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ID0409215300

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    Deutscher Bundestag 92. Sitzung Bonn, den 24. Oktober 1963 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 4231 A Fragestunde (Drucksache IV/1541) Frage des Abg. Fritsch: Familienausgleichskasse des nordwestdeutschen Baugewerbes in Berlin Dr. Claussen, Staatssekretär . 4231 B, D, 4232 A Langebeck (SPD) 4231 C Gerlach (SPD) 4232 A Frage ,des Abg. Fritsch: Erwerbsunfähigkeitsrente in der Rentenversicherung Dr. Claussen, Staatssekretär . . 4232 B Langebeck (SPD) 4232 B Frage der Abg. Frau Meermann: Teilzeitbeschäftigung und Rentenansprüche Dr. Claussen, Staatssekretär . . 4232 C, D Frau Meermann (SPD) 4232 D Frage der Abg. Frau Meermann: Informationsmappe „Schwarz auf weiß" und neues Mietrecht Lücke, Bundesminister 4232 D, 4233 B, C, D, 4234 A, B Frau Meermann (SPD) 4233 A Jacobi (Köln) (SPD) . . . . . 4233 B, C Geiger (SPD) 4233 C Börner (SPD) 4233 D Büttner (SPD) 4234 A Frau Dr. Kiep-Altenloh (FDP) . . 4234 B Frage des Abg. Hammersen: Zweites Wohnungsbaugesetz Lücke, Bundesminister . . . 4234 C, D, 4235 A, B Hammersen (FDP) . . . 4234 D, 4235 A Jacobi (Köln) (SPD) . . . . 4235 A, B Frage des Abg. Hammersen: Förderung des Fertigbaues Lücke, Bundesminister . 4235 C, 4236 B Hammersen (FDP) . . . . . 4236 A, C Frage des Abg. Jacobi (Köln) : Bestimmungen gegen Mietwucher Lücke, Bundesminister . . . . . 4236 D, 4237 C, D, 4238 A, C Jacobi (Köln) (SPD) . . 4236 D, 4237 B Hammersen (FDP) . . . . . . . 4237 C Wehner (SPD) . . . . . . . 4238 A, B Frau Meermann (SPD) . . . . 4238 C II Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 Frage des Abg. Jacobi (Köln) : Verhalten gegenüber Mietwucherern Lücke, Bundesminister . . . . . 4238 D, 4239 A, B, C, D, 4240 A Jacobi (Köln) (SPD) . . . . . . 4239 A Mick (CDU/CSU) . . . . . . . 4239 B Frau Berger-Heise (SPD) . . . . . 4239 C Dr. Czaja (CDU/CSU) 4239 D Büttner (SPD) . . . . . . . . 4240 A Frage der Abg. Frau Meermann: „Angemessen erhöhte" Miete Lücke, Bundesminister 4240 B Frau Meermann (SPD) 4240 B Frage des Abg. Wegener: Ehemalige Meierei-Kasernen im Landkreis Detmold Dr. Dollinger, Bundesminister . . . 4240 C Fragen des Abg. Felder: Rückgabe von Kunstschätzen Dr. Dollinger, Bundesminister . . . 4240 D, 4241 B, C Felder (SPD) . . . . . . . 4241 A, C Frage des Abg. Sander: Gutachten betr. Grundbesitz der Salzgitter-AG Dr. Dollinger, Bundesminister . . . 4241 D, 4242 A Sander (FDP) 4241 D, 4242 B Frage des Abg. Schmitt-Vockenhausen: Mehrleistungen bei der Deutschen Bundesbahn Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 4242 B, D, 4243 A Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . . 4242 D, 4243 A Frage des Abg. Regling: Eisbrecher im Ostseeraum . . . . . 4243 A Frage des Abg. Müller-Hermann: Kauf eines Eisbrechers Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 4243 B, C, D Müller-Hermann (CDU/CSU) . . . 4243 C Ritzel (SPD) . . . . . . . . . 4243 D Schriftlicher Bericht (des Außenhandelsausschusses über den Vorschlag der Kommission der EWG für eine Verordnung des Rats der EWG zur Änderung der Verordnung Nr. 54 des Rats in bezug auf die Festsetzung der Prämiensätze und der Abschöpfungsbeträge im voraus bei Getreideeinfuhren aus dritten Ländern (Drucksachen IV/1547, IV/1556) . . . . 4244 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. von Brentano (CDU/CSU) . . . 4244 B Vizepräsident Dr. Jaeger . . . 4248 A Erler (SPD) 4257 A Präsident D. Dr. Gerstenmaier . . 4258 B, 4274 A Dürr (FDP) (gem. § 36 GO) . . . . 4275 B Freiherr von Kühlmann-Stumm (FDP) 4275 C Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundeskanzler 4284 D Nächste Sitzung 4287 C Anlagen 4289 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4231 92. Sitzung Bonn, den 24. Oktober 1963 Stenographischer Bericht Beginn: 9.02 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4289 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt his einschließlich a) Beurlaubungen Dr. Aligner 8. 11. Dr. Aschoff 9. 11. Dr. Arndt (Berlin) 31. 12. Dr. Atzenroth 27. 10. Dr. Barzel 25. 10. Berlin 20. 11. Biermann 26. 10. Fürst von Bismarck 25. 10. von Bodelschwingh 26. 10. Buchstaller 31. 10. Dr. Burgbacher 31. 10. Dr.. Danz 24. 10. Deringer 25. 10. Dr. Dörinkel 25. 10. El. ren 4. 11. Eisenmann 25. 10. Dr. Fritz (Ludwigshafen) 25. 10. Frau Geisendörfer 26.10. Gewandt 8. 11. Dr. Gleissner 25. 10. Goldhagen 16. 11. Haage (München) 25. 10. Hahn (Bielefeld) 8. 11. Frau Dr. Heuser 25. 10. Hoogen 25. 10. Dr. Haven 25. 10. Kahn-Ackermann 15. 11. Kalbitzer 25. 10. Dr. Kempfler 25. 10. Frau Klee 24. 10. Koenen (Lippstadt) 31. 10. Dr. Kreyssig* 24. 10. Dr. Mälzig 25. 10. Margulies 4. 11. Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 25. 10. Metzger 14. 11. Missbach 25. 10. 011enhauer 31. 12. Frau Pitz-Savelsberg 25. 10. Frau Renger 24. 10. Richarts* 25. 10. Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Ruland 25. 10. Schlee 25. 10. Dr. Schneider (Saarbrücken) 25. 10. Schoettle 31. 10. Schultz 24. 10. Spitzmüller 24. 10. Frau Strobel 25. 10. Weber (Georgenau) 15. 11. Weinkamm* 25. 10. Werner 10. 11. b) Urlaubsanträge Fritsch 30. 11. Anlage 2 Schriftliche Antwort des Herrn Bundesministers Schwarz vom 22. Oktober 1963 auf die Zusatzfrage des Abgeordneten Dürr zu der Mündlichen Anfrage des Abgeordneten Schultz **). Die Beratungen der Regierungssachverständigen der Mitgliedstaaten über eine Gemeinschaftsregelung für Qualitätsweine bestimmter Anbaugebiete, die nach Artikel 4 der Verordnung Nr. 24 vom 9. April 1962 der Rat erläßt, sind vor ca. einem Jahr aufgenommen worden. Bisher konnte jedoch über die von der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorgelegten Entwürfe nicht in allen Punkten eine Einigung erzielt werden. Nach Auskunft des zuständigen Referenten der Kommission wird diese in Kürze dem Rat einen Verordnungentwurf vorlegen. Die noch offenstehenden Fragen sollen bei der Beratung des Entwurfs vom Rat entschieden werden. Es kann daher damit gerechnet werden, daß der Rat in absehbarer Zeit eine Gemeinschaftsregelung für Qualitätsweine bestimmter Anbaugebiete erläßt. *) Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments. **) Siehe 84. Sitzung Seite 4103 C.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heinrich von Brentano


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Meine Damen und Herren, unsere verfassungsmäßige Ordnung, die Verfassungswirklichkeit werden weitgehend auch von dem Verhältnis zwischen Bund und Ländern bestimmt. Der Bundeskanzler hat mit großem Nachdruck von dem elementaren Interesse gesprochen, ,das er dem guten Verhältnis zwischen Bund und Ländern beimißt. Ich begrüße diese Feststellung und auch die Ankündigung der Bundesregierung, daß der Bundeskanzler regelmäßig mit den Ministerpräsidenten der Länder zusammenkommen will, um gemeinsame Probleme und gemeinsame Aufgaben in freundschaftlichem Geiste zu besprechen und zu lösen. Dias gilt einmal für die finanziellen Besprechungen zwischen Bund und Ländern. Die Auseinandersetzung über die Höhe des Bundesanteils an der Einkommen- und Körperschaftsteuer muß versachlicht werden. Ich unterstreiche die Feststellung des Bundeskanzlers, daß die Vorarbeiten für eine Finanzreform unverzüglich wieder aufgenommen werden müssen.
    Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ist im Grundgesetz geregelt, das insbesondere auch die Zuständigkeiten verteilt. Es scheint mir müßig, heute darüber nachzudenken, ob jede Regelung, die das Grundgesetz getroffen hat, der Weisheit letzter Schluß war. Wir leben unter .dem Grundgesetz, das wir anerkennen und sorgfältig respektieren werden.
    Aber über .den Geist, der die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bestimmen muß, kann auch eine Verfassung keine Auskunft geben. Viel-
    mehr müssen sich alle Beteiligten bemühen, sich der gemeinsamen Verpflichtung bewußt zu sein. Eine ,gesunde Finanz- und Wirtschaftspolitik des Bundes setzt wirtschaftlich und finanziell gesunde Länder und Gemeinden voraus. Aber es besteht eine .unbestreitbare Interdependenz, und niemand wird leugnen wollen, daß ,die Entwicklung in den Ländern und in den Gemeinden von der Bundespolitik ausschlaggebend mitbestimmt wird.
    Dabei geht es nicht nur um finanzielle Fragen, so wichtig sie sind. Die Regierungserklärung hat mit Recht auch das weite Gebiet des Bildungswesens, der Forschung und der Wissenschaft angesprochen. Um Mißverständnisse von vornherein auszuschließen, möchte ich eindeutig feststellen, daß alle Erwägungen, die meine Freunde und ich in diesem Zusammenhang anstellen, von der Zuständigkeitsverteilung ausgehen, die das Grundgesetz bestimmt hat. Aber wir haben uns die Frage vorzulegen, ob wir nicht alle, Bund, Länder und Gemeinden, auf diesem Gebiet hätten mehr tun müssen oder doch in Zukunft in gegenseitiger Abstimmung mehr werden tun müssen.
    In der ersten Phase des Wiederaufbaus eines deutschen Staates mußten alle Kräfte zur Sicherung der physischen Existenz unseres Volkes eingesetzt werden. Zwangsläufig lag das Gewicht auf ,dem Aufbau unserer Wirtschaft, der Schaffung von Arbeitsplätzen, dem Wohnungsbau, der Linderung sozialer Not und der Sicherung des Friedens und der Freiheit. ,Die großen Erfolge, die diese Aufbauarbeit gezeitigt hat, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß unser Volk in den nächsten Jahren eine Anstrengung unternehmen muß, die alle seine Kräfte in Anspruch nehmen wird, um sein Leben auch für die Zukunft zusichern. Die Fortentwicklung der deutschen Wirtschaft, der soziale Aufstieg für breite Schichten unseres Volkes, ,die Konkurrenzfähigheit unserer Wirtschaft, auch unserer Landwirtschaft, die Erhaltung unseres Lebensstandards, die Wirksamkeit unserer Landesverteidigung, alles das hängt nicht zuletzt von der Leistung unserer Wissenschaft und unserer Bildungseinrichtungen ab. Es ist eine ,alarmzierende Feststellung, daß heute in anderen europäischen Ländern ein erheblich höherer Prozentsatz von Jugendlichen die höheren Schulen absolviert.

    (Hört! Hört! bei ,der SPD.)

    Es ist ein unerträglicher Zustand, wenn die Hochschulen den bildungswilligen jungen Menschen den Zugang versagen müssen, weil ihre Kapazität auf die gegenwärtigen Bedürfnisse unserer Gesellschaft noch nicht eingestellt ist.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU und der SPD.)

    Es ist beunruhigend, wenn trotz der hohen Leistung unserer Wirtschaft, die in den gewaltigen Ausfuhrziffern ihren Ausdruck findet, in den vergangenen Jahren, wie ich mir sagen ließ, nur noch wenige internationale Patente angemeldet wurden. Und es ist auch bedrückend, daß Auszeichnungen wie etwa der Nobel-Preis für schöpferische wissenschaftliche Leistungen nur noch selten einem deutschen Wis-



    Dr. von Brentano
    senschaftler zuteil wurden. Das deutsche Volk lebt auf einem kleinen Raum, und nur durch seine Leistung kann es seine große Bevölkerung ernähren und den Lebensstandard halten und verbessern. Es hat aber auch eine hohe Verpflichtung gegenüber seiner Kultur, die nicht nur für das eigene Volk, sondern im Rahmen des kulturellen Austauschs und der wissenschaftlichen Zusammenarbeit für die ganze Menschheit fruchtbar gemacht werden muß.
    Aus diesen Überlegungen ergibt sich für die nächste Epoche unseres staatlichen Lebens als eine der vordringlichsten Aufgaben der Ausbau unserer Wissenschaft und unseres Bildungswesens. Wir müssen zu Opfern bereit sein, um diese Aufgabe zu bewältigen. Alle Investitionen auf diesem Gebiete kommen dem ganzen deutschen Volk und der kommenden Generation zugute. Wenn wir uns nicht zu großzügigen Maßnahmen entschließen, wird uns ein kommendes Geschlecht anklagen, wir hätten über dem Wohlleben des Augenblicks das Glück unserer Zukunft vergessen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.)

    Natürlich kann der Ausbau des Bildungswesens nur in engster Zusammenarbeit von Bund und Ländern gelöst werden. Es wäre unverantwortlich, wenn wir über Kompetenzschwierigkeiten nicht zum gemeinsamen Handeln kommen würden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Niemand wird in Zukunft eine solche Erklärung als Entschuldigung annehmen.
    Selbstverständlich erkennen wir vorbehaltlos an, was die Länder in Ausübung der ihnen zustehenden Kulturhoheit auf diesem Gebiete bisher geleistet haben. Aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Leistungen entsprechend der allgemeinen Entwicklung heute nicht mehr ausreichen. Der Ausbau der Wissenschaft und des Bildungswesens muß von unserem Volk als eine vordringliche nationale und gemeinsame Aufgabe erkannt und mit Überzeugung in Angriff genommen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Bund will und wird nicht Kompetenzen in Anspruch nehmen, die ihm nicht zustehen; aber er wird und muß im Rahmen der ihm auch vom Grundgesetz erteilten Aufgaben als Motor wirken und unterstützen.
    Die bestehenden zentralen wissenschaftlichen Organisationen — ich denke an die Deutsche Rektorenkonferenz, den Wissenschaftsrat, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und andere — sollten aufgefordert werden, sich an dieser gemeinsamen Aufgabe zu beteiligen.

    (Zurufe von der SPD.)

    — Ich glaube, wir haben nachher noch Gelegenheit, alle diese Dinge zu diskutieren, meine Herren. Warum sind Sie so nervös und so eilig?

    (Zurufe von der SPD.)

    Einen beträchtlichen Teil ihrer Ausführungen widmet dann die Regierungserklärung der Außenpolitik. Mit Recht stellt Bundeskanzler Professor Erhard
    fest, daß ' seine Amtsübernahme in eine weltpolitische Phase falle, in der sich Veränderungen im Ost-West-Verhältnis abzeichnen. Sicherlich haben wir alle den Wunsch, daß diese Analyse richtig sein möge. Aber mit Recht warnt die Regierungserklärung vor falschen und gefährlichen Illusionen.
    Weder zwischen Bundesregierung und Parlament, noch zwischen Mehrheit und Minderheit gab es in den vergangenen Jahren eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß die vorsichtigen Kontaktgespräche, die von den Vereinigten Staaten und auch Großbritannien mit der Sowjetunion geführt werden, fortgesetzt werden sollten. Gewisse Hoffnungen hatten sich auch an die Genfer Konferenz geknüpft. Man glaubte und man wünschte, daß es doch zu Vereinbarungen über eine wirksam kontrollierte Abrüstung kommen werde, weil wir uns alle darüber im klaren waren, daß der Erfolg nur in Etappen und in Teilabkommen erzielt werden könne. Die Genfer Abrüstungsverhandlungen sind, wie alle konstruktiven Ideen und Vorschläge des Westens in den letzten 15 Jahren, an dem kategorischen Nein der Sowjetunion gescheitert. Das Moskauer Abkommen, das die Bundesregierung unterzeichnet hat und das der Bundestag sicherlich ratifizieren wird, darf keine falschen Hoffnungen wecken. Wir müssen uns klar sein, daß dieses Abkommen nur einen Teil der Atomversuche berührt, und wir müssen mit Bedauern feststellen, daß von einer irgendwie gearteten Kontrolle in diesem Abkommen nicht die Rede ist. Den Versuch der Sowjetunion, dieses Abkommen zu mißbrauchen, um durch eine Hintertüre die sowjetisch besetzte Zone als selbständiges Völkerrechtssubjekt in die Weltpolitik einzuführen, diesen Versuch haben unsere Verbündeten durch die unmißverständlichen Erklärungen, die Außenminister Dean Rusk und der damalige Außenminister und jetzige Premierminister Lord Home abgegeben haben, verhindert.
    Ich möchte aber diese Debatte nicht vorübergehen lassen, ohne noch einmal den klaren und eindeutigen Standpunkt meiner politischen Freunde in dieser Frage darzulegen.
    Aufgabe und Ziel der gemeinsamen Deutschland-Politik der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten sind im Deutschland-Vertrag niedergelegt. Die Erklärung der drei Westmächte und der Bundesrepublik zur Wiedervereinigung, die am 29. Juli 1957 in Berlin unterzeichnet wurde, ist unverändert gültig. Ich habe das unbedingte Vertrauen zu allen unseren Bündnispartnern, daß sie zu dieser Erklärung stehen und daß sie ihre Politik nach dem Inhalt dieser Erklärung auch ausrichten.
    Unverändert gültig muß für die deutsche Außenpolitik auch die Erklärung sein, die ich selbst am 31. Januar 1957 als Sprecher der Bundesregierung hier abgegeben habe. Das Recht auf Selbstbestimmung des deutschen Volkes ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Errichtung einer dem gesamten deutschen Volk verantwortlichen Regierung, die allein einen Friedensvertrag schließen und auch die mit einem Friedensvertrag notwendigerweise verbundenen Grenzprobleme zu lösen vermag. Das Recht auf Selbstbestimmung dürfen wir aber, wenn



    Dr. von Brentano
    wir glaubhaft bleiben wollen, nicht nur für das deutsche Volk verlangen. Jedes Volk, sei es in Afrika, sei es in Asien, sei es in Osteuropa, hat einen unverzichtbaren politischen und moralischen Anspruch, daß ihm dieses Recht eingeräumt wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine Damen und Herren, ich sprach schon von den Erklärungen des britischen und amerikanischen Außenministers, die vor kurzem abgegeben wurden, und ich möchte von den vielen Äußerungen noch aus der jüngsten Zeit die Rede des norwegischen Außenministers Lange vor den Vereinten Nationen zitieren, der eindeutig festgestellt hat, daß die Glaubwürdigkeit der sowjetrussischen Entspannungspolitik von der Gewährung des Selbstbestimmungsrechts an die Deutschen abhänge.

    (Beifall in der Mitte.)

    Auch der dänische Außenminister Haekkerup hat sich im gleichen Sinne geäußert. Aber ich möchte auch eine Stelle aus der Erklärung des Geschäftsführenden Rates des amerikanischen Gewerkschaftsbundes — AFL/CIO Executive Council — vom 13. August dieses Jahres zitieren:
    Jede Regelung oder Vereinbarung oder jeder Vertrag, der dem von den Sowjets eingesetzten Marionetten-Regime Ulbrichts auch nur den geringsten diplomatischen Status oder die geringste Legitimität brächte, würde die deutsche Demokratie und die Aussichten für die deutsche Einheit in Freiheit tödlich treffen. Das wäre eine ernste Gefährdung des Friedens und der Freiheit in der Welt.
    Ich glaube, wir haben allen Grund, dieser mächtigsten und größten Gewerkschaftsorganisation der freien Welt für diese klare und unmißverständliche Darstellung aufrichtig zu danken.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es erscheint mir überhaupt nicht ungefährlich, allzuviel und allzu häufig das Wort Entspannung in den Mund zu nehmen, und es ist gewiß kein Zufall, daß der Bundeskanzler es nicht gebraucht hat.

    (Zuruf von der SPD: Doch! — Abg. Wehner: Er hat gesagt, er kann es nicht mehr hören!)

    Zumindest wäre es gut und wünschenswert, wenn alle, die darüber sprechen, zunächst einmal präzisierten, was sie unter Entspannung verstehen.

    (Zustimmung in der Mitte.)

    Daß der Ost-West-Gegensatz die gesamte Welt in einen Spannungszustand geführt hat, der jeden verantwortungsbewußten Menschen belastet, empfinden wir alle täglich von neuem. Daß alle Regierungen, denen es wirklich ernst ist um die Erhaltung des Friedens, nicht nur die politische, sondern auch die moralische Verpflichtung tragen, diesen unerträglichen Zustand zu ändern, bedarf kaum der Betonung. Aber es genügt eben nicht, ihn zu ändern, sondern die Entspannung muß zu einer Besserung der weltpolitischen Lage führen.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Wohlklingende Absichtserklärungen sind wertlos, wenn sie nicht begleitet werden von sichtbaren und wirksamen Taten.

    (Beifall in der Mitte.)

    Wir laufen sonst Gefahr, daß die harte Wirklichkeit durch schöne Formulierungen vernebelt wird.

    (Sehr gut! und Sehr richtig! in der Mitte.)

    In einem Buch, .das im Jahre 1940 erschienen ist, heißt es:
    Wir müssen darauf vorbereitet sein, die Schwächen der Demokratie im Wettstreit mit einer totalitären Regierungsform zu sehen. Wir müssen realisieren, daß das eine System den Frieden wünscht, das andere den Krieg. Wir müssen erkennen, daß derjenige, 'der die größte Geduld zeigt, damit nicht immun ist gegen die Zerstörung durch den anderen. Wir müssen uns klarmachen, daß eine Demokratie es schwer hat, die ununterbrochene Anstrengung zu ertragen, die ihr zugemutet wird, denn die Interessen des einzelnen Bürgers in einer Demokratie sind nicht auf die Rüstung gerichtet. Jeder muß ein großes persönliches Opfer bringen, um sie auszubauen, und es ist hart, dieses Opfer jahraus, jahrein immer von neuem zu fordern. Besonders schwierig wird die Lage dadurch, daß die freie Presse einer Demokratie die Reden der totalitären Machthaber wiedergibt, die ihre Sache auf so „vernünftige" Weise vertreten, daß es hart ankommt, sie als Drohung zu erkennen.
    Meine Damen und Herren, es war der heutige Präsident Kennedy, der zu Beginn des zweiten Weltkrieges diese Feststellungen getroffen hat, die heute so gültig sind, wie sie damals waren.

    (Beifall in der Mitte.)

    Gerade in diesen Tagen hat Präsident Kennedy in seiner Rede vor der Universität Maine erneut überzeugende Formulierungen gefunden. Mit Sorge wies er darauf hin, daß wir noch immer im Schatten eines Krieges leben und daß wir unsere Bereitschaft zur Verteidigung bewahren müssen, aber gleichzeitig jeden Pfad zum Frieden erwartungsvoll betreten sollen. Und er schloß seine Rede mit folgenden Worten:
    Alle diese Handlungen und alle anderen Elemente der Politik Amerikas und seiner Verbündeten gegenüber der Sowjetunion sind auf ein einziges umfassendes Ziel gerichtet: die sowjetischen Führer davon zu überzeugen, daß es für sie gefährlich ist, sich in direkte oder indirekte Aggression einzulassen, und daß es für sie nutzlos ist, ihren Willen und ihr System anderen Völkern gegen ihren Willen aufzuzwingen, und daß es ihnen und der gesamten Welt zum Vorteil gereichen werde, wenn sie sich dem Aufbau eines wirklichen und durchsetzbaren Friedens anschließen würden.
    Wir können diese ernsten Worte der Warnung, aber auch der Bereitschaft nur unterstreichen.

    (Beifall in der Mitte.)




    Dr. von Brentano
    Auch hier in diesem Hohen Hause haben wir uns wiederholt Tiber die Möglichkeiten und Wege zur Entspannung unterhalten. Ich möchte zitieren, was Bundeskanzler Adenauer am 22. September 1955 nach seiner Rückkehr aus Moskau unter dem Beifall des ganzen Hauses erklärt hat:
    Zur Entspannung bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Die deutsche Delegation hat den Vertretern der Sowjetregierung in aller Deutlichkeit gesagt, daß die Entspannung nur am Ende politischer Entscheidungen stehen kann und nicht an ihrem Anfang. Sie hat mit allem Nachdruck unsere Auffassung unterstrichen, daß eine wirksame Entspannung, die auch wir wünschen, ein echtes Sicherheitssystem voraussetzt, das allen Beteiligten Sicherheit vermittelt. Ein solches Sicherheitssystem ist auf der Basis der Teilung Deutschlands unmöglich. Solange Deutschland geteilt ist, bleibt ein Spannungsherd erster Ordnung bestehen; solange wird die Spannung zwischen Ost und West in einer gefährlichen Weise dadurch verschärft, daß die Berührungsfläche der beiden gegensätzlichen Systeme mitten durch ein und dasselbe Volk und Land geht.
    Diese Feststellung, die damals die Zustimmung aller Parteien fand, scheint mir auch heute noch gültig 2U sein.
    Darum ;begrüße ich es, daß die Bundesregierung entschlossen ist —gestützt auf das Mandat, das das deutsche Volk ihr erteilt hat —, immer wieder die Deutschlandfrage in den Vordergrund zu stellen. Und ich schließe mich ohne Einschränkung der Feststellung an, daß die Bundesrepublik keine Maßnahmen akzeptieren wird, die den Status des Deutschlandproblems verschlechtern würden, sei es durch eine Sanktionierung der unerträglichen Teilung unseres Landes, sei es durch eine Anerkennung oder auch nur eine internationale Aufwertung des sowjetzonalen Regimes.

    (Beifall in der Mitte und rechts.)

    Während in anderen Teilen der Welt mit Unterstützung der Vereinten Nationen die Kolonialsysteme aufgelöst werden und den Völkern das Selbstbestimmungsrecht zurückgegeben wird, wird im Herzen Europas ein neues Kolonialsystem errichtet, das an Härte und Brutalität seinesgleichen sucht. Wir alle können den Appell des Bundeskanzlers nur unterstreichen: Die Sowjetunion, die so häufig von Realitäten spricht, solle endlich einer Realität Rechnung tragen: dem Selbstbehauptungs-
    und Einheitswillen des 'ganzen deutschen Volkes diesseits und jenseits der Zonengrenze.

    (Beifall 'bei den Regierungsparteien. — Zustimmung bei der SPD.)

    Dabei erinnert die Regierungserklärung auch an die gemeinsame Entschließung dieses Hohen Hauses vom 12. Oktober 1962, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, gemeinsam mit ihren Verbündeten der Sowjetunion den Vorschlag zu machen, entsprechend der Verantwortung der vier Mächte eine gemeinsame ständige Konferenz zur Lösung
    der deutschen Frage als Voraussetzung eines lauerhaften Friedens einzusetzen. Das bedeutet natürlich nicht, daß irgend jemand unter uns sich vorstellen könnte, daß die ursprüngliche Vier-Mächte-Kontrolle wiederaufleben dürfte. Aber die Vier-Mächte-Konferenz hätte den klar bestimmten und umrissenen Auftrag, die deutsche Frage zu lösen, und es gibt keinen anderen Weg als die Einräumung des Selbstbestimmungsrechts an das deutsche Volk.
    Meine politischen Freunde unterstützen auch die Bemühungen der Bundesregierung bei dem Versuch, das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Staaten zu verbessern. Um so mehr bedauere ich, daß der Abschluß einer Vereinbarung zwischen Deutschland und Polen die polnischen Politiker bisher nicht dazu veranlassen konnte, ihre Sprache gegenüber Deutschland etwas zu mäßigen.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Die Rede des polnischen Ministerpräsidenten Gomulka, die er zum Abschluß des Besuches des Herrn Ulbricht in Polen am 30. September gehalten hat, verrät keinen Entspannungswillen. Er wiederholt die altbekannten, ebenso törichten wie bösartigen Angriffe gegen den angeblichen deutschen Revisionismus und Revanchismus. Auch die Rede des stellvertretenden polnischen Außenministers Wieniewicz, die er vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen gehalten hat, läßt wenig von einem solchen Verständigungswillen erkennen.
    Aber wir sind uns bewußt — auch hierin stimmen wir mit der Bundesregierung völlig überein —, daß wir diese legitimen Ziele deutscher Politik allein nicht verwirklichen können. Wir stimmen mit der Bundesregierung darin überein, daß die Nordatlantikpakt-Organisation ein Grundpfeiler unserer Politik ist und bleiben muß. Wir wünschen und erwarten, daß die Bundesregierung alles tut, was in ihrer Macht steht, um die politische Zusammenarbeit im Rahmen der NATO auszubauen und so, wie es die Regierungserklärung ankündigt, die Verteidigung zu integrieren.
    Das Konsultationsverfahren in der NATO muß ständig verbessert werden; denn eine gemeinsame Verteidigung setzt voraus, daß ein gemeinsamer politischer Wille hinter dem Bestreben steht. Natürlich sind wir uns im klaren darüber, daß nicht jede weltpolitische Entscheidung einer vorgängigen Konsultation unterworfen sein kann. Es gibt Entscheidungen in Bereichen, die von der Verteidigung der NATO nicht unmittelbar gedeckt sind; der mächtigste Bündnispartner in der NATO, die Vereinigten Staaten, hat weltweite Verpflichtungen, und er wird einzelne Entscheidungen in diesen Bereichen nicht immer von einer vorgängigen Konsultation abhängig machen können oder wollen. Ich denke — um ein Beipiel zu nennen — an die Reaktion der Vereinigten Staaten auf den Versuch der Sowjetunion, Kuba als vorgeschobene Angriffsposition auszubauen. Aber dort, wo keine Zeit bleibt zur Konsultation oder wo die Voraussetzungen für die Konsultation nach dem Bündnisvertrag nicht gegeben sind, sollte eine rechtzeitige Information erfolgen,



    Dr. von Brentano
    um in jedem Falle die Einheit des Westens zu stärken.

    (Beifall in der Mitte.)

    Eine ,echte Konsultation ist aber in jedem Falle erforderlich, wenn unmittelbare und legitime Interessen eines Bündnispartners berührt werden. Ich denke hier an das Moskauer Abkommen. Meine Feststellung, daß die Konsultation in diesem Falle offensichtlich nicht ausreichend war, enthält keinen Vorwurf, aber wohl eine freundschaftliche Mahnung.
    Überhaupt erscheint es mir gut, ein allgemeines Wort über die Zusammenarbeit in der freien Welt und insbesondere auch mit den Vereinigten Staaten zu sagen. Das Vertrauen des deutschen Volkes zur Politik der Vereinigten Staaten ist unerschüttert.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wer diese Vertrauensgrundlage in Zweifel zieht,
    verstößt gegen den Geist, von dem unsere Zusammenarbeit in der freien Welt bestimmt werden muß.

    (Beifall in der Mitte. — Zurufe von der SPD.)

    Aber die Zusammenarbeit wäre nicht aufrichtig, wenn jeder vom anderen nur blindes Vertrauen verlangte. Eine kollektive Verteidigungspolitik ist nur denkbar, wenn alle, die daran beteiligt sind, einander in Freundschaft und Offenheit begegnen. Es kann und muß unsere Aufgabe sein, in gemeinsamen Überlegungen zu gemeinsamen richtigen Entscheidungen zu kommen. Eine offene und sachliche Kritik hat nichts mit Mißtrauen zu tun; ganz im Gegenteil, sie ist überhaupt nur dort möglich, wo die Vertrauensgrundlage besteht und wo jeder bereit ist, anzuhören, was der Partner meint, und die Überlegungen des anderen in die eigenen Entscheidungen einzubeziehen.

    (Beifall in der Mitte.)

    Das setzt allerdings voraus, daß wir entschlossen sind, auch unsere europäische Politik konsequent und entschlossen fortzusetzen. Die Zusammenarbeit der sechs kontinentaleuropäischen Staaten, die sich in der Montanunion und in der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft zusammengeschlossen haben, hat Ergebnisse erzielt, die die kühnsten Erwartungen übertreffen. Die europäische Gemeinschaft ist eine politische Realität geworden. Aber ich glaube, wir sollten aussprechen, daß diese neue Realität an Kraft und Bedeutung verliert, wenn wir uns nicht unausgesetzt bemühen, das Geschaffene fortzuentwickeln.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Alle, die die europäischen Verträge ausgearbeitet, ratifiziert und verwirklicht haben, waren sich darüber im klaren, daß die wirtschaftliche Integration die Vorstufe der politischen Integration sein solle. Niemand wollte sich mit der rein ökonomischen Zusammenarbeit zufrieden geben; diese Feststellung bedeutet in keiner Weise, daß ich das Ergebnis dieser wirtschaftlichen Integration unterschätze, das ja auch in dem wachsenden Wohlstand der beteiligten Nationen und in der Erkenntnis der gegenseitigen Interdependenz zum Ausdruck kommt.
    Aber es wäre, wie ich fürchte, eine Selbsttäuschung, wenn wir glaubten, daß die wirtschaftliche Integration zwangsläufig zur politischen Union führen werde. Ich bin mit dem Herrn Bundeskanzler der Überzeugung, daß es hier neuer Anstrengungen und neuer Initiativen bedarf. Mir scheint, daß man weiterhin daran arbeiten sollte, die europäischen Exekutiven von Luxemburg und Brüssel zusammenzulegen. Darüber hinaus bedarf diese europäische Gemeinschaft dringend eines Ausbaus der parlamentarischen Zuständigkeit und Verantwortung. Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht darauf hingewiesen, daß im Vollzug der Verträge immer neue Teilbereiche der nationalen Souveränität entzogen und der Gemeinschaft übertragen werden. Dieser Prozeß muß. sich unter einer wirksamen demokratischen Kontrolle vollziehen, denn die nationalen Parlamente, ja auch die nationalen Regierungen werden durch diese Entwicklung in weiten Teilbereichen ausgeschaltet.
    Ich weiß, daß der eine oder andere einwenden wird, eine solche Entwicklung sei zur Zeit nicht möglich. Aber wir weichen der eigenen Verantwortung aus, wenn wir uns auf diese resignierende Feststellung beschränken und passiv bleiben. Als die Montanunion und später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur Diskussion standen, haben auch viele kluge Politiker und Wirtschaftler gesagt, daß diese Pläne unrealistisch seien. Aber weil ein klarer und entschlossener politischer Wille hinter diesen Bemühungen stand, konnten wir erleben, daß — um ein Wort von Robert Schuman zu zitieren — „das Nötige möglich wurde".
    Wir haben für unsere europäische Politik vor kurzem ein neues, wie ich glaube, unendlich wertvolles Instrument geschaffen, den deutschfranzösischen Vertrag, den dieses Hohe Haus nahezu einmütig ratifiziert hat. Mir scheint, daß es die Aufgabe der Bundesregierung sein wird, sich dieses Vertrages laufend und intensiv zu bedienen, nicht nur buchstabengetreu, sondern im Geiste der Freundschaft und der unauflöslichen Gemeinsamkeit. Ich muß nicht an die Debatte erinnern, die dem Vertrag vorausging, und noch einmal betonen, daß dieser zweiseitige Vertrag sich nicht gegen irgendeinen Dritten richtet. Er ist nicht mehr und nicht weniger als das Siegel unter die deutsch-französische Aussöhnung und als das Werkzeug, dessen wir uns gerade dann bedienen sollten, wenn die deutschen und französischen Vorstellungen im Einzelfall voneinander abweichen.
    Es ist eine der großen Leistungen des scheidenden Bundeskanzlers gewesen, daß dieser deutschfranzösische Vertrag zustande kam. Und ich glaube, daß es inzwischen auch gelungen ist, mißverständliche Interpretationen des Vertragswerks und des Vertragszwecks auszuräumen. Was wir mit dem Vertrag bezwecken, ist noch einmal in der Präambel zusammengefaßt, die wir bei der Ratifizierung beschlossen haben.
    Niemand wird mir widersprechen, wenn ich auch hier wieder feststelle, daß es keine europäische Politik gegeben hätte und geben würde ohne die



    Dr. von Brentano
    vorausgegangene Verständigung und Aussöhnung mit dem französischen Volk.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Vor kurzem las ich in den Protokollen des Reichstags einen Bericht über die 22. Sitzung vom 10. Januar 1931. Erlauben Sie mir, daß ich zitiere, was damals der sozialdemokratische Abgeordnete Stampfer, der Chefredakteur des „Vorwärts", sagte, als von der Notwendigkeit der Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa gesprochen wurde:
    Man mag das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa so nah oder so fern sehen wie man will, eines steht von vornherein fest, nämlich, daß die wirkliche Arbeit für die Vereinigung der Völker Europas erst in dem Augenblick beginnt und beginnen kann, in dem die Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Volk und dem französischen Volk gesichert ist. Solange diese Grundlage nicht geschaffen ist, solange wäre es nur Heuchelei und ein bloßes Lippenbekenntnis, von den Vereinigten Staaten von Europa zu sprechen.
    Das war wirklich ein kluges, weises Wort. Was wäre dem deutschen Volk und der Welt erspart geblieben, wenn man damals diese Erklärungen so ernst genommen hätte, wie sie gemeint waren, und danach gehandelt hätte!

    (Beifall auf allen Seiten des Hauses.)

    Darum, ich wiederhole es, soll auch dieser deutsch-französische Vertrag unserer Politik einen Schalthebel in die Hand geben, um die europäische Politik wieder in Bewegung zu bringen und das Ziel der europäischen Union mit aller Kraft anzusteuern.

    (Beifall in der Mitte.)

    Wir hoffen und wünschen, daß sich dann auch die anderen europäischen Staaten, die sich an der europäischen Integration oder Kooperation beteiligen wollen, anschließen können, wobei ich in erster Linie an diejenigen denke, die ihren Beitritt schon angemeldet haben, an Großbritannien, Dänemark und Norwegen.
    Der Rückschlag, den wir zu Beginn des Jahres erleben mußten, darf uns nicht mutlos machen, sondern er sollte uns gerade anspornen, neue Initiativen zu entfalten. Wir können uns dieser Aufgabe gar nicht entziehen; denn, meine Damen und Herren, von ihrem Erfolg hängt mehr ab als der wirtschaftliche Wohlstand. Gegenüber dieser gemeinsamen Bedrohung, in der wir leben und wohl noch geraume Zeit leben müssen, ist ein Höchstmaß von echter Solidarität einfach notwendig. Die Solidarität kann aber nicht in wohlgemeinten unverbindlichen Absprachen ihren Ausdruck finden. Je enger wir in Europa zusammenwachsen, um so stärker wird unsere gemeinsame Abwehrkraft, nicht nur die militärische, sondern mindestens ebensosehr auch die politische und moralische.
    Aber wir müssen diesen Weg auch gehen, wenn wir eine positive Antwort geben wollen auf den mutigen und großzügigen Vorschlag, den die Vereinigten Staaten gemacht haben und den Präsident
    Kennedy in seiner historischen Rede in Philadelphia am 4. Juli vergangenen Jahres angekündigt und in seiner großartigen Darstellung in der Frankfurter Paulskirche erläutert hat. Die atlantische Partnerschaft setzt ein einiges, geschlossenes und kraftvolles Europa voraus. Die erste Antwort auf diese Frage, die uns gestellt warden ist, werden wir schon im kommenden Jahr geben müssen, wenn in Ausführung der Gedanken des Trade Expansion Act die sogenannte Kennedy-Runde in Genf beginnen wird.
    Mit Recht verweist die Regierungserklärung hier auf die außergewöhnliche Bedeutung, die den agrarpolitischen Fragen zukommt, und ihre Behandlung gehört in diesen Zusammenhang. Die landwirtschaftlichen Fragen überschatten heute ,auch die Zukunft des Gemeinsamen Marktes. Wenn es nicht gelingt, zu einer gemeinsamen Agrarpolitik zu kommen, so könnte dies für eine weitere Integration Europas schwerwiegende Folgen haben. Diese landwirtschaftlichen Probleme überschatten gleichzeitig aber auch die Verhandlungen der Kennedy-Runde, die den ersten Abschnitt bei der Verwirklichung der atlantischen Partnerschaft darstellen soll.
    Wir müssen uns darüber im klaren sein, meine Damen und Herren, daß bei den Agrarprodukten die Verhältnisse nun einmal anders gelagert sind als bei den Industrieerzeugnissen. Die Entwicklung in der Industrie und die Herstellung eines dynamischen Gleichgewichts vollziehen sich im nationalen wie im internationalen Raum — von einigen Ausnahmen abgesehen — nach ,den Gesetzen des Marktes. Dagegen nehmen in den europäischen Ländern ebenso wie in den Vereinigten Staaten die Regierungen in vielfältiger Weise Einfluß auf die Entwicklung der Landwirtschaft. Das gilt sowohl für die Erzeugung wie für den internationalen Warenaustausch. Auf dem Weltmarkt if& Agrarerzeugnisse bewirken diese nach Anlage und Zielrichtung völlig verschiedenen Praktiken eine chronische Unordnung.
    Beim Handel mit Industrieerzeugnissen wird die Frage der Höhe der Zölle der wichtigste Verhandlungspunkt sein. Anders bei den Agrarverhandlungen. Denn in diesem Bereich gibt es eigentlich nur einen gemeinsamen Nenner und ein als gültig anerkanntes Ziel: die Erhaltung und Sicherung des bäuerlichen Familienbetriebes.

    (Beifall in der Mitte.)

    Trotz ihrer großen und von der Bundesregierung mit Recht anerkannten Bemühungen steht die Landwirtschaft vor ernsten Schwierigkeiten, die ihre Gründe haben in der finanziellen Belastung durch kostspielige Investitionen, in der Zinsbelastung und nicht zuletzt auch in der Lage auf dem Weltmarkt. Durch die Verabschiedung mehrerer Marktordnungen ist die europäische Landwirtschaft schon europäisch orientiert. Bei Milchprodukten und bei Rindfleisch soll in Kürze gleiches erreicht werden.
    Aber wir müssen sehen, daß ,sich die Kostenlage noch nach den nationalen Gegebenheiten bestimmt und .daß die Rentabilität der deutschen Landwirtschaft trotz der unbestreitbaren Erfolge auf dem Gebiet der Rationalisierung zurückgeht. Darum sind



    Dr. von Brentano
    wir der Auffassung, daß die Bundesregierung im Ministerrat der EWG keiner Vereinbarung zustimmen sollte, die eine einschneidende Einkommensminderung der deutschen Landwirtschaft zur Folge haben könnte.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    So glaube ich persönlich auch, daß eine Senkung des deutschen Getreidepreises zur Zeit nicht diskutiert werden sollte.

    (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dagegen wird sicherlich am Ende des Anpassungsprozesses innerhalb der Partnerländer mit anderen Fragen auch diese Frage entscheidungsreif sein.
    Wie im Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, so werden auch bei den Verhandlungen über die Kennedy-Runde positive Ergebnisse für die industriellen Erzeugnisse rascher zu erzielen sein als für die agrarischen Erzeugnisse. Darum sollten wir in den Genfer Verhandlungen anstreben, zunächst zeitlich befristete Abmachungen zu treffen, die den Hauptanliegen der Ein- und Ausfuhrländer Rechnung tragen. Während dieses Fristlaufs können dann die Verhandlungen über Agrarerzeugnisse weitergeführt werden.
    Das setzt meiner Überzeugung nach voraus, daß im allgemeinen Einvernehmen sehr bald eine Gruppe unabhängiger und erfahrener Persönlichkeiten berufen wird mit dem Auftrag, einen Bericht über die Absatzlage und die Absatzaussichten, aber gleichzeitig auch über die Wettbewerbsverzerrungen zu erstellen, die ,die Folge der direkten und indirekten sehr verschiedenartigen Subventions-, Steuer- und Sozialpolitik der Länder sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir müssen uns bewußt sein, daß sowohl die Römischen Verträge wie auch die Verwirklichung der atlantischen Partnerschaft von allen Beteiligten gewisse Opfer und Konzessionen verlangen. Aber sie können und dürfen nicht zu Lasten einzelner Berufsgruppen gehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich unterstreiche die Feststellung der Regierungserklärung, daß wir eine lebensfähige Landwirtschaft erhalten müssen, die nicht in Unruhe und Unsicherheit leben darf, sondern die die Gewißheit haben muß, als gleichberechtigter Teil der deutschen Volkswirtschaft anerkannt und gesichert zu sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir müssen den Weg zur Einheit des Westens weiter gehen. Aber die Opfer, die dieser Weg von jedem der Beteiligten verlangt, müssen gleichmäßig verteilt werden. Eine in ihrem Bestand gesicherte, wirtschaftlich gesunde deutsche Landwirtschaft ist nicht minder wichtig als die Sicherheit und Entwicklungsfähigkeit eines jeden anderen Teiles der deutschen Volkswirtschaft.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir handeln damit, ich sagte es schon, auch im
    Sinne der Römischen Verträge, die die Sicherung
    des bäuerlichen Familienbetriebes ausdrücklich als gemeinsames Ziel der Politik ansprechen. Wir müssen unsere Partner davon überzeugen, daß wir die Erreichung dieses Zieles gefährden und in weiten Bereichen Deutschlands die Grundlagen einer gesunden und tragfähigen Landwirtschaft zerstören würden, wenn wir glaubten, durch einseitige und verfrühte Preiskorrekturen das Problem lösen zu können.
    Auch im innereuropäischen Raum bedarf es dieser sorgfältigen und gewissenhaften Prüfung der Ertragslage und Rentabilität unserer landwirtschaftlichen Betriebe. Wir müssen die Kostenfaktoren ermitteln und vergleichen: direkte und indirekte Steuern, Subventionen und Löhne und, wie ich vorhin schon sagte, alle die kostenbestimmenden Eingriffe des Staates im nationalen Bereich. Erst eine sorgfältige gemeinsame Analyse, eine Bestandsaufnahme aller dieser Tatbestände kann die Voraussetzungen dafür schaffen, überhaupt Vergleiche zu ziehen und dann auch vergleichbare Tatbestände gleichmäßig zu behandeln.
    Für den Bereich der Sozialpolitik erinnert die Regierungserklärung mit Recht daran, daß wir nach dem Zusammenbruch vor der schweren Aufgabe standen, eine neue Sozialordnung aufzubauen. Auch wenn noch Wünsche offen sind, so glaube ich, können wir doch mit großer Befriedigung feststellen, daß wir die Grundlagen für den sozialen Rechtsstaat gelegt haben.
    Es ging uns in diesem Bereich aber nicht anders als den zerstörten Städten, die die noch vorhandenen Fundamente zu verwerten suchten und sich den alten Straßenzügen anpassen mußten. So vollzog sich der Aufbau der Städte nicht immer in einem Guß und nicht immer nach einer großzügigen neuen Planung. Auch in der sozialen Gesetzgebung mußten wir an das anknüpfen, was noch vorhanden war. Wir mußten die bestehenden Gesetze ergänzen und verbessern. Wir mußten neue Bereiche des Sozialrechts in unsere Überlegungen einbeziehen, und wir sind noch immer mit Vorlagen beschäftigt, die Teilbereiche des sozialen Lebens neu ordnen sollen. Ich erinnere an die Vorlagen, die jetzt zur Beratung stehen und zwischen denen ein logischer, aber auch ein finanzpolitischer Zusammenhang besteht: das Kindergeldgesetz, das Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle und das Gesetz über die Krankenversicherungsreform. Meine politischen Freunde glauben, daß wir uns damit auf dem richtigen Wege befinden, insbesondere auch dort, wo wir den Versuch unternehmen, die individuelle Mitverantwortung des einzelnen anzusprechen.
    Überhaupt wird sich eine moderne Sozialgesetzgebung unterscheiden von dem zu seiner Zeit sicherlich vorbildlichen Gesetzgebungswerk, das der deutsche Reichstag zu Ende des letzten Jahrhunderts beschlossen hat. Damals ging es in erster Linie darum, den wirtschaftlich Schwachen vor Not zu schützen. Heute ist es unsere Aufgabe, dem arbeitenden Menschen als einem vollberechtigten Staatsbürger die existentielle Sicherheit zu vermitteln und ihn im Rahmen des Möglichen auch an der Verbesserung



    Dr. von Brentano
    des Lebensstandards als Folge der Ausweitung der Produktion teilnehmen zu lassen, wenn er nicht mehr selber mitzuarbeiten in der Lage ist.
    Meine Freunde hoffen und wünschen, daß die von mir genannten Vorlagen, die ein wichtiger Beitrag zur gerechten Sozialordnung sein werden, ohne unnötige Verzögerung zusammen verabschiedet werden. Aber wir begrüßen es aufrichtig, daß die Bundesregierung die Durchführung einer Sozialenquete angekündigt hat. Es ist unser Wunsch, daß diese große Aufgabe unverzüglich in Angriff genommen wird mit dem Ziel, eine einheitliche Konzeption zu erarbeiten.
    Das wird eine große gesetzgeberische Leistung vom Parlament verlangen. Wir müssen die gesamte Sozialgesetzgebung, so wie sie heute gilt, durchleuchten und, wenn ich so sagen darf, durchforsten. Wir müssen einheitliche Grundsätze erarbeiten, denn wir begegnen heute einer unbeabsichtigten Verwirrung, die die zwangsläufige Folge einer Gesetzgebungsarbeit sein mußte, die — ich sagte es schon — auf den alten Vorstellungen und Gesetzen aufbauen mußte.
    Wir haben Renten, die nebeneinander ausgezahlt werden, und haben — oft gerade bei Bedürftigen — eine Anrechnungspflicht mit dem Ergebnis, daß die linke Hand nimmt, was die rechte gibt. Wir haben versicherungsrechtliche Grundsätze und Renten, die auf staatlichen Subventionen beruhen. Wir haben dynamische Renten, die sich der Produktionssteigerung automatisch anpassen, und andere, die von Fall zu Fall überprüft und verbessert werden. So beschäftigt sich der Bundestag zur Zeit mit einer Vorlage, die ich nennen möchte, nämlich mit der Novelle zum Kriegsopferversorgungsgesetz. Wir wünschen hier eine baldige Verabschiedung. Ich unterstreiche die Feststellung der Regierungserklärung, daß wir die Verpflichtung haben, die Kriegsopferversorgung angemessen und würdig zu gestalten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Natürlich darf nicht verschwiegen werden, daß unserem Wollen Grenzen gesetzt sind. In der Regierungserklärung heißt es mit gutem Recht, daß es keine Leistungen des Staates gibt, die sich nicht auf Verzichte und Opfer der Staatsbürger gründen. Unsere oberste Aufgabe wird es sein, wenn wir den sozialen Rechtsstaat weiter verwirklichen wollen, das, über was wir verfügen können, gerecht zu verteilen. Die angekündigte Enquete wird, davon bin ich überzeugt, wertvolle Ansatzpunkte dafür bringen, und ich glaube, daß es eine historische Leistung der Bundesregierung und des Bundestages wäre, wenn wir eine neue, in sich geschlossene und aufeinander abgestimmte sozialpolitische Ordnung verwirklichen würden.
    Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung auch von den großen Verbänden und Organisationen gesprochen und sie ermahnt, sich ihrer Mitverantwortung für das gesamte politische Geschehen jederzeit bewußt zu sein. Zusammenschlüsse dieser Art sind ohne Zweifel nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Sie sind eine Ausdrucksform unserer pluralistischen Gesellschaft. Es
    gibt Interessenbereiche, die in einer unleugbaren Interessenidentität großer kohärenter Gruppen im deutschen Volk zum Ausdruck kommen. Doch liegt die Gefahr nahe, daß Verbände und Organisationen dieser Art die von ihnen vertretenen summierten Einzelinteressen mit einem falsch verstandenen Gemeininteresse gleichsetzen. Bundesregierung und Parlament werden immer wieder eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit diesen Organisationen suchen müssen. Im laufenden Gespräch werden wir Anhaltspunkte für eine Rangordnung der Werte finden, die für unsere Einzelentscheidungen, aber damit auch für die Einordnung der Einzelentscheidung in die allgemeine Politik, von Bedeutung sind. Aber die Erscheinungsform des Pluralismus darf nicht zum Verbändestaat führen. Eine solche Entwicklung ginge auf Kosten des individuellen Rechtes, aber auch der individuellen Pflichten des einzelnen Staatsbürgers. Diese Rechte und diese Pflichten müssen immer und in jedem Falle den Vorrang auch vor dem Verbandsinteresse haben.
    In diesem Sinne hat die Regierungserklärung auch die Tarifpartner angesprochen. Mit dem Bundeskanzler und seiner Regierung bekennt sich meine Fraktion zur Tarifautonomie. Aber auch die Tarifpartner sollten sich immer der Tatsache bewußt sein, daß sie ja nicht das Staatsvolk und nicht die Volkswirtschaft repräsentieren, sondern nur Teile eines höchst-differenzierten Organisationsschemas, eines höchstempfindlichen Mechanismus. Die Auswirkungen auch von Tarifverhandlungen treffen nicht einen Wirtschaftsbereich allein. Sie berühren die Interessen des Verbrauchers und des Steuerzahlers, und sie haben bestimmenden Einfluß auf den Außenhandel und damit auf die Zahlungs- und Handelsbilanz der Bundesrepublik.
    In ihrem Bemühen, die Stabilität der Währung zu sichern und die Preise zu halten, werden wir die Bundesregierung nach Kräften unterstützen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir sind es den Millionen von Sparern schuldig, zu verhindern, daß sie die Folgen einer schleichenden Geldentwertung tragen müssen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir sind es aber auch ebenso jedem arbeitenden Menschen schuldig; denn er muß es als unredlich empfinden, wenn zwar sein Einkommen steigt, aber diese Steigerung durch ein gleichzeitiges Ansteigen der Preise eingeholt wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Nicht weniger gefährlich wäre eine solche Entwicklung für unseren Außenhandel. Eine fortgesetzte Bewegung der Lohn-Preis-Spirale kann dazu führen, die deutsche Ware vom Exportmarkt zu verdrängen. Wir alle wissen, wie schwer es ist, auf diesem Gebiet einen Marktanteil wiederzugewinnen, der einmal verlorengegangen ist. Darum begrüße ich .auch die Grundsätze der Haushaltspolitik, die der Herr Bundeskanzler angesprochen hat. Unsere finanzpolitische Planung im Rahmen des Haushalts müssen Wir auf längere Zeiträume erstrecken. Auf jeden Fall werden meine Freunde alles tun,



    Dr. von Brentano
    um in einem ständigen vertrauensvollen Gespräch mit ,der Bundesregierung zu erreichen, daß die Bundesregierung nicht zu dem verfassungsmäßigen .Mittel des Art. 113 wird greifen müssen.
    Zum Schluß, meine Damen und Herren, möchte ich noch einige wenige Worte an die Opposition richten.

    (Ah-Rufe bei der SPD.)

    In Ihren ersten Kommentaren haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, festgestellt, daß die Regierungserklärung eine kritische Betrachtung der bisherigen Regierung enthalte und sich dem Regierungsprogramm annähere, das die SPD dm Jahre 1961 verkündete.

    (Lachen und Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, sich kann mir eigentlich nicht ernsthaft denken, daß Sie von der Opposition nicht erkannt haben sollten, daß die Regierungserklärung, über die wir heute sprechen, doch eine konsequente Fortsetzung der Politik der vergangenen 14 Jahre ankündigt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen und Zurufe bei der SPD.)

    Natürlich verschieben sich im Verlaufe der Jahre die politischen Gewichte. Probleme, die vor fünf oder zehn Jahren noch vordringlich erschienen, spielen heute nicht mehr die gleiche Rolle; denn sie sind gelöst oder doch in einer Entwicklung begriffen, die ihre Lösung als selbstverständlich erscheinen läßt. Als Bundeskanzler Adenauer seine erste Regierungserklärung im Jahre 1949 abgab, lag unser Land in Trümmern, suchten die Menschen nach Arbeitsplätzen, hatten kein Dach über dem Kopf und kein Geld in der Hand. Unsere Industrie war demontiert und unsere soziale Ordnung zerstört. Wir lebten im Zustand der Abhängigkeit und der Ratlosigkeit.
    Alles das mußte selbstverständlich in den damaligen Regierungserklärungen und in den Handlungen der Regierung zum Ausdruck kommen. Aber 14 Jahre später können wir uns gottlob auf Grund der Erfolge, auf die wir stolz sind, mit anderen Fragen beschäftigen.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir haben die vordringlichen Probleme mit Erfolg gelöst. Unsere innenpolitische Ordnung ist stabilisiert, unsere Wirtschaft blüht, und die Bundesrepublik Deutschland ist ein gleichberechtigter Partner der freien Welt geworden.
    Wenn Sie es jetzt so darstellen wollen, meine Damen und Herren von der Opposition, als habe Bundeskanzler Erhard seine Erkenntnisse aus dem Regierungsprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands geschöpft,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    dann verwechseln Sie doch in einer sonderbaren Weise Ursache und Wirkung.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Es scheint aber gewirkt zu haben! — Abg. Erler: Was hatten Sie denn eigentlich gegen das Programm von 1961! — Abg. Wehner: Weil Sie so lange reden!)

    — Ich rede gar nicht lange darüber. Ich gehe gleich weiter.

    (Abg. Wehner: Nebbich, würde ich sagen!)

    — Wenn Sie es gesagt hätten, wäre es gut gewesen.

    (Abg. Wehner: Sagen Sie es doch!)

    Ich glaube, daß jeder politisch denkende Deutsche zwischen Original und Kopie im Bereich der politischen Kunst zu unterscheiden vermag.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, die Politik der europäischen Integration, die Eingliederung in die freie Welt, die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur atlantischen Gemeinschaft, die politische Solidarität mit unseren Bundesgenossen in der Verfolgung der gemeinsamen deutschen Ziele, die wirksame Verteidigung, die wir aufgebaut haben, die soziale Marktwirtschaft als Grundlage und Voraussetzung unserer wirtschaftlichen Ordnung und Gesundung, alles das haben wir in den vergangenen Jahren erreicht, meist gegen den Widerspruch der Opposition.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Darum empfinde ich es auch als sonderbar, aber manchmal doch als befriedigend, ,daß wir uns dem Liebeswerben der Opposition kaum mehr entziehen können.

    (Abg. Wehner: Haben Sie eine Erfahrung!)

    Aber wenn Sie wirklich im Regierungsprogramm so weitgehende Übereinstimmung mit Ihren eigenen, wohlgemerkt: mit Ihren neuen eigenen innen- und außenpolitischen Zielen gefunden haben, dann spricht das eindeutig für den, Erfolg der Bundesregierung in den vergangenen 14 Jahren,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und ich wage dann auch, die Hoffnung zu äußern, daß wir auf Ihre redliche und überzeugte Mitarbeit bei der Verwirklichung dieser von Bundeskanzler Erhard angekündigten Politik zählen können.

    (Lachen bei der SPD. — Abg. Wehner: Es waren zwei Königskinder! — Weitere Zurufe von der SPD.)

    Wenn Sie im Laufe der folgenden Debatte das bestätigten, dann wäre das ein verheißungsvoller Beginn für die Politik der neuen Regierung, der ich, lieber Herr Erhard, im Namen meiner politischen Freunde mein uneingeschränktes Vertrauen ausspreche und volle Unterstützung meiner Fraktion zusichere.

    (Anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der SPD: Gut gebrüllt, Löwe!)






Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor der Wahl des neuen Kanzlers nahm der Vorgänger Abschied von seinem Amt. So vieles auch umstritten bleiben mag — er hat einer Ara seinen Namen aufgeprägt. In den Ehrenrunden wurde seiner Partei noch einmal vorgeführt, was sie an ihm hatte — an Werbekraft und Sorgenquell zugleich. Ein kämpfender Politiker ist kein schweigendes Denkmal. Der große Zauberer, der die Menschen bewegt, aber dessen einprägsame Bilder nicht immer voll der Wirklichkeit gleichen, hat vielen seiner Freunde noch ängstliche Stunden bereitet in der Befürchtung, welche Überraschungen mit unvorhersehbaren Folgen etwa noch produziert würden.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Herr Kollege von Brentano ließ eine Wiederholung einer Abschiedsrede und einige Manöver der Ablenkung von ernsten Fragen folgen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Dabei hat doch der Wahlkampf noch gar nicht begonnen, meine Damen und Herren! Aber vielleicht war das nötig, um die etwas ramponierte Einigkeit in der CDU/CSU wenigstens in diesem Punkt herzustellen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir haben es hier mit einem Stück gesuchter Polemik statt Aufklärung in der Sache zu tun.
    Um ein paar klare Bemerkungen zu machen: Ich halte es für die Pflicht eines Ausschußvorsitzenden, so viel an wirklichen Informationen wie nur möglich zusammenzutragen, damit es nicht bei Gerüchten bleibt.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Majonica: Sie verwechseln seine Aufgaben mit denen eines Privatdetektivs, Herr Erler!)

    — Ja, dann hätte die Regierung vorher die Aufklärrung bringen müssen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Ich halte die Wohnung des früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Bucerius in Hamburg nicht für
    eine Räuberhöhle eines modernen Kriminalromans.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Majonica: Die geistige Zentrale der SPD!)

    Meine Damen und Herren, über eines sind wir uns einig: Gerüchte sind keine Informationen. Sie müssen geprüft werden, und wer gegen diesen Grundsatz verstößt, verdient Tadel. Das gilt auch für diejenigen, die ungeprüfte Gerüchte zu Fernsehsendungen mißbrauchen. Darüber sind wir uns absolut einig.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Jetzt!)

    — Nein, nein, sobald die Tatsachen feststehen.
    Da hier ein Wort über Herrn Barsig gesagt worden ist, möchte ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Herr
    Barsig weiß, daß er keine Informationen, sondern Gerüchte weitergegeben hat. Dabei mußte auch er sich auf die Prüfungspflicht des anderen verlassen können. Denn auch Sie reden an den Tischen des Bundeshausrestaurants manches, was nicht am nächsten Morgen in der Zeitung erscheinen kann, bevor es geprüft ist.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Ich würde es begrüßen, wenn alle, die einmal einen Tadel verdient haben,

    (Abg. Majonica: Mehrfach!)

    so offen vor ihre Fraktion hinträten und das eingeständen, wie es Herr Barsig getan hat. Dafür haben wir ihm unser menschliches Vertrauen ausgesprochen.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Ich halte eine solche Haltung für menschlich sympathischer als stumpfsinnige Rechthaberei.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nun einen anderen Punkt: Immunitätsfälle. Bisher ist in keinem einzigen Falle, was tauch der Herr Präsident des Hohen Hauses dazu sagen mag, je eine Entscheidung darüber getroffen worden, ohne daß die Akten vorgelegt wurden. Warum soll von einer jahrzehntelangen Praxis ausgerechnet in diesem Falle abgewichen werden? Das versteht niemand.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Rasner: Das ist falsch!)

    Dann ein zweites: Wo bleibt eigentlich der Prozeß gegen den angeblich größten Landesverrat aller Zeiten, mit dem wir uns im vergangenen Jahr hier beschäftigt haben?

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Weimer: „Ein Abgrund von Landesverrat" ! — Abg. Rasner: Er liegt beim Gericht!)

    In der Hauptsache, dem Artikel Fallex 62, ist bisher mach der Mitteilung des Oberbundesanwalts noch nicht eine Anklage erhoben worden. Dann bleibt übrig, daß in diesem Hause im Vorgriff auf den Prozeß in der Hauptsache ein Racheakt aus politischen Motiven verübt werden soll

    (lebhafter Beifall bei der SPD; — Pfui-Rufe von der CDU/CSU)

    gegen Abgeordnete, von denen jeder weiß, daß sie mit diesem Artikel „Fallex 62" überhaupt nicht das Geringste zu tun haben

    (Abg. Rasner meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — einen Augenblick, ich will die Sache noch rasch zu Ende bringen —, weil es sich hier um eine Sache handelt, deren öffentliche Erörterung Sie wahrscheinlich zu scheuen haben, nämlich um die rechtswidrige Behandlung eines hohen Offiziers der Bundeswehr durch den damaligen Verteidigungsminister. Das hat überhaupt nichts mit der Sache „Fallex



    Erler
    62" zu tun, damit Sie es wissen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD.)