Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die
Beratung des Schriftlichen Berichts des Außenhandelsausschusses über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der Kommission der EWG für eine Verordnung des Rates der EWG zur Änderung der Verordnung Nr. 54 des Rates in bezug auf die Festsetzung der Prämiensätze und der Abschöpfungsbeträge im voraus bei Getreideeinfuhren aus dritten Ländern, Drucksachen IV/1547, IV/1556. —
Das Haus ist damit einverstanden. Ich schlage vor, diesem Punkt der Tagesordnung unmittelbar nach der Fragestunde zu behandeln.
Wir kommen zu Punkt 1 der Tagesordnung:
Fragestunde .
Wir behandeln zunächst die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich rufe die von dem Abgeordneten Fritsch gestellte Frage VIII/1 auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Familienausgleichskasse des nordwestdeutschen Baugewerbes in Berlin seit Jahren unter erheblichem Personalmangel leidet und daß dadurch z. B. die Erledigung der Eingangspost eine Verzögerung von 8 bis 10 Monaten erfährt?
Ist der Abgeordnete Fritsch oder der Abgeordnete Lautenschlager, der ihn vertreten soll, anwesend? — Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die personellen Schwiergikeiten bei der Berliner Abteilung der Familienausgleichskasse des nordwestdeutschen Baugewerbes, die bedauerlicherweise eine Verzögerung der Antragsbearbeitung zur Folge haben, sind auch unserem Hause seit einiger Zeit bekannt. Wir haben uns darüber durch das Bundesversicherungsamt berichten lassen. Dieser Bericht hat etwa folgendes Ergebnis:
Ein Teil des Personals der Berliner Abteilung hat sich im Hinblick auf die bevorstehende Auflösung
der Familienausgleichskassen als Folge des Bundeskindergeldgesetzes bereits einen anderen Arbeitsplatz gesucht. Die dadurch entstandenen Personallücken ließen sich wegen der bekannten Lage des Arbeitsmarktes nur schwer schließen. Immerhin hat die Berliner Abteilung bei einem Personalbestand von 70 bis 80 Personen in der letzten Zeit, also seit August 1963, 9 Sachbearbeiter und 7 Schreibkräfte eingestellt. Die neuen Sachbearbeiter brauchen jedoch eine längere Zeit zur Einarbeitung. Es steht zu hoffen, daß die Berliner Abteilung bald wieder in der Lage sein wird, die Kindergeldanträge in kürzerer Zeit zu bearbeiten. Das setzt allerdings voraus, daß keine weiteren Kündigungen erfolgen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Langebeck!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, würde Ihr Ministerium sich dafür verwenden, daß — möglicherweise auch mit Unterstützung des Verbandes der Berufsgenossenschaften — eine vorübergehende Abstellung oder Versetzung von Angestellten erfolgt, insbesondere deshalb, weil gerade diese Kasse einen Teil ihrer Arbeiten als Auftragsangelegenheiten ausführen muß? Erschiene es nicht auch nach Ihrer Meinung gerechtfertigt, daß andere Berufsgenossenschaften diese Ausgleichskasse unterstützen? -
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir werden gern versuchen, Herr Abgeordneter, dieser Anregung nachzukommen. Die Schwierigkeit bei der Berliner Abteilung besteht ja darin, daß eine unmittelbare räumliche Beziehung zu einer Berufsgenossenschaft — wie bei den anderen Familienausgleichskassen — leider nicht gegeben ist. Außerdem. darf ich Sie bitten zu berücksichtigen, daß diese Kasse in Berlin besonders schwierige Fälle zu bearbeiten hat. In 50% der Fälle handelt es sich um Inhaftierte oder Asoziale. Daher dauert es auch immer etwas länger, bis über diese komplizierteren Anträge entschieden ist. Aber wir nehmen Ihre Anregung gern auf und werden von uns aus versuchen, die Kasse zu unterstützen, damit sie die nötigen Arbeitskräfte erhält.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Gerlach.
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4232 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Herr Staatssekretär, darf ich fragen, ob die Trennung zwischen den Familienausgleichskassen und den Berufsgenossenschaften einwandfrei ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich. Aber da, wo die Berufsgenossenschaften und die Familienausgleichskassen in einem Hause sind, ist es natürlich leichter möglich, bei schwankender Arbeitsbelastung einmal etwas auszuhelfen. Die sachgemäße Trennung der Aufgaben ist natürlich gegeben, hängt aber mit der hier gestellten Frage, Herr Abgeordneter, nicht unmittelbar zusammen.
Zweite Zusatzfrage.
Würde es bei der Überleitung möglich sein, hier eindeutig zu trennen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ergibt sich aus dem Gesetz.
Ich rufe auf die
Frage VIII/2 — des Abgeordneten Fritsch —:
Ist die Bundesregierung bereit, bei Antragstellung auf Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten auf eine vertrauensärztliche Untersuchung dann zu verzichten, wenn der Antragsteller das 65. Lebensjahr vollendet und den Zustand der Erwerbsunfähigkeit durch ein privatärztliches Zeugnis begründet hat?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Entscheidung über den Antrag auf Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ist nach dem Gesetz ausschließlich Sache der Rentenversicherungsträger. Diese haben in eigener Zuständigkeit zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Rentengewährung vorliegen. Es ist daher auch ausschließlich ihnen vorbehalten, darüber zu befinden, ob eine vertrauensärztliche Untersuchung erforderlich ist oder ob ein privatärztliches Zeugnis genügt. Weisungen der Bundesregierung hinsichtlich des Verfahrens der Rentenversicherungsträger sind rechtlich nicht zulässig.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Langebeck.
Herr Staatssekretär, auch wenn es nicht zu Ihren Kompetenzen gehört, wären Sie bereit, in der vom Fragesteller gewiesenen Richtung einmal mit dem Verband der Rentenversicherungsträger zu sprechen? Die Rentenversicherungsträger würden doch wohl auch nach Ihrer Auffassung sicher erheblich entlastet werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind selbstverständlich gerne bereit, Herr Abgeordneter, mit dem Verband der Rentenversicherungsträger über
diese Frage zu sprechen, müssen aber bei dem Rechtsgrundsatz verbleiben, daß die Rentenversicherungsträger allein prüfen, unter welchen Voraussetzungen im individuellen Fall eine Rente gewährt werden kann.
Ich rufe die Frage VIII/3 — der Frau Abgeordneten Meermann — auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß das Interesse vor allem der weiblichen Arbeitnehmer für eine Teilzeitbeschäftigung merklich nachgelassen hat, weil eine rentenversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung bestehende Rentenansprüche häufig nicht erhöht, sondern vermindert?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, nach den Beobachtungen der Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung hat die Zahl der Teilzeitarbeitskräfte in den letzten Jahren nicht abgenommen, sondern eher zugenommen. Das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen und die Zahl der an dieser Arbeitsform interessierten Frauen sind allerdings regional sehr unterschiedlich. Ob einzelne Frauen eine Minderung ihrer Rentenansprüche befürchten und von der Aufnahme einer Teilzeitarbeit absehen, können die Arbeitsämter natürlich schwer feststellen. Ich glaube auch, daß eine solche Feststellung allgemein sehr schwierig zu treffen sein wird. Es ist zu berücksichtigen, daß sich diese Frauen in der Regel nicht beim Arbeitsamt melden.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihnen einen Bericht aus der Süddeutschen Zeitung zuleiten, in dem die Verhältnisse im Bereich des Arbeitsamts Würzburg geschildert werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde den Bericht sehr gerne entgegennehmen.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung.
Ich rufe auf die Frage IX/1 — es ist wieder eine Frage der Frau Abgeordneten Meermann —:
Beabsichtigt der Herr Bundeswohnungsbauminister, die Zitatensammlung in seiner Informationsmappe „Schwarz auf weiß" auch durch Pressestimmen zu vervollständigen, die sich kritisch mit dem neuen Mietrecht befassen?
Herr Bundesminister, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jede sachlich begründete Kritik kann Aufnahme in die von meinem Hause herausgegebene Informationsmappe „Schwarz auf weiß" finden.
Eine Zusatzfrage.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4233
Herr Bundesminister, sollte man nicht erwarten, nachdem Sie im Vorwort Ihrer Mappe in drei aufeinanderfolgenden Sätzen schreiben „objektive Aufklärung der Bevölkerung", „objektive Unterrichtung der Öffentlichkeit" und „mir geht es hierbei nicht um parteipolitische Polemik", daß auch die Pressestimmen nach diesen Gesichtspunkten zusammengestellt sein müßten und nicht z. B. die Argumente der Opposition gegen die Mietpreisfreigabe zum gegenwärtigen Zeitpunkt und gegen die Aufhebung des Mieterschutzes mit einem einzigen nicht objektiven und sehr polemischen Satz aus der „Deutschen Zeitung" abgetan werden? Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich diesen Satz zitieren. Er lautet:
Zur Unterstützung ihrer Absichten bediente sie sich
— also die SPD
eines Arsenals von Argumenten, die im wesentlichen darauf hinausliefen, den Eindruck zu erwecken, als stehe in den nächsten Monaten die soziale Katastrophe bevor, als werde nunmehr ein Heer raffgieriger Hauseigentümer Rache nehmen für 40 Jahre Zwangswirtschaft mit niedriggehaltenen Mieten.
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident, daß die Frage ein bißchen lang war.
Immerhin war es eindeutig eine Frage. — Herr Bundesminister?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Keine Antwort.
Herr Abgeordneter Jacobi zu einer Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, würden Sie zu erwägen bereit sein, ob außer kritischen Stimmen der Opposition nicht bei einer Fortsetzung Ihrer Informationssammlung zumindest auch kritische Stimmen von Fachorganen Berücksichtigung finden sollten, von Bauzeitschriften, von Zeitschriften wie „Deutscher Städtetag" oder „Demokratische Gemeinde", also Organen, die nicht überwiegend oder überhaupt parteipolitisch, sondern von der Sache her die Dinge werten, z. B. die Probleme des Wohnungsdefizits, und würden Sie nach dieser Richtung hin Ihrer Pressestelle entsprechende Anweisung geben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sagte bereits, Herr Kollege Jacobi, daß jede sachlich begründete Kritik, die der sachlichen Aufklärung dieser schwierigen Materie dienen kann, Aufnahme in die Mappe findet, auch wenn sie von der Opposition kommt oder von Fachzeitschriften usw. Keine Aufnahme finden jene Dinge, die dazu geeignet sind, die Dunstglocke über diesem schwierigen Gebiet weiter aufzubauen. Ich bemühe mich, mit dieser Informationsmappe „Schwarz auf weiß", deren zweite Auflage heute verteilt wird, diese Dunstglocke zu beseitigen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jacobi.
Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie Ihrerseits bereit sind, daran mitzuwirken, daß nicht durch Informationen aus Ihrem Hause ein künstlicher Nebel entwickelt wird, der Verwirrung schafft und einer klaren Übersicht nicht dienlich ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie erwarten darauf keine Antwort, Herr Kollege Jacobi.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Geiger.
Herr Minister, sind Sie nicht auch der Meinung, daß das eine höchst einseitige Berichterstattung ist und nicht dem Verständnis des Ganzen dient?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin nicht der Meinung.
Herr Abgeordneter Börner zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, würden Sie dann nicht der Meinung sein — wenn ich mich auf Ihre vorletzte Antwort beziehen darf, daß auch die Kritik, die von Gebietskörperschaften an den statistischen Grundlagen Ihrer Arbeit geübt wurde, zu der von Ihnen genannten „Dunstglocke" beiträgt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die mir bekanntgewordene Kritik von Gebietskörperschaften muß sich notwendigerweise gegen diese Gebietskörperschaften selber richten, weil die Erhebungen des statistischen Wohnungsdefizits auf Grund eines Gesetzes durch das Statistische Bundesamt in Verbindung mit den Statistischen Landesämtern durchgeführt wurden. Die Gemeinden ihrerseits haben die Fragebogen verteilt und mit ausgewertet. Die Bürger haben die Antworten erteilt. Ich weiß nicht, wen hier die Kritik trifft.
Herr Abgeordneter Börner zu einer zweiten Zusatzfrage.
Darf ich aus Ihrer Antwort schließen, daß die in Ihrer Sammlung gegebenen Schlußfolgerungen nach wie vor noch von Ihnen als richtig betrachtet werden?
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4234 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Abgeordneter Büttner!
Herr Bundesminister, darf ich unter Bezugnahme auf eine frühere Fragestunde Sie noch einmal fragen: Sind die Richtlinien zur Feststellung des Defizits inzwischen geändert, ist jetzt das echte Wohnungsdefizit ermittelt, und sind Sie noch der Meinung, daß in die Statistik die Wohnungen nicht gehören, die nach baupolizeilicher Ansicht abbruchreif sind und deshalb erheblich zu dem Wohnungsdefizit beitragen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin der Meinung, daß die auf gesetzlicher Grundlage stattgefundenen Erhebungen Rechtens und in Ordnung sind. Ich habe mir allerdings erlaubt, in meiner Mappe „Schwarz auf weiß" in sehr ausführlicher Weise die Unterlagen näher zu begründen. Ich darf bitten, das nachzulesen. Es würde den Rahmen der Fragestunde sprengen, wenn ich den ganzen Bereich von mir aus hier aufrollen wollte.
Frau Dr. Kiep-Altenloh zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, sind von Ihnen Schritte veranlaßt worden zu dem Ziel, die Unterschiedlichkeit in der Beurteilung durch Ihr Amt und durch die örtlichen Stellen an Ort und Stelle aufzuklären, wie ich das in meiner Rede angeregt habe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal auf meine Mappe verweisen. Die Erhebungen, die stattgefunden haben, sind auf Grund des Gesetzes erfolgt. Sie sind für mich gültig. Oder ich muß von den Städten und Gemeinden und den statistischen Ämtern der Länder andere Unterlagen bekommen. Die Unterlagen werden von den Gemeinden und den statistischen Ämtern der Länder geliefert, nicht von mir.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Frau Abgeordnete Dr. Kiep-Altenloh.
Von einigen Städten sind Gründe dafür angegeben worden, weshalb die beiden Zählungen nicht übereinstimmen. Sind diese Einwände in Ihrem Ministerium geprüft worden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe sie an das Statistische Bundesamt weitergeleitet mit der Bitte, dort für Ordnung zu sorgen, wenn es notwendig ist.
Wir kommen zur Frage IX/2 — des Herrn Abgeordneter Hammersen —:
Treffen Pressemeldungen zu, wonach der Herr Bundeswohnungsbauminister beabsichtigt, das Zweite Wohnungsbaugesetz dahin gehend zu ändern, daß künftig beim gewerbsmäßigen Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern wie auch von Mehrfamilienhäusern mit öffentlichen Geldern die Bauherren kraft Gesetzes verpflichtet sein sollen, diese — bzw. in Mehrfamilienhäusern die einzelnen Wohnungen — in das Eigentum der Mieter zu überführen, wenn dies beantragt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es trifft zu, daß eine Änderung einiger Vorschriften des Zweiten Wohnungsbau- und Familienheimgesetzes angestrebt wind, um die Möglichkeit der ;Eigentumsbildung zu verstärken. Bereits jetzt kann die Bewilligung öffentlicher Mittel an unternehmerische Bauherren zum Bau von Mietwohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern mit der Auflage verbunden werden, daß sie dem Wohnungsinhaber auf dessen Verlangen als Eigentum zu übertragen sind. Entsprechende Auflagen können auch bei der Förderung sonstiger Mietwohnungen gemacht werden, um eine Übereignung als Eigentumswohnung zu ermöglichen. Von diesen Möglichkeiten ist bisher leider wenig Gebrauch gemacht worden. Ich denke deshalb daran, für 'Sie Vergabe öffentlicher Mittel an unternehmerische Bauherren eine solche Übertragungsauflage — jedenfalls zunächst bei Ein- und Zweifamilienhäusern — gesetzlich festzulegen.
Der Herr Abgeordnete Hammersen zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, welche Vorstellungen haben Sie bezüglich der Berechnung des Kaufpreises 'für Ein- und Zweifamilienhäuser oder auch für Mehrfamilienhäuser, nachdem das Zweite Wohnungsbaugesetz offenbar vom Wiederbeschaffungswert — abzüglich der Abschreibungen — ausgeht, diese Basis aber wegen des in der Zwischenzeit stattgefundenen starken Anstiegs der Grundstücks- und Baupreise wohl nicht mehr gerechtfertigt sein kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Frage bedarf ebenfalls einer Regelung; sie ist notwendig. Der Rechtszustand, daß der Verkaufspreis bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswertes als angemessen angesehen wird, ist nicht mehr zu rechtfertigen. Dem Bauherrn würde damit insbesondere auch eine zwischenzeitliche Steigerung der Grundstückspreise und der Erschließungskosten zufließen, wenn er früher — vor zehn oder mehr Jahren — geringe Aufwendungen für den Kauf des Grundstückes zu machen hatte. Es muß 'und wind deshalb eine Regelung getroffen werden, die sowohl die Belange des Bauherren, der das Risiko 'des Bauens trägt, als auch die berechtigten Interessen 'des Käufers berücksichtigt.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hammersen.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4235
Herr Bundesminister, beabsichtigen Sie, in dem geplanten Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes auch an die Frage der sogenannten „fehlbelegten Sozialwohnungen" heranzugehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Frage kann wohl nur im Zusammenhang mit dem Wohnungswirtschaftsgesetz geregelt werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf wird vorbereitet und dem Bundestag hoffentlich bald vorgelegt werden können.
Herr Abgeordneter Jacobi zu einer Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, darf ich aus Ihrer zurückhaltenden Antwort auf die gestellte Frage — soweit es sich um die Mehrfamilienhäuser handelt — den Schluß ziehen, daß Ihnen und Ihrem Hause inzwischen klargeworden ist, daß sachliche und rechtliche Bedenken dagegen sprechen, eine solche Anbietungspflicht in jedem Falle im Gesetz festzuhalten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich trete nach wie vor dafür ein, daß auch bei mehrgeschossigen Häusern, also bei Mietwohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus, grundsätzlich eine Eigentumsanbietungspflicht zugunsten der Mieter festgelegt wird, die anspruchsberechtigt werden. In der Praxis jedoch wird es schwer sein, z. B. bei einem Wohnhaus mit 50 Wohnungen, die Übertragung als Wohnungseigentum vorzunehmen, wenn nur ein oder zwei Mieter dies wünschen. Hier werden mit Fachleuten Überlegungen angestellt, wie wir auch mit dieser Frage im Sinne des Gesetzes über das Wohnungseigentum fertig werden können.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jacobi.
Darf ich aus Ihren Bemerkungen den Schluß ziehen, daß Pläne aufgegeben worden sind, in das bisherige Eigentum einzugreifen? Sind Sie bereit, dafür Sorge zu tragen, daß in der Öffentlichkeit Klarheit darüber geschaffen wird, daß eine solche Anbietungspflicht in Mehrfamilienhäusern viele Schwierigkeiten und Belastungen mit sich bringt, die es den Mietern geraten erscheinen lassen müssen, sorgfältig zu überlegen, ob sie nicht Schein eigentum beanspruchen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin nach wie vor der Meinung und glaubte auch, daß die Opposition der Meinung sei, daß alle mit öffentlichen Mitteln geförderten Wohnungen so verwendet werden sollen, wie es der Gesetzgeber gedacht hat, daß sie also anspruchsberechtigten Mietern zur Verfügung stehen oder aber anspruchsberechtigten Mietern zum Kauf angeboten werden sollen. Wird sind nämlich der Meinung, daß die Hergabe von über 30 Milliarden DM öffentlicher Gelder dem Ziel dienen soll, vornehmlich Einzeleigentum in der Hand der Arbeitnehmer zu schaffen. Es ist schwer, dieses Ziel zu verwirklichen. Ich darf um Ihre Mitarbeit bitten.
Ich komme zur nächsten Frage, der Frage IX/3 — des Herrn Abgeordneten Hammersen —:
Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung getroffen, um den Fertigbaugedanken zu fördern, nachdem der Bundeswohnungsbauminister lt. Pressemeldungen am 20. November 1962 in Nürnberg erklärt hat, „im Rahmen unseres Bemühens, den Baumarkt fest in den Griff zu bekommen, unterstützen wir den Fertigbau aus Gründer der Rationalisierung und der Preisstabilität"?
Herr Bundesminister, bitte:
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Nachsicht, daß die Art der Frage eine etwas ausführlichere Antwort erfordert. Sie sprengt etwas den Rahmen der Fragestunde. Aber ich muß die Frage etwas umfangreicher beantworten, weil sonst Unklarheiten bestehenbleiben könnten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Auf Grund der Erklärung der Bundesregierung vom 9. Oktober 1962 über die Förderung des Fertigbaues und Beseitigung von Einfuhrhemmnissen hat das Kabinett am 31. Oktober 1962 und am 24. April 1963 Beschluß zur vermehrten Verwendung von vorgefertigten Teilen gefaßt und die Länder und Gemeinden mit Schreiben des Herrn Bundeskanzlers gebeten, gleichartig zu verfahren. Den Oberfinanzdirektionen ist für ihre Bauvorhaben, speziell den Bundesbedienstetenwohnungsbau, Bundeswehr usw., wiederholt und zuletzt am 22. März 1963 Weisung erteilt worden, sich für die vermehrte Verwendung von Fertigbauteilen einzusetzen.Der auf der Einfuhr von Fertigteilen aus Holz und Betonwaren liegende Zoll in Höhe von etwa 12 % des Wertes ist für den EWG-Raum seit dem 1. Januar 1962 aufgehoben worden. Für die Einfuhr solcher Fertigteile aus Nicht-EWG-Ländern wurde aus Anlaß der Flutkatastrophe im norddeutschen Raum ein zollfreies Kontingent von 6000 Holzhäusern und von Fertigbauteilen aus Beton im Werte von 30 Millionen DM zugestanden.Der weitergehende Antrag der Bundesregierung vom 12. Mai 1962, zunächst bis zum 31. Dezember 1963 den Zoll für zerlegbare Holzhäuser auszusetzen, ist vom Ministerrat abgelehnt worden; für Waren aus Zement oder Beton wurde die zollfreie Einfuhr bis zum 30. Juni 1963 ohne Kontingent zugestanden. Ein neuer Antrag auf Zollsenkung für Importe von Fertighäusern aus Holz aus NichtEWG-Ländern ist am 5. September 1963 der EWG zugeleitet worden.Die Bundesregierung hat für Fertigbauverfahren technisch-wirtschaftliche Unterlagen erarbeiten lassen und Aufträge auf bauphysikalische, bautech-
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4236 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Bundesminister Lückenische und wirtschaftliche Untersuchungen an Fertigbauvorhaben verschiedener Systeme erteilt. Fertigbauteile werden laufend im Freilandversuchsgelände des Ministers in Holzkirchen erprobt.Weiter ist die Wanderausstellung „Fertigbau", die 1962 und 1963 in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt worden ist, finanziell, desgleichen sind die Ausstellungen in Quickborn, Braunschweig und Ulm 1963 ideell gefördert worden.Im übrigen hat die Bundesregierung an 12 Baustellen Versuche und Vergleiche finanziell gefördert und in Demonstrativbauten verschiedene Bauverfahren der Fertigbauarten untersucht.Schließlich sind in Bremen 681 Wohnungen für Flutgeschädigte in Reihenhäusern mit Förderung der Bundesregierung erstellt worden, die einen Vergleich in Kosten und Arbeitsaufwand zwischen Fertigbauarten verschiedener Systeme, traditioneller Bauart und Mischbauarten erlauben.Im Bundesbedienstetenwohnungsbau sind rund 400 Wohnungen unter Verwendung von Fertigbauteilen verschiedener Systeme erstellt worden oder im Bau. In Vorbereitung sind unter Einbeziehung der Möglichkeit, Fertigbauteile in größerem Umfang zu verwenden, rund 7000 Wohnungen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hammersen.
Herr Bundesminister, nachdem Sie in Ihrer Antwort auf meine Frage das Fertighausverzeichnis nicht erwähnt haben, darf ich Sie fragen, ob Sie meine Bedenken dagegen teilen, daß bei einer Zahl von angeblich 430 Fertigbauunternehmen im Bundesgebiet und in Westberlin und mindestens 300 bereits eingebrachten Anträgen auf Aufnahme in dieses Verzeichnis, seit dem Herbst 1962, d. h. jetzt seit einem ganzen Jahr, erst zehn Unternehmen mittels Veröffentlichung von Einzelbroschüren sozusagen „amtlich anerkannt" und damit gegenüber den Hunderten von Unternehmen, deren Anträge sich noch in der Prüfung befinden, in vielleicht sogar geschäftsschädigender Weise bevorzugt werden, wie das zum Beispiel in der Fertighausausstellung in Braunschweig der Fall war?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe das mit meiner Bemerkung erwähnt, daß ich an verschiedene Institute Aufträge erteilt habe, bauphysikalische und bautechnische Prüfungen durchzuführen. Das ist ein sehr kompliziertes Verfahren. Es muß sehr sorgfältig durchgeführt werden. Wir haben inzwischen sieben oder acht solcher Fertighausverzeichnisse für wichtige Fertigbauweisen vorliegen. Ich gebe zu, daß die Anzahl derer, die sich auf diesem Gebiet betätigen, außerordentlich groß ist. Ich werde mich darum bemühen, daß beschleunigt überall Fertigbauverzeichnisse erstellt werden können, um die Bevölkerung vor Fehlgriffen zu bewahren.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hammersen.
Da meines Erachtens noch sehr viele Möglichkeiten auf dem Gebiet des Fertighausbaus und der Fertigteile nicht genutzt worden sind, darf ich Sie fragen, ob Sie auch bereit wären, die fachlichen Berufsvertretungen der Fertighausbranche bei den weiteren Überlegungen mit heranzuziehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist meines Wissens bisher geschehen. Ich gebe zu, daß die deutsche Wirtschaft die großen Möglichkeiten vielleicht deshalb noch nicht so gesehen oder voll genutzt hat, weil bis vor vier Jahren die Arbeitskraft bei uns in Deutschland billig war. In Amerika ist die Erfahrung, die sich auch bei uns abzeichnet, gemacht worden, daß sich der Fertigbau überall dort durchsetzt, wo Arbeitskräfte teuer werden. In dieser Entwicklung sind wir mitten drin. Wir werden in diesem Jahr 20 000 Fertighäuser der verschiedensten Typen fertigstellen. Im letzten Jahr waren es 10 000, im kommenden Jahr rechnen wir mit 50 000. Sie spüren, daß hier eine ungeheure Entwicklung im Gange ist. Die Initiative dazu begann in dem Augenblick, als billige Arbeitskräfte zu fehlen begannen.
Keine Zusatzfrage? — Dann komme ich zu der Frage IX/4 — des Abgeordneten Jacobi —:
Hält die Bundesregierung die allgemeinen Wuchervorschriften und die Mietwucherbestimmungen des Wirtschaftsstrafgesetzes für ausreichend?
Herr Bundesminister, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die allgemeinen Wuchervorschriften und die Mietwucherbestimmungen des Wirtschaftsstrafgesetzes sind ausreichend. Das Hohe Haus hat auf meine Initiative gerade im Hinblick auf die Mietpreisfreigabe den § 2 a des Wirtschaftsstrafgesetzes mit Wirkung vom 1. Januar dieses Jahres an neu gefaßt, um gegen mögliche Mißstände auf dem Gebiet der Mietpreise für Wohnraum wirkungsvoll einschreiten zu können.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jacobi.
Herr Bundesminister, wenn Sie der soeben dargelegten Auffassung sind, wie ist dann Ihre Bemerkung zu verstehen, die Sie wiederholt in der Öffentlichkeit gemacht haben, daß Mietwucherer an den Pranger gestellt werden müßten? Ist es nicht so, daß das dann für a 11 e Strafverfahren gleichermaßen gelten müßte und daß da rechtsstaatlich doch einige Bedenken angemeldet werden müßten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Jacobi, ich darf diese Frage zum Anlaß nehmen, mit der Behauptung aufzuräumen, daß ich irgendwo jemals geäußert haben solle, daß Mietwucher an den Pranger gehört. Ich bin der Meinung, daß er an den Pranger
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4237
Bundesminister Lückegehört; ich habe ja auch entsprechend gehandelt. Aber ich habe auf Anfragen großer Zeitungen vor geraumer Zeit geantwortet, daß jederman in Deutschland, der mit der Unwissenheit der Mieter und Vermieter Schindluder treibt — ich meine die Unwissenheit, die damit zusammenhängt, daß ganz entscheidende neue Gesetzesbestimmungen in Kraft treten —, unter Nennung der Namen und Tatsachen an den öffentlichen Pranger gestellt gehört.
Als Überschrift dieses Interviews, das telefonisch stattfand, Herr Kollege Jacobi, habe ich in derselben Zeitung — es war wohl in der „Welt am Sonntag" — dann gelesen: Lücke fordert: Mietwucherer an den Pranger. Das ist eine kleine Nuancierung. In der Zwischenzeit sind einzelne Fälle bekannt geworden, wo man mit der Unwissenheit der Mieter und Vermieter Schindluder getrieben hat. Gut und Böse sind in Deutschland in gleicher Weise verteilt, das wissen wir. Es gibt gute Mieter und gute Hausbesitzer, und auf der anderen Seite gibt es auch schlechte Hausbesitzer und schlechte Mieter. Es sind einzelne Fälle bekanntgeworden, in denen mit dieser Unwissenheit wirklich Schindluder getrieben worden ist. Nachdem der Deutsche Mieterbund, der einen dieser Fälle in einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit bekanntgab, von sich aus nicht tätig wurde — es wäre meines Erachtens mit seine Aufgabe gewesen, Anzeige zu erstatten, weil jedermann, jeder Abgeordnete und jeder Bürger das Recht hat, von den Möglichkeiten der Anzeige bei der Behörde und beim Staatsanwalt Gebrauch zu machen —, war ich selbst genötigt, es zu tun. Der Minister ist auf Grund seines Diensteides verpflichtet, die Gesetze zu wahren und zu achten. Ich habe Anzeige erstattet, und der Erfolg war durchschlagend.
Die Forderungen sind zurückgezogen worden. Mieter und Vermieter haben berechtigte Sorgen, was jetzt wird. Es beginnt wirklich eine neue Ara auf dem Gebiet des Wohnungswesens, und ich darf sehr darum bitten, daß mit der vielfachen Unkenntnis kein Schindluder getrieben wird. Wenn sich Bürger an der Unwissenheit vergehen, gehören sie angezeigt, und dann wird der Mietwucherparagraph angewendet, der bis fünf Jahre Gefängnis plus 100 000 DM Geldstrafe in schweren Fällen vorsieht.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jacobi.
Da ich keine Möglichkeit habe, in diesem Zusammenhang ein Korreferat zu halten — es wäre vieles zu sagen —, beschränke ich mich auf die Frage, ob Ihnen, Herr Minister, bekannt ist, daß der Mieterbund eine Reihe von Anzeigen erstattet hat, deren Verlauf die Frage aufwirft, ob eine Verfolgung vor Gericht wirklich abschreckenden Charakter hat? Ich darf Sie darüber hinaus fragen, ob Ihnen bei Ihrer letzten Auskunft nicht ein Fehler unterlaufen ist und ob Sie nicht doch übersehen haben, daß die Mietwucherbestimmungen des Wirtschaftsstrafgesetzes nur als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf vielleicht den Paragraphen vorlesen:
Eine Zuwiderhandlung, die nach den Vorschriften dieses Gesetzes geahndet wird, begeht, der vorsätzlich Entgelte, die infolge einer Beschränkung des Wettbewerbs oder infolge der Ausnutzung einer wirtschaftlichen Machtstellung oder einer Mangellage unangemessen hoch sind,
— und nun kommt der Text, den ich hineingebracht habe —
für die Vermietung von Räumen zum Wohnen oder damit verbundenen Nebenleistungen oder für das Vermitteln einer solchen Vermietung fordert, sich versprechen läßt oder annimmt.
Nach dieser Bestimmung ist bereits das Verlangen, das Fordern einer unangemessen erhöhten Miete strafbar.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hammersen.
Herr Minister, nachdem wohl doch zweifelsfrei feststeht, daß der § 2 a des Wirtschaftsstrafgesetzes eine Straftat ahnden will und somit auch jedermann das Recht hat, diese Straftat anzuzeigen, und die Justiz von Amts wegen einschreiten muß, würden Sie da meine Meinung I nicht auch teilen, daß z. B. die gemeindlichen Wohnungsämter besser beraten wären, ihnen bekanntgewordene Fälle von Mietwucher und Mietüberschreitungen ihrerseits zur Anzeige zu bringen, als etwa im Wege des Berichts und der Pressekonferenz die Dinge auf eine andere Basis zu schieben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin ganz Ihrer Meinung, verehrter Herr Kollege. Wenn alle Gemeinden, Länder, Gerichte und Bürger diese Möglichkeit wahrnähmen, würden solche Fälle, wie sie vorgekommen sind, nicht möglich sein, und der Bundesminister hätte es dann nicht mehr nötig, selber Anzeige zu erstatten. Ich gilbe zu, das kann man nur im außerordentlichen Falle tun. Ich habe auch hier wieder einen Bericht, daß offenbar die Forderungen nach überhöhter Miete nicht an eine Partei gebunden sind, es geht also offenbar durch verschiedenste Gruppen, und ich möchte deshalb bitten, daß Idas ganze Hohe Haus doch darin einmütig ist, daß jedermann, der mit der Unwissenheit hier Schindluder treibt, an den Pranger gehört. Bitte, unterstützen Sie mich. Diesem Ziel dient auch die Mappe „Schwarz auf weiß".
Zu einer Zusatzfrage 'der Abgeordnete Wehner.
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4238 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Herr Minister, entschuldigen Sie, ich glaube Ihre Beweggründe zu verstehen, aber ich möchte doch bezweifeln
und möchte fragen — ich bin ja dabei; bleiben Sie doch 'geduldig! —, ob es angesichts der Bedeutung, die das von Ihnen wahrscheinlich aus guter Absicht gewählte Wort „Pranger" in einer Reihe von Jahren unserer jüngeren Geschichte bekommen hat,
— ja, ich bitte Sie um Entschuldigung — nicht vorzuziehen ist, durch grundgesetzliche soziale und rechtsstaatliche Gesetzesvorschriften und Bestimmungen, ,die man eindeutig faßt und allgemeinverständlich populär macht, Vorsorge zu treffen, als sich in die, wie ich bestimmt glaube, auch von Ihnen nicht gewollte Mehrdeutigkeit dieses Begriffs „Pranger" hineinzugeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Wehner, wenn Sie die Auseinandersetzungen zu bestehen gehabt hätten, ,die ich in den letzten Monaten durchgemacht habe, würden Sie auch nicht sehr wählerisch sein mit Ihren Worten. Ich gebe zu, das isst eine sehr schwierige Sache. Aber wer die Unwissenheit einer Witwe oder einer kinderreichen Familie ausnutzt, um Geschäfte zu machen, gehört nach meiner Vorstellung an den Pranger. Das ist keine schöne Sache, ich gebe ,das zu; aber er gehört dahin.
Herr Kollege Wehner, darf ich jetzt auf Ihre eigentliche Frage antworten. Ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich hätte es auch sehr begrüßt, wenn die Opposition ihre Vorschläge zur Verbesserung des Mieterschutzrechts, des sogenannten sozialen Mietrechts, das wir 'in 'das BGB hineingebaut haben, früher gemacht hätte. Ich habe gestern abend im Rundfunk gehört, daß solche Vorschläge jetzt gemacht worden sind. Wir diskutieren viereinhalb Jahre über dieses Thema, die Gesetze sind seit drei Monaten zustande gekommen, sie sind jetzt noch nicht hinmal praktisch wirksam, sondern erst am 1. November. Alles, was bisher den Gesetzen zur Last gelegt wird, trifft ,die alten, überholten Gesetze, wird aber propagandistisch-psychologisch den neuen Gesetzeswerken zur Lest gelegt. Wir sollten das vermelden. Ich hätte es also dankbar begrüßt, wenn die Opposition mich früher unterstützt hätte in dem Bemühen, noch bessere Lösungen zu linden, um Fälle zu verhindern, die -wir alle miteinander nicht wollen: daß Bürger, die sozial schwach sind, unter die Räder kommen.
Herr Abgeordneter Wehner, Sie wollen eine zweite Zusatzfrage stellen? — Bitte!
Ich kann ja nur eine Zusatzfrage stellen, denn ich verfüge nicht über die Mäglichkeit, dies in die Form einer Debatte zu bringen. — Ich möchte Sie nur fragen, Herr Minister, ob Sie bereit sind und ob es Ihrer Einsicht entspricht, bereit zu sein, deutlich zu machen, daß diese Erörterung um
einen Ausweg, 'den Sie in der Wahl des Begriffes e „Pranger" sehen, eine Erörterung ist, bei der es im Grunde darum geht, daß man den Mißbrauch verhindern will.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, nein, Herr Kollege Wehner; hier bin ich nicht mit Ihnen einig. Die Gesetze sind nicht in Kraft. Alle bislang ergangenen Kündigungen und Mietpreisforderungen wurden unter Ausnutzung der Unwissenheit der Mieter gemacht. Am 1. November treten die neuen Gesetze in Kraft. Erst dann können wir entscheiden. Ich bin aber gern bereit, jeden Vorschlag von Ihrer Seite gern zu prüfen, ob wir die Schutzbestimmungen noch verbessern können, wenn sie nicht darauf hinauslaufen, die Zwangswirtschaft auf anderem Wege wieder einzuführen.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Meermann.
Herr Minister, Sie wollten mit Ihren letzten Ausführungen doch nicht sagen, daß die Opposition bei den Ausschußarbeiten keine Gegenvorschläge gemacht hätte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie hat Gegenvorschläge gemacht, die praktisch die Beibehaltung des alten Mieterschutzrechts bedeutet hätten.
Ich rufe auf Frage IX/5 — des Abgeordneten Jacobi —:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß viele Mieter Mietwucherern deshalb nicht entgegentreten, weil sie den Verlust ihrer Wohnung fürchten und angesichts des noch unterversorgten Wohnungsmarktes keine Möglichkeit sehen, sich eine andere Wohnung zu beschaffen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es trifft nicht zu, daß der Mieter schutzlos ist und bei einer Anzeige wegen Mietwuchers den Verlust seiner Wohnung befürchten muß. Dem steht das neue soziale Mietrecht entgegen. Ich darf nur auf die langen Kündigungsfristen und die Sozialklausel hinweisen. Es wird kein Gericht geben, ,das den Mieter zur Räumung verurteilt, wenn er sich gegen eine wucherische Mietforderung gewehrt hat. Im übrigen ist den Damen und Herren dieses Hohen Hauses bekannt, daß einige Vorschriften des sozialen Mietrechts aus Gründen der Zeitknappheit noch nicht verabschiedet worden sind. Ich würde es dankbar begrüßen, wenn das Hohe Haus zur Verabschiedung dieses Teils in Kürze käme, damit .das ,soziale Mietrecht lückenlos ist. Vielleicht können wir Anregungen, die die Opposition taut Nachrichtendienst gemacht hat, dabei noch verwenden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jacobi.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4239
Herr Bundesminister, ist Ihnen entgangen, daß meine Frage nicht dahin gelautet hat, ob rechtliche Möglichkeiten des Mieterschutzes bestehen, sondern daß ich Auskunft darüber erhalten wollte, ob Ihnen bekannt ist, daß viele Mieter es nicht wagen, Mietwucherer anzuprangern, weil sie Furcht haben, ihre Wohnung zu verlieren? Sind Ihrem Hause nicht derartige Eingaben bekannt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die mir bekannt gewordenen Eingaben bestätigen, daß hier ein Angstkomplex herrscht, ,der beseitigt werden muß. Die Gesetze geben den Mietern Schutz. Darum kämpfe ich seit Monaten.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jacobi.
Herr Bundesminister, ist Ihnen entgangen, daß die Opposition nicht nur in der Vergangenheit konstruktive Vorschläge unterbreitet hat, die in Richtung auf ein wirklich soziales Mietrecht tendieren, sondern daß sie vor einigen Tagen auch noch einen Gesetzesantrag eingebracht hat, der sicherstellen soll, daß ein Mietverhältnis in Zukunft nur aus berechtigten Gründen, aber unter Berücksichtigung auch der Vermieterinteressen, aufgehoben werden kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist von dem Hohen Hause auf meinen Vorschlag hin eine Bestimmung dahin eingefügt worden, daß die freie Verfügbarkeit über das Gut Wohnung ihre Grenzen dort hat, wo die berechtigten Belange der Familie berührt werden. Diese Bestimmung geht über all das hinaus, was je im deutschen Recht auf diesem Gebiet bestimmt wurde; sie tritt am 1. November in Kraft und muß dann praktiziert werden. Ich bin davon überzeugt, daß diese Bestimmung in Verbindung mit den Miet- und Lastenbeihilfen den einkommensschwachen, schutzbedürftigen Mietern und Familien einen Schutz gewährt, wie er in der Bundesrepublik noch nie existiert hat. Darum ist das von uns verabschiedete soziale Wohnrecht im BGB ausreichend. Wir sollten jetzt daran gehen, es auszuprobieren und daran mitzuwirken, daß die Bestimmungen in dem Sinne Anwendung finden, in dem sie Bundestag und Bundesrat geschaffen haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mick.
Herr Minister, sind Sie mit mir der Ansicht, daß wir in einem sozialen Rechtsstaat leben und daß deshalb niemand Furcht zu haben
braucht, Recht und Gesetz für sich in Anspruch zu nehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin dem Herrn Abgeordneten Mick dankbar für die Fragen und darf hier, Herr Kollege Wehner, noch einmal deutlich vor dem Hohen Hause erklären, was ich bereits gesagt habe: Niemand, keine Familie wird unter die Räder kommen, wenn die Bestimmungen der Gesetze angewandt werden. Ich gebe zu, daß in dieser Übergangsperiode die Panikmache eine große Sorge bereitet, mit der wir fertig werden müssen. Darum kann ich das, was der Kollege Mick hier gefragt hat, nur mit vollem Ja beantworten.
Frau Abgeordnete Berger-Heise!
Herr Minister, ist Ihnen entgangen, daß die Frage nicht dahin ging, ob einkommensschwache Mieter geschützt werden können, sondern daß die Frage lautete, ob Sie der Meinung sind, daß alle Mieter Furcht haben müssen, jemanden des Wuchers zu bezichtigen, weil die Folge immer eine Kündigung sein wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gnädige Frau, ich sehe meine entscheidende Aufgabe darin, zunächst einmal dafür zu sorgen, daß den Familien geholfen wird, die selbst nicht dazu in der Lage sind. Darum haben wir den sozialen Wohnungsbau geschaffen. Alle übrigen Kreise sind aus eigener Kraft und durch das System der Miet- und Lastenbeihilfen wirtschaftlich in die Lage versetzt worden, ihre Wohnung zu sichern, und wir sollten doch weiterhin unser gemeinsames Streben darauf richten, daß einkommensschwache Familien geschützt werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja!
Meinen Sie nicht, Herr Minister, daß in diesen Fällen der Angstkomplexe ganz besonders die Mietervereine die Möglichkeit hätten, Mietwucher anzuzeigen, da sie ja nicht zu befürchten brauchen, daß sie dadurch ihre Büroräume verlieren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe gelegentlich so etwas den Eindruck, daß es manchen Organisationen nicht immer darum geht, Aufklärung zu schaffen, sondern hier und da doch etwas mehr darum, Mitgliederwerbung zu treiben.
Das Wort zu einer Zusatzfrage hat der Abgeordnete Büttner.
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4240 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Herr Minister, sind Sie nicht der Meinung, daß ,die gestellte Frage in der Sache nicht beantwortet ist,
denn es geht nicht um die bestehenden rechtlichen Bestimmungen, sondern es geht ganz schlicht und einfach um die Tatsache, daß in der Praxis ein gerichtliches Vorgehen gescheut wird, weil man als Endergebnis der Klage dann die Kündigung zu gewärtigen hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin nicht der Meinung. Aber ich bin der Meinung, wir sollten keinen Zweifel in die Zuverlässigkeit unserer Gerichte setzen.
Ich komme zur Frage IX/6 — der Frau Abgeordneten Meermann —:
Darf bei Mieterwechsel die „angemessen erhöhte" Miete überschritten werden?
Herr Bundesminister, bitte!
— Ich darf doch um Ruhe bitten, damit der Herr Bundesminister in der Lage ist, die Frage der Frau Abgeordneten zu beantworten.
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,
Städtebau und Raumordnung: In den weißen Kreisen gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit, der natürlich in den Wuchervorschriften seine Begrenzung findet. Nach der Freigabe der Mietpreise können daher Vermieter und Mieter in den weißen Kreisen auch eine Miete vereinbaren, die über der „angemessenen erhöhten Miete" nach der Verordnung vom 25. Juli 1963 liegt. Die „angemessen erhöhte Miete" darf vom Vermieter nicht überschritten werden, wenn er diese Miete gegen den Willen des Mieters durch einseitige Erklärung gemäß § 18 des Ersten Bundesmietengesetzes erhöht.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Meermann!
Finden Sie nicht, Herr Bundesminister, daß, weil wir doch zur Zeit noch Wohnungsmangel haben, mit dieser Auslegung das Ziel der Verordnung über die angemessen erhöhte Miete, nämlich die zu erwartenden Mietpreiserhöhungen innerhalb eines Jahres in angemessenen Grenzen zu halten, nur höchst unvollkommen erreicht wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gnädige Frau, Sie wissen, daß wir in den weißen und in den schwarzen Kreisen mit Vorrang so lange weiterbauen werden, bis die letzte Familie eine Wohnung hat. Wir haben 7 Millionen Wohnungen gebaut. Die rest-
lichen 1,5 Millionen werden wir hoffentlich auch noch schaffen.
Keine Zusatzfrage mehr. Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister.
Ich .komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesschatzministers und rufe auf die Frage X/1 — des Abgeordneten Wegener —:
Welche Gründe stehen einer Übertragung der ehemaligen Meierei-Kasernen gemäß § 3 des Gesetzes über das Reichsvermögen vom 16. Mai 1961 auf das Land Nordrhein-Westfalen bzw. den Landkreis Detmold, der die genannten Gebäude seit dem Jahre 1951 als Jugendwerk nutzt, im Wege?
Herr Bundesminister Dr. Dollinger, ich darf bitten.
Dr. Dollinger, Bundesschatzminister: Ich beantworte die Frage des Herrn Abgeordneten Wegener wie folgt:
Bis vor kurzem wurde von meinem Hause die Auffassung vertreten, daß ein Anspruch der Länder auf Übereignung von ehemaligen Reichsliegenschaften gemäß § 3 des Reichsvermögen-Gesetzes vom 16. Mai 1961 nur in den Fällen gegeben sei, in denen die Liegenschaften bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 überwiegend und nicht nur vorübergehend für grundgesetzliche Aufgaben der Länder genutzt wurden. Nach eingehender Prüfung der Rechtslage ist dieser Standpunkt aufgegeben worden.
Das Eigentum an den vom Landkreis Detmold genutzten Kasernenanlagen wird daher in den nächsten Tagen auf das Land Nordrhein-Westfalen oder mit dessen Einverständnis auf den Landkreis Detmold übertragen werden.
Keine Zusatzfrage? — Wir kommen damit zur Frage X/2 — des Herrn Abgeordneten Felder —:In welcher Weise — Leihgaben an die Museen der Länder oder Veranstaltung von Kunstausstellungen — will das Bundesschatzministerium mit den vom amerikanischen „Collecting Point" gesammelten und in die Obhut der „Treuhandverwaltung für Kulturgut" übergebenen Kunstschätzen verfahren, die von Hitler und Göring gehortet waren?Herr Bundesminister, darf ich bitten.Dr. Dollinger, Bundesschatzminister: Ich beantworte die Frage des Herrn Abgeordneten 'Felder wie folgt:Aus den von der amerikanischen Besatzungsmacht nach Kriegsende in den sogenannten „Central-Collecting Points" Wiesbaden und München zusammengetragenen Kunstbeständen wurden zunächst von der amerikanischen Besatzungsmacht diejenigen Gegenstände herausgegeben, hinsichtlich derer die Länder nach den Kontrollratsdirektiven Nr. 50 und Nr. 57 und Rückerstattungsberechtigte nach den Gesetzen über die innere und äußere Restitution Herausgabeansprüche geltend machen konnten.Am 22. Februar 1952 wurde die Verwaltung der dann noch vorhandenen Bestände auf die beim Auswärtigen Amt gebildete „Treuhandverwaltung von
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4241
Bundesminister Dr. Dollinger
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Hier ist der Platz für eine Feststellung, die ich ohne jede polemische Gesinnung und ohne Selbstgefälligkeit treffe: es war vielleicht die größte Leistung dieses Kanzlers, daß er alle diese schwerwiegenden und tiefgreifenden Entscheidungen vorbereiten und durchführen konnte mit dem Ergebnis, daß heute auch die Opposition sich zu den gemeinsamen Leitsätzen der deutschen Außenpolitik bekennt.
Es gibt heute keinen Streit mehr darüber, daß der Weg zur Wiedervereinigung des deutschen Volkes über die Einigung Europas führt. Es gibt keine Differenzen mehr darüber, daß der Platz des freien deutschen Volkes — heute der Bundesrepublik, morgen des gesamten deutschen Volkes — immer und endgültig an der Seite der freien Welt sein wird.
Es gibt keine leidenschaftliche Diskussion mehr darüber, daß wir berechtigt sind, die bedrohte Freiheit zu schützen und dafür auch Opfer zu bringen.Aber es waren nicht, wie manchmal kritisch oder abwertend gesagt wurde, die einsamen Beschlüsse eines eigenwilligen Politikers. In den vierzehn Jahren haben wir miteinander gerungen. Es gab Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Regierungschef und seinen Mitarbeitern. Es gab leidenschaftliche Diskussionen in der eigenen Fraktion und in den anderen Fraktionen dieses Hohen Hauses. Es gab harte Kämpfe in den Ausschüssen und im Plenum. Oft schien es, daß die öffentliche Meinung dieser deutschen Politik des Bundeskanzlers Adenauer nicht folgen wolle oder nicht folgen werde. Aber immer wieder hat das deutsche Volk diese Politik gutgeheißen und bestätigt. Und viermal hat der Bundestag ihm das höchste Amt anvertraut, das er zu vergeben hatte. Nach sorgfältiger Überlegung kann ich für mich und wohl auch für alle meine politischen Freunde sagen, daß wir uns auch heute zu jeder der weittragenden Entscheidungen bekennen, die wir gemeinsam mit Ihnen, Herr Adenauer, getroffen haben.
In Ihrer ersten Regierungserklärung haben Sie es als Ihr Ziel bezeichnet, daß es mit Gottes Hilfe gelingen werde, das deutsche Volk aufwärts zu führen und beizutragen zum Frieden in Europa und in der Welt. Und ein andermal sagten Sie:Ich habe den Wunsch, daß später einmal von mir gesagt werden kann, ich hätte meine Pflicht getan.Ich glaube, daß Ihre Hoffnung sich verwirklicht hat und daß die Geschichte Ihnen das Zeugnis ausstellen wird, das Sie von ihr erbitten.
In seiner Regierungserklärung hat Bundeskanzler Erhard die Entwicklung unseres jungen Staates in den Nachkriegsjahren in unsere Erinnerung zurückgerufen. Mit Recht hat er in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß eine demokratische Ordnung einer verantwortungsbewußten öffentlichen Kritik bedarf und daß in ihr auch die innere Beteiligung des Staatsbürgers am politischen Geschehen zum Ausdruck kommt. Ich möchte diese Feststellung, der ich voll beipflichte, noch ergänzen.Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist in seinem Entstehen und in seinem Inhalt weitgehend bestimmt von den traurigen Erfahrungen des deutschen Volkes in der zurückliegenden Zeit. Wir alle, die wir am Grundgesetz mitgearbeitet haben, haben uns bemüht, die parlamentarisch-demokratische Kontrolle in allen Bereichen gegenüber der Exekutive auszubauen und verfassungsrechtlich zu verankern. Ich glaube, daß man ohne Übertreibung sagen kann, daß wenige Verfassungen so perfektionistisch entwickelt sind, und daß darum auch der Feststellung, daß die Verfassung ein Höchstmaß an rechtsstaatlichen Garantien vermittelt, ernsthaft nicht widersprochen werden kann. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in vollem Umfange gewährleistet.In zahlreichen Entscheidungen haben die obersten Bundesgerichte ihre politische Unabhängigkeit immer wieder bewiesen — natürlich nicht immer mit der uneingeschränkten Zustimmung dessen, der bei der juristischen Verfolgung seiner politischen Ziele unrecht behielt. Aber ich glaube, daß ich es schon als eine erfreuliche Tatsache bezeichnen kann, daß die grundlegenden Entscheidungen der obersten Bundesgerichte nicht gescholten, sondern respektiert wurden.
— Das schließt natürlich eine sachliche Diskussion über den Rechtsgehalt der einen oder anderen Entscheidung nicht aus, um so mehr, als auch das Recht in einer ständigen Fortentwicklung begriffen ist, Herr Kollege Wehner.
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4246 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Dr. von Brentano — Wir können über diese Dinge gern anschließendnoch eine lange grundsätzliche Diskussion führen.In den letzten Wochen ist wieder einmal eine Diskussion über den Begriff der Rechtsstaatlichkeit und die Grenzen der Staatsgewalt entstanden, die bedauerlicherweise nicht von dem Verantwortungsbewußtsein getragen war, die ein solches Gespräch voraussetzt.
Eine illustrierte Zeitung brachte in großer Aufmachung einen alarmierenden Bericht über die unzulässigen Eingriffe des Verfassungsschutzamtes in die Privatsphäre der Bürger. Die Bereitschaft, diese Behauptungen als wahr zu unterstellen, war sonderbar, aber auch besorgniserregend. Inzwischen hat sich eine Kommission der drei Fraktionen 'des Bundestages mit dem Tatbestand beschäftigt und hat zu den konkreten Vorwürfen festgestellt:Unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen über die Rechtsgrundlagen und den Umfang der alliierten Vorbehaltsrechte auf dem Gebiet der Post- und Fernmeldeüberwachung und ihre Auswertung durch deutsche Stellen, wird festgestellt, daß sich aus den vorgelegten Unterlagen kein Anhalt für die Annahme eines Mißbrauchs in der innerpolitischen Auseinandersetzung ergeben hat.
— Ich rede vom ersten Artikel. Jetzt kommt der zweite Artikel.
Es kommt noch einer. Sie haben ganz recht.Kurze Zeit darauf beschäftigte sich eine Fernsehsendung mit der angeblichen Telefonüberwachung im Deutschen Bundestag. Ich möchte auf Einzelheiten nicht mehr eingehen; denn der verantwortliche Intendant hat 'sich bei dem Herrn Bundestagspräsidenten ausdrücklich entschuldigt
und auch gewisse personelle Konsequenzen gezogen. Aber ich erwähne diese Sendung deswegen, weil sie zeigt, in welcher Weise die öffentliche Meinung durch eine verantwortungslose, bewußt verlogene Berichterstattung verwirrt werden kann, — und vielleicht auch verwirrt werden soll.
Nur ein Bruchteil des Personenkreises, der eine solche Sendung sah, kennt die korrekte Entschuldigung des zuständigen Intendanten, und nach dem Grundsatz „semper aliquid haeret" glauben auch heute noch unzählige Staatsbürger, daß an der Sache doch etwas gewesen sei und man vielleicht diejenigen in die Wüste geschickt 'habe, die den Mißstand aufgezeigt haben.Inzwischen sind neue Vorwürfe erhoben worden. Sie bedürfen der Klärung, und ich denke gar nicht daran, sie zu bagatellisieren. Die sozialdemokratische Fraktion hat die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt. Schon vorher hatte der Innenminister einen angesehenen unabhängigen Juristen beauftragt; uns scheint das der richtigere Weg zu ein. Aber ich möchte heute schon klarstellen, daß wir uns vorbehalten, das Beweisthema des Untersuchungsausschusses zu ergänzen, und daß von unserer Seite aus alles geschehen wird, damit der Untersuchungsausschuß zügig arbeitet und seine Feststellungen binnen kürzester Frist dem Plenum vorlegt.
Aber es sind weniger die Tatbestände, die mich in diesem Zusammenhang 'interessieren, als gewisse Begleitumstände, um so mehr, als ja der Sachverhalt in den beiden erstgenannten Fällen bereits weitgehend geklärt ist.Die beiden Informanten der illustrierten Zeitung waren Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes. Sie hatten das Recht, aber auch die Pflicht, sich an ihren dienstlichen Vorgesetzten, vielleicht auch an den zuständigen Minister zu wenden, wenn ihnen gesetzwidrige Handlungen zugemutet wurden oder sie von solchen erfuhren.
Diesen selbstverständlichen Weg sind sie nicht gegangen. Der eine verschwand von seiner Dienststelle, um dann bekanntzugeben, daß ihn die Gewissensnot getrieben habe; seine Angaben sind inzwischen 'widerlegt. Der andere schied schon etwa vor Jahresfrist aus seinem Angestelltenverhältnis aus. Auch ihn trieb dann eine offensichtlich sehr verspätete Gewissensnot zu einer illustrierten Zeitung.
Die notwendige Untersuchung sollte sich, wie ich meine, auch 'darauf erstrecken, wieweit in diesen Fällen die Erleichterung des Gewissens mit einer Honorarzahlung verbunden war.
Eine solche Behandlung derartiger Vorgänge kann nicht 'im Interesse der Rechtsstaatlichkeit liegen.
Ich habe persönlich auch kein Verständnis dafür, wenn der Vorsitzende eines parlamentarischen Ausschusses sich mit einem dieser sonderbaren Informanten heimlich am dritten Ort trifft.
Das erinnert an billige Kriminalromane, aber das wird dem Ernst der Frage nicht gerecht.
Eine ähnliche Feststellung gilt auch für die schon erwähnte Fernsehsendung. Nachdem die Entschuldigung des Intendanten bekannt wurde, veröffentlichte eine Illustrierte den Namen des Informanten; es war kein anderer als der Sprecher der Sozialdemokra-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4247
Dr. von Brentanotischen Partei Deutschlands, der in einer gewundenen Erklärung am 7. Oktober die Vorwürfe zugeben mußte
und sein tiefes Bedauern über die Folgen seiner Information aussprach. Er war es also, der die beispiellosen Angriffe gegen den Deutschen Bundestag zu vertreten hatte. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat ihm einen Tag später das volle Vertrauen ausgesprqchen.
Dieser Vorgang spricht für sich selbst und enthebt mich jeden Kommentars.
Aber ich glaube doch, daß ich eine Warnung wiederholen sollte. Es ist erschreckend, aus manchen Äußerungen herauszulesen, wie gleichgültig zuweilen in der Diskussion das gemeinsame Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten behandelt wird.
Natürlich verlangen auch wir eine wirksame Kontrolle des Staates und seiner Behörden, damit Recht und Gesetz beachtet werden.
Aber wir gießen Wasser auf die Mühlen unserer gefährlichsten Gegner, wenn wir so tun, als wäre unsere Freiheit von unserem Staat und von unseren Behörden bedroht.
Es kann zu unabsehbaren Konsequenzen führen, wenn wir auf diese Weise das Vertrauen in den eigenen Staat und in die eigenen Behörden erschüttern. Auch in einer freiheitlichen Ordnung hat der Staatsbürger nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Ich habe es begrüßt, daß Bundeskanzler Erhard ausdrücklich festgestellt hat, daß Freiheit mit Verantwortung gepaart sein muß, wenn sie nicht entarten soll. Einer der ersten, die nach dem Zusammenbruch wieder politische Verantwortung übernahmen, der damalige hessische Ministerpräsident Professor Geiler, hat — ich glaube, es war im Jahre 1946 — eine Broschüre veröffentlicht mit der Überschrift: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit". Mir scheint, es wäre gut, wenn wir uns mit solchen Überlegungen auch einmal beschäftigen und Fragen dieser Art nicht zu einer parteipolitischen Polemik ausarten lassen würden.
Das Opfer einer solchen Entwicklung wären wir alle, meine Damen und Herren: der demokratische Staat und seine Bürger.
— Meine Damen und Herren, ich weiß, daß Sie gewisse Dinge nicht gern hören, aber ich werde fortfahren.
Wie ist eigentlich das, was sich in dieser Woche im Bundestagsausschuß für Immunität ereignet hat, mit dem lauten Bekenntnis der Opposition zum Rechtsstaat zu vereinbaren?
Am 20. Mai übermittelte der Bundesminister der Justiz dem Bundestagspräsidenten einen Antrag des Generalbundesanwalts auf Aufhebung der Immunität der sozialdemokratischen Abgeordneten Merten und Jahn. Der Tatbestand ist bekannt. Zwei vertrauliche bzw. geheime Sitzungsprotokolle des Verteidigungsausschusses vom 10. Mai und 29. Juni wurden bei beschlagnahmten Unterlagen des Spiegels gefunden; es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich um Photokopien von Sitzungsprotokollen handelte, die dem stellvertretenden Vorsitzenden Merten zur Verfügung standen. Von einem der Protokolle hat der Herr Kollege Jahn zugegeben, daß er es dem Mitglied der Spiegel-Redaktion, Herrn Schmelz, überlassen habe. Bis zur Stunde weigert sich der Immunitätsausschuß, dem Antrag des Generalbundesanwalts stattzugeben.
Der Ausschuß hat seine Entscheidung von der Vorlage von Akten der Bundesanwaltschaft abhängig gemacht. Dabei dürfte dem Ausschuß die grundsätzliche Entscheidung des 1. Strafsenats vom 20. Dezember 1960 bekannt sein, in der es heißt:Die Genehmigung zur Strafverfolgung wird für einen bestimmten geschichtlichen Vorgang erteilt. Diesen Vorgang hat das Gericht seiner Entscheidung so zugrunde zu legen, wie er sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. An die rechtliche Beurteilung, die die Strafverfolgungsbehörde bei ihrem Antrag auf Genehmigung der Strafverfolgung vertreten hat, ist das Gericht nicht gebunden.Der Immunitätsausschuß hat also selbstverständlich nicht zu prüfen, ob eine strafbare Handlung vorliegt;
er hat dem Antrag stattzugeben ohne Rücksicht darauf, ob der bestehende Verdacht ein Strafverfahren rechtfertigt. Denn erst nach der Aufhebung der Immunität können die Ermittlungen durchgeführt werden. Diejenigen, die verhindern, daß solche Ermittlungen durchgeführt werden, untergraben die bestehende Rechtsordnung.
Das Parlament darf die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen einen Abgeordneten nur verweigern, wenn die Interessen des Parlaments auf Wahrung seiner Integrität gegenüber den Interessen der Rechtspflege an der Durch-
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4248 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Dr. von Brentanoführung eines Strafverfahrens oder gegenüber den sonst auf dem Spiel stehenden Gemeinschaftsinteressen überwiegen.
Es kann nicht ernsthaft bestritten werden, wie hier die Interessenlage ist. Wenn ich mir vorstelle, daß ein Antrag dieser Art gegen mich eingehen würde, dann würde ich mich nicht hinter dem Immunitätsausschuß verstecken, um eine Aufklärung zu verhindern; ich selbst würde hier im Plenum des Bundestages verlangen, daß die Immunität unverzüglich aufgehoben werde.
Meine Damen und Herren, ich darf Sie um Ruhe bitten, um den Fortgang der Verhandlungen zu ermöglichen.
— Meine Damen und Herren, es ist wahrscheinlich auch für den Redner, ganz sicher für den Präsidenten nicht zu verstehen, was Sie rufen. Ich schlage Ihnen vor, daß Sie es Ihrem nächsten Redner, dem Abgeordneten Erler, sagen. Er kann hier auf der Tribüne vertreten, was Sie für richtig halten. Aber jetzt' bitte ich, den Redner sprechen zu lassen.
Meine Damen und Herren, unsere verfassungsmäßige Ordnung, die Verfassungswirklichkeit werden weitgehend auch von dem Verhältnis zwischen Bund und Ländern bestimmt. Der Bundeskanzler hat mit großem Nachdruck von dem elementaren Interesse gesprochen, ,das er dem guten Verhältnis zwischen Bund und Ländern beimißt. Ich begrüße diese Feststellung und auch die Ankündigung der Bundesregierung, daß der Bundeskanzler regelmäßig mit den Ministerpräsidenten der Länder zusammenkommen will, um gemeinsame Probleme und gemeinsame Aufgaben in freundschaftlichem Geiste zu besprechen und zu lösen. Dias gilt einmal für die finanziellen Besprechungen zwischen Bund und Ländern. Die Auseinandersetzung über die Höhe des Bundesanteils an der Einkommen- und Körperschaftsteuer muß versachlicht werden. Ich unterstreiche die Feststellung des Bundeskanzlers, daß die Vorarbeiten für eine Finanzreform unverzüglich wieder aufgenommen werden müssen.Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ist im Grundgesetz geregelt, das insbesondere auch die Zuständigkeiten verteilt. Es scheint mir müßig, heute darüber nachzudenken, ob jede Regelung, die das Grundgesetz getroffen hat, der Weisheit letzter Schluß war. Wir leben unter .dem Grundgesetz, das wir anerkennen und sorgfältig respektieren werden.Aber über .den Geist, der die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bestimmen muß, kann auch eine Verfassung keine Auskunft geben. Viel-mehr müssen sich alle Beteiligten bemühen, sich der gemeinsamen Verpflichtung bewußt zu sein. Eine ,gesunde Finanz- und Wirtschaftspolitik des Bundes setzt wirtschaftlich und finanziell gesunde Länder und Gemeinden voraus. Aber es besteht eine .unbestreitbare Interdependenz, und niemand wird leugnen wollen, daß ,die Entwicklung in den Ländern und in den Gemeinden von der Bundespolitik ausschlaggebend mitbestimmt wird.Dabei geht es nicht nur um finanzielle Fragen, so wichtig sie sind. Die Regierungserklärung hat mit Recht auch das weite Gebiet des Bildungswesens, der Forschung und der Wissenschaft angesprochen. Um Mißverständnisse von vornherein auszuschließen, möchte ich eindeutig feststellen, daß alle Erwägungen, die meine Freunde und ich in diesem Zusammenhang anstellen, von der Zuständigkeitsverteilung ausgehen, die das Grundgesetz bestimmt hat. Aber wir haben uns die Frage vorzulegen, ob wir nicht alle, Bund, Länder und Gemeinden, auf diesem Gebiet hätten mehr tun müssen oder doch in Zukunft in gegenseitiger Abstimmung mehr werden tun müssen.In der ersten Phase des Wiederaufbaus eines deutschen Staates mußten alle Kräfte zur Sicherung der physischen Existenz unseres Volkes eingesetzt werden. Zwangsläufig lag das Gewicht auf ,dem Aufbau unserer Wirtschaft, der Schaffung von Arbeitsplätzen, dem Wohnungsbau, der Linderung sozialer Not und der Sicherung des Friedens und der Freiheit. ,Die großen Erfolge, die diese Aufbauarbeit gezeitigt hat, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß unser Volk in den nächsten Jahren eine Anstrengung unternehmen muß, die alle seine Kräfte in Anspruch nehmen wird, um sein Leben auch für die Zukunft zusichern. Die Fortentwicklung der deutschen Wirtschaft, der soziale Aufstieg für breite Schichten unseres Volkes, ,die Konkurrenzfähigheit unserer Wirtschaft, auch unserer Landwirtschaft, die Erhaltung unseres Lebensstandards, die Wirksamkeit unserer Landesverteidigung, alles das hängt nicht zuletzt von der Leistung unserer Wissenschaft und unserer Bildungseinrichtungen ab. Es ist eine ,alarmzierende Feststellung, daß heute in anderen europäischen Ländern ein erheblich höherer Prozentsatz von Jugendlichen die höheren Schulen absolviert.
Es ist ein unerträglicher Zustand, wenn die Hochschulen den bildungswilligen jungen Menschen den Zugang versagen müssen, weil ihre Kapazität auf die gegenwärtigen Bedürfnisse unserer Gesellschaft noch nicht eingestellt ist.
Es ist beunruhigend, wenn trotz der hohen Leistung unserer Wirtschaft, die in den gewaltigen Ausfuhrziffern ihren Ausdruck findet, in den vergangenen Jahren, wie ich mir sagen ließ, nur noch wenige internationale Patente angemeldet wurden. Und es ist auch bedrückend, daß Auszeichnungen wie etwa der Nobel-Preis für schöpferische wissenschaftliche Leistungen nur noch selten einem deutschen Wis-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4249
Dr. von Brentanosenschaftler zuteil wurden. Das deutsche Volk lebt auf einem kleinen Raum, und nur durch seine Leistung kann es seine große Bevölkerung ernähren und den Lebensstandard halten und verbessern. Es hat aber auch eine hohe Verpflichtung gegenüber seiner Kultur, die nicht nur für das eigene Volk, sondern im Rahmen des kulturellen Austauschs und der wissenschaftlichen Zusammenarbeit für die ganze Menschheit fruchtbar gemacht werden muß.Aus diesen Überlegungen ergibt sich für die nächste Epoche unseres staatlichen Lebens als eine der vordringlichsten Aufgaben der Ausbau unserer Wissenschaft und unseres Bildungswesens. Wir müssen zu Opfern bereit sein, um diese Aufgabe zu bewältigen. Alle Investitionen auf diesem Gebiete kommen dem ganzen deutschen Volk und der kommenden Generation zugute. Wenn wir uns nicht zu großzügigen Maßnahmen entschließen, wird uns ein kommendes Geschlecht anklagen, wir hätten über dem Wohlleben des Augenblicks das Glück unserer Zukunft vergessen.
Natürlich kann der Ausbau des Bildungswesens nur in engster Zusammenarbeit von Bund und Ländern gelöst werden. Es wäre unverantwortlich, wenn wir über Kompetenzschwierigkeiten nicht zum gemeinsamen Handeln kommen würden.
Niemand wird in Zukunft eine solche Erklärung als Entschuldigung annehmen.Selbstverständlich erkennen wir vorbehaltlos an, was die Länder in Ausübung der ihnen zustehenden Kulturhoheit auf diesem Gebiete bisher geleistet haben. Aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Leistungen entsprechend der allgemeinen Entwicklung heute nicht mehr ausreichen. Der Ausbau der Wissenschaft und des Bildungswesens muß von unserem Volk als eine vordringliche nationale und gemeinsame Aufgabe erkannt und mit Überzeugung in Angriff genommen werden.
Der Bund will und wird nicht Kompetenzen in Anspruch nehmen, die ihm nicht zustehen; aber er wird und muß im Rahmen der ihm auch vom Grundgesetz erteilten Aufgaben als Motor wirken und unterstützen.Die bestehenden zentralen wissenschaftlichen Organisationen — ich denke an die Deutsche Rektorenkonferenz, den Wissenschaftsrat, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und andere — sollten aufgefordert werden, sich an dieser gemeinsamen Aufgabe zu beteiligen.
— Ich glaube, wir haben nachher noch Gelegenheit, alle diese Dinge zu diskutieren, meine Herren. Warum sind Sie so nervös und so eilig?
Einen beträchtlichen Teil ihrer Ausführungen widmet dann die Regierungserklärung der Außenpolitik. Mit Recht stellt Bundeskanzler Professor Erhardfest, daß ' seine Amtsübernahme in eine weltpolitische Phase falle, in der sich Veränderungen im Ost-West-Verhältnis abzeichnen. Sicherlich haben wir alle den Wunsch, daß diese Analyse richtig sein möge. Aber mit Recht warnt die Regierungserklärung vor falschen und gefährlichen Illusionen.Weder zwischen Bundesregierung und Parlament, noch zwischen Mehrheit und Minderheit gab es in den vergangenen Jahren eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß die vorsichtigen Kontaktgespräche, die von den Vereinigten Staaten und auch Großbritannien mit der Sowjetunion geführt werden, fortgesetzt werden sollten. Gewisse Hoffnungen hatten sich auch an die Genfer Konferenz geknüpft. Man glaubte und man wünschte, daß es doch zu Vereinbarungen über eine wirksam kontrollierte Abrüstung kommen werde, weil wir uns alle darüber im klaren waren, daß der Erfolg nur in Etappen und in Teilabkommen erzielt werden könne. Die Genfer Abrüstungsverhandlungen sind, wie alle konstruktiven Ideen und Vorschläge des Westens in den letzten 15 Jahren, an dem kategorischen Nein der Sowjetunion gescheitert. Das Moskauer Abkommen, das die Bundesregierung unterzeichnet hat und das der Bundestag sicherlich ratifizieren wird, darf keine falschen Hoffnungen wecken. Wir müssen uns klar sein, daß dieses Abkommen nur einen Teil der Atomversuche berührt, und wir müssen mit Bedauern feststellen, daß von einer irgendwie gearteten Kontrolle in diesem Abkommen nicht die Rede ist. Den Versuch der Sowjetunion, dieses Abkommen zu mißbrauchen, um durch eine Hintertüre die sowjetisch besetzte Zone als selbständiges Völkerrechtssubjekt in die Weltpolitik einzuführen, diesen Versuch haben unsere Verbündeten durch die unmißverständlichen Erklärungen, die Außenminister Dean Rusk und der damalige Außenminister und jetzige Premierminister Lord Home abgegeben haben, verhindert.Ich möchte aber diese Debatte nicht vorübergehen lassen, ohne noch einmal den klaren und eindeutigen Standpunkt meiner politischen Freunde in dieser Frage darzulegen.Aufgabe und Ziel der gemeinsamen Deutschland-Politik der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten sind im Deutschland-Vertrag niedergelegt. Die Erklärung der drei Westmächte und der Bundesrepublik zur Wiedervereinigung, die am 29. Juli 1957 in Berlin unterzeichnet wurde, ist unverändert gültig. Ich habe das unbedingte Vertrauen zu allen unseren Bündnispartnern, daß sie zu dieser Erklärung stehen und daß sie ihre Politik nach dem Inhalt dieser Erklärung auch ausrichten.Unverändert gültig muß für die deutsche Außenpolitik auch die Erklärung sein, die ich selbst am 31. Januar 1957 als Sprecher der Bundesregierung hier abgegeben habe. Das Recht auf Selbstbestimmung des deutschen Volkes ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Errichtung einer dem gesamten deutschen Volk verantwortlichen Regierung, die allein einen Friedensvertrag schließen und auch die mit einem Friedensvertrag notwendigerweise verbundenen Grenzprobleme zu lösen vermag. Das Recht auf Selbstbestimmung dürfen wir aber, wenn
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4250 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Dr. von Brentanowir glaubhaft bleiben wollen, nicht nur für das deutsche Volk verlangen. Jedes Volk, sei es in Afrika, sei es in Asien, sei es in Osteuropa, hat einen unverzichtbaren politischen und moralischen Anspruch, daß ihm dieses Recht eingeräumt wird.
Meine Damen und Herren, ich sprach schon von den Erklärungen des britischen und amerikanischen Außenministers, die vor kurzem abgegeben wurden, und ich möchte von den vielen Äußerungen noch aus der jüngsten Zeit die Rede des norwegischen Außenministers Lange vor den Vereinten Nationen zitieren, der eindeutig festgestellt hat, daß die Glaubwürdigkeit der sowjetrussischen Entspannungspolitik von der Gewährung des Selbstbestimmungsrechts an die Deutschen abhänge.
Auch der dänische Außenminister Haekkerup hat sich im gleichen Sinne geäußert. Aber ich möchte auch eine Stelle aus der Erklärung des Geschäftsführenden Rates des amerikanischen Gewerkschaftsbundes — AFL/CIO Executive Council — vom 13. August dieses Jahres zitieren:Jede Regelung oder Vereinbarung oder jeder Vertrag, der dem von den Sowjets eingesetzten Marionetten-Regime Ulbrichts auch nur den geringsten diplomatischen Status oder die geringste Legitimität brächte, würde die deutsche Demokratie und die Aussichten für die deutsche Einheit in Freiheit tödlich treffen. Das wäre eine ernste Gefährdung des Friedens und der Freiheit in der Welt.Ich glaube, wir haben allen Grund, dieser mächtigsten und größten Gewerkschaftsorganisation der freien Welt für diese klare und unmißverständliche Darstellung aufrichtig zu danken.
Es erscheint mir überhaupt nicht ungefährlich, allzuviel und allzu häufig das Wort Entspannung in den Mund zu nehmen, und es ist gewiß kein Zufall, daß der Bundeskanzler es nicht gebraucht hat.
Zumindest wäre es gut und wünschenswert, wenn alle, die darüber sprechen, zunächst einmal präzisierten, was sie unter Entspannung verstehen.
Daß der Ost-West-Gegensatz die gesamte Welt in einen Spannungszustand geführt hat, der jeden verantwortungsbewußten Menschen belastet, empfinden wir alle täglich von neuem. Daß alle Regierungen, denen es wirklich ernst ist um die Erhaltung des Friedens, nicht nur die politische, sondern auch die moralische Verpflichtung tragen, diesen unerträglichen Zustand zu ändern, bedarf kaum der Betonung. Aber es genügt eben nicht, ihn zu ändern, sondern die Entspannung muß zu einer Besserung der weltpolitischen Lage führen.
Wohlklingende Absichtserklärungen sind wertlos, wenn sie nicht begleitet werden von sichtbaren und wirksamen Taten.
Wir laufen sonst Gefahr, daß die harte Wirklichkeit durch schöne Formulierungen vernebelt wird.
In einem Buch, .das im Jahre 1940 erschienen ist, heißt es:Wir müssen darauf vorbereitet sein, die Schwächen der Demokratie im Wettstreit mit einer totalitären Regierungsform zu sehen. Wir müssen realisieren, daß das eine System den Frieden wünscht, das andere den Krieg. Wir müssen erkennen, daß derjenige, 'der die größte Geduld zeigt, damit nicht immun ist gegen die Zerstörung durch den anderen. Wir müssen uns klarmachen, daß eine Demokratie es schwer hat, die ununterbrochene Anstrengung zu ertragen, die ihr zugemutet wird, denn die Interessen des einzelnen Bürgers in einer Demokratie sind nicht auf die Rüstung gerichtet. Jeder muß ein großes persönliches Opfer bringen, um sie auszubauen, und es ist hart, dieses Opfer jahraus, jahrein immer von neuem zu fordern. Besonders schwierig wird die Lage dadurch, daß die freie Presse einer Demokratie die Reden der totalitären Machthaber wiedergibt, die ihre Sache auf so „vernünftige" Weise vertreten, daß es hart ankommt, sie als Drohung zu erkennen.Meine Damen und Herren, es war der heutige Präsident Kennedy, der zu Beginn des zweiten Weltkrieges diese Feststellungen getroffen hat, die heute so gültig sind, wie sie damals waren.
Gerade in diesen Tagen hat Präsident Kennedy in seiner Rede vor der Universität Maine erneut überzeugende Formulierungen gefunden. Mit Sorge wies er darauf hin, daß wir noch immer im Schatten eines Krieges leben und daß wir unsere Bereitschaft zur Verteidigung bewahren müssen, aber gleichzeitig jeden Pfad zum Frieden erwartungsvoll betreten sollen. Und er schloß seine Rede mit folgenden Worten:Alle diese Handlungen und alle anderen Elemente der Politik Amerikas und seiner Verbündeten gegenüber der Sowjetunion sind auf ein einziges umfassendes Ziel gerichtet: die sowjetischen Führer davon zu überzeugen, daß es für sie gefährlich ist, sich in direkte oder indirekte Aggression einzulassen, und daß es für sie nutzlos ist, ihren Willen und ihr System anderen Völkern gegen ihren Willen aufzuzwingen, und daß es ihnen und der gesamten Welt zum Vorteil gereichen werde, wenn sie sich dem Aufbau eines wirklichen und durchsetzbaren Friedens anschließen würden.Wir können diese ernsten Worte der Warnung, aber auch der Bereitschaft nur unterstreichen.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4251
Dr. von BrentanoAuch hier in diesem Hohen Hause haben wir uns wiederholt Tiber die Möglichkeiten und Wege zur Entspannung unterhalten. Ich möchte zitieren, was Bundeskanzler Adenauer am 22. September 1955 nach seiner Rückkehr aus Moskau unter dem Beifall des ganzen Hauses erklärt hat:Zur Entspannung bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Die deutsche Delegation hat den Vertretern der Sowjetregierung in aller Deutlichkeit gesagt, daß die Entspannung nur am Ende politischer Entscheidungen stehen kann und nicht an ihrem Anfang. Sie hat mit allem Nachdruck unsere Auffassung unterstrichen, daß eine wirksame Entspannung, die auch wir wünschen, ein echtes Sicherheitssystem voraussetzt, das allen Beteiligten Sicherheit vermittelt. Ein solches Sicherheitssystem ist auf der Basis der Teilung Deutschlands unmöglich. Solange Deutschland geteilt ist, bleibt ein Spannungsherd erster Ordnung bestehen; solange wird die Spannung zwischen Ost und West in einer gefährlichen Weise dadurch verschärft, daß die Berührungsfläche der beiden gegensätzlichen Systeme mitten durch ein und dasselbe Volk und Land geht.Diese Feststellung, die damals die Zustimmung aller Parteien fand, scheint mir auch heute noch gültig 2U sein.Darum ;begrüße ich es, daß die Bundesregierung entschlossen ist —gestützt auf das Mandat, das das deutsche Volk ihr erteilt hat —, immer wieder die Deutschlandfrage in den Vordergrund zu stellen. Und ich schließe mich ohne Einschränkung der Feststellung an, daß die Bundesrepublik keine Maßnahmen akzeptieren wird, die den Status des Deutschlandproblems verschlechtern würden, sei es durch eine Sanktionierung der unerträglichen Teilung unseres Landes, sei es durch eine Anerkennung oder auch nur eine internationale Aufwertung des sowjetzonalen Regimes.
Während in anderen Teilen der Welt mit Unterstützung der Vereinten Nationen die Kolonialsysteme aufgelöst werden und den Völkern das Selbstbestimmungsrecht zurückgegeben wird, wird im Herzen Europas ein neues Kolonialsystem errichtet, das an Härte und Brutalität seinesgleichen sucht. Wir alle können den Appell des Bundeskanzlers nur unterstreichen: Die Sowjetunion, die so häufig von Realitäten spricht, solle endlich einer Realität Rechnung tragen: dem Selbstbehauptungs-und Einheitswillen des 'ganzen deutschen Volkes diesseits und jenseits der Zonengrenze.
Dabei erinnert die Regierungserklärung auch an die gemeinsame Entschließung dieses Hohen Hauses vom 12. Oktober 1962, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, gemeinsam mit ihren Verbündeten der Sowjetunion den Vorschlag zu machen, entsprechend der Verantwortung der vier Mächte eine gemeinsame ständige Konferenz zur Lösungder deutschen Frage als Voraussetzung eines lauerhaften Friedens einzusetzen. Das bedeutet natürlich nicht, daß irgend jemand unter uns sich vorstellen könnte, daß die ursprüngliche Vier-Mächte-Kontrolle wiederaufleben dürfte. Aber die Vier-Mächte-Konferenz hätte den klar bestimmten und umrissenen Auftrag, die deutsche Frage zu lösen, und es gibt keinen anderen Weg als die Einräumung des Selbstbestimmungsrechts an das deutsche Volk.Meine politischen Freunde unterstützen auch die Bemühungen der Bundesregierung bei dem Versuch, das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Staaten zu verbessern. Um so mehr bedauere ich, daß der Abschluß einer Vereinbarung zwischen Deutschland und Polen die polnischen Politiker bisher nicht dazu veranlassen konnte, ihre Sprache gegenüber Deutschland etwas zu mäßigen.
Die Rede des polnischen Ministerpräsidenten Gomulka, die er zum Abschluß des Besuches des Herrn Ulbricht in Polen am 30. September gehalten hat, verrät keinen Entspannungswillen. Er wiederholt die altbekannten, ebenso törichten wie bösartigen Angriffe gegen den angeblichen deutschen Revisionismus und Revanchismus. Auch die Rede des stellvertretenden polnischen Außenministers Wieniewicz, die er vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen gehalten hat, läßt wenig von einem solchen Verständigungswillen erkennen.Aber wir sind uns bewußt — auch hierin stimmen wir mit der Bundesregierung völlig überein —, daß wir diese legitimen Ziele deutscher Politik allein nicht verwirklichen können. Wir stimmen mit der Bundesregierung darin überein, daß die Nordatlantikpakt-Organisation ein Grundpfeiler unserer Politik ist und bleiben muß. Wir wünschen und erwarten, daß die Bundesregierung alles tut, was in ihrer Macht steht, um die politische Zusammenarbeit im Rahmen der NATO auszubauen und so, wie es die Regierungserklärung ankündigt, die Verteidigung zu integrieren.Das Konsultationsverfahren in der NATO muß ständig verbessert werden; denn eine gemeinsame Verteidigung setzt voraus, daß ein gemeinsamer politischer Wille hinter dem Bestreben steht. Natürlich sind wir uns im klaren darüber, daß nicht jede weltpolitische Entscheidung einer vorgängigen Konsultation unterworfen sein kann. Es gibt Entscheidungen in Bereichen, die von der Verteidigung der NATO nicht unmittelbar gedeckt sind; der mächtigste Bündnispartner in der NATO, die Vereinigten Staaten, hat weltweite Verpflichtungen, und er wird einzelne Entscheidungen in diesen Bereichen nicht immer von einer vorgängigen Konsultation abhängig machen können oder wollen. Ich denke — um ein Beipiel zu nennen — an die Reaktion der Vereinigten Staaten auf den Versuch der Sowjetunion, Kuba als vorgeschobene Angriffsposition auszubauen. Aber dort, wo keine Zeit bleibt zur Konsultation oder wo die Voraussetzungen für die Konsultation nach dem Bündnisvertrag nicht gegeben sind, sollte eine rechtzeitige Information erfolgen,
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4252 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Dr. von Brentanoum in jedem Falle die Einheit des Westens zu stärken.
Eine ,echte Konsultation ist aber in jedem Falle erforderlich, wenn unmittelbare und legitime Interessen eines Bündnispartners berührt werden. Ich denke hier an das Moskauer Abkommen. Meine Feststellung, daß die Konsultation in diesem Falle offensichtlich nicht ausreichend war, enthält keinen Vorwurf, aber wohl eine freundschaftliche Mahnung.Überhaupt erscheint es mir gut, ein allgemeines Wort über die Zusammenarbeit in der freien Welt und insbesondere auch mit den Vereinigten Staaten zu sagen. Das Vertrauen des deutschen Volkes zur Politik der Vereinigten Staaten ist unerschüttert.
Wer diese Vertrauensgrundlage in Zweifel zieht,verstößt gegen den Geist, von dem unsere Zusammenarbeit in der freien Welt bestimmt werden muß.
Aber die Zusammenarbeit wäre nicht aufrichtig, wenn jeder vom anderen nur blindes Vertrauen verlangte. Eine kollektive Verteidigungspolitik ist nur denkbar, wenn alle, die daran beteiligt sind, einander in Freundschaft und Offenheit begegnen. Es kann und muß unsere Aufgabe sein, in gemeinsamen Überlegungen zu gemeinsamen richtigen Entscheidungen zu kommen. Eine offene und sachliche Kritik hat nichts mit Mißtrauen zu tun; ganz im Gegenteil, sie ist überhaupt nur dort möglich, wo die Vertrauensgrundlage besteht und wo jeder bereit ist, anzuhören, was der Partner meint, und die Überlegungen des anderen in die eigenen Entscheidungen einzubeziehen.
Das setzt allerdings voraus, daß wir entschlossen sind, auch unsere europäische Politik konsequent und entschlossen fortzusetzen. Die Zusammenarbeit der sechs kontinentaleuropäischen Staaten, die sich in der Montanunion und in der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft zusammengeschlossen haben, hat Ergebnisse erzielt, die die kühnsten Erwartungen übertreffen. Die europäische Gemeinschaft ist eine politische Realität geworden. Aber ich glaube, wir sollten aussprechen, daß diese neue Realität an Kraft und Bedeutung verliert, wenn wir uns nicht unausgesetzt bemühen, das Geschaffene fortzuentwickeln.
Alle, die die europäischen Verträge ausgearbeitet, ratifiziert und verwirklicht haben, waren sich darüber im klaren, daß die wirtschaftliche Integration die Vorstufe der politischen Integration sein solle. Niemand wollte sich mit der rein ökonomischen Zusammenarbeit zufrieden geben; diese Feststellung bedeutet in keiner Weise, daß ich das Ergebnis dieser wirtschaftlichen Integration unterschätze, das ja auch in dem wachsenden Wohlstand der beteiligten Nationen und in der Erkenntnis der gegenseitigen Interdependenz zum Ausdruck kommt.Aber es wäre, wie ich fürchte, eine Selbsttäuschung, wenn wir glaubten, daß die wirtschaftliche Integration zwangsläufig zur politischen Union führen werde. Ich bin mit dem Herrn Bundeskanzler der Überzeugung, daß es hier neuer Anstrengungen und neuer Initiativen bedarf. Mir scheint, daß man weiterhin daran arbeiten sollte, die europäischen Exekutiven von Luxemburg und Brüssel zusammenzulegen. Darüber hinaus bedarf diese europäische Gemeinschaft dringend eines Ausbaus der parlamentarischen Zuständigkeit und Verantwortung. Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht darauf hingewiesen, daß im Vollzug der Verträge immer neue Teilbereiche der nationalen Souveränität entzogen und der Gemeinschaft übertragen werden. Dieser Prozeß muß. sich unter einer wirksamen demokratischen Kontrolle vollziehen, denn die nationalen Parlamente, ja auch die nationalen Regierungen werden durch diese Entwicklung in weiten Teilbereichen ausgeschaltet.Ich weiß, daß der eine oder andere einwenden wird, eine solche Entwicklung sei zur Zeit nicht möglich. Aber wir weichen der eigenen Verantwortung aus, wenn wir uns auf diese resignierende Feststellung beschränken und passiv bleiben. Als die Montanunion und später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur Diskussion standen, haben auch viele kluge Politiker und Wirtschaftler gesagt, daß diese Pläne unrealistisch seien. Aber weil ein klarer und entschlossener politischer Wille hinter diesen Bemühungen stand, konnten wir erleben, daß — um ein Wort von Robert Schuman zu zitieren — „das Nötige möglich wurde".Wir haben für unsere europäische Politik vor kurzem ein neues, wie ich glaube, unendlich wertvolles Instrument geschaffen, den deutschfranzösischen Vertrag, den dieses Hohe Haus nahezu einmütig ratifiziert hat. Mir scheint, daß es die Aufgabe der Bundesregierung sein wird, sich dieses Vertrages laufend und intensiv zu bedienen, nicht nur buchstabengetreu, sondern im Geiste der Freundschaft und der unauflöslichen Gemeinsamkeit. Ich muß nicht an die Debatte erinnern, die dem Vertrag vorausging, und noch einmal betonen, daß dieser zweiseitige Vertrag sich nicht gegen irgendeinen Dritten richtet. Er ist nicht mehr und nicht weniger als das Siegel unter die deutsch-französische Aussöhnung und als das Werkzeug, dessen wir uns gerade dann bedienen sollten, wenn die deutschen und französischen Vorstellungen im Einzelfall voneinander abweichen.Es ist eine der großen Leistungen des scheidenden Bundeskanzlers gewesen, daß dieser deutschfranzösische Vertrag zustande kam. Und ich glaube, daß es inzwischen auch gelungen ist, mißverständliche Interpretationen des Vertragswerks und des Vertragszwecks auszuräumen. Was wir mit dem Vertrag bezwecken, ist noch einmal in der Präambel zusammengefaßt, die wir bei der Ratifizierung beschlossen haben.Niemand wird mir widersprechen, wenn ich auch hier wieder feststelle, daß es keine europäische Politik gegeben hätte und geben würde ohne die
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Dr. von Brentanovorausgegangene Verständigung und Aussöhnung mit dem französischen Volk.
Vor kurzem las ich in den Protokollen des Reichstags einen Bericht über die 22. Sitzung vom 10. Januar 1931. Erlauben Sie mir, daß ich zitiere, was damals der sozialdemokratische Abgeordnete Stampfer, der Chefredakteur des „Vorwärts", sagte, als von der Notwendigkeit der Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa gesprochen wurde:Man mag das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa so nah oder so fern sehen wie man will, eines steht von vornherein fest, nämlich, daß die wirkliche Arbeit für die Vereinigung der Völker Europas erst in dem Augenblick beginnt und beginnen kann, in dem die Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Volk und dem französischen Volk gesichert ist. Solange diese Grundlage nicht geschaffen ist, solange wäre es nur Heuchelei und ein bloßes Lippenbekenntnis, von den Vereinigten Staaten von Europa zu sprechen.Das war wirklich ein kluges, weises Wort. Was wäre dem deutschen Volk und der Welt erspart geblieben, wenn man damals diese Erklärungen so ernst genommen hätte, wie sie gemeint waren, und danach gehandelt hätte!
Darum, ich wiederhole es, soll auch dieser deutsch-französische Vertrag unserer Politik einen Schalthebel in die Hand geben, um die europäische Politik wieder in Bewegung zu bringen und das Ziel der europäischen Union mit aller Kraft anzusteuern.
Wir hoffen und wünschen, daß sich dann auch die anderen europäischen Staaten, die sich an der europäischen Integration oder Kooperation beteiligen wollen, anschließen können, wobei ich in erster Linie an diejenigen denke, die ihren Beitritt schon angemeldet haben, an Großbritannien, Dänemark und Norwegen.Der Rückschlag, den wir zu Beginn des Jahres erleben mußten, darf uns nicht mutlos machen, sondern er sollte uns gerade anspornen, neue Initiativen zu entfalten. Wir können uns dieser Aufgabe gar nicht entziehen; denn, meine Damen und Herren, von ihrem Erfolg hängt mehr ab als der wirtschaftliche Wohlstand. Gegenüber dieser gemeinsamen Bedrohung, in der wir leben und wohl noch geraume Zeit leben müssen, ist ein Höchstmaß von echter Solidarität einfach notwendig. Die Solidarität kann aber nicht in wohlgemeinten unverbindlichen Absprachen ihren Ausdruck finden. Je enger wir in Europa zusammenwachsen, um so stärker wird unsere gemeinsame Abwehrkraft, nicht nur die militärische, sondern mindestens ebensosehr auch die politische und moralische.Aber wir müssen diesen Weg auch gehen, wenn wir eine positive Antwort geben wollen auf den mutigen und großzügigen Vorschlag, den die Vereinigten Staaten gemacht haben und den PräsidentKennedy in seiner historischen Rede in Philadelphia am 4. Juli vergangenen Jahres angekündigt und in seiner großartigen Darstellung in der Frankfurter Paulskirche erläutert hat. Die atlantische Partnerschaft setzt ein einiges, geschlossenes und kraftvolles Europa voraus. Die erste Antwort auf diese Frage, die uns gestellt warden ist, werden wir schon im kommenden Jahr geben müssen, wenn in Ausführung der Gedanken des Trade Expansion Act die sogenannte Kennedy-Runde in Genf beginnen wird.Mit Recht verweist die Regierungserklärung hier auf die außergewöhnliche Bedeutung, die den agrarpolitischen Fragen zukommt, und ihre Behandlung gehört in diesen Zusammenhang. Die landwirtschaftlichen Fragen überschatten heute ,auch die Zukunft des Gemeinsamen Marktes. Wenn es nicht gelingt, zu einer gemeinsamen Agrarpolitik zu kommen, so könnte dies für eine weitere Integration Europas schwerwiegende Folgen haben. Diese landwirtschaftlichen Probleme überschatten gleichzeitig aber auch die Verhandlungen der Kennedy-Runde, die den ersten Abschnitt bei der Verwirklichung der atlantischen Partnerschaft darstellen soll.Wir müssen uns darüber im klaren sein, meine Damen und Herren, daß bei den Agrarprodukten die Verhältnisse nun einmal anders gelagert sind als bei den Industrieerzeugnissen. Die Entwicklung in der Industrie und die Herstellung eines dynamischen Gleichgewichts vollziehen sich im nationalen wie im internationalen Raum — von einigen Ausnahmen abgesehen — nach ,den Gesetzen des Marktes. Dagegen nehmen in den europäischen Ländern ebenso wie in den Vereinigten Staaten die Regierungen in vielfältiger Weise Einfluß auf die Entwicklung der Landwirtschaft. Das gilt sowohl für die Erzeugung wie für den internationalen Warenaustausch. Auf dem Weltmarkt if& Agrarerzeugnisse bewirken diese nach Anlage und Zielrichtung völlig verschiedenen Praktiken eine chronische Unordnung.Beim Handel mit Industrieerzeugnissen wird die Frage der Höhe der Zölle der wichtigste Verhandlungspunkt sein. Anders bei den Agrarverhandlungen. Denn in diesem Bereich gibt es eigentlich nur einen gemeinsamen Nenner und ein als gültig anerkanntes Ziel: die Erhaltung und Sicherung des bäuerlichen Familienbetriebes.
Trotz ihrer großen und von der Bundesregierung mit Recht anerkannten Bemühungen steht die Landwirtschaft vor ernsten Schwierigkeiten, die ihre Gründe haben in der finanziellen Belastung durch kostspielige Investitionen, in der Zinsbelastung und nicht zuletzt auch in der Lage auf dem Weltmarkt. Durch die Verabschiedung mehrerer Marktordnungen ist die europäische Landwirtschaft schon europäisch orientiert. Bei Milchprodukten und bei Rindfleisch soll in Kürze gleiches erreicht werden.Aber wir müssen sehen, daß ,sich die Kostenlage noch nach den nationalen Gegebenheiten bestimmt und .daß die Rentabilität der deutschen Landwirtschaft trotz der unbestreitbaren Erfolge auf dem Gebiet der Rationalisierung zurückgeht. Darum sind
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Dr. von Brentanowir der Auffassung, daß die Bundesregierung im Ministerrat der EWG keiner Vereinbarung zustimmen sollte, die eine einschneidende Einkommensminderung der deutschen Landwirtschaft zur Folge haben könnte.
So glaube ich persönlich auch, daß eine Senkung des deutschen Getreidepreises zur Zeit nicht diskutiert werden sollte.
Dagegen wird sicherlich am Ende des Anpassungsprozesses innerhalb der Partnerländer mit anderen Fragen auch diese Frage entscheidungsreif sein.Wie im Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, so werden auch bei den Verhandlungen über die Kennedy-Runde positive Ergebnisse für die industriellen Erzeugnisse rascher zu erzielen sein als für die agrarischen Erzeugnisse. Darum sollten wir in den Genfer Verhandlungen anstreben, zunächst zeitlich befristete Abmachungen zu treffen, die den Hauptanliegen der Ein- und Ausfuhrländer Rechnung tragen. Während dieses Fristlaufs können dann die Verhandlungen über Agrarerzeugnisse weitergeführt werden.Das setzt meiner Überzeugung nach voraus, daß im allgemeinen Einvernehmen sehr bald eine Gruppe unabhängiger und erfahrener Persönlichkeiten berufen wird mit dem Auftrag, einen Bericht über die Absatzlage und die Absatzaussichten, aber gleichzeitig auch über die Wettbewerbsverzerrungen zu erstellen, die ,die Folge der direkten und indirekten sehr verschiedenartigen Subventions-, Steuer- und Sozialpolitik der Länder sind.
Wir müssen uns bewußt sein, daß sowohl die Römischen Verträge wie auch die Verwirklichung der atlantischen Partnerschaft von allen Beteiligten gewisse Opfer und Konzessionen verlangen. Aber sie können und dürfen nicht zu Lasten einzelner Berufsgruppen gehen.
Ich unterstreiche die Feststellung der Regierungserklärung, daß wir eine lebensfähige Landwirtschaft erhalten müssen, die nicht in Unruhe und Unsicherheit leben darf, sondern die die Gewißheit haben muß, als gleichberechtigter Teil der deutschen Volkswirtschaft anerkannt und gesichert zu sein.
Wir müssen den Weg zur Einheit des Westens weiter gehen. Aber die Opfer, die dieser Weg von jedem der Beteiligten verlangt, müssen gleichmäßig verteilt werden. Eine in ihrem Bestand gesicherte, wirtschaftlich gesunde deutsche Landwirtschaft ist nicht minder wichtig als die Sicherheit und Entwicklungsfähigkeit eines jeden anderen Teiles der deutschen Volkswirtschaft.
Wir handeln damit, ich sagte es schon, auch imSinne der Römischen Verträge, die die Sicherungdes bäuerlichen Familienbetriebes ausdrücklich als gemeinsames Ziel der Politik ansprechen. Wir müssen unsere Partner davon überzeugen, daß wir die Erreichung dieses Zieles gefährden und in weiten Bereichen Deutschlands die Grundlagen einer gesunden und tragfähigen Landwirtschaft zerstören würden, wenn wir glaubten, durch einseitige und verfrühte Preiskorrekturen das Problem lösen zu können.Auch im innereuropäischen Raum bedarf es dieser sorgfältigen und gewissenhaften Prüfung der Ertragslage und Rentabilität unserer landwirtschaftlichen Betriebe. Wir müssen die Kostenfaktoren ermitteln und vergleichen: direkte und indirekte Steuern, Subventionen und Löhne und, wie ich vorhin schon sagte, alle die kostenbestimmenden Eingriffe des Staates im nationalen Bereich. Erst eine sorgfältige gemeinsame Analyse, eine Bestandsaufnahme aller dieser Tatbestände kann die Voraussetzungen dafür schaffen, überhaupt Vergleiche zu ziehen und dann auch vergleichbare Tatbestände gleichmäßig zu behandeln.Für den Bereich der Sozialpolitik erinnert die Regierungserklärung mit Recht daran, daß wir nach dem Zusammenbruch vor der schweren Aufgabe standen, eine neue Sozialordnung aufzubauen. Auch wenn noch Wünsche offen sind, so glaube ich, können wir doch mit großer Befriedigung feststellen, daß wir die Grundlagen für den sozialen Rechtsstaat gelegt haben.Es ging uns in diesem Bereich aber nicht anders als den zerstörten Städten, die die noch vorhandenen Fundamente zu verwerten suchten und sich den alten Straßenzügen anpassen mußten. So vollzog sich der Aufbau der Städte nicht immer in einem Guß und nicht immer nach einer großzügigen neuen Planung. Auch in der sozialen Gesetzgebung mußten wir an das anknüpfen, was noch vorhanden war. Wir mußten die bestehenden Gesetze ergänzen und verbessern. Wir mußten neue Bereiche des Sozialrechts in unsere Überlegungen einbeziehen, und wir sind noch immer mit Vorlagen beschäftigt, die Teilbereiche des sozialen Lebens neu ordnen sollen. Ich erinnere an die Vorlagen, die jetzt zur Beratung stehen und zwischen denen ein logischer, aber auch ein finanzpolitischer Zusammenhang besteht: das Kindergeldgesetz, das Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle und das Gesetz über die Krankenversicherungsreform. Meine politischen Freunde glauben, daß wir uns damit auf dem richtigen Wege befinden, insbesondere auch dort, wo wir den Versuch unternehmen, die individuelle Mitverantwortung des einzelnen anzusprechen.Überhaupt wird sich eine moderne Sozialgesetzgebung unterscheiden von dem zu seiner Zeit sicherlich vorbildlichen Gesetzgebungswerk, das der deutsche Reichstag zu Ende des letzten Jahrhunderts beschlossen hat. Damals ging es in erster Linie darum, den wirtschaftlich Schwachen vor Not zu schützen. Heute ist es unsere Aufgabe, dem arbeitenden Menschen als einem vollberechtigten Staatsbürger die existentielle Sicherheit zu vermitteln und ihn im Rahmen des Möglichen auch an der Verbesserung
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Dr. von Brentanodes Lebensstandards als Folge der Ausweitung der Produktion teilnehmen zu lassen, wenn er nicht mehr selber mitzuarbeiten in der Lage ist.Meine Freunde hoffen und wünschen, daß die von mir genannten Vorlagen, die ein wichtiger Beitrag zur gerechten Sozialordnung sein werden, ohne unnötige Verzögerung zusammen verabschiedet werden. Aber wir begrüßen es aufrichtig, daß die Bundesregierung die Durchführung einer Sozialenquete angekündigt hat. Es ist unser Wunsch, daß diese große Aufgabe unverzüglich in Angriff genommen wird mit dem Ziel, eine einheitliche Konzeption zu erarbeiten.Das wird eine große gesetzgeberische Leistung vom Parlament verlangen. Wir müssen die gesamte Sozialgesetzgebung, so wie sie heute gilt, durchleuchten und, wenn ich so sagen darf, durchforsten. Wir müssen einheitliche Grundsätze erarbeiten, denn wir begegnen heute einer unbeabsichtigten Verwirrung, die die zwangsläufige Folge einer Gesetzgebungsarbeit sein mußte, die — ich sagte es schon — auf den alten Vorstellungen und Gesetzen aufbauen mußte.Wir haben Renten, die nebeneinander ausgezahlt werden, und haben — oft gerade bei Bedürftigen — eine Anrechnungspflicht mit dem Ergebnis, daß die linke Hand nimmt, was die rechte gibt. Wir haben versicherungsrechtliche Grundsätze und Renten, die auf staatlichen Subventionen beruhen. Wir haben dynamische Renten, die sich der Produktionssteigerung automatisch anpassen, und andere, die von Fall zu Fall überprüft und verbessert werden. So beschäftigt sich der Bundestag zur Zeit mit einer Vorlage, die ich nennen möchte, nämlich mit der Novelle zum Kriegsopferversorgungsgesetz. Wir wünschen hier eine baldige Verabschiedung. Ich unterstreiche die Feststellung der Regierungserklärung, daß wir die Verpflichtung haben, die Kriegsopferversorgung angemessen und würdig zu gestalten.
Natürlich darf nicht verschwiegen werden, daß unserem Wollen Grenzen gesetzt sind. In der Regierungserklärung heißt es mit gutem Recht, daß es keine Leistungen des Staates gibt, die sich nicht auf Verzichte und Opfer der Staatsbürger gründen. Unsere oberste Aufgabe wird es sein, wenn wir den sozialen Rechtsstaat weiter verwirklichen wollen, das, über was wir verfügen können, gerecht zu verteilen. Die angekündigte Enquete wird, davon bin ich überzeugt, wertvolle Ansatzpunkte dafür bringen, und ich glaube, daß es eine historische Leistung der Bundesregierung und des Bundestages wäre, wenn wir eine neue, in sich geschlossene und aufeinander abgestimmte sozialpolitische Ordnung verwirklichen würden.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung auch von den großen Verbänden und Organisationen gesprochen und sie ermahnt, sich ihrer Mitverantwortung für das gesamte politische Geschehen jederzeit bewußt zu sein. Zusammenschlüsse dieser Art sind ohne Zweifel nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Sie sind eine Ausdrucksform unserer pluralistischen Gesellschaft. Esgibt Interessenbereiche, die in einer unleugbaren Interessenidentität großer kohärenter Gruppen im deutschen Volk zum Ausdruck kommen. Doch liegt die Gefahr nahe, daß Verbände und Organisationen dieser Art die von ihnen vertretenen summierten Einzelinteressen mit einem falsch verstandenen Gemeininteresse gleichsetzen. Bundesregierung und Parlament werden immer wieder eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit diesen Organisationen suchen müssen. Im laufenden Gespräch werden wir Anhaltspunkte für eine Rangordnung der Werte finden, die für unsere Einzelentscheidungen, aber damit auch für die Einordnung der Einzelentscheidung in die allgemeine Politik, von Bedeutung sind. Aber die Erscheinungsform des Pluralismus darf nicht zum Verbändestaat führen. Eine solche Entwicklung ginge auf Kosten des individuellen Rechtes, aber auch der individuellen Pflichten des einzelnen Staatsbürgers. Diese Rechte und diese Pflichten müssen immer und in jedem Falle den Vorrang auch vor dem Verbandsinteresse haben.In diesem Sinne hat die Regierungserklärung auch die Tarifpartner angesprochen. Mit dem Bundeskanzler und seiner Regierung bekennt sich meine Fraktion zur Tarifautonomie. Aber auch die Tarifpartner sollten sich immer der Tatsache bewußt sein, daß sie ja nicht das Staatsvolk und nicht die Volkswirtschaft repräsentieren, sondern nur Teile eines höchst-differenzierten Organisationsschemas, eines höchstempfindlichen Mechanismus. Die Auswirkungen auch von Tarifverhandlungen treffen nicht einen Wirtschaftsbereich allein. Sie berühren die Interessen des Verbrauchers und des Steuerzahlers, und sie haben bestimmenden Einfluß auf den Außenhandel und damit auf die Zahlungs- und Handelsbilanz der Bundesrepublik.In ihrem Bemühen, die Stabilität der Währung zu sichern und die Preise zu halten, werden wir die Bundesregierung nach Kräften unterstützen.
Wir sind es den Millionen von Sparern schuldig, zu verhindern, daß sie die Folgen einer schleichenden Geldentwertung tragen müssen.
Wir sind es aber auch ebenso jedem arbeitenden Menschen schuldig; denn er muß es als unredlich empfinden, wenn zwar sein Einkommen steigt, aber diese Steigerung durch ein gleichzeitiges Ansteigen der Preise eingeholt wird.
Nicht weniger gefährlich wäre eine solche Entwicklung für unseren Außenhandel. Eine fortgesetzte Bewegung der Lohn-Preis-Spirale kann dazu führen, die deutsche Ware vom Exportmarkt zu verdrängen. Wir alle wissen, wie schwer es ist, auf diesem Gebiet einen Marktanteil wiederzugewinnen, der einmal verlorengegangen ist. Darum begrüße ich .auch die Grundsätze der Haushaltspolitik, die der Herr Bundeskanzler angesprochen hat. Unsere finanzpolitische Planung im Rahmen des Haushalts müssen Wir auf längere Zeiträume erstrecken. Auf jeden Fall werden meine Freunde alles tun,
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4256 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Dr. von Brentanoum in einem ständigen vertrauensvollen Gespräch mit ,der Bundesregierung zu erreichen, daß die Bundesregierung nicht zu dem verfassungsmäßigen .Mittel des Art. 113 wird greifen müssen.Zum Schluß, meine Damen und Herren, möchte ich noch einige wenige Worte an die Opposition richten.
In Ihren ersten Kommentaren haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, festgestellt, daß die Regierungserklärung eine kritische Betrachtung der bisherigen Regierung enthalte und sich dem Regierungsprogramm annähere, das die SPD dm Jahre 1961 verkündete.
Meine Damen und Herren, sich kann mir eigentlich nicht ernsthaft denken, daß Sie von der Opposition nicht erkannt haben sollten, daß die Regierungserklärung, über die wir heute sprechen, doch eine konsequente Fortsetzung der Politik der vergangenen 14 Jahre ankündigt.
Natürlich verschieben sich im Verlaufe der Jahre die politischen Gewichte. Probleme, die vor fünf oder zehn Jahren noch vordringlich erschienen, spielen heute nicht mehr die gleiche Rolle; denn sie sind gelöst oder doch in einer Entwicklung begriffen, die ihre Lösung als selbstverständlich erscheinen läßt. Als Bundeskanzler Adenauer seine erste Regierungserklärung im Jahre 1949 abgab, lag unser Land in Trümmern, suchten die Menschen nach Arbeitsplätzen, hatten kein Dach über dem Kopf und kein Geld in der Hand. Unsere Industrie war demontiert und unsere soziale Ordnung zerstört. Wir lebten im Zustand der Abhängigkeit und der Ratlosigkeit.Alles das mußte selbstverständlich in den damaligen Regierungserklärungen und in den Handlungen der Regierung zum Ausdruck kommen. Aber 14 Jahre später können wir uns gottlob auf Grund der Erfolge, auf die wir stolz sind, mit anderen Fragen beschäftigen.
Wir haben die vordringlichen Probleme mit Erfolg gelöst. Unsere innenpolitische Ordnung ist stabilisiert, unsere Wirtschaft blüht, und die Bundesrepublik Deutschland ist ein gleichberechtigter Partner der freien Welt geworden.Wenn Sie es jetzt so darstellen wollen, meine Damen und Herren von der Opposition, als habe Bundeskanzler Erhard seine Erkenntnisse aus dem Regierungsprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands geschöpft,
dann verwechseln Sie doch in einer sonderbaren Weise Ursache und Wirkung.
— Ich rede gar nicht lange darüber. Ich gehe gleich weiter.
— Wenn Sie es gesagt hätten, wäre es gut gewesen.
Ich glaube, daß jeder politisch denkende Deutsche zwischen Original und Kopie im Bereich der politischen Kunst zu unterscheiden vermag.
Meine Damen und Herren, die Politik der europäischen Integration, die Eingliederung in die freie Welt, die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur atlantischen Gemeinschaft, die politische Solidarität mit unseren Bundesgenossen in der Verfolgung der gemeinsamen deutschen Ziele, die wirksame Verteidigung, die wir aufgebaut haben, die soziale Marktwirtschaft als Grundlage und Voraussetzung unserer wirtschaftlichen Ordnung und Gesundung, alles das haben wir in den vergangenen Jahren erreicht, meist gegen den Widerspruch der Opposition.
Darum empfinde ich es auch als sonderbar, aber manchmal doch als befriedigend, ,daß wir uns dem Liebeswerben der Opposition kaum mehr entziehen können.
Aber wenn Sie wirklich im Regierungsprogramm so weitgehende Übereinstimmung mit Ihren eigenen, wohlgemerkt: mit Ihren neuen eigenen innen- und außenpolitischen Zielen gefunden haben, dann spricht das eindeutig für den, Erfolg der Bundesregierung in den vergangenen 14 Jahren,
und ich wage dann auch, die Hoffnung zu äußern, daß wir auf Ihre redliche und überzeugte Mitarbeit bei der Verwirklichung dieser von Bundeskanzler Erhard angekündigten Politik zählen können.
Wenn Sie im Laufe der folgenden Debatte das bestätigten, dann wäre das ein verheißungsvoller Beginn für die Politik der neuen Regierung, der ich, lieber Herr Erhard, im Namen meiner politischen Freunde mein uneingeschränktes Vertrauen ausspreche und volle Unterstützung meiner Fraktion zusichere.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor der Wahl des neuen Kanzlers nahm der Vorgänger Abschied von seinem Amt. So vieles auch umstritten bleiben mag — er hat einer Ara seinen Namen aufgeprägt. In den Ehrenrunden wurde seiner Partei noch einmal vorgeführt, was sie an ihm hatte — an Werbekraft und Sorgenquell zugleich. Ein kämpfender Politiker ist kein schweigendes Denkmal. Der große Zauberer, der die Menschen bewegt, aber dessen einprägsame Bilder nicht immer voll der Wirklichkeit gleichen, hat vielen seiner Freunde noch ängstliche Stunden bereitet in der Befürchtung, welche Überraschungen mit unvorhersehbaren Folgen etwa noch produziert würden.
Herr Kollege von Brentano ließ eine Wiederholung einer Abschiedsrede und einige Manöver der Ablenkung von ernsten Fragen folgen.
Dabei hat doch der Wahlkampf noch gar nicht begonnen, meine Damen und Herren! Aber vielleicht war das nötig, um die etwas ramponierte Einigkeit in der CDU/CSU wenigstens in diesem Punkt herzustellen.
Wir haben es hier mit einem Stück gesuchter Polemik statt Aufklärung in der Sache zu tun.Um ein paar klare Bemerkungen zu machen: Ich halte es für die Pflicht eines Ausschußvorsitzenden, so viel an wirklichen Informationen wie nur möglich zusammenzutragen, damit es nicht bei Gerüchten bleibt.
— Ja, dann hätte die Regierung vorher die Aufklärrung bringen müssen.
Ich halte die Wohnung des früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Bucerius in Hamburg nicht füreine Räuberhöhle eines modernen Kriminalromans.
Meine Damen und Herren, über eines sind wir uns einig: Gerüchte sind keine Informationen. Sie müssen geprüft werden, und wer gegen diesen Grundsatz verstößt, verdient Tadel. Das gilt auch für diejenigen, die ungeprüfte Gerüchte zu Fernsehsendungen mißbrauchen. Darüber sind wir uns absolut einig.
— Nein, nein, sobald die Tatsachen feststehen.Da hier ein Wort über Herrn Barsig gesagt worden ist, möchte ich Ihnen ganz ehrlich sagen: HerrBarsig weiß, daß er keine Informationen, sondern Gerüchte weitergegeben hat. Dabei mußte auch er sich auf die Prüfungspflicht des anderen verlassen können. Denn auch Sie reden an den Tischen des Bundeshausrestaurants manches, was nicht am nächsten Morgen in der Zeitung erscheinen kann, bevor es geprüft ist.
Ich würde es begrüßen, wenn alle, die einmal einen Tadel verdient haben,
so offen vor ihre Fraktion hinträten und das eingeständen, wie es Herr Barsig getan hat. Dafür haben wir ihm unser menschliches Vertrauen ausgesprochen.
Ich halte eine solche Haltung für menschlich sympathischer als stumpfsinnige Rechthaberei.
Nun einen anderen Punkt: Immunitätsfälle. Bisher ist in keinem einzigen Falle, was tauch der Herr Präsident des Hohen Hauses dazu sagen mag, je eine Entscheidung darüber getroffen worden, ohne daß die Akten vorgelegt wurden. Warum soll von einer jahrzehntelangen Praxis ausgerechnet in diesem Falle abgewichen werden? Das versteht niemand.
Dann ein zweites: Wo bleibt eigentlich der Prozeß gegen den angeblich größten Landesverrat aller Zeiten, mit dem wir uns im vergangenen Jahr hier beschäftigt haben?
In der Hauptsache, dem Artikel Fallex 62, ist bisher mach der Mitteilung des Oberbundesanwalts noch nicht eine Anklage erhoben worden. Dann bleibt übrig, daß in diesem Hause im Vorgriff auf den Prozeß in der Hauptsache ein Racheakt aus politischen Motiven verübt werden soll
gegen Abgeordnete, von denen jeder weiß, daß sie mit diesem Artikel „Fallex 62" überhaupt nicht das Geringste zu tun haben
— einen Augenblick, ich will die Sache noch rasch zu Ende bringen —, weil es sich hier um eine Sache handelt, deren öffentliche Erörterung Sie wahrscheinlich zu scheuen haben, nämlich um die rechtswidrige Behandlung eines hohen Offiziers der Bundeswehr durch den damaligen Verteidigungsminister. Das hat überhaupt nichts mit der Sache „Fallex
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Erler62" zu tun, damit Sie es wissen, meine Damen und Herren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Abgeordneter Rasner!
Herr Abgeordneter Erler, da der Antrag an den Immunitätsausschuß vom Oberbundesanwalt gestellt worden ist: Halten Sie diesen eines politischen Racheaktes für fähig?
Den Oberbundesanwalt nicht, aber die Art und Weise, wie Sie diese Frage jetzt durchpeitschen wollen ohne Einsicht in die Akten, erkläre ich zu einem politischen Racheakt.
Herr von Brentano, Ihr Wort in allen Ehren, daß Sie, wenn aus irgendwelchen Gründen ein Vorwurf gegen Sie erhoben würde, der überhaupt Anlaß geben könnte, die Immunität aufzuheben, von sich aus vor den Ausschuß hintreten würden.
— Leider nützt das nichts, und zwar deshalb nichts, ) weil in den Richtlinien dieses Hauses für die Aufhebung der Immunität aus guten Gründen steht, daß derartige Anträge unberücksichtigt bleiben müssen. Das steht ausdrücklich darin. Und wie oft hätte dann Ihr Kollege Strauß mit derlei Anträgen vor dieses Haus hintreten müssen?
— Ich möchte jetzt diese Sache erst einmal zu Ende bringen, Herr Rasner, weil wir Wichtigeres zu tun haben, als darin herumzuwühlen.
Herr der Immunitätsangelegenheiten — um das noch zu sagen — ist das Haus und nicht der einzelne Abgeordnete. Die Immunität dient nicht seinem Schutz, sondern dem Schutz des Parlaments.
Herr Abgeordneter Majonica, ich will die geregelte Diskussion hier sicherstellen. Beschränken Sie sich also bitte in Ihren Zwischenrufen.
Fahren Sie bitte fort, Herr Abgeordneter!
Wir sollten auch solche Fälle behandeln mit dem Bemühen um sachliche Prüfung und sollten — wenn ich das zur Abrundung hier noch hinzufügen darf — sachliche Prüfung und Behandlung nicht ersetzen durch Koalitionsdruck. Die Tatsache, daß der Herr Abgeordnete Dürr aus diesem Ausschuß ausgeschieden ist oder daß Sie den Abgeordneten Dorn nicht mehr haben wollen bei der Untersuchung der Telefonaffäre — das scheint mir kein Zeichen für liberale Haltung zu sein, sondern ein Ausdruck von Koalitions- und Fraktionszwang, den wir möglichst in diesem Hause nicht einreißen lassen sollten.
Und nun zur Sache; zu diesen Feststellungen war ich nur genötigt, weil eben, wie gesagt, das wohl der einzige Punkt ist, in dem wesentliche Grundeinigkeit in diesen Reihen besteht.
Der neue Bundeskanzler wurde am Ende einer langen Auseinandersetzung gewählt. Manche Narbe auch aus dieser Auseinandersetzung ist noch nicht verheilt. Seine Regierungserklärung unterscheidet sich in vielem Positiv von den. früheren. Vor allem versucht er, eine ungeschminkte Darstellung der gegenwärtigen Lage unseres Volkes in einem zerrissenen Lande zu geben, die wir in der Regierungserklärung des Jahres 1961 nach dem schrecklichen Erlebnis der Mauer so schmerzhaft vermißten.
Nur aus dieser Sicht können wir auch den richtigen Blick für die Bedeutung, die Möglichkeiten und die Schwierigkeiten ,des europäischen Einigungswerkes gewinnen. Er zeigt weiter das Bemühen, bisher vernachlässigte Probleme aufzugreifen und die großen Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit — er nennt sie gemeinsame Aufgaben — zu umreißen. Leider fehlt bei der Darstellung des Problems noch die Ankündigung praktischer Maßnahmen. Aber es sind Maßstäbe gesetzt, an denen die Bundesregierung sich nun selbst messen lassen muß.
Ein besseres Verhältnis zwischen den staatstragenden Kräften wurde angekündigt. Damit gehört hoffentlich die böse Verketzerung 'des Andersdenkenden für immer der Vergangenheit an.
Aber auch die Politik der Mitte und des Ausgleichs, auch das Wissen darum, ,daß der Kanzler dem ganzen Volk zu dienen verpflichtet ist, nimmt ihm nicht die Stellung des politischen Führers einer Koalition und einer Partei. Partei und Koalition sind nicht identisch mit dem Staat. Der Staat sind wir alle; Parteien sind immer nur Teile. Jede moderne Partei muß sich uni einen Ausgleich verschiedener Interessen und Strömungen in sich selbst bemühen. Das gilt auch für uns. Vor allem aber muß jede Partei die Notwendigkeit anderer Teile anerkennen. Sonst hält sie sich für das Ganze und erliegt damit der Versuchung des Mißbrauchs staatlicher Macht zu Zwecken der Partei.
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ErlerIn den außenpolitischen Fragen wurden weitgehend gemeinsame Vorstellungen im Sinne der Bundestagsbeschlüsse zum Deutsch-Französischen Vertrag, die ja eine umfassende Darstellung unserer Meinung zu Papier brachten, und über das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn niedergelegt, im Sinne des Jaksch-Berichts. Der neue Bundeskanzler wird es nicht leicht haben. Dafür wird schon in den eigenen Reihen .gesorgt. Die Aufgabe meiner Freunde ist, kritische Wachsamkeit zu üben und am Wettstreit um die besseren Lösungen wirksam teilzunehmen. Wir sind nicht so ,eng, aus parteiegoistischen Gründen dem Kanzler Mißerfolg zu wünschen.
Im Interesse der Nation sollte ihm Erfolg bei der Lösung der sachlichen Probleme beschieden sein.
Das ist nicht identisch mit Erfolg in Propagandaschlachten oder bei der Bekämpfung des innerpolitisch Andersdenkenden.Leider gibt ein Blick auf die Fülle der Probleme und auf die bisherigen Leistungen der doch im großen und ganzen weitergeführten Regierung und ein Blick auf die Unterlassungen in der ersten Hälfte der Legislaturperiode berechtigten Anlaß zur Skepsis. Wir haben zwar das dritte Bundeskabinett seit der Neuwahl 1961, aber keine neue Regierung. Der neue Kanzler ist neben dem Verkehrsminister in allen Regierungen seit 1949 vertreten,
seit 1957 als Stellvertreter des Bundeskanzlers. Es handelt sich nicht um eine neue Ara, sondern um die zweite Hälfte einer Legislaturperiode.Der neue Kanzler hat doch bisher schon Verantwortung getragen.
Er nimmt sie in Anspruch für Erfolge. Dann muß er sie auch tragen für das Unterlassene.
Seine eigene Erklärung enthält eine eindrucksvolle Liste von Versäumnissen. Das von ihm beklagte Ressortdenken in Verwaltungstechnik und Verwaltungspraxis, die Unwirtschaftlichkeit der Verwaltung, die Aufsplitterung des Rechts — das alles ist doch von den bisherigen Regierungen zu vertreten.Wir haben jetzt seit 1961 die vierte Regierungserklärung gehört nach denen vom 19. November 1961, vom 9. Oktober 1962 und vom 66. Februar 1963. In fast allen wurden die Neuordnung der Finanzverfassung, die Reform der Krankenversicherung, die Berücksichtigung der steigenden Anforderungen des Straßenbaues, die Reinhaltung des Wassers und der Luft sowie die Bekämpfung des Lärms, die Verhinderung der Entstehung wirtschaftspolitisch schädlicher marktbeherrschender Unternehmen und des Mißbrauchs bereits vorhandener Macht, die Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums, die Neuordnung der Gemeindesteuern, die Schlußgesetzgebung auf allen Gebieten der Kriegsfolgen, ein Parteiengesetz und noch vieles andere ange-kündigt, ohne daß entsprechende Taten folgten. Bei den bisherigen Kabinetten seit 1961 war die Formulierungskunst größer als die Regierungskunst.
Hoffentlich bleibt das nicht so. Knapp zwei Jahre reichen nicht, um alle Blütenträume reifen zu lassen. Es hat keinen Sinn, Riesenprojekte erneut anzukündigen. Aber es ist sinnvoll, das heute Mögliche anzupacken und das morgen Erforderliche und Mögliche heute vorzubereiten. Die Politik der Regierung wird danach zu beurteilen sein, ob sie von der Rede zur Tat gelangt.
Die neuen Töne in der jetzigen Regierungserklärung zeigen, daß es in vielem eben nicht weitergehen kann wie bisher. Besser als bisher, so heißt Erhards Programm. Daß uns Sozialdemokraten vieles daran nicht unbekannt ist, verehrter Herr von Brentano, werden Sie bei einem Vergleich mit unserem Regierungsprogramm aus dem Jahre 1961 selbst erkennen können. Nachdem Sie jetzt meinen, das sei von Ihnen, versteht kein Mensch mehr, warum Sie das Regierungsprogramm der SPD damals so heftig angegriffen haben. Sie werden sich doch nicht selber bekriegt haben!
Ich erwähne ein paar Dinge: etwa von der Verantwortung des Bürgers für das Ganze über ein neues Verhältnis zu den geistigen Kräften bis hin zu den Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit, dem Kernstück des Regierungsprogramms von 1961.Unser Volk hat mit dem Wiederaufbau seines wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens eine gewaltige Gemeinschaftsleistung vollbracht. Nun müssen wir uns auf die Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft einstellen. Wir leben in einer sich immer schneller wandelnden Welt. Erschließung und Bändigung ungeahnter Energien, die Reglertechnik und die Isotopenanwendung, die Errungenschaften der Medizin und damit auch die Bevölkerungsexplosion auf dem Erdball, das Zusammenwachsen zu immer großräumigeren Wirtschaftsräumen schaffen täglich neue Tatsachen. In 30 Jahren wird der Zustand der Menschheit sich schneller wandeln als in den letzten drei Jahrhunderten. Diese Entwicklung birgt ungeheure Gefahren, aber auch große Möglichkeiten. Der Weg hängt von uns ab. Man darf sich dabei nicht treiben lassen. Wir müssen bewußt handeln. Es gilt, die von Menschen gemachte Technik zu beherrschen. Sonst verschlingt sie uns. Vorausdenken ist nötig. Im Heutigen müssen wir die Keime der Zukunft erkennen — die guten pflegen, die schädlichen beizeiten bekämpfen.Die Aufgaben unserer Zeit sind nicht zu lösen ohne engste Verbindung zur Wissenschaft. Denken, Forschen und wissenschaftliches Experiment haben die Grundlagen unserer Zivilisation verändert. „Keine Experimente" — das hätte dort nicht weitergeholfen. Energiequellen wurden erschlossen, welche die Güterfülle mehren, die Hungernden sättigen, unser aller Leben erleichtern können — aber ebenso die Mög-
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Erlerlichkeit grauenhafter Zerstörung bergen. Das Miteinanderleben von immer mehr Menschen auf kleinem Raum schafft ständig neue Probleme und bedarf der behutsam ordnenden Hand. Soll diese Hand nicht Knechtschaft bringen, müssen Staatsbürger erzogen werden, die mit Einsicht in die Probleme und mit dem Willen zur Mitverantwortung für das Ganze ausgestattet sind, dessen freiheitliche Gliederung einer handelnden und ihr Mandat einem freien Willensentscheid der Gemeinschaft verdankenden Führung bedarf.Unser Land ist eine der großen Industriewerkstätten der Welt. Wir werden unserem Volk nur dann eine gesunde Zukunft sichern, wenn die Qualität unserer Leistung dem Wettbewerb mit anderen Völkern gewachsen ist. Dabei darf keine Begabung ungenutzt verkümmern, muß aber auch unser Erziehungswesen so gestaltet sein, daß die verschiedenen Begabungsrichtungen den ihnen gemäßen Weg einschlagen können. Unsere moderne Gesellschaft braucht wertvolle Leistung an sehr verschiedenem Platz. Falsche Prestigebewertung führt oft zu falscher Ausbildungswahl und schädigt damit den Lebensweg des einzelnen und das Wohl der Gemeinschaft. Maßstab der Auslese für bestimmte Formen der Ausbildung kann nur die hierfür vorhandene Begabung, gepaart mit dem Leistungswillen, sein — sonst nichts. Sicher ist das Erziehungswesen Sache der Länder. Aber die Bundesregierung muß politische Impulse geben und im Rahmen ihrer beschränkten Zuständigkeit in Gemeinschaft mit Ländern und Gemeinden richtig handeln, z. B. bei der Förderung der Forschung, der Gestaltung der Ausbildungsbeihilfen, dem internationalen Austausch wissenschaftlicher Erfahrungen und dergleichen mehr.Es gilt auch, den reichen Schatz wissenschaftlicher Erkenntnisse für das politische Wirken zu nutzen. Das trifft nicht nur für die Anwendung der Naturwissenschaften in der Technik zu. Das weite Feld der Geisteswissenschaften und der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen ist für unser öffentliches Leben unentbehrlich. Industriebau ohne Arbeitsmedizin, Straßenbau ohne Verkehrspsychologie, Forstwirtschaft ohne moderne Raumordnung sollten hinfort genauso undenkbar sein wie etwa Verwaltung ohne Bindung an Recht und Gesetz, an parlamentarische Kontrolle und Rechnungslegung.
Deshalb brauchen wir eine bessere Durchblutung unseres Verwaltungsapparates mit den Ergebnissen und Erkenntnissen der modernen Wissenschaft, mehr Beweglichkeit im Wirken unserer Persönlichkeiten in verschiedenen Bereichen unseres öffentlichen Lebens, mehr Verbindung und Gespräch von Wissenschaft und Praxis.Allerdings ein warnendes Wort: die Wissenschaft kann nicht entscheiden. Sie kann die allemal möglichen Alternativen zur Lösung eines Problems sauber herausarbeiten und deren Vor- und Nachteile darlegen. Dann muß politisch von den Verantwortlichen entschieden werden. Politische Entscheidungen sind keine bloße Rechenaufgabe. Sonst wäre politischer Kampf geradezu unverständlich — oder sosimpel, wie er gelegentlich in Wahlkämpfen dargestellt wird, nämlich als nur ein Ringen zwischen Sachkunde und Dummheit.
Politische Entscheidungen werden zwischen denkbaren, in sich logischen Alternativen gefällt. Staatsmänner sind Gärtner. Sie konstruieren nicht — sie wählen aus.
Sie bedienen sich des besten erreichbaren Sachverstandes — aber sie orientieren sich am Gemeinwohl, am Überblick über das Ganze, an sittlichen Wertmaßstäben und daraus hergeleiteten Ordnungsbildern.
Bei solchen Entscheidungen müssen wir uns frei halten von lästiger Enge, die überkommener Gewohnheit, gedankenlosem Vorurteil oder unbewußter Interessenbindung entspringen mag. Unsere politische Führung muß den großen Wurf wagen, sich dem Denken unserer Zeit in vollem Umfange zu stellen und es für die Gestaltung unserer Gemeinschaft zu nutzen. Auf diese Notwendigkeit stoßen wir immer wieder, wenn wir uns den unmittelbar praktisch vor uns liegenden Aufgaben zuwenden.Die Regierungserklärung hat den guten Satz des uns allen bekannten Prälaten Kunst aufgegriffen, wonach die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert. Das ist richtig, und deshalb habe ich mit diesem Kapitel begonnen. Dabei drängt .sich der Gedanke auf, ob die Regierenden von heute sich der neuen Frage auch so nähern wollen wie die Regierenden des 19. Jahrhunderts der sozialen Frage.
Die damals gewählte Kombination von Mildtätigkeit, Sozialistengesetz und den Anfängen der sozialen Gesetzgebung, um der aufkommenden Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen, reichte nicht aus und erwies sich nicht als ein Erschütterungen vermeidendes zukunftsträchtiges Rezept.
Derartige Fragen können nicht gelöst werden mit dem Versuch, einen großen bewegenden Faktor der Innenpolitik von entscheidendem Einfluß in Staat und Gesellschaft fernzuhalten.Wie ernst die Sachverhalte und wie groß die Aufgaben sind, ergibt sich auf einem Teilgebiet aus der Bedarfsfeststellung der Kultusminister, zu der Georg Picht im September-Heft der „lutherischen monatshefte" Beachtliches geschrieben hat. Bis 1970 ist ein Zuwachs von rund 300 000 Lehrern erforderlich. Wir müssen bei den Klassenfrequenzen und beim Anteil der Abiturienten an den entsprechenden Altersjahrgängen endlich das Niveau eines modernen Industriestaates erreichen. Frankreich wird Jahre hin-
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Erlerdurch fast dreimal so viele Abiturienten ausbilden wie wir.
Der gewaltige Bedarf an gebildeten und qualifiziert ausgebildeten Kräften in allen Bereichen unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens, von der Wirtschaft bis hin zur Bundeswehr, ist nur durch große Anstrengungen beim Ausbau des höheren Schulwesens und unserer Hochschulen zu meistern. Schulpolitik ist auch Sozialpolitik. Der soziale Status und damit die Verteilung der Einkommen hängen immer mehr von den erworbenen Bildungsqualifikationen ab. Wir haben in unserem Land keine Chancengleichheit. Die Verteilung der Bildungschancen hängt in erster Linie vom Ausbau des Schulwesens ab. Hier gibt es große Unterschiede von Land zu Land und vor allem im Stande des ländlichen Bildungswesens. Der lebenswichtige Investitionsbedarf auf diesem Gebiet übersteigt die Finanzkraft der Länder. Überlegen wir uns einmal richtig und unvoreingenommen die Größenordnungen! Wir brauchen eine neue Prioritätenliste für alle öffentlichen Aufgaben.Vom Stande unseres Bildungswesens hängen die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum unserer Wirtschaft ab. Kulturpolitik, recht verstanden, darf keine Nebensparte unseres politischen Wirkens bleiben, sondern muß ein entscheidender Bestandteil unserer Gesamtkonzeption vom Bild unseres Volkskörpers von morgen werden.
Das geht nicht, Herr Bundeskanzler, ohne langfristige Überlegungen, weil Entscheidungen und Investitionen im Bildungswesen erst in Jahrzehnten Frucht tragen, die Unterlassungen der letzten Jahrzehnte aber uns bald mit voller Wucht treffen werden.Der Entwurf des Haushaltsplanes für 1964 wird Aufschluß geben über die Ernsthaftigkeit der Regierungserklärung. Für 1963 wurden die Ansätze leider trotz früherer Erklärungen gekürzt. Wir hoffen, daß die Bundesregierung die im Wissenschaftsrat gemeinsam erarbeiteten Pläne zum Ausbau der bestehenden und neuen Hochschulen nunmehr bewußt fördert und nicht mehr dem Rechenstift zum Opfer fallen läßt.
Wir erwarten, daß die Verabschiedung des Forschungsförderungsgesetzes die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der Wissenschaftspolitik auf eine klare Rechtsgrundlage stellt. Der Wissenschaftsminister sollte alle Bundeszuständigkeiten auf diesem Gebiet in seiner Hand haben. Dazu gehören z. B. die Maßnahmen zur Förderung der Studenten, das hoffentlich bald verabschiedete allgemeine Ausbildungsförderungsgesetz, die Koordinierung der Wissenschaftspolitik mit den Ländern und — lassen Sie uns auch das einmal überlegen — die Einrichtung einer Abteilung für Bildungsplanung, die einwandfreie Unterlagen für langfristige Prognosen und Perspektiven für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik entwickeln könnte.
Einen unfruchtbaren Prinzipienstreit über den Föderalismus in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sollten wir uns nicht länger gestatten.
Wir müssen die Kräfte von Bund und Ländern zusammenfassen, wenn wir im Wettbewerb der Nationen bestehen wollen.
Entgegen der Behauptung, unser Berufsausbildungssystem sei mustergültig, darf auf die Entschließung der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge vom 27. September verwiesen werden, in der es heißt, daß die Berufsbildung in der Bundesrepublik den Erfordernissen der modernen Industriegesellschaft nicht genügt und auch hinter internationalen Maßstäben zurückbleibt. Es werden dort ein Berufsausbildungsgesetz und ein einheitliches Ausbildungsbeihilfegesetz gefordert. Meine Freunde haben außerdem seit langem die steuerliche Berücksichtigung der Ausbildungskosten verlangt, was für Mittelschichten und freie Berufe ein besonders wichtiger Punkt ist.Eine ähnliche Bedeutung wie der Kulturpolitik kommt der modernen Gesundheitspolitik zu. Unsere Arbeitskraft muß gesund erhalten und die ungewöhnlich hohe Frühinvalidität bekämpft werden, und zu diesem Zweck muß mit Vorrang vorbeugend gehandelt werden.
Die Regierungserklärung ist zur Gesundheits- und Sozialpolitik sehr vage.
Selbst die „Welt" schreibt hierzu:
Weder haben die Familien erfahren, wann das höhere Kindergeld kommt, noch wissen die Kriegsopfer jetzt, wie und zu welchem Termin ihre Renten aufgebessert werden, noch ist den Arbeitern deutlich geworden, ob sie den Lohn bei Krankheit in Zukunft vom Arbeitgeber oder von der Krankenkasse erhalten sollen. Die Besorgnis, daß die Versicherungspflicht der Lohnempfänger eingeschränkt und großen Gruppen dadurch der Arbeitgeberbeitrag entzogen werde, ist sowenig behoben wie die Furcht der Versicherten vor einer zusätzlichen Kostenbeteiligung. Erhard ließ alles offen.Soweit die „Welt". Sie hält das für ein taktisches Meisterstück. Ich meine, als taktisches Meisterstück kann man das nur für die koalitionsinternen Beratungen bezeichnen.
Dem Anspruch auf Klarheit über die Ziele der Regierung und die nächsten von ihr beabsichtigten Schritte entspricht dieses Kapitel nicht.
Natürlich bejaht die Sozialdemokratie eine Sozialenquete. Aber dann müssen entgegen der im
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ErlerSeptember 1955 fertiggestellten auch Schlüsse daraus gezogen werden. Noch heute rächt es sich, daß vor über zehn Jahren der SPD-Antrag auf Einsetzung der Sozialen Studienkommission abgelehnt worden ist,
der die Voraussetzungen für eine Sozialgesetzgebung aus einem Guß schaffen sollte. Von Sozialreform, ja auch nur vom Sozialpaket ist in der Regierungserklärung nicht mehr die Rede. Wenn die Regierung in Bestätigung unserer Auffassung den Familienlastenausgleich als vordringlich bezeichnet, sollte das im Ausschuß fertiggestellte Bundeskindergeldgesetz unverzüglich verabschiedet werden.
Die Neugestaltung der Krankenversicherung ist das schwierigste Kapitel. Wir empfehlen, zur Überwindung der Schwierigkeiten eine Sachverständigenkommission zur Erstattung eines Gutachtens über die Grundsätze einer Krankenversicherungsreform zu bestellen, die den Erfordernissen unserer Zeit entspricht.
Damit könnten die Debatten entschärft, entideologisiert und auf einwandfreier Grundlage sachliche Lösungen erarbeitet werden. Noch heute legen wir dem Hohen Hause den Antrag mit der genauen Abgrenzung der zu untersuchenden Fragen vor.
Uns berührt es seltsam, daß 'die Regierungserklärung beim Mißbrauch des Wohlstandes durch Begüterte an die Entwicklung des Standesbewußtseins appelliert, daß aber in großen Teilen der Koalition wenig Verständnis dafür vorhanden ist, wenn unsere Arbeiter in berechtigtem Bewußtsein ihrer Leistung und ihres Eigenwertes, also aus Selbstachtung, eine weitere Behandlung minderen Rechts im Arbeits- und Sozialrecht nicht mehr ertragen.
Zur .Gesundheitsvorsorge gehören Vorkehrungen gegen die Verschmutzung von Wasser und Luft und zur Bekämpfung des Lärms. Auch das sind Gebiete, bei denen der einzelne sich nicht selbst helfen kann; er kann allenfalls dazu beitragen. Hier muß die Gemeinschaft eingreifen und die Ursachen des Übels anpacken.Beim Sport hingegen geht es darum, dem einzelnen zu eigenem Tun Chancen zu bieten. Leider hat der Bund nur ein Drittel seines Anteils am Goldenen Plan aufgebracht, während die Länder den ihren zu über 90% erfüllt haben. Die versprochene Förderung wurde im Gegensatz zu den Regierungserklärungen nicht eingehalten.
Der Zukunft 'zuwenden müssen wir uns 'auch bei den zusammenhängenden Problemen des Verkehrs, der Raumordnung und des Städtebaus. Hier geht es um mehr als um Technik. Das ist ein Stück Strukturpolitik für die Gestaltung unserer künftigen sozialen Ordnung und die Sicherung eines gleichmäßigenWirtschaftswachstums. Gewerbliche und Wohnbautätigkeit entscheiden über .das Angebot an Arbeitsplätzen und Arbeitskräften. Erholungsflächen, kulturelles Leben und Ausbildungschancen bestimmen die Anziehungskraft eines Gebietes weiterhin. Hier liegen Möglichkeiten für 'bisher vernachlässigte Regionen.Leider hat entgegen ihren Ankündigungen die Bundesregierung die zweckgebundenen Straßenbaumittel 1962 um 180 Millionen und 1963 um 380 Millionen gekürzt. Die Umstellung der Minenalölabgabe bringt einen weiteren Ausfall, so daß für den zweiten Vierjahresplan zwei Milliarden Mark fehlen werden.
Der Straßenbau ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die nur 'in Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden gemeistert werden kann. Ohne kräftige Mitwirkung des Bundes, die leider zu wünschen übrig läßt, werden wir der Verkehrskatastrophe nicht Herr. 14 000 Verkehrstote jährlich sollten eine eindringliche Mahnung sein, auch wenn wir wissen, daß viele andere Ursachen mit zu dieser schrecklichen Zahl beitragen.
Zum Städtebau gehört die Wohnungswirtschaft. Noch immer fehlen für Hunderttausende menschenwürdige Wohnungen. Die Entwicklung der Baukosten und die Baulandspekulation belasten den Wohnungsbau und erschweren die Schaffung von Eigenheimen. Nur eine verstärkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus, der den sozial schwachen Schichten, den jungen Ehepaaren und den Kinderreichen Wohnungen zu erträglichen Mieten verschafft, kann zu dauerhafter Entlastung des Wohnungsmarktes führen.
Die überstürzten Maßnahmen der Mietfreigabe haben berechtigte Unruhe hervorgerufen Fund tragen zum weiteren Preisauftrieb in bedauerlicher Weise bei. Für das erste Jahr ist mit 'Erhöhungen von 1,5 bis 1,8 Milliarden DM zu rechnen. Nach einem Jahr fallen die Begrenzungen. Angesichts des unterversorgten Marktes dürften weitere Milliarden den Mietern aufgebürdet werden.
Die Selbsthilfeorganisationen der Genossenschaften haben beim Neubau unserer Städte und zur Wohnungsversorgung gerade auch der Minderbemittelten große Leistungen vollbracht. Wenn der Bundeskanzler wirkungsvolle Maßnahmen zur Privatisierung des öffentlich geförderten Wohnungsbaues vorschlagen will, muß er klären, ob damit ein sonst von ihm abgelehnter Eingriff in Eigentumsrechte beabsichtigt ist.
In Zukunft bedürfen 'wir der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft mehr denn je, um angebotsteigernd und preisregulierend zu wirken. Wer sonst könnte Fertigbau im notwendigen großen Stile betreiben?!
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4263
ErlerVor allem kinderreiche Familien werden jetzt benachteiligt. Das steht im Gegensatz zu den erklärten Zielen der Bundesregierung. Was nützt eine Verbesserung des Kindergeldes, wenn sie durch eine noch so einwandfrei begründete Mietsteigerung abgeschöpft wird? Übrigens ist auch die in der Regierungsvorlage vorgesehene Form der Krankenversicherungsneuordnung mit erheblichen Nachteilen für die kinderreichen Familien belastet.
Familienpolitik darf kein Propagandaschlagwort bleiben: sie muß sich in konkreten Maßnahmen des Familienlastenausgleichs niederschlagen, vom Kindergeld über Maßnahmen für die jungen Familien bis hin zum Mutterschutz.
Hunderttausende unserer alten Mitbürger haben durch die mühsam erreichte und immer wieder gegen Angriffe zu verteidigende dynamische Rentenreform mehr an materieller Sicherheit für ihren Lebensabend erlangt. Viele Härten sind geblieben. Das Alter aber stellt uns heute vor mehr als ein rein materielles Problem. Unter uns leben viele, viele Menschen, die nach Arbeit und Mühe der Einsamkeit preisgegeben sind. Hier kann kein Gesetz helfen. Eine große gemeinsame Anstrengung aller lebendigen Kräfte unseres Volkes von den privaten Vereinigungen und den Parteien bis hin zu den Gebietskörperschaften aller Art muß durch einen politischen Impuls unserer Führungskräfte ausgelöstwerden. Wir schulden dem Herrn Bundespräsidenten Dank für seinen warmherzigen Aufruf an unser Volk in dieser Sache.
Die Alten haben es nicht verdient, unbeachtet am Rande unserer Gesellschaft zu leben. Viele von ihnen haben unserer Gemeinschaft noch einiges zu sagen. Sie übermitteln einen großen Erfahrungsschatz in jüngere Hände. Dazu bedarf es des Gesprächs, der Zeit, deren Mangel der Bundeskanzler so beklagt. Dazu bedarf es allerdings auch der Förderung von Altenwohnungen, die nicht in die Absonderung führen.
Dieses Problem der Einsamkeit wird auch immer sichtbarer bei jenen Kriegsopfern, denen der Mann genommen wurde und deren Kinder herangewachsen sind. Neben ihnen leben Millionen Frauen, denen der Krieg die Möglichkeit der Familiengründung zerstört hat. Auch all diesen Gliedern unserer Gemeinschaft gegenüber gilt es, etwas mehr Solidarität zu bekunden als bisher.
Um so bedauerlicher ist es, daß der Herr Bundeskanzler den Art. 113 des Grundgesetzes ausgerechnet unmittelbar im Anschluß an seine Bemerkungen über die Versorgung der Opfer des Krieges und der Vertreibung erwähnte.
Der Regierungsentwurf zur Kriegsopferversorgung ist nach der Überzeugung der Mehrheit dieses Hauses, Ihre Freunde eingeschlossen, unzulänglich.
Bei einer Rangordnung der öffentlichen Ausgaben können die Kriegsopfer und die Heimkehrer nicht an das Ende gesetzt werden.
Es ist auch bedauerlich, daß die Regierungserklärung außer der Anerkennung der großen Leistungen der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge zur Überwindung der noch bestehenden Notstände und Ungerechtigkeiten nichts Konkretes aussagt.
Vordringlich sind:
Beseitigung der ungerechten Degressionen bzw. gerechte Anhebung der Entschädigungssätze im Lastenausgleich,Umbau und Anpassung der Unterhaltshilfe an das bestehende soziale Niveau,durchgreifende Regelung der Altersversorgung der ehemals Selbständigen undVerabschiedung eines weiteren Fünfjahresplanes für die Eingliederung des vertriebenen und verdrängten Landvolks mit entsprechender finanzieller Sicherung für die Dauer des Planes.
Unaufschiebbar ist auch die vollständige Gleichstellung der Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone mit den Heimatvertriebenen.
Wir haben mit dem Entwurf eines Flüchtlingsgesetzes den Weg für die Lösung gewiesen.Die Regierungserklärung appelliert an die Selbstverantwortung des Bürgers. Ihr müßte dann wohl auch am Arbeitsplatz in geeigneter Weise eine bessere Ausdrucksmöglichkeit geschaffen werden. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sind Verantwortung der Gemeinschaft und Selbstverantwortung des einzelnen keine Gegensätze. Beide sind nötig. Wir brauchen die individuellen Leistungen u n d die Anstrengungen der Gemeinschaft. Ein Dogmenstreit hierüber ist überflüssig. Die Regierungserklärung sagt selbst am Schluß: „Wir sind zu bewußter Solidarität aufgerufen." Das muß doch wohl auch für den sozialen Bereich gelten. Die gesellschaftliche Verflechtung des Individuums ist nicht auflösbar. Es liegt im einzelnen, jene Chancen zu nützen, welche die Gemeinschaft ihm bietet. Niemand kann seine eigene Schule kaufen, sein eigenes Krankenhaus errichten, seine eigenen Straßen bauen. Wie auch immer wir diese Gemeinschaftseinrichtungen gestalten, sie sind unentbehrlich für die Entfaltung des einzelnen, für seine Lebenshaltung und für seine Familie.
Solidarität ist daher nicht überholt. Im 19. Jahrhundert diente sie der Abwehr und Überwindung
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4264 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Erlervon Not, Armut und Unterdrückung. Heute muß sie den Wohlstand gesund und gerecht gestalten. Moderne Sozialpolitik ist keine Notstands-, sondern Wohlstandspolitik.
Sie ist keine Feuerwehr gegen soziale Notstände, sondern entscheidendes Instrument zur Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates.
Sie hat jedem Bürger die Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Fähigkeiten und zur Sicherung seiner Leistungsfähigkeit zu gewährleisten.
— Natürlich, gemeinsam, weil der einzelne allein es nicht zu schaffen vermag in dieser ineinander verflochtenen Welt.
Sie muß den Bürger vor den Gefahren der industriellen Zivilisation zu bewahren suchen. Sie packt die Gemeinschaftsaufgaben an, deren Vernachlässigung den einzelnen wichtiger Möglichkeiten der Lebensgestaltung und Lebenserfüllung zu berauben droht. Von der Sozial-. und Gesundheitspolitik hängt es daher nicht zuletzt ab, ob der Güterreichtum ach zu einer Bereicherung des Menschen führen wird.Deshalb gibt es bei der Sozialpolitik keinen endgültigen Abschluß und kein Stehenbleiben.
Sie muß mit der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt halten. Die soziale Sicherung ist ein Teil des Wohlstandes breiter Schichten,
ganz abgesehen von der Bedeutung der Kapitalsammelstellen für die Finanzierung notwendiger Investitionen.Unser öffentlicher Dienst erfüllt eine wichtige produktive Aufgabe. Regierungserklärungen mit Worten hoher Anerkennung nützen wenig, wenn die rechtlichen und materiellen Bedingungen dieses Dienstes den Erfordernissen der Gegenwart nicht entsprechen.
Gewiß, es hat Verbesserungen gegeben. Sie sind aber nicht ausreichend, um die Personallage zu entspannen und genug qualifizierten Nachwuchs anzuziehen.Der Schlüssel für die großen Gemeinschaftsaufgaben und einige andere hier dargelegte Probleme liegt in der Neuordnung der finanziellen Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.
Sie müssen einander entsprechend ihren Aufgaben vernünftig zugeordnet werden. Die Bundesregierung hat wiederholt die Lösung dieser Aufgabe angekündigt, aber bisher nicht einmal die von uns schon 1961 geforderte Sachverständigenkommission eingesetzt. Die Neuordnung ist gewiß nicht in zwei Jahren zu schaffen. Aber das Grundlagenmaterial muß endlich bereitgestellt werden.Mein Freund Alex Möller hat zur Finanzverfassungsreform am 15. Mai 1963 in diesem Haus auf folgende sieben Punkte hingewiesen:1. Das Wichtigste für das Verhältnis von Bund und Ländern ist die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit; ohne gegenseitige Glaubwürdigkeit keine vernünftige Verhandlungsbasis.2. Bevor Steuererhöhungen erwogen werden, um einen Haushaltsausgleich herbeizuführen, ist zu prüfen, ob nicht ein Teil notwendiger vermögenswirksamer Ausgaben durch Kapitalmarktmittel gedeckt werden kann.3. Der Verteidigungshaushalt darf nicht wie bisher tabu sein.4. Es, muß einwandfrei ermittelt werden, ob das Gesamtsteueraufkommen zur Bedienung der öffentlichen Haushalte ausreicht.5. Nur eine Rangfolge in der Dringlichkeit der Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden, bei der die verschiedenen Nützlichkeitsgrade aufzuzeigen sind, ist der objektive Ausgangspunkt für eine Neuordnung.6. Mehr Steuergerechtigkeit bedeutet nicht Steuererhöhung. Die Besteuerung hat einer gleichmäßigen, einer sozialeren Verteilung des Volkseinkommens und einer Verstetigung des Wirtschaftsgeschehens zu dienen.
7. Sofortige Inangriffnahme des großen Reformwerks zum Umbau unseres Steuersystems überhaupt.Wir müssen alle Zimmer unseres Gemeinwesens gleichmäßig in den Stand setzen, ihren Aufgaben zu genügen. Die Neuordnung der Finanzverfassung ist ein Stück der Neuordnung unseres gesellschaftlichen Lebens überhaupt. Finanzverfassung und Steuerpolitik hängen eng miteinander zusammen. Unser Steuersystem ist schwerfällig, unübersichtlich und an vielen Stellen ungerecht. Wir Sozialdemokraten werden daher unverzüglich dem Hohen Hause präzise Vorschläge auf steuerpolitischem Gebiet machen, um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen und dennoch die öffentlichen Aufgaben nicht zu gefährden.
— Genau das! Warten Sie ab! Sie werden es nachher — heute noch! — noch hören.
Ein angemessenes Steueraufkommen kann nur von einer blühenden Wirtschaft erarbeitet werden. Entscheidende Faktoren unseres Wirtschaftslebens sind unsere Arbeitskräfte, ihr Können und Wissen, der Wagemut — —
— Deswegen ist es immer noch gut, gelegentlichauch einmal daran zu erinnern, daß man in dieser
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4265
ErlerDebatte nicht nur polemisch aufeinander loszugehen braucht, sondern vielleicht auch einmal unserem Volk sagen kann, wie die Lage sich darstellt.
Ich wiederhole, nach diesem besonders intelligenten Zwischenruf:
Entscheidende Faktoren unseres Wirtschaftslebens sind unsere Arbeitskräfte, ihr Können und Wissen, der Wagemut der im Wirtschaftsleben handelnden Persönlichkeiten und ihr Weitblick. Diesen Weit-. blick braucht auch die öffentliche Hand.
Sie muß eine Vorausschau wagen, was für ihre Politik möglich und notwendig ist. Stabilität und Aufstieg gebieten eine Politik des Wirtschaftswachstums, die, ohne dem einzelnen Betrieb Befehle zu erteilen, sich des Instrumentariums der modernen Globalplanung bedient, die sich des großen Einflusses der öffentlichen Hand in Gesetzgebung, Finanz- und Haushaltspolitik auf den gesamten Wirtschaftskörper bewußt ist und die zum Ausgleich sonst auftretender Spannungen die Wohlfahrt des Ganzen und den Schutz der Benachteiligten zum Ziele setzt.Die Erhaltung der Arbeitsplätze und die Sicherung der Kaufkraft unseres Geldes sind Leitlinien aktiver Wirtschaftspolitik. Unsere Wirtschaft ist am Markt, also an der kaufkräftigen Nachfrage orientiert. Das ist nicht der objektive Bedarf schlechthin. Die Wirtschaftspolitik hat Einfluß auf Verteilung und Gestaltung dieser kaufkräftigen Nachfrage. Ohne diesen Ausgleich wäre die Marktwirtschaft nicht sozial. In der Vergangenheit ist auf einer Reihe von Gebieten dieser Ausgleich, der die Marktwirtschaft erst zur sozialen Marktwirtschaft macht, nicht erreicht worden.
Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung zu einem Wandel in der Konjunkturpolitik gelangt ist. Endlich soll der vom Parlament am 26. Juni beschlossene Sachverständigenbeirat benannt werden. In den vergangenen Jahren wurde die von der sozialdemokratischen Fraktion geforderte Fortentwicklung eines konjunkturpolitischen Instrumentariums zurückgewiesen. Dieses Instrumentarium ist um so notwendiger, als die alarmierenden Preissteigerungen der letzten Zeit die Wirkungslosigkeit allgemeiner Beschwörungen beweisen. Wer die Kaufkraft im Sinne der Regierungserklärung stabil erhalten will, muß mehr tun.Die Lebenshaltungskosten sind immer schneller gestiegen: 1959 um 1,1%, 1960 um 1,9%, 1961 um 2,7% und 1962 um 3,0 %.
Angesichts der bisherigen Entwicklung der Lebenshaltungskosten und angesichts der in den letzten Wochen schon eingetretenen und für den Rest des Jahres noch zu erwartenden Preiserhöhungen für Milch, Butter, Kohle, Fleisch und Heizöl muß für 1963 mit mehr als 3% gerechnet werden. Von September 1962 bis September 1963 sind die Mieten um 6,4%, die Preise für Verkehrsmittel um 6,5 % gegestiegen. Der Trinkmilchpreis wurde über das im Bundestag beschlossene Maß hinaus erhöht.
— Über das im Bundestag beschlossene Maß hinaus! Das geht nicht zu Lasten der SPD. Zu gleicher Zeit zogen die Preise für Milchprodukte an. Der Butterpreis stieg um 20 bis 60 Pf je Kilo. Diese ungerechtfertigten Preissteigerungen haben mit Recht den Zorn der Verbraucher hervorgerufen. Für den Hausbrand gelten ab 1. Oktober um 2 bis 33/4% höhere Preise, obwohl der Bergbau in hohem Maße subventioniert wird. Das leichte Heizöl ist um 3,7 bis 3,9 % teurer geworden. Diese Erhöhungen können nicht in direkten Zusammenhang mit Lohnerhöhungen gebracht werden. Sie sind aber geeignet, neue Lohnerhöhungen zu rechtfertigen. Dies gilt vor allem auch für die bereits dargelegte Bewegung der Mieten.Mit besonderer Sorge beobachten wir, daß ein großer Teil der Preiserhöhungen für Lebensmittel, die den Verbraucher belasten, dem Bauern gar nicht oder nur sehr unzulänglich zugute kommen.
Angesichts dieser Entwicklung verlangt die SPD eine Durchleuchtung der Preis- und Marktverhältnisse auf den Lebensmittelmärkten vom Erzeuger bis zum Endverbraucher.
Verarbeitungs- und Handelsspannen müssen nicht schneller steigen als Erzeugerpreise. Regionale Marktabreden wirken sich zuungunsten von Erzeugern und Verbrauchern gleichermaßen aus. Die Bundesregierung sollte Maßnahmen zur Stärkung der Marktstellung der landwirtschaftlichen Erzeuger durch eine wirksame Förderung ihrer Selbsthilfeorganisationen treffen.Zu dem konjunkturpolitischen Instrumentarium gehört der Jahreswirtschaftsbericht. Ihn brachte die Regierung, obwohl der jetzige Kanzler früher meinte, daß man ihm mit solchen Scherzen nicht kommen könne.
Dieser Bericht ist nur ein Anfang. Aus ihm müssen Konsequenzen für eine positive Wettbewerbspolitik, für die Eindämmung wirtschaftlicher Macht und für eine moderne Eigentumspolitik gezogen werden. Die letztere ist untrennbar mit einer entsprechenden Einkommenspolitik verknüpft.
Die von der Bundesregierung erstrebte Verbesserung der Sparförderung ist von der sozialdemokratischen Fraktion mit ihrem leider von der Mehrheit verschleppten Gesetzentwurf vom 20. März 1962 mit der Begünstigung kleiner Einkommen seit langem konkretisiert worden. Die Bundesregierung hat leider weitere Maßnahmen auf diesem Gebiet bisher nicht getroffen.Der Bundeskanzler hat vor einer materiell bestimmten Grundhaltung und dem falschen Weg des
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4266 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
ErlerNur-Geld-verdienen-Wollens gewarnt. Wir unterschreiben diese Warnung, haben wir doch seit jeher ,die solidarische Einordnung des einzelnen in die Gemeinschaft und das rechte Verhältnis von Freiheit und Bindung verfochten.
Es war doch gerade die bisherige Regierungspolitik, die zu dieser materiellen Grundhaltung beigetragen und das Geldverdienen als wesentlichstes Zeichen des Wohlstandes ideologisch aufgewertet hat.
Natürlich ist das Geldverdienen auch keine Schande; in einer Marktwirtschaft ist es ein nicht zu unterschätzender Antriebsfaktor. Es kommt aber darauf an, wie Geld erworben wird und was damit geschieht.
Vor allem reagieren jene auf derartige Mahnungen sehr empfindlich, deren Chancen bisher im Vergleich zu anderen sehr gering entwickelt waren.
Damit sind wir mitten in dem Problem der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Wer den Leistungswettbewerb bejaht, muß unser Kartell- und Gesellschaftsrecht zu wirksamen Instrumenten zur Verhinderung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht entwickeln. Er muß auch gegenüber den Selbständigen, insbesondere den mittleren und kleinen Unternehmen, eine Politik betreiben, die die Leistungsfähigkeit dieser wichtigen Schicht einer freiheitlichen Gesellschaft systematisch stärkt, so daß 'sie im Wettbewerb bestehen kann. Wer ,die Selbstverantwortung des Bürgers hervorhebt, bekennt sich mit uns allen zur vollen Tarifautonomie der Gewerkschaften und ihrer Vertragspartner.
Der Staat kann durch die Bereitstellung objektiver Zahlen dafür sorgen, daß von dieser Autonomie im Interesse des Gemeinwohls der richtige Gebrauch gemacht wird. Objektives Zahlenmaterial ermöglicht eine Wertung durch die öffentliche Meinung, die sich nur 'dann 'ein unabhängiges Urteil zu bilden vermag.Auch 'hier möchte ich wieder die „Welt" zitieren. Auch zur Wirtschaftspolitik stellt sie, wie sie meint, mit dem schuldigen Respekt fest, es sei genug geredet worden. Die Regierung möge ans Werk gehen. Von einer zielbewußten, aufeinander abgestimmten Politik seien wir noch weit entfernt. Die Ressorts hätten nach Kräften gesündigt, während man gleichzeitig mit dem Finger auf die Länder und Gemeinden gezeigt habe. Die Unterlassungssünden der alten Bundesregierung zeigten sich am Baumarkt. Die Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik lasse auf sich warten. Endlich könne die seit Jahren diskutierte Fortentwicklung des konjunkturpolitischen Instrumentariums mehr in den Vordergrund der Regierungsarbeit rücken. — Soweit die „Welt". Auch hier sehen wir, daß politisches Handeln not tut, aber Vorausdenken einschließen muß. Wir handeln doch in die Zukunft hinein und können das nur richtig tun, wenn wir die 'wirkenden Tendenzen rechtzeitig erkennen und sie nach unseren Zielvorstellungen zu beeinflussen suchen.Dies gilt auch für das schwierige Gebiet der Landwirtschaft. Auch hier enthält die Regierungserklärung einige neue Töne. Aber es fehlt an jeder Andeutung einer Zielsetzung unserer Agrarpolitik; konkrete Vorstellungen über die Lösung agrarpolitischer Probleme, die in den nächsten zwei Jahren auf uns zukommen, werden nicht entwickelt. Es fehlt auch jede Stellungnahme zu den Problemen, die durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgeworfen werden. An die EWG haben wir bereits einen Teil unserer agrarpolitischen Zuständigkeiten abgegeben; andere werden folgen. Es fehlt auch eine Stellungnahme zu der bedenklichen Entwicklung unserer Wirtschaftsbeziehungen zu dritten Ländern, also vor allem zu Skandinavien, zu Großbritannien und zu den USA. Welche Entscheidungen gedenkt die Bundesregierung zu treffen? Wie soll eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft aussehen? Die Strukturveränderung kann man nicht sich selbst überlassen oder gar zu spät damit anfangen. Später gibt es Mehrheitsbeschlüsse, notfalls auch gegen uns. Die Strukturveränderung muß man als Teil eines größeren Wirtschafts- und politischen Zusammenhangs sehen. Die Gesundung unserer Dörfer ist kein reines Landwirtschaftsproblem, sondern eine Frage der Regionalpolitik, unter Berücksichtigung aller Lebensbereiche. Die Länder Hessen und Niedersachsen haben im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Beispielhaftes getan. Schleswig-Holstein hat ein eigenes Strukturprogramm vorgelegt. Wir brauchen aber Vorstellungen, wie der gesamte deutsche Wirtschaftskörper mit diesem Problem der Landwirtschaft im Bereich der größeren europäischen Gemeinschaft fertig werden soll. Familienminister Heck hat recht, wenn er meint, daß die Dörfer nicht zum Armenhaus der Bundesrepblik werden dürften.
Andere europäische Regierungen haben offenkundig zur Vorbereitung ihrer Landwirtschaft für den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt bereits mehr getan und damit auch für ihre auf dem Lande arbeitende Bevölkerung einen wertvollen Vorsprung errungen. Wir dürfen nicht weiter in Verzug geraten.
Wir sind uns darüber einig, daß harte Arbeit ein angemessenes Einkommen verdient. Die wirkliche Frage ist, wie die Struktur unserer Landwirtschaft so gestaltet werden kann, daß sie dem zu erwartenden scharfen Wettbewerb auch gewachsen ist.Die Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit gebieten die Zusammenfassung aller Kräfte. Hierzu gehört wechselseitiges Vertrauen. Die Regierung wirbt um Vertrauen zu sich: das ist verständlich. Dann muß sie auch Vertrauen zu den Bürgern unseres Landes haben, denen der frühere Bundeskanzler für ihre Aufbauleistungen ja so warmen Dank gezollt hat. Daran fehlt es. Manche sozialpolitischen Vorstellungen sind geprägt durch das Mißtrauen gegenüber Arbeitnehmern und Ärzten. Die Bedeutung der Gewerkschaften für eine freiheitliche Ordnung und eine aufstrebende Wirtschaft wird von vielen noch
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Erlernicht voll eingesehen. Man sollte nicht nur die internationale Gewerkschaftsorganisation loben und ihr danken, Herr von Brentano, sondern hinzufügen, daß die deutsche Gewerkschaftsbewegung ein entscheidender Bestandteil dieser internationalen Bewegung ist.
— Es war der Internationale Bund freier Gewerkschaften, der das mit der AFL zusammen gemacht hat.
Das können Sie in den Mitteilungen nachlesen.
— Immerhin, Herr von Brentano, sind wir froh darüber, daß wir auf dem Umweg über die amerikanischen Gewerkschaften dann vielleicht doch gleichermaßen Freunde der deutschen Gewerkschaften werden können.
Die vertrauensvolle Heranziehung der Gewerkschaften zu den großen Aufgaben ist notwendig. Die Gewerkschaften leisten ein Stück Erziehungsarbeit zu staatsbürgerlicher Verantwortung. Sie bekennen sich zu unserem Staat. Die Bundesrepublik Deutschland weist geringere Verluste durch Arbeitskämpfe auf als alle westlichen Industrieländer vergleichbarer Größenordnung.
Unter diesen Umständen haben die Gewerkschaften die Mahnung nicht verdient, sie sollten den demokratischen Grundfreiheiten der von ihnen betreuten Menschen uneingeschränkt Raum geben. Sie beschränkten diese Freiheit nicht; bei ihnen wird offen diskutiert. Das ist manchmal unbequem, aber das Risiko der Demokratie. Bei ihnen wird geheim gewählt. Es gibt Organisationen, deren demokratische Struktur nicht annähernd derjenigen der Gewerkschaften entspricht. Vielleicht sieht sich der Herr Bundeskanzler einmal den Verband Oder-Neiße seiner eigenen Partei daraufhin an.
Wer Verantwortung trägt, muß Vorbild sein. Das Ansehen des Staates, seiner Organe, seiner Repräsentanten ist geschwächt — und zwar im In- und Ausland. Das geht uns alle an. Die Wachsamkeit unseres Volkes ist ein erfreuliches Zeichen gesunder Demokratie. Ohne Demokraten gibt es keine Demokratie. Der Schutz unserer Gemeinschaft und unserer Freiheit gegen Gefahren kann nicht nur der Exekutive überlassen bleiben. Die Mitwirkung der Staats-burger ist unentbehrlich. Natürlich braucht die Demokratie auch Zähne, um sich ihrer Feinde erwehren zu können. Es muß aber gesichert sein, daß dabei nicht der Falsche gebissen wird.
Wir dürfen nicht das demontieren, was es zu schützen gilt, nämlich den freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat.Der freie Bürger hat Rechte und Pflichten. Nur beide ergeben das Ganze. Das gilt auch für die öffentliche Meinung. Die Pressefreiheit ist Teil der Freiheit, die es zu schützen gilt. Die öffentliche Meinung erfüllt mit wachsamer Kritik eine wichtige Aufgabe. Diese Kritik ist kein Monopol der parlamentarischen Opposition. Die Kritik kann lästig sein, ist aber heilsam. Natürlich gehört dazu — darüber haben wir hier vorhin gesprochen — die Verantwortung für den Umgang mit der Wahrheit. Die Sorge um das Recht ist nicht Spielball demagogischer Auseinandersetzungen. Das Bemühen, Mißstände aufzuklären, damit sie abgestellt werden können, sollte nicht gering geachtet werden. Wenn die Bundesregierung meint, daß nicht jeder Tadel an der Regierung den Staat erschüttert, hat sie recht. Hoffentlich ist damit die gelegentlich zu hörende Verketzerung der Intellektuellen zu Ende. Wenn die Regierung aber meint, nicht jede Kritik an den Organen der öffentlichen Meinung sei schlechthin ein Eingriff in demokratische Grundrechte, dann muß sie sich den Hinweis auf den Unterschied zwischen Kritik und unverantwortlichem Druck gefallen lassen. Druck in Personalfragen oder gar Ausforschung und Besetzung von Redaktionen sind mehr als Kritik.
Bisher haben allzu viele Behörden bei der Erörterung von Mißständen nicht zunächst gefragt, ob der Mißstand besteht und wie er abzustellen ist, sondern auf welche Weise er denn ans Tageslicht gekommen sei.
Um hier zu einer guten Abgrenzung der Aufgaben zu kommen, sollte das Zeugnisverweigerungsrecht des Journalisten einwandfrei geregelt werden.
Auch die Enquete über den Wettbewerb der verschiedenen Meinungsträger verdient Förderung.Die Presse und die Organe der öffentlichen Meinung sollen keine Sonderrechte bekommen. Ihre Ansprüche sind auch keine Sonderansprüche, sie ergeben sich aus dem Anspruch aller Bürger, frei, unabhängig und sachlich zutreffend informiert zu werden, und zwar in jedem Fall und in normalen Zeiten ausnahmslos. Die Regierung wird viel zu tun haben, um das gestörte Verhältnis vollen Vertrauens zwischen dem Volk und den Organen des Staates wieder herzustellen.Hoffen wir, daß die Regierung künftig eine glücklichere Hand in ihrer für die demokratische Wirk-
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Erlersamkeit lebenswichtigen Aufgabe der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der öffentlichen Meinung entwickelt. Wo im Staate etwas nicht in Ordnung ist, muß man darüber sprechen, damit es in Ordnung gebracht werden kann.
Das gilt auch für die Sicherung von Staat und Volk gegen innere und äußere Gefahren. Auch auf diesem Gebiete muß der Rechtsstaat gewahrt werden, weil wir sonst in Willkür entarten. In unserem Lande ist nun einmal in der Vergangenheit die Freiheit von oben zertreten worden, und der frühere Bundeskanzler und andere Opfer dieser Zeit befinden sich in unseren Reihen. Genauso wie es gilt, die Demokratie gegen ihre Feinde zu schützen, muß der Bürger wissen, daß er vor einem Mißbrauch der Staatsgewalt gesichert ist.
Nicht alles, was nach bequemer Arbeit ausschauenden Behörden zweckmäßig scheint, ist auch Rechtens.Wir sind erfreut, daß die Bundesregierung endlich die Vorlage eines Ausführungsgesetzes zu Art. 10 des Grundgesetzes ankündigt. Meine Freunde haben seit langem schon eine als Diskussionsgrundlage geeignete Gesetzesvorlage diesem Hause vorgelegt. Wir erwarten, daß die Bundesregierung energisch verhandelt, um die alliierten Vorbehalte bei der Post- und Fernmeldeüberwachung durch deutsches Recht abzulösen und dabei zuverlässige Garantien gegen Mißbrauch zu schaffen. Übergriffe außerhalb der Legalität, d. h. ohne gesetzliche Grundlage, müssen geahndet werden.
Der Justizminister hat für die zu schaffende gesetzliche Grundlage eine Reihe wertvoller Anregungen gegeben.Der strafrechtliche Staatsschutz bedarf dringend einer Reform. Wir müssen das publizistische Gefecht sauber von der Tätigkeit des gemeinen Spions trennen und den Geheimnisbegriff klarer regeln. Sonst entziehen wir ohne Not lebenswichtige Fragen einer sinnvollen öffentlichen Diskussion. Aus Bequemlichkeit solcher Diskussion ausweichen zu wollen, zeugt von Überresten obrigkeitsstaatlichen Denkens, die möglichst bald beseitigt werden sollten.
Außer dem Wechsel im Kanzleramt wären wegen der jüngsten Schwierigkeiten vielleicht auch andere Wechsel ratsam gewesen. Der Bundeskanzler sollte wissen, daß Generale ohne Fortune einer Sache selten erfolgreich dienen können. Die Behandlung des Problems des Verfassungsschutzes, die dazu gefallenen öffentlichen Äußerungen und die Haltung des verantwortlichen Ministers in einer früheren Sache dem Parlament gegenüber erleichtern eine unbefangene Diskussion über Maßnahmen zur Abwehr und Behebung von Notständen unserer Gemeinschaft gewiß nicht.
Diese und andere personelle Entscheidungen zeigen, daß der Kanzler bisher wichtigen Problemen ausgewichen ist. Um so größer sind die Zweifel, ob die guten Vorsätze der Regierungserklärung in Taten umgesetzt werden können.Auch die Außenpolitik ist dem Wandel durch die Veränderung weltpolitischer Kraftverhältnisse unterworfen. Unser Volk ist seit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zerrissen. Im westlichen Teil des Vaterlandes konnten wir eine freiheitlich demokratische Grundordnung errichten. Jenseits der Demarkationslinie wurden den Deutschen kommunistische Herrschaftsformen aufgezwungen. Die Hoffnung, daß die militärische Stärkung des Westens nicht n u r unsere Sicherheit gewährleisten, sondern auch den Weg zur Einheit ebnen würde, hat sich nicht erfüllt. Die sowjetische Atom- und Raketenrüstung löste eine Euphorie der Macht aus, welche sich im Berlin-Ultimatum des Jahres 1958 und in dem Druck auf Zementierung der deutschen Spaltung niederschlug. Die in der KubaKrise sichtbar gewordene Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, von ihrer gewaltigen militärischen Macht notfalls vollen Gebrauch zu machen, führte zu einer realistischeren Einschätzung der Lage durch die Sowjetunion. Dazu haben die Schwierigkeiten im eigenen Lager ebenso beigetragen wie die ersten sichtbaren Erfolge des europäischen Einigungswerkes. Die Sozialdemokratische Partei ist sich bewußt, wie eng heute der Bewegungsraum der deutschen Außenpolitik ist. Sie hat sich nicht der Regierungsmehrheit angeschlossen, sondern die Konsequenzen aus dem nicht von ihr zu vertretenden Hinschwinden früherer Möglichkeiten gezogen.
Wir danken dem Herrn Bundestagspräsidenten, daß er diesen Sachverhalt in seiner Rede zum Abschied des früheren Herrn Bundeskanzlers vor diesem Hause so glasklar herausgearbeitet hat.
Bei dieser Lage stellen wir mit Befriedigung die Übereinstimmung mit den außenpolitischen Zielen der Regierungserklärung fest. Wir müssen die Freiheit schützen, den Frieden wahren und mit friedlichen Mitteln dais Recht der Selbstbestimmung für das ganze deutsche Volk erringen. Wir wollen uns über den nationalen Rahmen hinaus in größere Gemeinschaften einfügen und ein wirtschaftspolitisch geeintes und zu gemeinsamem politischen Handeln fähiges freies Europa schaffen. Dieses Europa muß die engste Bindung zu den Vereinigten Staaten von Amerika halten und festigen und zu wirklicher Partnerschaft hin entwickeln. Wir bemühen uns um ein besseres nachbarliches Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten. In all diesen Fragen hat die Regierungserklärung profiliertere Akzente gesetzt.Die Aussöhnung zwischen dem französischen und dem deutschen Volke ist ein bleibendes Grundelement deutscher Politik. Ohne Frankreich gibt es kein
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ErlerEuropa; ohne die Vereinigten Staaten keine europäische Sicherheit.
Leider sind die Beziehungen zu unseren Verbündeten nicht von Trübungen frei. Wir müssen einsehen, daß Bemühungen zur Entspannung unter den Weltmächten auch den Interessen des deutschen Volkes dienen können. Natürlich müssen sich Resultate wirklicher Entspannung auch und vor allem dort zeigen, wo die Spannungen ihre sichtbarste Ursache haben, nämlich in Deutschland.
Blindes Wettrüsten führt uns der Lösung unserer nationalen Probleme nicht näher. Fortschritte in der Begrenzung und Kontrolle der Rüstungen, also zur Abrüstung hin, können auch Fortschritte in der deutschen Frage ermöglichen. Unsere Aufgabe ist es, in die Abrüstungsdiskussionen in geeigneter Weise Schritt für Schritt die politischen Probleme einzuführen, weil Entspannung ohne Lösung der politischen Fragen einfach nicht Wirklichkeit werden kann.
Die Bundesregierung sagt, daß alle Schritte zur Lösung der deutschen Frage notwendig mit Maßnahmen auf dem Gebiete der Sicherheit verbunden sind. Dann müssen wir auch bereit sein, gemeinsam mit unseren Verbündeten solche Maßnahmen zu erörtern. Die Beschränkung auf nur weltweite Teilmaßnahmen scheint mir eine unnötige Fessel zu sein. Politische Gefahren anderer Teilmaßnahmen auszuschalten und im Gegenteil daraus Vorteile für die deutsche Sache zu finden, wäre eine verdienstvolle Aufgabe. Das muß alles sehr sorgfältig überlegt und durchgerechnet werden. Deshalb erneuern wir die Forderung, daß die Bundesregierung ein Abrüstungsamt schafft. Wir müssen diesem Problem dieselben geistigen und politischen Anstrengungen zuwenden, die wir für die militärische Sicherung unseres Landes im Verein mit den Verbündeten aufbringen.
Manche Angriffsflächen draußen in der Welt gegen die Politik der Bundesrepublik Deutschland würden durch dieses Zeichen guten Willens zum Verschwinden gebracht.
Die ein großes Echo auslösende Rede des Friedenspreisträgers Professor Weizsäcker in der Paulskirche in Frankfurt am 13. Oktober hat zur Strategie der Friedenssicherung wertvolle Hinweise gegeben. Wir müssen frei von blinder Emotion und frei von Lethargie und, wie ich hinzufügen möchte, wissend um die engen Grenzen unserer Möglichkeiten das Erreichbare auch wollen und durchzusetzen uns bemühen.Sicherheit für unseren Staat finden wir nur an der Seite des Westens und als sein loyaler Partner. DieAllianz im ganzen bedarf eines breiten Spektrums der Verteidigungsmittel, um auf jede Form einer Drohung angemessen reagieren zu können. Unsere Interessen werden am besten gewahrt, wenn wir uns um eine Einwirkung auf die Gesamtstrategie der Allianz bemühen und die Organisation der NATO entsprechend zu gestalten helfen. Ständiges Mißtrauen gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika öffnet den Weg hierzu nicht. Vielleicht wäre es gut, wenn Herr von Brentano einigen seiner übereifrigen Freunde in den Reihen der ADK, die dieses Mißtrauen geradezu züchten, einmal ins Gewissen reden würde.
— Unter uns: bekommen Sie mitgeteilt! Diplomatische Vorstöße sollten dem Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik vorbehalten bleiben. Die von der Bundesregierung mit Recht erstrebte Integration der Verteidigungsmittel wird leider von unseren französischen Freunden nicht oder kaum befolgt. Wir hoffen, daß der deutsch-französische Vertrag genutzt wird, um diese Lücke schließen zu helfen. Wir sind im Rahmen des Bündnisses zu einer engen Zusammenarbeit mit unserem französischen Partner selbstverständlich bereit. Auch und gerade das Gebiet der Entwicklung und Produktion von Waffen und Gerät eignet sich unter Berücksichtigung der für uns geltenden Beschränkungen hierfür. Es muß sich dann aber um Gegenstände handeln, die in ihrer militärischen Leistung keine schwerwiegenden Nachteile gegenüber anderen Möglichkeiten aufweisen.Wenn der Verteidigungsminister nach achtjährigem Aufbau der Bundeswehr feststellt, daß ihre Spitzengliederung einem Ernstfall nicht gewachsen sein würde, so ist die Verabschiedung des Organisationsgesetzes nunmehr eine unabdingbare Aufgabe.
Wenn der Wehrbeauftragte .des Hauses den inneren Zustand der Truppe so darstellt, daß in Übereinstimmung mit dem Verteidigungsminister zunächst eine Reifezeit vonnöten sei, dann müssen wir für die nahe Zukunft Qualität vor Zahl setzen
und große Anstrengungen in die Ausbildung von Offizieren und Unteroffizieren investieren. Daß deren so viele fehlen, hängt mit den Lücken unseres Erziehungssystems überhaupt zusammen, von denen schon die Rede war. Daß die Kampfkraft der Feldverbände durch den 'beginnenden Aufbau der Territorialverteidigung gestärkt wird, ist zu begrüßen. Die vorgesehene Form muß nach den ersten Erfahrungen sorgsam überprüft werden. Sie wird nämlich der Ungerechtigkeit noch nicht Herr, die darin liegt, daß ein Teil der tauglichen Wehrpflichtigen ein unverhältnismäßig größeres Opfer bringt als der andere.
Die Angehörigen unserer Bundeswehr verdienen Anerkennung für ihre oft entsagungsvolle Arbeit und Opferbereitschaft.
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4270 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
ErlerDie vielen Unzulänglichkeiten sind eine gemeinsame Sorge. Wenn etwas nicht stimmt, sollen wir es nicht verbergen, sondern müssen es abstellen. Dabei müssen wir uns ,alle vor Verallgemeinerungen hüten.
Unsere Allianz ist defensiv. Sie schützt das Gebiet der Teilnehmerstaaten gegen Angriffe von außen. Der Zusammenschluß muß aber auch politisch genutzt werden. Das ist nur bei einer gemeinsamen Politikmöglich.Wir dürfen den Status quo von der anderen Seite nicht gewaltsam eindrücken lassen, oder es gar hinnehmen, daß unsere Positionen ,ausgehöhlt werden. Wir dürfen aber auch nicht dem Status-quo-Denken verfallen und uns mit dem gegenwärtigen Zustand begnügen. Auch hier ist Stillstand Rückschritt. Einen dauernden Status quo hat es in der Geschichte nie gegeben.Wir können der Sowjetunion keine Lösung der deutschen Frage nach unseren Vorstellungen aufzwingen. Wir brauchen uns aber auch nicht von der Sowjetunion die Zementierung der deutschen Spaltung und die Aushöhlung der Positionen des freien Berlin aufnötigen zu lassen.
Für den gesamten Westen besteht kein Anlaß, dem lächelnden Chruschtschow zu gewähren, was der drohende nicht erreichen konnte.
Außerdem: an der Autobahn nach Berlin hat Herr Chruschtschow nicht gerade gelächelt.Die Bundesregierung will bis zur endgültigen Friedensregelung ein Gremium der vier die Verantwortung für Deutschland als Ganzes tragenden Mächte wirken lassen. Sie sagt nicht, welche Aufgaben diesem Gremium zufallen würden. Vor diesem Schritt muß man ja doch wohl zunächst Einverständnis mit den verbündeten drei Westmächten herstellen, was man eigentlich an die vierte Macht herantragen will.
Wertvolle Anregungen hat gerade zu diesem Punkt die von allen Fraktionsvorsitzenden dieses Hauses mit unterzeichnete Denkschrift des Kuratoriums Unteilbares Deutschland an die Vereinten Nationen gebracht. Wir bekennen uns zu diesem Dokument.
Diese Denkschrift schildert die Lage in Berlin, an der Mauer und an der Zonengrenze.Die Regierungserklärung stimmt in ihrem Berlin gewidmeten Abschnitt mit der Haltung von Senat und Abgeordnetenhaus des Landes Berlin überein. Wir legen Wert auf die Ergänzung, daß es nicht nur um die ungeschmälerte Aufrechterhaltung des freien Zugangs nach Berlin geht. Dieser Zugang ist schmal und seine Freiheit gefährdet genug. Es geht um eine bessere Sicherung des Zugangs.
Die Bundesrepublik Deutschland ist verpflichtet, das Land Berlin außenpolitisch zu vertreten. Das muß auch für Abmachungen gelten, welche sie mit osteuropäischen Staaten trifft.
Wir können uns keine Herauslösung Berlins aus diesem Anlaß leisten, weil das den sowjetischen Bemühungen — die Stellung Berlins zu untergraben — zu einem großen Teil entgegenkommen würde.
Die Regierungserkärung sagt mit Recht, daß man in der Zwischenzeit — also bis zur Lösung der deutschen Frage — die Hände nicht in den Schoß legen 'dürfe. Sie schweigt darüber, was diese Hände tun können. Sollen sie geballt oder in die Tasche gesteckt werden? Es gibt sicher gute Gründe, dieses Thema nicht auf offenem Markte zu erörtern. Wir brauchen dennoch eine breite gemeinsame Grundlage für das Wirken auf diesem Gebiet. Dazu gehört die Information der nicht in der Regierung befindlichen großen Partei dieses Hauses und ihre Konsultation, bevor Entscheidungen gefallen sind.
Beides schmälert nicht die Fähigkeit und Verantwortlichkeit der Regierung für ihr eigenes Handeln; denn dazu ist sie da.Ich sehe ein, daß wohl zunächst die Gemeinsamkeit in den eigenen Reihen der Regierungsmehrheit voll hergestellt werden muß. Es sind Zweifel an der Klarheit der Außenpolitik auf einigen wichtigen Gebieten aufgetaucht. Da gab es einen Brief, der dann keiner war, mit einem Angebot, in der deutschen Frage einen Burgfrieden von zehn Jahren zu schließen, auf das es nach der ersten Version gar keine, nach der zweiten eine unfreundliche Antwort gegeben hat, die inzwischen vom Gegenspieler veröffentlicht wurde. Möglicherweise war der zuständige Außenminister von dieser Aktion nicht informiert. Außenpolitik kann nur erfolgreich betreiben, wer alle Schritte der eigenen Regierung kennt. Wir hoffen, daß der Abgeordnete Dr. Adenauer seinem Amtsnachfolger und dem Außenminister volle Klarheit verschafft, damit auch der Auswärtige Ausschuß ins Bild gesetzt werden kann.
Einige Aspekte des Osthandels haben zu der Frage geführt, ob die Beschlüsse der Bundesregierung für alle Regierungsmitglieder verbindlich sind. Man kann doch nicht gleichzeitig den NATO-Rat befassen und eine handfeste Polemik entfesseln. In der Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland bei aller berechtigten Vorsicht Schritte zur Entspannung begrüßt, hat es ebenfalls einen klaren Gegensatz des früheren Regierungschefs zu den im Bulletin vom 8. Oktober 1963 veröffentlichten Darlegungen des Außenministers gegeben. Schließlich fehlt es an einer wirksamen Koordinierung unserer verschiedenen Ressortvertreter in Brüssel. Wenn in Zukunft Europa im Verhältnis zu Amerika mit einer Stimme sprechen soll, dann darf die Bundesregierung der
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ErlerBundesrepublik Deutschland nicht mit mehreren Zungen reden.
Der Bundeskanzler Erhard muß klarmachen, ob er wirklich die Richtlinien der Politik bestimmt oder ob es noch andere Instanzen außer ihm gibt. Er hat ja ausdrücklich zugesagt, noch Rat einzuholen. Kann diese Prozedur vielleicht zu verschiedenen Konzeptionen führen, oder wird künftig im Kabinett entschieden, nachdem der Kanzler seine Meinung dargelegt hat?
In der Europapolitik müssen wir die europäischen Gemeinschaften stärken. Das gilt vor allem für die Stärkung der Gemeinschaftseinrichtungen, also von Kommissionen und Parlament, und damit für die Verbesserung einer demokratischen Kontrolle. Unvereinbar damit ist es, wenn ein Ministerrat die Funktionsfähigkeit des kontrollierenden Parlaments durch Haushaltskürzungen beeinträchtigt.Der Stärkung dient weiter der geographische Ausbau dieser Gemeinschaften, vor allem durch die Einbeziehung Großbritanniens und anderer beitrittswilliger Länder. Die europäische Solidarität kann nur gefestigt werden, wenn nach der Aussöhnung mit Frankreich nun auch der große Wurf eines Brückenschlages über den Kanal gewagt wird.
Kühle oder gar schlechte deutsch-britische Beziehungen sind beiden Völkern niemals bekommen.
Professor Erhard könnte ein großes Verdienst gewinnen, wenn er die Sache einer deutsch-britischen Aussöhnung so zu seiner Herzenssache machte, wie andere mit Recht die deutsch-französische Aussöhnung erfolgreich zustande gebracht haben.
Die Widerstände- sind auch uns bekannt; wir können nicht mit dem Kopf durch die Wand. Aber wir brauchen uns auch nicht den Willen eines einzelnen noch so befreundeten Landes aufzwingen zu lassen. Das würde dem Geist der Gemeinschaft widersprechen.Die deutsch-französische Freundschaft ist für uns kein Sonderbündnis, sondern ein lebenswichtiger Bestandteil der europäischen Gemeinschaft und der atlantischen Solidarität. So haben wir es mit der Präambel zum deutsch-französischen Vertrag am 16. Mai 1963 ausdrücklich beschlossen. Niemand übersieht die Schwierigkeiten dieses Werkes. Die Bundesregierung hat zugesagt, daß das deutsch-französische Jugendwerk nicht einseitig zusammengesetzt würde.
Man wollte nicht zu einer Staatsjugend und zu einergroßen bürokratischen Behörde kommen. Wir in derBundesrepublik Deutschland halten nun einmal vielvon der Freiheit unserer Jugendorganisationen. Leider scheinen die Dinge anders zu laufen.
Wer aber sogar die Sozialhilfe privatisiert, sollte gewiß davor zurückschrecken, den Jugendaustausch verstaatlichen zu wollen.
Der Staat soll die vorhandenen Einrichtungen kontrollieren und unterstützen, aber nicht jene Einrichtungen selbst ersetzen wollen.Wenn Staatssekretär Hüttebräuker erklärt,
daß man keiner Marktordnung beistimmen könne, wenn dadurch Gräben zementiert würden, weiß man, daß es dabei vor allem um die Beziehungen zu unseren skandinavischen Nachbarn geht.
Wenn wir die Hindernisse für den Ausbau der Gemeinschaft verringern wollen, muß die Kennedy-Runde Erfolg haben. Vielleicht hat die Bundesregierung die Möglichkeit, bei Zwischenlösungen bis zum erfolgreichen Abschluß der Kennedy-Runde politisch und finanziell behilflich zu sein. Die Erfolgsaussicht wird um so größer sein, wenn die Kommission als das Gemeinschaftsorgan mit den Verhandlungen betraut wird und nicht der Ministerrat, der ja ohnehin nach Abschluß der Verhandlungen das letzte Wort hat. Nur in zäher Arbeit kann jener europäische Partner entstehen, der das Angebot des Präsidenten der Vereinigten Staaten auf volle Partnerschaft auf sich nehmen kann. Europa trägt eine große Verantwortung.Dies gilt z. B. auch für das gewaltige Gebiet der Entwicklungshilfe. Im Rahmen der OECD haben wir uns zu einer Leistung von 1% unseres Bruttosozialproduktes verpflichtet. Wir müssen wissen, daß das keine reine Mildtätigkeit ist, sondern Teil einer wohlverstandenen weltumspannenden Sicherheitspolitik. Wenn es den entwickelten Industrienationen nicht gelingt, den südlich von ihnen liegenden unterernährten und darbenden Völkern auf dem Weg zur Selbsthilfe zu helfen, ,damit sie ,sich selbst ein menschenwürdiges Dasein erarbeiten können, werden wir eine weltpolitische Katastrophe erleben. Jene Länder wollen aber vom Hilfsempfänger zum Handelspartner werden. Dazu gehört die Bereitschaft, ihre Waren aufzunehmen. Von der Beseitigung des ärgerlichen Hindernisses der Fiskalabgaben war in der Regierungserklärung trotz früherer Beteuerungen des damaligen Wirtschaftsministers leider nichts zu sehen. Hüten sollten wir uns vor einer Bevormundung in den inneren Angelegenheiten. Die Sozialordnung der Entwicklungsländer wird nicht ohne weiteres dem Modell fortgeschrittener Industrienationen entsprechen können.
Ideologischer Eifer kann hier nur schaden und uns jene Völker entfremden.
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4272 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
ErlerNach ihrer Erklärung hofft die Regierung, daß Länder, die ihre nationale Selbständigkeit inzwischen erlangt haben, auch für die deutsche Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht Verständnis aufbringen. Wir teilen diese Hoffnung und Erwartung. Wir müssen aber bereit sein, auch Verständnis für jene Völker zu bekunden, die heute noch um ihre nationale Selbständigkeit ringen. Falsche Zungenschläge ihnen gegenüber bringen der deutschen Sache keinen Gewinn.Die Regierungserklärung geht positiv auf die Besserung des Verhältnisses zu ,den osteuropäischen Völkern ein. Der Bundestag hat mach sorgfältiger Vorarbeit am 14. Juni 1961 hierzu einstimmig einen grundlegenden Beschluß gefaßt. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit ihren Verbündeten eine Ostpolitik zu führen, deren Ziel die Wiederherstellung eines freien Gesamtdeutschland ist, das auch mit der Sowjetunion und allen osteuropäischen Staaten friedliche und gedeihliche Beziehungen unterhält. Zu diesem Ziel soll die Bundesregierung jede sich bietende Möglichkeit ergreifen, um ohne Preisgabe lebenswichtiger deutscher Interessen zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den osteuropäischen Staaten zu gelangen, und einige weitere Maßnahmen treffen. Diese Entschließung war getragen von dem Geist guter Nachbarschaft und dem Willen zur Aussöhnung ,auch mit jenen Völkern, die ebenso wie unsere westlichen Nachbarn Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik gewesen sind.
Die Bundesregierung wird unsere volle Unterstützung haben, wenn sie sich um die Durchführung dieses Beschlusses in unserer auswärtigen Politik bemüht.Auch und gerade für ein gutes Verhältnis zu unseren osteuropäischen Nachbarn ist Aufrichtigkeit erforderlich: Es darf kein Zweifel bestehen über unser Bekenntnis zum Recht auf die Heimat und zum ungeteilten Selbstbestimmungsrecht für alle Völker.
Deutschland besteht völkerrechtlich in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 fort. Es ist die Aufgabe jeder deutschen Regierung, bei Friedensvertragsverhandlungen — um mit Kurt Schumacher zu sprechen — zäh um jeden Quadratmeter deutschen Bodens zu ringen.
Der deutsche Rechtsstandpunkt darf in diesen Fragen nicht verschwiegen werden, weil uns dies unglaubwürdig machen und unsere Haltung weder bei unseren westlichen Verbündeten noch bei den östlichen Nachbarvölkern erleichtern würde. Das Selbstbestimmungsrecht kann nicht in einzelne Teile aufgelöst werden, wenn man es nicht abwerten will.In dem Beschluß vom 14. Juni 1961 wurde die Bundesregierung aufgefordert, über die von ihr ergriffenen Maßnahmen zu berichten. Wir erwarten, daß sie dieser Verpflichtung nachkommt und damit zum Ausdruck bringt, daß sie an die schicksalhafte Aufgabe der Vorbereitung einer dauerhaften friedlichen Lösung für ganz Deutschland auch mit unseren östlichen Nachbarn mit Ernst herangeht.
Die Regierungserklärung spricht von der Schuld, die in den Jahren der Gewaltherrschaft allen Deutschen aufgebürdet wurde. Wir müssen der Umwelt sagen, daß die Anerkennung der Verantwortung unseres Volkes für das Geschehene, seine Haftung für die Taten seiner Oberen und seine Verpflichtung zur Wiedergutmachung nicht die Tatsache unterdrücken dürfen, daß eine junge Generation heranwächst, die in keiner Weise unmittelbar mit den schrecklichen Geschehnissen der Gewaltherrschaft verbunden ist. Die Weimarer Republik ist aus vielen Ursachen zugrunde gegangen. Beigetragen hat zu ihrem Untergang auch eine Politik der damaligen Siegermächte, welche dem demokratischen Deutschland jenes Entgegenkommen in nationalen Lebensfragen versagte, das man später überreich der erpresserischen Gewaltherrschaft erwies.
Wir bitten daher die Umwelt um Verständnis dafür, daß es die Aufgabe einer demokratischen Regierung und eines demokratischen deutschen Parlaments ist, trotz aller Belastungen der Vergangenheit die selbstverständlichen Lebensinteressen unseres Volkes und vor allem seiner heranwachsenden Jugend nach innen und nach außen zu wahren.
Die Wiedergutmachung wird mit dem ganzen Hause von der Bundesregierung bejaht. Nicht zu verstehen ist deshalb der Widerstand gegen die Behandlung der Regierungsvorlage. Ich hoffe, daß Ihre Fraktion, Herr Kollege Rasner, sich das noch einmal überlegt.
— Wollen wir uns nicht streiten, es geht um die Länge des Aufschubs.
Die Bundesregierung sollte mit dem Auswärtigen Ausschuß — vielleicht in ähnlicher Weise wie vor zwei Jahren bei der Festlegung der Ostpolitik — erörtern, ob allein die Wiedergutmachung ein ausreichender Boden sein kann, um eine tragfähige Grundlage für ein neues Verhältnis zwischen dem jüdischen Volke, dem Staat Israel und dem deutschen Volk zu schaffen. Widersprüchliche Erklärungen deutscher Persönlichkeiten nützen der Lösung dieses Problems nicht.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4273
ErlerEine interessante Sammlung ist auf den ersten Bänken versammelt.
— Es kommt darauf an, ob man jeweils in dem Land, das daran am meisten interessiert ist, Erklärungen in entgegengesetzter Richtung abgeben muß.
Aber ich freue mich über das Bekenntnis, daß auch außenpolitische Diskussionen öffentlich gehalten werden können.
Wir kommen darauf zurück.
Die Regierungserklärung enthält eine Fülle annehmbarer Vorsätze. Darin unterscheidet sie sich nicht von ihrem Vorgänger. Sie enthält auch neue Gedanken und eine neue Art des Herangehens an manche Probleme. Was aber zählen wird, sind allein 'die Taten, die dieser Erklärung folgen. Die sozialdemokratische Fraktion wird gute Vorschläge der Regierung nicht deshalb bekämpfen, weil sie von ,der Regierung kommen, sondern sie fördern. Sie wird sich zur Wehr setzen, wenn politische und gesetzgeberische Schritte beabsichtigt sind, die sie für gefährlich hält. Sie wird vor allem über die Einhaltung der demokratischen Spielregeln wachen. Bei jeder Wahl sollen Leistungen, Persönlichkeiten und Programme verglichen werden, darf nicht etwa Staatsmacht zur Verlängerung von Parteimacht in Erscheinung treten.Der Bundeskanzler behandelte die Rolle der Opposition im Parlament. Wichtig ist vor allem, daß die andere große Partei immer als mögliche Regierungspartei begriffen wird.
— Selbstverständlich, das haben Sie uns bisher nur immer bestritten. Wir haben uns immer so verstanden.
— Daß wir uns als Regierungspartei verstehen? Natürlich!Nur so funktioniert die Demokratie einwandfrei. So mancher hält eine Opposition für nötig, meint aber, sie müsse ewig Opposition bleiben. Die Regierung wird .nur dann vor allzu großen Fehlern bewahrt, wenn sie Furcht haben muß, abgelöst zu werden. Und die Opposition kann 'dann nicht schrankenloser Demagogie verfallen, wenn sie riskieren muß, als Regierung beim Wort genommen zu werden.
— Ich freue mich, daß Sie mit Ihrem Beifall meiner heutigen Rede eine hohe Qualifikation zubilligen, nämlich wie einer Regierungserklärung.
— Nein, Sie haben nur nicht gewußt, welche Konsequenz Ihr Beifall hatte!
Seit den Verhandlungen vor einem Jahr sind die Parteien dieses Hauses und die Öffentlichkeit davon überzeugt, daß die Sozialdemokratische Partei eine durchaus mögliche Regierungspartei ist. Wir haben ja alle einmal miteinander darüber gesprochen.
Ob sie es wird, ob das Interim, das wir jetzt begonnen haben, über den nächsten Wahltag hinaus dauert,
darüber werden die Wähler nach Abschluß der zweiten Halbzeit dieses Bundestages zu entscheiden haben.
Eine Zahl gibt Ihren Hoffnungen einen kleinen Dämpfer; sie gibt einen Anhalt, wie sehr sich die Dinge gewandelt haben. Wenn wir uns zur Neuwahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung vereinigen, wird es außer den Mitgliedern dieses Hauses eine andere Hälfte der Versammlung geben, die von den Landtagen entsandt wird, die zu 48% aus Freunden meiner Partei bestehen.
Das zeigt den Übergangscharakter des jetzigen Kabinetts.Eines aber wollen wir noch einmal festhalten: Dieser Staat ist unser aller Staat. Wir tragen ihn gemeinsam'. Wir Sozialdemokraten haben die Bundesrepublik Deutschland und ihr Grundgesetz mitgeschaffen. Wir haben in diesem Hause in erheblichem Umfang unser Gedankengut mit in die Gesetzgebung hineinzubringen vermocht. Wir tragen die Regierungsverantwortung in der Hälfte der deutschen Länder und stellen die Oberhäupter der meisten deutschen Großstädte. Das macht klar, daß wir auf die vielfältigste Weise in dieses unser Staatswesen hineingewoben sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist die staatliche Organisationsform im freien Teil unseres 'ganzen Vaterlandes, und sie wird einst aufgehen in einem freien Gesamtdeutschland. Das mindert ihre Würde nicht. Dieser Auftrag zwingt sogar zu zusätzlichen politischen Impulsen. Dieser unser Staat, das ist nicht eine Koalition, das ist auch keine Partei, das sind wir alle. Deshalb möchte ich— trotz der etwas selbstgefälligen abschließenden polemischen Bemerkungen des Kollegen Brentano — von mir aus mit dem Satze schließen: Wir sind ein Volk, da trägt ein jeder auch des anderen Last.
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4274 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Meine Damen und Herren, ehe wir in die Mittagspause eintreten, ist der Präsident dieses Hauses zwei Erklärungen dem Hause schuldig. Außerdem gebe ich nachher das Wort zu einer Erklärung nach § 36 dem Herrn Abgeorneten Dürr.Zunächst, meine Damen und Herren: in dein Protokoll, das mir vorgelegt wird, findet sich in der Rede, die der Herr Abgeordnete Dr. von Brentano hier gehalten hat, der Vermerk: „Lebhafte Zurufe von der SPD: Raus!".
— Ja, das habe ich mir ja auch gesagt.
— Aber nur langsam, meine Damen und Herren! Ich habe sorgfältig prüfen lassen, ob hier ein Hörfehler vorliegt.
Wissen Sie, was die vereidigten Beamten unseres Hauses dazu bemerkt haben? Hier auf diesem Protokoll: „In beiden Stenogrammen und auf Band einwandfrei ,Raus'."
— So steht es hier.
Der Präsident des Hauses muß sich daran halten, und er sagt dazu folgendes. Ich gehe davon aus, daß dem amtierenden Präsidenten dieser Zuruf vorhin entgangen ist. Würde er ihn gehört haben, würde i c h ihn gehört haben, wäre ich gezwungen, unter allen Umständen — und ich würde es auch tun, obwohl mir Ordnungsmaßnahmen dieser Art immer verhaßter werden —, in diesem Fall von den Möglichkeiten des § 42 — des Ausschlusses von Abgeordneten — Gebrauch zu machen. Denn: „Raus" ist unter keinen Umständen ein Zuruf, der akzeptiert werden darf.
Nun, es gibt noch eine geschäftsordnungsmäßige Möglichkeit, die ich den Beteiligten — ein Name ist nämlich nicht genannt im Protokoll —
eröffne: es gibt den § 120. Ich darf anheimgeben, daß dieser Vermerk im Protokoll so nicht stehenbleibt und daß sich deshalb die Beteiligten mit dem Herrn Abgeordneten Dr. von Brentano über die Wahrnehmung der Möglichkeit des § 120 der Geschäftsordnung, Herr Abgeordneter, verständigen.
Das war Punkt eins.
Punkt zwei! Der Abgeordnete Erler hat die Freundlichkeit gehabt, den Bundestagspräsidenten anzusprechen. Herr Kollege Erler, soweit es sich um meine Person handelt, darf ich bei dieser Gelegenheit in Sachen der Immunität feststellen, daß der Bundestagspräsident niemanden beauftragt oder niemanden ermächtigt hat, irgendeine öffentliche Erklärung zu Immunitätsfragen abzugeben — niemanden beauftragt, niemanden ermächtigt hat! — und daß er auch selber solche Außerungen öffentlich nicht abgegeben hat.
Aber Sie geben mir die Gelegenheit, vor allem in Anbetracht der Situation, der sich dieses Parlament in der öffentlichen Diskussion — sehr unbefriedigenderweise — oft gegenübersieht, folgendes festzustellen. Selbstverständlich besteht Einvernehmen in diesem Haus darüber, daß die Rechtsordnung unseres Staates unbeirrt dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt. Deshalb gibt es bei uns auch keine Parlamentsjustiz, und auch die Untersuchungsausschüsse sind mißverstanden, wenn sie daraufhin interpretiert werden.Die Immunitätsaufhebung ist deshalb auch grundsätzlich ein wertfreier Akt. Er darf unter keinen Umständen so etwas darstellen wie eine Vorabverurteilung durch das Haus.
Deshalb aber dürfen wiederum auch Entscheidungen darüber ganz grundsätzlich nicht auf eine Art von Beweiswürdigung gestellt werden.
Darum der richtige Grundsatz in den Verfahrensgrundsätzen des Geschäftsordnungsausschusses, die als Anhang in jeder Geschäftsordnung abgedruckt sind: Keine Beweiswürdigung im Immunitätsausschuß !Auch zur Herbeiziehung von Akten, Herr Abgeordneter Erler, hat weder der Präsident dieses Hauses noch sonst irgend jemand bis jetzt irgendwelche Bedenken angemeldet. Aber das berechtigte Verlangen des Immunitätsausschusses auf Einsicht in den Problem- und Sachzusammenhang hat seine Grenze, seine unbedingte Grenze, an den zwingenden Erfordernissen des Ermittlungsverfahrens, des rechtsstaatlich geregelten Ermittlungsverfahrens.
Die Gefahr der Erschwerung oder gar der Verdunklung darf mit der Aktenabgabe unter keinen Um-ständen herausbeschworen oder gelaufen werden.
Daraus folgt für die Immunitätsaufhebung: Die Immunität m u ß aufgehoben werden, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für ein staatsanwaltschaftliches Einschreiten gegeben sind. Natürlich steht dieses Haus oft vor der Schwierigkeit, zu beurteilen, ob denn diese zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte auch wirklich gegeben sind. Das kann strittig sein und strittig bleiben.Was ist dann? Dann muß nicht nur der Immunitätsausschuß, sondern dann muß dieses Haus im Zweifelsfalle natürlich die Immunität aufheben. Denn nur dann wird ja freie Bahn geschaffen für die objektive Ermittlung des Tatbestandes und für das objektive Urteil. Daran müssen sowohl der Betroffene wie dieses Haus interessiert sein.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4275
Präsident D. Dr. GerstenmaierEs besteht Einverständnis darüber in diesem Hause, und die Praxis hat es immer bestätigt, daß das auch wiederum seine Grenze hat in allen Fällen, auf die sich der Art. 46 des Grundgesetzes bezieht. Ich stelle hier einmal vor dem Hause fest, und ich wäre dankbar, wenn das ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen würde: daß dieses Haus aus guten Gründen die Praxis nach Art. 46 des Grundgesetzes insoweit ausgedehnt hat, daß in allen Fällen, die der Art. 46 Abs. 1 für dieses Haus vorschreibt, die Immunität auch dann nicht aufgehoben wird, wenn sich solche Fälle außerhalb dieses Hauses ereignen. Es handelt sich im allgemeinnen um Beleidigungen in der politischen Auseinandersetzung überhaupt. Ich glaube, es ist eine im Interesse des Hauses gelegene Übung, an der nach wie vor festgehalten werden sollte, daß politische Beleidigungen, soweit sie auch außerhalb dieses Hauses und seiner Ausschüsse vorkommen, möglichst nicht Anlaß zur Immunitätsaufhebung und möglichst nicht Anlaß zur Durchführung von Strafprozessen werden. Es gibt auch dafür Grenzen, Grenzen, wie sie in Art. 46 des Grundgesetzes festgelegt sind. Ich glaube, das Haus tut gut daran und erweist auch der öffentlichen Diskussion einen Dienst, wenn es dieser stillschweigenden Übung folgt.Es bleibt aber dabei, meine Damen und Herren: Immunitätsaufhebung ist keine Vorabverurteilung. Sie ist im Zweifelsfalle unbedingt erforderlich, im Interesse des Betroffenen, im Interesse dieses Hauses.Das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 36 der Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dürr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Erler hat mein Ausscheiden aus dem Bundestagsausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung in engstem Zusammenhang mit Äußerungen über angeblichen Koalitionsdruck oder Koalitionszwang erwähnt. Dazu stelle ich fest, daß mir kein Gremium meiner Fraktion und kein einziger Fraktionskollege auch nur nahegelegt hat, aus dem Immunitätsausschuß auszuscheiden.
Unser Immunitätsrecht stammt aus dem Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, als im allgemeinen das ganze Parlament der Exekutive als Opposition gegenüberstand. Seine Bestimmungen passen kaum mehr in die Zeit des parlamentarischen Systems. Sie können aber — auch in Einzelheiten — nur durch Verfassungsänderungen modernisiert werden.
Wer redlich versucht, trotz des altmodischen Korsetts des geltenden Immunitätsrechts einerseits das Recht des Parlaments zu wahren und andererseits praktikable Lösungen zu finden, wird es nicht vermeiden können, daß seine Haltung bei Abstimmungen gelegentlich in der Öffentlichkeit als Anzeichen für eine bestimmte politische oder gar koalitionspolitische Haltung angesehen und deshalb falsch gedeutet wird. Die von den Vorrednern erwähnten
Vorfälle im Immunitätsausschuß sind kein Dilemma der Koalition. Sie sollten aber eine Mahnung an das Hohe Haus sein, die notwendige Reform des Immunnitätsrechts möglichst bald in Angriff zu nehmen.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis um 15 Uhr. Nach der Pause beginnt der Sprecher der FDP, Freiherr von Kühlmann-Stumm.
Wir fahren in der Aussprache zur Regierungserklärung fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Freiherr von Kühlmann-Stumm.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die Bundesregierung ist mit einer Erklärung vor den Deutschen Bundestag getreten, die den Aufgaben, die unserem Volke in dieser Zeit gestellt sind, voll gerecht wird. Sie findet die Unterstützung der Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei. Das Echo der deutschen Öffentlichkeit bestärkt die Fraktionen der Regierungskoalition in ihrer Auffassung, daß die von der Bundesregierung verfolgte Politik dem Willen der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes entspricht. Die parlamentarische Opposition unterstützt nicht nur die Berlin- und Deutschland-Politik, wie das die FDP schon in ihrem Wahlaufruf des Jahres 1961 gefordert hatte, sondern auch in weiten Bereichen die Innenpolitik der Bundesregierung. Sie ist damit aus staatspolitischer Verantwortung heraus auf den von den Regierungsparteien beschrittenen und von ihr inzwischen als richtig erkannten Weg getreten. Die Ausstrahlung des Geistes partnerschaftlicher Zusammenarbeit, der von dem Herrn Bundeskanzler so eindrucksvoll dargelegt worden ist und der in den sachlichen Aussagen der Regierungserklärung sichtbaren Ausdruck findet, wird seine Wirkung nicht verfehlen.Die Freie Demokratische Partei begrüßt diese Entwicklung mit Genugtuung. Sie sieht in der Regierungserklärug, die sich auf die von den Koalitionsfraktionen gemeinsam erarbeiteten Grundsätze stützt, den Vollzug der Wahlentscheidung des deutschen Volkes vom Jahre 1961 bei der Bewältigung großer innen- und außenpolitischer Aufgaben. In der praktischen Politik der kommenden zwei Jahre muß der gemeinsamen Überzeugung und dem gemeinsamen Willen die gemeinsame Tat folgen. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß wir dieser Bundesregierung lieber vier statt zwei Jahre Zeit der Arbeit und der Bewährung gegeben hätten. Dennoch begrüßen wir es dankbar, daß die Neubildung der Bundesregierung sich in einer sachlichen Atmosphäre und reibungslos vollzogen hat. Die Verabschiedung des scheidenden Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer durch den Präsidenten dieses Hohen Hauses ist in ihrer würdigen Form dem hohen Range des Amtes, das Dr. Adenauer
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4276 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Freiherr von Kühlmann-Stummvierzehn Jahre innehatte, und seiner geschichtlichen Persönlichkeit gerecht geworden.Die Regierungserklärung hat mit Recht hervorgehoben, daß der Wohlstand eine Grundlage, nicht aber das Leitbild unserer Lebensgestaltung schlechthin ist. In einer Gemeinschaftsleistung des deutschen Volkes in allen seinen Schichten, im Rahmen der Marktwirtschaft zu höchster Effektivität gebracht, haben wir einen bei Kriegsende von niemandem erwarteten Wohlstand des deutschen Volkes erreichen können. Wenn die Bundesregierung über diese materielle Sicherung des einzelnen hinaus das Leitbild des deutschen Volkes, insbesondere der deutschen Jugend, nach den vor uns liegenden nationalen Aufgaben bestimmt, so kann sie dabei mit der besonderen Unterstützung der Freien Demokratischen Partei rechnen. Ich wiederhole in dieser Stunde das Leitwort, unter dem sich unsere Partei im März 1961 zur Übernahme von Verantwortung in der Bundesregierung bereit erklärte:Unser Vaterland ist geteilt. Der Gegensatz Ost-West kann jeden Tag in eine Katastrophe führen. Der Wohlstand in der Bundesrepublik verschleiert die Bedrohung unserer nationalen Existenz. Unser Volk ist auf ernste Belastungsproben nicht vorbereitet. Diese Gefahren gilt es zu erkennen.Was im März 1961 richtig war, ist seit der Errichtung der Mauer in Berlin unabdingbare Aufgabejeder deutschen Politik geworden. Wir unterstützenden Appell der Bundesregierung an die Regierung der Sowjetunion, sie möge endlich der Realität des deutschen Willens zur Einheit in Freiheit und zur Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt Rechnung tragen.Das größte Aktivum in der Nachkriegsentwicklung unseres Volkes ist das uneingeschränkte Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat.
Im freien Teil Deutschlands haben die radikalen Gruppen links und rechts eine vernichtende Absage in den Wahlen erhalten. Die Bevölkerung der Sowjetzone lehnt in ihrer überwiegenden Mehrheit heute wie vor 18 Jahren das kommunistische Zwangssystem mit Entschiedenheit ab. Der Versuch Ulbrichts, am letzten Sonntag sich durch eine betrügerische Scheinwahl legitimieren zu lassen, ist der sichtbare Beweis für die ungebrochene demokratische Grundhaltung der deutschen Menschen jenseits der Zonengrenze. Ihnen gilt unser Dank in dieser Stunde.
Sie stellen durch ihre Haltung und ihr Opfer in schwerer Zeit ihr Bekenntnis zur Freiheit und zur Demokratie unter Beweis. Ihr Zeugnis verpflichtet uns, die deutsche Sache noch überzeugender, noch nachdrücklicher vor aller Welt zu vertreten.
Wir Deutschen in der Bundesrepublik werden vonunseren Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone,unsere Generation wird von künftigen Generationendaran gemessen, wie wir den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes, die deutsche Einheit in Freiheit zu vollenden, verfolgt und erfüllt haben.
Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen hat die Aufgabe, den Willen des deutschen Volkes, insbesondere der deutschen Jugend, zur Wiederherstellung seiner staatlichen Einheit vor aller Welt sichtbar zu machen. Der neue Minister hat bei Übernahme seines Amtes über seine künftige Tätigkeit das verpflichtende Beispiel Jakob Kaisers gestellt. Er wird sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben auf die Erfahrung und Hilfe von Männern wie Ernst Lemmer und Dr. Rainer Barzel, deren ritterliche Haltung wir hoch zu schätzen gelernt haben und die vor ihm dieses schwere Amt innehatten, ebenso stützen wie auf den Rat und die Hilfe, die ihm von seinen Freunden und von der parlamentarischen Opposition gegeben werden.Die Darlegungen der Regierungserklärung zur Außenpolitik der Bundesregierung zeigen im wesentlichen Geist von unserem Geist. Thesen, die die Freie Demokratische Partei seit Jahren unbeirrbar verficht, haben zu unserer Freude in den Erklärungen des Bundeskanzlers ihren Niederschlag gefunden.Wir sind in der Tat mit dem Bundeskanzler der Meinung, daß wir unseren Blick nach vorwärts zu richten haben und daß nicht nur die Bundesrepublik, sondern die ganze Welt im Begriff ist, aus der Nachkriegszeit herauszutreten. Wenn der Bundeskanzler hieraus die Folgerung zieht, daß in dieser Zeit auch die deutsche Politik zum Handeln aufgerufen ist, also nicht nur zum vorsichtigen Abwarten und zum reinen Reagieren auf die Gedanken anderer Mächte, so findet diese Auffassung unsere besondere Unterstützung.
Das gleiche gilt für die These, daß die deutsche Politik ebenso überzeugend für die Einigkeit und Stärke des westlichen Bündnisses wie auch für den Frieden und die keine langfristige Vertagung vertragende Lösung unserer nationalen Fragen einzutreten habe.In der Tat empfinden wir es wie eh und je als unsere Pflicht, immer erneut die Aufmerksamkeit der Welt auf die ungelöste deutsche Frage zu lenken, und wir erheben mit dem Bundeskanzler die Forderung, jede sich bietende Möglichkeit in den West-Ost-Gesprächen, die aber nicht nur andere, sondern auch wir selbst führen müssen, zu ergreifen, um hinsichtlich der Lösung des Deutschland-Problems Fortschritte zu erzielen. Das ungelöste Deutschland-Problem ist eine der Hauptursachen für die Spannungen in der Welt. Wem der Weltfrieden am Herzen liegt, der muß sich unablässig um die Lösung der Deutschland-Frage bemühen.Der unerträgliche Status quo wird mit Sicherheit zu einer immer größer werdenden Bedrohung des Weltfriedens führen. Keine deutsche Regierung kann seine Festigung oder gar Verschlechterung hinnehmen. Das gilt in besonderem Maße auch im
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4277
Freiherr von Kühlmann-StummHinblick auf die Lösung ides Berlin-Problems. Da eine vernünftige und endgültige Regelung der Berlin-Frage die Wiederherstellung der Einheit der Stadt, die Überwindung der Spaltung Berlins aber die Wiedervereinigung Deutschlands voraussetzt, ist jeder Versuch, die Berlin-Frage isoliert zu lösen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wer immer die Ansicht vertritt, man müsse eine umfassende und endgültige Regelung für die geteilte Hauptstadt treffen, muß sich darüber klar sein, daß er bei allen Berlin-Verhandlungen ,auf Schritt und Tritt mit dem deutschen Problem im weitesten Sinne konfrontiert werden wird.Dieser Tatsache eingedenk hat darum auch der Präsident dieses Hohen Hauses am 30. Juni 1961 im Namen aller Fraktionen den Vorschlag gemacht, bei künftigen Verhandlungen über Deutschland nicht nur die Frage Berlins, seines zukünftigen Status und seiner Verbindungswege zur Diskussion zu stellen, sondern die Deutschland-Frage als Ganze. In seiner Entschließung vom 12. Oktober hat die Mehrheit dieses Hauses die Bundesregierung aufgefordert, mit ihren Verbündeten in Konsultationen einzutreten mit 'dem Ziel, seitens des Westens der Sowjetunion 'den Vorschlag zu machen, entsprechend der Verantwortung der Vier Mächte eine gemeinsame ständige Konferenz zur Lösung der deutschen Frage als Voraussetzung eines 'dauerhaften Friedens herbeizuführen. Die Bundesregierung hat ausdrücklich auf diesen Bundestagsbeschluß Bezug genommen und sich hinter die Forderung des Parlamentes gestellt. Dieser Grundgedanke hat auch in einer Entschließung des diesjährigen FDP-Bundesparteitages seinen Niederschlag gefunden.Wir sind der Überzeugung, daß die Regierung auch die bereits im August eingeleiteten Initiativen auf dem Gebiete der Deutschlandpolitik weiter verfolgen und den Versuch machen wird, die Verbündeten für eine gemeinsame aktive Deutschlandpolitik zu gewinnen.Zu einer Politik des Friedens und einer gerechten Lösung Ides deutschen Problems gehören nicht zuletzt normale Beziehungen der Bundesrepublik zu den osteuropäischen Staaten. Seitdem unser verstorbener Parteifreund und Bundestagsabgeordneter Karl Georg Pfleiderer vor neun Jahren 'in einer Haushaltsdebatte dieses Parlaments auf 'die „terra incognita" der deutschen Außenpolitik, die Länder Osteuropas, hingewiesen und erklärt hat, daß mit unserer Politik gegenüber diesen Staaten auch unser 'deutsches Dasein eng verbunden sei, hat die Ostpolitik in diesem Hause oft genug im Mittelpunkt harter Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen gestanden. Wir haben nach der Erklärung der Bundesregierung 'den Eindruck, daß diese außenpolitischen Diskussionen für die Weiterentwicklung und Vervollständigung der deutschen Außenpolitik von großem Nutzen gewesen sind.Das außenpolitische Programm der Bundesregierung erscheint uns in der Tat in besonderem Maße konstruktiv, zugleich ,aber auch notwendigerweise nüchtern und illusionslos zu sein. Die von der Freien Demokratischen Partei in ihrem Berliner Programm von 1957 vertretene Auffassung, daß es diePflicht der deutschen Außenpolitik sei, durch eine aktive und konstruktive Politik das Verhältnis Deutschlands zu ,den osteuropäischen Völkern friedlich zu regeln, wird von der neuen Bundesregierung geteilt. Sie wird sich für eine weitere Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Staaten nachdrücklich einsetzen und zugleich ihre Bereitschaft erklären, mit diesen Staaten gemeinsam zu prüfen, wie man ,Schritt für Schritt auf beiden Seiten Vorurteile ,abbauen und vorhandenen Sorgen und Befürchtungen den Boden entziehen kann. Der Versuch der Bundesregierung, auf diesem Wege allmählich zu normalen Beziehungen zu allen Staaten Osteuropas zu gelangen und den — wie Pfleiderer es nannte — „weißen Fleck" auf der Landkarte unseres Auswärtigen Amtes zu beseitigen, ist zu begrüßen. Eine solche Politik könnte eines Tages dazu beitragen, die noch immer feindselige Haltung osteuropäischer Regierungen gegenüber der Forderung des deutschen Volkes nach seinem Selbstbestimmungsrecht zu korrigieren. Vielleicht wird man dann auch in Warschau, Prag und Budapest erkennen, daß Wiedervereinigung Deutschlands und Verständigung des deutschen Volkes mit den östlichen Nachbarn keine unüberbrückbaren Gegensätze darstellen, sondern dm Gegenteil untrennbarer Bestandteil einer aufrichtigen Friedenspolitik sind.Die Lösung der deutschen Frage ist untrennbar mit 'der weiteren Entwicklung der internationalen Lage verbunden. Jede Veränderung des Ost-West-Verhältnisses, jede Entspannung oder Verschärfung der internationalen Lage wirkt sich naturgemäß positiv oder negativ auf das geteilte Deutschland und seine ungelösten Probleme aus. Niemand wird bezweifeln wollen, daß ohne eine gewisse Entspannung der internationalen Atmosphäre, ohne die Herstellung eines Mindestmaßes an Vertrauen zwischen den beiden Blöcken durch entspannungsfördernde Abkommen eine Diskussion der Mächte über das Deutschland-Problem wenig aussichtsreich ist.Die deutsche Regierung wird darauf achten müssen, daß — wie es in der Regierungserklärung zu Recht heißt — solche Entspannungsmaßnahmen nicht zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Ost und West führen und daß insbesondere bei den West-Ost-Gesprächen jede sich bietende Möglichkeit ergriffen wird, um hinsichtlich der Lösung des Deutschland-Problems Fortschritte zu erzielen. Dabei geht es nicht nur um die Wahrung der deutschen Interessen, sondern es muß auch der gefährlichen Illusion begegnet werden, Ost und West könnten ihren Frieden auf einem zerstückelten Deutschland und auf der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes für das deutsche Volk aufbauen.
Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen steht die deutsche Politik gegenwärtig vor gewaltigen Aufgaben. In gleichem Maße, wie sich im Ostblock Risse zeigten und Gegensätze auftaten, die nicht nur auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und Peking beschränkt blieben, 'geriet auch das westliche Bündnis in eine schwierige Situation. Die Bundesrepublik, deren militärische Sicherheit in be-
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4278 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963
Freiherr von Kühlmann-Stummsonderem Maße von der Geschlossenheit und Stärke der westlichen Allianz abhängt, verfolgt mit Besorgnis die noch immer nicht überwundenen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft über die künftigen Formen der politischen und militärischen Zusammenarbeit. Nachdem zunächst unsere französischen Freunde eine recht eigenwillige Verteidigungsstrategie innerhalb des Bündnisses begannen und konsequent weiterverfolgten, scheint sich auch beim amerikanischen Bundesgenossen erneut eine Wandlung im strategischen Denken zu vollziehen. Die Stärkung der konventionellen Kräfte tritt wieder hinter die Verstärkung der atomaren Feuerkraft, insbesondere bei den Gefechtsfeldwaffen, zurück. Abgesehen davon, daß jede Umrüstung hohe Kosten verursacht, sind mit ihr auch neue strategische Überlegungen und eine andere militärpolitische Beurteilung der Weltlage verbunden. Der Ort, solche Diskussionen auszutragen und zu Beschlüssen zu kommen, ist der NATO-Rat in Paris. Einsame Beschlüsse in Europa, einsame Beschlüsse in den USA gefährden den Zusammenhalt im Bündnis. Die Bundesregierung sollte nachdrücklich auf Klärung der Verhältnisse im NATO-Rat dringen und sich bei den Bündnispartnern darum bemühen, daß durch die Reorganisation der NATO das militärische Bündnis zu einem politischen werden kann. Wir unterstreichen die Auffassung des Bundeskanzlers, daß die Verteidigung des Territoriums der NATO unteilbar ist.Mit Nachdruck unterstützen wir den Satz in der Regierungserklärung, daß unser militärischer Beitrag zur NATO in der Konsolidierung der deutschen Streitkräfte bestehen muß. Von besonderer Wichtigkeit ist die innere Festigung der Truppe und die Gewinnung einer ausreichenden Zahl von Unteroffizieren und Offizieren. Nach fast achtjähriger Erfahrung sind die bisher beschrittenen Wege zu überprüfen und neue zu suchen, um dieses Problem zu lösen. Die Lösung ist nicht so sehr in der finanziellen Besserstellung zu finden als vielmehr in einer Anhebung des Wissens- und Ausbildungsniveaus, so daß mit dem Soldatenberuf das Ansehen des kenntnisreichen, fähigen Mitbürgers verbunden ist.
Die Bundeswehr hat ihren Platz in und nicht neben unserem demokratischen Staatswesen gefunden. Die Männer, die sich nach dem Zusammenbruch für den Aufbau der Bundeswehr zur Verfügung stellten, haben mit einem hohen Maß von Verantwortung und Opferbereitschaft die ersten Aufbaujahre durchschritten. Heute zweifelt niemand mehr an dem demokratischen Charakter unserer Bundeswehr. Ihre Bedeutung für die Verteidigung der Freiheit wird von den Menschen in der Bundesrepublik dankbar anerkannt.
Wir stimmen mit der Ansicht der Regierung überein, daß das kritische Stadium in der europäischen Integration grundsätzlichen Charakter hat und von der — irrigen — Ansicht bestimmt wird, durch eine nur wirtschaftliche Integration ohne politische Bindungen dem praktischen Leben und den staatspolitischen Gegebenheiten der beteiligten Länder gerecht werden zu können. Die Zukunft der EWG ist, wie wir wissen, tatsächlich wesentlich von politischen Entscheidungen abhängig. Mit guten Gründen läßt sich sogar behaupten, daß es zum Zusammenbruch der Verhandlungen mit Großbritannien nicht gekommen wäre, wenn allein Urteile über wirtschaftliche Dinge den Ausschlag gegeben hätten.Es besteht unter den EWG-Partnern Übereinstimmung darüber, daß eine Erweiterung der Gemeinschaft nicht zu ihrer Aufweichung führen darf. Andernfalls könnte eine funktionsfähige Zollunion auf die Dauer nicht verwirklicht werden. Ein derartiges Gebilde bedarf unter den modernen Verhältnissen einer Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik im allgemeinen, einer wirksameren noch, als sie bereits verwirklicht ist.Es wäre gewiß verfehlt, wollten die Wirtschaftspolitiker und die Wirtschaft in der Frage der Erweiterung der Gemeinschaft warten, bis in der hohen Politik das Signal wieder auf grün gestellt ist. Angesichts des vitalen Interesses, das die deutsche Gesamtwirtschaft, aber auch die Wirtschaft anderer EWG-Staaten, an einem weltweit gestreuten Export besitzt, wie überhaupt im Interesse der Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der freien Welt, ist es notwendig, daß die EWG einen weltoffenen Charakter erhält, und zwar nicht erst in fernerer Zukunft, sondern zugleich mit ihrem Aufbau.
Bei allen Maßnahmen, die dem Ausbau der EWG dienen, wird deshalb darauf Bedacht zu nehmen sein, daß eine spätere Erweiterung nicht erschwert wird. Vor allem aber ist es wichtig, daß sich die Gemeinschaft weiterhin dynamisch entwickelt. Hiervon darf erwartet werden, daß der Erwerb der Mitgliedschaft oder eine Assoziierung für andere europäische Staaten attraktiv bleibt.Wir begrüßen es darum lebhaft, daß es sich die Bundesregierung zum Ziele gesetzt hat, die Einigung aller freien europäischen Völker anzustreben sowie durch die Pflege und Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen gegenüber Drittländern aufkommende Spannungen oder gar ein Auseinanderleben der Völker zu verhindern. Die Regierung darf der besonderen Unterstützung der Freien Demokraten bei ihrem weiteren Bemühen sicher 'sein, neben dem Ausbau der Beziehungen zu unseren französischen Freunden die Bande zu Großbritannien zu stärken und zugleich nach Mitteln und Wegen zu suchen, um auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Ländern außerhalb der EWG, insbesondere zu den Vereinigten Staaten, zu intensivieren. Der Ausgang der Kennedy-Runde wird ein Prüfstein für den Erfolg der Bundesregierung bei diesen Bemühungen sein.Innerhalb der EWG sollten wir unsere besondere Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, daß die Gemeinschaft noch immer kein demokratisches Gebilde, sondern eine nur mit Hilfskonstruktionen versehene Organisation ist, in der die Exekutive praktisch ohne jede parlamentarische Kontrolle wirken
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4279
Freiherr von Kühlmann-Stummkann. Nicht zuletzt von dem Wirksamwerden parlamentarischer europäischer Kontrollinstanzen wird es abhängen, ob diese Form der europäischen Zusammenarbeit für den ganzen Kontinent Vorbild und Maßstab sein kann.
Meine Freunde begrüßen es, daß die Bundesregierung die Bedeutung unserer Entwicklungshilfe für die freie Welt in dem gebotenen Maße gewürdigt hat. Wir billigen die Akzente, die sie der künftigen Entwicklungspolitik der Bundesregierung gesetzt hat. Wir teilen ihre Auffassung, daß eine wirksame und dauerhafte Hilfe beim Menschen ansetzen muß. Auch wir meinen, daß den Maßnahmen der Ausbildungs-, Bildungs- und Sozialhilfe besonderes Gewicht zukommt.Wir sind überzeugt, daß auch der Wohlstand auf die Dauer unteilbar ist und daß unser Wohlstand nur wachsen und Bestand haben kann, wenn wir den Völkern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas helfen, sich aus ihrem materiellen Elend zu befreien. Wir können uns der Entwicklungshilfe nicht entziehen. Sie liegt im wohlverstandenen wirtschaftlichen und politischen Eigeninteresse unseres Volkes.Wir sind uns auch mit der Bundesregierung der finanziellen Grenzen bewußt, die angesichts der großen steuerlichen Belastungen unseres Volkes unseren Entwicklungshilfeleistungen gesetzt sind. Wir meinen aber, daß gerade deswegen besonderer Nachdruck auf eine Straffung, Konzentration und Intensivierung der gesamten Maßnahmen der Entwicklungshilfe gelegt und vor allem die private Initiative für diese vielseitige Aufgabe mobilisiert werden muß. Nur so kann ein optimales und nachhaltiges Ergebnis erzielt und Geld gespart werden.Durch eine Hilfe von Staat zu Staat allein können die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme in den Entwicklungsländern nicht gelöst werden. Nur die Gewinnung und das Zusammenwirken aller entwicklungspolitisch aktiven Kräfte kann der Vielfalt dieser Aufgabe gerecht werden.Der Deutsche Entwicklungsdienst, an dem alle diese Kräfte beteiligt sind, findet unsere volle Unterstützung. Das Echo, das seine Gründung in der deutschen Öffentlichkeit gefunden hat, bestätigt unsere Erwartung, daß unsere Jugend noch bereit ist, sich für eine große Aufgabe der Gemeinschaft einzusetzen.
Wir müssen bei den verschiedenen Maßnahmen unsere eigenen Vorstellungen weiter entwickeln und dabei vor allem die Selbsthilfekräfte dieser Völker wecken und stärken. Die nichtstaatliche Entwicklungshilfe, vor allem die Förderung der privaten Initiativen, ist hierfür ein besonders geeignetes Mittel.Das Entwicklungshilfe-Steuergesetz scheint mir zur Mobilisierung der privaten Initiative ein besonders geeignetes Mittel zu sein. Seine Wirkung kann und muß aber durch Parallelmaßnahmen verstärkt werden. Ich denke dabei vor allem auch anden Abschluß von Kapitalförderungs- und Doppelbesteuerungsabkommen mit Entwicklungsländern. Diese Abkommen bedürfen aber gleichfalls einer Straffung, Intensivierung und Beschleunigung. Sie werden jetzt benötigt, nicht erst in 10 Jahren. Ein konzentriertes, jetzt abgeschlossenes Abkommen ist mehr wert als ein perfektioniertes, dessen Abschluß erst nach Jahren möglich ist.Eine Verbesserung der Wirkung der Entwicklungshilfe hat aber auch Maßnahmen auf organisatorischem Gebiet zur Voraussetzung. Das Hohe Haus hat einhellig wiederholt gerade auch auf die Notwendigkeit einer baldigen Lösung dieser Frage hingewiesen. Der Wunsch und Hinweis des Herrn Bundeskanzlers, daß zu enges Ressortdenken überwunden und die Gesamtverantwortung stärker zum Durchbruch kommen möge, findet unsere volle Unterstützung. Sie geben mir und meinen Freunden gleichzeitig die zuversichtliche Erwartung, daß endlich durch eine organisatorisch zweckmäßige und einfache Zuständigkeitsregelung der entwicklungspolitischen Arbeit der Bundesregierung eine größere Wirksamkeit gesichert wird.Der Vorrang der geistigen Investitionen, also der Investitionen auf dem Gebiete der Wissenschaft und Forschung, ist unbestritten. Es wird wichtig sein, als Grundlage der künftigen Wissenschaftspolitik in enger Zusammenarbeit der verantwortlichen Gremien von Bund und Ländern mit dem Wissenschaftsrat vorausschauende mehrjährige Programme aufzustellen, damit ähnlich dem deutschen Atomprogramm für die Nutzung der Kernenergie zumindest für die nächsten fünf Jahre eine Richtung gewiesen ist.Es empfiehlt sich, daß die bewährten Selbstverwaltungsorganisationen der deutschen Wissenschaft, die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften und die deutsche Forschungsgemeinschaft, in einer Partnerschaft von Bund und Ländern zu gleichen Teilen mit den notwendigen Mitteln ausgestattet werden. Als Grundlage für die Zusammenarbeit mit den Ländern halten wir das vorgesehene Verwaltungsabkommen für eine gute Lösung.Es entspricht dem Sinn der Verfassungsvorschriften und auch den praktischen Erfahrungen, wenn große wissenschaftliche und technische Vorhaben, die die Errichtung eines eigenen Forschungszentrums notwendig machen, hauptsächlich vom Bund gefördert werden, wobei selbstverständlich je nach dem Einzelfall auch die Partnerschaft mit einem Land oder mehreren Ländern sowie mit der Wirtschaft anzustreben ist.Im gesamten Bereich der Bildung, der Wissenschaft und der Forschung bedarf es verstärkter internationaler Kontakte. In einer provinziellen Luft gedeihen keine wissenschaftlichen und technischen Leistungen.Wir begrüßen es sehr, daß die Regierungserklärung Grundfragen des Rechts und der Rechtspolitik besonders herausgestellt hat. Die Bundesregierung ist hier, wie auch auf anderen Gebieten, einen neuen Weg gegangen, indem sie sich nicht darauf be-
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Freiherr von Kühlmann-Stummschränkt hat, lediglich Ressortgesichtspunkte zur Geltung kommen zu lassen, sondern in Zusammenarbeit mit den Ressorts zu einer umfassenden Betrachtung des Problems zu kommen. Mit Recht wird in der Regierungserklärung betont, daß das deutsche Volk für die Fragen des Rechts aufgeschlossen ist. Wenn dies in den ersten Jahren nach Schaffung der Bundesrepublik vielleicht noch bezweifelt werden konnte, so hat gerade die jüngste Vergangenheit bewiesen, welch lebhaftes Interesse die deutsche Bevölkerung den Fragen des Rechts entgegenbringt, wie sie insbesondere ein Gefühl dafür hat, daß das Grundgesetz eingehalten werden muß.Der Bundeskanzler hat mit Recht zum Ausdruck gebracht, daß das Vertrauen in unseren Rechtsstaat nur so lange gesichert ist, wie die politisch Verantwortlichen durch ihr eigenes Verhalten das gute Beispiel vorleben.
Die Freien Demokraten treten aus ihrer liberalen Grundhaltung heraus seit eh und je für Sauberkeit und Recht auch im staatlichen Bereich ein.
Unsere Überlegenheit gegenüber dem Zwangssystem des Ostens und gegenüber anderen Zwangssystemen wird auch durch unser Bekenntnis zum Rechtsstaat unter Beweis gestellt. Die Aufrichtigkeit und ,der Wert dieses Bekenntnisses müssen sich täglich neu bewähren. Die Kritik an auftretenden Mißständen und die Überprüfung erhobener Vorwürfe auf ihre Berechtigung sind nicht Zeichen der Schwäche, sondern überzeugender Beweis der Stärke unseres Staates.
Wir würden die Aufgabe des Parlaments verkennen und unserer Verpflichtung aus dem Grundgesetz nicht gerecht werden, wollten wir nicht Fehler, die in der Vergangenheit begangen worden sind, auf ihre Ursachen überprüfen und nach Wegen für ihre Abstellung in der Zukunft suchen. Aus diesem Grunde begrüßen wir es, daß alle Fraktionen in dem jetzt gebildeten Untersuchungsausschuß verantwortungsbewußt und tatkräftig mitarbeiten werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wenden entweder die Unrichtigkeit erhobener Vorwürfe ergeben oder uns die Möglichkeit schaffen, bestehende Mißstände zu beseitigen. Es geht in der Diskussion um den Verfassungsschutz und um andere Organe, die für unsere staatliche Sicherheit zuständig sind, nicht um Personen, sondern allein um die Sicherung der Grundwerte unserer Verfassung.
Am Ende müssen und werden die Stärkung des Vertrauens in unsere rechtsstaatlich-demokratische Ordnung und eine Verbesserung des Schutzes der Sicherheit unseres Landes stehen.Der Abgeordnete o r n meiner 'Fraktion ist hier von einem meiner Vorredner apostrophiert worden. Ich wollte :in diesem Zusammenhang nur daraufhinweisen, daß wir Herrn Dorn dankbar sind für die tatkräftige und konstruktive Mitarbeit in der kleinen Kommission. Ich bin überzeugt, daß unsere Fraktion Herrn Dorn in diesen Untersuchungsausschuß entsenden wird, wenn Herr Dorn selbst bereit ist, dieses Mandat zu übernehmen.
Der ebenfalls apostrophierte Abgeordnete Dürrmeiner Fraktion hat in einer persönlichen Stellungnahme hier seine Meinung zum Ausdruck gebracht.Wir schließen uns der Regierungserklärung darin an, daß sie die allzu große Aufsplitterung unseres Rechtssystems beklagt. Die FDP will in diesem Augenblick nicht die Bundesregierung auf ihre alte Forderung, ein Rechtsprechungsministerium zu schaffen, festlegen, aber sie möchte diese Aussprache dazu benützen, diesen ihren Programmpunkt der Bundesregierung mit auf den Weg zu ,geben. Es würde sicher zu wesentlich größerer Geschlossenheit unseres Rechtslebens beitragen, wenn die rechtsprechende Gewalt nicht durch Ressortzäune ,abgeteilt wäre, sondern einheitlich in einer Spitze ressortieren würde.
Wir begrüßen die Forderung der Bundesregierung, die Notstandsgesetzgebung beschleunigt zu verabschieden. Gerade die im Zusammenhang mit der sogenannten Post- und Telefonaffaire erhobenen Vorwürfe zeigen, wie notwendig es ist, die Vorbehaltsrechte der Alliierten durch deutsche Gesetze abzulösen. Bei der Notstandsgesetzgebung muß vor allem darauf hingewirkt werden, daß das Schutzbaugesetz und das Selbstschutzgesetz vor den anderen Notstandsgesetzen behandelt und verabschiedet werden. Diese Maßnahmen sind sachlich vordringlich. In verschiedenen Ländern der Bundesrepublik sind in den Haushaltsplänen schon beträchtliche Summen für die Zwecke des zivilen Bevölkerungsschutzes ausgewiesen, die nach einer gesetzlichen Grundlage durch den Bundesgesetzgeber verlangen. Das Schutzbaugesetz ist auch deshalb vordringlich, weil ein späterer Einbau der erforderlichen Schutzräume in bereits fertiggestellte Häuser mit erheblichen Mehrkosten verbunden sein wird. Auch die Sicherstellungsgesetze müssen ohne Verzug behandelt werden. Zu der notwendigen Änderung des Grundgesetzes und zu dem Zivildienstgesetz erwarten wir eine klare Stellungnahme der parlamentarischen Opposition, unter welchen Voraussetzungen sie bereit ist, diesen Gesetzen ihre Zustimmung zu geben.Ich habe eingangs auf die Bedeutung des hohen Berufsethos der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes hingewiesen. Wir begrüßen deshalb die Erklärung der Bundesregierung, daß sie die Besoldungseinheit im öffentlichen Dienst um der inneren Gerechtigkeit willen herstellen will. Wir bitten die Bundesregierung hier vor diesem Hohen Hause, sich zu der von uns erhobenen und vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Forderung zu bekennen, daß auch der öffentliche Dienst an der
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Freiherr von Kühlmann-Stummwirtschaftlichen Gesamtentwicklung angemessen zu beteiligen ist.
Wir halten es für unbedingt erforderlich, daß die Zahlung des Weihnachtsgeldes an die Bundesbeamten und Versorgungsberechtigten sichergestellt wird. Wir werden in dieser Legislaturperiode die Fragen der strukturellen Überleitung und der sogenannten Doppelversorgung ebenso einer befriedigenden Lösung zuzuführen haben wie die Probleme der 131er-Gesetzgebung durch die Vorlage einer 4. Novelle.Die Ordnung unserer Gesellschaft stützt sich auf alle Schichten der Bevölkerung. Dem muß die gesellschaftspolitische Konzeption der Bundesregierung Rechnung tragen. Die Gemeinschaftsleistung unseres Volkes ist undenkbar ohne den Fleiß, die Zuverlässigkeit und den Leistungswillen der Arbeiter und Angestellten, ohne die schöpferischen Kräfte in Wissenschaft und Kultur, ohne die unternehmerische Initiative der Selbständigen in Handel, Handwerk, Gewerbe, freien Berufen und Bauerntum und ohne das Berufsethos der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes. Die unternehmerischen Impulse, die von allen Schichten unseres Volkes ausgehen, haben den Wiederaufbau nach dem Kriege ermöglicht. Vorurteile und Vorbehalte gegen die gesellschaftliche Entwicklung, wie etwa das Anwachsen der Zahl der Angestellten, sind ebenso fehl am Platze wie der Versuch, mit sozialromantischen oder gar ideologischen Vorstellungen die gesunde gesellschaftspolitische Entwicklung zu korrigieren.In den Gesetzen des Sozialpakets muß diese Erkenntnis sichtbaren Ausdruck finden. Die Stärkung der Selbstverantwortung in der Krankenversicherung 'ist das selbstverständlichste Gebot der Anerkennung des Willens mündiger Menschen in einer freien Gesellschaft. Die Erkenntnis, daß Selbstverantwortung nur auf der Basis sozialer Gerechtigkeit übernommen werden kann, möge alle diejenigen beruhigen, ,die ein zusätzliche Belastung kleiner und mittlerer Einkommensempfänger befürchten. Der Wille zu sozialer Gerechtigkeit wind in dem Bekenntnis der Bundesregierung zum Familienlastenausgleich deutlich. Das Kindergeldgesetz wird von vielen Familien wegen der Verbesserungen, die es mit .sich bringen wird, sehnlichst erwartet. Die vorgesehene Übernahme der Aufbringung des Kindergeldes auf den Haushalt erfüllt eine alte Forderung der Freien Demokraten. Wir alle kennen die schwere Belastung vor allem der lohnintensiven mittelständischen Betriebe mit den Abgaben an die Familienausgleichskassen.Die materielle Gleichstellung der Arbeiter im Krankheitsfalle ist heute schon Wirklichkeit. Sie wird von niemandem ernsthaft bestritten; es geht allein darum, sie praktikabler zu gestalten. Nach unserer Auffassung ist keinem Arbeiter damit gedient, wenn für die Lohnfortzahlung eine Form gefungen wird, die in einer ungleichmäßigen Belastung und Risikoverteilung den lohnintensiven mittelständischen Betrieben an Stelle der Abgaben an dieFamilienausgleichskassen neue Bürden zumutet. Wir halten nach wie vor eine versicherungsrechtliche Lösung für die sinnvollste, zweckmäßigste und gerechteste Form der Gleichstellung der Arbeiter im Krankheitsfalle.
Es wird hier in besonderem Maße deutlich, wie notwendig die von der Bundesregierung angekündigte Durchführung einer Sozialenquete ist. Wir begrüßen diese Absicht, deren Verwirklichung wir seit langem fordern. Der Forderung nach einer Sozialenquete liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die Leistungskraft unseres Volkes ausreicht, alle Erfordernisse sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen, daß es allein darum geht, das Leistungsergebnis sinnvoll und von der Struktur der Gesellschaft her gesehen richtig einzusetzen. Wenn eine Sozialenquete nicht nur Tatbestandsaufnahme sein, sondern in die Zukunft hinein wirken soll, dann müssen vor jedem größeren Gesetzgebungsvorhaben Modelluntersuchungen stattfinden. Auf unsere Initiative hin ist im Frühjahr 1962 ein besonderer Kabinettsausschuß gebildet worden, der die finanziellen Auswirkungen des Sozialpakets und der Kriegsfolgelasten überprüfen soll.Der Wille der Bundesregierung, der von den Freien Demokraten auf das entschiedenste unterstützt wird, ist darauf gerichtet, für das Jahr 1964 einen Haushaltsplan vorzulegen, der den bestehenden Möglichkeiten Rechnung trägt und für den die Erhaltung der Kaufkraft der Währung oberstes Gesetz ist. Wir sind mit der Bundesregierung der Meinung, daß dieses Ziel nur dann erreicht werden kann, wenn Regierung und Parlament den Mut haben, sich über eine Rangordnung der Werte zu verständigen. Das deutsche Volk wird auf die Dauer einen solchen Schritt mit vollem Verständnis aufnehmen und unterstützen. Das Echo der Regierungserklärung bestärkt uns in dieser Zuversicht. Ist für die Festlegung des Haushaltsvolumens die Steigerung ' des Sozialprodukts bestimmend, so muß für die Festlegung der Rangordnung der Grundsatz der Gerechtigkeit maßgebend sein.Wir bekräftigen unsere Überzeugung, daß die Beseitigung der Kriegsfolgen 18 Jahre nach Beendigung des Krieges vordringlichstes sozialpolitisches Ziel ist.
Von dieser grundsätzlichen Einstellung her fordern wir eine baldige Verabschiedung des Zweiten Neuordnungsgesetzes zur Kriegsopferversorgung ebenso wie den Abbau des Unterschieds zwischen der Versorgung der Opfer des Krieges und der Unfallopfer. Wir haben in der Vergangenheit für den Berufsschadensausgleich für Beschädigte und Hinterbliebene gekämpft. Der Gedanke des Berufsschadensausgleichs — das begrüßen wir ausdrücklich — ist in den Regierungsentwurf aufgenommen worden, und er findet auch in den anderen Fraktionen dieses Hohen Hauses immer mehr Verständnis und Unterstützung. Die Übernahme des Kriegsopferhaushalts in den Verteidigungshaushalt sollte endlich vollzogen werden. Im Rahmen der Kriegsfolgengesetz-
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Freiherr von Kühlmann-Stummgebung gilt unsere besondere Aufmerksamkeit der weiteren Eingliederung der Heimatvertriebenen, Flüchtlinge, Kriegssachgeschädigten, Kriegsgefangenen und der ehemaligen politischen Häftlinge. Es wird auch in Zukunft unser unabänderliches Ziel bleiben, die Sowjetzonenflüchtlinge im Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht den Heimatvertriebenen gleichzustellen. Wir sehen in der Förderung der Geschädigten aus dem selbständigen Mittelstand auch einen Teil unserer Gesellschaftspolitik. Ich denke hier besonders an die beschleunigte Abwicklung der Hauptentschädigung, an die neue Konzeption für die Selbständigen, den Zuschlag zur Unterhaltshilfe, an den zweiten Fünfjahresplan für vertriebene und geflüchtete Bauern, aber auch an das dem Hohen Hause vorliegende Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Deutsche aus der Sowjetzone und an das Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz.Unser herzlicher Dank gilt an dieser Stelle der Arbeit und dem Wirken unseres Freundes Wolfgang Mischnick an der Spitze des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.
Er wird sich im Deutschen Bundestag mil dem gleichen Elan und mit der gleichen Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit für diejenigen einsetzen, die an den Kriegsfolgelasten noch heute zu tragen haben. Sein Nachfolger im Amt kann seiner Unterstützung sicher sein.
Die angekündigte Sozialenquete wird an den Hinweisen auf die Veränderung der Rentensituation nicht vorbeigehen können, die sich aus der Änderung unserer Alterspyramide, dem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft, der höheren Lebenserwartung und dem späteren Eintritt ins Erwerbsleben ergeben. Eine sachgemäße Beratung aller hiermit zusammenhängenden Fragen im Parlament erfordert eine sorgfältige Überprüfung der Entwicklung der Rentenversicherungsträger und die im Gesetz vorgeschriebene rechtzeitige Vorlage der versicherungstechnischen Bilanzen. Das Bekenntnis der Bundesregierung zur Stärkung der Selbstverantwortung, die Absicht, eine Rangordnung der Werte zu schaffen, machen es unumgänglich, daß den Versicherungsnehmern der Altlebensversicherungen, die ihren Willen zur Selbstvorsorge unter Beweis gestellt haben, eine Antwort auf die Frage nach der Aufwertung der Altlebensversicherungen gegeben wird.
Die Unabhängigkeit des einzelnen, seine Freiheit in der Gesellschaft und die Stärkung seines Willens zur Selbstverantwortung können am besten gesichert werden durch die Förderung einer breit gestreuten Eigentumsbildung. In der Bildung von Eigentum in der Hand der Bürger wird der Leistungserfolg des einzelnen am deutlichsten sichtbar. Hier hat der Staat eine große gesellschaftspolitische Aufgabe. Ihre erfolgreiche Lösung sichert die heute schon für jeden sichtbare Überlegenheit unsererdifferenzierten Leistungsgesellschaft über jede Form des Kollektivismus.Die schon erwähnte Sozialenquete wird zeigen, wo das Einkommen gerade der kleinen und mittleren Einkommensempfänger unnötig mit Sozialabgaben belastet isst. Die Bundesregierung hat recht, wenn sie unterstreicht, daß jede Bildung von Eigentum Sparen und Konsumverzicht voraussetzt. Die Sparfähigkeit darf aber nicht durch eine fortschreitende Sozialisierung des Lohnes beeinträchtigt werden. Die von den Freien Demokraten seit langem geforderte und jetzt vor ihrer Verwirklichung stehende Beseitigung des sogenannten Mittelstandsbogens bei der Einkommensteuer wird die Sparfähigkeit breiter Schichten unseres Volkes verstärken. Sie kommt allen, unabhängig davon, ob sie selbständig oder nicht selbständig tätig sind, in gleicher Weise zugute. Darum werden wir die von dem Bundesfinanzminister beabsichtigte Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs nachdrücklich unterstützen. Hier wird ein in hervorragendem Maße gesellschaftspolitisches Anliegen erfüllt.Die Harmonisierung der verschiedenen Sparförderungen muß unbedingt noch in dieser Legislaturperiode vorgenommen werden. Jede Eigentumsförderung muß für den, der bereit ist, zu sparen und Konsumverzicht zu leisten, in gleicher Weise zugänglich sein. Die Bundesregierung wird dieser Erkenntnis Rechnung tragen müssen, wenn sie die möglichen Formen der Sparförderungen gegeneinander abwägt. Die Gesetze über Bausparprämien und Sparprämien entsprechen in ihrer Anlage und im Grundsatz dieser Forderung.
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Sie meinen, ich hätte in der Regierungserklärung keine präzisen Aussagen geleistet,
aber ich habe z. B. zu der Sozialgesetzgebung ganz deutlich jene Grundsätze herausgestellt, die ich bei der Behandlung und Verabschiedung dieser Gesetze berücksichtigt sehen möchte. Und, Herr Erler, es ist Ihnen ja auch nichts anderes übrig geblieben — hier sind wir in der gleichen Situation —: Sie haben sich ja auch damit begnügen müssen, Thesen vorzutragen. Wir leben eben in keinem kommunistischen Staat, wo man sechs Stunden sprechen kann.So ergab sich die Beschränkung von selbst und das auch aus dem Respekt vor den notwendigen Abklärungen, die erst noch erfolgen müssen, sei es zwischen der Koalition, sei es in diesem Hohen Hause überhaupt.Es sind nicht in allen Dingen präzise Aussagen zu leisten. Wenn ich mir Ihren Katalog ansehe, den Sie für das, was an Gemeinschaftsaufgaben vor uns liegt, vorgetragen haben und mit dem ich einverstanden sein kann, dann kann ich nur sagen: das war auch kein Katalog von zwei Jahren, sondern ein Programm, das auch in weitere Ferne zielt,Lassen Sie mich noch etwas ganz deutlich sagen. Wenn wir alle die Gemeinschaftsaufgaben bzw. die gemeinsamen Aufgaben so stark in den Vordergrund stellen, dann spüren wir wohl alle, gleich, ob Koalition oder Opposition, etwas davon, daß wir alle in der Vergangenheit vielleicht allzusehr nur in Gruppenegoismen gedacht und sie vertreten haben. Das mag entschuldbar und auch aus der Situation wohl zu begründen sein, wie sie sich aus dem Aufstieg vom Punkt Null an ergeben hat. Aber es wäre wirklich gut, wenn wir es alle verspüren würden, daß die Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben eben auch einmal das Zurückstellen des Einzelinteresses und der Gruppeninteressen im ganzen erfordert.
Ich glaube, mehr Mut kann ich nicht aufbringen, als zu sagen: Wenn all das, was auch Sie aufgezeigt haben, all das, was uns bewegt — und ich rechne sogar all das dazu, was noch an Beseitigung von menschlichen Notständen erforderlich ist —, verwirklicht werden soll, dann werden wir — ich zitiere mich jetzt selbst — entweder uns bescheiden oder mehr arbeiten müssen. Ich sage es noch einmal! Glauben Sie denn, daß dies das deutsche Volk nicht
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhard
Die Leistungen im Wohnungsbau sind meiner Ansicht nach von Ihnen nicht voll gewürdigt worden. Mehr konnte einfach technisch nicht herausgearbeitet werden, als wir erfüllt haben. Und über die Wirkungen dieser oder jener Maßnahme — wie z. B. der Freigabe der Altbaumieten — wollen wir uns einmal im Jahre 1965 unterhalten. Ich habe so etwas schon einmal erlebt, im Jahre 1948.
Im übrigen habe ich nicht daran gedacht, etwa das bestehende gemeinnützige Wohnungseigentum anzutasten. Man kann aber wohl darüber sprechen, ob man dabei für die Zukunft nicht mehr das individuelle und private Wohnungseigentum fördern oder berücksichtigen könnte.
Und die materielle Grundhaltung unseres Volkes? Ja, Herr Kollege Erler, wem sagen Sie das? Ich spreche das nicht erst seit dem Jahre 1961 aus, sondern mahnte schon sehr viel früher. Sie können es in meinen Büchern nachlesen, daß ich schon, beginnend ab 1957, diese Gefahren aufgezeigt und immer wieder den Finger erhoben habe. Ich habe mir sogar manchen Spott gefallen lassen müssen — mit „Seelenmassage" und dergleichen mehr. Aber das hat mich alles nicht angefochten; denn das, was Sie dazu sagten, ist wahr. Problematisch ist, was Sie dazu ausführten: „Es War gerade die bisherige Regierungspolitik, die zu dieser materiellen Grundhaltung beigetragen und das Geldverdienen als wesentliches Zeichen des Wohlstandes ideologisch aufgewertet hat." Ja, um zu Wohlstand zu gelangen, muß man Geld verdienen, und um Geld zu verdienen, muß man arbeiten. Diese Dinge hängen unlösbar zusammen, sie bringen Sie nicht auseinander. Es kommt bloß darauf an, aus welcher geistigen und moralischen Einstellung heraus Sie an die Probleme herangehen. Ich glaube und hoffe, daß wir uns da näherkommen.Ich spiele nicht gern Pharisäer und klage irgend jemanden an, bloß weil er Geld verdient hat. Nein, das war sein gutes Recht. Wenn wir aber nicht Geld verdient hätten, wären wir ja auch nicht zu Wohlstand gekommen, hätten wir die sozialen Leistungen nicht tätigen können und hätten nicht Sicherheit gewonnen und alles, was sich daran knüpft.Und nun ein Satz — es ist ein klassischer Satz, er könnte von mir sein;
— nicht daß er deshalb klassisch ist, um das zu sagen —,
nämlich: Die moderne Sozialpolitik ist keine Notstands-, sondern eine Wohlstandspolitik. Hundertprozentig einverstanden und richtig! Aber das hat auch Konsequenzen!
Denn eine soziale Notstandspolitik ist anders ausgerichtet, muß nach anderen Regeln und nach anderen Gesetzen und Maßstäben handeln als eine soziale Wohlstandspolitik. Zur Wohlstandspolitik gehört es, dem Menschen, der es vermag und der gerade über wachsenden Wohlstand zum Bewußtsein seiner Kraft und auch seiner Würde gekommen ist, dann auch ein Mehr an Verantwortung aufzubürden und ihn Gewissen bezeugen zu lassen.
Wenn wir uns darüber einig sind, dann werden wir uns in vielem verständigen können.Sie sagten, Sie wünschten dem Bundeskanzler Erfolg in seinen Bestrebungen im Interesse des deutschen Volkes.
Seien Sie auch überzeugt: ich wünsche mir keine Niederlage der Opposition, bloß weil sie Opposition ist. Ich habe das Verhältnis von Opposition und Regierung und Koalition ja schon gewürdigt. Meine Damen und Herren, über die Wahrung der demokratischen Grundregeln haben meiner Ansicht nach wir alle zu wachen: Regierung und alle Frak-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4287
Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhardtionen, gleichgültig ob Koalition oder Opposition. Aber sie hat hier auch keinen höheren Rang. Wenn es um die Wahrung der Verfassung geht, um die Wahrung des Grundgesetzes, um die Wahrung der Gesetze und um die Erhaltung der staatsbürgerlichen Rechte, dann wollen wir auch hier wetteifern, Gesetz und Recht zu respektieren. Ich versichere Ihnen noch einmal, daß ich als Chef dieser Regierung alles, aber auch alles tun werde, um die Überzeugung in die Rechtsstaatlichkeit und in die Gerechtigkeit in diesem Lande zu festigen.
Damit ist die Aussprache über die Erklärung der Regierung beendet und die heutige Tagesordnung erledigt. Wir haben morgen noch die Fragestunde zu Ende zu bringen.
Ich berufe die 93. Sitzung auf Freitag, den 25. Oktober, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.