des Parlaments nicht erforderlich ist.Es muß das Ziel sein, zu erwirken, daß diese jetzt schon in einer Reihe von Fällen statuierte Konsultationsbefugnis des Europäischen Parlaments in ein Zustimmungsverfahren umgewandelt wird und daß diese Zustimmung des Parlaments in allen entscheidenden Bereichen und grundsätzlich bei legislativen Beschlüssen notwendig ist. Die Vorschläge, die gemacht worden sind und die in der Ausschußdrucksache enthalten sind, scheinen vernünftig zu sein. Da es im Augenblick schwerfallen würde, die Römischen Verträge zu ändern, muß ein anderer Weg gefunden werden. Es wird vorgeschlagen, daß der Ministerrat eine Art von Selbstbindung vornimmt und dn allen wichtigen, in allen gesetzgeberischen Fragen das Parlament vorher konsultiert. Es wird ferner vorgeschlagen, daß in den Fällen, in denen eine Einigung des Ministerrats mit dem Parlament und seinem Votum nicht möglich ist, eine Prozedur angewandt wird, die wir im deutschen Staatsrecht in der Form des Vermittlungsausschusses seit Jahren geübt und schätzen gelernt haben, daß nämlich ein paritätisch besetzter Ausschuß mit dem Ziel der Einigung in Erscheinung tritt.Auch das Budgetrecht, soweit man von einem solchen Recht als einem parlamentarischen Recht im europäischen Raum überhaupt sprechen kann, ist bedauerlicherweise rudimentär gestaltet worden. Es muß ,angestrebt werden, daß dem Parlament ein volles Entscheidungsrecht über den Haushalt zusteht. Diese Forderung ist insbesondere zu stellen im Hinblick ,auf die beabsichtigte Neuregelung, die mit der Schaffung eigener Einnahmen für die Gemeinschaft verbunden ist.Wir haben vor wenigen Tagen die Drucksache IV/3313 vorgelegt bekommen. Sie enthält Vorschläge der Kommission der EWG zur Schaffung
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 9303
Dr. Kopfeigener Einnahmen dadurch, daß Abschöpfungsbeträge und Zölle, die bisher von den Ländern vereinnahmt wurden, künftig den Gemeinschaften zustehen sollen. Es handelt sich um erhebliche Beträge. Es ist selbstverständlich, daß derartige Maßnahmen, wenn sie getroffen werden sollten, Schritt um Schritt eine gleichzeitige Einschaltung des Parlaments notwendig machen. Es ist daher erfreulich, daß in den drei Vorschlägen, die uns unterbreitet worden sind, ein Vorschlag der Kommission über die Art und Weise enthalten ist, in der das Europäische Parlament künftighin bei allen budgetären Maßnahmen eingeschaltet werden soll. Diese Vorschläge sind beachtlich, bedürfen jedoch noch ,der Ergänzung und Erweiterung.Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort über die andere Drucksache sagen, die die Frage der direkten Wahl der deutschen Mitglieder in das Europäische Parlament behandelt. Ich möchte nicht die rechtlichen Gesichtspunkte wiederholen, die der Herr Berichterstatter bereits vorgetragen hat; aber eines ist wichtig zu wissen, daß nämlich der Sinn der direkten Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments, die von uns immer gefordert worden isst, der ist, daß ein europäischer Gesamtakt vollzogen werden soll; die direkte Wahl soll nicht nur in einem der sechs Mitgliedsländer, sondern in allen Mitgliedsländern vollzogen werden, und die direkten Wahlen sollen gleichzeitig vollzogen werden. Leider ist es der Arbeitsgruppe des Europäischen Parlaments, die sich über ein Jahr lang mit den Fragen der Ausarbeitung eines gemeinsamen Wahlrechts befaßt hat, nicht gelungen, ein gemeinsames Wahlrecht zu gestalten. Die Verbundenheit der einzelnen Länder mit ihren Wahltraditionen ist noch zu eng. Man wollte daher diesen Auftrag dem künftigen erstmals direkt gewählten Europäischen Parlament erteilen. Aber eines ist in Art. 14 des europäischen Wahlgesetzentwurfs in sehr klarer Weise zum Ausdruck gekommen: Nationale Wahlen sollen nicht mit Wahlen zum Europäischen Parlament . zusammenfallen. Das ist eine begründete Auffassung. Man möchte die europäischen Wahlen auch zeitlich von den nationalen Wahlen trennen, und dies mit Fug und Recht, weil man eben dem besonderen Charakter dieses europäischen Gesamtaktes Rechnung tragen möchte.Ich möchte zusätzlich zu den Gesichtspunkten, die der Herr Berichterstatter vorgetragen hat, auf einen weiteren Gesichtspunkt aufmerksam machen. Es ist gerade in dieser Arbeitsgruppe des Europäischen Parlaments viel von der Notwendigkeit gesprochen worden, daß das Europäische Parlament stärkere und größere Befugnisse erhält. Es ist immer und immer wieder darauf hingewiesen worden, daß gerade die Einführung der direkten europäischen Wahlen erst dann sinnvoll wird, wenn dieses direkt zu wählende europäische Parlament zur gleichen Zeit ein wirkliches Parlament mit wirklichen Kompetenzen darstellt. Das ist bestimmt richtig. Denn jede Wahl ist eine Entscheidung nicht nur zwischen Gruppen, sondern auch zwischen den Ideen, die von diesen Gruppen vertreten werden. Diese Ideen müssen miteinander konfrontiert werden. Eine Konfrontierung divergierender europäischer Ideen ist erst dann möglich, wenn dieses Europäische Parlament mit Aufgaben und mit Kompetenzen ausgestattet ist, so daß sich an einem ganz bestimmten Gegenstand, der in die legislative Befugnis des Europäischen Parlaments fällt, die gegenteiligen Auffassungen entzünden und die Programme einander gegenübergestellt werden können. Daran fehlt es. Aber gerade die Vorlage, die uns in den letzten Tagen über die Schaffung gemeinsamer Einnahmen der europäischen Gemeinschaften zugegangen ist, gibt uns die Hoffnung und stärkt unsere Erwartung, daß eis in einer nicht allzu fernen Zeit möglich sein wird, eine derartige Konfrontierung der Ansichten und Programme bei der Wahl zum Europäischen Parlament vorzunehmen.Die von Herrn Kollegen Mommer geäußerte Meinung in bezug auf angebliche Gründe oder Hintergründe unserer ablehnenden Haltung gegenüber dem Vorschlag zu direkten europäischen Wahlen, die auf Deutschland beschränkt sind, halte ich für abwegig. Ich kann versichern, daß sie bei den Gedankengängen weder im Vordergrund noch im Hintergrund irgendeine Rolle gespielt haben; solche Gründe bestehen nicht. Wir haben den Wunsch, daß direkte europäische Wahlen, allerdings nicht auf ein Land beschränkt, sondern gleichzeitig und simultan in allen Mitgliedsländern durchgeführt werden, erneut in einem Entschließungsentwurf bekundet, der Ihnen heute zur Entscheidung vorliegt. Wir glauben aber, daß die Vorschläge, die in der Drucksache IV/3313 enthalten sind, eine 'Reihe beachtlicher Handhaben bieten, um unserem Ziele der europäischen 'Einigung näherzukommen — vielleicht mit kleinen Schritten, aber mit wirksamen Schritten —, um diesen unseren Bemühungen auch Erfolg zu verbürgen.In diesem Sinne treten wir für die Annahme der Vorschläge ein, die in der Drucksache enthalten sind. Wir bitten um Ihr Verständnis, daß wir dem Vorschlag, allein in der Bundesrepublik europäische Wahlen zu vollziehen, nicht stattgeben können, weil wir die direkten europäischen Wahlen, die wir alle wünschen, in Zukunft als eine gemeinsame europäische Bekundung, als einen europäischen Gesamtakt betrachten möchten.
Das Wort hat der Abgeordnete Freiherr von Mühlen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt eine europäische Lyrik, es gibt eine europäische Prosa, und es gibt eine europäische Wirklichkeit. Ich habe mir ebenso wie Kollege Mommer noch einmal die Protokolle der Ausschußsitzung durchgesehen, lin der diese Drucksachen behandelt worden sind, und ich stelle fest: wir haben uns an der europäischen Lyrik erfreut, wir haben sie in Prosa übersetzt, und wir haben schließlich im Zeichen der Wirklichkeit Beschlüsse gefaßt.Diese Wirklichkeit haben sowohl die Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei als auch Sie,
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9304 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Freiherr von Mühlen1 Herr Kollege Dr. Kopf, dahingehend zusammengefaßt: es sei erforderlich, dem Europäischen Parlament die notwendigen Kompetenzen gegenüber dem Ministerrat zunehmend und in dem Maße zu verschaffen, wie die nationalen Parlamente bereit sind, Kompetenzen zugunsten dieser supranationalen Instanz abzugeben. Daß diese Entwicklung ungleich gelaufen ist, wissen wir alle. Daß der Ministerrat mit Kompetenzen ausgestattet ist, denen keine gleichwertige Zunahme 'der Kontrolle seitens des Europäischen Parlaments gegenübersteht, ist eine Tatsache, die uns alle beschäftigt und die auch in das Problem der Wahlen zum Europa-Parlament hineinspielt.Wir alle teilen, glaube ich, die Ansicht des Herrn Kollegen Mommer, daß es sehr schön wäre, wenn wir als erste im Zuge der Bundestagswahl auch direkt gewählte Abgeordnete in das Europäische Parlament entsenden könnten. Es wäre sehr schön, wenn wir nicht befürchten müßten, dann als europäische Schnelläufer in der etwas steinigen Europa-Aschenbahn nach hinten sehen und feststellen zu müssen, daß niemand uns folgt. Damit wäre der Sache nicht genützt. Wir müssen diese Dinge gemeinsam tun, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern .
— Ja, aber von der Einsamkeit im europäischen Bereich halte ich im Augenblick im Zeichen der Wirklichkeit, Herr Kollege Mommer — nicht im Zeichen ) der Lyrik und des Sentiments —, nicht sehr viel.Was meine Parteifreunde und mich betrifft, so stellen wir fest, daß der erste Punkt unseres Antrages Drucksache IV/2091 durch die Ziffer II des Antrags des Auswärtigen Ausschusses seine Erledigung gefunden hat.Der Punkt 2 des Antrages der FDP steht als Problem weiterhin vor uns allen. Wir haben es im Augenblick im Zeichen der Wirklichkeit und nach reichlicher Diskussion mit Ihnen im Ausschuß für richtig gehalten, diesen Punkt hinsichtlich einer Beschlußfassung zurückzustellen, nämlich die Frage, ob die Möglichkeit besteht, im nationalen Parlament sich gegen Entschlüsse des Ministerrats der EWG zu sichern, die keiner übernationalen Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegen. Wir haben die Frage nur deshalb zurückgestellt, weil wir wissen — und weil Sie alle wissen — daß diese Frage für uns alle im Raume steht und zur gemeinsamen Lösung drängt. Diese Ansicht wird auch von allen unseren Freunden in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geteilt. Ich frage mich, ob es nicht richtiger wäre, wenn wir uns etwas mehr und mit Energie hinter die bereits gemeinsam gefaßten Beschlüsse stellten, als hier immer wieder Probleme sozusagen im eigenen Hause zu behandeln, zu deren Lösung sich auch die anderen schon längst bekannt haben.Schon am 10. Februar dieses Jahres hat der Politische Ausschuß des Europäischen Parlaments einen Bericht des Vorsitzenden Eduardo Martino angenommen, der sich en détail mit sehr viel Sorge, aber auch mit sehr klaren Formulierungen mit der Problematik der Kompetenzen des Europäischen Parlaments und des Ministerrats befaßt. Ich habe mir aus diesem langen Bericht einige Kernpunkte herausgezogen, und ich glaube, es ist sehr gut, sie Ihnen jetzt einmal — mit des Präsidenten Genehmigung — kurz in Erinnerung zu bringen. In dem Bericht des Politischen Ausschusses des Europäischen Parlaments wird festgestellt:Die Frage der Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments wird nicht ohne Grund mit dem Problem, dem geeinten Europa einen demokratischen Aufbau zu sichern, in direkten Zusammenhang gebracht.Eine europäische Integration ohne demokratische Kontrolle würde nämlich zu einem fortschreitenden Verfall der Demokratie im gesamten europäischen Raum führen.Auf vielen wichtigen Gebieten müssen wir heute feststellen, daß im Leben der Gemeinschaft eine Grundregel der Demokratie nicht vollständig beachtet wird.Die Ministerräte— sofern Sie dort die Minister finden —fassen Beschlüsse, die der Kontrolle der nationalen Parlamente entzogen sind und zu denen das Europäische Parlament bestenfalls eine unverbindliche Stellungnahme abgeben darf, die es oft verspätet und fast immer unvorbereitet ausarbeiten muß.Diese Sachlage darf nicht geduldet werden, denn dadurch wäre nicht nur die demokratische Entwicklung des europäischen Aufbaus gefährdet, sondern dies würde auch zu einer fortschreitenden Schwächung der demokratischen Institutionen in allen unseren Ländern führen.Das Europäische Parlament darf auf Grund seiner Zusammensetzung, seines Charakters und der Aufgaben, die es als Vertretung der europäischen Völker zu erfüllen hat, nicht zu einem technischen Beratungsorgan degradiert werden.Das ist die Quintessenz des Berichts von Eduardo Martino, der vom Politischen Auschuß des Europäischen Parlaments am 10. Februar gebilligt worden ist. Ich glaube, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das wäre doch eine sehr gute Arbeitsunterlage, um jetzt zwischen den nationalen Parlamenten und den Delegierten im Europäischen Parlament einmal wirklich zusammenzuarbeiten und dazu überzugehen, miteinander zu reden und sich nicht immer nur mit Worten zu bewerfen.Im übrigen möchte ich, auch für meine Freunde, dem zustimmen, was Herr Kollege Dr. Kopf über die Möglichkeiten und über die nächsten Schritte, die getan werden können, gesagt hat. Herr Kollege Mommer, Sie sind ja auch für die kleinen Schritte in europäischen Angelegenheiten, wie Sie vorher gesagt haben. Aber ich glaube, ein Alleingang bei der Wahl der Abgeordneten für das Europäische Parlament wäre ein etwas zu großer Schritt, mit dem wir aus der Reihe kämen.Freiherr von MühlenWir sollten uns hier im Bundestag darüber klar werden, daß die nationalen Parlamente bei der Festlegung der Kompetenzen für das Europäische Parlament sehr viel größere Einwirkungsmöglichkeiten haben, als sie bisher wahrgenommen wurden. Was die Stellung des Ministerrats gegenüber dem Europäischen Parlament betrifft, so können wir meiner Ansicht nach nicht erwarten, daß die Herren Minister einem übernationalen Parlament mehr Respekt entgegenbringen, als das eigene Parlament ihnen zu Hause abverlangt. Auch das ist ein Punkt, den wir in der Zukunft beachten müssen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Strobel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr von Mühlen hat eingangs gesagt, er sei der Meinung, wir sollten doch hier nicht immer wiederholen, was andere vor uns schon besser gesagt haben. Nun, Herr von Mühlen, im Europäischen Parlament herrscht in allen Fraktionen Übereinstimmung, daß wir jetzt mit diesem Anliegen in unsere nationalen Parlamente gehen müssen,
daß wir unsere nationalen Parlamente in dieser Frage aufrütteln und unsere nationalen Parlamente dafür gewinnen müssen, unseren Regierungen einzuheizen,
damit endlich etwas geschieht, daß die europäischen Gemeinschaften nicht entdemokratisiert, sondern demokratisiert werden.
Ich habe Sie, Herr von Mühlen, also anscheinend falsch verstanden und freue mich, wenn wir einer Meinung sind.Zu Ihrem zweiten Punkt! Ich konnte aus dem, was Sie gesagt haben, nur entnehmen, daß Ihnen selbst dieser kleine Schritt, den wir vorgeschlagen haben, weil der größere im Augenblick nicht möglich erscheint, schon zu groß ist. Da muß ich sagen: das kann ich nur bedauern.Die Gesamtanträge, meine Damen und Heren, liegen seit einem Jahr im Bundestag. Wir alle, vor allen Dingen die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses, wissen, daß es nicht am bösen Willen auf irgendeiner Seite liegt, daß diese Anträge bisher nicht im Plenum behandelt werden konnten. Es beleuchtet aber auch ein bißchen die Situation, in der sich die Abgeordneten befinden, die gleichzeitig im Deutschen Bundestag und im Europäischen Parlament sind, die für das Europäische Parlament zwar die Legitimation des Bundestages haben — sie sind durch ihn dorthin delegiert —, aber nicht die Legitimation des Wählers durch die indirekte Wahl über eine Liste bei der Bundestagswahl.Ich darf hier ein Beispiel anführen. Von der italienischen Delegation im Europäischen Parlament, die an sich aus 36 Abgeordneten besteht, sind vier Mitglieder gestorben, und fünf Mitglieder gehören zur Zeit nicht mehr dem nationalen Parlament an. Folglich haben 25 % der Mitglieder der italienischen Delegation kein wirkliches Mandat. Wir müssen feststellen, daß die christlich-demokratische Gruppe aus Italien im Europäischen Parlament doppelt so viele Sitze hat, wie sie nach den Wählerstimmen, die sie in Italien hinter sich hat, haben dürfte. Wir wissen auf Grund eines Antrages, den italienische Senatoren verfaßt haben, nachdem Herr Mommer diesen Gesetzentwurf eingebracht hatte, daß es in Italien durchaus eine Chance gab, einen ähnlichen Weg zu beschreiten wie den, den wir hier vorgeschlagen haben. Wenn aber keiner damit beginnt, ein gutes Beispiel zu geben, ist es natürlich schwieriger, die anderen dafür zu gewinnen.Von uns 36 deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament ist doch jeder ständig im Zwiespalt, ob er seine Aufgaben im Europäischen Parlament wahrnehmen soll der ob es wichtiger ist, daß er hier ist. Gerade weil ich meinen Kollegen Bauer hier sitzen sehe, möchte ich sagen, daß unsere Abwesenheit im Deutschen Bundestag gelegentlich auch dazu benutzt wird, Vorgänge im Europäischen Parlament — nun, ich möchte mich sehr vorsichtig ausdrücken — sehr subjektiv, wenn nicht falsch darzustellen, wie das z. B. am letzten Freitag geschehen ist. Es ist ja so bequem, unpopuläre Entscheidungen des Ministerrates, an denen die Bundesregierung beteiligt war, einfach auf jemand ,anders abzuschieben.
In dem Augenblick, in dem wir direkt gewählt wären oder mindestens das Votum des deutschen Wählers als Abgeordnete des Europäischen Parlaments hätten, wären wir natürlich eindeutiger auf der anderen Ebene tätig..Ich kann nicht annehmen, Herr Bauer, daß ein MdB nicht weiß, wie die Entscheidungen in der EWG fallen. Aus diesem Grunde muß ich sagen: Dann scheint ,es also wider besseres Wissen zu geschehen. Das ist aber doch wieder ein Zeichen dafür, daß wir uns im nationalen Parlament viel mehr über die Zusammenhänge zwischen beiden Parlamenten unterhalten müssen.Was wollten wir denn erreichen? Durch diesen Antrag, die deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments bei der Bundestagswahl dem Votum des Wählers zu unterstellen, wollten wir erreichen, daß der Staatsbürger direkt an der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments beteiligt ist. Wir wollten eine stärkere Legitimation für die deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments. Das scheint weiß Gott nötig zu sein. Wir wollten ,ein Beispiel geben, das die Direktwahl des Europäischen Parlaments beschleunigt. Im Lichte der Abstimmung im Außenpolitischen Ausschuß gibt es ja eine Chance, daß man das hier doch noch tun kann.
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9306 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Frau StrobelWas aber, meine Damen und Herren, wollen wir rait den anderen Anträgen erreichen? Vor ,allengen begrüßen wir sehr, daß im Außenpolitischen Ausschuß eine Übereinstimmung erreicht wurde, weil es immerhin auch der Regierung gegenüber mehr Nachdruck hat, wenn zum Ausdruck kommt, daß das gesamte Parlament von der Regierung erwartet, daß sie sich mit mehr Energie für diese Demokratisierungeinsetzt. Wir wollen dem Parlament Gelegenheit geben, der Regierung diesbezügliche Aufträge zu geben.Nun ist allerdings eine Situation eingetreten — Herr Kopf hat sie schon beleuchtet —, die es etwas schwieriger macht, zu sagen: Die Regierung, soll auf der Basis der heute anzunehmenden Anträge in der Zukunft im Ministerrat die Befugnisse des Europäischen Parlaments stärken. Denn inzwischen sind ja von der EWG-Kommission sehr weitreichende Vorschläge für die Finanzierung der Europäischen Gemeinschaften gemacht worden, die einfach weitergehende Befugnisse für das Europäische Parlament fordern, als wir sie in diesen Anträgen, .die der Außenpolitische Ausschuß beschlossen hat, zum Ausdruck bringen. Wir möchten also, daß die Regierung das Parlament hier nicht mißversteht. Das ist nicht etwa falsche Bescheidenheit. Ich möchte sogar persönlich die Bitte an die Regierung hinzufügen, sie soll sich bei ihren Verhandlungen heute schon auf die Anträge des Europäischen Parlaments stellen. Es ist ja bekannt, daß alle drei Fraktionen des Europäischen Parlaments diese Anträge gemeinsam gestellt haben und .daß sie eine ganz breite Basis im Europäischen Parlament gefunden haben. Ich würde annehmen, daß die Kollegen aus der CDU und aus der FDP auch ihre nationalen Fraktionen für die gleichen Anträge gewinnen.Die Fusion ist inzwischen beschlossen, und dadurch ist — Herr Furler sagte das schon — ein Teil unserer Anträge leider nicht nur hinfällig, er ist auch nicht erfüllt worden. Das muß ich bedauern; denn die von Herrn Kopf als möglich angeführte Schwächung des Europäischen Parlaments ist im Fusionsvertrag leider bereits eingetreten. Im Fusionsvertrag ist nämlich auf den Vier-PräsidentenAusschuß, der den Haushalt endgültig verabschiedet, verzichtet worden, so daß man sagen muß, daß der Fusionsvertrag eine, wenn auch geringe, Schwächung des Europäischen Parlaments bringt. Man muß das vielleicht aus übergeordneten politischen Gesichtspunkten — denn er bringt eine erhebliche Stärkung der Gesamtintegration in Kauf nehmen. Niemand wollte die Fusion gefährden, und das ist sicher die letzte Ursache dafür. Aber er bringt natürlich auch eine sehr große Stärkung der Bürokratie, er bringt eine Stärkung der Technokratie.Was mir einfach nicht einleuchtet, ist, daß auch die Bundesregierung in diesem Fusionsvertrag einer wesentlichen Stärkung der Einrichtung der Ständigen Stellvertreter zugestimmt hat, die es ursprünglich ja nur für die EWG gab und die es jetzt für die gemeinsame Exekutive gibt. Die Ständigen Stellvertreter sind hohe Beamte. Ihre Position wird durch die Fusion gestärkt, die Position des Parlaments wird geschwächt. Ich halte es für meinePflicht, hier darauf hinzuweisen, und zwar noch aus einem anderen Grund.Es liegt der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen vor, in dem die Regierung wieder einmal aufgefordert wird, sich für die direkten Wahlen einzusetzen. Ich bedaure, daß dieser Antrag nicht schon vor längerer Zeit vorgelegt worden ist. Denn bei der Unterschrift unter den Fusionsvertrag hat der italienische Außenminister, Herr Fanfani, eine neue Anstrengung gemacht, wenigstens in einer Absichtserklärung dem Fusionsvertrag anzufügen, daß die Regierungen der Auffassung sind, daß das Europäische Parlament gestärkt werden muß. Die italienische Regierung ist bei dieser Gelegenheit auch wieder zurückgekommen auf ihren Vorschlag — der sich übrigens nicht genau mit dem des Europäischen Parlaments deckt —, zunächst einmal wenigstens . die Hälfte der Mitglieder des Europäischen Parlaments direkt wählen zu lassen.Mich erstaunt es deswegen, daß sich die Bundesregierung nicht bereit gefunden hat, Herrn Fanfani dabei zu unterstützen, daß eine solche Absichtserklärung abgegeben wird, weil erst kurze Zeit danach bei der Tagung des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa, also des Monnet-Komitees, in Berlin dieser italienische Vorschlag gleich an erster Stelle wiederholt wurde. Das Komitee sagt, daß es an die auf seiner Tagung vom 1. Juni 1964 erhobene Forderung erinnert, die Hälfte der Mitglieder des Europäischen Parlaments direkt zu wählen.Diese Verlautbarung des Monnet-Komitees ist erstmalig, glaube ich, auch von Herrn Barzel, dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, und von Herrn Mende, dem Vorsitzenden der Freien Demokraten, unterschrieben. Herr Mende ist ja auch Mitglied der Regierung. Ich konnte — allerdings nur aus Pressemitteilungen — erfahren, daß der einzige Minister, der Herrn Fanfani bei seiner Aktion unterstützt hat, der niederländische Außenminister war.
In den Pressemitteilungen heißt es, daß die Haltung des Bundesministers Schmücker zu diesen Fragen wesentlich nuancierter war als die Fanfanis und Luns. Deshalb möchte ich von der Bundesregierung wissen: Warum hat man Herrn Fanfani bei einer solchen Absichtserklärung nicht unterstützt?Nun noch zu unseren Anträgen. Es ist leider oft so gewesen, daß man das Ohr des Hauses, wenigstens dieses Teils des Hauses, nicht bekommen konnte, wenn man Kritik an der Bundesregierung übte. Dann verschließen Sie allzuleicht Ihre Ohren. Aber in diesem Fall kommen wir einfach nicht weiter, wenn wir der Bundesregierung nicht gemeinsam Aufträge geben und sie auch immer wieder kritisieren, wenn sie diesen Aufträgen nicht Folge leistet. Denn das Unbehagen über die gegenwärtige Situation wächst überall.Demnächst haben wir es im Bundestag mit einigen Ratifikationen zu tun. Dabei wird besonders deutlich werden, wohin wir steuern, wenn wir nicht vorher ein Entscheidungsrecht des Europäischen Parla-
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Frau Strobelments in wesentlichen politischen Fragen durchsetzen können. Leider geht es eben nicht so, wie die FDP in ihrem Antrag ursprünglich vorgeschlagen hatte — es war sicherlich gut gemeint —, daß die Regierung erst entscheiden soll, wenn der Bundestag entschieden hat. Das wäre natürlich eine Bremse für die Integration.Aber wenn wir es demnächst mit der Ratifikation betreffend eine Umlage für Margarinerohstoffe zu tun haben, dann geht die Entscheidungsbefugnis über eine Umlage, die praktisch eine Verbrauchsteuer darstellt, im Falle der Ratifizierung an den Ministerrat über. Dieser entscheidet dann in Zukunft mit Mehrheit; denn es heißt in der Verordnung, daß die Beschlüsse im Ministerrat nach dem gleichen Verfahren gefaßt werden, nach dem der Haushalt beschlossen wird. Und der Haushalt wird eben nach diesem Verfahren beschlossen. Im Falle der Umlage verliert das Parlament seinen Einfluß auf die Aufbringung und Verwendung von Millionensummen. Im Falle der Finanzierung der Gemeinschaften geht es um Milliardensummen.Wenn der Text der Vertragsänderung einmal vom Ministerrat beschlossen ist, können wir ihn nicht mehr ändern. Im Zuge der Ratifizierung kann der 'Deutsche Bundestag nur noch ja oder nein sagen. Sagen wir aber nein, dann geht es genauso wie bei der Fusion der Exekutiven. Dann heißt es: Wer hier nein sagt, stoppt die Integration. Da wir alle nicht in diesen Geruch kommen wollen, kommen wir wieder in einen Zwiespalt. Deshalb müssen wir rechtzeitig darauf aufmerksam machen und müssenSie um Ihre besondere Aufmerksamkeit für diese Dinge bitten. Denn wir wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Integration dynamisch fortgesetzt wird und daß die europäischen Gemeinschaften weiter gestärkt werden, damit auch die politische Integration möglich gemacht wird. Das mag ein bißchen unbequem sein; es ist aber notwendig.Unsere Anträge sind vom Auswärtigen Ausschuß teilweise wörtlich angenommen worden, teilweise sind sie sinngemäß übernommen worden. Ich stimme Herrn Furler zu: sie stammen sinngemäß aus Beschlüssen des Europäischen Parlaments; zum anderen Teil stammen sie aus Beschlüssen der sozialistischen Parteien der sechs Mitgliedstaaten.Unsere Anträge, die sich auf die Fusion bezogen, sind im Auswärtigen Ausschuß zum Teil abgelehnt worden; zum Teil .sind sie nicht erfüllt. Abgelehnt ist z. B. das Anliegen, daß der künftigen gemeinsamen Kommission, die Hohe Kommission heißen soll, so, wie das bei der Hohen Behörde üblich war, ein den 'Gewerkschaften besonders verpflichteter Mann zugeordnet bzw. kooptiert werden soll. Ich bedaure, daß dieser Antrag abgelehnt worden ist. Ich möchte aber die Gelegenheit benutzen, zu sagen, daß es noch eine Chance für jede Regierung, aber insbesondere auch für die deutsche Bundesregierung gibt. Man kann als eines der Mitglieder, die in die gemeinsame 'Hohe Kommission geschickt werden, einen Gewerkschaftler nominieren. Ich hoffe, daß wir bis dahin eine Bundesregierung haben, die an diesem Anliegen der Gewerkschaften nicht vorbeigeht.Noch ein Hinweis auf einen Antrag, den wir gestellt haben und der leider wegen der Zeitnot, in der wir uns befinden, noch nicht behandelt worden ist. Ich muß deswegen heute auf ihn zurückkommen, weil das Monnet-Komitee in Brüssel den Antrag — und zwar auch wieder mit der Unterschrift der Herren Barzel, Etzel, Birrenbach usw. — in der vorigen Woche wiederholt hat. Wir hatten beantragt, die Regierung solle sich im Ministerrat dafür einsetzen, daß ein gemischter Ausschuß aus Vertretern des Europäischen Parlaments und der USA gebildet wird. Dieser Antrag ist noch nicht verabschiedet. Er ist jetzt vom Monnet-Komitee wiederholt worden. Ich möchte annehmen, daß das' bedeutet — da die Unterschrift Ihres Fraktionsvorsitzenden daruntersteht —, daß Sie ihn auch akzeptieren.Ein zweiter Antrag von uns ist ebenfalls noch unerledigt. Darin hatten wir gebeten, die Bundesregierung aufzufordern, sich für die Assoziierung Israels zu der EWG einzusetzen. Ich möchte deshalb in diesem Zusammenhang etwas dazu sagen, weil die Assoziierung der Maghrebstaaten unmittelbar bevorsteht. Wir alle wünschen, daß die Maghrebstaaten assoziiert werden, und zwar insbesondere auch im Lichte der Vorgänge im Nahen Osten. Israel wird natürlich in dem Moment, wo die Maghrebstaaten assoziiert werden, erneut den Anspruch erheben, nicht schlechter als diese Maghrebstaaten behandelt zu werden. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir bei nächster Gelegenheit diese beiden Anträge auch einstimmig verabschieden könnten.Ich muß noch auf eines aufmerksam machen, was auch schon angeklungen ist. Verschiedene Bestimmungen, die diese Dinge betreffen, müssen vom Deutschen Bundestag, aber auch von den anderen nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Damit ergibt sich, daß die Zeit der Deklamationen einfach vorbei ist. Ich nehme es den Regierungen nicht ab, wenn sie sich darauf hinausreden, daß einer von den Sechsen nicht will. Ich möchte einmal wissen, wann die Bundesregierung im Ministerrat tatsächlich die anderen Fünf vor die Frage gestellt hat, ob sie europäischen direkten Wahlen des Parlaments zustimmen oder nicht, und wann lallein der französische Staatspräsident erklärt hat, daß Frankreich seine Zustimmung da nicht geben wird. Wenn das so ist, dann wäre doch z. B. der Besuch des französischen Staatspräsidenten in der Bundesrepublik eine gute Gelegenheit, daß der Herr Bundeskanzler mit ihm auch über diese Fragen spricht.Ich kann mir vorstellen, daß es Politiker gibt, die der Meinung sind: Na, da gibt es noch gewichtigere Probleme. Ich würde sagen: tatsächlich; denn die Probleme der politischen europäischen Integration, die Probleme der deutsch-französischen Beziehungen, die Probleme der französischen Beziehungen zum Osten stehen im Raum. Das Paket ist sicher schon sehr schwer. Aber ob es in den Europäischen Gemeinschaften weitergeht, hängt doch auch nicht unwesentlich von ihrer Demokratisierung lab. Ich möchte den Herrn Bundeskanzler sehr bitten, die Gelegenheit zu benützen, mit dem französischen Staatspräsidenten sowohl die Frage der direkten Wahlen als auch ,die Frage der Haushaltsrechte des Europäischen Parlaments, insbesondere im Zusam-
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Frau Strobelmenhang mit der Finanzierung der Landwirtschaftspolitik, zu erörtern. Man muß sich immer bewußt sein, daß der Fortschritt in Europa ohne die Beteiligung der Völker eigentlich doch eine Fiktion ist
und daß man die Beteiligung .der Völker nur überihr von ihnen gewähltes Parlament erreichen kann.Es wäre schön gewesen, wenn wir heute von der Bundesregierung etwas zum Stufenplan hätten hören können — vielleicht kommt das noch —, den der Herr Bundeskanzler in der letzten Pressekonferenz angekündigt hat. Ich persönlich bin allerdings der Meinung, daß der Bundeskanzler solche eminent politischen Probleme zuerst im Parlament vortragen sollte, bevor er sie in einer Pressekonferenz behandelt.
Also dort ist von einem Stufenplan die Rede gewesen, ,den er für die Formierung Europas vorlegen wird. 'Das Wort „Formi'eru'ng" erscheint mir übereilt. Ich muß ehrlich sagen, daß ich mir unter der ;,Formierung Europas" zunächst nichts vorstellen kann, und ich wäre dankbar, wenn ich hier einen Begriff davon bekäme, welche Vorstellungen sich dahinter verstecken. Ich möchte auch gern wissen: Bedeutet das, daß die Bundesregierung ihre Vorschläge, die sie im November sämtlichen sechs Regierungen zugeleitet hat, nicht mehr ,aufrechterhält? Dann wäre die Frage: in welcher Weise will sie ,sie ändern?Ein Wort zum Schluß. Die Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaften muß so weit gehen, daß, wenn die Gemeinschaften Eigenmittel bekommen, das Parlament auch das Haushaltsrecht bekommt. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal die Frage stellen, ob das Parlament damit rechnen kann, daß die Regierung diese Forderung unterstützt.Nachdem sich die Regierungsparteien nicht bereit finden können, unseren Antrag auf einstweilige Direktwahl der deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments zu unterstützen, möchte ich gern wissen, wann die Regierung im Ministerrat eine Initiative dahin gehend ergreifen wird, daß die Frage der europäischen Direktwahlen jetzt endlich auf die Tagesordnung gesetzt wird. Von Initiativen ist in der letzten Zeit sehr viel die Rede gewesen. Uns genügt es aber nicht, daß davon geredet wird. Wir möchten, daß die Initiativen ergriffen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Burgbacher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich bemerken, daß ich diese Stunde und diese Diskussion als eine Stunde für Europa auffasse und daß wir alle, alle in diesem Haus vertretenen Parteien, an der Beschleunigung der politischen Integration, an der Verstärkung der Rechte des Parlaments interessiert und dafür hier und im Europaparlament erwiesenermaßen gemeinsam eingetreten sind, zuletzt am 12. Mai in Straßburg.Zweifellos ist hier — wie der Kollege Wehner durch Zwischenruf bemerkte — Ruhe als Bürgerpflicht nicht förderlich für die Entwicklung der Integration, und sehr verständlich ist die Unruhe über manche überflüssige Hemmungen, die der europäischen Integration bereitet werden. Ich glaube aber nicht, daß man aus dieser Erkenntnis schließen kann, daß nun jede wohlgemeinte Maßnahme für die Sache zwingend gut sein muß. Wir haben Bedenken gegen die direkten Wahlen nach dem Vorschlag der SPD zu diesem Zeitpunkt, vor allem deshalb, weil wir dann direkte Wahlen zu einem Parlament abhalten, das nicht der Vorstellung des Bürgers von einem Parlament entspricht. Wir befürchten, daß in der unvermeidbaren Debatte in der Öffentlichkeit gefragt wird: Wozu wählen wir, was haben die zu sagen, was können die tun? Damit fügen wir der Sache, statt ihr förderlich zu sein, unter Umständen einen Schaden zu.Inzwischen ist ja die Vorlage über die Fusion der Exekutiven beschlossen worden. Die Fusion der Exekutiven ist zweifellos in der hier erwähnten „Politik der kleinen Schritte" ein ziemlich beachtlicher Schritt, und uns erscheint es und erschien es auch richtig, diesen Schritt durch andere Forderungen zunächst nicht zu gefährden. Außerdem haben wir die schon erwähnte Vorlage der EWG-Kommission über die Finanzierung d er gemeinsamen Agrarpolitik, über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaft und den Vorschlag der Kommission, die Rechte des Parlaments zu verstärken.Ich darf in Ergänzung der Ausführungen der Frau Kollegin Strobel feststellen oder — wenn Sie so wollen— wiederholen, daß das Europäische Parlament in Straßburg am 12. Mai unter Mitwirkung und Zutimmung der Europa-Abgeordneten aller hier im Hause vertretenen Parteien die Unauflöslichkeit, die Unteilbarkeit
dieser drei Vorlagen nach sehr eindrucksvollen Debatten beschlossen hat, wobei sogar die gaullistische Gruppe nicht dagegen gestimmt, sondern sich enthalten hat. Daß das in Wirklichkeit eine Ablehnung bedeutet, ist eine andere Sache. Aber politisch wollte man das nicht so erkennen lassen, sondern hat sich nur bei der Abstimmung enthalten.Herr Kollege Mommer hat hier, wenn ich das richtig verstanden habe, gesagt, man müsse auch mal mit Frankreich deutlicher reden. Nun, ich glaube, daß das schon geschehen ist, auch wenn das nicht immer öffentlich geschehen ist.
In dieser Sitzung des Europäischen Parlaments habe auch ich gesagt, daß wir uns derzeit des Verdachts nicht erwehren könnten, daß es der französischen Regierung auf die Vollendung der Agrarpolitik und der Finanzierung der Agrarpolitik ankomme und daß — so sagte ich — gelinde gesagt die Zuneigung für alle anderen Aufgaben und Pflichten der Römi-
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Dr. Burgbacherschen Verträge außerordentlich unterentwickelt sei. Wir haben dann in dieser Resolution, die von allen Parteien dieses Hauses und den Abgeordneten der anderen fünf Mitgliedstaaten — bei der von mir genannten Enthaltung — im Europäischen Parlament gefaßt worden ist, zum Ausdruck gebracht, daß sich, wie wir glauben, in Verfolg dieser Resolution ein de facto politisches Junktim zwischen dem Abschluß und der Finanzierung der Agrarpolitik und z. B. der Industrie- und Handelspolitik ergibt.Ich möchte darauf doch sehr nachdrücklich hinweisen, damit nicht der Eindruck entsteht, wir nähmen die Vorschläge der SPD-Fraktion deshalb nicht wörtlich an, weil wir in der Sache anderer Meinung seien. Das ist absolut nicht der Fall. Wir sind in dem Timing, in der Reihenfolge der Schritte, und auch in der politischen Wertung offenbar verschiedener Meinung. Wir halten direkte Wahlen zu einem Parlament für richtig, wenn es sich auch wirklich um ein Parlament handelt. Jetzt hat sich uns erfreulicherweise durch das Junktim, durch die Unteilbarkeit, durch die Notwendigkeit, die Agrarpolitik zu vollenden — französisches Interesse — und die Finanzpolitik der EWG-Kommission auszuweiten, eine Dynamik der Verträge und deshalb notwendigerweise gleichzeitig eine Vermehrung der Rechte des Parlaments angeboten, wobei vielleicht der eine an dem und der andere an jenem mehr interessiert sein mag. Wenn wir aber in dem Begriff der Unteilbarkeit fest bleiben, dann kommen wir auf diesem Wege einen Schritt weiter. Ich würde es begrüßen, wenn sich dieses Haus bei einer sich bietenden Gelegenheit diesen Beschluß des Europäischen Parlaments über die Unteilbarkeit dieser drei Vorlagen ausdrücklich zu eigen machte.Wir empfehlen, dem Antrag des Außenpolitischen Ausschusses und dem Entschließungsantrag derRegierungskoalition zuzustimmen. Dabei darf aber nicht untergehen, daß seit der Beratung der Vorlagen im Außenpolitischen Ausschuß in Europa und insbesondere in der EWG-Kommission Ereignisse eingetreten sind, die — ich bitte um Entschuldigung — von größerem Gewicht sind als diese Entschließung. Leider liegt der Beschluß des Europäischen Parlaments vom 12. Mai nicht vor. Das ist ein Versäumnis von uns allen. Wir hätten diesen Beschluß auf den Tisch des Hauses legen sollen; dann hätte dieses Hohe Haus sich ihn zweifellos zu eigen gemacht. Ich möchte das für meine Person heute in einer unformellen Weise tun und die Unteilbarkeit der Agrarpolitik, der Finanzpolitik und der Rechte des Parlaments zum politischen Prinzip dieses Hohen Hauses erheben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Effertz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Professor Burgbacher sagte eben, die heutige Debatte sei eine Debatte für Europa. Ich wünschte, es wäre so. Wäre es wirklich so, dann hätte es nicht eines Jahres Zeit bedurft, bis wir uns heute endlich über diese längst fälligenVorlagen unterhielten. Vor allen Dingen hätten wir dann auch nicht vor ganz leerer Regierungsbank über Europapolitik zu sprechen brauchen.
— Ich hätte heute aber gerne den Bundesminister für Wirtschaft auf der Tribüne gesehen, insbesondere wenn ich an die letzten Verhandlungen um den Getreidepreis in Brüssel denke.Wenn uns die Europapolitik wirklich so auf den Nägeln brennte, wie das in Frankreich offensichtlich der Fall ist, und wenn die Europapolitik bei uns durch laufende Unterrichtung — an der es in der Vergangenheit leider vielfach gefehlt hat, und schuld daran sind wir alle — so populär wäre wie in anderen Ländern, dann gäbe es in diesem Hause viel öfter eine sogenannte Europadebatte. Sie brauchte dann auch nicht immer an irgendeiner Teilfrage aufgehängt zu werden, etwa dem Getreidepreis oder irgendeiner einzelnen Verordnung, die in Brüssel gerade zur Entscheidung ansteht.In all den Jahren war es nicht möglich, ein echtes europäisches Parlament zu schaffen, wie es vorgesehen war. Ob es je kommt, das hängt davon ab, ob die Vorstellungen über die politische Einigung Westeuropas heute noch die sind, die man damals wohl gehabt hat, als man die Römischen Verträge entwarf und als man ihnen hier im Hause zustimmte. Inzwischen hat sich einiges getan, und zumindest Staatspräsident de Gaulle scheint einer anderen Meinung zu sein, als sie die Vertreter Frankreichs beim Abschluß der Verträge eingenommen halben. Nachdem also das Straßburger Parlament nicht das geworden ist, was wir uns gewünscht haben und was im Vertrag vorgesehen ist, glaube ich heute das Recht zu haben, uns selbst hier im Parlament, und zwar alle Parteien, an ein eigenes Recht zu erinnern, an das wir in der Vergangenheit offenbar leider nicht gedacht haben, obwohl mehrfach darauf Bezug genommen worden ist. Vor allen Dingen möchte ich auch die Regierung mit dem Hinweis auf dieses unser Recht, das im Ratifizierungsgesetz zum EWG-Vertrag niedergelegt ist, daran erinnern, daß es auch für sie gut wäre, wenn sie dieses Recht des Parlaments in Zukunft öfter zur Geltung brächte. Dann wäre nämlich ihre Situation, nationale, eigene Interessen in Brüssel energischer zu vertreten als bisher, wesentlich stärker, als das in der Vergangenheit der Fall war.Ich habe mir bei der Auseinandersetzung um den Getreidepreis in Brüssel die Frage vorgelegt: Was hätte eigentlich Bundeswirtschaftsminister Schmücker tun sollen, wenn er feststellen mußte, daß die vom Bundeskanzler in diesem Hause in seiner Regierungserklärung proklamierten Voraussetzungen für eine Zustimmung zu einer Harmonisierung des Getreidepreises auf so erheblichen Widerstand stoßen würden? Ich meine, der Bundeswirtschaftsminister hätte als beauftragter Delegationsleiter der deutschen Regierung in Brüssel sagen müssen: „Ich kann leider nicht zustimmen. Es tut mir furchtbar leid, ich muß unter Berufung auf ein Konsultationsrecht meines Bundestages und unter Berufung
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Dr. Effertzauf eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers zunächst einmal wieder den Deutschen Bundestag unterrichten, und die Regierung muß erneut beraten. Dann setzen wir uns wieder zusammen."Als vor 14 Tagen Herr Pisani meinte, auf Grund einer Wahlrede, die er mit Herrn de Gaulle in Frankreich zu halten hatte, die Beteiligung an einer wichtigen Sitzung in Brüssel absagen zu müssen, und damit die Sitzung auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, habe ich mich gefragt: Was würde wohl in Frankreich gesagt werden, wenn sich der deutsche Bundesminister Schwarz so verhalten hätte und so verhielte?Warum sage ich das alles? Weil ich der Meinung bin, daß uns auf dem Teilsektor, mit dem man sich bisher in der Hauptsache in Brüssel befaßt hat, nämlich auf dem Sektor der Agrarpolitik, von den anderen im Gegensatz zu den Erklärungen bei der Schaffung des EWG-Vertrages so viel negativer Anschauungsunterricht erteilt worden ist, daß es dringend notwendig ist, die gemeinsamen Anliegen, die hier leider heute erst nach einem Jahr behandelt werden, etwas energischer von uns allen und auch durch eine entsprechende Untermauerung in Gestalt einer Aufklärung der Öffentlichkeit zu betreiben, als das bisher geschehen ist. Es ist notwendig, nicht mehr so schüchtern zu sein, sondern unser nationales Interesse genauso energisch, genauso egoistisch, wenn Sie wollen, zu vertreten, wie das Herr de Gaulle mit seinen mehrfachen Ultimaten bisher auf unsere Kosten getan hat.
Ich bin der Meinung, es muß aufhören, daß man bei dem Versuch, ein politisch einiges Europa zu schaffen, das man beschworen hat, als wir diesem Vertragim Bundestag zustimmten, sich daran gewöhnen muß, daß man dieses Europa nicht mit Ultimaten, nicht mit Pressionen erreichen kann.Nun, Staatspräsident de Gaulle hat es anscheinend sehr leicht mit diesen Pressionen gehabt, weil offensichtlich das Parlament in Bonn — das ist eine Kritik an uns allen, auch an der Opposition — von seinem Recht aus Art. 2 des Ratifikationsgesetzes zum EWG-Vertrag in der Vergangenheit entweder nicht oder nur unzureichend Gebrauch gemacht hat. Wir haben nämlich das Recht, von der Regierung zu verlangen, daß vor wichtigen politischen Grundsatzentscheidungen in Brüssel, solange das Straßburger Parlament seine vorgesehene Funktion noch nicht hat, der Bundestag unterrichtet wird. Nun wollen wir uns nicht darüber streiten, ob Unterrichten Konsultieren oder ob Konsultieren mehr sei als Unterrichten. Ich bin überzeugt, wenn die Bundesregierung — wir hätten es alle miteinander verlangen können, die SPD auch — uns laufend vor wichtigen Entschlüssen oder vor der notwendigen Änderung der Haltung unserer Delegation in einem wichtigen Punkt in Brüssel unterrichtet hätte, dann wäre es automatisch zu einer umfassenden europäischen Debatte gekommen, Herr Kollege Burgbacher, und damit auch zu einer Meinungsbildung in diesem Hause,der sich eine Regierung im gemeinsamen Interesse nicht hätte entziehen können.
— Ich sage das nur deswegen, weil ich in bezug auf den bevorstehenden Besuch von Staatspräsident de Gaulle im Juni Angst habe.Herr Professor Burgbacher, Sie sagten, die Agrarpolitik solle jetzt in Verbindung mit Forderungen auf anderen Sektoren vollendet werden. Da man auf anderen Sektoren bisher nichts getan hat, bin ich der Meinung, man kann die Agrarpolitik nicht beenden und vollenden, sondern wir müssen stoppen, und bei den anderen muß aufgeholt werden, die anderen müssen mitgezogen werden, erst recht, wenn es sich darum handelt, was der deutsche Steuerzahler ab 1967 zu zahlen hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte, Herr Abgeordneter Illerhaus.
Herr Kollege, ist Ihnen nicht bekannt, daß das Europäische Parlament durch alle drei Fraktionen die Meinung vertreten und in einem Beschluß niedergelegt hat, daß der gemeinsame Agrarmarkt nur verwirklicht werden kann, wenn gleichzeitig auch der gemeinsame Industriemarkt verwirklicht wird?
Doch, das weiß ich. Ich begrüße das. Ich weiß nur nicht, ob Staatspräsident de Gaulle auch so denkt.
— Gott sei Dank, hoffentlich aber nicht in der Meinung: wir haben Zeit bis zu den Wahlen. Das bezieht sich auf alle drei Parteien. Mir ist es wirklich ernst, wenn ich hier die Bitte an uns alle richte: Haben wir doch endlich einmal den Mut, in Brüssel zu sagen: Nun vorläufig Bremse, vorläufig Schluß, bis die anderen auch nachgezogen haben und die Verpflichtungen durch die anderen aufgeholt worden sind! Ich bin es leid, immer zu hören, daß wir angeblich den „Schwarzen Peter" haben, obwohl wir in Brüssel auf dem Agrarsektor bisher nichts anderes getan haben, als Vorleistungen zu erbringen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Friedensburg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst den sozialdemokratischen Kollegen danken, daß sie hier Vorschläge gemacht haben, durch die das europäische Problem wieder einmal zur Sprache gekommen ist. Das ist sehr erfreulich, und ich wollte nur, daß solche Aussprachen häufiger stattfänden,
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Dr. Dr. h. c. Friedensburgdamit der europäische Gedanke stärker, als es leider sonst der Fall ist, in der öffentlichen Meinung gerade auch unseres Landes zur Geltung kommt.Es fällt mir nicht ganz leicht, Herr Kollege Mommer, Ihnen in der Sache zu widersprechen, denn sicherlich ist die Initiative verdienstvoll gewesen. Aber der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Es kann ein Zweck verdienstvoll sein, und die Mittel, die man anwenden zu müssen glaubt, um das Ziel zu erreichen, sind vielleicht doch falsch. Wir können —'darin schließe ich mich durchaus dem Votum des Außenpolitischen Ausschusses an — in dem Vorschlag, ,den Sie namens Ihrer Fraktion hier vorgetragen haben, keinen Schritt vorwärts erblicken. Ich meine sogar, daß ,die Verwirklichung Ihres Vorschlags eher zu einer Gefährdung des europäischen Gedankens führen könnte. Das ist in dem Bericht des Herrn Berichterstatters meiner Ansicht nach sehr richtig und zwingend ausgeführt worden.Stellen Sie sich vor, die deutsche Bevölkerung benennt mit großer Mehrheit eine Reihe von Personen als geeignete Vertreter für das Europäische Parlament, und in ihren lokalen 'Wahlkreisen, wo nach ganz anderen Gesichtspunkten entschieden wird, werden die Betreffenden nicht gewählt. Ich glaube, eine schlimmere Kompromittierung und Desavouierung des europäischen Gedankens kann man sich schwerlich vorstellen, als wenn dann die betreffenden Abgeordneten für das Europäische Parlament nicht in Frage kommen, weil sie die Voraussetzengen nicht erfüllen. Ich würde es für den europäischen Gedanken auch nicht für heilsam halten, wenn im Europäischen Parlament Mitglieder mit ganz verschiedener Legitimation säßen. Das würde dem Gesamtgedanken zweifellos nicht dienlich sein. So schön und wichtig der Gedanke ist, daß die europäischen Parlamentarier direkt gewählt werden, so kann es, wenn wir da vorprellen und Abgeordnete deutscher Art mit einer besonderen demokratischen Legitimation herausheben, der Gesamtstruktur des Parlamentes nicht dienlich sein.Sie haben gemeint, Herr Kollege Mommer, daß Ihr Vorschlag 'das schänste Bekenntnis zu Europa sei, das man sich überhaupt denken könne. Vielleicht ist meine Phantasie etwas ausschweifend. Ich könnte mir in der Tat noch stärkere Bekenntnisse vorstellen als dies. Ich werte es gern als ein Bekenntnis. Aber Sie glauben, das Ziel mit Mitteln erreichen und fördern zu können, die nach unserer Ansicht nicht zweckmäßig sind.Ich muß im Anschluß an das, was Herr Kollege Kopf schon gesagt hat, mich aber auch noch gegen die Meinung wenden, die lablehnende Haltung derjenigen Mitglieder des Hauses, die dem Votum des Auswärtigen Ausschusses zustimmen wollen, beruhe auf dem Wunsche, den französischen Staatschef nicht zu reizen, nicht zu provozieren. Ich glaube, wir sollten mit solchen Argumenten äußerst zurückhaltend sein. Das ist kein guter Stil. Wir haben heute in der Fragestunde gehört, wie sich ein Mitglied unseres Hauses mit vollem Recht gegen die Unterstellung mandte, die Entscheidung in der Verjährungsfrist ;ei unter dem Druck der öffentlichen Meinung desAuslandes geschehen. Genauso wenig, glaube ich, sollten wir hier unterstellen, daß die Auffassung, ein 'solcher Schritt sei sachlich nicht sehr nützlich, deshalb vertreten werde, weil der französische Staatschef vielleicht anderer Ansicht sein könnte. Ich weiß das gar nicht einmal,
ich habe diese Überlegung nie angestellt und werde sie auch nicht anstellen.
Selbstverständlich wäre es lächerlich und beinahe selbstmörderisch, wenn wir den Staatschef oder Regierungschef eines benachbarten, befreundeten und verbündeten Landes unnötig provozieren wollten. Selbstverständlich werden wir auch in unseren politischen Entscheidungen verantwortlich zu überlegen haben, ob das etwa geschehen könne; aber ich glaube nicht, daß irgend jemand bei uns eine solche Erwägung ernsthaft angestellt hat. Ich sehe auch gar nicht ein, warum der französische Staatschef, dem wir doch, obwohl er uns bisweilen enttäuscht und befremdet, alle einen gewissen Respekt nicht versagen werden, durch eine solche Entscheidung so besonders provoziert wäre.Ich möchte mich auch gegen eine Auffassung wenden, die Frau Kollegin Strobel ausgesprochen hat. Frau Kollegin Strobel, Sie haben die Legitimation einiger italienischer Kollegen damit bestritten, daß deren nationales Parlamentsmandat abgelaufen sei. Es gibt keine Bestimmung dieser Art. Wir haben in allen Fraktionen und nationalen Gruppen des Parlaments die Übung gehabt, daß jemand nicht automatisch aus dem Europäischen Parlament ausscheidet, wenn er nicht mehr dem nationalen Parlament angehört. Das kann natürlich nicht unbegrenzt fortgeführt werden. Aber zunächst einmal muß nach den Bestimmungen des Vertrages der Betreffende nur aus den Reihen der Parlamentsmitglieder gewählt worden sein. Wir haben immer die Übung gehabt — schon aus praktischen Gründen konnte es gar nicht anders sein —, daß die Betreffenden, auch wenn ihr nationales Mandat erlischt, zunächst einmal noch eine Weile dem Europäischen Parlament angehören.Ich möchte aber die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne auch einmal zu sagen, daß wir nicht ganz unschuldig an der Ohnmacht des Europäischen Parlaments sind. Wer eine Reihe von Jahren dem Parlament angehört hat, weiß, wie oft wir wortreiche Resolutionen fassen und im nächsten Jahre zum gleichen Gegenstand mit etwas variierten Formulierungen dasselbe sagen und uns nicht sehr darum kümmern, was die Regierung oder die Kommissionen daraus gemacht haben. Ich brauche nur an die Tragödie der europäischen Universität zu erinnern. Es ist vielleicht auch von unserer Seite nicht immer alles geschehen.Es müßte auch — ich möchte da einen Appell an unser ganzes Parlament richten — über die Delegationen eine engere, häufigere Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten stattfinden. Wir haben den
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Dr. Dr. h. c. Friedensburgdringenden Wunsch — ich möchte das gerade auch als Mitglied des Europäischen Parlaments sagen —, daß wir uns in der Arbeit viel häufiger und viel gründlicher mit unseren Kollegen abstimmen, die im nationalen Parlament ihre Arbeit verrichten.Meine Herren von der Sozialdemokratischen Partei, seien Sie also nicht enttäuscht, wenn wir uns Ihnen nicht anschließen können. Ein Schlag ins Wasser hat keinen Zweck, so schön es auch platscht. Damit allein ist der europäischen 'Sache nicht gedient. Ich fürchte sogar, 'daß wir hier der europäischen Sache keinen Dienst erweisen würden. Im Gedanken, im Grundsatz, in der allgemeinen Zielrichtung sind wir uns alle einig. Es muß dringend etwas geschchen, um die parlamentarische, die demokratische Seite der europäischen Bewegung weitaus stärker zu betonen als bisher.
Das Wort hat der Abgeordnete Metzger.
Meine Damen und Herren! Ich habe mich ganz besonders darüber gefreut, daß Herr Kollege Burgbacher die Unteilbarkeit der Objekte in der Verordnung, die von der Kommission vorgelegt worden ist, noch einmal ausdrücklich betont und erklärt hat, die sei unabdingbar. In der Tat, das muß so sein. Es kann nur eigene Mittel der EWG geben, wenn zu gleicher Zeit die Kompetenzen des Parlaments erweitert werden. Das eine ist ohne das ) andere nicht denkbar.
Das hat allerdings Konsequenzen, darauf will ich aufmerksam machen. Denn wenn etwa der Ministerrat sich entschließen sollte, sei es aus eigenem Entschluß, sei es unter Druck Frankreichs, gewisse Dinge voranzubringen, etwa in bezug auf die Eigenmittel, aber in bezug auf die Zuständigkeit des Parlaments nichts zu tun, dann würde das bedeuten, daß dieses Parlament — nämlich die drei Fraktionen insgesamt, die sich ja in der Frage einig sind — den Vertrag, der zu ratifizieren wäre, nicht ratifizieren könnte. Wir müssen uns über diese Konsequenzen klar sein. Ich glaube, es ist auch gut, wenn sich die Regierung über diese Konsequenzen im klaren ist. Denn das bedeutet erstens einmal, daß sie im Ministerrat gewisse Dinge nicht tun kann, und das bedeutet zweitens, daß sie im Ministerrat durch das Parlament eine Rückenstärkung hat. Das scheint mir die positive Seite der Sache zu sein, und die Regierung sollte das durchaus überlegen und benutzen.
Was die Wahlen zum Parlament anlangt, so hat der Herr Kollege Burgbacher sich ein Argument zu eigen gemacht, das wir deutschen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament vorgetragen haben, als damals die Wahlordnung zur Abstimmung stand. Ich weiß nicht, ob Sie damals schon im Parlament waren, Herr Burgbacher,
— dann werden Sie sich erinnern. Damals haben wir deutschen Sozialdemokraten den Standpunkt vertreten: wir können für die Wahlordnung nicht stimmen, weil das Parlament, solange es keine Zuständigkeiten hat, damit den Wähler notwendigerweise enttäuschen muß oder betrügen muß, und beides wollen wir nicht. Dieses Argument können Sie aber heute nicht bringen, weil Sie — die Christlich-Demokratische Fraktion — im Europäischen Parlament dieses Argument zurückgewiesen haben. Sie waren damals anderer Meinung.
Wenn wir heute dieses Argument nicht mehr benutzen, so einfach deswegen, Herr Kollege Burgbacher, weil inzwischen eine politische Entwicklung vor sich gegangen ist, die damals keineswegs vorhanden war. Damals hat noch keiner vorausgesehen, welchen Standpunkt de Gaulle gegenüber der EWG einnehmen wird und wie sehr er alle Maßnahmen unterstützt, die zur Unterhöhlung der EWG führen. Deswegen haben wir• aus politischen Gründen alle Veranlassung, alles zu tun, was der Stärkung der EWG dient, auch das, was notwendig ist, um unsere Bevölkerung für die Idee zu erwärmen und unsere Bevölkerung zu veranlassen, für die EWG zu stimmen, etwa auch in diesen Wahlen.
Von daher gesehen, sind diese Wahlen von allergrößter Bedeutung und von daher gesehen, Herr Kollege Friedensburg, kann man nicht sagen, daß diese Wahl für die Wähler nicht zumutbar sei. Denn die Wähler werden sich in diesem Augenblick zu diesem Europa bekennen, das de Gaulle jedenfalls in dieser Weise als integriertes Europa bekämpft.
Herrn Kollegen Effertz möchte ich auch noch etwas sagen. Er hat sehr eindringlich und in einer sehr erfreulichen Weise gesagt, wir sollten nicht immer nur de Gaulle die Möglichkeit geben, die Vorteile aus der EWG zu ziehen, während wir selber immer nur die Nachgaben machen. Sehr einverstanden. Aber, Herr Effertz, soviel ich weiß, sind Ihre Leute in der Regierung, und ich stelle an Sie die Frage: warum haben Ihre Leute in der Regierung in der Richtung nichts getan? Ich habe bis jetzt nichts davon gehört.
Das Wort hat Herr Staatssekretär Carstens.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu einigen der hier aufgeworfenen Fragen Stellung nehmen, darf aber vielleicht eine Bemerkung zu der These vorausschicken, die hier aufgestellt worden ist, die Bundesrepublik Deutschland habe im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf agrarpolitischem Gebiet nur Vorleistungen gebracht. Diese These hält die Bundesregierung für falsch. Die Bundesregierung ist im Gegenteil der Meinung, daß auch im agrarpolitischen Bereich abgewogene Lösungen gefunden worden sind, die auch die Interessen der deutschen Landwirtschaft in angemessener Weise berücksichtigen.
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Staatssekretär Dr. CarstensIch glaube, auch in der allgemeinen Form, wie es später gesagt worden ist, daß Deutschland aus der EWG nur Nachteile und Frankreich nur Vorteile gehabt habe, ist eine solche These unhaltbar.
Man könnte einen langen Katalog von Vorteilen aufzählen, die Deutschland, die deutsche Wirtschaft, die deutsche Industrie und andere Gruppen bei uns, aus der EWG gezogen haben. Das trifft auch für die Agrarpolitik insofern zu, Herr Abgeordneter, als nach Auffassung der Bundesregierung auch für den Bereich der Agrarpolitik, wie ich gerade gesagt habe, abgewogene Lösungen gefunden worden sind.Aber ich darf, Herr Präsident, auf den eigentlichen Gegenstand dieser Debatte mit einigen Bemerkungen eingehen und vielleicht einige Worte zu den verschiedenen Ausführungen sagen, die über die Befugnisse des Euorpäischen Parlaments gemacht worden sind. Ich möchte vorausschicken, daß es die Auffassung der Bundesregierung ist, daß die Befugnisse des Europäischen Parlaments gestärkt werden sollten. Die Bundesregierung hat diese ihre Auffassung bei jeder Gelegenheit öffentlich und auch in den Sitzungen des Ministerrates zum Ausdruck gebracht. Das bezieht sich in ganz besonderer Weise auch auf die Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments. Die Bundesregierung setzt sich für eine Verstärkung gerade dieser Befugnisse ein. Sie sieht in Übereinstimmung mit dem, was von verschiedenen Abgeordneten hier gesagt worden ist, eine wichtige Gelegenheit zur Verwirklichung dieses Ziels im Zusammenhang mit den Plänen für die Schaffung neuer Einrichtungen für die europäischen Gemeinschaften. Die Bundesregierung ist in der Tat der Auffassung, daß in diesem Zusammenhang eine Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments unumgänglich notwendig ist.Es ist dann von dem Fusionsvertrag gesprochen worden, durch den vor kurzem eine Reihe von Organen der drei europäischen Gemeinschaften vereinigt worden sind und durch den in der Tat ein besonderer Ausschuß bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der sogenannte VierPräsidenten-Ausschuß, in Wegfall gekommen ist. Herr Präsident, ich persönlich habe sehr großen Zweifel, ob der bisherige Vier-Präsidenten-Ausschuß dem Europäischen Parlament tatsächlich Befugnisse verlieh. So wie ich die Arbeitsweise dieses Ausschusses gekannt habe, hat es sich um einen Ausschuß gehandelt, an dem in der Tat der Präsident des Europäischen Parlaments mitgewirkt hat. Aber es ist mir nicht bekannt, daß das Parlament selbst auf diese Weise zu einem nachhaltigen Ein fluß gekommen wäre. Man kann außerdem doch wohl sagen, daß die Konstruktion, die damals unter den besonderen Verhältnissen des Jahres 1950 gewählt worden ist, nämlich einem solchen aus vier Präsidenten von vier Organen gebildeten Ausschuß die entscheidenden haushaltsrechtlichen Kompetenzen zu übertragen, mit 'unseren landläufigen Vorstellungen von Haushaltsrecht und Haushaltsfestsetzung schwerlich übereinstimmt. Deswegen glaube ,ich, daß durch die neue Konstruktion, die jetzt gewählt worden ist, letzten Endes auch das Europäische Parlament nicht an Befugnissen verloren, sondern eher gewonnen hat. Denn jetzt hat das Europäische Parlament das Recht, den Verwaltungshaushalt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu diskutieren und zu ihm Stellung zu nehmen, ebenso wie es zu dem gesamten übrigen Haushalt Stellung nimmt.Die Tendenz und dieallgemeine Haltung der Bundesregierung in der Frage der Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments bezieht sich auch und insbesondere 'auf die Rechte des Europäischen Parlaments bei der Verabschiedung von Verordnungen durch den Ministerrat. Der Rat ist — und das wird den Abgeordneten des Europäischen Parlaments bekannt sein — seit längerem dazu übergegangen, auch in den Fällen, in denen der Vertrag dies nicht vorschreibt, das Europäische Parlament vor der Verabschiedung wichtiger Verordnungen anzuhören.Ein weiterer Punkt, der hier diskutiert worden ist, betraf die Assoziationsabkommen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit dritten Staaten. Auch hier findet faktisch eine weitgehende Unterrichtung des Europäischen Parlaments sowohl durch den Präsidenten ,des Rates wie durch die Kommission über den Lauf der Verhandlungen statt. Auch die Bundesregierung ist der Meinung, daß das noch nicht ein auf die Dauer befriedigender und ausreichender Zustand ist. Es stellt sich hier die Frage, ob man die Stellung des Europäischen Parlaments derjenigen der nationalen Parlamente bei der Verabschiedung internationaler Verträge angleichen sollte. Das würde bedeuten, daß das Europäische Parlament ähnlich wie ein nationales Parlament seine Zustimmung zu dem Assoziationsvertrag zu geben haben würde, bevor der Assoziationsvertrag ratifiziert werden könnte. Das sind Fragen, die sicherlich nicht heute abschließend entschieden werden können. Aber ich möchte doch andeuten, daß hier die Möglichkeit zu einer Fortentwicklung besteht, die vielleicht den Vorstellungen, die zu diesem Punkt geäußert worden sind, Rechnung tragen könnte.Ein weiterer Punkt, der zur Diskussion gestellt worden ist, ist die Frage der Einsetzung eines Ausschusses nach Art des deutschen Vermittlungsausschusses zur Überbrückung von Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat. Hier kann ich Ihnen nicht verhehlen, daß die Bundesregierung Bedenken hegt. Sie befürchtet, daß durch die Einsetzung eines solchen Gremiums unter Umständen eine sehr starke Verzögerung bei der Verabschiedung von Verordnungen eintreten könnte.Aber es wäre zu erwägen — und das ist ein Vorschlag, den die Bundesregierung gemacht hat und an dem sie festhalten wird —, daß man eine zweite Beschlußfassung des Rates für den Fall vorsieht, daß das Europäische Parlament Änderungsvorschläge macht. Da wäre die Frage, ob das eine Beschlußfassung mit einer besonderen Mehrheit sein sollte, eine Unterfrage, die sicherlich genauer zu prüfen wäre.
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9314 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Staatssekretär Dr. CarstensZu dem großen Komplex, der hier eingehend erörtert worden ist, nämlich zu der Frage der direkten Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments zunächst nur in Deutschland, möchte ich mich ganz kurz fassen. Ich kann mich hier im wesentlichen den Bedenken anschließen, die vorgetragen worden sind. Nach Auffassung der Bundesregierung ist das gewichtigste Bedenken, daß Deutschland hier vorangehen würde und daß das Prinzip der Einheitlichkeit des Verfahrens für die Bestellung der Mitglieder des Europäischen Parlaments dadurch verlassen würde. Aber die Bundesregierung hält selbstverständlich an den Erklärungen, die sie wiederholt abgegeben hat, und auch an der Erklärung, die sie durch die Unterzeichnung der Römischen Verträge abgegeben hat, fest, nämlich: daß das Ziel der politischen Bemühungen innerhalb der europäischen Gemeinschaften die direkte Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in allen Mitgliedstaaten sein muß. Die Bundesregierung wird die sich bietenden Möglichkeiten ausnutzen, um diesem Ziel näherzukommen. Es ist vorgesehen, daß im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Fusion der drei Gemeinschaften, die ja in Kürze aufgenommen werden, auch diese Frage wieder erörtert wird.Schließlich ist die Frage behandelt worden, ob der Ministerrat in öffentlicher Sitzung tagen oder jedenfalls gewisse Beschlüsse in öffentlicher Sitzung fassen sollte. Auch hierzu muß ich Bedenken anmelden. Die Verhandlungen im Ministerrat ähneln doch immer noch sehr viel mehr internationalen Verhandlungen als, sagen wir, der Beschlußfassung in einem nationalen Gremium,
sei es in einem nationalen Parlament oder in einer nationalen Regierung. — Was die Funktion betrifft, Herr Abgeordneter, ist das fraglos richtig. Ich sprach von der Methode, mit deren Hilfe der Ministerrat sich dieser Funktion erledigt, und es ist eine Methode, die eine sehr starke Ähnlichkeit mit internationalen Verhandlungen aufweist.
Deswegen ist die Bundesregierung der Meinung, daß eine Herstellung der Offentlichkeit für diesen Teil der Beratungen des Ministerrats mit großen Nachteilen verbunden sein könnte und daß dadurch vor allen Dingen die Möglichkeit eines Kompromisses unter Umständen in entscheidender Weise erschwert werden könnte. Das brauche ich, glaube ich, im einzelnen nicht auszuführen.
Schließlich ist vorgeschlagen worden, ,die Außenminister der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft solltensich zu regelmäßigen Konsultationen zusammenfinden. Dies, meine Damen und Herren, ist die Auffassung der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat dieser ihrer Auffassung noch vor kurzem bei der Vorlage ihrer Pläne über die europäische Zusammenarbeit vom November vorigen Jahres Ausdruck verliehen. Wir sind der Meinung, daß schon in der ersten Phase dieser mehrstufigen europäischen Entwicklung, so wie wir sie uns vorstellen, u. a. eine regelmäßige Konsultation der Außenminister der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stattfinden sollte.Ich glaube, Herr Präsident, das sind die Bernerkungen, die ich in diesem Zusammenhang machen wollte.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache zu den Punkten 12 a und 12 b.Wir kommen zur zweiten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der deutschen Mitglieder in das Europäische Parlament. Ich rufe auf die §§ 1 bis 19, Einleitung und Überschrift. — Wer diesen Paragraphen zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. Danke. Die Gegenprobe! — Das letztere ist die Mehrheit; die aufgerufenen Paragraphen sind abgelehnt. Damit ist das Gesetz in allen seinen Teilen abgelehnt. Eine dritte Beratung entfällt.Wir kommen zur Beschlußfassung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, FDP auf Umdruck 621 *). Wer diesem Entschließungsantrag zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke. Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist einstimmig angenommen.Zu Punkt 1213 der Tagesordnung liegt ein Antrag des Ausschusses auf Seite 7 der Drucksache IV/3129 vor. Er betrifft alle unter b aufgeführten Anträge der einzelnen Fraktionen dieses Hauses.Wir kommen zur Abstimmung. Wer diesem Antrag des Ausschusses zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke. Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig angenommen.Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 12 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Satzung der Europäischen Schule
aa) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache IV/3267)bb) Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Kulturpolitik und Publizistik (Druchsache IV/3266)
.
Der Bericht des Haushaltsausschusses liegt vor. — Das Haus nimmt ihn zur Kenntnis.*) Siehe Anlage 2
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Vizepräsident SchoettleDer Bericht des Ausschusses für Kulturpolitik und Publizistik ist vom Abgeordneten Dr. Huys erstattet. Wünscht der Herr Berichterstatter noch das Wort?— Das ist nicht der Fall. Ich danke dem Herrn Berichterstatter für seinen Bericht.Wir kommen zur Abstimmung über das Gesetz. Ich rufe auf Art. 1, — Art. 2, — Art. 3, — Einleitung und Überschrift. — Wer den aufgerufenen Artikeln zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen.— Danke. Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Muß ich diese Seite des Hauses als stimmenthaltend werten? Ich nehme es so an. Bei zahlreichen Stimmenthaltungen sind die aufgerufenen Artikel angenommen. Damit ist die zweite Beratung geschlossen.Ich eröffne diedritte Beratung.In der allgemeinen Aussprache wird das Wort nicht gewünscht. Die Aussprache ist geschlossen.Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Entwurf eines Gesetzes zu der Satzung der Europäischen Schule zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke. Die Gegenprobe! — Enthaltungen?— Das Gesetz ist entgegen den Erwartungen in der zweitung Beratung einstimmig angenommen.
— Ich habe Ihre Bemerkung zwar nicht verstanden, Herr Abgeordneter Metzger, aber ich nehme an, daß sie gut gemeint war.Wir 'kommen zur Beratung des Punktes 12 d:Beratung des Antrags der Abgeordneten Arendt , Bergmann, Frau Strobel, Frau Dr. Elsner, Dr. Kreyssig, Bading, Faller, Kulawig, Kriedemann, Metzger, Rohde, Seifriz, Seuffert, Wischnewski und der Fraktion der SPD betr. Europäisches Bergarbeiterstatut (Drucksache IV/3111) .Dazu wünscht der Abgeordnete Arendt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der sozialdemokratischen Fraktion möchte ich einige wenige Bemerkungen zu dem Ihnen vorliegenden Antrag Drucksache IV/3111 machen. Es handelt sich hierbei um ein sehr bedeutsames Anliegen. Allein die Tatsache, daß die Gemeinsame Versammlung und auch das Europäische Parlament seit 1957 zehnmal in Form von Berichten und Entschließungen zur Frage des Europäischen Bergarbeiterstatuts Stellung genommen hat, macht die Bedeutung klar. Das Europäische Parlament hat diese Frage in einer letzten Entschließung vom Oktober 1964 — zum zehntenmal, wie ich schon sagte — behandelt und hat in einem Ausschußbericht und in einer Entschließung, die einstimmig akzeptiert wurden, die Bedeutung noch einmal herausgestellt, ohne daß wir zu dem Ergebnis gekommen wären, daß in dem Europäischen Bergarbeiterstatut, welches eine Reihe von Forderungen und Elementen enthält, die die Position des Bergmanns nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in allen bergbautreibenden Ländern der Montanunion hervorheben sollten, diese Punkte einer Verwirklichung zugeführt worden wären.Warum ist dieses Statut nicht ,aus dem Stadium der Beratungen herausgekommen? Einfach deshalb, weil die nationalen Regierungen und die Arbeitgeberorganisationen zu heftigen Widerstand gegen die Verwirklichung dieses Statuts geleistet haben. An diesem Widerstand ist auch die Hohe Behörde in Luxemburg gescheitert. Die Beratungen im sogenannten ,Gemischten Ausschuß, der dort existiert, haben nicht zu einem Ergebnis geführt, weil diese von mir skizzierte Haltung der Regierungen und der Arbeitgeberorganisationen festzustellen war. Das halten wir für sehr bedauerlich. Das war auch die Ursache, warum wir den Antrag Drucksache IV/ 3111 vorgelegt haben. Wir möchten die nationalen Regierungen, 'insbesondere die Bundesregierung, veranlassen, nicht nur ihren ablehnenden Standpunkt aufzugeben, sondern auch ,auf die anderen Mitgliedsregierungen hinzuwirken, daß dieses Statut .seine Verwirklichung findet.Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein paar Bemerkungen zu der Bedeutung des Statuts machen. Schon 1956 hat der damalige Präsident der Hohen Behörde, Herr Finet, in einer öffentlichen Erklärung auf die Notwendigkeit der Verwirklichung des Statuts hingewiesen. Das Statut sollte — das darf ich noch einmal sagen — die Position des Bergmanns hervorheben. Als dieser Gedanke 1956 geboren wurde, war die Kohle zwar knapp, im Gegensatz zu heute, wo die Kohle im Überfluß vorhanden ist. Aber damals wie heute waren die Belegschaftszahlen sehr niedrig, und damals wie heute war eine erschreckende Überalterung der bergmännischen Belegschaft festzustellen. Es geht aber auch dem Europäischen Parlament um die Sicherung einer qualifizierten Stammbelegschaft in den bergbautreibenden Ländern. Wenn man den Blick 'einmal über unsere Grenzen hinweglenkt, wird man feststellen, daß diese Belegschaftssicherung nicht gegeben ist. Der Anteil der Gastarbeiter an der bergmännischen Belegschaft beträgt in der Gemeinschaft 14 %; in manchen Ländern, wie beispielsweise Belgien, liegt er bei 62 %. Es ist klar, daß man mit diesen Gastarbeitern die besonderen Probleme ,des Bergbaus nicht meistern kann.Ich darf mit Genehmigung des Präsidenten die wichtigsten Folgerungen aus diesem Tatbestand, die das Europäische Parlament gezogen hat, einmal zitieren. Es heißt in Ziffer 15 des Berichtes, der — ich wiederhole — einstimmig angenommen worden ist:Ihr Ausschuß betrachtet diese Lösung — also der Fragen der Gastarbeiter —als eine Verlegenheitslösung, da ein Ausweichen auf Gastarbeiter aus Drittländern aus manchen Gründen als unzweckmäßig für die Sanierung der Belegschaft anzusehen ist:1. Der Bergbau benötigt eine qualifizierte, technisch hockentwickelte Stammbelegschaft.
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9316 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Arendt
2. Die Arbeitssicherheit ist zunehmend gefährdet durch Mangel an beruflicher Ausbildung und durch sprachliche Schwierigkeiten der Gastarbeiter.3. Der überwiegende Teil der Gastarbeiter aus Gemeinschaftsländern und Drittländern ist gewillt, die Arbeit in den Bergbaubetrieben nur vorübergehend aufzunehmen, um anschließend in die Heimatländer zurückzukehren.Es liegt auf der Hand,— so fährt der Bericht in der nächsten Ziffer fort —daß die Schaffung einer in ihrem sozialen Status gesunden Dauerbelegschaft auf mittel- und langfristige Sicht verhindert wird.Das ist genau die Frage, die es jetzt zu entscheiden gilt. Ich will nicht im Übermaß Zahlen vortragen. Aber ich glaube, wir sollten einmal an das Jahr 1964 denken. Dort war ein Bedarf von etwa 7000 Berglehrlingen und Bergjungleuten zu verzeichnen. Es sind aber nur 638 gekommen. Eine ähnliche Entwicklung war auch 1965 festzustellen. Wenn man die nächste Zukunft betrachtet und daran denkt, daß eines Tages einmal das neunte Schuljahr eingeführt wird, muß man befürchten, daß sich diese Tendenz noch erheblich verstärkt.Nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die sozialdemokratische Fraktion ist der Auffassung, daß das Europäische Bergarbeiterstatut, das von der Hohen Behörde entwickelt wurde, das geeignete Instrument sein könnte, um die Position des Bergmanns aus der Masse der Arbeitnehmer herauszuheben und um für eine kontinuierliche stabile qualifizierte Stammbelegschaft zu sorgen.Wir haben in diesem Hohen Hause in den letzten Jahren mehrere Energiedebatten geführt und dabei von der Regierung immer wieder gehört, daß es ihr Ziel sei, 140 Millionen Tonnen im Jahr zu fördern. Dabei wurde aber nicht gesagt, ob diese Förderung auch abgesetzt werden kann. Wenn Sie die Situation im Steinkohlenbergbau im Augenblick beobachten, dann werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß bei den Zechengesellschaften schon 13,5 Millionen Tonnen Kohle und Koks auf der Halde liegen. Täglich kommen 60- bis 65 000 Tonnen hinzu. Zu Beginn dieses Jahres hat die Bundesregierung zwar erklärt, 1965 werde der Haldenzugang insgesamt nur 1,8 Millionen Tonnen ausmachen. Aber schon im ersten Quartal 1965 betrug der Haldenzugang 4,5 Millionen Tonnen. Im zweiten Quartal wird es nicht viel weniger sein, und es wird für dieses Jahr so weitergehen. Ein Großteil der Belegschaften im Ruhrgebiet erklärt, daß, wenn nicht am 19. September Bundestagswahlen wären, schon längst Feierschichten eingelegt worden wären. Ich sage das deshalb
— das ist sehr wichtig, Herr Kollege —, weil Endedes Jahres wahrscheinlich 16 Millionen TonnenKohle und Koks auf der Halde liegen werden. Unddann werden Feierschichten eingelegt. In dem Augenblick, wo Feierschichten eingelegt werden, werden große Teile, insbesondere jüngere leistungsfähige Jahrgänge, den Bergbau verlassen; denn sie sind nicht bereit, Mindereinkommen in einer Zeit hinzunehmen, wo in den übrigen Industrien Vollbeschäftigung und Hochkonjunktur herrscht. Wenn diese jungen, leistungsfähigen Jahrgänge den Bergbau verlassen, werden sie entweder gar nicht mehr zurückkehren oder aber sie werden nur unter hohen finanziellen Aufwendungen, so wie das im Augenblick bei den Gastarbeitern der Fall ist, zurückzugewinnen sein. Unter diesem Aspekt sollte man das Bergarbeiterstatut betrachten. Wir sollten unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, dieses Statut zu verwirklichen.Das wird um so leichter möglich sein, als in der Zwischenzeit auf europäischer Ebene in der im Oktober 1964 gefaßten Entschließung festgelegt ist, daß nicht alle Punkte, die in dem Statut enthalten sind, auf einmal erfüllt werden sollen. Vielmehr hat man sich auf zwei Fragen konzentriert: die sogenannte Bergmannsprämie und die Treueprämie. Wenn man diese beiden Komplexe aus dem Statut herauslöste, würde man recht schnell zu einer Verständigung gelangen; man würde damit einen Beitrag zur sukzessiven Erfüllung dieses Statuts leisten. Dann würde auch der Artikel 3 e des Vertrages der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl verwirklicht. Dort heißt es nämlich:Die Organe der Gemeinschaft haben auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter hinzuwirken.Dieses Ziel hatten die Beratungen im Gemischten Ausschuß. Man kann wohl mit einer gewissen Befriedigung feststellen, daß durch die Stellungnahme des Sozialausschusses des Europäischen Parlaments und durch das Plenum des Europäischen Parlaments die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Beratungen in diesem Gemischten Ausschuß geschaffen wurden. In seinem Bericht vom Oktober hat der Sozialausschuß festgestellt, daß die Haltung der Regierungsvertreter und der Vertreter der Arbeitgeber im Gemischten Ausschuß einem Negativattest hinsichtlich einer fortschrittlichen europäischen Sozialpolitik gleichkomme. Ich glaube, daß hier durch eine positive, fortschrittliche Entscheidung mit wenigen finanziellen Mitteln die Voraussetzungen für eine vernünftige Lösung des Belegschaftsproblems in der Bergbauwirtschaft der MontanunionLänder geschaffen werden können.Die sozialdemokratische Fraktion dieses Hauses hat entsprechend den Beschlüssen des Europäischen Parlaments den Antrag Drucksache IV/3111 vorgelegt. Die Annahme dieses Antrags würde den Beschäftigten im Bergbau, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in allen Ländern der Gemeinschaft, zeigen, daß der Deutsche Bundestag gewillt ist, den Vertrag von Paris getreulich zu erfüllen. Ich bitte im Namen der Fraktion der SPD um Ihre Zustimmung.
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Das Wort hat der Abgeordnete Härzschel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Europäische Parlament hat in wiederholten Entschließungen — es sind im ganzen zehn zu dem Bergarbeiterstatut Stellung genommen. Trotzdem sind keine konkreten Ergebnisse erzielt worden. In der praktischen Durchführung haben sich Schwierigkeiten ergeben. Das hängt einmal damit zusammen, daß die Zuständigkeit des Gemischten Ausschusses für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen im Steinkohlenbergbau im Blick auf das Bergarbeiterstatut bestritten wird, weil dieser Ausschuß nicht im Montanvertrag verankert ist. Zum anderen sind in diesem Statut Fragenkomplexe enthalten, die sowohl in die Zuständigkeit der Regierungen der Mitgliedsländer als auch in die Zuständigkeit der Tarifvertragspartner fallen. Hier zeigt sich 'bereits der kritische Punkt, der die Behandlung des Statuts wesentlich erschwert. Es geht nicht allein um Verfahrensfragen, sondern es muß auch die Einwirkungsmöglichkeit der Bundesregierung berücksichtigt werden. Sicher ist die Bundesregierung nicht in der Lage, die Zuständigkeit und den Wirkungsbereich des Gemischten Ausschusses zu ändern. Die Tarifautonomie wird auf jeden Fall eine wesentliche Rolle spielen. Weder die Hohe Behörde noch das Europäische Parlament können in die bei den Ländern bestehende Tarifautonomie eingreifen. Ich kann mir auch keine rechtliche Einwirkungsmöglichkeit der Bundesregierung im eigenen Lande vorstellen, ganz zu schweigen von einer solchen bei den Partnerländern. An eine Einschränkung der Tarifautonomie kann aber in keinem Fall gedacht sein, und die Tarifpartner könnten eine solche weder wünschen noch dulden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte, Herr Abgeordneter Arendt.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß in diesem Statut beispielsweise auch die Frage der Altersgrenze geregelt ist oder geregelt werden soll, und ist Ihnen weiter bekannt, daß die Frage der Altersgrenze nicht eine Frage der Tarifparteien, sondern des Gesetzgebers in den einzelnen nationalen Bereichen ist?
Herr Kollege, ich habe ja ausgeführt, daß in diesem Statut sowohl Fragen behandelt werden, die in den Bereich der Tarifvertragsparteien gehören, als auch solche, die in den Bereich der Regierungen gehören. Das ist .ganz klar.
Hier ist das Ersuchen an die Bundesregierung jedenfalls fragwürdig. Daraus ergibt sich klar, daß wesentliche Teile des Statuts nicht in die Zuständigkeit der Bundesregierung fallen. Aber auch der Teil, der der Kompetenz der Bundesregierung unterliegt, ist wegen der umstrittenen Zuständigkeit nicht einfach zu lösen; denn es ist ja auch hier so, daß nicht alle Regierungen zustimmen. Hinzu kommt, daß in den Ländern und bei den Tarifvertragsparteien der Gemeinschaft Überschneidungen und unterschiedliche Zuständigkeiten in den einzelnen Bereichen vorhanden sind.
Wie schwierig die Fragen sind, beweist auch die Tatsache, daß bei der auf Grund der Entschließung durchgeführten :Sitzung die Beratung ,auf die internationale Bergmannsprämie beschränkt wurde. Wenn schon eine Einigung über die Bergmannsprämie so schwierig ist, obwohl man ,sich doch auch nach Ihrer Meinung hier am ehesten einigen könnte, wenn also dabei schon keine gemeinsam. Haltung gefunden werden konnte, so wird dieses Paket des Bergarbeiterstatuts im Zusammenhang sicher jetzt nicht zu lösen sein.
Wir sind deshalb der Meinung, daß man zunächst mit allen Kräften die Internationalisierung der Bergmannsprämie anstreben sollte sowie auch die Einführung der Treueprämie. Diese Auffassung haben
auch Sie in Ihren Ausführungen vertreten. Es erhebt sich nur die Frage, weshalb Sie dann das ganze Paket im Zusammenhang servieren, wo doch deutlich ist, daß die Schwierigkeiten übergroß sind. Ich glaube, wir müssen noch eine Reihe von Erfahrungen sammeln 'und Verhandlungen führen, um einen Weg zu finden, der letzten Endes die zum Wohle der Bergarbeiter von allen gewünschte Lösung bringt.
Vorhin war von „kleinen Schritten" die Rede. Ich bin der Meinung, daß es hier am ehesten angebracht wäre, zunächst einmal mit kleinen Schritten zu beginnen und das große Paket zurückzustellen, weil eben nach Lage der Dinge nicht anzunehmen ist, daß der ganze Katalog der Forderungen in irgendeiner Weise jetzt erfüllt werden kann. Ich glaube, wir alle haben ein Interesse daran, daß diese Probleme gelöst werden und so schnell wie möglich gelöst werden. Auf der anderen Seite aber müssen wir auch die Schwierigkeiten sehen, die sich aus der Lage, wie sie sich nun einmal darstellt, ergeben.
Wir werden diesen Antrag noch einmal sorgfältig prüfen und ihm ein auch gewisses Wohlwollen entgegenbringen. Wir bitten um Überweisung an den zuständigen Ausschuß.
Der Abgeordnete Härzschel hat soeben seine Jungfernrede gehalten. Dazu beglückwünsche ich ihn.
Das Wort hat der Abgeordnete Philipp.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Vorredner hat mir mit seiner Jungfernrede praktisch schon die Argumente vorweggenommen, die ich Ihnen vortragen
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9318 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Dr.-Ing. Philippwollte. Ich möchte aber wenigstens eines noch zu Herrn Arendt sagen.Herr Arendt, Sie haben heute mit Ihrem Antrag wieder einmal gewissermaßen die Totalität des Bergarbeiterstatuts herausgestellt und gefordert. Wir verstehen Sie jetzt eigentlich nicht mehr. Sie wissen genau, daß wir uns im Europäischen Parlament über diese Dinge hinreichend unterhalten haben. Sie haben sich dort dahin beschieden, daß Sie sagten, wir müßten zunächst einmal nur einen Punkt behandeln, nämlich die Bergmannsprämie. Am 19. Oktober 1964 haben Sie ausgeführt, es sollten diejenigen Maßnahmen geprüft werden, die in die Zuständigkeit der einzelnen Länder fallen, und haben dann von der Bergmannsprämie gesprochen. Auch die Gewerkschaften, und zwar die christlichen sowohl wie die freien, haben sich mit dieser Einsicht beschieden und haben an den Präsidenten der Hohen Behörde, Herrn Finet, am 12. Dezember 1964 folgendes geschrieben:Deshalb will die Arbeitnehmergruppe von einer Diskussion aller möglichen Maßnahmen eines Bergarbeiterstatuts absehen und sich beschränken auf wenige wichtige Punkte.Diese wenigen wichtigen Punkte, Herr Arendt, sind ja bereits im Gemischten Ausschuß behandelt worden. Der Gemischte Ausschuß ist wie Sie wissen, wieder für den 24. Juni 1965 eingeladen worden, so daß meines Erachtens keinerlei Veranlassung besteht, die Bundesregierung zur Aktivität aufzufordern, wie Sie das mit Ihrer Vorlage wollen. Ich bin im Gegenteil der Auffassung, Herr Arendt, daß Sie mit diesem Antrag die kleine Pflanze, die wir mit viel Mühsal in die Erde gebracht haben, unter Umständen der Gefahr aussetzen, zu verdorren.Ferner möchte ich den Vorwurf an die Regierungen und die Arbeitgeberseite auf das energischste zurückweisen, daß man sich den Einsichten verschlossen habe. Sie haben mit keinem Wort davon gesprochen, warum eine solche Regelung überhaupt nicht möglich ist. Der Herr Kollege Härzschel hat Sie darauf hingewiesen, daß die außerordentlich schwierigen rechtlichen Probleme ein Hindernis bilden. Sie wissen ganz genau, daß der Gemischte Ausschuß keine Entschließungen fassen, sondern nur Feststellungen treffen, Dokumentationen erstellen kann. Weiterhin wissen Sie genau, daß die Bundesregierung nicht in der Lage ist, in Zuständigkeiten einzugreifen, die den Parlamenten oder den Regierungen vorbehalten sind.Ich würde es sehr mißbilligen, wenn dieser politische Antrag — denn um einen solchen scheint es sich mir zu handeln — dazu benutzt würde, in der Öffentlichkeit und auch in der deutschen Offentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als wären die Kritiker dieses Antrages nicht bereit, alles Erforderliche für die Bergleute und insbesondere für die deutschen Bergleute zu tun. In Wahrheit geht es hier nur um ein Verfahren, nicht um den Inhalt des Bergarbeiterstatuts.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Arendt?
Bitte!
Herr Kollege Philipp, ist es richtig, daß Sie in der Sitzung des Europäischen Parlaments vom 22. Oktober 1964 diesem damals vorgelegten Entschließungsantrag zugestimmt haben?
Herr Arendt, das ist selbstverständlich richtig. Aber wenn Sie das Protokoll genau lesen, werden Sie die Einschränkung, die ich heute gemacht habe, dort wiederfinden. Ich habe unter dieser Einschränkung zugesagt, mich dafür einzusetzen, daß die Internationalisierung der Bergmannsprämie in den verschiedenen Gremien vorangetrieben wird, und habe ausdrücklich und ausführlich das dargelegt, was ich Ihnen eben versucht habe, aufzuzeigen. Ich bitte, meine Ausführungen dort nachzulesen.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 9319
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9320 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe unseren Änderungsantrag zu Art. 1 § 1 zu begründen, der sich mit dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes befaßt. Dieser Anwendungsbereich des Gesetzentwurfs erstreckt sich nicht auf Arzneimittel und ihnen gleichgestellte Gegenstände, sondern ist auf Verfahren und Behandlungen ausgedehnt. Unser Antrag besagt dagegen, daß Verfahren und Behandlungen nur unter das Gesetz fallen sollen, sofern für sie in Verbindung mit Arzneimitteln oder ihnen gleichgestellten Gegenständen geworben wird.
Was ist denn der Sinn eines Werbegesetzes, das sich auf Arzneimittel und ihnen gleichgestellte Gegenstände beziehen soll? Werbung im allgemeinen will umsatzsteigernd wirken. Bei Arzneimitteln aber wollen wir diese Umsatzsteigerung nicht; denn sie sind eine Ware besonderer Art. Infolgedessen müssen wir hier bestimmte Beschränkungen vornehmen. „Umsatzsteigerung" ist aber nicht zu befürchten wenn es sich um Verfahren und Behandlungen handelt, die nicht in Verbindung mit einem Gegenstand oder einem Arzneimittel angepriesen werden. Eine Ausdehnung eines die Werbung einschränkenden Gesetzes auf Verfahren und Behandlungen halten wir daher für nicht notwendig, unter Umständen sogar für ungünstig. Die Gerichte werden überfordert werden, und im Gesetz selbst müssen schon wieder Ausnahmen gemacht werden, z. B. für Verfahren und Behandlungen, für die von Bädern und Kurorten geworben wird. Behandeln tun
*) Siehe Anlage 3 bei uns in der Bundesrepublik im allgemeinen nur Ärzte und Heilpraktiker. Beide pflegen für ihre Behandlungsmethoden nicht zu werben.
Wir haben auch im Ausschuß von der Bundesregierung, die den Anwendungsbereich vorgeschlagen hat, keine befriedigende Antwort bekommen können, sondern nur den Hinweis erhalten, daß auch in der alten Polizeiverordnung Verfahren und Behandlungen einbezogen gewesen seien und daß man die Kontinuität wahren wolle. Wir halten das nicht für eine ausreichende, durchschlagende Begründung. Wir möchten Sie sehr bitten, unserem Änderungsantrag zu folgen. Der Verbraucher soll mit diesem Gesetz vor einem übermäßigen Gebrauch von Drogen geschützt werden. Bei Verfahren und Behandlungen ist ein solcher Schutz nicht nötig. Ich meine, daß Verfahren und Behandlungen, etwa Naturheilverfahren, wie sie von Vereinigungen — z. B. den Kneipp-Vereinen — vorgeschlagen und gefördert werden, die Volksgesundheit in keiner Weise gefährden, sondern ihr dienlich sein können.
Wir bitten Sie deshalb von einer Ausweitung dieses Gesetzes, wie sie hier vorgesehen ist, Abstand zu nehmen und unserem Antrag Folge zu leisten.
Keine weiteren Wortmeldungen? —Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD Umdruck 644. Wer zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Meine Damen und Herren, die Abstimmung muß wiederholt werden. Wer für den Änderungsantrag ist, den !bitte ich aufzustehen. — Gegenprobe! — Danke vielmals. — Enthaltungen? — Ich habe ja gleich richtig geschätzt: das zweite war die Mehrheit. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Auf Umdruck 646*) liegt ein zweiter Änderungsantrag vor, der Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Elbrächter, Dr. Schmidt , Kühn (Hildesheim) und Genossen. Wird das Wort zur Begründung dieses Antrags gewünscht? — Keine Wortmeldung. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag Umdruck 646 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist der Änderungsantrag angenommen.Abstimmung über § 1 in der so geänderten Fassung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.§§ 2,— 3,— 4,— 5,— 6,— 7,— 8.— Keine Änderungsanträge. Wird das Wort gewünscht? — Dais Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich uni ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Bestimmungen sind einstimmig angenommen.§ 9! Zwei Änderungsanträge, der erste auf Umdruck 645 Ziffer 1**), Änderungsantrag der Abge-*) Siehe Anlage 4 **) Siehe Anlage 5
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Präsident D. Dr. Gerstenmaierordneten Dr. Elbrächter, Frau Dr. Flitz und Genossen und Fraktion der SPD.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Wird sonst das Wort gewünscht? — Keine Wortmeldungen.Wer dem Änderungsantrag Umdruck 645 Ziffer 1 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist einstimmig angenommen.Nächster Änderungsantrag: Umdruck 648 *). Das Wort zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Dr. Stammberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, in diesem Hause besteht Einmütigkeit darüber, daß Arzneimittel eine Ware besonderer Art sind und daher auch die Werbung beschränkt werden kann. Aber ich glaube, gerade in § 9 sind wir etwas über das Ziel hinausgeschossen. Zu Nr. 5 wurde eben bereits eine Einschränkung des bisherigen Verbots, wie es der Ausschuß beantragt hat, beschlossen.
Hinsichtlich der Nr. 4 beantragen wir die Streichung überhaupt. Es ist nach der jetzigen Vorschrift verboten, Ärzte, Krankenschwestern usw., d. h. Angehörige der Heilberufe, in der Werbung abzubilden. Diese Vorschrift kann doch nur dann einen Sinn haben, wenn man gewisse psychologische Nebenwirkungen ausschließen zu müssen glaubt. Aber was kommt bei dieser Bestimmung praktisch heraus? Sie dürfen in Zukunft nicht mehr einen Apotheker oder einen Drogisten abbilden, wohl aber einen Wurzelsepp. Sie dürfen in Zukunft keinen Arzt mehr abbilden, wohl aber den Professor Filatov und andere Entdecker von Wunderdrogen, die uns allen die Gewährung des ewigen Lebens näherbringen. Sie dürfen in Zukunft keine Krankenschwester mehr abbilden, wohl aber eine Kräuterhexe.
Dafür kann ich Ihnen sogar ein praktisches Beispiel sagen. Es gibt eine bekannte Firma in Deutschland, die die Klosterfrau als Symbol führt und auch in ihrer Werbung bringt. Man könnte vielleicht sagen: die Klosterfrau ist in diesem Zusammenhang ein Heilberuf und darf nicht mehr abgebildet werden, also: die Klosterfrau muß heraus, aber die Kräuterhexe darf hinein.
Meine Damen und Herren, dieses Dilemma können Sie nur dadurch beseitigen, daß Sie den Wurzelsepp und die Kräuterhexe als Heilberufe anerkennen, damit sie ebenfalls unter das Verbot fallen, oder aber Sie streichen die Vorschrift überhaupt. Das letzte beantragen wir und bitten um Zustimmung.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hamm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht in der Tat
*) Siehe Anlage 6 nicht darum, die Werbung über Gebühr einzuschränken. Aber es ist eine Tatsache, daß Sie auf dem Fernsehschirm oft den weißen Kittel sehen, der nicht etwa nur die Darstellung eines weißen Anzuges ist, sondern der bei dem Beschauer den Eindruck erwecken soll, daß ausgerechnet dieses Mittel ärztlich erprobt sei. Weil der Beschauer das Arzneimittel nicht kennt und weil er oft in einer labilen inneren Situation ist, ist das eine unterschwellige Werbung dafür, daß das Mittel ärztlich erprobt sei.
In der Bestimmung, die hier angeführt worden ist, ist kein Wort von „Heilhilfsberufen" zu lesen; wenn Sie sie durchlesen, sehen Sie nur „Heilberufe".
— Das ist etwas anderes, Herr Kollege Dr. Stammberger; ich bitte Sie, das entsprechend zu interpretieren. Jedenfalls der Heilhilfsberuf ist nicht angeführt.
Was wir mit diesem Werbegesetz wollen, ist die Erfassung der unterschwelligen Werbung, die oft wirksamer als die direkte ist, und es geht um eine Erfassung mit ganz bestimmten Tatbeständen, deren Begreifung und deren Beweisbarkeit auf Grund ihrer Einfachheit gegeben ist. Es ist ein Versuch, der sicherlich nicht in jedem Fall gelingen wird. Aber ich glaube, wir wären schlecht beraten, wenn wir bei den Erkenntnissen, die wir in der Praxis jedesmal beim Aufschlagen einer Illustrierten und bei jeder sonstigen Werbung gewinnen, nicht alles täten, um bei diesem speziellen Mittel des Lebensbedarfs und bei dem speziellen Personenkreis, der in seiner besonderen Situation angesprochen werden soll, die Werbung auf ein sinnvolles Maß zu reduzieren. Da ist ein Punkt diese konkrete Werbeeinschränkung.
Ich bitte Sie deshalb namens der Koalition, dem Antrag der SPD-Fraktion nicht zuzustimmen.
Herr Abgeordneter Stammberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hamm, in gewisser Hinsicht ist natürlich jede Werbung unterschwellig. Dafür wird sie ja letzten Endes veranstaltet. Aber das, was Sie ausgeschlossen haben wollen, haben wir doch alles ausgeschlossen. Es dürfen keine Gutachten gebracht werden, es dürfen keine Empfehlungen gegeben werden, es dürfen keine Wirkungsvorgänge gezeigt werden. Es handelt sich nur darum, ob auch ein Bild von einem Arzt oder von einer Krankenschwester oder sonst etwas gezeigt werden kann. Da sehe ich nun wirklich nicht ein, warum wir so weit gehen wollen, wenn auf der anderen Seite die Kräuterhexe und der Wurzelsepp gezeigt werden dürfen.
Keine weiteren Wortmeldungen. Wir stimmen ab über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Umdruck 648. Wer zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Das letzte ist die Mehrheit; der Änderungsantrag ist abgelehnt.9322.Metadaten/Kopzeile:
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Präsident D. Dr. GerstenmaierIch stelle dann § 9 in der durch die Annahme des Änderungsantrags Umdruck 645 Ziffer 1 geänderten Fassung zur Abstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zahlreichen Enthaltungen angenommen.§ 10. Hier liegen zwei Änderungsanträge vor. Wird zur Begründung des Antrags der Abgeordneten Dr. Elbrächter, Frau Dr. Flitz und Genossen auf Umdruck 647 *) das Wort gewünscht? — Bitte sehr, Frau Abgeordnete Dr. Heuser.
Nur kurz zur Erklärung: Wir wollten aus der Krankheitsliste bei den Stoffwechselerkrankungen die Avitaminosen und die alimentäre Fettsucht herausnehmen. Inzwischen haben wir uns überlegt, daß man nicht nur die Vitaminmangel-, sondern auch die .Mineralstoffmangelerscheinungen herausnehmen sollte. Dabei ist ein Versehen auf der Schreibstelle passiert. Auf dem Umdruck 647 neu erscheinen unter a) die Worte: „ausgenommen Vitamin- und Mineralstoffmangel, Avitaminosen" — letztere müssen also gestrichen werden — „und alimentäre Fettsucht".
Zu b) ist zu sagen, daß wir bei Nr. 5 der Liste einfache Katarrhe der ableitenden Harnwege herausnehmen wollen, weil wir damit sagen wollen, daß wir sie nicht zu den organischen Krankheiten rechnen. Ich glaube, wir waren uns im Ausschuß schon darüber einig. Dies dient nur zur Klarstellung.
Wird dazu weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wir stimmen ab über den Änderungsantrag 647 . Wer zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zahlreichen Enthaltungen ist dieser Änderungsantrag angenommen.
Wir kommen dann zu dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Umdruck 643 **) unter Ziffer 1, den § 10 zu streichen. — Bitte sehr!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben beantragt, den § 10 des vorliegenden Gesetzes und damit auch den Krankheitskatalog zu streichen. Es hat sich bei den Beratungen erwiesen, daß der Krankheitskatalog sehr problematisch ist.Schon in der Regierungsvorlage wird gesagt — und das haben auch die Vertreter der Regierung bei den Ausschußberatungen festgestellt. —, daß die Auswahl bestimmter Krankheiten für diesen Katalog sehr schwierig sei. Das Bundesgesundheitsamt, das gutachtlich gehört wurde, hat ebenfalls empfohlen, keinen solchen Katalog in dieses Gesetz aufzunehmen, da ein solcher Katalog schon nach kurzer Zeit nicht mehr dem neuesten Stand .der medizinischen Wissenschaft entsprechen würde. Auch Herr Präsident Dr. Fromm von der Ärzteschaft hat als*) Siehe Anlage 7 **) Siehe Anlage 8Sachverständiger im Ausschuß erklärt, daß es sehr schwierig sei, einen solchen Katalog aufzustellen, weil die Entwicklung in der Medizin einfach nicht abzusehen sei. Er hat gemeint, es sei besser, bestimmte konkrete Aussagen im Hinblick auf die Werbung in das Gesetz hineinzubringen.Selbst die Mitglieder der Koalitionsfraktionen haben diese ganze Problematik im Ausschuß deutlich gemacht. Herr Kollege Jungmann hat festgestellt, daß eine solche Liste niemals vollständig sein könne, und Frau Kollegin Heuser hat gemeint, daß zu viele Krankheiten, die man eventuell in diesen Katalog aufnähme, das Gesetz letztlich kopflastig machen würden.Ich sage das deshalb so deutlich, weil es unserer Auffassung nach angesichts dieser Problematik besser ist, überhaupt keinen Krankheitskatalog in das Gesetz aufzunehmen. Einmal ist es, wie gesagt, sehr schwierig, die medizinische Entwicklung abzusehen. Bestimmte Krankheitsgruppen, die jetzt im Katalog aufgeführt sind, sind vielleicht schon im nächsten oder im übernächsten Jahr gar nicht mehr notwendig, so daß das Gesetz geändert werden müßte. Zum anderen ist es sehr schwierig, zu differenzieren, welche Krankheiten in den Katalog hinein sollen und welche nicht, zumal der Laie, auf den die Werbung nachher zukommt, dies gar nicht beurteilen kann.Einige ganz wenige Beispiele machen das deutlich. Sie wünschen, daß beispielsweise die Magengeschwüre in den Verbotskatalog aufgenommen werden, aber die Magenschleimhautentzündung nicht. Das bedeutet, daß für Mittel gegen Magengeschwüre nicht geworben werden kann, wohl aber für Mittel gegen Magenschleimhautentzündung. Der Laie kann aber von sich aus niemals wissen, ob er nun ein Magengeschwür oder eine Magenschleimhautentzündung hat. Schon hieran erkennt man die Problematik..Diese Problematik zeigt sich auch an dem von Ihnen, Frau Kollegin Heuser, vorgelegten Änderungsantrag. Sie verlangen nachträglich noch die Herausnehme bestimmter Krankheiten, z. B. der Avitaminosen und der alimentären Fettsucht. Auch die Katharrhe der ableitenden Harnwege werden herausgenommen. Andererseits sind die Hautkrankheiten, die oft sehr schwer zu diagnostizieren sind und die deshalb auch hinsichtlich der Werbung sehr problematisch sind, nicht in diesen Katalog aufgenommen worden. Man sieht also, wie schwierig die ganze Problematik ist.Aus diesem Grunde kann man nach Auffassung der SPD-Fraktion nur zwei Folgerungen ziehen. Entweder nimmt man alle Krankheiten in einen solchen Katalog hinein — dann brauchten wir keine anderen Paragraphen in diesem Gesetz, dann wäre praktisch die gesamte Werbung verboten —, oder man läßt den Katalog wegfallen; dann muß man prüfen, ob die anderen Bestimmungen des Gesetzes ausreichend sind.Dazu muß man sagen: Der größte Teil der Arzneimittel ist rezeptpflichtig; es darf also in Laienkreisen schon gar nicht damit geworben werden. Der
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Dr. Schmidt
Rest fällt unter die schwerwiegenden Einengungsparagraphen — beispielsweise die Bestimmung über die Irreführung —, die mit deutlichen Beispielen konkretisiert sind. Ferner haben wir im § 9 noch einen Katalog, in dem die Werbeverbote für Laien aufgeführt sind. Wir glauben, daß hier genügend Bremsen vorhanden sind, so daß sich ein Krankheitskatalog, unvollständig und problematisch, wie er hier aufgeführt ist, erübrigt.Aus diesem Grunde beantragen wir, daß der Katalog gestrichen wird. Im Zusammenhang damit müßte in den Verbotsbestimmungen in § 14 Abs. 1 auch die Nr. 8 gestrichen werden.
Herr Abgeordneter Dr. Hamm, bitte!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ganz kurz: Mir scheint, daß Herr Kollege Schmidt die Bedeutung des Krankheitenkatalogs im Zusammenhang mit diesem Gesetz verkannt hat. Es geht uns und es ging uns im Ausschuß nicht darum, für Mittel gegen Krankheiten eine bestimmte Werbebeschränkung zu finden. Es ging uns nur darum, zu verhindern, daß das Anbieten eines harmlosen, weil rezeptfreien Mittels einen Patienten davon abhält, zur Behandlung einer schweren Krankheit zum Arzt zu gehen. Deshalb haben wir neben der Rezeptpflicht, die eine Werbung in Laienkreisen für das betreffende Mittel ausschließt, einen Krankheitenkatalog hineingenommen. Deswegen haben wir uns der sicher nicht einfachen Aufgabe unterzogen, zu prüfen, welche gefährlichen Krankheiten, beispielsweise Krebs, organische' Herzkrankheiten und ähnliches mehr, hier herausgesucht werden müssen, damit man den betreffenden Patienten davor schützt, daß er angeregt wird, sich selbst zu behandeln. Das ist der Sinn des Krankheitenkatalogs. Wenn man das einmal begriffen hat, dann weiß man, daß hinsichtlich schwerer Krankheiten bei der Werbung für rezeptfreie Mittel ein Krankheitenkatalog unerläßlich ist.
Er ist meinem Dafürhalten nach auch deshalb sinnvoll, weil auch im europäischen Bereich mit einer beschränkten Krankheitsliste — die Liste ist ja bei uns sehr beschränkt — versucht wird, der unzulässigen Werbung beizukommen.
Aus diesen Gründen bitte ich, gleichzeitig im Namen der Koalition, den Antrag der SPD auf Umdruck 643 abzulehnen.
Ich werde Ihnen das Wort geben, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hamm, man muß doch .den Krankheitskatalog im Zusammenhang mit allen anderen Bestimmungen sehen. Ich will gerade einmal eine 'schwere Krankheit wie die von Ihnen genannte, Krebs, nehmen. Wenn jemand ein Mittel anpreist, das nicht nach wissenschaftlicher Erkenntnis oder nach allgemeiner praktischer Erfahrung diese Krankheit wirklich heilt, dann macht er sich, wenn 'er das behauptet, der irreführenden Werbung schuldig und fällt unter die Strafbestimmungen des Gesetzes. Gäbe es aber, Herr Kollege Hamm, ein Mittel gegen Krebs und wäre dieses Mittel so harmlos, daß es rezeptfrei in Apotheken verkauft werden könnte, sähe ich keinen Grund, warum für dieses Mittel im Rahmen der Beschränkungen dieses Gesetzes nicht geworben werden sollte.
Was die Diagnose betrifft, Herr Kollege Hamm, so wird ja der Betreffende dadurch, daß ein solches Mittel für eine bestimmte Krankheit angekündigt wird, nicht vom Gang zum Arzt abgehalten; denn letzten Endes kann niemand für sich selbst die Diagnose auf eine bestimmte Krankheit stellen.
Dieses Gesetz enthält doch sehr viele einschneidende Bestimmungen, die unserer Meinung nach wirklich genügen und den Krankheitskatalog überflüssig machen.
Herr Abgeordneter Dr. Jungmann!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eigentlich zu bedauern, daß die Diskussion jetzt etwas auf die Ebene der Ausschußberatung zurückfällt. Ich habe mich nur gemeldet, weil ich zitiert worden bin und meines Erachtens falsch zitiert worden bin. Es ist auch der Präsident der Bundesärztekammer zitiert worden. Es ist gesagt worden, daß er gegen einen Katalog gewesen sei. Der Präsident der Bundesärztekammer ist überhaupt gegen die Werbung gewesen, weil er den Standpnukt vertritt, daß eine Werbung für Arzneimittel widersinnig ist. Das muß man dazu sagen.Aber nun hat Ihnen Frau Kollegin Hubert einen Gedankengang vorgetragen, den wir im Ausschuß in langen Beratungen abgewogen und diskutiert haben. Es geht dabei um ,die Frage, ob das Verbot der irreführenden Werbung genügt. Wir sind dabei zu dem Ergebnis 'gekommen, daß die Justiziabilität — ein schwieriges Wort für einen Mediziner — —
— Ja, man lernt vieles. Wir sind also immer wieder auf das Ergebnis gekommen, daß es für den Richter außerordentlich schwer ist, im konkreten Fall —bleiben wireinmal bei den Krebsmitteln — zu erkennen, wo ,die Irreführung anfängt und wo sie aufhört.Wenn Sie sich diesen Katalog einmal ansehen — ich könnte mir denken, daß mancher von Ihnen ihn nicht vor seinem geistigen Auge hat — oder wenn Sie ihn vielleicht 'einmal anschauen wollen, dann werden Sie feststellen, daß es zunächst 'einmal notwendig war, bestimmte Dinge von der Werbung auszuschließen, wie die im Bundes-Seuchengesetz genannten Krankheiten. Das wird jetzt plötzlich vergessen. Für Mittel gegen die im Bundes-Seuchen-
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9324 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Dr. JungmannBesetz angeführten Krankheiten zu werben, widerspricht den seit Jahrzehnten geltenden Auffassungen.Die Geschwulstkrankheiten sind schon genannt worden. Alles andere, was in dem Katalog steht, sind schwere Krankheiten, für deren Behandlung nicht geworben werden sollte, nicht nur nach unserer Meinung, sondern auch nach dem bisher geltenden Recht.Wir haben noch die Trunksucht mit aufgeführt. Das wird den einen oder anderen von Ihnen vielleicht wundern. Aber wir waren mit sehr vielen Sachverständigen der Meinung, daß die Trunksucht eben kein Vergnügen, sondern eine schwere Krankheit ist.
Wir kommen zur Abstimmung über § 10. Über Streichungsanträge wird dergestalt abgestimmt, daß man einfach zu den Paragraphen nein sagt. Wer dem § 10 in der durch die Annahme des Änderungsantrags Umdruck 647 geänderten Fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe!
— Das ist die Minderheit; der Paragraph bleibt stehen.
Zu den §§ 11, 12, und 13 liegen keine Änderungsanträge vor. Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen.
Zu § 14 liegen zwei Änderungsanträge vor. Zunächst kommen wir zu dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD Umdruck 643 Ziffer 2. Wird zur Begründung das Wort gewünscht?
— Sie müssen mit den schwachen Kräften eines Präsidenten rechnen, der erstens gewöhnlich nicht weiß, worum es sich handelt, und zweitens die kostbaren Beratungen im Gesundheitsausschuß nicht mitgemacht hat. Der Antrag ist also erledigt; dann brauchen wir nicht darüber abzustimmen.
Wie ist es denn mit dem Antrag Umdruck 645 Ziffer 2 bestellt? Der ist doch nicht erledigt. Wird zur Begründung das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wer dem Antrag Umdruck 645 Ziffer 2 zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen.
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Wer § 14 in der so geänderten bzw. erweiterten Fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen.
Zu den §§ 15, 16, 17 und 18 liegen keine Änderungsanträge vor. Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Nun zu § 19. Dazu liegt der Änderungsantrag Umdruck 645 Ziffer 3 der Abgeordneten Dr. Elbrächter, Frau Dr. Flitz und Genossen vor. — Keine Wortmeldungen. Wir stimmen über diesen Änderungsantrag ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe. — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist dieser Antrag angenommen.
Wer § 19 in der durch die Annahme des Antrags Umdruck 645 Ziffer 3 geänderten Fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen.
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen.
Zu Art. 2 liegt kein Änderungsantrag vor. Wer Art. 2 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen.
Art. 3. Hierzu liegt der Änderungsantrag Umdruck 649 *) der Abgeordneten Dr. Hamm , Dr. Jungmann, Dr. Schmidt (Offenbach) vor. Wird zur Begründung das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wer dem Änderungsantrag Umdruck 649 zuzustimmen. wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Änderungsantrag Umdruck 645 Ziffer 4. Wird dazu das Wort gewünscht? — Keine Wortmeldungen. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! Enthaltungen? -- Einstimmig angenommen.
Wer dem Art. 3 in der so geänderten Fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Art. 4 — § 20 —, Art. 5 — § 21 —, Einleitung und Überschrift. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Dritte Lesung.
Allgemeine Aussprache. Wird das Wort gewünscht?
— Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hubert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bedauern nach wie vor sehr, daß Sie unsere Änderungsanträge nicht angenommen haben. Wir halten die Ausdehnung des Gesetzes auf die Verfahren und Behandlungen für zu weitgehend, den § 9 Abs. 4 sowie die Krankheitsliste für entbehrlich.Das Gesetz hat aber schon allzu lange auf ,sich warten lassen; wir haben es leider erst vor einem Jahr vorgelegt bekommen. Die Verhandlungen waren bedauerlicherweise dadurch beeinflußt, daß wir unter einem großen Zeitdruck standen, denn am 1. Juli dieses Jahres läuft die Polizeiverordnung aus. Wir würden einen gesetzlosen Zustand haben, wenn wir nicht ein Gesetz über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens verabschiedeten. Das ist nicht unsere Absicht; wir wollen auf keinen Fall die alte Polizeiverordnung, deren Gültigkeit wir dann*) Siehe Anlage 9
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Frau Dr. Hubertverlängern müßten, erhalten. Aus diesem Grunde werden wir trotz der Ablehnung unserer Anträge dem Gesetz in seiner Gesamtheit zustimmen.
In dritter Lesung liegen keine Änderungsanträge vor. Wird weiter das Wort gewünscht? Das Wort wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in dritter Lesung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte und anderer Gesetze ;
Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses (Drucksache IV/3389)
.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jahn als Berichterstatter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf auf den Schriftlichen Bericht Bezug nehmen, muß Sie aber bitten, drei rein redaktionellen Änderungen Ihre Zustimmung zu geben, die wohl immer notwendig werden, wenn man, wie in den letzten Wochen wohl häufiger, allzusehr mit der heißen Nadel näht.
In Artikel 1 Nr. 1 a muß es statt „§ 11 Abs. 2 Satz 2" heißen „§ 11 Abs. 2 Satz 1".
In Artikel 1 Nr. 1 b Buchstabe a muß es statt „fünf Zehntel" heißen „fünf Zehnteln" und statt „zehn Zehntel" „zehn Zehnteln".
In § 2 Nr. 1 muß es richtig heißen „Postgebühren für förmliche Zustellungen".
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Die Änderungen sind zur Kenntnis genommen und werden entsprechend eingetragen.
Art. 1, — Art. 2, — Art. 3, — Einleitung und Überschrift! — Änderungsanträge liegen nicht vor. Wird das Wort gewünscht? Das Wort wird nicht gewünscht.
Wer in zweiter Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe!
Enthaltungen? — Die Bestimmungen sind in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
Allgemeine Aussprache! Wird das Wort gewünscht?
— Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der CDU/CSU-Fraktion darf ich folgende Erklärung abgeben.
Meine Freunde und ich begrüßen die Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung der Gebührenordnung für Rechtsanwälte sowie zur Änderung einiger weniger Gesetze, die in diesem Zusammenhang erforderlich geworden ist.
Meine Fraktion sieht hierin einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der wirtschaftlichen Lage der Rechtsanwaltschaft und damit zur Stärkung ihrer Stellung als Organ der Rechtspflege.
Die hier in Frage stehenden sogenannten Wertgebühren, d. h. die Gebühren, die nach dem Wert des Gegenstandes der anwaltschaftlichen Tätigkeit berechnet werden, sind letztmals in der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages geregelt worden. Es kann nicht bestritten werden, daß seither eine wesentliche Erhöhung der Lebenshaltungskosten und eine beträchtliche Kostensteigerung für die Unterhaltung einer Anwaltskanzlei eingetreten sind. So haben sich die Personalkosten unter Berücksichtigung der Arbeitszeitverkürzung entscheidend erhöht. Auch die Mietpreise sind gestiegen.
Wohl sind zwischenzeitlich die Streitwerte höher geworden und damit auch die Gebührenanteile der Rechtsanwälte. Ein ausreichender Ausgleich gegenüber den höheren Auslagen, die zwangsläufig mitverkraftet werden müssen, ist damit aber nicht gegeben.
Die Notrufe aus der Anwaltschaft wurden daher immer dringlicher, und zwar gerade von den in Zivilprozeß-Sachen tätigen Anwälten, die nur selten besondere Honorarvereinbarungen treffen können. Die schwierige wirtschaftliche Situation großer Gruppen der Anwaltschaft ist offenkundig. Dies hat auch der Rechtsausschuß in Rechnung gestellt und gewürdigt. Mit vollem Recht hat der Kollege Jahn im Schriftlichen Bericht zu dieser Gesetzesvorlage hervorgehoben, daß der Ausschuß in seiner Gesamtheit die Initiative der Bundesregierung hierzu begrüßt und auch in Einmütigkeit seine Beschlüsse gefaßt hat.
Meine Fraktion ist darüber hinaus der Ansicht, daß weitere Anstrengungen nötig sind, die Lage der Anwaltschaft zu verbessern, die einerseits die Last und das Risiko eines freien Berufes zu tragen, andererseits aber auch den Aufgaben eines unabhängigen Rechtspflegeorgans gerecht werden soll.
Meine Fraktion wird daher der vorliegenden Gesetzesvorlage ihre Zustimmung geben.
Das Wort hat der Abgeordnete Jahn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der SPD begrüße icb die Verabschiedung des Entwurfs einer Änderung
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9326 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965
Jahnder Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte. Damit wird endlich einem Rückstand abgeholfen, der seit Jahren besteht. Zuletzt ist für den durch die Novelle geregelten Bereich eine Anpassung der Anwaltsgebühren 1952 erfolgt. Es kann nicht bestritten werden, daß Lebenshaltungs- wie Geschäftskosten seither erheblich gestiegen sind. Die damit verbundene Steigerung der Streitwerte konnte demgegenüber nur einen teilweisen Ausgleich in ,den Einkommensverhältnissen der Rechtsanwälte schaffen. Die Stellung des Rechtsanwalts als eines Organs der Rechtspflege, die ihm auferlegten Risiken des freien Berufs, aber auch die noch immer ausstehende Altersversorgung stellen Anforderungen, die ein angemessenes, der 'allgemeinen Wirtschaftsentwicklung entsprechendes Entgelt fordern.Die jetzige auf Antrag 'der Sozialdemokraten über den Regierungsentwurf hinaus vorgenommene und im Einklang mit den Landesjustizverwaltungen stehende Erhöhung der Anwaltsgebühren trägt diesen Erfordernissen nur bedingt Rechnung. Bei den Ausschußberatungen bestand Einmütigkeit 'darüber, daß das geltende Gebührenrecht von Grund auf neu durchdacht und geordnet werden muß. Die Regierung bleibt deshalbaufgefordert, diese Aufgabe unverzüglich in Angriff zu nehmen. Dennoch stellt die Novelle einen vorläufigen Fortschritt dar, dem wir Sozialdemokraten zustimmen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Auch wir Freien Demokraten stimmen selbstverständlich diesem Gesetz, diesem Fortschritt in bezug auf eine zufriedenstellende Regelung des Anwaltsgebührenrechts zu. Manchmal gibt es bei allen politischen Gegensätzen doch einmütige' Auffassungen, nicht nur hier im Plenum, sondern auch in den Ausschüssen, und bei der Beratung dieses Gesetzes war das der Fall. Auch die jetzt noch erhobenen Forderungen haben alle Parteien einmütig befürwortet, darunter nicht nur die Rechtsanwälte, sondern vor allen Dingen auch die Juristen, die keine Rechtsanwälte sind.
Es ist nun mal eine Tatsache — und das ist, glaube ich, einmalig —, daß wir heute eine Gebührenordnung haben, deren Sätze für die Rechtsanwälte teilweise unter denen liegen, die die Gebührenordnung den Rechtsanwälten von 1924 bis 1927 zugebilligt hatte.1927 wurden die Anwaltsgebühren ganz erheblich gesenkt, nicht aber — und das ist eine Merkwürdigkeit — die Gerichtskosten, so daß wir noch heute bei hohen Streitwerten feststellen müssen, daß der Fiskus als Gerichtskosten höhere Gebühren kassiert, als dem Anwalt zugestanden werden. Das ist natürlich noch keine befriedigende Regelung.Eine unbefriedigende Regelung besteht teilweise auch bei den Pauschsätzen. Ich denke besonders an die Pauschsätze in Arbeitsgerichtsverfahren und Sozialgerichtsverfahren.Auf eine andere Reformbedürftigkeit hat Herr Kollege Jahn ebenfalls schon hingewiesen. Seit der Schaffung der Rechtsanwaltsgebührenordnung hat sich auch eine Verschiebung in bezug auf die Arbeitsbelastung für den Anwalt ergeben. Ich denke z. B. an die Vollstreckungsverfahren bei Mietstreitigkeiten und Beschwerdeverfahren. Hier ,ist eine systematische Überprüfung des jetzt bestehenden Gebührensystems notwendig. Es muß geprüft werden, ob 3/10-Gebühren heute noch überall dem tatsächlichen Arbeitsaufwand entsprechen. Nachdem alle drei Parteien diesen Wunsch zum Ausdruck gebracht haben, hoffe ich, daß — wenn nicht mehr in dieser Legislaturperiode, so doch in der nächsten Legislaturperiode — die dann amtierende Bundesregierung entsprechende Reformvorschläge machen wird.Auch die persönliche Situation der Anwälte hat sich seit der Zeit, als die Rechtsanwaltsgebührenordnung geschaffen wurde, verändert. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Kosten einer Anwaltspraxis heute wesentlich gestiegen sind. Zu einer Statistik des Wirtschaftsministeriums, die im Rechtsausschuß vorgetragen wurde, möchte ich bemerken: Ich weiß nicht, wie diese statistischen Zahlen zustande gekommen sind; aber sie widersprechen der Erfahrung der Anwälte aus ihrem Beruf und auch aus der Kenntnis der Verhältnisse der anderen Kollegen so sehr, daß diese Statistik doch einmal genau überprüft werden sollte, zumal die Bundesregierung sie der von ihr vorgeschlagenen Gebührentabelle zugrunde legte.Es kommt hinzu, daß ein junger Jurist heute wesentlich später, als es früher der Fall war, eine Praxis aufbauen kann. Dann muß er in der kurzen Zeit der Berufsausübung, noch während des Aufbaus der Praxis seinen Kindern eine angemessene Schul- und Berufsausbildung geben. Gleichzeitig muß er Vorsorge für Alter, Krankheit und für den Fall seines Todes für seine Hinterbliebenen treffen.Es ist deshalb nicht mehr als recht und billig, daß dieser erste Schritt zu einer Anpassung der Einkommen der Rechtsanwälte an die heutigen Verhältnisse getan wurde. Hier handelt es sich um ein Anliegen eines freien Berufes. Leider mache ich immer wieder die Feststellung, daß bei Veranstaltungen aller Parteien von den freien Berulfen häufig als vom „Salz", vom „geistigen Element", auf das man nicht verzichten könne, gesprochen wird, daß aber — wenn es um die Verwirklichung von berechtigten Forderungen geht — doch nicht so gehandelt wird, wie man es erwarten sollte.
Deswegen freue ich mich über die Einmütigkeitbeim Zustandekommen 'dieses Gesetzes, die zu ver-zeichnen war. Ich hoffe, daß auch im nächsten Bun-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Mai 1965 9327
Frau Dr. Diemer-Nicolausdestag eine derart gute Zusammenarbeit in diesenFragen möglich sein wird.
Keine weiteren Wortmeldungen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Gesetz in dritter Lesung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu er'he'ben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Damit sind wir am Ende der Sitzung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 21. Mai 1965, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.