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ID0409216000

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    Deutscher Bundestag 92. Sitzung Bonn, den 24. Oktober 1963 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 4231 A Fragestunde (Drucksache IV/1541) Frage des Abg. Fritsch: Familienausgleichskasse des nordwestdeutschen Baugewerbes in Berlin Dr. Claussen, Staatssekretär . 4231 B, D, 4232 A Langebeck (SPD) 4231 C Gerlach (SPD) 4232 A Frage ,des Abg. Fritsch: Erwerbsunfähigkeitsrente in der Rentenversicherung Dr. Claussen, Staatssekretär . . 4232 B Langebeck (SPD) 4232 B Frage der Abg. Frau Meermann: Teilzeitbeschäftigung und Rentenansprüche Dr. Claussen, Staatssekretär . . 4232 C, D Frau Meermann (SPD) 4232 D Frage der Abg. Frau Meermann: Informationsmappe „Schwarz auf weiß" und neues Mietrecht Lücke, Bundesminister 4232 D, 4233 B, C, D, 4234 A, B Frau Meermann (SPD) 4233 A Jacobi (Köln) (SPD) . . . . . 4233 B, C Geiger (SPD) 4233 C Börner (SPD) 4233 D Büttner (SPD) 4234 A Frau Dr. Kiep-Altenloh (FDP) . . 4234 B Frage des Abg. Hammersen: Zweites Wohnungsbaugesetz Lücke, Bundesminister . . . 4234 C, D, 4235 A, B Hammersen (FDP) . . . 4234 D, 4235 A Jacobi (Köln) (SPD) . . . . 4235 A, B Frage des Abg. Hammersen: Förderung des Fertigbaues Lücke, Bundesminister . 4235 C, 4236 B Hammersen (FDP) . . . . . 4236 A, C Frage des Abg. Jacobi (Köln) : Bestimmungen gegen Mietwucher Lücke, Bundesminister . . . . . 4236 D, 4237 C, D, 4238 A, C Jacobi (Köln) (SPD) . . 4236 D, 4237 B Hammersen (FDP) . . . . . . . 4237 C Wehner (SPD) . . . . . . . 4238 A, B Frau Meermann (SPD) . . . . 4238 C II Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 Frage des Abg. Jacobi (Köln) : Verhalten gegenüber Mietwucherern Lücke, Bundesminister . . . . . 4238 D, 4239 A, B, C, D, 4240 A Jacobi (Köln) (SPD) . . . . . . 4239 A Mick (CDU/CSU) . . . . . . . 4239 B Frau Berger-Heise (SPD) . . . . . 4239 C Dr. Czaja (CDU/CSU) 4239 D Büttner (SPD) . . . . . . . . 4240 A Frage der Abg. Frau Meermann: „Angemessen erhöhte" Miete Lücke, Bundesminister 4240 B Frau Meermann (SPD) 4240 B Frage des Abg. Wegener: Ehemalige Meierei-Kasernen im Landkreis Detmold Dr. Dollinger, Bundesminister . . . 4240 C Fragen des Abg. Felder: Rückgabe von Kunstschätzen Dr. Dollinger, Bundesminister . . . 4240 D, 4241 B, C Felder (SPD) . . . . . . . 4241 A, C Frage des Abg. Sander: Gutachten betr. Grundbesitz der Salzgitter-AG Dr. Dollinger, Bundesminister . . . 4241 D, 4242 A Sander (FDP) 4241 D, 4242 B Frage des Abg. Schmitt-Vockenhausen: Mehrleistungen bei der Deutschen Bundesbahn Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 4242 B, D, 4243 A Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . . 4242 D, 4243 A Frage des Abg. Regling: Eisbrecher im Ostseeraum . . . . . 4243 A Frage des Abg. Müller-Hermann: Kauf eines Eisbrechers Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 4243 B, C, D Müller-Hermann (CDU/CSU) . . . 4243 C Ritzel (SPD) . . . . . . . . . 4243 D Schriftlicher Bericht (des Außenhandelsausschusses über den Vorschlag der Kommission der EWG für eine Verordnung des Rats der EWG zur Änderung der Verordnung Nr. 54 des Rats in bezug auf die Festsetzung der Prämiensätze und der Abschöpfungsbeträge im voraus bei Getreideeinfuhren aus dritten Ländern (Drucksachen IV/1547, IV/1556) . . . . 4244 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. von Brentano (CDU/CSU) . . . 4244 B Vizepräsident Dr. Jaeger . . . 4248 A Erler (SPD) 4257 A Präsident D. Dr. Gerstenmaier . . 4258 B, 4274 A Dürr (FDP) (gem. § 36 GO) . . . . 4275 B Freiherr von Kühlmann-Stumm (FDP) 4275 C Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundeskanzler 4284 D Nächste Sitzung 4287 C Anlagen 4289 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4231 92. Sitzung Bonn, den 24. Oktober 1963 Stenographischer Bericht Beginn: 9.02 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1963 4289 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt his einschließlich a) Beurlaubungen Dr. Aligner 8. 11. Dr. Aschoff 9. 11. Dr. Arndt (Berlin) 31. 12. Dr. Atzenroth 27. 10. Dr. Barzel 25. 10. Berlin 20. 11. Biermann 26. 10. Fürst von Bismarck 25. 10. von Bodelschwingh 26. 10. Buchstaller 31. 10. Dr. Burgbacher 31. 10. Dr.. Danz 24. 10. Deringer 25. 10. Dr. Dörinkel 25. 10. El. ren 4. 11. Eisenmann 25. 10. Dr. Fritz (Ludwigshafen) 25. 10. Frau Geisendörfer 26.10. Gewandt 8. 11. Dr. Gleissner 25. 10. Goldhagen 16. 11. Haage (München) 25. 10. Hahn (Bielefeld) 8. 11. Frau Dr. Heuser 25. 10. Hoogen 25. 10. Dr. Haven 25. 10. Kahn-Ackermann 15. 11. Kalbitzer 25. 10. Dr. Kempfler 25. 10. Frau Klee 24. 10. Koenen (Lippstadt) 31. 10. Dr. Kreyssig* 24. 10. Dr. Mälzig 25. 10. Margulies 4. 11. Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 25. 10. Metzger 14. 11. Missbach 25. 10. 011enhauer 31. 12. Frau Pitz-Savelsberg 25. 10. Frau Renger 24. 10. Richarts* 25. 10. Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Ruland 25. 10. Schlee 25. 10. Dr. Schneider (Saarbrücken) 25. 10. Schoettle 31. 10. Schultz 24. 10. Spitzmüller 24. 10. Frau Strobel 25. 10. Weber (Georgenau) 15. 11. Weinkamm* 25. 10. Werner 10. 11. b) Urlaubsanträge Fritsch 30. 11. Anlage 2 Schriftliche Antwort des Herrn Bundesministers Schwarz vom 22. Oktober 1963 auf die Zusatzfrage des Abgeordneten Dürr zu der Mündlichen Anfrage des Abgeordneten Schultz **). Die Beratungen der Regierungssachverständigen der Mitgliedstaaten über eine Gemeinschaftsregelung für Qualitätsweine bestimmter Anbaugebiete, die nach Artikel 4 der Verordnung Nr. 24 vom 9. April 1962 der Rat erläßt, sind vor ca. einem Jahr aufgenommen worden. Bisher konnte jedoch über die von der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorgelegten Entwürfe nicht in allen Punkten eine Einigung erzielt werden. Nach Auskunft des zuständigen Referenten der Kommission wird diese in Kürze dem Rat einen Verordnungentwurf vorlegen. Die noch offenstehenden Fragen sollen bei der Beratung des Entwurfs vom Rat entschieden werden. Es kann daher damit gerechnet werden, daß der Rat in absehbarer Zeit eine Gemeinschaftsregelung für Qualitätsweine bestimmter Anbaugebiete erläßt. *) Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments. **) Siehe 84. Sitzung Seite 4103 C.
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    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Den Oberbundesanwalt nicht, aber die Art und Weise, wie Sie diese Frage jetzt durchpeitschen wollen ohne Einsicht in die Akten, erkläre ich zu einem politischen Racheakt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Herr von Brentano, Ihr Wort in allen Ehren, daß Sie, wenn aus irgendwelchen Gründen ein Vorwurf gegen Sie erhoben würde, der überhaupt Anlaß geben könnte, die Immunität aufzuheben, von sich aus vor den Ausschuß hintreten würden.

    (Abg. Dr. von Brentano: Und hier vor das Haus!)

    — Leider nützt das nichts, und zwar deshalb nichts, ) weil in den Richtlinien dieses Hauses für die Aufhebung der Immunität aus guten Gründen steht, daß derartige Anträge unberücksichtigt bleiben müssen. Das steht ausdrücklich darin. Und wie oft hätte dann Ihr Kollege Strauß mit derlei Anträgen vor dieses Haus hintreten müssen?

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Rasner meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

    — Ich möchte jetzt diese Sache erst einmal zu Ende bringen, Herr Rasner, weil wir Wichtigeres zu tun haben, als darin herumzuwühlen.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Rasner: Sie kneifen! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

    Herr der Immunitätsangelegenheiten — um das noch zu sagen — ist das Haus und nicht der einzelne Abgeordnete. Die Immunität dient nicht seinem Schutz, sondern dem Schutz des Parlaments.

    (Abg. Rasner: Bei Strauß ist es noch nie verweigert worden! — Abg. Majonica: Ist bei Strauß ein einziges Mal die Aufhebung der Immunität verweigert worden? Sagen Sie das doch! Sie bringen hier zwei Dinge zusammen, die nicht zusammengehören! Ist es verweigert worden oder nicht?)



Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Abgeordneter Majonica, ich will die geregelte Diskussion hier sicherstellen. Beschränken Sie sich also bitte in Ihren Zwischenrufen.
Fahren Sie bitte fort, Herr Abgeordneter!

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    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Wir sollten auch solche Fälle behandeln mit dem Bemühen um sachliche Prüfung und sollten — wenn ich das zur Abrundung hier noch hinzufügen darf — sachliche Prüfung und Behandlung nicht ersetzen durch Koalitionsdruck. Die Tatsache, daß der Herr Abgeordnete Dürr aus diesem Ausschuß ausgeschieden ist oder daß Sie den Abgeordneten Dorn nicht mehr haben wollen bei der Untersuchung der Telefonaffäre — das scheint mir kein Zeichen für liberale Haltung zu sein, sondern ein Ausdruck von Koalitions- und Fraktionszwang, den wir möglichst in diesem Hause nicht einreißen lassen sollten.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Lachen bei der CDU/CSU.)

    Und nun zur Sache; zu diesen Feststellungen war ich nur genötigt, weil eben, wie gesagt, das wohl der einzige Punkt ist, in dem wesentliche Grundeinigkeit in diesen Reihen besteht.

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    Der neue Bundeskanzler wurde am Ende einer langen Auseinandersetzung gewählt. Manche Narbe auch aus dieser Auseinandersetzung ist noch nicht verheilt. Seine Regierungserklärung unterscheidet sich in vielem Positiv von den. früheren. Vor allem versucht er, eine ungeschminkte Darstellung der gegenwärtigen Lage unseres Volkes in einem zerrissenen Lande zu geben, die wir in der Regierungserklärung des Jahres 1961 nach dem schrecklichen Erlebnis der Mauer so schmerzhaft vermißten.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Nur aus dieser Sicht können wir auch den richtigen Blick für die Bedeutung, die Möglichkeiten und die Schwierigkeiten ,des europäischen Einigungswerkes gewinnen. Er zeigt weiter das Bemühen, bisher vernachlässigte Probleme aufzugreifen und die großen Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit — er nennt sie gemeinsame Aufgaben — zu umreißen. Leider fehlt bei der Darstellung des Problems noch die Ankündigung praktischer Maßnahmen. Aber es sind Maßstäbe gesetzt, an denen die Bundesregierung sich nun selbst messen lassen muß.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ein besseres Verhältnis zwischen den staatstragenden Kräften wurde angekündigt. Damit gehört hoffentlich die böse Verketzerung 'des Andersdenkenden für immer der Vergangenheit an.

    (Abg. Arndgen: Von Ihrer Seite!)

    Aber auch die Politik der Mitte und des Ausgleichs, auch das Wissen darum, ,daß der Kanzler dem ganzen Volk zu dienen verpflichtet ist, nimmt ihm nicht die Stellung des politischen Führers einer Koalition und einer Partei. Partei und Koalition sind nicht identisch mit dem Staat. Der Staat sind wir alle; Parteien sind immer nur Teile. Jede moderne Partei muß sich uni einen Ausgleich verschiedener Interessen und Strömungen in sich selbst bemühen. Das gilt auch für uns. Vor allem aber muß jede Partei die Notwendigkeit anderer Teile anerkennen. Sonst hält sie sich für das Ganze und erliegt damit der Versuchung des Mißbrauchs staatlicher Macht zu Zwecken der Partei.



    Erler
    In den außenpolitischen Fragen wurden weitgehend gemeinsame Vorstellungen im Sinne der Bundestagsbeschlüsse zum Deutsch-Französischen Vertrag, die ja eine umfassende Darstellung unserer Meinung zu Papier brachten, und über das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn niedergelegt, im Sinne des Jaksch-Berichts. Der neue Bundeskanzler wird es nicht leicht haben. Dafür wird schon in den eigenen Reihen .gesorgt. Die Aufgabe meiner Freunde ist, kritische Wachsamkeit zu üben und am Wettstreit um die besseren Lösungen wirksam teilzunehmen. Wir sind nicht so ,eng, aus parteiegoistischen Gründen dem Kanzler Mißerfolg zu wünschen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Im Interesse der Nation sollte ihm Erfolg bei der Lösung der sachlichen Probleme beschieden sein.

    (Allgemeiner Beifall.)

    Das ist nicht identisch mit Erfolg in Propagandaschlachten oder bei der Bekämpfung des innerpolitisch Andersdenkenden.
    Leider gibt ein Blick auf die Fülle der Probleme und auf die bisherigen Leistungen der doch im großen und ganzen weitergeführten Regierung und ein Blick auf die Unterlassungen in der ersten Hälfte der Legislaturperiode berechtigten Anlaß zur Skepsis. Wir haben zwar das dritte Bundeskabinett seit der Neuwahl 1961, aber keine neue Regierung. Der neue Kanzler ist neben dem Verkehrsminister in allen Regierungen seit 1949 vertreten,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)

    seit 1957 als Stellvertreter des Bundeskanzlers. Es handelt sich nicht um eine neue Ara, sondern um die zweite Hälfte einer Legislaturperiode.
    Der neue Kanzler hat doch bisher schon Verantwortung getragen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)

    Er nimmt sie in Anspruch für Erfolge. Dann muß er sie auch tragen für das Unterlassene.

    (Beifall bei der SPD.)

    Seine eigene Erklärung enthält eine eindrucksvolle Liste von Versäumnissen. Das von ihm beklagte Ressortdenken in Verwaltungstechnik und Verwaltungspraxis, die Unwirtschaftlichkeit der Verwaltung, die Aufsplitterung des Rechts — das alles ist doch von den bisherigen Regierungen zu vertreten.
    Wir haben jetzt seit 1961 die vierte Regierungserklärung gehört nach denen vom 19. November 1961, vom 9. Oktober 1962 und vom 66. Februar 1963. In fast allen wurden die Neuordnung der Finanzverfassung, die Reform der Krankenversicherung, die Berücksichtigung der steigenden Anforderungen des Straßenbaues, die Reinhaltung des Wassers und der Luft sowie die Bekämpfung des Lärms, die Verhinderung der Entstehung wirtschaftspolitisch schädlicher marktbeherrschender Unternehmen und des Mißbrauchs bereits vorhandener Macht, die Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums, die Neuordnung der Gemeindesteuern, die Schlußgesetzgebung auf allen Gebieten der Kriegsfolgen, ein Parteiengesetz und noch vieles andere ange-
    kündigt, ohne daß entsprechende Taten folgten. Bei den bisherigen Kabinetten seit 1961 war die Formulierungskunst größer als die Regierungskunst.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Hoffentlich bleibt das nicht so. Knapp zwei Jahre reichen nicht, um alle Blütenträume reifen zu lassen. Es hat keinen Sinn, Riesenprojekte erneut anzukündigen. Aber es ist sinnvoll, das heute Mögliche anzupacken und das morgen Erforderliche und Mögliche heute vorzubereiten. Die Politik der Regierung wird danach zu beurteilen sein, ob sie von der Rede zur Tat gelangt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die neuen Töne in der jetzigen Regierungserklärung zeigen, daß es in vielem eben nicht weitergehen kann wie bisher. Besser als bisher, so heißt Erhards Programm. Daß uns Sozialdemokraten vieles daran nicht unbekannt ist, verehrter Herr von Brentano, werden Sie bei einem Vergleich mit unserem Regierungsprogramm aus dem Jahre 1961 selbst erkennen können. Nachdem Sie jetzt meinen, das sei von Ihnen, versteht kein Mensch mehr, warum Sie das Regierungsprogramm der SPD damals so heftig angegriffen haben. Sie werden sich doch nicht selber bekriegt haben!

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Lachen und Zurufe von der Mitte.)

    Ich erwähne ein paar Dinge: etwa von der Verantwortung des Bürgers für das Ganze über ein neues Verhältnis zu den geistigen Kräften bis hin zu den Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit, dem Kernstück des Regierungsprogramms von 1961.
    Unser Volk hat mit dem Wiederaufbau seines wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens eine gewaltige Gemeinschaftsleistung vollbracht. Nun müssen wir uns auf die Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft einstellen. Wir leben in einer sich immer schneller wandelnden Welt. Erschließung und Bändigung ungeahnter Energien, die Reglertechnik und die Isotopenanwendung, die Errungenschaften der Medizin und damit auch die Bevölkerungsexplosion auf dem Erdball, das Zusammenwachsen zu immer großräumigeren Wirtschaftsräumen schaffen täglich neue Tatsachen. In 30 Jahren wird der Zustand der Menschheit sich schneller wandeln als in den letzten drei Jahrhunderten. Diese Entwicklung birgt ungeheure Gefahren, aber auch große Möglichkeiten. Der Weg hängt von uns ab. Man darf sich dabei nicht treiben lassen. Wir müssen bewußt handeln. Es gilt, die von Menschen gemachte Technik zu beherrschen. Sonst verschlingt sie uns. Vorausdenken ist nötig. Im Heutigen müssen wir die Keime der Zukunft erkennen — die guten pflegen, die schädlichen beizeiten bekämpfen.
    Die Aufgaben unserer Zeit sind nicht zu lösen ohne engste Verbindung zur Wissenschaft. Denken, Forschen und wissenschaftliches Experiment haben die Grundlagen unserer Zivilisation verändert. „Keine Experimente" — das hätte dort nicht weitergeholfen. Energiequellen wurden erschlossen, welche die Güterfülle mehren, die Hungernden sättigen, unser aller Leben erleichtern können — aber ebenso die Mög-



    Erler
    lichkeit grauenhafter Zerstörung bergen. Das Miteinanderleben von immer mehr Menschen auf kleinem Raum schafft ständig neue Probleme und bedarf der behutsam ordnenden Hand. Soll diese Hand nicht Knechtschaft bringen, müssen Staatsbürger erzogen werden, die mit Einsicht in die Probleme und mit dem Willen zur Mitverantwortung für das Ganze ausgestattet sind, dessen freiheitliche Gliederung einer handelnden und ihr Mandat einem freien Willensentscheid der Gemeinschaft verdankenden Führung bedarf.
    Unser Land ist eine der großen Industriewerkstätten der Welt. Wir werden unserem Volk nur dann eine gesunde Zukunft sichern, wenn die Qualität unserer Leistung dem Wettbewerb mit anderen Völkern gewachsen ist. Dabei darf keine Begabung ungenutzt verkümmern, muß aber auch unser Erziehungswesen so gestaltet sein, daß die verschiedenen Begabungsrichtungen den ihnen gemäßen Weg einschlagen können. Unsere moderne Gesellschaft braucht wertvolle Leistung an sehr verschiedenem Platz. Falsche Prestigebewertung führt oft zu falscher Ausbildungswahl und schädigt damit den Lebensweg des einzelnen und das Wohl der Gemeinschaft. Maßstab der Auslese für bestimmte Formen der Ausbildung kann nur die hierfür vorhandene Begabung, gepaart mit dem Leistungswillen, sein — sonst nichts. Sicher ist das Erziehungswesen Sache der Länder. Aber die Bundesregierung muß politische Impulse geben und im Rahmen ihrer beschränkten Zuständigkeit in Gemeinschaft mit Ländern und Gemeinden richtig handeln, z. B. bei der Förderung der Forschung, der Gestaltung der Ausbildungsbeihilfen, dem internationalen Austausch wissenschaftlicher Erfahrungen und dergleichen mehr.
    Es gilt auch, den reichen Schatz wissenschaftlicher Erkenntnisse für das politische Wirken zu nutzen. Das trifft nicht nur für die Anwendung der Naturwissenschaften in der Technik zu. Das weite Feld der Geisteswissenschaften und der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen ist für unser öffentliches Leben unentbehrlich. Industriebau ohne Arbeitsmedizin, Straßenbau ohne Verkehrspsychologie, Forstwirtschaft ohne moderne Raumordnung sollten hinfort genauso undenkbar sein wie etwa Verwaltung ohne Bindung an Recht und Gesetz, an parlamentarische Kontrolle und Rechnungslegung.

    (Abg. Wehner: Sehr gut!)

    Deshalb brauchen wir eine bessere Durchblutung unseres Verwaltungsapparates mit den Ergebnissen und Erkenntnissen der modernen Wissenschaft, mehr Beweglichkeit im Wirken unserer Persönlichkeiten in verschiedenen Bereichen unseres öffentlichen Lebens, mehr Verbindung und Gespräch von Wissenschaft und Praxis.
    Allerdings ein warnendes Wort: die Wissenschaft kann nicht entscheiden. Sie kann die allemal möglichen Alternativen zur Lösung eines Problems sauber herausarbeiten und deren Vor- und Nachteile darlegen. Dann muß politisch von den Verantwortlichen entschieden werden. Politische Entscheidungen sind keine bloße Rechenaufgabe. Sonst wäre politischer Kampf geradezu unverständlich — oder so
    simpel, wie er gelegentlich in Wahlkämpfen dargestellt wird, nämlich als nur ein Ringen zwischen Sachkunde und Dummheit.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Politische Entscheidungen werden zwischen denkbaren, in sich logischen Alternativen gefällt. Staatsmänner sind Gärtner. Sie konstruieren nicht — sie wählen aus.

    (Beifall in der Mitte.)

    Sie bedienen sich des besten erreichbaren Sachverstandes — aber sie orientieren sich am Gemeinwohl, am Überblick über das Ganze, an sittlichen Wertmaßstäben und daraus hergeleiteten Ordnungsbildern.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Bei solchen Entscheidungen müssen wir uns frei halten von lästiger Enge, die überkommener Gewohnheit, gedankenlosem Vorurteil oder unbewußter Interessenbindung entspringen mag. Unsere politische Führung muß den großen Wurf wagen, sich dem Denken unserer Zeit in vollem Umfange zu stellen und es für die Gestaltung unserer Gemeinschaft zu nutzen. Auf diese Notwendigkeit stoßen wir immer wieder, wenn wir uns den unmittelbar praktisch vor uns liegenden Aufgaben zuwenden.
    Die Regierungserklärung hat den guten Satz des uns allen bekannten Prälaten Kunst aufgegriffen, wonach die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert. Das ist richtig, und deshalb habe ich mit diesem Kapitel begonnen. Dabei drängt .sich der Gedanke auf, ob die Regierenden von heute sich der neuen Frage auch so nähern wollen wie die Regierenden des 19. Jahrhunderts der sozialen Frage.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Die damals gewählte Kombination von Mildtätigkeit, Sozialistengesetz und den Anfängen der sozialen Gesetzgebung, um der aufkommenden Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen, reichte nicht aus und erwies sich nicht als ein Erschütterungen vermeidendes zukunftsträchtiges Rezept.

    (Beifall bei der SPD.)

    Derartige Fragen können nicht gelöst werden mit dem Versuch, einen großen bewegenden Faktor der Innenpolitik von entscheidendem Einfluß in Staat und Gesellschaft fernzuhalten.
    Wie ernst die Sachverhalte und wie groß die Aufgaben sind, ergibt sich auf einem Teilgebiet aus der Bedarfsfeststellung der Kultusminister, zu der Georg Picht im September-Heft der „lutherischen monatshefte" Beachtliches geschrieben hat. Bis 1970 ist ein Zuwachs von rund 300 000 Lehrern erforderlich. Wir müssen bei den Klassenfrequenzen und beim Anteil der Abiturienten an den entsprechenden Altersjahrgängen endlich das Niveau eines modernen Industriestaates erreichen. Frankreich wird Jahre hin-



    Erler
    durch fast dreimal so viele Abiturienten ausbilden wie wir.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Der gewaltige Bedarf an gebildeten und qualifiziert ausgebildeten Kräften in allen Bereichen unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens, von der Wirtschaft bis hin zur Bundeswehr, ist nur durch große Anstrengungen beim Ausbau des höheren Schulwesens und unserer Hochschulen zu meistern. Schulpolitik ist auch Sozialpolitik. Der soziale Status und damit die Verteilung der Einkommen hängen immer mehr von den erworbenen Bildungsqualifikationen ab. Wir haben in unserem Land keine Chancengleichheit. Die Verteilung der Bildungschancen hängt in erster Linie vom Ausbau des Schulwesens ab. Hier gibt es große Unterschiede von Land zu Land und vor allem im Stande des ländlichen Bildungswesens. Der lebenswichtige Investitionsbedarf auf diesem Gebiet übersteigt die Finanzkraft der Länder. Überlegen wir uns einmal richtig und unvoreingenommen die Größenordnungen! Wir brauchen eine neue Prioritätenliste für alle öffentlichen Aufgaben.
    Vom Stande unseres Bildungswesens hängen die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum unserer Wirtschaft ab. Kulturpolitik, recht verstanden, darf keine Nebensparte unseres politischen Wirkens bleiben, sondern muß ein entscheidender Bestandteil unserer Gesamtkonzeption vom Bild unseres Volkskörpers von morgen werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das geht nicht, Herr Bundeskanzler, ohne langfristige Überlegungen, weil Entscheidungen und Investitionen im Bildungswesen erst in Jahrzehnten Frucht tragen, die Unterlassungen der letzten Jahrzehnte aber uns bald mit voller Wucht treffen werden.
    Der Entwurf des Haushaltsplanes für 1964 wird Aufschluß geben über die Ernsthaftigkeit der Regierungserklärung. Für 1963 wurden die Ansätze leider trotz früherer Erklärungen gekürzt. Wir hoffen, daß die Bundesregierung die im Wissenschaftsrat gemeinsam erarbeiteten Pläne zum Ausbau der bestehenden und neuen Hochschulen nunmehr bewußt fördert und nicht mehr dem Rechenstift zum Opfer fallen läßt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir erwarten, daß die Verabschiedung des Forschungsförderungsgesetzes die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der Wissenschaftspolitik auf eine klare Rechtsgrundlage stellt. Der Wissenschaftsminister sollte alle Bundeszuständigkeiten auf diesem Gebiet in seiner Hand haben. Dazu gehören z. B. die Maßnahmen zur Förderung der Studenten, das hoffentlich bald verabschiedete allgemeine Ausbildungsförderungsgesetz, die Koordinierung der Wissenschaftspolitik mit den Ländern und — lassen Sie uns auch das einmal überlegen — die Einrichtung einer Abteilung für Bildungsplanung, die einwandfreie Unterlagen für langfristige Prognosen und Perspektiven für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik entwickeln könnte.

    (Abg. Dr. Vogel: Und die Kosten!)

    Einen unfruchtbaren Prinzipienstreit über den Föderalismus in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sollten wir uns nicht länger gestatten.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Wir müssen die Kräfte von Bund und Ländern zusammenfassen, wenn wir im Wettbewerb der Nationen bestehen wollen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Entgegen der Behauptung, unser Berufsausbildungssystem sei mustergültig, darf auf die Entschließung der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge vom 27. September verwiesen werden, in der es heißt, daß die Berufsbildung in der Bundesrepublik den Erfordernissen der modernen Industriegesellschaft nicht genügt und auch hinter internationalen Maßstäben zurückbleibt. Es werden dort ein Berufsausbildungsgesetz und ein einheitliches Ausbildungsbeihilfegesetz gefordert. Meine Freunde haben außerdem seit langem die steuerliche Berücksichtigung der Ausbildungskosten verlangt, was für Mittelschichten und freie Berufe ein besonders wichtiger Punkt ist.
    Eine ähnliche Bedeutung wie der Kulturpolitik kommt der modernen Gesundheitspolitik zu. Unsere Arbeitskraft muß gesund erhalten und die ungewöhnlich hohe Frühinvalidität bekämpft werden, und zu diesem Zweck muß mit Vorrang vorbeugend gehandelt werden.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Die Regierungserklärung ist zur Gesundheits- und Sozialpolitik sehr vage.

    (Abg. Wehner: Leider wahr!) Selbst die „Welt" schreibt hierzu:

    Weder haben die Familien erfahren, wann das höhere Kindergeld kommt, noch wissen die Kriegsopfer jetzt, wie und zu welchem Termin ihre Renten aufgebessert werden, noch ist den Arbeitern deutlich geworden, ob sie den Lohn bei Krankheit in Zukunft vom Arbeitgeber oder von der Krankenkasse erhalten sollen. Die Besorgnis, daß die Versicherungspflicht der Lohnempfänger eingeschränkt und großen Gruppen dadurch der Arbeitgeberbeitrag entzogen werde, ist sowenig behoben wie die Furcht der Versicherten vor einer zusätzlichen Kostenbeteiligung. Erhard ließ alles offen.
    Soweit die „Welt". Sie hält das für ein taktisches Meisterstück. Ich meine, als taktisches Meisterstück kann man das nur für die koalitionsinternen Beratungen bezeichnen.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

    Dem Anspruch auf Klarheit über die Ziele der Regierung und die nächsten von ihr beabsichtigten Schritte entspricht dieses Kapitel nicht.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Natürlich bejaht die Sozialdemokratie eine Sozialenquete. Aber dann müssen entgegen der im



    Erler
    September 1955 fertiggestellten auch Schlüsse daraus gezogen werden. Noch heute rächt es sich, daß vor über zehn Jahren der SPD-Antrag auf Einsetzung der Sozialen Studienkommission abgelehnt worden ist,

    (Sehr wahr! bei der SPD)

    der die Voraussetzungen für eine Sozialgesetzgebung aus einem Guß schaffen sollte. Von Sozialreform, ja auch nur vom Sozialpaket ist in der Regierungserklärung nicht mehr die Rede. Wenn die Regierung in Bestätigung unserer Auffassung den Familienlastenausgleich als vordringlich bezeichnet, sollte das im Ausschuß fertiggestellte Bundeskindergeldgesetz unverzüglich verabschiedet werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Neugestaltung der Krankenversicherung ist das schwierigste Kapitel. Wir empfehlen, zur Überwindung der Schwierigkeiten eine Sachverständigenkommission zur Erstattung eines Gutachtens über die Grundsätze einer Krankenversicherungsreform zu bestellen, die den Erfordernissen unserer Zeit entspricht.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Damit könnten die Debatten entschärft, entideologisiert und auf einwandfreier Grundlage sachliche Lösungen erarbeitet werden. Noch heute legen wir dem Hohen Hause den Antrag mit der genauen Abgrenzung der zu untersuchenden Fragen vor.

    (Beifall bei der SPD.)

    Uns berührt es seltsam, daß 'die Regierungserklärung beim Mißbrauch des Wohlstandes durch Begüterte an die Entwicklung des Standesbewußtseins appelliert, daß aber in großen Teilen der Koalition wenig Verständnis dafür vorhanden ist, wenn unsere Arbeiter in berechtigtem Bewußtsein ihrer Leistung und ihres Eigenwertes, also aus Selbstachtung, eine weitere Behandlung minderen Rechts im Arbeits- und Sozialrecht nicht mehr ertragen.

    (Erneuter Beifall 'bei der SPD.)

    Zur .Gesundheitsvorsorge gehören Vorkehrungen gegen die Verschmutzung von Wasser und Luft und zur Bekämpfung des Lärms. Auch das sind Gebiete, bei denen der einzelne sich nicht selbst helfen kann; er kann allenfalls dazu beitragen. Hier muß die Gemeinschaft eingreifen und die Ursachen des Übels anpacken.
    Beim Sport hingegen geht es darum, dem einzelnen zu eigenem Tun Chancen zu bieten. Leider hat der Bund nur ein Drittel seines Anteils am Goldenen Plan aufgebracht, während die Länder den ihren zu über 90% erfüllt haben. Die versprochene Förderung wurde im Gegensatz zu den Regierungserklärungen nicht eingehalten.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Der Zukunft 'zuwenden müssen wir uns 'auch bei den zusammenhängenden Problemen des Verkehrs, der Raumordnung und des Städtebaus. Hier geht es um mehr als um Technik. Das ist ein Stück Strukturpolitik für die Gestaltung unserer künftigen sozialen Ordnung und die Sicherung eines gleichmäßigen
    Wirtschaftswachstums. Gewerbliche und Wohnbautätigkeit entscheiden über .das Angebot an Arbeitsplätzen und Arbeitskräften. Erholungsflächen, kulturelles Leben und Ausbildungschancen bestimmen die Anziehungskraft eines Gebietes weiterhin. Hier liegen Möglichkeiten für 'bisher vernachlässigte Regionen.
    Leider hat entgegen ihren Ankündigungen die Bundesregierung die zweckgebundenen Straßenbaumittel 1962 um 180 Millionen und 1963 um 380 Millionen gekürzt. Die Umstellung der Minenalölabgabe bringt einen weiteren Ausfall, so daß für den zweiten Vierjahresplan zwei Milliarden Mark fehlen werden.

    (Abg. Wehner: Hört! Hört!)

    Der Straßenbau ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die nur 'in Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden gemeistert werden kann. Ohne kräftige Mitwirkung des Bundes, die leider zu wünschen übrig läßt, werden wir der Verkehrskatastrophe nicht Herr. 14 000 Verkehrstote jährlich sollten eine eindringliche Mahnung sein, auch wenn wir wissen, daß viele andere Ursachen mit zu dieser schrecklichen Zahl beitragen.

    (Zustimmung 'bei der SPD.)

    Zum Städtebau gehört die Wohnungswirtschaft. Noch immer fehlen für Hunderttausende menschenwürdige Wohnungen. Die Entwicklung der Baukosten und die Baulandspekulation belasten den Wohnungsbau und erschweren die Schaffung von Eigenheimen. Nur eine verstärkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus, der den sozial schwachen Schichten, den jungen Ehepaaren und den Kinderreichen Wohnungen zu erträglichen Mieten verschafft, kann zu dauerhafter Entlastung des Wohnungsmarktes führen.

    (Beifall 'bei der SPD.)

    Die überstürzten Maßnahmen der Mietfreigabe haben berechtigte Unruhe hervorgerufen Fund tragen zum weiteren Preisauftrieb in bedauerlicher Weise bei. Für das erste Jahr ist mit 'Erhöhungen von 1,5 bis 1,8 Milliarden DM zu rechnen. Nach einem Jahr fallen die Begrenzungen. Angesichts des unterversorgten Marktes dürften weitere Milliarden den Mietern aufgebürdet werden.

    (Abg. Jacobi [Köln] : Leider wahr!)

    Die Selbsthilfeorganisationen der Genossenschaften haben beim Neubau unserer Städte und zur Wohnungsversorgung gerade auch der Minderbemittelten große Leistungen vollbracht. Wenn der Bundeskanzler wirkungsvolle Maßnahmen zur Privatisierung des öffentlich geförderten Wohnungsbaues vorschlagen will, muß er klären, ob damit ein sonst von ihm abgelehnter Eingriff in Eigentumsrechte beabsichtigt ist.

    (Beifall bei der ,SPD. — Zuruf von der CDU/ CSU: Das ist sicher nicht der Fall!)

    In Zukunft bedürfen 'wir der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft mehr denn je, um angebotsteigernd und preisregulierend zu wirken. Wer sonst könnte Fertigbau im notwendigen großen Stile betreiben?!

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)




    Erler
    Vor allem kinderreiche Familien werden jetzt benachteiligt. Das steht im Gegensatz zu den erklärten Zielen der Bundesregierung. Was nützt eine Verbesserung des Kindergeldes, wenn sie durch eine noch so einwandfrei begründete Mietsteigerung abgeschöpft wird? Übrigens ist auch die in der Regierungsvorlage vorgesehene Form der Krankenversicherungsneuordnung mit erheblichen Nachteilen für die kinderreichen Familien belastet.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Familienpolitik darf kein Propagandaschlagwort bleiben: sie muß sich in konkreten Maßnahmen des Familienlastenausgleichs niederschlagen, vom Kindergeld über Maßnahmen für die jungen Familien bis hin zum Mutterschutz.

    (Beifall bei der SPD.)

    Hunderttausende unserer alten Mitbürger haben durch die mühsam erreichte und immer wieder gegen Angriffe zu verteidigende dynamische Rentenreform mehr an materieller Sicherheit für ihren Lebensabend erlangt. Viele Härten sind geblieben. Das Alter aber stellt uns heute vor mehr als ein rein materielles Problem. Unter uns leben viele, viele Menschen, die nach Arbeit und Mühe der Einsamkeit preisgegeben sind. Hier kann kein Gesetz helfen. Eine große gemeinsame Anstrengung aller lebendigen Kräfte unseres Volkes von den privaten Vereinigungen und den Parteien bis hin zu den Gebietskörperschaften aller Art muß durch einen politischen Impuls unserer Führungskräfte ausgelöst
    werden. Wir schulden dem Herrn Bundespräsidenten Dank für seinen warmherzigen Aufruf an unser Volk in dieser Sache.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der Mitte.)

    Die Alten haben es nicht verdient, unbeachtet am Rande unserer Gesellschaft zu leben. Viele von ihnen haben unserer Gemeinschaft noch einiges zu sagen. Sie übermitteln einen großen Erfahrungsschatz in jüngere Hände. Dazu bedarf es des Gesprächs, der Zeit, deren Mangel der Bundeskanzler so beklagt. Dazu bedarf es allerdings auch der Förderung von Altenwohnungen, die nicht in die Absonderung führen.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Dieses Problem der Einsamkeit wird auch immer sichtbarer bei jenen Kriegsopfern, denen der Mann genommen wurde und deren Kinder herangewachsen sind. Neben ihnen leben Millionen Frauen, denen der Krieg die Möglichkeit der Familiengründung zerstört hat. Auch all diesen Gliedern unserer Gemeinschaft gegenüber gilt es, etwas mehr Solidarität zu bekunden als bisher.

    (Beifall bei der SPD.)

    Um so bedauerlicher ist es, daß der Herr Bundeskanzler den Art. 113 des Grundgesetzes ausgerechnet unmittelbar im Anschluß an seine Bemerkungen über die Versorgung der Opfer des Krieges und der Vertreibung erwähnte.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Der Regierungsentwurf zur Kriegsopferversorgung ist nach der Überzeugung der Mehrheit dieses Hauses, Ihre Freunde eingeschlossen, unzulänglich.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Bei einer Rangordnung der öffentlichen Ausgaben können die Kriegsopfer und die Heimkehrer nicht an das Ende gesetzt werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es ist auch bedauerlich, daß die Regierungserklärung außer der Anerkennung der großen Leistungen der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge zur Überwindung der noch bestehenden Notstände und Ungerechtigkeiten nichts Konkretes aussagt.

    (Sehr richtig! bei der SPD.) Vordringlich sind:

    Beseitigung der ungerechten Degressionen bzw. gerechte Anhebung der Entschädigungssätze im Lastenausgleich,
    Umbau und Anpassung der Unterhaltshilfe an das bestehende soziale Niveau,
    durchgreifende Regelung der Altersversorgung der ehemals Selbständigen und
    Verabschiedung eines weiteren Fünfjahresplanes für die Eingliederung des vertriebenen und verdrängten Landvolks mit entsprechender finanzieller Sicherung für die Dauer des Planes.

    (Beifall bei der SPD.)

    Unaufschiebbar ist auch die vollständige Gleichstellung der Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone mit den Heimatvertriebenen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Wir haben mit dem Entwurf eines Flüchtlingsgesetzes den Weg für die Lösung gewiesen.
    Die Regierungserklärung appelliert an die Selbstverantwortung des Bürgers. Ihr müßte dann wohl auch am Arbeitsplatz in geeigneter Weise eine bessere Ausdrucksmöglichkeit geschaffen werden. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sind Verantwortung der Gemeinschaft und Selbstverantwortung des einzelnen keine Gegensätze. Beide sind nötig. Wir brauchen die individuellen Leistungen u n d die Anstrengungen der Gemeinschaft. Ein Dogmenstreit hierüber ist überflüssig. Die Regierungserklärung sagt selbst am Schluß: „Wir sind zu bewußter Solidarität aufgerufen." Das muß doch wohl auch für den sozialen Bereich gelten. Die gesellschaftliche Verflechtung des Individuums ist nicht auflösbar. Es liegt im einzelnen, jene Chancen zu nützen, welche die Gemeinschaft ihm bietet. Niemand kann seine eigene Schule kaufen, sein eigenes Krankenhaus errichten, seine eigenen Straßen bauen. Wie auch immer wir diese Gemeinschaftseinrichtungen gestalten, sie sind unentbehrlich für die Entfaltung des einzelnen, für seine Lebenshaltung und für seine Familie.

    (Beifall bei der SPD.)

    Solidarität ist daher nicht überholt. Im 19. Jahrhundert diente sie der Abwehr und Überwindung



    Erler
    von Not, Armut und Unterdrückung. Heute muß sie den Wohlstand gesund und gerecht gestalten. Moderne Sozialpolitik ist keine Notstands-, sondern Wohlstandspolitik.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Sie ist keine Feuerwehr gegen soziale Notstände, sondern entscheidendes Instrument zur Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates.

    (Wiederholter Beifall bei der SPD.)

    Sie hat jedem Bürger die Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Fähigkeiten und zur Sicherung seiner Leistungsfähigkeit zu gewährleisten.

    (Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Bezahlt der Bürger!)

    — Natürlich, gemeinsam, weil der einzelne allein es nicht zu schaffen vermag in dieser ineinander verflochtenen Welt.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Sie muß den Bürger vor den Gefahren der industriellen Zivilisation zu bewahren suchen. Sie packt die Gemeinschaftsaufgaben an, deren Vernachlässigung den einzelnen wichtiger Möglichkeiten der Lebensgestaltung und Lebenserfüllung zu berauben droht. Von der Sozial-. und Gesundheitspolitik hängt es daher nicht zuletzt ab, ob der Güterreichtum ach zu einer Bereicherung des Menschen führen wird.
    Deshalb gibt es bei der Sozialpolitik keinen endgültigen Abschluß und kein Stehenbleiben.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Sie muß mit der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt halten. Die soziale Sicherung ist ein Teil des Wohlstandes breiter Schichten,

    (Abg. Jacobi [Köln] : Sehr gut!)

    ganz abgesehen von der Bedeutung der Kapitalsammelstellen für die Finanzierung notwendiger Investitionen.
    Unser öffentlicher Dienst erfüllt eine wichtige produktive Aufgabe. Regierungserklärungen mit Worten hoher Anerkennung nützen wenig, wenn die rechtlichen und materiellen Bedingungen dieses Dienstes den Erfordernissen der Gegenwart nicht entsprechen.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Gewiß, es hat Verbesserungen gegeben. Sie sind aber nicht ausreichend, um die Personallage zu entspannen und genug qualifizierten Nachwuchs anzuziehen.
    Der Schlüssel für die großen Gemeinschaftsaufgaben und einige andere hier dargelegte Probleme liegt in der Neuordnung der finanziellen Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Sie müssen einander entsprechend ihren Aufgaben vernünftig zugeordnet werden. Die Bundesregierung hat wiederholt die Lösung dieser Aufgabe angekündigt, aber bisher nicht einmal die von uns schon 1961 geforderte Sachverständigenkommission eingesetzt. Die Neuordnung ist gewiß nicht in zwei Jahren zu schaffen. Aber das Grundlagenmaterial muß endlich bereitgestellt werden.
    Mein Freund Alex Möller hat zur Finanzverfassungsreform am 15. Mai 1963 in diesem Haus auf folgende sieben Punkte hingewiesen:
    1. Das Wichtigste für das Verhältnis von Bund und Ländern ist die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit; ohne gegenseitige Glaubwürdigkeit keine vernünftige Verhandlungsbasis.
    2. Bevor Steuererhöhungen erwogen werden, um einen Haushaltsausgleich herbeizuführen, ist zu prüfen, ob nicht ein Teil notwendiger vermögenswirksamer Ausgaben durch Kapitalmarktmittel gedeckt werden kann.
    3. Der Verteidigungshaushalt darf nicht wie bisher tabu sein.
    4. Es, muß einwandfrei ermittelt werden, ob das Gesamtsteueraufkommen zur Bedienung der öffentlichen Haushalte ausreicht.
    5. Nur eine Rangfolge in der Dringlichkeit der Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden, bei der die verschiedenen Nützlichkeitsgrade aufzuzeigen sind, ist der objektive Ausgangspunkt für eine Neuordnung.
    6. Mehr Steuergerechtigkeit bedeutet nicht Steuererhöhung. Die Besteuerung hat einer gleichmäßigen, einer sozialeren Verteilung des Volkseinkommens und einer Verstetigung des Wirtschaftsgeschehens zu dienen.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    7. Sofortige Inangriffnahme des großen Reformwerks zum Umbau unseres Steuersystems überhaupt.
    Wir müssen alle Zimmer unseres Gemeinwesens gleichmäßig in den Stand setzen, ihren Aufgaben zu genügen. Die Neuordnung der Finanzverfassung ist ein Stück der Neuordnung unseres gesellschaftlichen Lebens überhaupt. Finanzverfassung und Steuerpolitik hängen eng miteinander zusammen. Unser Steuersystem ist schwerfällig, unübersichtlich und an vielen Stellen ungerecht. Wir Sozialdemokraten werden daher unverzüglich dem Hohen Hause präzise Vorschläge auf steuerpolitischem Gebiet machen, um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen und dennoch die öffentlichen Aufgaben nicht zu gefährden.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Wuermeling: Und die Mehrausgaben?)

    — Genau das! Warten Sie ab! Sie werden es nachher — heute noch! — noch hören.

    (Abg. Wehner: Heute noch!)

    Ein angemessenes Steueraufkommen kann nur von einer blühenden Wirtschaft erarbeitet werden. Entscheidende Faktoren unseres Wirtschaftslebens sind unsere Arbeitskräfte, ihr Können und Wissen, der Wagemut — —

    (Zuruf von der Mitte.)

    — Deswegen ist es immer noch gut, gelegentlich
    auch einmal daran zu erinnern, daß man in dieser



    Erler
    Debatte nicht nur polemisch aufeinander loszugehen braucht, sondern vielleicht auch einmal unserem Volk sagen kann, wie die Lage sich darstellt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich wiederhole, nach diesem besonders intelligenten Zwischenruf:

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Entscheidende Faktoren unseres Wirtschaftslebens sind unsere Arbeitskräfte, ihr Können und Wissen, der Wagemut der im Wirtschaftsleben handelnden Persönlichkeiten und ihr Weitblick. Diesen Weit-. blick braucht auch die öffentliche Hand.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Sie muß eine Vorausschau wagen, was für ihre Politik möglich und notwendig ist. Stabilität und Aufstieg gebieten eine Politik des Wirtschaftswachstums, die, ohne dem einzelnen Betrieb Befehle zu erteilen, sich des Instrumentariums der modernen Globalplanung bedient, die sich des großen Einflusses der öffentlichen Hand in Gesetzgebung, Finanz- und Haushaltspolitik auf den gesamten Wirtschaftskörper bewußt ist und die zum Ausgleich sonst auftretender Spannungen die Wohlfahrt des Ganzen und den Schutz der Benachteiligten zum Ziele setzt.
    Die Erhaltung der Arbeitsplätze und die Sicherung der Kaufkraft unseres Geldes sind Leitlinien aktiver Wirtschaftspolitik. Unsere Wirtschaft ist am Markt, also an der kaufkräftigen Nachfrage orientiert. Das ist nicht der objektive Bedarf schlechthin. Die Wirtschaftspolitik hat Einfluß auf Verteilung und Gestaltung dieser kaufkräftigen Nachfrage. Ohne diesen Ausgleich wäre die Marktwirtschaft nicht sozial. In der Vergangenheit ist auf einer Reihe von Gebieten dieser Ausgleich, der die Marktwirtschaft erst zur sozialen Marktwirtschaft macht, nicht erreicht worden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung zu einem Wandel in der Konjunkturpolitik gelangt ist. Endlich soll der vom Parlament am 26. Juni beschlossene Sachverständigenbeirat benannt werden. In den vergangenen Jahren wurde die von der sozialdemokratischen Fraktion geforderte Fortentwicklung eines konjunkturpolitischen Instrumentariums zurückgewiesen. Dieses Instrumentarium ist um so notwendiger, als die alarmierenden Preissteigerungen der letzten Zeit die Wirkungslosigkeit allgemeiner Beschwörungen beweisen. Wer die Kaufkraft im Sinne der Regierungserklärung stabil erhalten will, muß mehr tun.
    Die Lebenshaltungskosten sind immer schneller gestiegen: 1959 um 1,1%, 1960 um 1,9%, 1961 um 2,7% und 1962 um 3,0 %.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Angesichts der bisherigen Entwicklung der Lebenshaltungskosten und angesichts der in den letzten Wochen schon eingetretenen und für den Rest des Jahres noch zu erwartenden Preiserhöhungen für Milch, Butter, Kohle, Fleisch und Heizöl muß für 1963 mit mehr als 3% gerechnet werden. Von September 1962 bis September 1963 sind die Mieten um 6,4%, die Preise für Verkehrsmittel um 6,5 % gegestiegen. Der Trinkmilchpreis wurde über das im Bundestag beschlossene Maß hinaus erhöht.

    (Zuruf rechts: Mit der SPD!)

    — Über das im Bundestag beschlossene Maß hinaus! Das geht nicht zu Lasten der SPD. Zu gleicher Zeit zogen die Preise für Milchprodukte an. Der Butterpreis stieg um 20 bis 60 Pf je Kilo. Diese ungerechtfertigten Preissteigerungen haben mit Recht den Zorn der Verbraucher hervorgerufen. Für den Hausbrand gelten ab 1. Oktober um 2 bis 33/4% höhere Preise, obwohl der Bergbau in hohem Maße subventioniert wird. Das leichte Heizöl ist um 3,7 bis 3,9 % teurer geworden. Diese Erhöhungen können nicht in direkten Zusammenhang mit Lohnerhöhungen gebracht werden. Sie sind aber geeignet, neue Lohnerhöhungen zu rechtfertigen. Dies gilt vor allem auch für die bereits dargelegte Bewegung der Mieten.
    Mit besonderer Sorge beobachten wir, daß ein großer Teil der Preiserhöhungen für Lebensmittel, die den Verbraucher belasten, dem Bauern gar nicht oder nur sehr unzulänglich zugute kommen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Angesichts dieser Entwicklung verlangt die SPD eine Durchleuchtung der Preis- und Marktverhältnisse auf den Lebensmittelmärkten vom Erzeuger bis zum Endverbraucher.

    (Beifall bei der SPD.)

    Verarbeitungs- und Handelsspannen müssen nicht schneller steigen als Erzeugerpreise. Regionale Marktabreden wirken sich zuungunsten von Erzeugern und Verbrauchern gleichermaßen aus. Die Bundesregierung sollte Maßnahmen zur Stärkung der Marktstellung der landwirtschaftlichen Erzeuger durch eine wirksame Förderung ihrer Selbsthilfeorganisationen treffen.
    Zu dem konjunkturpolitischen Instrumentarium gehört der Jahreswirtschaftsbericht. Ihn brachte die Regierung, obwohl der jetzige Kanzler früher meinte, daß man ihm mit solchen Scherzen nicht kommen könne.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Dieser Bericht ist nur ein Anfang. Aus ihm müssen Konsequenzen für eine positive Wettbewerbspolitik, für die Eindämmung wirtschaftlicher Macht und für eine moderne Eigentumspolitik gezogen werden. Die letztere ist untrennbar mit einer entsprechenden Einkommenspolitik verknüpft.

    (Abg. Jacobi [Köln] : Sehr richtig!)

    Die von der Bundesregierung erstrebte Verbesserung der Sparförderung ist von der sozialdemokratischen Fraktion mit ihrem leider von der Mehrheit verschleppten Gesetzentwurf vom 20. März 1962 mit der Begünstigung kleiner Einkommen seit langem konkretisiert worden. Die Bundesregierung hat leider weitere Maßnahmen auf diesem Gebiet bisher nicht getroffen.
    Der Bundeskanzler hat vor einer materiell bestimmten Grundhaltung und dem falschen Weg des



    Erler
    Nur-Geld-verdienen-Wollens gewarnt. Wir unterschreiben diese Warnung, haben wir doch seit jeher ,die solidarische Einordnung des einzelnen in die Gemeinschaft und das rechte Verhältnis von Freiheit und Bindung verfochten.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Es war doch gerade die bisherige Regierungspolitik, die zu dieser materiellen Grundhaltung beigetragen und das Geldverdienen als wesentlichstes Zeichen des Wohlstandes ideologisch aufgewertet hat.

    (Beifall bei der SPD.)

    Natürlich ist das Geldverdienen auch keine Schande; in einer Marktwirtschaft ist es ein nicht zu unterschätzender Antriebsfaktor. Es kommt aber darauf an, wie Geld erworben wird und was damit geschieht.

    (Beifall bei der SPD.)

    Vor allem reagieren jene auf derartige Mahnungen sehr empfindlich, deren Chancen bisher im Vergleich zu anderen sehr gering entwickelt waren.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Damit sind wir mitten in dem Problem der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Wer den Leistungswettbewerb bejaht, muß unser Kartell- und Gesellschaftsrecht zu wirksamen Instrumenten zur Verhinderung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht entwickeln. Er muß auch gegenüber den Selbständigen, insbesondere den mittleren und kleinen Unternehmen, eine Politik betreiben, die die Leistungsfähigkeit dieser wichtigen Schicht einer freiheitlichen Gesellschaft systematisch stärkt, so daß 'sie im Wettbewerb bestehen kann. Wer ,die Selbstverantwortung des Bürgers hervorhebt, bekennt sich mit uns allen zur vollen Tarifautonomie der Gewerkschaften und ihrer Vertragspartner.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Staat kann durch die Bereitstellung objektiver Zahlen dafür sorgen, daß von dieser Autonomie im Interesse des Gemeinwohls der richtige Gebrauch gemacht wird. Objektives Zahlenmaterial ermöglicht eine Wertung durch die öffentliche Meinung, die sich nur 'dann 'ein unabhängiges Urteil zu bilden vermag.
    Auch 'hier möchte ich wieder die „Welt" zitieren. Auch zur Wirtschaftspolitik stellt sie, wie sie meint, mit dem schuldigen Respekt fest, es sei genug geredet worden. Die Regierung möge ans Werk gehen. Von einer zielbewußten, aufeinander abgestimmten Politik seien wir noch weit entfernt. Die Ressorts hätten nach Kräften gesündigt, während man gleichzeitig mit dem Finger auf die Länder und Gemeinden gezeigt habe. Die Unterlassungssünden der alten Bundesregierung zeigten sich am Baumarkt. Die Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik lasse auf sich warten. Endlich könne die seit Jahren diskutierte Fortentwicklung des konjunkturpolitischen Instrumentariums mehr in den Vordergrund der Regierungsarbeit rücken. — Soweit die „Welt". Auch hier sehen wir, daß politisches Handeln not tut, aber Vorausdenken einschließen muß. Wir handeln doch in die Zukunft hinein und können das nur richtig tun, wenn wir die 'wirkenden Tendenzen rechtzeitig erkennen und sie nach unseren Zielvorstellungen zu beeinflussen suchen.
    Dies gilt auch für das schwierige Gebiet der Landwirtschaft. Auch hier enthält die Regierungserklärung einige neue Töne. Aber es fehlt an jeder Andeutung einer Zielsetzung unserer Agrarpolitik; konkrete Vorstellungen über die Lösung agrarpolitischer Probleme, die in den nächsten zwei Jahren auf uns zukommen, werden nicht entwickelt. Es fehlt auch jede Stellungnahme zu den Problemen, die durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgeworfen werden. An die EWG haben wir bereits einen Teil unserer agrarpolitischen Zuständigkeiten abgegeben; andere werden folgen. Es fehlt auch eine Stellungnahme zu der bedenklichen Entwicklung unserer Wirtschaftsbeziehungen zu dritten Ländern, also vor allem zu Skandinavien, zu Großbritannien und zu den USA. Welche Entscheidungen gedenkt die Bundesregierung zu treffen? Wie soll eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft aussehen? Die Strukturveränderung kann man nicht sich selbst überlassen oder gar zu spät damit anfangen. Später gibt es Mehrheitsbeschlüsse, notfalls auch gegen uns. Die Strukturveränderung muß man als Teil eines größeren Wirtschafts- und politischen Zusammenhangs sehen. Die Gesundung unserer Dörfer ist kein reines Landwirtschaftsproblem, sondern eine Frage der Regionalpolitik, unter Berücksichtigung aller Lebensbereiche. Die Länder Hessen und Niedersachsen haben im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Beispielhaftes getan. Schleswig-Holstein hat ein eigenes Strukturprogramm vorgelegt. Wir brauchen aber Vorstellungen, wie der gesamte deutsche Wirtschaftskörper mit diesem Problem der Landwirtschaft im Bereich der größeren europäischen Gemeinschaft fertig werden soll. Familienminister Heck hat recht, wenn er meint, daß die Dörfer nicht zum Armenhaus der Bundesrepblik werden dürften.

    (Beifall bei der SPD.)

    Andere europäische Regierungen haben offenkundig zur Vorbereitung ihrer Landwirtschaft für den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt bereits mehr getan und damit auch für ihre auf dem Lande arbeitende Bevölkerung einen wertvollen Vorsprung errungen. Wir dürfen nicht weiter in Verzug geraten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir sind uns darüber einig, daß harte Arbeit ein angemessenes Einkommen verdient. Die wirkliche Frage ist, wie die Struktur unserer Landwirtschaft so gestaltet werden kann, daß sie dem zu erwartenden scharfen Wettbewerb auch gewachsen ist.
    Die Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit gebieten die Zusammenfassung aller Kräfte. Hierzu gehört wechselseitiges Vertrauen. Die Regierung wirbt um Vertrauen zu sich: das ist verständlich. Dann muß sie auch Vertrauen zu den Bürgern unseres Landes haben, denen der frühere Bundeskanzler für ihre Aufbauleistungen ja so warmen Dank gezollt hat. Daran fehlt es. Manche sozialpolitischen Vorstellungen sind geprägt durch das Mißtrauen gegenüber Arbeitnehmern und Ärzten. Die Bedeutung der Gewerkschaften für eine freiheitliche Ordnung und eine aufstrebende Wirtschaft wird von vielen noch



    Erler
    nicht voll eingesehen. Man sollte nicht nur die internationale Gewerkschaftsorganisation loben und ihr danken, Herr von Brentano, sondern hinzufügen, daß die deutsche Gewerkschaftsbewegung ein entscheidender Bestandteil dieser internationalen Bewegung ist.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. von Brentano: Ich glaube, es ist ein Mißverständnis! Ich habe nicht von der Internationalen gesprochen, sondern von der amerikanischen AFL/CIO!)

    — Es war der Internationale Bund freier Gewerkschaften, der das mit der AFL zusammen gemacht hat.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Das können Sie in den Mitteilungen nachlesen.

    (Abg. Dr. von Brentano: Bekanntgemacht Ist es vom Executive Council von AFL/CIO. — Abg. Wehner: Hätten Sie es denn nicht zitiert, wenn es vom Internationalen Bund gewesen wäre? — Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Dr. von Brentano: Aber ja, dann hätte ich meinen Dank an den ganzen Internationalen Bund gerichtet!)

    — Immerhin, Herr von Brentano, sind wir froh darüber, daß wir auf dem Umweg über die amerikanischen Gewerkschaften dann vielleicht doch gleichermaßen Freunde der deutschen Gewerkschaften werden können.

    (Beifall bei der SPD und von Abg. Dr. von Brentano.)

    Die vertrauensvolle Heranziehung der Gewerkschaften zu den großen Aufgaben ist notwendig. Die Gewerkschaften leisten ein Stück Erziehungsarbeit zu staatsbürgerlicher Verantwortung. Sie bekennen sich zu unserem Staat. Die Bundesrepublik Deutschland weist geringere Verluste durch Arbeitskämpfe auf als alle westlichen Industrieländer vergleichbarer Größenordnung.

    (Beifall bei der SPD.)

    Unter diesen Umständen haben die Gewerkschaften die Mahnung nicht verdient, sie sollten den demokratischen Grundfreiheiten der von ihnen betreuten Menschen uneingeschränkt Raum geben. Sie beschränkten diese Freiheit nicht; bei ihnen wird offen diskutiert. Das ist manchmal unbequem, aber das Risiko der Demokratie. Bei ihnen wird geheim gewählt. Es gibt Organisationen, deren demokratische Struktur nicht annähernd derjenigen der Gewerkschaften entspricht. Vielleicht sieht sich der Herr Bundeskanzler einmal den Verband Oder-Neiße seiner eigenen Partei daraufhin an.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wer Verantwortung trägt, muß Vorbild sein. Das Ansehen des Staates, seiner Organe, seiner Repräsentanten ist geschwächt — und zwar im In- und Ausland. Das geht uns alle an. Die Wachsamkeit unseres Volkes ist ein erfreuliches Zeichen gesunder Demokratie. Ohne Demokraten gibt es keine Demokratie. Der Schutz unserer Gemeinschaft und unserer Freiheit gegen Gefahren kann nicht nur der Exekutive überlassen bleiben. Die Mitwirkung der Staats-burger ist unentbehrlich. Natürlich braucht die Demokratie auch Zähne, um sich ihrer Feinde erwehren zu können. Es muß aber gesichert sein, daß dabei nicht der Falsche gebissen wird.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zustimmung des Abg. Dr. von Brentano.)

    Wir dürfen nicht das demontieren, was es zu schützen gilt, nämlich den freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat.
    Der freie Bürger hat Rechte und Pflichten. Nur beide ergeben das Ganze. Das gilt auch für die öffentliche Meinung. Die Pressefreiheit ist Teil der Freiheit, die es zu schützen gilt. Die öffentliche Meinung erfüllt mit wachsamer Kritik eine wichtige Aufgabe. Diese Kritik ist kein Monopol der parlamentarischen Opposition. Die Kritik kann lästig sein, ist aber heilsam. Natürlich gehört dazu — darüber haben wir hier vorhin gesprochen — die Verantwortung für den Umgang mit der Wahrheit. Die Sorge um das Recht ist nicht Spielball demagogischer Auseinandersetzungen. Das Bemühen, Mißstände aufzuklären, damit sie abgestellt werden können, sollte nicht gering geachtet werden. Wenn die Bundesregierung meint, daß nicht jeder Tadel an der Regierung den Staat erschüttert, hat sie recht. Hoffentlich ist damit die gelegentlich zu hörende Verketzerung der Intellektuellen zu Ende. Wenn die Regierung aber meint, nicht jede Kritik an den Organen der öffentlichen Meinung sei schlechthin ein Eingriff in demokratische Grundrechte, dann muß sie sich den Hinweis auf den Unterschied zwischen Kritik und unverantwortlichem Druck gefallen lassen. Druck in Personalfragen oder gar Ausforschung und Besetzung von Redaktionen sind mehr als Kritik.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Bisher haben allzu viele Behörden bei der Erörterung von Mißständen nicht zunächst gefragt, ob der Mißstand besteht und wie er abzustellen ist, sondern auf welche Weise er denn ans Tageslicht gekommen sei.

    (Beifall bei der SPD.)

    Um hier zu einer guten Abgrenzung der Aufgaben zu kommen, sollte das Zeugnisverweigerungsrecht des Journalisten einwandfrei geregelt werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Auch die Enquete über den Wettbewerb der verschiedenen Meinungsträger verdient Förderung.
    Die Presse und die Organe der öffentlichen Meinung sollen keine Sonderrechte bekommen. Ihre Ansprüche sind auch keine Sonderansprüche, sie ergeben sich aus dem Anspruch aller Bürger, frei, unabhängig und sachlich zutreffend informiert zu werden, und zwar in jedem Fall und in normalen Zeiten ausnahmslos. Die Regierung wird viel zu tun haben, um das gestörte Verhältnis vollen Vertrauens zwischen dem Volk und den Organen des Staates wieder herzustellen.
    Hoffen wir, daß die Regierung künftig eine glücklichere Hand in ihrer für die demokratische Wirk-



    Erler
    samkeit lebenswichtigen Aufgabe der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der öffentlichen Meinung entwickelt. Wo im Staate etwas nicht in Ordnung ist, muß man darüber sprechen, damit es in Ordnung gebracht werden kann.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Das gilt auch für die Sicherung von Staat und Volk gegen innere und äußere Gefahren. Auch auf diesem Gebiete muß der Rechtsstaat gewahrt werden, weil wir sonst in Willkür entarten. In unserem Lande ist nun einmal in der Vergangenheit die Freiheit von oben zertreten worden, und der frühere Bundeskanzler und andere Opfer dieser Zeit befinden sich in unseren Reihen. Genauso wie es gilt, die Demokratie gegen ihre Feinde zu schützen, muß der Bürger wissen, daß er vor einem Mißbrauch der Staatsgewalt gesichert ist.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Nicht alles, was nach bequemer Arbeit ausschauenden Behörden zweckmäßig scheint, ist auch Rechtens.
    Wir sind erfreut, daß die Bundesregierung endlich die Vorlage eines Ausführungsgesetzes zu Art. 10 des Grundgesetzes ankündigt. Meine Freunde haben seit langem schon eine als Diskussionsgrundlage geeignete Gesetzesvorlage diesem Hause vorgelegt. Wir erwarten, daß die Bundesregierung energisch verhandelt, um die alliierten Vorbehalte bei der Post- und Fernmeldeüberwachung durch deutsches Recht abzulösen und dabei zuverlässige Garantien gegen Mißbrauch zu schaffen. Übergriffe außerhalb der Legalität, d. h. ohne gesetzliche Grundlage, müssen geahndet werden.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Der Justizminister hat für die zu schaffende gesetzliche Grundlage eine Reihe wertvoller Anregungen gegeben.
    Der strafrechtliche Staatsschutz bedarf dringend einer Reform. Wir müssen das publizistische Gefecht sauber von der Tätigkeit des gemeinen Spions trennen und den Geheimnisbegriff klarer regeln. Sonst entziehen wir ohne Not lebenswichtige Fragen einer sinnvollen öffentlichen Diskussion. Aus Bequemlichkeit solcher Diskussion ausweichen zu wollen, zeugt von Überresten obrigkeitsstaatlichen Denkens, die möglichst bald beseitigt werden sollten.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)

    Außer dem Wechsel im Kanzleramt wären wegen der jüngsten Schwierigkeiten vielleicht auch andere Wechsel ratsam gewesen. Der Bundeskanzler sollte wissen, daß Generale ohne Fortune einer Sache selten erfolgreich dienen können. Die Behandlung des Problems des Verfassungsschutzes, die dazu gefallenen öffentlichen Äußerungen und die Haltung des verantwortlichen Ministers in einer früheren Sache dem Parlament gegenüber erleichtern eine unbefangene Diskussion über Maßnahmen zur Abwehr und Behebung von Notständen unserer Gemeinschaft gewiß nicht.

    (Beifall bei der SPD.)

    Diese und andere personelle Entscheidungen zeigen, daß der Kanzler bisher wichtigen Problemen ausgewichen ist. Um so größer sind die Zweifel, ob die guten Vorsätze der Regierungserklärung in Taten umgesetzt werden können.
    Auch die Außenpolitik ist dem Wandel durch die Veränderung weltpolitischer Kraftverhältnisse unterworfen. Unser Volk ist seit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zerrissen. Im westlichen Teil des Vaterlandes konnten wir eine freiheitlich demokratische Grundordnung errichten. Jenseits der Demarkationslinie wurden den Deutschen kommunistische Herrschaftsformen aufgezwungen. Die Hoffnung, daß die militärische Stärkung des Westens nicht n u r unsere Sicherheit gewährleisten, sondern auch den Weg zur Einheit ebnen würde, hat sich nicht erfüllt. Die sowjetische Atom- und Raketenrüstung löste eine Euphorie der Macht aus, welche sich im Berlin-Ultimatum des Jahres 1958 und in dem Druck auf Zementierung der deutschen Spaltung niederschlug. Die in der KubaKrise sichtbar gewordene Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, von ihrer gewaltigen militärischen Macht notfalls vollen Gebrauch zu machen, führte zu einer realistischeren Einschätzung der Lage durch die Sowjetunion. Dazu haben die Schwierigkeiten im eigenen Lager ebenso beigetragen wie die ersten sichtbaren Erfolge des europäischen Einigungswerkes. Die Sozialdemokratische Partei ist sich bewußt, wie eng heute der Bewegungsraum der deutschen Außenpolitik ist. Sie hat sich nicht der Regierungsmehrheit angeschlossen, sondern die Konsequenzen aus dem nicht von ihr zu vertretenden Hinschwinden früherer Möglichkeiten gezogen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Lachen und Zurufe von der Mitte.)

    Wir danken dem Herrn Bundestagspräsidenten, daß er diesen Sachverhalt in seiner Rede zum Abschied des früheren Herrn Bundeskanzlers vor diesem Hause so glasklar herausgearbeitet hat.

    (Beifall bei der SPD. — Lachen in der Mitte.)

    Bei dieser Lage stellen wir mit Befriedigung die Übereinstimmung mit den außenpolitischen Zielen der Regierungserklärung fest. Wir müssen die Freiheit schützen, den Frieden wahren und mit friedlichen Mitteln dais Recht der Selbstbestimmung für das ganze deutsche Volk erringen. Wir wollen uns über den nationalen Rahmen hinaus in größere Gemeinschaften einfügen und ein wirtschaftspolitisch geeintes und zu gemeinsamem politischen Handeln fähiges freies Europa schaffen. Dieses Europa muß die engste Bindung zu den Vereinigten Staaten von Amerika halten und festigen und zu wirklicher Partnerschaft hin entwickeln. Wir bemühen uns um ein besseres nachbarliches Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten. In all diesen Fragen hat die Regierungserklärung profiliertere Akzente gesetzt.
    Die Aussöhnung zwischen dem französischen und dem deutschen Volke ist ein bleibendes Grundelement deutscher Politik. Ohne Frankreich gibt es kein



    Erler
    Europa; ohne die Vereinigten Staaten keine europäische Sicherheit.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Leider sind die Beziehungen zu unseren Verbündeten nicht von Trübungen frei. Wir müssen einsehen, daß Bemühungen zur Entspannung unter den Weltmächten auch den Interessen des deutschen Volkes dienen können. Natürlich müssen sich Resultate wirklicher Entspannung auch und vor allem dort zeigen, wo die Spannungen ihre sichtbarste Ursache haben, nämlich in Deutschland.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Blindes Wettrüsten führt uns der Lösung unserer nationalen Probleme nicht näher. Fortschritte in der Begrenzung und Kontrolle der Rüstungen, also zur Abrüstung hin, können auch Fortschritte in der deutschen Frage ermöglichen. Unsere Aufgabe ist es, in die Abrüstungsdiskussionen in geeigneter Weise Schritt für Schritt die politischen Probleme einzuführen, weil Entspannung ohne Lösung der politischen Fragen einfach nicht Wirklichkeit werden kann.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Die Bundesregierung sagt, daß alle Schritte zur Lösung der deutschen Frage notwendig mit Maßnahmen auf dem Gebiete der Sicherheit verbunden sind. Dann müssen wir auch bereit sein, gemeinsam mit unseren Verbündeten solche Maßnahmen zu erörtern. Die Beschränkung auf nur weltweite Teilmaßnahmen scheint mir eine unnötige Fessel zu sein. Politische Gefahren anderer Teilmaßnahmen auszuschalten und im Gegenteil daraus Vorteile für die deutsche Sache zu finden, wäre eine verdienstvolle Aufgabe. Das muß alles sehr sorgfältig überlegt und durchgerechnet werden. Deshalb erneuern wir die Forderung, daß die Bundesregierung ein Abrüstungsamt schafft. Wir müssen diesem Problem dieselben geistigen und politischen Anstrengungen zuwenden, die wir für die militärische Sicherung unseres Landes im Verein mit den Verbündeten aufbringen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Manche Angriffsflächen draußen in der Welt gegen die Politik der Bundesrepublik Deutschland würden durch dieses Zeichen guten Willens zum Verschwinden gebracht.

    (Beifall bei ,der SPD.)

    Die ein großes Echo auslösende Rede des Friedenspreisträgers Professor Weizsäcker in der Paulskirche in Frankfurt am 13. Oktober hat zur Strategie der Friedenssicherung wertvolle Hinweise gegeben. Wir müssen frei von blinder Emotion und frei von Lethargie und, wie ich hinzufügen möchte, wissend um die engen Grenzen unserer Möglichkeiten das Erreichbare auch wollen und durchzusetzen uns bemühen.
    Sicherheit für unseren Staat finden wir nur an der Seite des Westens und als sein loyaler Partner. Die
    Allianz im ganzen bedarf eines breiten Spektrums der Verteidigungsmittel, um auf jede Form einer Drohung angemessen reagieren zu können. Unsere Interessen werden am besten gewahrt, wenn wir uns um eine Einwirkung auf die Gesamtstrategie der Allianz bemühen und die Organisation der NATO entsprechend zu gestalten helfen. Ständiges Mißtrauen gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika öffnet den Weg hierzu nicht. Vielleicht wäre es gut, wenn Herr von Brentano einigen seiner übereifrigen Freunde in den Reihen der ADK, die dieses Mißtrauen geradezu züchten, einmal ins Gewissen reden würde.

    (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU.)

    — Unter uns: bekommen Sie mitgeteilt! Diplomatische Vorstöße sollten dem Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik vorbehalten bleiben. Die von der Bundesregierung mit Recht erstrebte Integration der Verteidigungsmittel wird leider von unseren französischen Freunden nicht oder kaum befolgt. Wir hoffen, daß der deutsch-französische Vertrag genutzt wird, um diese Lücke schließen zu helfen. Wir sind im Rahmen des Bündnisses zu einer engen Zusammenarbeit mit unserem französischen Partner selbstverständlich bereit. Auch und gerade das Gebiet der Entwicklung und Produktion von Waffen und Gerät eignet sich unter Berücksichtigung der für uns geltenden Beschränkungen hierfür. Es muß sich dann aber um Gegenstände handeln, die in ihrer militärischen Leistung keine schwerwiegenden Nachteile gegenüber anderen Möglichkeiten aufweisen.
    Wenn der Verteidigungsminister nach achtjährigem Aufbau der Bundeswehr feststellt, daß ihre Spitzengliederung einem Ernstfall nicht gewachsen sein würde, so ist die Verabschiedung des Organisationsgesetzes nunmehr eine unabdingbare Aufgabe.

    (Sehr wahr! bei der SPD und bei 'der FDP.)

    Wenn der Wehrbeauftragte .des Hauses den inneren Zustand der Truppe so darstellt, daß in Übereinstimmung mit dem Verteidigungsminister zunächst eine Reifezeit vonnöten sei, dann müssen wir für die nahe Zukunft Qualität vor Zahl setzen

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    und große Anstrengungen in die Ausbildung von Offizieren und Unteroffizieren investieren. Daß deren so viele fehlen, hängt mit den Lücken unseres Erziehungssystems überhaupt zusammen, von denen schon die Rede war. Daß die Kampfkraft der Feldverbände durch den 'beginnenden Aufbau der Territorialverteidigung gestärkt wird, ist zu begrüßen. Die vorgesehene Form muß nach den ersten Erfahrungen sorgsam überprüft werden. Sie wird nämlich der Ungerechtigkeit noch nicht Herr, die darin liegt, daß ein Teil der tauglichen Wehrpflichtigen ein unverhältnismäßig größeres Opfer bringt als der andere.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Die Angehörigen unserer Bundeswehr verdienen Anerkennung für ihre oft entsagungsvolle Arbeit und Opferbereitschaft.

    (Erneute Zustimmung bei der SPD.)




    Erler
    Die vielen Unzulänglichkeiten sind eine gemeinsame Sorge. Wenn etwas nicht stimmt, sollen wir es nicht verbergen, sondern müssen es abstellen. Dabei müssen wir uns ,alle vor Verallgemeinerungen hüten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Unsere Allianz ist defensiv. Sie schützt das Gebiet der Teilnehmerstaaten gegen Angriffe von außen. Der Zusammenschluß muß aber auch politisch genutzt werden. Das ist nur bei einer gemeinsamen Politikmöglich.
    Wir dürfen den Status quo von der anderen Seite nicht gewaltsam eindrücken lassen, oder es gar hinnehmen, daß unsere Positionen ,ausgehöhlt werden. Wir dürfen aber auch nicht dem Status-quo-Denken verfallen und uns mit dem gegenwärtigen Zustand begnügen. Auch hier ist Stillstand Rückschritt. Einen dauernden Status quo hat es in der Geschichte nie gegeben.
    Wir können der Sowjetunion keine Lösung der deutschen Frage nach unseren Vorstellungen aufzwingen. Wir brauchen uns aber auch nicht von der Sowjetunion die Zementierung der deutschen Spaltung und die Aushöhlung der Positionen des freien Berlin aufnötigen zu lassen.

    (Allseitiger Beifall.)

    Für den gesamten Westen besteht kein Anlaß, dem lächelnden Chruschtschow zu gewähren, was der drohende nicht erreichen konnte.

    (Beifall bei der SPD und den Regierungsparteien.)

    Außerdem: an der Autobahn nach Berlin hat Herr Chruschtschow nicht gerade gelächelt.
    Die Bundesregierung will bis zur endgültigen Friedensregelung ein Gremium der vier die Verantwortung für Deutschland als Ganzes tragenden Mächte wirken lassen. Sie sagt nicht, welche Aufgaben diesem Gremium zufallen würden. Vor diesem Schritt muß man ja doch wohl zunächst Einverständnis mit den verbündeten drei Westmächten herstellen, was man eigentlich an die vierte Macht herantragen will.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Wertvolle Anregungen hat gerade zu diesem Punkt die von allen Fraktionsvorsitzenden dieses Hauses mit unterzeichnete Denkschrift des Kuratoriums Unteilbares Deutschland an die Vereinten Nationen gebracht. Wir bekennen uns zu diesem Dokument.

    (Beifall bei der SPD.)

    Diese Denkschrift schildert die Lage in Berlin, an der Mauer und an der Zonengrenze.
    Die Regierungserklärung stimmt in ihrem Berlin gewidmeten Abschnitt mit der Haltung von Senat und Abgeordnetenhaus des Landes Berlin überein. Wir legen Wert auf die Ergänzung, daß es nicht nur um die ungeschmälerte Aufrechterhaltung des freien Zugangs nach Berlin geht. Dieser Zugang ist schmal und seine Freiheit gefährdet genug. Es geht um eine bessere Sicherung des Zugangs.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Bundesrepublik Deutschland ist verpflichtet, das Land Berlin außenpolitisch zu vertreten. Das muß auch für Abmachungen gelten, welche sie mit osteuropäischen Staaten trifft.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Wir können uns keine Herauslösung Berlins aus diesem Anlaß leisten, weil das den sowjetischen Bemühungen — die Stellung Berlins zu untergraben — zu einem großen Teil entgegenkommen würde.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Regierungserkärung sagt mit Recht, daß man in der Zwischenzeit — also bis zur Lösung der deutschen Frage — die Hände nicht in den Schoß legen 'dürfe. Sie schweigt darüber, was diese Hände tun können. Sollen sie geballt oder in die Tasche gesteckt werden? Es gibt sicher gute Gründe, dieses Thema nicht auf offenem Markte zu erörtern. Wir brauchen dennoch eine breite gemeinsame Grundlage für das Wirken auf diesem Gebiet. Dazu gehört die Information der nicht in der Regierung befindlichen großen Partei dieses Hauses und ihre Konsultation, bevor Entscheidungen gefallen sind.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Wehner: Auch durch den Außenminister!)

    Beides schmälert nicht die Fähigkeit und Verantwortlichkeit der Regierung für ihr eigenes Handeln; denn dazu ist sie da.
    Ich sehe ein, daß wohl zunächst die Gemeinsamkeit in den eigenen Reihen der Regierungsmehrheit voll hergestellt werden muß. Es sind Zweifel an der Klarheit der Außenpolitik auf einigen wichtigen Gebieten aufgetaucht. Da gab es einen Brief, der dann keiner war, mit einem Angebot, in der deutschen Frage einen Burgfrieden von zehn Jahren zu schließen, auf das es nach der ersten Version gar keine, nach der zweiten eine unfreundliche Antwort gegeben hat, die inzwischen vom Gegenspieler veröffentlicht wurde. Möglicherweise war der zuständige Außenminister von dieser Aktion nicht informiert. Außenpolitik kann nur erfolgreich betreiben, wer alle Schritte der eigenen Regierung kennt. Wir hoffen, daß der Abgeordnete Dr. Adenauer seinem Amtsnachfolger und dem Außenminister volle Klarheit verschafft, damit auch der Auswärtige Ausschuß ins Bild gesetzt werden kann.

    (Beifall bei der SPD.)

    Einige Aspekte des Osthandels haben zu der Frage geführt, ob die Beschlüsse der Bundesregierung für alle Regierungsmitglieder verbindlich sind. Man kann doch nicht gleichzeitig den NATO-Rat befassen und eine handfeste Polemik entfesseln. In der Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland bei aller berechtigten Vorsicht Schritte zur Entspannung begrüßt, hat es ebenfalls einen klaren Gegensatz des früheren Regierungschefs zu den im Bulletin vom 8. Oktober 1963 veröffentlichten Darlegungen des Außenministers gegeben. Schließlich fehlt es an einer wirksamen Koordinierung unserer verschiedenen Ressortvertreter in Brüssel. Wenn in Zukunft Europa im Verhältnis zu Amerika mit einer Stimme sprechen soll, dann darf die Bundesregierung der



    Erler
    Bundesrepublik Deutschland nicht mit mehreren Zungen reden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Bundeskanzler Erhard muß klarmachen, ob er wirklich die Richtlinien der Politik bestimmt oder ob es noch andere Instanzen außer ihm gibt. Er hat ja ausdrücklich zugesagt, noch Rat einzuholen. Kann diese Prozedur vielleicht zu verschiedenen Konzeptionen führen, oder wird künftig im Kabinett entschieden, nachdem der Kanzler seine Meinung dargelegt hat?

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    In der Europapolitik müssen wir die europäischen Gemeinschaften stärken. Das gilt vor allem für die Stärkung der Gemeinschaftseinrichtungen, also von Kommissionen und Parlament, und damit für die Verbesserung einer demokratischen Kontrolle. Unvereinbar damit ist es, wenn ein Ministerrat die Funktionsfähigkeit des kontrollierenden Parlaments durch Haushaltskürzungen beeinträchtigt.
    Der Stärkung dient weiter der geographische Ausbau dieser Gemeinschaften, vor allem durch die Einbeziehung Großbritanniens und anderer beitrittswilliger Länder. Die europäische Solidarität kann nur gefestigt werden, wenn nach der Aussöhnung mit Frankreich nun auch der große Wurf eines Brückenschlages über den Kanal gewagt wird.

    (Beifall bei der SPD.)

    Kühle oder gar schlechte deutsch-britische Beziehungen sind beiden Völkern niemals bekommen.

    (Zustimmung bei der SPD und Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Professor Erhard könnte ein großes Verdienst gewinnen, wenn er die Sache einer deutsch-britischen Aussöhnung so zu seiner Herzenssache machte, wie andere mit Recht die deutsch-französische Aussöhnung erfolgreich zustande gebracht haben.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Die Widerstände- sind auch uns bekannt; wir können nicht mit dem Kopf durch die Wand. Aber wir brauchen uns auch nicht den Willen eines einzelnen noch so befreundeten Landes aufzwingen zu lassen. Das würde dem Geist der Gemeinschaft widersprechen.
    Die deutsch-französische Freundschaft ist für uns kein Sonderbündnis, sondern ein lebenswichtiger Bestandteil der europäischen Gemeinschaft und der atlantischen Solidarität. So haben wir es mit der Präambel zum deutsch-französischen Vertrag am 16. Mai 1963 ausdrücklich beschlossen. Niemand übersieht die Schwierigkeiten dieses Werkes. Die Bundesregierung hat zugesagt, daß das deutsch-französische Jugendwerk nicht einseitig zusammengesetzt würde.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Man wollte nicht zu einer Staatsjugend und zu einer
    großen bürokratischen Behörde kommen. Wir in der
    Bundesrepublik Deutschland halten nun einmal viel
    von der Freiheit unserer Jugendorganisationen. Leider scheinen die Dinge anders zu laufen.

    (Abg. Wehner: Leider wahr!)

    Wer aber sogar die Sozialhilfe privatisiert, sollte gewiß davor zurückschrecken, den Jugendaustausch verstaatlichen zu wollen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Staat soll die vorhandenen Einrichtungen kontrollieren und unterstützen, aber nicht jene Einrichtungen selbst ersetzen wollen.
    Wenn Staatssekretär Hüttebräuker erklärt,

    (Unruhe bei der CDU/CSU)

    daß man keiner Marktordnung beistimmen könne, wenn dadurch Gräben zementiert würden, weiß man, daß es dabei vor allem um die Beziehungen zu unseren skandinavischen Nachbarn geht.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Wenn wir die Hindernisse für den Ausbau der Gemeinschaft verringern wollen, muß die Kennedy-Runde Erfolg haben. Vielleicht hat die Bundesregierung die Möglichkeit, bei Zwischenlösungen bis zum erfolgreichen Abschluß der Kennedy-Runde politisch und finanziell behilflich zu sein. Die Erfolgsaussicht wird um so größer sein, wenn die Kommission als das Gemeinschaftsorgan mit den Verhandlungen betraut wird und nicht der Ministerrat, der ja ohnehin nach Abschluß der Verhandlungen das letzte Wort hat. Nur in zäher Arbeit kann jener europäische Partner entstehen, der das Angebot des Präsidenten der Vereinigten Staaten auf volle Partnerschaft auf sich nehmen kann. Europa trägt eine große Verantwortung.
    Dies gilt z. B. auch für das gewaltige Gebiet der Entwicklungshilfe. Im Rahmen der OECD haben wir uns zu einer Leistung von 1% unseres Bruttosozialproduktes verpflichtet. Wir müssen wissen, daß das keine reine Mildtätigkeit ist, sondern Teil einer wohlverstandenen weltumspannenden Sicherheitspolitik. Wenn es den entwickelten Industrienationen nicht gelingt, den südlich von ihnen liegenden unterernährten und darbenden Völkern auf dem Weg zur Selbsthilfe zu helfen, ,damit sie ,sich selbst ein menschenwürdiges Dasein erarbeiten können, werden wir eine weltpolitische Katastrophe erleben. Jene Länder wollen aber vom Hilfsempfänger zum Handelspartner werden. Dazu gehört die Bereitschaft, ihre Waren aufzunehmen. Von der Beseitigung des ärgerlichen Hindernisses der Fiskalabgaben war in der Regierungserklärung trotz früherer Beteuerungen des damaligen Wirtschaftsministers leider nichts zu sehen. Hüten sollten wir uns vor einer Bevormundung in den inneren Angelegenheiten. Die Sozialordnung der Entwicklungsländer wird nicht ohne weiteres dem Modell fortgeschrittener Industrienationen entsprechen können.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Ideologischer Eifer kann hier nur schaden und uns jene Völker entfremden.

    (Zustimmung bei der SPD.)




    Erler
    Nach ihrer Erklärung hofft die Regierung, daß Länder, die ihre nationale Selbständigkeit inzwischen erlangt haben, auch für die deutsche Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht Verständnis aufbringen. Wir teilen diese Hoffnung und Erwartung. Wir müssen aber bereit sein, auch Verständnis für jene Völker zu bekunden, die heute noch um ihre nationale Selbständigkeit ringen. Falsche Zungenschläge ihnen gegenüber bringen der deutschen Sache keinen Gewinn.
    Die Regierungserklärung geht positiv auf die Besserung des Verhältnisses zu ,den osteuropäischen Völkern ein. Der Bundestag hat mach sorgfältiger Vorarbeit am 14. Juni 1961 hierzu einstimmig einen grundlegenden Beschluß gefaßt. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit ihren Verbündeten eine Ostpolitik zu führen, deren Ziel die Wiederherstellung eines freien Gesamtdeutschland ist, das auch mit der Sowjetunion und allen osteuropäischen Staaten friedliche und gedeihliche Beziehungen unterhält. Zu diesem Ziel soll die Bundesregierung jede sich bietende Möglichkeit ergreifen, um ohne Preisgabe lebenswichtiger deutscher Interessen zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den osteuropäischen Staaten zu gelangen, und einige weitere Maßnahmen treffen. Diese Entschließung war getragen von dem Geist guter Nachbarschaft und dem Willen zur Aussöhnung ,auch mit jenen Völkern, die ebenso wie unsere westlichen Nachbarn Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik gewesen sind.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Die Bundesregierung wird unsere volle Unterstützung haben, wenn sie sich um die Durchführung dieses Beschlusses in unserer auswärtigen Politik bemüht.
    Auch und gerade für ein gutes Verhältnis zu unseren osteuropäischen Nachbarn ist Aufrichtigkeit erforderlich: Es darf kein Zweifel bestehen über unser Bekenntnis zum Recht auf die Heimat und zum ungeteilten Selbstbestimmungsrecht für alle Völker.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der anderen Fraktionen.)

    Deutschland besteht völkerrechtlich in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 fort. Es ist die Aufgabe jeder deutschen Regierung, bei Friedensvertragsverhandlungen — um mit Kurt Schumacher zu sprechen — zäh um jeden Quadratmeter deutschen Bodens zu ringen.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der anderen Fraktionen.)

    Der deutsche Rechtsstandpunkt darf in diesen Fragen nicht verschwiegen werden, weil uns dies unglaubwürdig machen und unsere Haltung weder bei unseren westlichen Verbündeten noch bei den östlichen Nachbarvölkern erleichtern würde. Das Selbstbestimmungsrecht kann nicht in einzelne Teile aufgelöst werden, wenn man es nicht abwerten will.
    In dem Beschluß vom 14. Juni 1961 wurde die Bundesregierung aufgefordert, über die von ihr ergriffenen Maßnahmen zu berichten. Wir erwarten, daß sie dieser Verpflichtung nachkommt und damit zum Ausdruck bringt, daß sie an die schicksalhafte Aufgabe der Vorbereitung einer dauerhaften friedlichen Lösung für ganz Deutschland auch mit unseren östlichen Nachbarn mit Ernst herangeht.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Regierungserklärung spricht von der Schuld, die in den Jahren der Gewaltherrschaft allen Deutschen aufgebürdet wurde. Wir müssen der Umwelt sagen, daß die Anerkennung der Verantwortung unseres Volkes für das Geschehene, seine Haftung für die Taten seiner Oberen und seine Verpflichtung zur Wiedergutmachung nicht die Tatsache unterdrücken dürfen, daß eine junge Generation heranwächst, die in keiner Weise unmittelbar mit den schrecklichen Geschehnissen der Gewaltherrschaft verbunden ist. Die Weimarer Republik ist aus vielen Ursachen zugrunde gegangen. Beigetragen hat zu ihrem Untergang auch eine Politik der damaligen Siegermächte, welche dem demokratischen Deutschland jenes Entgegenkommen in nationalen Lebensfragen versagte, das man später überreich der erpresserischen Gewaltherrschaft erwies.

    (Beifall auf allen Seiten des Hauses.)

    Wir bitten daher die Umwelt um Verständnis dafür, daß es die Aufgabe einer demokratischen Regierung und eines demokratischen deutschen Parlaments ist, trotz aller Belastungen der Vergangenheit die selbstverständlichen Lebensinteressen unseres Volkes und vor allem seiner heranwachsenden Jugend nach innen und nach außen zu wahren.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Die Wiedergutmachung wird mit dem ganzen Hause von der Bundesregierung bejaht. Nicht zu verstehen ist deshalb der Widerstand gegen die Behandlung der Regierungsvorlage. Ich hoffe, daß Ihre Fraktion, Herr Kollege Rasner, sich das noch einmal überlegt.

    (Abg. Rasner: Auch Ihre Fraktion wollte das am nächsten Plenartag nicht haben! Es gab da keine Diskussion! — Gegenruf von der SPD: Das ist nicht richtig!)

    — Wollen wir uns nicht streiten, es geht um die Länge des Aufschubs.

    (Abg. Wehner: Er kann doch nicht sachlich sein!)

    Die Bundesregierung sollte mit dem Auswärtigen Ausschuß — vielleicht in ähnlicher Weise wie vor zwei Jahren bei der Festlegung der Ostpolitik — erörtern, ob allein die Wiedergutmachung ein ausreichender Boden sein kann, um eine tragfähige Grundlage für ein neues Verhältnis zwischen dem jüdischen Volke, dem Staat Israel und dem deutschen Volk zu schaffen. Widersprüchliche Erklärungen deutscher Persönlichkeiten nützen der Lösung dieses Problems nicht.

    (Beifall bei der SPD.)




    Erler
    Eine interessante Sammlung ist auf den ersten Bänken versammelt.

    (Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Majonica: Bei Ihnen wird nicht diskutiert, Herr Erler?! Carlo Schmid zum Teststoppabkommen! Bei Ihnen ist das erlaubt, uns wird das falsch angerechnet! Das ist doch Heuchelei!)

    — Es kommt darauf an, ob man jeweils in dem Land, das daran am meisten interessiert ist, Erklärungen in entgegengesetzter Richtung abgeben muß.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Wehner: Das war ein Meisterstück damals!)

    Aber ich freue mich über das Bekenntnis, daß auch außenpolitische Diskussionen öffentlich gehalten werden können.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!) Wir kommen darauf zurück.

    Die Regierungserklärung enthält eine Fülle annehmbarer Vorsätze. Darin unterscheidet sie sich nicht von ihrem Vorgänger. Sie enthält auch neue Gedanken und eine neue Art des Herangehens an manche Probleme. Was aber zählen wird, sind allein 'die Taten, die dieser Erklärung folgen. Die sozialdemokratische Fraktion wird gute Vorschläge der Regierung nicht deshalb bekämpfen, weil sie von ,der Regierung kommen, sondern sie fördern. Sie wird sich zur Wehr setzen, wenn politische und gesetzgeberische Schritte beabsichtigt sind, die sie für gefährlich hält. Sie wird vor allem über die Einhaltung der demokratischen Spielregeln wachen. Bei jeder Wahl sollen Leistungen, Persönlichkeiten und Programme verglichen werden, darf nicht etwa Staatsmacht zur Verlängerung von Parteimacht in Erscheinung treten.
    Der Bundeskanzler behandelte die Rolle der Opposition im Parlament. Wichtig ist vor allem, daß die andere große Partei immer als mögliche Regierungspartei begriffen wird.

    (Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Und sich selbst versteht!)

    — Selbstverständlich, das haben Sie uns bisher nur immer bestritten. Wir haben uns immer so verstanden.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zuruf von der Mitte: Das war mißverständlich!)

    — Daß wir uns als Regierungspartei verstehen? Natürlich!
    Nur so funktioniert die Demokratie einwandfrei. So mancher hält eine Opposition für nötig, meint aber, sie müsse ewig Opposition bleiben. Die Regierung wird .nur dann vor allzu großen Fehlern bewahrt, wenn sie Furcht haben muß, abgelöst zu werden. Und die Opposition kann 'dann nicht schrankenloser Demagogie verfallen, wenn sie riskieren muß, als Regierung beim Wort genommen zu werden.

    (Beifall bei der SPD. — Demonstrativer Beifall bei den Regierungsparteien.)

    — Ich freue mich, daß Sie mit Ihrem Beifall meiner heutigen Rede eine hohe Qualifikation zubilligen, nämlich wie einer Regierungserklärung.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Rasner: Das war übertrieben! — Abg. Strauß: Wie leicht man sich täuschen kann!)

    — Nein, Sie haben nur nicht gewußt, welche Konsequenz Ihr Beifall hatte!

    (Heiterkeit.)

    Seit den Verhandlungen vor einem Jahr sind die Parteien dieses Hauses und die Öffentlichkeit davon überzeugt, daß die Sozialdemokratische Partei eine durchaus mögliche Regierungspartei ist. Wir haben ja alle einmal miteinander darüber gesprochen.

    (Heiterkeit.)

    Ob sie es wird, ob das Interim, das wir jetzt begonnen haben, über den nächsten Wahltag hinaus dauert,

    (Abg. Majonica: Wir wollen es hoffen!)

    darüber werden die Wähler nach Abschluß der zweiten Halbzeit dieses Bundestages zu entscheiden haben.

    (Abg. Majonica: Es ist gar kein Interim!)

    Eine Zahl gibt Ihren Hoffnungen einen kleinen Dämpfer; sie gibt einen Anhalt, wie sehr sich die Dinge gewandelt haben. Wenn wir uns zur Neuwahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung vereinigen, wird es außer den Mitgliedern dieses Hauses eine andere Hälfte der Versammlung geben, die von den Landtagen entsandt wird, die zu 48% aus Freunden meiner Partei bestehen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das zeigt den Übergangscharakter des jetzigen Kabinetts.
    Eines aber wollen wir noch einmal festhalten: Dieser Staat ist unser aller Staat. Wir tragen ihn gemeinsam'. Wir Sozialdemokraten haben die Bundesrepublik Deutschland und ihr Grundgesetz mitgeschaffen. Wir haben in diesem Hause in erheblichem Umfang unser Gedankengut mit in die Gesetzgebung hineinzubringen vermocht. Wir tragen die Regierungsverantwortung in der Hälfte der deutschen Länder und stellen die Oberhäupter der meisten deutschen Großstädte. Das macht klar, daß wir auf die vielfältigste Weise in dieses unser Staatswesen hineingewoben sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist die staatliche Organisationsform im freien Teil unseres 'ganzen Vaterlandes, und sie wird einst aufgehen in einem freien Gesamtdeutschland. Das mindert ihre Würde nicht. Dieser Auftrag zwingt sogar zu zusätzlichen politischen Impulsen. Dieser unser Staat, das ist nicht eine Koalition, das ist auch keine Partei, das sind wir alle. Deshalb möchte ich
    — trotz der etwas selbstgefälligen abschließenden polemischen Bemerkungen des Kollegen Brentano — von mir aus mit dem Satze schließen: Wir sind ein Volk, da trägt ein jeder auch des anderen Last.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD.)