Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Wir treten in die Tagesordnung ein und beginnen mit der
Fragestunde .
Ich darf das Haus vorweg darauf aufmerksam machen, daß die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr, die gestern nicht mehr aufgerufen worden sind, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat erst morgen beantwortet werden.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen I) auf. — Der Herr Bundespostminister ist offenbar noch nicht anwesend.
Dann rufe ich aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheitswesen die Frage XI/3 — des Herrn Abgeordneten Wellmann — auf — die Fragen XI/1 und XI/2 sind vom Fragesteller zurückgestellt —:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um den deutschen Verbraucher vor gesundheitsschädigenden ausländischen Lebens- und Genußmitteln oder Lebens- und Genußmittelfälschungen zu schützen?
Bitte, Frau Bundesministerin!
Nach den Bestimmungen des Lebensmittelgesetzes dürfen bei uns Lebensmittel und Bedarfsgegenstände eingeführt werden, die den in der Bundesrepublik geltenden lebensmittelrechtlichen Bestimmungen entsprechen. Die Verantwortung hierfür hat der Importeur. Für die Überwachung sind die Länderbehörden zuständig, denn der Vollzug .des Lebensmittelgesetzes ist Ländersache. Die Überwachungsbehörde hat die Waren alsbald nach ihrem Eintreffen daraufhin zu kontrollieren, ob sie auch im Inland zugelassen wären.
Es ist mir nicht bekannt geworden, daß in den letzten Jahren die Behörden der Länder häufiger Verstöße bei Importwaren als bei im Inland hergestellten Lebensmitteln feststellen mußten. Wenn solche Verstöße festgestellt wurden, sind die Importeure zur Verantwortung gezogen worden.
Keine Zusatzfrage, Herr Wellmann! —
Ich sehe gerade, daß der Minister für das Post-und Fernmeldewesen eingetroffen ist. Wir können also jetzt die Fragen aus seinem Geschäftsbereich behandeln, zunächst die Frage X/1 — des Herrn Abgeordneten Blachstein —:
Billigt die Bundesregierung, daß die Deutsche Bundespost spanische Gastarbeiter mit einem Muster-Arbeitsvertrag von mindestens einem Jahr Dauer anwirbt und diesen Arbeitern nach Ankunft in der Bundesrepublik neue Verträge für Postfacharbeiter für vorübergehenden Bedarf vorlegt, nach denen während der ersten 30 Tage das Arbeitsverhältnis täglich und später mit einer Woche Frist gekündigt werden kann?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister.
Ich bin heiser und bitte vielmals zu entschuldigen, daß meine Stimme etwas rauh klingt. Das kommt aber nicht von einem feucht-fröhlichen Abend.
Das könnte verdächtig klingen, aber das nehmen wir hin, Herr Minister!
Der Inhalt der von der Deutschen Bundespost mit den spanischen Gastarbeitern abzuschließenden Arbeitsverträge ist durch die Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des spanischen Staates über die Wanderung, Anwerbung undVermittlung von spanischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland vom 29. März 1960 verbindlich vorgeschrieben. Diese Arbeitsverträge werden für eine bestimmte Dauer oder Mindestdauer, in der Regel für ein Jahr abgeschlossen. Wie ich festgestellt habe, ist lediglich in einigen Fällen im Bereich der Oberpostdirektion Hamburg in unzulässiger Weise davon abgewichen worden. Ich habe die Oberpostdirektion Hamburg angewiesen, in Zukunft die bestehenden Vorschriften genau zu beachten.
Eine Zusatzfrage, Herr Blachstein!
Herr Minister, können Sie Auskunft darüber geben, um wie viele Fälle es sich im Raum der Oberpostdirektion Hamburg gehandelt hat?
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2590 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Die Zahlen liegen mir nicht vor. Es handelt sich aber nur um einige wenige Fälle.
Ist sichergestellt, daß die Oberpostdirektion Hamburg künftig in Ihrem Sinne handeln wird?
Stücklen, Bundesministerfür das Post- und Fernmeldewesen: Ich bin davon überzeugt.
Frage X/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Rinderspacher —:
Trifft die Meldung des „Westdeutschen Tageblattes", Dortmund, vom 20. Dezember 1962 zu, wonach Philatelisten nicht mehr leere Briefumschläge als Drucksache schicken dürfen, vielmehr durch Einstecken eines x-beliebigen Zettels die Drucksache vervollständigen müssen?
Die Beantwortung übernimmt der Herr Minister.
Nach den Vorschriften der Postordnung ist bei allen gebührenbegünstigten Briefsendungsarten nur ein bestimmter Inhalt zulässig. So dürfen zum Beispiel Druckachen nur gedruckte oder vervielfältigte Texte oder Bilder enthalten. Ein Umschlag ohne jeden Inhalt erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Er kann deshalb nur zur Briefgebühr eingeliefert werden. Wer daher auf einem Briefumschlag einen Stempelabdruck zu Sammlerzwecken wünscht, ohne dafür die volle Briefgebühr entrichten zu müssen, muß dem Umschlag durch Einlegen
zum Beispiel eines Zeitungsausschnittes einen bei Drucksachen zulässigen Inhalt geben.
Eine weitere Frage, Herr Rinderspacher, bitte!
Herr Minister, worin liegt denn der Sinn dessen, daß in einen Umschlag etwas hineingetan werden muß, auch wenn dieses Etwas keinen Sinn hat, und daß ,die Post das kontrollieren muß? Es handelt sich doch bei den Philatelisten monatlich um Zehntausende von solchen Briefen, die freigemacht werden, und die Post muß kontrollieren, ob nun ein Fetzen Papier darin ist oder nicht. Niemand hat doch etwas davon, wenn hier zusätzlicher Arbeitsaufwand geleistet wird.
Wenn es sich um eine Normalgebühr, eine Briefgebühr handelte, könnte es uns gleichgültig sein, ob eine Drucksache oder eine mit Randvermerken versehene Drucksache oder eine Briefsache darin ist. Da es sich aber um eine Sondergebühr handelt, also um eine begünstigte Gebühr, muß die Möglichkeit bestehen, zu prüfen, ob diese begünstigte Gebühr nur für den bestimmten Zweck, hier also für Drucksachen, verwandt wird. Aus diesem Grunde brauchen wir die Kontrollmöglichkeiten. Ich glaube, daß es wohl nicht allzuviel verlangt sein wird — —
— Nein, Herr Kollege Mommer! Ich bin gerne bereit, es einzusehen, wenn etwas völlig falsch ist. Aber bei einem solchen Massenverkehr muß man Richtlinien erlassen, die in dem großen Betrieb der Deutschen Bundespost tatsächlich kontrolliert werden können. Wenn nun in einem Umschlag mit der Aufschsrift „Drucksache" kein gedruckter Inhalt ist, dann ist eben die Voraussetzung der Drucksache offengeblieben. Es könnte durchaus sein, daß aus diesem Brief der Inhalt verlustig gegangen ist. Wenn aber eine Drucksache, d. h. ein Zeitungsausschnitt oder irgendeine andere Drucksache, beigelegt ist, dann ist auch für den Kontrollierenden ganz eindeutig klar, daß damit ein Sammler eine Abstempelung haben will, und die Drucksache läuft ordnungsgemäß durch.
Herr Rinderspacher, eine weitere Frage!
Herr Minister, bei dem Riesenbetrieb, von dem Sie eben mit Recht sprachen, ist es doch nach meiner bescheidenen Meinung völlig sinnlos, daß man nun die paar Prozent, die als Philatelisten — —
Herr Kollege, Sie sollten nicht kommentieren, sondern fragen.
Das ist der Vorspann für meine Frage.
Ich gebe zu, daß es wie ein Vorspann aussieht.
— daß nun die Postbeamten darauf sehen müssen, ob dieser sinnlose Zettel darin ist oder nicht, zumal es sich doch bei Drucksachen um Massensendungen handelt. Der Sinn ist doch nicht, die Vorschrift einzuhalten, sondern nach meiner bescheidenen Meinung, praktisch zu arbeiten.
War das immer noch der Vorspann, Herr Kolege Rinderspacher?
Nein, Herr Präsident, das war die Frage.
Herr Präsident, ich kann darin eine Frage erkennen. — Ich würde auch sagen, Herr Kollege, daß es bei normalen Briefgebühren völlig gleichgültig ist, was sich in dem Brief befindet. Bei einer Drucksache gilt aber die Vorschrift, daß sich darin nur bestimmte gedruckte Briefsachen befinden dürfen. Aus diesem Grunde muß eine Kontrollmöglichkeit sein. Wenn diese Kontrollmöglichkeit nicht da ist, dann — dessen dürfen Sie versichert sein — wird sich in der Reihenfolge der Wertigkeit des Portos und damit auch der Briefsendungen ein Durcheinander ergeben. Das kann nicht im Sinne einer ordnungsgemäßen Abwicklung liegen.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2591
Herr Abgeordneter Mommer zu einer Frage!
Herr Minister, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß es Ihnen selber sehr unwohl war bei der Position, die Sie soeben beziehen mußten,
und wären Sie bereit, dem Hause zu sagen, daß Sie
sich die Sache in Ihrem Amt noch einmal überlegen?
Herr Kollege Mommer, Sie wissen, ich will mir immer gern alles überlegen. Sie wissen auch, daß es mir nicht ganz besonders wohl zumute ist, nicht nur wegen der Stimme.
Aber ich wollte nur sagen, daß bei einem solchen Massenbetrieb einfach eine Kontrollmöglichkeit vorhanden sein muß. Die bisherigen langen Erfahrungen im Betriebsdienst haben diese Notwendigkeit ergeben. Sollte sich aber zeigen, daß man darauf verzichten kann, dann bin ich der letzte, der nicht bereit wäre, das zu tun.
Noch eine Frage, Herr Abgeordneter Mommer!
Herr Minister, würden Sie einen Ausweg in der logischen Deduktion sehen, daß es wohl keine Vorschrift darüber gibt, wieviel Worte eine Drucksache enthalten muß, und daß in der Drucksache, die der Philatelist beilegt, die Zahl der Worte auf null zusammengeschrumpft und daher nicht erkennbar ist?
Das war zwar auch keine Frage, Herr Kollege Mommer. Aber jetzt eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Bechert.
Herr Minister, würden Ihre Bedenken zerstreut sein, wenn auf solchen Briefen die Aufschrift „Sammlerbrief" stünde, und würden Sie eine entsprechende Verordnung vorsehen?
Herr Kollege Bechert, wir können nicht noch diese Aufdrucke im einzelnen klassifizieren. Bei dem Massenbetrieb der Post — er ist ja hier bereits anerkannt worden — und bei der maschinellen Bearbeitung ist es gänzlich unmöglich, noch solche Unterschiede zu machen. Dann ist es mir schon lieber, wenn wir einen Weg finden, auf dem die Sammler davor bewahrt werden, einen, wie Sie meinen, unnützen Streifen beilegen zu müssen.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Dr. Schäfer.
Herr Minister, unter Anerkennung Ihrer Überlegungen: Wäre es nicht am besten, wenn man propagieren würde, die Philatelisten sollten einen Zettel einlegen: „Abstempelungsersuchen" oder „Philatelist"? Dann wäre beiden Seiten Rechnung getragen.
Bei gutem Willen gibt es einen Weg, der beide Teile befriedigt.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Regling.
Wer hat denn diese Vorschrift erlassen, daß unbedingt ein Zettelchen drinstecken muß, auch wenn es nichts sagt?
Herr Kollege Regling, das ist sicher schon sehr, sehr lange vor meiner Zeit geschehen.
Es könnte sein, daß diese Bestimmung in der Zeit — ich möchte nicht sagen: von Thurn und Taxis — unmittelbar nach Heinrich v. Stephan erlassen worden ist.
Noch. eine Frage, Herr Abgeordneter Regling.
Sind Sie nicht auch der Meinung, daß zur Zeit von Thurn und Taxis wahrscheinlich noch nicht dieser Bedarf vorlag, Briefmarken in dieser Weise abstempeln zu lassen, und daß es heute an der Zeit wäre, auf diese Wünsche Rücksicht zu nehmen und die Vorschriften zu ändern?
Herr Kollege Regling, ich habe meine Bereitschaft zu vernünftigen Regelungen immer bekundet; das gilt auch in diesem Falle.
Damit scheint also genügend Heu vom Boden zu sein.
Wir kommen zu den Fragen X/3 und X/4 — des Herrn Abgeordneten Biegler —:
Besteht die Möglichkeit, für ernste Anlässe außer dem vorhandenen Formular LX 18 durch die Deutsche Bundespost noch weitere Schmuckblattformulare herauszugeben, um eine größere Auswahl zu ermöglichen und damit einem Anliegen weiter Bevölkerungskreise zu entsprechen?
Stimmt es, daß das Schmuckblatt-Formular LX 9 von der Deutschen Bundespost seit Herbst 1962 aus dem Verkehr gezogen ist?
Bitte, Herr Minister!
Es stimmt nicht, daß das Schmuckblattformular LX 9 aus dem Verkehr gezogen worden ist.Zur zweiten Teilfrage: Die neue Serie von Telegrammschmuckblättern, die voraussichtlich noch in diesem Jahr aufgelegt werden wird, soll auch ein weiteres Blatt für Trauerfälle enthalten.
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2592 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Nächste Frage — des Herrn Abgeordneten Dr. Mommer —:
Ist es richtig, daß die Deutsche Bundespost bei Störung im Selbstwählfernsprechdienst durch Kälteeinwirkung für handvermittelte Gespräche die doppelte Gebühr verlangt?
Bitte, Herr Minister!
Herr Präsident, ich bitte damit einverstanden zu sein, daß ich die Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Mommer und die des Herrn Abgeordneten Dürr zusammenfasse; sie behandeln dieselbe Materie.
Dann rufe ich auch die Frage X/6 — des Herrn Abgeordneten Dürr — auf :
Ist es richtig, daß eine Anordnung des Bundespostministeriums vorschreibt, daß handvermittelte Gespräche bei bestehendem Selbstwählbetrieb auch dann die doppelte Gebühr kosten, wenn der Selbstwählverkehr gestört ist?
Wir haben heute in der Bundesrepublik Deutschland ungefähr 86 % Selbstwählferndienst. Die technischen Einrichtungen beim Selbstwählferndienst sind ohne Handbedienung. Wenn nun eine Leitung ausfällt, sind wir technisch, räumlich und personell nicht in der Lage, den aufkommenden Verkehr im handvermittelten Dienst abzuwickeln. Wir haben aus der Erfahrung heraus die Regelung getroffen — die seit Jahren angewandt wird —, daß wir, um wenigstens die notwendigsten und dringendsten Gespräche durchführen zu können, ohne daß Dringend-Gespräche oder Blitzgespräche angemeldet werden müssen, die handvermittelten Gespräche mit der doppelten Gebühr belegen. Der normale Anfall ist daher wesentlich geringer, und Sie kommen praktisch mit, einer geringeren Gebühr als der für Blitz- oder Dringend-Gespräche im handvermittelten Dienst durch.
Wenn es uns, Herr Kollege Mommer und Herr Kollege Dürr, möglich wäre, die Störungen als von der Deutschen Bundespost verursacht, vielleicht sogar schuldhaft von der Deutschen Bundespost verursacht, zu erkennen, so wäre eine solche Gebühr nicht gerechtfertigt. Da wir aber bei einer Verbindung z. B. von Hamburg nach Berchtesgaden gar nicht feststellen können, ob im Raume Frankfurt—Nürnberg eine solche Störung auftritt, war diese Regelung auch für den Kunden noch die günstigste.
Eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Mommer.
Herr Minister, halten Sie es also für richtig und gerecht, daß Sie über die Höhe der Gebühr, darüber befinden, ob ein Gespräch dringlich oder nicht dringlich ist?
Nein, natürlich nicht, Herr Kollege Mommer. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, das festzustellen. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, den Fernsprechverkehr so weit als möglich aufrechtzuerhalten; und wir sind aus der Erfahrung zu der Überzeugung gekommen und auch unsere Messungen haben ergeben, daß eine ganze Reihe von Gesprächen bei Störungen zurückgestellt werden, die eben nicht so wichtig sind, und nur die Gespräche abgewickelt werden, die im Augenblick durchgeführt werden müssen. Wenn aber keine prohibitive Regelung vorhanden ist, werden alle anmelden, und wir sind nicht in der Lage, diese plötzlich aufkommende Menge von handvermittelten Gesprächen zu bewältigen, weil die technischen Einrichtungen nicht da sind, weil die Fernplätze nicht da sind und weil das Personal nicht da ist. Wir können es uns unmöglich leisten, für solche Fälle, die Ausnahmefälle sind, eine solche Reserve vorzuhalten, daß auch dann noch eine ordnungsgemäße Abwicklung im Fernsprechverkehr möglich wäre.
Noch eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Mommer.
Herr Minister, meinen Sie nicht, daß, wenn Störungen auftreten, technisch bedingt und von Ihrer Verwaltung zu vertreten oder z. B. witterungsbedingt, Mehrkosten zu Ihren Lasten gehen müssen und nicht zu Lasten des Benutzers?
Herr Kollege Mommer, ich würde Ihnen recht geben, wenn wir in der Lage wären, diese Störungen zu erkennen und als von uns verursacht festzustellen; dann könnte eine solche Regelung getroffen werden. Da wir das aber im automatischen Selbstwählferndienst bei dem großen Netz der Bundesrepublik einfach nicht feststellen können, müssen wir einen Weg suchen, um wenigstens die dringenden oder die notwendigen Gespräche im handvermittelten Dienst noch abwickeln zu können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dürr.
Herr Minister, sind Sie mit mir darin einig, daß die von Ihnen geschilderte Regelung zwar für die Post zweckmäßig sein mag, aber keineswegs gerecht ist, und würden Sie die Frage noch einmal wohlwollend prüfen, ob sich nicht ein anderer Weg dafür finden läßt?
Herr Kollege Dürr, ich habe ausdrücklich festgestellt, daß ich, wenn es eine Möglichkeit gäbe, zu erkennen: es liegt eine Störung von seiten der Bundespost vor, selbstverständlich nicht die doppelte Gebühr für die Handvermittlung festsetzen würde, sondern die einfache Gebühr. Da wir das aber nicht können, sondern allein der Teilnehmer
— Nein, Herr Kollege Mommer. Wenn der Teilnehmer zwei-, dreimal eine Nummer wählt — das istdoch die Praxis, und ich glaube, Herr Kollege Dürr,
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2593
Bundesminister Stücklendaß Sie darin eine gewisse Erfahrung haben — und auf „besetzt" kommt, wendet er sich an das Fernamt und erklärt: Der Selbstwählferndienst ist gestört; ich bitte um Handvermittlung. Sonst gibt es die Handvermittlung ja gar nicht. Das Fernamt kann aber gar nicht feststellen, ob die Leitungen gestört sind. Der Teilnehmer kann ja von sich aus mutwillig gestört, d. h. den Hörer abgenommen haben. Er kann so häufig angerufen werden, daß man nicht in die freie Gasse kommt. Diese Verhältnisse haben es uns erschwert, einen Weg zugunsten des Teilnehmers zu finden, und aus diesem Grunde haben wir den Weg gewählt, der beiden Teilen gerecht wird.
Eine weitere Frage?
Herr Kollege Schäfer, Sie sollten als Fraktionsgeschäftsführer etwas über die Richtlinien der Fragestunde wissen!
,
Herr Präsident, ich darf meiner Antwort vielleicht den letzten Satz anfügen.
Herr Kollege Schäfer, ich habe keine Unterlagen. Die Fragen sind allgemein gestellt. Wenn Sie der Meinung sind, daß es irgendwo ganz bestimmte Plätze gibt, an denen solche Fälle, wie Sie sie hier im Einzelfall aufgeführt haben, häufig vorkommen, dann müßten Sie das sagen; denn sie könnten geeignet sein, als Unterlage für eine entsprechende Ergänzung oder Änderung der Fernsprechordnung zu dienen. Für einen Einzelfall geht das aber nicht. Es müßte natürlich schon eine gewisse Zahl sein, die das rechtfertigen würde. Dazu bin ich dann gern bereit.
Ich rufe die Frage X/7 — des Herrn Abgeordneten Freiherr von Mühlen —
auf :
Wie stellt sich der Herr Bundespostminister zu dem Vorschlag, die international gebräuchliche offizielle Adressenschreibung auch in der Bundesrepublik einzuführen?
Bitte, Herr Minister!
Im Hinblick darauf, daß einerseits im internationalen Verkehr keine Einheitlichkeit der Aufschriftgestaltung besteht und andererseits die Umgestaltung der Aufschrift mit erheblichen Kosten für die deutsche Wirtschaft verbunden wäre, die Hunderte von Millionen von Anschriftendruckplatten und -lochkarten usw. ändern müßte, ist von einer Änderung der Aufschriftgestaltung, deren mögliche Vor- und Nachteile vor allem im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Postleitzahlen sorgfältig geprüft worden sind, abgesehen worden.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter von Mühlen.
Herr Minister, halten Sie es nicht für zweckmäßig, jetzt der Öffentlichkeit, eventuell in Form einer Empfehlung, zu sagen, daß die Firmen im Rahmen der Umstellung
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2594 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Freiherr von Mühlenauf die Postleitzahlen, die oft mit erheblichen Kosten verbunden ist, sich bei einer Neuprägung der Adrema-Platten der international üblichen Adressierungsform anpassen sollten!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege von Mühlen, es gibt hier nur zwei Wege: entweder wir stellen um — und die postalische Anschrift setzt sich dann eben in der Reihenfolge „Name, Straße und Bestimmungsort" zusammen —, oder wir lassen es bei der heutigen Regelung. Eine Zweigleisigkeit ist in einem solchen Betrieb, wie ihn die Deutsche Bundespost mit 30 Millionen Briefen pro Tag hat, einfach nicht möglich.
Die Umstellung auf die Postleitzahlen erforderte nicht immer die Auswechselung der Anschriftenplatte, sondern es genügte in den meisten Fällen, die Postleitzahl noch auf der alten Anschriftenplatte anzubringen, die dann wieder verwandt werden konnte. Eine Neugestaltung der Anschrift dagegen hätte bedeutet, daß in jedem Fall eine neue Anschriftenplatte hätte hergestellt werden - müssen. Diese Kosten wollten wir der Wirtschaft im Augenblick keinesfalls zumuten. Ob später einmal im Rahmen des Weltpostvereins eine internationale Regelung kommt, ist noch offen. In den nächsten Jahren ist damit sicherlich noch nicht zu rechnen.
Dann könnte man aber doch den Firmen, die durch Neuanfertigung von Adrema-Platten eine Umstellung im großen vornehmen müssen, von seiten der Post die Empfehlung zugehen lassen, daß sie sich gleich der Adressierung im neuen internationalen Stil bedienen.
Herr Kollege, ich kann Ihnen wirklich nicht weiter entgegenkommen, als ich das getan habe. Eine Zweigleisigkeit in der Anschrift würde eine wesentliche Erschwerung des Betriebsablaufs bedeuten. Wir müssen abwarten, bis wir in der Lage sind, eine generelle Umstellung vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, damit sind die Fragen in der für heute vorgesehenen Zahl beanwortet. Wir stehen nun vor der Situation, daß die Fragestunde früher zu Ende gegangen ist, als es die Planung gestern vorgesehen hat.
Nach einer interfraktionellen Verständigung soll die Sitzung bis 10 Uhr unterbrochen werden. Ich glaube, das ist zweckmäßig, da der gestern amtierende Präsident den Beginn der Aussprache über die Regierungserklärung für 10 Uhr angekündigt hat. Ich unterbreche die Sitzung bis 10 Uhr.
Die Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:
Aussprache über die Erklärung des Bundesregierung.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ollenhauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat mit seiner gestrigen Regierungserklärung das Verlangen der Opposition erfüllt, das wir im Anschluß an seine improvisierte Erklärung in der Sitzung am 14. Dezember 1962 gestellt hatten.Ich glaube, es war richtig, daß nach der Um- oder Neubildung dieser Regierung Adenauer der Bundeskanzler hier eine Darstellung über die Aufgaben der fünften Regierung Adenauer in der Bundesrepublik gab. Wir haben diese Erklärung gestern gehört, und ich muß leider mit der Feststellung beginnen, daß wir sie als unbefriedigend empfinden.
In der Sache werde ich das im einzelnen noch zu belegen versuchen, und was die Form angeht, so kann ich mich auf den Herrn Bundeskanzler selbst beziehen,
der gestern von einer langweiligen Erklärung gesprochen hat.
Ich glaube, das war eine objektive Feststellung, der ich nichts hinzuzufügen brauche.In dieser gestrigen Regierungserklärung finden wir kein Wort über die Vorgeschichte und über den Hintergrund der Bildung dieses fünften Kabinetts unter Führung Dr. Adenauers. Man hatte den Eindruck, als fingen wir ganz von vorn an und als sei vorher gar nichts gewesen. Ich meine, daß man auch diese Art der Behandlung der Dinge nicht durchgehen lassen kann. Sicher, wir haben es hier mit der alten Koalition CDU/CSU und FDP zu tun, und wir wissen, daß ihre erste Auflage, d. h. die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 1961, nach allgemeinem Urteil eine Regierung des verlorenen Jahres war.
Wir haben das schon vor dem Zusammenbruch der Regierung festgestellt; aber während der Verhandlungen über die neue Regierung, als noch nicht ganz klar war, wer Partner sein würde, haben wir von beiden Seiten aus dem Munde der früheren Regierungsparteien eine volle Bestätigung dieser Feststellung erhalten. Es war eine Regierung des verlorenen Jahres und eine Regierung der Krisen, und zwar nicht nur eine Krise der Koalition, sondern leider auch eine Krise, die sehr tief unser öffentliches Leben berührt hat.Ich finde, wenn sich jetzt die beiden Partner zu einer neuen Regierung zusammengefunden haben, wäre es richtig und notwendig gewesen, hier ein Wort darüber zu sagen, was denn geschehen soll und geschehen wird, um zunächst einmal die Trümmer wegzuräumen, die von der letzten Regierungskrise noch übriggeblieben sind.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2595
OllenhauerIch meine nicht das, was da an personellen Ausräumungen auf der anderen Seite geschehen ist.
Ich meine das, was uns alle angeht, nämlich die Überwindung der Sorge der Bevölkerung unseres Landes, daß gewisse Vorgänge im Zusammenhang mit der Krise und im Zusammenhang mit der sogenannten „Spiegel"-Affäre sich in Zukunft unter keinen Umständen wiederholen dürfen.
Ich habe nicht die Absicht, in diesem Zusammenhang noch einmal über die „Spiegel"-Affäre zu diskutieren. Ich glaube, es gibt ein allgemeines Interesse daran, daß man den ernsten Versuch macht, diese Sache, soweit das Parlament und soweit Exekutive und Verwaltung in Frage kommen, in einer anständigen, sauberen Weise zu bereinigen.
Das ist unsere eigene Überlegung dazu. Aber da muß man hinzufügen, daß das, was wir inzwischen teils durch mühsames Fragen hier im Hause und teils jetzt durch die endlich veröffentlichten Berichte der beteiligten Bundesminister herausbekommen haben, nun wirklich kein Bild ist, das wir so einfach stehenlassen dürfen.
Es muß eine Regelung erfolgen, die alle Unklarheiten beseitigt und die eine Vorkehrung gegenWiederholungen unzulässiger Eingriffe und Eigenmächtigkeiten schafft.Wir habe hier vier Berichte, und ich glaube — ohne das vertiefen zu wollen —, es sind Berichte mit sehr viel Widersprüchen, Gegensätzen und offenen Fragen. Ich möchte nicht, daß man die Zahl dieser Berichte noch erhöht. So eine erfreuliche Lektüre sind diese Berichte nicht. Aber vielleicht wäre es gut gewesen, wenn wir noch einen fünften gehabt hätten, nämlich einen Bericht über die Rolle des Herrn Bundeskanzlers in diesen Auseinandersetzungen,
der ja doch wohl als der Mann, der die Richtlinien der Politik bestimmt, auch in dieser Sache mehr gewußt hat als eine nachträgliche Information über die Durchführung der Aktion.Wie gesagt, ich will das hier nicht vertiefen. Aber im Zusammenhang mit der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers gestern möchte ich sagen: wenn wir die Sache für alle, soweit wir hier abseits des Verfahrens, das da läuft, in Frage kommen, in Ordnung bringen und das Vertrauen in vollem Umfang wiederherstellen wollen, dann ist es nötig, daß möglichst bald und möglichst eindeutig ein Wort des Herrn Bundeskanzlers über seine Vorstellungen und die Vorstellungen der Regierung über die Bereinigung der Angelegenheit ausgesprochen wird. Das heißt: wir erwarten nach wie vor von der Bundesregierung eine verbindliche Erklärung darüber, daß sie alle Maßnahmen treffen wird, um Wiederholungen der Vorgänge, wie wir sie hier in der Verwaltung, in der Exekutive erlebt haben, auszuschließen, und daß die Garantien gegeben werden, daß dieRechtsstaatlichkeit in unserem Lande für jedermann gewahrt und gesichert wird.
Ich finde, das ist nicht ein Anliegen der Opposition, das man hier vorbringen muß, um ein kritisches Wort zu dem zu sagen, was die Regierung zu erklären hat. Ich meine, hier liegt ein allgemeines Interesse vor, wenn wir in den kommenden Auseinandersetzungen davon ausgehen wollen, daß in der Frage der Anerkennung und Aufrechterhaltung und Sicherung unserer rechtsstaatlichen Ordnung nicht nur eine theoretische Übereinstimmung besteht, sondern der entscheidende Wille bei allen Beteiligten, das nun auch wirklich sicherzustellen.
Was nun die Regierungserklärung selbst angeht, nämlich die Frage nach der Gesamtpolitik der Regierung und die Frage, ob denn diese neue, umgebildete Regierung aktionsfähiger sein wird als die zusammengebrochene, müssen wir jedenfalls feststellen, daß diese Regierungserklärung darauf keine Antwort gibt.
Ich sage nicht nur: keine befriedigende; sie gibt keine Antwort. Denn, meine Damen und Herren, die Aufzählung eines Katalogs, was man alles tun möchte oder sollte, ist noch keine Politik
und läßt noch nicht erkennen, welche politische Linie nun wirklich von der Regierung verfolgt wird. Ich will hinzufügen: die Art und Weise, wie der Herr Bundeskanzler seine gestrige Erklärung angelegt und durchgeführt hat, kann auch Politik sein.
Man kann natürlich auf diese Weise alles, die wichtigen mit den unwichtigen Fragen, nivellieren und damit so ein beruhigendes Gefühl schaffen, als sei alles so ziemlich in Ordnung. Ich tue sicher dem Herrn Bundeskanzler nicht unrecht, wenn ich sage: so war es auch gemeint.
Das war seine Absicht. Ich habe in der Lage, in der er sich befindet, dafür einiges Verständnis.
Denn auf jeden Fall hat man auch den Vorteil: wenn man alles anspricht, ist man am Ende zu nichts verpflichtet.
Ich möchte dem Herrn Bundeskanzler auf diesem Wege nicht folgen. Ich meine, es gibt in der Innen-und Außenpolitik Schwerpunkte, über die wir reden müssen und die Entscheidungen erfordern. Lassen Sie mich zunächst in diesem Zusammenhang einige Fragen im Hinblick auf unsere Innenpolitik behandeln. Fürchten Sie nicht, daß ich jetzt zu all den Kapiteln der Speisekarte von gestern noch ein kleines sozialdemokratisches Tüpfelchen setze. Ich glaube, damit würden wir nicht sehr weit kommen, und es würde der Sache, die wir hier verfolgen, nicht
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2596 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Ollenhauerdienen. Aber ich möchte sagen, es gibt einige Punkte, über die wir uns sehr ernst unterhalten müssen und von denen wir wünschen, daß wir von der Regierung mehr über ihre Absichten hören.Da ist zunächst der Haushalt, das Haushaltsgesetz. Meine Damen und Herren, wir sind uns ja wohl darin einig, daß das Haushaltsgesetz sozusagen das Grundgesetz der inneren staatlichen Ordnung und der inneren Aufgabenstellung überhaupt ist, und hier stehen wir vor einer fast unerträglichen Situation. Ich gebe zu, daß die Regierungsumbildung auch für die Regierung zeitliche Schwierigkeiten gebracht hat, so daß wir heute mit den Beratungen über diesen Etat für das bereits laufende Etatjahr so in Verzug sind. Aber feststellen muß man hier, daß das nicht die Schuld des Parlaments, sondern die der Exekutive ist, die hier in Verzug geraten ist.Das zweite: Der Entwurf, der den Haushaltsberatungen für das Jahr 1963 zugrunde liegt, ist nicht real. Er war — wir haben das bei der ersten Lesung des Etats ausgeführt — nicht von Anfang an solide in der Darstellung der Ausgaben und Einnahmen, und er ist es heute noch viel weniger. Dafür hat der Herr Bundeskanzler gestern selber einige bemerkenswerte Hinweise gegeben. Er hat darauf verwiesen, in welchem Ausmaß die Kosten für die Verteidigung gestiegen sind, Kosten, die uns sogar noch in einem ziemlich erheblichen Maße für das Jahr 1962 belasten, und Kosten, die noch mehr ins Gewicht fallen werden für das laufende Etatjahr 1963.Wir haben dann hier vom Herrn Bundeskanzler gehört, daß die Regierung und ihre Koalition im Laufe dieses Jahres eine ganze Reihe von Gesetzentwürfen einbringen oder Maßnahmen durchführen will, die wieder zu neuen Ausgaben führen müssen, die durch den Entwurf, so wie er uns jetzt vorliegt, nicht gedeckt werden. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Der Herr Bundeskanzler hat sogar mit einigen sehr wesentlichen Zahlen über die wirtschaftliche Entwicklung darauf hingewiesen, daß alle hier bemüht sein müssen, aus der veränderten Entwicklung gewisse Folgerungen zu ziehen. Er war auch bemüht, die Forderung nach Maßhalten gerechter an alle zu verteilen, als das früher bei anderen Gelegenheiten und bei anderen Vertretern der Regierung geschehen ist.Er hat aber dann das Schwergewicht auf die Forderung gelegt, die öffentliche Hand, d. h. vor allen Dingen die Länder und die Kommunen, solle maßhalten. Sicher kann sich kein Teil der Gemeinschaft von einer solchen notwendigen Beschränkung und Zurückhaltung ausschließen. Aber wenn hier die Bundesregierung solche Appelle an die Tarifpartner und vor allen Dingen an die Kontrahenten der öffentlichen Hand in Ländern und Gemeinden richtet, dann ist die erste Voraussetzung die, daß der Bund selber, die Bundesregierung, klare Haushaltsvorlagen zur Debatte stellt und Entscheidungen darüber herbeiführt.
Man kann von anderen nichts verlangen, was manselber zu tun nicht gewillt oder nicht in der Lage ist.
Hier ist Eile am Platze!
Was wir brauchen, ist nach alledem, was wir gestern in der Regierungserklärung gehört haben und was ich inzwischen über gewisse Ausführungen des Herrn Bundesfinanzministers im Haushaltsausschuß gehört habe, folgendes. Wir müssen wissen: Was sind nach Vorstellung der Regierung im Jahre 1963 die tatsächlichen Ausgaben, und was sind nach ihrer Vorstellung die tatsächlich zu erwartenden Einnahmen? Da genügen keine allgemeinen Andeutungen oder Ankündigungen. Da muß das Haus in die Lage versetzt werden, an Hand eines Nachtragshaushalts, an Hand eines korrigierten Haushalts zu prüfen: Was ist nach den Vorstellungen der Regierung die Ausgabenseite, und was ist nach den Vorstellungen der Regierung die Einnahmenseite?, damit wir wissen, wie denn dieser Haushalt als ausgeglichene Grundlage unserer Haushalts- und Finanzwirtschaft aussehen soll.Die Verantwortung dafür, meine Damen und Herren, liegt in erster Linie bei der Regierung. Die Exekutive hat die Verantwortung, verbindlich zu sagen, wie sie sich die Gestaltung des Haushalts denkt, damit das Parlament prüfen kann, ob es bereit ist, diese Vorstellungen und Vorschläge zu akzeptieren.Es geht hier um Milliardenbeträge, nicht um irgendwelche kleinen Summen, die nun nachbewilligt werden müssen. Ich finde deshalb, das erste, was wir nach dieser allgemeinen Regierungserklärung erwarten müssen, ist hier 'im Plenum des Bundestages eine Darstellung der finanziellen und der Haushaltssituation durch den neuen Finanzminister, ohne Verzug und ohne Umschweife, genau hinsichtlich der Punkte, auf die es hier ankommt. Das ist der eine Punkt.Der andere, wie ich meine, entscheidende Schwerpunkt in unserer Innenpolitik ist die Wirtschaftspolitik und im Zusammenhang damit auch die Agrarpolitik. Ich will hier über Agrarpolitik 'im einzelnen nichts sagen. Wir werden in sehr kurzer Zeit die Gelegenheit haben, an Hand des Grünen Berichts die Agrarpolitik der Regierung und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zu diskutieren.Hier möchte ich folgendes sagen. Der Herr Bundeskanzler hat den Jahresbericht über die wirtschaftliche Situation angekündigt. Ich möchte nur darauf hinweisen: auch dieser Bericht ist bereits wieder überfällig. Er war dem Parlament für den 15. Januar versprochen worden. Er sollte die Basis geben für eine regelmäßige Untersuchung unserer wirtschaftlichen Situation und auf der Basis dieser Unterlagen zu einer Diskussion über die wirtschaftspolitischen Konsequenzen führen.Wir wünschen, daß hier keine weitere Verzögerung eintritt. Soweit wir wissen, ist die Verzögerung darauf zurückzuführen, daß es im Wirtschaftskabinett keine Übereinstimmung gibt.
Ich hoffe, daß sich hier nicht wieder Vorzeichen derSituation zeigen, die das Leben oder Nichtleben dervergangenen Koalition bestimmt hat, sondern daß
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2597
Ollenhauerman hier zu Resultaten kommt, die man als Auffassung der Regierung diesem Bundestag für eine Debatte über die Wirtschaftspolitik der nächsten Zukunft vorlegen kann.Sie werden verstehen, und Sie werden sicher zustimmen: auch diese Frage drängt, vor allen Dingen wenn wir von dem ausgehen, was der Herr Bundeskanzler selbst und bei anderen Gelegenheiten der Herr Bundeswirtschaftsminister über unsere wirtschaftliche Situation gesagt haben. Wir wünschen eine solche Debatte, und wir wünschen eine Diskussion darüber, nach welchen Richtlinien die Regierung ihre Wirtschaftspolitik verfolgt und welche Möglichkeiten wir sehen, sie dabei zu unterstützen oder unsere eigenen Vorschläge zu machen. Nur auf diese Weise können wir hier zu einem vernünftigen Resultat kommen.Der dritte Schwerpunkt — die Reihenfolge sagt hier nicht in jedem Fall etwas über die Rangordnung — scheint mir unsere Verteidigungspolitik zu sein. In der heutigen Situation ist diese Frage einfach eines der elementarsten Stücke unserer staatspolitischen Arbeit und Entscheidung überhaupt. Wir haben ja einen neuen Minister, und wir verstehen durchaus, daß Herr von Hassel Zeit braucht, um mit dieser nicht sehr einfachen Lage fertig zu werden, die er sicher in seinem Ministerium nach der Änderung vorgefunden hat. Aber wir haben auch eine neue Situation. Es sind wesentliche neue Elemente in die Diskussion und in die Aufgabenstellung der Bundesrepublik gekommen. Einen sehr entscheidenden Punkt hat der Herr Bundeskanzler gestern erwähnt. Er hat noch einmal — in Ergänzung einer früheren Auffassung von ihm — erklärt, daß die Bundesregierung der Durchführung der Vereinbarung zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem britischen Premier in Nassau zustimmt und daß die Bundesregierung bereit ist, an der dort entwickelten Vorstellung mitzuarbeiten. Aber damit ist dieses Problem für uns noch nicht erledigt.Ich glaube, daß es über diese grundsätzliche Erklärung eine weitgehende Übereinstimmung gibt. Was wir wissen müssen und was wir hier im Bundestag zu behandeln haben, ist die Frage: Was bedeutet diese Entwicklung praktisch für unsere eigene Verteidigungspolitik und für den Aufbau unserer Verteidigung? Da gibt es sehr weitgehende Konsequenzen, und es ist ein weites Gebiet, das in anderen Parlamenten der NATO-Gemeinschaft schon sehr ausführliche Debatten zur Folge gehabt hat. Wir haben darüber hinaus bisher nichts gehört als die gestrige grundsätzliche Zustimmungserklärung des Herrn Bundeskanzlers. Es ist klar, daß Verteidigungsausgaben in diesem Etat und in den nächsten eine große Rolle spielen werden. Wir haben hier unsere Stellung zu beziehen. Aber Sie werden sicher zugeben müssen, daß irgendeine fruchtbare Diskussion über die Aufbringung der Verteidigungslasten doch nur möglich ist, wenn wir hier vorher eine Aussprache darüber haben können, was jetzt praktisch die Verteidigungspolitik der Regierung ist. Diese Forderung, diesen dringenden Wunsch, ich glaube, auch diese Notwendigkeit, möchte ich hier im Zusammenhang mit der Darstellung einiger der Schwerpunkte nachdrücklichst unterstreichen. Es ist unmöglich, über die Höhe unserer Verteidigungsausgaben und über die Art ihrer Aufbringung im Zusammenhang mit dem Etat zu reden, wenn man nicht vorher hier in diesem Hohen Hause und in seinen Ausschüssen diskutiert über das, was die praktischen Konsequenzen der neueren Entwicklung für die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik sind.
Ich habe diese drei Hauptpunkte hier herausgestellt, weil ich meine, daß — was immer man sonst an innenpolitischen Aufgaben sieht — jeder von uns, Regierung und Opposition, eine Menge von Vorstellungen hat. Die Sozialdemokratische Partei und Fraktion wird sicher in den nächsten Monaten auf all den Gebieten, die gestern vom Herrn Bundeskanzler hier angeschnitten worden sind, ihre eigenen Vorstellungen und Vorschläge entwickeln. Es gibt da einige Gebiete, bei denen uns eine Regelung und bestimmte Maßnahmen sehr dringlich erscheinen. Wir glauben, daß das, was der Herr Bundeskanzler gestern in bezug auf die Absichten der Regierung angekündigt hat, noch nicht ausreicht, um den dringendsten Erfordernissen Rechnung zu tragen. Im Hintergrund steht hier die Frage, wie wir die innere Ausgestaltung der Bundesrepublik in der Richtung ihres Ausbaues zu einem sozialen Rechtsstaat weiterentwickeln können. Das ist nicht nur eine Fachfrage, das ist auch nicht nur eine Frage der berechtigten, lebensnotwendigen Interessen der einen oder anderen Gruppe unserer Bevölkerung, sondern in unserer Zeit, in der Lage, in der wir uns befinden, ist dieses Kapitel der inneren Ausgestaltung der Bundesrepublik, die Frage der sozialen Sicherheit so zu sehen, daß soziale Sicherheit ein gleichwertiger Bestandteil jeder Sicherheitspolitik sein muß.
Das ist nicht nur eine Frage der militärischen Maßnahmen, sondern in hohem Maße und vielleicht mindestens mit demselben Gewicht auch eine Frage der inneren rechtlichen, freiheitlichen und sozialen Ordnung in unserer Bundesrepublik überhaupt.Das gilt auch für ein anderes Gebiet — auch das möchten wir hier nicht für die weiteren Unterhaltungen nur als eine Fachfrage sehen —, nämlich für die Förderung von Forschung und Wissenschaft.
Man hat hierfür ein neues Ministerium geschaffen. Aber das allein genügt doch nicht. Die Förderung von Forschung und Wissenschaft ist heute genau wie das ganze weite Gebiet der Erziehung eine Forderung von allerhöchster staatspolitischer und allgemeinpolitischer Bedeutung.
Wenn wir hier weiter im Rückstand bleiben, sind wir auch im Rückstand — genauso wie wir es auf sozialem Gebiet sein würden — in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen den totalitären Kräften im Osten und den freiheitlichen Kräften im Westen.
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2598 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
OllenhauerWas wir hier haben möchten, ist eine klare Darstellung der Bundesregierung darüber: Welche konkreten Maßnahmen sieht die Regierung auf diesem Gebiet; wie soll nach ihrer Vorstellung die Verteilung der Aufgaben, von denen ich in erster Linie gesprochen habe, und denen, die hier zur Debatte stehen, in praktischer, sachlicher und finanzieller Hinsicht aussehen? Denn die Frage der Balance, der Auswägung unserer finanziellen und auch politischen Möglichkeiten zwischen diesen Sicherheitsmaßnahmen, die nötig sind, und dem, was wir an innerem Ausbau gestalten wollen, ist von entscheidender politischer Bedeutung für die Grundkonzeption der Politik in der Bundesrepublik überhaupt. Und da genügt nicht, das möchte ich noch einmal sagen, eine Registrierung von Aufgaben und Absichten. Da muß das Gesicht eines Regierungsprogramms und einer Regierungserklärung mehr Farbe und mehr konkreten Inhalt bekommen, und es muß durch konkrete Vorschläge auf den Gebieten ergänzt werden, die ich einfach einmal kurz skizziert habe, um deutlich zu machen, in welche Richtung unsere Vorstellungen gehen und über welche Punkte wir unter Umständen eine sachliche Auseinandersetzung haben wollen. Es ist unvermeidlich, es ist notwendig, bei der Beratung von Einzelmaßnahmen und Gesetzen gründlich und nachdrücklich bestimmte Forderungen zu vertreten. Aber wenn eine Regierung sich hier am Beginn einer neuen Arbeitsperiode dem Parlament vorstellt, dann müssen wir sehen, daß wir die Auseinandersetzung über Sinn und Inhalt der Regierungspolitik auf der Basisder Schwerpunkte führen können, von denen ich hier gesprochen habe. Meine Damen und Herren, ich sehe noch nicht, daß nach dieser Regierungserklärung mehr an Konturen einer Regierungspolitik herauskommen wird, als wir in der Vergangenheit erfahren haben. Vom Standpunkt der Opposition: wir halten das noch eine ganze Weile aus!
Wir sind im Juni wieder in der „Halbzeit" dieser jetzigen Legislaturperiode.Aber, meine Damen und Herren, denken Sie daran, daß es hier in dieser Lage um entscheidende Allgemeininteressen geht und daß wir es uns nicht leisten können, daß diese Bundesrepublik später einmal feststellt: Auch dieses Jahr 1963 war ein verlorenes Jahr.
Das ist das, meine Damen und Herren, was uns hier bewegt und was wir bei dieser Gelegenheit in aller Offenheit auch zum Ausdruck bringen wollten.Nun zu einer anderen Frage, einer wesentlichen Frage, die, wenn man so will, zwischen Innen- und Außenpolitik steht, weil es sich um unsere Angelegenheiten handelt, wenn wir von Berlin und wenn wir von Deutschland, vor allen Dingen von der Situation in der Sowjetzone, sprechen.Meine Damen und Herren, wir unterstützen ohne Vorbehalt die Feststellung des Herrn Bundeskanzlers, und wir freuen uns, daß er es in dieser Eindeutigkeit gesagt hat, daß die Lebensfähigkeit Berlins erhalten und gestärkt werden muß und daßdie Bundesrepublik bereit sein muß, für die Erfüllung dieser Aufgabe auch weiterhin erhebliche finanzielle Opfer auf sich zu nehmen.
Sie haben dabei — das möchte ich der Bundesregierung sagen — die Unterstützung der sozialdemokratischen Opposition.Ich möchte mit Zustimmung vermerken, daß der Herr Bundeskanzler gestern hier erklärt hat:Die Bundesrepublik steht fest zum freien Teil Berlins, das untrennbar zum freien Deutschland gehört.Auch diese Feststellung möchte ich unterstreichen, damit wir wissen, daß Berlin ein Teil von uns ist und nach unserem Willen ein Teil von uns bleiben soll und bleiben muß.Wir unterstützen die Verurteilung der Zonenpolitik, der Politik der Machthaber in der Sowjetzone, und wir beklagen mit ihm die Verschärfung der Notlage unserer Landsleute in der Sowjetzone, Menschen, die heute unter Bedingungen leben, von denen wir manchmal wünschen müssen, daß sich alle 50 Millionen Bundesbürger des harten menschlichen Schicksals völlig bewußt sind, dem diese unsere Landsleute gerade in diesen Wochen und Monaten ausgeliefert sind.
Die Unbilden und Schwierigkeiten, die wir hier angesichts der Kältewelle zu ertragen haben, sind ein Kinderspiel gegenüber dem, was die Menschen in der Zone erleben und ertragen müssen. Da gibt es tatsächlich eine gemeinsame Aufgabe, die immer bestanden hat und die wir hier nur noch einmal unterstreichen können, nämlich dafür zu sorgen, daß das Bewußtsein der unlösbaren Zusammengehörigkeit zwischen uns und den Menschen in der Zone und in Ostberlin hier in diesem Teil Deutschlands gestärkt wird und daß wir aus diesem Bewußtsein auch die notwendigen Konsequenzen ziehen, indem wir alles tun, was jeder einzelne tun kann, um wenigstens etwas von der Not zu mildern, die in der Zone von unseren Landsleuten ertragen werden muß.
Der Herr Bundeskanzler hat auf die Note der Bundesregierung an die Sowjetregierung vom Februar 1962 hingewiesen, und er hat noch einmal seine Erklärung vom Oktober 1962 in die Erinnerung gerufen. In beiden Fällen ist der Versuch gemacht worden, mit der Sowjetunion in ein Gespräch zu kommen und vor allen Dingen auch Mittel und Wege zu finden, die es möglich machen könnten, das menschliche Schicksal der Menschen hinter der Mauer und hinter dem Stacheldraht zu erleichtern. Es ist richtig, daß die andere Seite darauf nicht reagiert hat. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, auf diesem Weg nachdrücklich weiterzubohren, immer von neuem auf diese Dinge aufmerksam und deutlich zu machen, daß es in der Frage der Verurteilung dieser Unmenschlichkeiten und in
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Ollenhauerunserem Bemühen, hier menschliche Erleichterungen zu schaffen, keine Ermüdung, kein Nachlassen und keine Gewöhnung durch die Zeit geben kann und geben wird.
Ich möchte meinen, meine Damen und Herren und Herr Bundeskanzler, das ist nötig gegenüber dem Machthaber, der diese Zustände geschaffen und erhalten hat.Aber wir sollten auch nicht darauf verzichten, an anderen Stellen im Westen, an denen die Möglichkeit besteht, zu wichtigen Institutionen oder Menschen zu reden, immer wieder die Frage der Verstöße gegen die Menschenrechte in die Debatte zu bringen
und das Bewußtsein, ich möchte sagen: die Kenntnis der Tatsachen mit großem Nachdruck in allen Teilen der Welt und über alle uns zur Verfügung stehenden Institutionen zu verbreiten und deutlich zu machen — das ist unsere starke Position —, daß der Protest gegen die Unmenschlichkeit und die Forderung nach der Sicherung der Menschenrechte nicht nur auf dem leidvollen Schicksal der Deutschen, sondern auf den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen basieren.
Wir haben über alle diese Möglichkeiten wiederholt im Ausschuß gesprochen. Es gibt da Hemmungen und Schwierigkeiten. Aber ich möchte nicht versäumen, an dieser Stelle noch einmal an die Bundesregierung zu appellieren, hier nichts zu unterlassen, sondern alles aktiv zu fördern, was möglich ist, um diese Fragen in das Interessenfeld der weiten Welt zu stellen und unter Umständen auch Möglichkeiten zu schaffen, um durch internationale Einwirkung in der Frage der Sicherung und Wiederherstellung der Menschenrechte doch einen Erfolg zu erzielen.Das alles ist im Hinblick auf das große Ziel sehr wenig und nicht befriedigend. Aber, meine Damen und Herren, für die Betroffenen kann jeder Schritt in dieser Richtung eine bedeutsame Erleichterung des persönlichen Schicksals sein, und es kann ihnen vor allen Dingen durch unser Verhalten die Überzeugung gegeben werden, daß wir hier tatsächlich nichts unversucht lassen, um für sie und ihre unmittelbaren menschlichen Interessen zu sprechen. Das ist unsere Pflicht und das ist unsere Aufgabe, die wir nie außer acht lassen dürfen.
Meine Damen und Herren! Im Zusammenhang mit der internationalen Politik hat es in der gestrigen Erklärung des Herrn Bundeskanzlers beachtenswert kurze Hinweise gegeben auf den deutsch-französischen Vertrag und auf den Abbruch der Verhandlungen in Brüssel über die Aufnahme Großbritanniens in die EWG. Ich finde, die Bemerkungen des Bundeskanzlers, die wir gestern hier gehört haben, werden der Bedeutung dieses Komplexes unserergegenwärtigen europäischen internationalen Politik in keiner Weise gerecht.
Ich möchte hier einiges dazu sagen, über unsere Auffassung und, wie wir meinen, über die Notwendigkeiten, die sich für die deutsche Politik in diesem Augenblick ergeben. Dabei will ich auch und muß ich einige Bemerkungen machen über die Bedeutung des deutsch-französischen Vertrages im Zusammenhang mit den Vorgängen in Brüssel und mit unseren anderen Verpflichtungen vertraglicher Art auf anderen Gebieten der westeuropäischen oder westlichen Politik.Damit dabei eines von vornherein außer Zweifel steht, möchte ich vorweg bemerken: es kann keinen Zweifel geben über die Stellung der Sozialdemokratie zu dem Ziel und zu der Aufgabe, ein aufrichtiges, enges dauerndes Freundschaftsverhältnis zwischen dem französischen und dem deutschen Volke herzustellen.
Hier, möchte ich sagen, bedarf es von unserer Seite keiner langen Begründung und Motivierung. Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie auf dem Gebiet ihrer internationalen Beziehungen hat ein Kapital von besonderem Gewicht und besonderer Eindringlichkeit: das sind die Bemühungen der deutschen Sozialdemokratie um eine deutsch-französische Verständigung zurück bis weit in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg.
Wir freuen uns, dabei immer festgestellt zu haben — nicht nur durch Deklarationen —, daß wir in dieser Frage, in dem Bemühen um dieses Ziel auch einig waren mit unseren französischen Freunden, den französischen Sozialisten in der SFIO, und ich darf vielleicht — nicht um hier damit besonderen Eindruck zu machen — nur an die Tatsache erinnern, daß z. B. auf dem Friedenskongreß in Basel 1913 die beiden Hauptsprecher der damalige Vorsitzende unserer Partei August Bebel und der Führer der französischen Sozialisten Jean Jaurès waren und daß die Tatsache des Bekenntnisses dieser beiden Männer der Höhepunkt dieser Manifestation gewesen ist. Wir sind dieser Tradition treu geblieben durch all die Jahre. Ich kann das nicht nur für uns sagen. Ich muß auch daran erinnern, daß z. B. die französischen Sozialisten, die sich nach dem Hitlerkrieg in ihrem Land in keiner einfachen Situation befanden, damals die ersten waren, die sich öffentlich und sichtbar gegen die Aufteilung Deutschlands nach dem Kriege gewandt
und die Meinung vertreten haben: Wir können in Europa nur zu einem Frieden kommen mit einem Deutschland, das nicht widernatürlich gespalten ist; wir können nur zu einem Frieden kommen in einem Europa, in dem das französische und das deutsche Volk in aufrichtiger Freundschaft zusammenleben.
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2600 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
OllenhauerIch wollte das hier gesagt haben; denn ich möchte nicht, daß das, was ich später an kritischen Bemerkungen über die möglichen Auswirkungen des Vertrages im Hinblick auf die europäische und internationale Situation auszuführen habe, etwa als eine Abschwächung oder als eine Gegenposition gegenüber den von uns allen hier so nachdrücklich und eindeutig bejahten Fortschritten — wesentlichen Fortschritten — in der Frage der dauernden deutschfranzösischen Zusammenarbeit angesehen wird.Der Vertrag und der Abschluß sind in einen sachlichen und in einen zeitlichen Zusammenhang gestellt worden, bei dem wir nicht umhin können, die Auswirkungen dieser Tatsache heute mit allem Ernst, jedenfalls in einer ersten Betrachtung, zu untersuchen. Wir haben heute nicht die erste Lesung dieses Vertrages, wir werden sie später haben; aber man kann an diesem Tage nicht über die europäische Krise und über die möglichen Konsequenzen reden, ohne auch die Tatsache dieses Vertragsabschlusses mit in Betracht zu ziehen.Der Bundeskanzler hat gestern auf der einen Seite die positive Bedeutung des Vertrages unterstrichen und auf der anderen Seite die Auffassung vertreten, daß man zwar in Brüssel einen schweren Rückschlag erlitten habe, daß aber diese Krise heilbar sei. Das letzte hoffen auch wir. Aber es geht hier nicht nur um eine lokale oder partielle Angelegenheit, wenn die Verhandlungen in Brüssel über die Aufnahme von Großbritannien unterbrochen und praktisch zunächst gescheitert sind, es geht um mehr: es geht durch diesen Vorgang tatsächlich um die Frage der weiteren Existenz, der weiteren Entwicklungsmöglichkeit der Europäischen Gemeinschaft, der europäischen Zusammenarbeit, und ich füge hinzu: auch der atlantischen Gemeinschaft des freien Europas mit den Vereinigten Staaten.
Ich habe nicht die Absicht, hier irgend etwas zu deklarieren, was vielleicht einen gewissen dramatischen Effekt für die Stunde haben könnte. Was uns in diesem Punkt bewegt, sind die Sorgen, die in der Sache selbst liegen. Es ist doch so: Die Verhandlungen in Brüssel mit Großbritannien sind nicht in der Sache gescheitert — darin liegt das Besondere dieses Zusammenbruchs —, sondern durch Einwirkungen politischer Art, durch Einwirkungen von außen, durch den Einspruch eines Mitglieds der Sechs und — ich will es noch klarer sagen — durch den Einspruch eines Mannes.
Die Verhandlungen über die Aufnahme Großbritanniens hatten große Fortschritte gemacht. Großbritannien hat im Zusammenhang mit seinem Aufnahmeantrag die Römischen Verträge anerkannt. Es hat sich mit der Prozedur, die in diesen Verträgen festgelegt ist, einverstanden erklärt. Das war der Ausgangspunkt der Verhandlungen. Dieser Punkt hat nicht zur Debatte gestanden. Es hat sachliche Meinungsverschiedenheiten gegeben. Aber, meine Damen und Herren, auch als sich die Sechs zusammengefunden haben, hat es sachliche Meinungsverschiedenheiten gegeben, und da ist lange verhandeltworden, ehe man mit großer Geduld und sehr vielen Schwierigkeiten und Krisen zu dem Resultat der Römischen Verträge gekommen ist.
Aber hier war sogar trotz der schwierigeren Frage, als Siebenter in eine bereits bestehende Gemeinschaft der Sechs zu kommen, die sachliche Lösung in Sicht.
Eine weitgehende Übereinstimmung war erzielt worden. Es war ein Rest von Fragen geblieben, von denen alle Beteiligten erklärten und wußten, daß sie in absehbarer Zeit überwindbar und lösbar gewesen wären.
Ich sage das hier nicht als eine Interpretation der Lage vor Abbruch der Verhandlungen. Lesen Sie alles, was inzwischen über den Stand der Verhandlungen berichtet worden ist! Sehen Sie sich die Erklärung z. B. eines Mannes wie Monnet an, der ausdrücklich darauf hinweist, daß für Großbritannien die Anerkennung der Verträge von Rom nicht mehr zur Debatte stand! Lesen Sie den unerhört interessanten Bericht eines Mannes wie des Vizepräsidenten Mansholt, der in dem schwierigsten Gebiet zu verhandeln hatte, von dem wir wissen, daß er die größten Bedenken hatte, ob es möglich sei, in den agrarpolitischen Fragen zu Rande zu kommen. In der öffentlichen Erklärung von Mansholt nach dem Scheitern wird klar, daß der Mann unter dem Eindruck stand: Wir kommen über den Berg, die sachliche Lösung ist zu erreichen, ohne daß die Grundlagen des Vertrages verletzt werden.
Der Bericht des Präsidenten der Kommission, Professor Hallsteins, ist in dieser Frage von einer solchen Eindeutigkeit, daß man ihm nichts hinzuzufügen braucht. Es ist keine Frage: von der Sache her gab es keine Notwendigkeit und keinen Anlaß, die Verhandlungen jetzt etwa scheitern zu lassen.Wie ich gelesen habe, hat das Europäische Parlament gestern bei Stimmenthaltung der französischen Gaullisten, im übrigen aber einstimmig beschlossen, die Europäische Kommission aufzufordern, in drei Wochen einen Bericht über den Stand der Verhandlungen vorzulegen, der in der März-Sitzung des Europäischen Parlaments beraten werden soll. Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dieser Bericht wird die Feststellung bestätigen.Das macht die Sache in ihrer Bedeutung so außerordentlich, ich möchte sagen, gefährlich. Das Veto eines Mannes ist eine geradezu politische Entscheidung außerhalb der in der Sache selbst gelegenen Fragen. Wir werden uns mit diesem Punkt noch zu beschäftigen haben. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, sich das auch zu überlegen.Man hört jetzt z. B. von der anderen Seite, daß man sich bei den Verhandlungen mit England immer mehr von den Römischen Verträgen entfernt hat. Dazu möchte ich einmal die Frage aufwerfen: ist das
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OllenhauerVeto von Herrn de Gaulle mit den Verträgen von Rom überhaupt vereinbar,
in denen festgelegt ist, daß die Gemeinschaft allen offensteht, die die Verträge anerkennen?! Das lag hier vor. Wie wollen denn, meine Damen und Herren, Frankreich und sein Präsident diesen Eingriff rechtfertigen und mit diesen Erklärungen und den Festlegungen des Vertrags in Übereinstimmung bringen? Die Pressekonferenz des Herrn de Gaulle fand am gleichen Tage statt, an dem Herr Mansholt seinen Bericht in Brüssel vorlegte, und wer mit Teilnehmern dieser dramatischen Sitzung gesprochen hat, weiß, was sich da abgespielt hat: wie sich sozusagen auf der einen Seite aus dem Bericht die Hoffnung ergab, daß man bald zu einer positiven Lösung komme, und zwischendurch, absatzweise, diese brutale Absage des französischen Staatspräsidenten erfolgte.Ich habe hier auch eine Frage, die uns angeht. Zweifellos war diese Erklärung des Herrn Staatspräsidenten de Gaulle eine Erklärung von weittragender Bedeutung für die europäische innere Organisation überhaupt. Nun ist sicher richtig, daß die Pressekonferenz des Herrn de Gaulle vor der formellen Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrages mit der Konsultationsverabredung erfolgt ist. Aber, meine Damen und Herren, immerhin: am 14. Januar war der Vertrag sicher bereits im vollen Wortlaut bekannt und ausgehandelt, wenn er auch erst am 22. Januar aus Anlaß der Anwesenheit des Bundeskanzlers in Paris unterschrieben wurde, und es wäre für uns wichtig, zu wissen, ob, nachdem in diesem Vertrag die Konsultationsverabredungen eine so entscheidende Rolle spielten, Herr Staatspräsident de Gaulle den Herrn Bundeskanzler vor seiner Pressekonferenz über seine Absicht, in dieser Weise die Ablehnung der Aufnahme Großbritanniens öffentlich anzukündigen, konsultiert hat.
Hier ist eine Frage, auf die wir gern eine klare und offene Antwort haben möchten, und es ist kein Zweifel darüber — wenn wir diesen deutschfranzösischen Vertrag im einzelnen prüfen —, daß dieser Teil über Konsultationsverabredungen ein wesentlicher Bestandteil ist und daß in diesem Vertrag auch davon gesprochen wird, daß eine solche Konsultation vor wichtigen Entscheidungen bestehender europäischer Gemeinschaften eintreten soll. Das bezieht sich also auf alle europäischen Gemeinschaften, die wir haben, einschließlich der NATO.Da ist nun die Frage: was ist eigentlich der Sinn der Europapolitik, von der — wie der Herr Bundeskanzler gesagt hat — in der dem Pariser Vertrag beigefügten Erklärung die Rede ist? Basiert diese Vorstellung über die europäische Zusammenarbeit wirklich auf Zusammenarbeit und Integration, und ist es wirklich das Ziel beider Partner, gemeinsame europäische Interessen über nationale Interessen oder Interessen von Gruppen, von Nationen innerhalb der Gemeinschaft zu stellen?Herr Bundeskanzler, Sie haben geistern mit Recht an Robert Schuman erinnert, der sicher ein großesVerdienst in der Frage der deutsch-französischen Verständigung hat; er hat es verdient, in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden. Aber dieser Hinweis auf Robert Schuman wirft doch eine andere Frage auf. Robert Schuman ist 'der Schöpfer des Schuman-Vertrages, d. h. des Vertrages über die Montanunion. Dieser Vertrag trägt in weit höherem Maße als alle anderen europäischen Verträge einschließlich EWG einen supranationalen Charakter. Er ist der Idee eingeordnet, eine europäische Gemeinschaft zu entwickeln, bei der sowohl nach Zielsetzung wie nach der Praxis des Vertrages immer mehr nationale Interessen durch gemeinsame Interessen abgelöst werden, durch ein gemeinsames Handeln und sogar im Falle der Montanunion durch eine praktische gemeinsame Politik auf wichtigen Gebieten, z. B. der Energie. Alles das, was noch an nationalen Eigenwilligkeiten und Interessen da war, wurde abgebaut.Die heutige Konsultationsverabredung z. B. im deutsch-französischen Vertrag für zwei der Partner in der Gemeinschaft der Sechs ist im Grunde das glatte Gegenteil der Idee, die Robert Schuman in diesem Zusammenhang hinsichtlich einer europäischen Zusammenarbeit vertreten hat.
Ich glaube, das muß hier unzweideutig klargemacht werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben soeben gesagt, daß die Vereinbarung über eine zweiseitige Konsultation zwischen Deutschland und Frankreich das glatte Gegenteil der Sechser-Idee Schumans sei. Ist Ihnen bewußt — und das ist meine Frage —, daß der Präsident de Gaulle in seiner Pressekonferenz wörtlich gesagt hat, daß dieser Vertrag ein Beispiel geben solle, das nützlich für die Zusammenarbeit aller sein könne?
Ja, Herr von Guttenberg, das ist richtig. Aber hier haben wir es mit dem Vertrag zu tun. In dem Vertrag ist die Frage der Konsultation der Zwei, die Mitglieder der Gemeinschaft sind, ein wesentlicher Bestandteil mit praktischen Konsequenzen, die man nicht durch Erklärungen allgemeiner Art aus der Welt schaffen kann.
Bitte, wir wünschen, diese Frage in aller Sachlichkeit und in allem Ernst zu diskutieren. Aber es ist die entscheidende Frage, wo wir in unserer Europapolitik stehen und welche Linie wir in Zukunft verfolgen wollen. Wir sind der Meinung, es soll eine Europapolitik mit all ihren praktischen Konsequenzen sein im Sinne der Idee z. B. von Robert Schuman und manchem anderen Franzosen,
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2602 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Ollenhauerder in dieser Frage auf unserer Seite steht, ohne daß er die Möglichkeit hat, heute einen praktischen Einfluß auf die französische Politik auszuüben.
Meine Damen und Herren, da liegt unsere besondere Verantwortung auch gegenüber den Europäern in diesem Sinne in anderen Ländern.Folgende Konsequenz möchten wir daraus ziehen: Wir werden untersuchen — nicht heute, aber morgen und übermorgen im Zusammenhang mit der Beratung des Vertrages —, inwieweit der Vertrag durch seinen Inhalt und die Konsequenzen seiner Bestimmungen andere internationale oder europäische Verträge, die wir abgeschlossen haben, schwächt oder beeinträchtigt. Das gilt für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, das gilt für den Montanvertrag und das gilt auch für NATO, meine Damen und Herren. Wir wünschen nicht Gefahr zu laufen, daß durch die Bestimmungen dieses Vertrags eine solche Abschwächung und eine solche Beeinträchtigung oder sogar allmähliche Auflösung erfolgt. Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung hinsichtlich der weiteren Entwicklung jede denkbare Anstrengung machen sollte, um die Frage der Mitgliedschaft Großbritanniens und im Zusammenhang damit auch noch der anderen Länder, die um ihre Aufnahme nachgesucht haben und für die, wie z. B. im Falle Dänemark, die Mitgliedschaft in der EWG von lebensentscheidender Bedeutung ist, einer Lösung zuzuführen. Wir sollten auch darandenken, daß es, wenn wir unsere Bemühungen um die Mitgliedschaft Großbritanniens fortsetzen, dann ebenfalls um die Mitgliedschaft von Dänemark, Norwegen und anderen Ländern geht, die um die volle Mitgliedschaft nachgesucht haben. Ich gebe zu, daß unsere Minister bei den Beratungen in Brüssel im letzten Stadium große Anstrengungen gemacht haben, um den Zusammenbruch der Verhandlungen zu vermeiden. Wir haben ja auch nach den Ereignissen in Brüssel die Erklärung des Bundeskabinetts gelesen und gehört — der Bundeskanzler hat sie gestern ebenfalls in seiner Rede erwähnt —, daß die Regierung ihre Bemühungen um die Aufnahme Großbritanniens fortsetzen will.Aber, meine Damen und Herren, sprechen wir offen. Leider ist es eine Tatsache, daß bei unseren Freunden in Westeuropa immer noch in Frage steht, ob die deutsche Bundesregierung in dieser Forderung und in ihrem praktischen Wirken für die Aufnahme Großbritanniens tatsächlich bis zum letzten entschlossen ist. Ich will hier gar nicht die Ursachen untersuchen. Da gibt es alle möglichen Versionen, die Sie alle kennen. Was uns aber beunruhigt, ist, daß es auch nach der Regierungserklärung des Kabinetts in dieser Frage ebenso gegensätzliche und unterschiedliche Äußerungen gibt wie die des Herrn Bundeskanzlers und die des Herrn Bundeswirtschaftsministers.
Meine Damen und Herren, wo stehen wir hiereigentlich? Was ist die Haltung der Regierung? Wasist die Haltung der Koalition? Hier muß doch ein-mal, über jeden Zweifel erhaben, vor allem gegenüber unseren Freunden im Westen Klarheit geschaffen werden.
Ein Mann wie der Staatssekretär Müller-Armack, der so aktiven Anteil an all den Verhandlungen im Sinne einer Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft genommen hat, hat erklärt, er stimme mit seinem Minister überein, aber er könne die Verantwortung für die Europapolitik nicht mehr tragen, er wolle zurücktreten.
Meine Damen und Herren, was geht denn hier vor?
Man kann doch in einer Regierungserklärung nicht so tun, als wenn alles in bester Ordnung wäre, während die ganze Welt darauf wartet: Was sagt das Parlament und was sagt die Regierung, um die Zweifel und Unsicherheit auszuräumen?
Meine Damen und Herren, ich glaube, Sie werden verstehen, hier geht es nicht um eine Drängelei der Opposition. Es geht darum, daß in dieser Lage, die durch das unglückliche Zusammentreffen der Unterzeichnung des Vertrages mit dem Zusammenbruch der Verhandlungen entstanden ist, alle Zweifel über die Entschlossenheit der Bundesrepublik in der Richtung einer weiteren aktiven Förderung der EWG und ihrer Ausdehnung um die Mitgliedschaft Großbritanniens ausgeräumt werden, und zwar durch Erklärungen der Bundesregierung, die jedermann als unbestreitbar akzeptfern muß. Daran fehlt es bis heute.
Diese Frage können nur Sie lösen, meine Damen und Herren, Sie in der Regierung und Sie in der Koalition! Aber Sie müssen sie lösen, und zwar ohne Verzögerung.Warum sage ich das? Ich sage es — und das möchte ich noch hinzufügen —, weil wir in Sorge um die weitere Entwicklung nicht nur in Europa, sondern in der freien Welt sind. Wenn wir die Frage der EWG und das Verhältnis unseres Vertrags zur EWG in Zusammenhang mit der Konsultationsverabredung nicht bald lösen, so wird es unvermeidlich sein, daß die Existenz einer solchen Verabredung eine auflösende, zersetzende Wirkung auf die EWG hat.
Das ist unvermeidlich, das liegt in der Natur der Sache.Das zweite! Wir müssen ernsthafte Anstrengungen machen, um die Frage Großbritannien positiv zu lösen. Ich weiß, es gibt kein Rezept, zu sagen: Wir fangen morgen so an. Das ist die Schwierigkeit. Ich bin durchaus einverstanden, wenn gesagt wird: Wir wollen jedenfalls alle vorhandenen Ebenen benutzen, um über diese Frage im Gespräch zu blei-
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Ollenhauerben, z. B. WEU oder andere Möglichkeiten in Zusammenhang mit dem, was das Europäische Parlament jetzt erwogen hat. Einverstanden! Aber, meine Damen und Herren, das muß von uns — und von uns in erster Linie! — aktiv und mit vollem Herzen betrieben werden. Darum geht es.
Und warum? Nicht nur, weil wir um diese Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft durch Großbritannien und die skandinavischen Länder nicht herumkommen! Wir brauchen sie, um die Gemeinschaft wirklich weiterzuentwickeln.Lassen wir es beim jetzigen Stande, so kommt auch die Frage unserer Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten ins Spiel. Ich möchte jetzt einmal nicht über das Militärische sprechen; das werden wir in anderem Zusammenhang tun müssen, und dann werden wir sicher eine ganze Reihe von wichtigen Fragen zu behandeln haben. Ich möchte über etwas anderes sprechen, nämlich über die Tatsache, die nicht diskutabel sein sollte, daß in Zukunft die militärische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, die für uns unabdingbar sein sollte, für die wirtschaftliche und die politische Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung sein wird. Wir haben im Juli vorigen Jahres eine Botschaft des amerikanischen Präsidenten Kennedy an Europa über eine Partnerschaft auf wirtschaftlichem Gebiet zwischen Europa und den Vereinigten Staaten bekommen. Der amerikanische Präsident hat nach dieser Botschaft in seinem eigenen Kongreß unter großen Schwierigkeiten einen weittragenden und tiefgreifenden Beschluß in bezug auf die künftige Handelspolitik gegenüber Europa durchgesetzt. Er hat in seinem eigenen Lande die Konsequenzen gezogen unter Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, weil das ja ein Schritt gegen viele traditionelle Vorstellungen und Einrichtungen in der bisherigen amerikanischen Außenwirtschaftspolitik war.Meine Damen und Herren, diese Zusammenarbeit, die sich nicht nur auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit beschränken, sondern die eine Zusammenarbeit der freien Welt, Europas und der Vereinigten Staaten, auf dem Gebiete der Entwicklungshilfe einbeziehen sollte, hat eine überragende politische Bedeutung nicht nur für die europäischen Länder, sondern auch für die Notwendigkeit eines solchen Zusammenwirkens der beiden — wenn Sie wollen — Ländergruppen in der Entwicklungspolitik.Das Bedauerliche ist, daß es seit Juli vorigen Jahres zwar sehr viele Sympathieerklärungen, aber keine einzige positive Maßnahme irgendeiner europäischen Regierung gegeben hat, um diese Initiative von Kennedy wirklich aufzugreifen.
— Das ist leider wahr. Und, meine Damen und Herren, jetzt kommt noch hinzu, daß Kennedy gesagt hat: Wir meinen Europa, europäische Gemeinschaft einschließlich Großbritannien.Nun ist die Frage offen: ja, glauben wir denn, daß das alles nun einfach so weitergeht, daß man sich nun einfach damit abfindet: Es geht eben nicht? Ist das unser Interesse? — Es kann nicht unser Interesse sein!Ich will hier gar nicht irgend etwas verabsolutieren. Aber es kann doch unter ernsthaften Menschen in diesem Lande in dieser Lage keine Meinungsverschiedenheit geben: unsere Beziehungen mit den Vereinigten Staaten, auf welchem Gebiet immer, müssen so eng und so eindeutig wie nur möglich gestaltet werden,
weil unsere Lebensmöglichkeit und die Existenz von Berlin davon abhängen
und auch die Chancen für eine allmähliche Fortentwicklung unserer Position in der Frage der Anerkennung.Das ist unsere Sorge, und deshalb in diesem Zusammenhang hier unser dringender Appell an Sie, an die Regierung und an die Koalition: Lassen Sie es nicht bei dem Eindruck, den gestern leider die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers erwecken mußte! Er hat in seiner Aufzählung so etwa gesagt: Ja, darüber spricht man auch, aber das sind eigentlich keine aufregenden Dinge. — Es sind aufregende Dinge, es ist eine Krise, und wir brauchen eine große Anstrengung von unserer Seite.Sehen Sie, da hat der Herr Bundeskanzler gestern mit Recht auf die Position der Vereinigten Staaten vor allen Dingen nach ihrer Haltung im Falle Kuba hingewiesen. Er hat mit Recht gesagt, daß wir dieser festen Haltung für die Stärkung der Position des Westens viel verdanken. Einverstanden! Aber ich meine, die Anerkennung dieser Leistung der Vereinigten Staaten auch für die Festigung der westlichen Position allein genügt doch nicht. Die Anerkennung verpflichtet uns, unseren Beitrag dafür zu leisten, daß diese Zusammenarbeit des freien Westens noch stärker und effektiver wird und daß sie jetzt nicht durch innere Auseinandersetzungen in Europa unter Vorstellungen nationalpolitischer Art aus dem 19. Jahrhundert zurückgeworfen und zerstört wird.
Die Gefahr der Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Kräften in der Welt ist noch nicht gebannt. Vielleicht richtig: wir sind etwas beruhigter. Vielleicht ist die Gefahr eines schrecklichen Zusammenstoßes geringer. Aber, meine Damen und Herren, das darf uns nicht dazu führen, daß wir, wie z. B. im Falle des Scheiterns der Verhandlungen in Brüssel, Herrn Chruschtschow einen Erfolg gratis ins Haus liefern.
Das ist doch eine Stärkung seiner Position.Darum meine ich — und deswegen habe ich Sie bemüht, diesen Ausführungen zu folgen —: Lassen Sie uns diesen ganzen Komplex EWG, Erweiterung
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2604 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Ollenhauerdurch Großbritannien und Verhältnis des deutschfranzösischen Vertrages zu unseren anderen europäischen und sonstigen vertraglichen Verpflichtungen mit aller Gründlichkeit und allem Ernst untersuchen. Es darf nicht so sein, daß wir später etwa den Kommentar erhalten: Da haben die Deutschen in dieser Zeit einen so gut gemeinten und richtigen Vertrag über deutsch-französische Verständigung unterzeichnet, und sie haben gar nicht gewußt, daß im Grunde in diesem Vertrag eine entscheidende Wende ihrer und der westlichen Politik überhaupt begründet lag.
In diese Lage dürfen wir und möchten wir nicht kommen,
und deswegen diese Bemerkungen.Lassen Sie uns alle die Dinge untersuchen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Gefahren oder Mißdeutungen auszuschließen. Man kann z. B. darüber reden. Manches — ich will das hier nur als ein Beispiel nennen — wäre leichter in dieser Lage, wenn die beiden Regierungen — die beiden Regierungen — verbindlich erklärten, als Teil dieses Vertrages, daß der Vertrag im Zusammenhang mit allen anderen vertraglichen Verpflichtungen gesehen werden muß, die die beiden Länder eingegangen sind, einschließlich EWG und NATO und anderer Verträge, und daß sie in ihrem Wert und ihrer Praxis nicht beeinträchtigt werden dürfen, sondern gestärkt werden müssen, damit hier jeder Zweifel ausgeräumt wird. Das mag ein Weg sein; denn einseitige Erklärungen dieses Bundestages oder einseitige Erklärungen dieser Regierung reichen nicht aus. Es kann sich nur um verbindliche Erklärungen der beiden Partner handeln.Wie gesagt, ich möchte die Möglichkeiten, die es dort gibt, nicht im einzelnen aufzählen, aber ich bitte, eines zu erwägen. Wir sollten uns angesichts der Wirkung und der psychologischen Situation und auch aus der Sache selbst ernsthaft überlegen, ob die deutsche Bundesregierung nicht Großbritannien und allen ihren anderen europäischen Partnern im Westen einen gleichen Freundschaftsvertrag anbietet,
um deutlich zu machen, daß wir diese Art von Beziehungen mit allen unseren Freunden auf europäischem Boden haben möchten und bereit sind, sie aufzunehmen.Ich komme zum Schluß. Ich glaube, wir werden über diesen Komplex noch zu reden haben, vor allem im Zusammenhang mit dem Vertrag selbst. Aber ich bitte Sie noch einmal: Denken Sie daran, daß wir die jetzige Krise in Brüssel nicht ansehen dürfen als ein lokales, zeitlich gebundenes Ereignis, wie manche anderen Fehlschläge auch, sondern daß hier die Frage der Existenz der Gemeinschaft und die Frage ihrer Weiterentwicklung auf dem Spiel steht und daß es von entscheidender Bedeutung ist, daß die Position der Bundesrepublik durch Erklärungen ihrer Regierung und ihrer Mehrheit vor aller Welt, vor allem vor unseren Freunden, so klargemacht wirdin positivem Sinne, daß jeder Zweifel ausgeräumt ist.Sie haben jetzt das Wort, und ich hoffe, wir haben nicht nur Ihre Worte, sondern auch Ihre Taten.
Das Wort hat der Abgeordnete von Brentano.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Ich habe die Absicht, in erster Linie zu dem außenpolitischen Teil der Regierungserklärung zu sprechen, aber ich möchte doch mit wenigen Worten auf die Eingangsausführungen unseres Kollegen Ollenhauer eingehen. Er hat — ich weiß nicht, ob es sehr glücklich war, Herr Kollege Ollenhauer — in den ersten Satz seiner Ausführungen die sogenannte Spiegel-Affäre gestellt. Ich weiß nicht, ob das der Bewertung gerecht wird. Aber ich möchte ein anderes dazu sagen: Warum sprechen wir hier eigentlich von „Spiegel-Affäre"? Warum sprechen wir nicht
von dem ganzen Komplex, der mit der Einleitung eines Verfahrens gegen den Redakteur Augstein wegen Verdachts des Landesverrats zusammenhängt?
Ich glaube, damit gewinnt die Sache einen anderen Aspekt.
Sie haben gesagt, Herr Kollege Ollenhauer, Sie erwarteten von der Bundesregierung Garantien dafür, daß sich die Begleiterscheinungen — die auch wir zum Teil, ich sage das in aller Offenheit, beklagen — nicht wiederholen. Dann möchte ich doch vorschlagen — und ich glaube, Sie werden mich verstehen —, daß sich an diesen Garantien auch die Fraktionen dieses Hauses beteiligen,
um dadurch nämlich auch wirksame Garantien dafür zu bekommen, daß keine Geheimdokumente in falsche Hände gelangen.
— Ich nehme doch bestimmt an, daß Sie in Ihrer Fraktion auch wissen, was ich meine, wenn ich diese Feststellung treffe,
und Sie sollten keinen Anlaß haben, das in irgendeiner Weise zu bagatellisieren.
Dann hat Herr Kollege Ollenhauer den innenpolitischen Teil der Regierungserklärung beanstan-
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Dr. von Brentanodet. Er sagte, eine Zusammenstellung solcher Ziele und Aufgaben sei noch keine Politik. Nun, ich glaube, auch die Zusammenstellung unerfüllbarer Forderungen ist keine Politik, Herr Kollege Ollenhauer.
Sie haben darüber hinaus, Herr Kollege Ollenhauer, den Stil kritisiert und gesagt, die Regierungserklärung sei ziemlich langweilig gewesen. Unter uns gesagt: weite Teile Ihrer Antwort waren nicht sehr kurzweilig.
Lassen Sie mich nun aber, meine Damen und Herren, auf den außenpolitischen Teil der Regierungserklärung eingehen. Ich glaube, der Herr Bundeskanzler hat gestern mit Recht mit der Erwähnung der Kuba-Krise begonnen. Aber selbstverständlich kann man die Aktion der Sowjetunion im Karibischen Meer und die Reaktion der Vereinigten Staaten nicht als einen isolierten Vorgang betrachten. Wir müssen ihn als ein symptomatisches Ereignis in der Auseinandersetzung der freien Welt mit der aggressiven Politik des Weltkommunismus sehen und daraus die Lehren ziehen. Die ruhige Entschlossenheit, mit der die Regierung der Vereinigten Staaten auf die akute Drohung geantwortet hat, hat sicherlich in allen Teilen der Welt, nicht nur der im atlantischen Bündnis zusammengeschlossenen freien Welt, die Überzeugung von der Abwehrkraft und der Abwehrbereitschaft der Vereinigten Staaten gestärkt. Nur dieser Haltung ist es zuzuschreiben, daß sich die akute Krise nicht zu einer weltpolitischen3 Katastrophe entwickeln konnte, und ich glaube, daß wir dafür der amerikanischen Administration unsere uneingeschränkte Anerkennung und unseren Dank aussprechen sollten.
Aber ein anderes hat uns diese Krise auch ins Bewußtsein gerufen, und hier stimme ich mit den Ausführungen überein, die Herr Kollege Ollenhauer zum Schluß gemacht hat; ich meine die unbedingte Notwendigkeit einer echten und unzerstörbaren Solidarität der freien Welt. Ich stelle dieses Bekenntnis bewußt an den Anfang meiner Ausführungen, denn wir haben alle mit Sorge und Bestürzung gespürt, daß Zweifel an dieser Haltung laut geworden sind. Für meine politischen Freunde erkläre ich schon hier und in diesem Zusammenhang, daß jede Frage nach einer möglichen Änderung der deutschen Außenpolitik unberechtigt ist.
Ausbau und Stärkung der atlantischen Gemeinschaft ist und bleibt das unverzichtbare Ziel der deutschen Politik, zu dem wir uns bekennen.
Gerade das deutsche Volk weiß, wie ich meine, um diese Notwendigkeit; denn die Spannung in Europa, die nach wie vor in der Teilung Deutschlands und in der Bedrohung der Stadt Berlin ihren Ausdruck findet, hat sich nicht gemindert. Bis zur Stunde hat die Sowjetunion nicht zu erkennen gegeben, daß sie ernsthaft an einer Lösung der Fragen mitwirkenwill, die nicht nur das ganze deutsche Volk bewegen, sondern die in ihren Auswirkungen die gesamte Welt beunruhigen müssen.Das Memorandum der Bundesregierung vom 21. Februar 1962 fand keine Antwort. In seinem Schreiben vom 28. August hat der Bundeskanzler an den Ministerpräsidenten der Sowjetunion appelliert, dazu beizutragen, daß den vielgeprüften Menschen in Berlin in Zukunft neues Leid erspart werde. Die Antwort des sowjetischen Regierungschefs vom 24. Dezember war schlechthin zynisch. Den jungen Peter Fechter, den sowjetzonale Rotarmisten an der Mauer verbluten ließen, bezeichnet er als Opfer eines Verbrechens, in das der junge Deutsche — ich zitiere — „von halbfaschistischen Hetzern aus der Bundesrepublik und aus Berlin" getrieben worden sei. Meine Damen und Herren, es widerstrebt mir, mehr aus diesem wahrhaftig unmenschlichen Dokumen zu zitieren. Ein anderes möchte ich hier allerdings zitieren: Am 27. September vorigen Jahres sprach der britische Außenminister Lord Home vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen auch zu diesem Mord an Fechter. Er sagte:Es ist eine fast unerträgliche Provokation für zivilisierte Menschen, daß so etwas in unserer Zeit geschehen kann. Es ist eine Beleidigung für alle, die den Menschen als ein Kind Gottes anerkennen und respektieren.Wenn ich diese beiden Äußerungen vergleiche, dann wird mit erschreckender Deutlichkeit klar, daß sich hier zwei Welten gegenüberstehen, die einander ausschließen. Aber es wird auch klar, daß wir gar nicht wählen können, welcher dieser Welten wir angehören wollen, weil es für diejenigen, die sich zu den Grundrechten des Menschen bekennen, keine Alternative geben kann.
Trotz dieser Enttäuschung haben die Bundesregierung und die Regierungen der mit uns verbündeten Staaten immer wieder den Versuch unternommen, Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Sie haben der Sowjetunion immer von neuem ernsthafte Verhandlungen angeboten, wie es auch der Bundeskanzler am 9. Oktober 1962 getan hat. Ich teile Ihre Auffassung, Herr Kollege Ollenhauer: auch die Enttäuschungen dürfen uns nicht daran hindern, den Versuch immer von neuem fortzusetzen. Aber wir müssen uns auch klar sein, daß solche Verhandlungen mit Aussicht auf Erfolg wohl nur geführt werden können, wenn sich die Sowjetunion endlich dazu entschließt, das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung und auf seine Heimat anzuerkennen.
Wer anders kann über die politische, die soziale und die geistige Ordnung, in der ein Mensch leben soll, bestimmen, wenn nicht der Mensch selbst?Aber für den Ministerpräsidenten Chruschtschow stellt sich die Frage anders. Welche Verachtung für jede demokratische Ordnung spricht aus seiner Ablehnung freier Wahlen mit der Begründung, die er neulich in Fürstenberg oder in Berlin gab:
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Dr. von BrentanoWir können doch auch rechnen! Die Arithmetik ist doch in diesem Falle nicht zu unseren Gunsten. Wenn die DDR 50 Millionen Menschen hätte und die Bundesrepublik 17 Millionen, nun gut, dann wären wir selbstverständlich für gesamtdeutsche Wahlen.Die freie Willensentscheidung der Menschen ist für ihn — er sagt es — vollkommen gleichgültig. Er ist nur bereit, die verfälschte und verlogene Entscheidung zu honorieren, die unter dem Druck eines totalitären Systems zustande kommt. Genauso wie es der in Ideologie und Praxis dem Kommunismus wesensverwandte Nationalsozialismus tat, setzt er voraus, daß die Menschen unter der Angst, unter dem Terror so entscheiden, wie er es will, also gegen sich selber. Es ist wirklich schwer vorstellbar, wie eine Entspannung zustande kommen soll, wenn der eine Teil, der daran mitwirken muß, so denkt und sich so verhält.Der Herr Kollege Ollenhauer hat — auch das greife ich gern auf — mit Recht darauf hingewiesen, daß wir unter keinen Umständen nachlassen dürfen, alles zu tun, was in unserer Macht steht, um die Kontakte mit den Menschen in der Zone zu pflegen. Der Herr KollegeOllenhauer hat mit Recht eindringlich auf den Leidensweg dieser Menschen hingewiesen. Ich unterstreiche auch das andere, was er sagte: wir sollten immer wieder den Versuch machen, Verstöße gegen die Menschenrechte, die dort und in Ostberlin, an der Mauer und an der Zonengrenze begangen werden, in der Welt bekanntzumachen und damit den Protest der freien Welt gegen das wachzurufen, was dort an Unmenschlichkeit gegen Deutsche geschieht.In diesem Zusammenhang richte ich an die Bundesregierung eine konkrete Frage. Die Sowjetunion hat in diesen Tagen auf einer Pressekonferenz neue Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhoben, die ebenso maßlos wie unberechtigt waren. Es geschah das im Zusammenhang mit einem Verfahren, das zur Zeit in Koblenz gegen Personen geführt wird, die wegen beispielloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind. Ich glaube nicht, daß wir es nötig haben, auf diese Anwürfe einzugehen. Die rechtsstaatliche Ordnung, in der wir leben, legt uns die Pflicht auf, solchen Verbrechen nachzugehen. Die Bundesregierung und die Regierungen der Länder arbeiten zu diesem Zweck loyal und pflichtbewußt zusammen.Vor kurzem ist aber auch die schriftliche Begründung des Urteils bekannt geworden, das der Dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofes gegen den sowjetischen Staatsangehörigen Bogdan Staschynskij erlassen hat. Der Angeklagte wurde wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus der Begründung — einer sorgfältigen Begründung — zitiere ich nur folgende Feststellungen:Bedenkenlos haben die sowjetrussischen Auftraggeber es für angebracht gehalten, die Begehung zweier politischer Morde auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland anzuordnen und auszuführen und dabei jede internationaleGesittung und die aus korrekten diplomatischen Beziehungen zweier Staaten hervorgehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen grob zu mißachten.Ich frage die Bundesregierung, ob sie bereit ist, die Akten ,der Regierung der Sowjetunion mit der Aufforderung zuzustellen, diejenigen, die sich dieser Verbrechen schuldig gemacht haben, zur Verantwortung zu ziehen.
Ich frage die Bundesregierung auch, ob sie bereits Überlegungen angestellt hat, ob und wie sie diese unvergleichbaren Tatbestände internationalen Behörden und Institutionen zur Kenntnis bringen will, etwa dem Gerichtshof im Haag oder den Vereinten Nationen. Es ist unerträglich, die Begründung dieses Urteils zu lesen und sich zu vergegenwärtigen, was hier auf deutschem Boden im Auftrag einer ausländischen Macht geschehen konnte.Ich sagte schon, .daß die Ost-West-Spannung bis zur Stunde in unverminderter Härte anhält und daß es darum unerläßlich ist, die Geschlossenheit und Solidarität der freien Welt zu erhalten und zu stärken. Gerade darum beklagen auch wir es, Herr Kollege Ollenhauer, daß in den letzten Wochen Unklarheiten und Mißverständnisse aufgetaucht sind. Sie knüpfen sich an einen Vorgang, den wir begrüßen sollten, aber auch an ein Ereignis, das wir bedauern müssen: an die Unterzeichnung des deutsch-französischen Abkommens und an die Unterbrechung der Brüsseler Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zur EWG. Meine politischen Freunde begrüßen es, daß die Regierungserklärung und die Debatte uns Gelegenheit geben, diese Mißverständnisse anzusprechen und, wie ich hoffe, auszuräumen. Der Bundeskanzler hat gestern ein klares und unmißverständliches Bekenntnis zur Fortsetzung unserer europäischen und atlantischen Politik abgelegt. Ich unterstreiche diese Erklärungen ohne Vorbehalt, aber ich möchte sie ergänzen und kommentieren, um jeder Zweifel an der Haltung der Fraktion der CDU/CSU endgültig zu beseitigen.Unsere Entschlossenheit und Bereitschaft, die Politik der europäischen Integration fortzusetzen, ist durch die jüngsten Ereignisse nicht geschwächt, sondern gestärkt worden.
Es geht hier wirklich um ein Kernstück der deutschen Außenpolitik. Keine der europäischen Nationen innerhalb oder außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist nach unserer Überzeugung in der Lage, allein und auf sich selbst gestellt in der veränderten Welt zu bestehen, sich in geordneter Freiheit zu entfalten und diese Freiheit zu sichern. Die Bundesrepublik kann für sich in Anspruch nehmen, vom ersten Tage ihres Bestehens an sich zu dieser Erkenntnis bekannt und die Konsequenzen daraus gezogen zu haben. Der Vertrag über die Montanunion, der Versuch, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen, der Gedanke, die Europäische Politische Gemeinschaft zu errichten, die Römischen Verträge — alles das war nur mög-
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Dr. von Brentanolich, weil die Bundesregierung unablässig diese europäische Politik mit letzter Hingabe vertreten hat; nicht immer, meine Damen und Herren, mit der uneingeschränkten Zustimmung dieses Hohen Hauses.
Aber wir waren uns auch immer im klaren darüber, daß jeder Versuch, Europa zusammenzuschließen, die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich zur Voraussetzung hat. Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht auf die unheilvolle Vergangenheit verwiesen. Im letzten war es der deutsch-französische Gegensatz, an dem sich zwei Weltkriege entzündeten, die die europäischen Staaten an den Rand des Zusammenbruchs führten.Auch hier möchte ich daran erinnern, daß es der große britische Staatsmann Sir Winston Churchill war, der bereits am 18. September 1946 in Zürich wörtlich sagte: „Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muß ein Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland sein." Ich war dankbar, auch zu hören, wie sich Herr Kollege Ollenhauer trotz gewisser Vorbehalte — auf die ich noch zu sprechen komme — auch für seine Fraktion und Partei zu der deutsch-französischen Zusammenarbeit bekannt hat. Er hat auf die lange Geschichte seiner Partei und auf das Treffen im Jahre 1913 verwiesen. Aber, meine Damen und Herren, er wird es mir nicht übelnehmen dürfen, wenn ich ihm sage, daß auch manche Zwischenakte in der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei zu registrieren sind, Zeiten, in denen das Bekenntnis zur deutsch-französischen Zusammenarbeit nicht so ohne Einschränkung abgegeben wurde wie heute und hier; und diese Zeiten liegen noch gar nicht allzu lange zurück, als wir hier in diesem Raum über politische Entscheidungen debattierten.
— Ach nein, schon früher! Zum Beispiel die Europäische Verteidigungsgemeinschaft!
Aber ich bin ja sehr dankbar, meine Damen und Herren, daß das nur noch historische Reminiszenzen sind, und ich begrüße — ich sage das in aller Offenheit —, daß wir auch hier die gleiche Sprache zu sprechen beginnen; denn — und hier kann ich auch zitieren, was der Bundeskanzler in anderem Zusammenhang sagte — es kommt mir und meinen politischen Freunden und, ich glaube, uns allen darauf an, daß hier ein Vertrag geschlossen wird nicht nur von Regierung zu Regierung, von Regierungsmehrheit zu Regierungsmehrheit, sondern von Volk zu Volk.
Ich hoffe und wünsche, meine Damen und Herren, daß das auch in der endgültigen Ratifizierung hier in diesem Hohen Hause zum Ausdruck kommt.
Diese Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen begann mit der Initiative des französischen Ministerpräsidenten Robert Schuman, die zum Abschluß des Vertrages über die Montanunion führte, und diese Entwicklung endete vorläufig mit dem Abschluß der Römischen Verträge. Eigentlich bin ich überzeugt, daß alle, die wirklich den Frieden in ,der Welt wünschen, gleichgültig wo sie sind und in welchem Land sie leben, mir zustimmen müssen, wenn ich sage, daß in diesem Bereich ein entscheidender Beitrag zur Erreichung dieses großen Zieles erbracht worden ist. Darum begrüße ich den Abschluß des deutsch-französischen Abkommens. Auf irgendwelche Einzelheiten will ich heute nicht eingehen. Ich sehe in der Unterzeichnung dieses Abkommens in der Tat ein historisches Ereignis und hoffe, daß wir es hier im Bundestag auch in gebührender Weise werden ratifizieren können, nachdem wir Gelegenheit gehabt haben — Herr Kollege 011enhauer, da stimme ich Ihnen zu —, die Auswirkungen des Abkommens auf andere Verträge und auf unsere Beziehungen zu anderen Ländern sorgfältig zu prüfen.Ich stelle aber ausdrücklich fest, daß wir in diesem Abkommen keine Änderung der politischen Konzeption der Bundesregierung erblicken.,
Das Ziel der multilateralen Integration Europas bleibt unverändert. Niemand von uns denkt daran, es durch bilaterale Allianzen zu ersetzen
oder auch nur zu gefährden. Eine enge deutschfranzösische Zusammenarbeit wollen wir in den Dienst der europäischen und atlantischen Politik stellen, um die Erreichung der gemeinsamen Ziele zu unterstützen. Ich bin überzeugt, daß mancher besorgte Kritiker dies später erkennen wird.Die Politik der europäischen Integration hat in diesen Tagen einen Rückschlag erlitten. Die Unterbrechung der Verhandlungen mit Großbritannien hat, wie auch der Herr Bundeskanzler gestern mit Recht festgestellt hat, zu einer ernsten Krise geführt. Aber er fügte hinzu, daß die Krise heilbar sei, und ich teile diese Überzeugung.Wir waren tief befriedigt, als die britische Regierung den Entschluß faßte, den Römischen Verträgen beizutreten. Ich denke an die Rede des britischen Lordsiegelbewahrers vom 17. Mai 1961 vor dem britischen Unterhaus. Sie enthielt ein klares, unmißverständliches Bekenntnis zur Europapolitik. Auch in seiner Rede vor dem Ministerrat der EWG hat sich Minister Heath nicht nur zum Inhalt, sondern auch zur politischen Philosophie der Römischen Verträge bekannt. So war es nur logisch und richtig, daß der Ministerrat einstimmig die Aufnahme der Verhandlungen mit Großbritannien beschloß. Die Präambel der Römischen Verträge hat uns dazu ebenso verpflichtet wie Artikel 237. Die Verhandlungen haben gezeigt, daß Großbritannien bereit war beizutreten. Der Präsident der Kommission, Herr Professor Hallstein, hat noch vorgestern vor dem Europäischen Parlament einen Bericht abgegeben. Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben ihn
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Dr. von Brentanomit Recht zitiert. Ich kenne den Bericht noch nicht in seinem Gesamtinhalt, sondern nur auszugsweise, aber man kann wohl von diesem Bericht sagen, daß mit ihm eine Bilanz gezogen wurde, die positiv und optimistisch war, die zeigte, daß die Verhandlungen, wenn sie wieder aufgenommen werden, in der Tat zu einem guten Ende geführt werden können.Doch wir können dem, was heute geschehen ist, nur gerecht werden, wenn wir auch einmal an das denken, was in der Vergangenheit geschah oder besser gesagt nicht geschah. Ministerpräsident Robert Schuman hat seinerzeit Großbritannien zu den Verhandlungen über seinen Plan ausdrücklich eingeladen. Die Absage der britischen Regierung wurde damals von der konservativen Opposition im Unterhaus heftig kritisiert. Auch die Beteiligung an den Beratungen über die europäische Verteidigungsgemeinschaft wurde Großbritannien angeboten, ohne daß sich die britische Regierung dazu entschließen konnte. Gewiß, sie hat nach dem Scheitern dieses mutigen Planes des französischen Ministerpräsidenten Pleven mit großer Energie die Initiative ergriffen und durch den Umbau der Brüsseler Verträge zu der sogenannten Westeuropäischen Union den Schock des Scheiterns der EVG zunächst abgefangen. Aber auch als Großbritannien damals zu den Beratungen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingeladen wurde, konnte es sich nicht entschließen, die Einladung anzunehmen. Ich glaube, es ist keine unberechtigte oder gar unbillige Kritik, wenn ich feststelle, daß der Versuch, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft durch die Schaffung einer Freihandelszone wieder aufzulösen, ein wenig glücklicher Beitrag zur Europapolitik war.
Meine Damen und Herren, ich erwähne diese Dinge nur, um darzutun, daß die Bundesregierung und die europäischen Partner der Verträge zu jedem Zeitpunkt das Ihre getan haben, um Großbritannien heranzuziehen. Es ist nicht ohne Interesse, hier einen Satz aus dem Buch des früheren britischen Staatssekretärs Anthony Nutting, der vielen in diesem Hohen Hause noch bekannt ist, anzuführen. Aus einem Gespräch, das er mit dem Bundeskanzler hatte, als es um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ging, zitiert er wörtlich, was ihm der Bundeskanzler damals gesagt hat:Sehen Sie nicht, wie schlecht das alles für das deutsche Volk ist? Nichts könnte für den deutschen Charakter schlechter sein, als täglich immer deutlicher zu sehen, wieviel Angst die Franzosen vor uns Deutschen haben. Ich möchte Ihnen vor allem diese Angst nehmen und Frankreich und Deutschland zusammenbringen. Das kann ich aber nicht ohne die Hilfe Großbritanniens. Je länger Sie diese Hilfe verweigern, desto geringer sind die Aussichten, daß wir eine Annäherung durch die EVG zustande bringen.Nun, meine Damen und Herren, wäre uns nicht vieles an unerfreulicher Entwicklung erspart geblieben, wenn Großbritannien auf diesen doch warmen Appell damals positiv reagiert hätte?Nutting stellt noch eine Erwägung an. Ich glaube, sie gilt für uns. Sie kommt aus dem Munde eines Mannes, der hohe Bedeutung hatte und besitzt. Er sagt:Niemand, der Sinn für Geschichte hat, könnte eine erneute Trennung Deutschlands und Frankreichs wünschen. Dieses Paar ist hier als Hauptpartner an dem Geschäft beteiligt, das sich „Gemeinsamer Markt" nennt. Und weder diese beiden noch ihre westlichen Verbündeten haben Interesse daran, daß ihr Verhältnis in naher oder ferner Zukunft wieder gelöst wird.Dieser Politik war und ist die Bundesregierung treu geblieben. Auch der Bundestag hat diese Auffassung immer wieder bestätigt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Ohne Großbritannien ist kein Europa denkbar".Wir sollten allerdings auch die sachlichen Schwierigkeiten, die dem Beitritt neuer Mitglieder zur I EWG zwangsläufig entgegenstehen, nicht unterschätzen oder gar verschweigen.
Ich glaube, es genügt nicht, nur auf den guten Willen und auf die eine oder andere optimistische Darstellung hinzuweisen. Es ist doch dahin gekommen — und das ist gut so —, daß die Gemeinschaft in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Entwicklung genommen hat. Sie ist zusammengewachsen, und es sind Fakten geschaffen worden. Jeder, der neu hinzutritt, muß sich zunächst mit diesen Fakten abfinden und auch diese Entscheidungen übernehmen. Das ist kein einfacher Vorgang. Deswegen können wir auch gar nicht erwarten, Herr Kollege Ollenhauer, daß England oder ein anderes Land sagt: Ich trete den Römischen Verträgen bei, so wie sie sind. — Das wäre zuviel und zuwenig, meine Damen und Herren. Es wäre zu wenig, denn die Römischen Verträge haben sich weiterentwikkelt. Es wäre aber auch zu viel verlangt, denn wir waren und wir sind bereit, so, wie wir das auch im Kreise der Sechs taten, dem einzelnen Mitglied gewisse Übergangsmöglichkeiten, gewisse Rechte einzuräumen, die damals als clauses de sauvegarde bezeichnet wurden. Es ist das unbedenklich gewesen, wie die Entwicklung gezeigt hat; denn alle diese Klauseln sind niemals in Anspruch genommen worden.Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang auch daran erinnern — ich komme nachher noch auf unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, auf den
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Dr. von BrentanoWunsch der Partnerschaft zurück, den ich voll und ganz unterstreiche, Herr Kollege Ollenhauer hat mit Recht die Botschaft des amerikanischen Präsidenten vom Juli 1962 in Philadelphia zitiert, in der er diese Partnerschaft anbot —, aber ich darf daran erinnern, daß noch bis vor zwei Jahren die amerikanische Regierung uns mit guten Gründen sagte: Den Zusammenschluß der Sechs akzeptieren wir; aber den Zusammenschluß der Sieben können wir wegen der objektiv diskriminierenden Wirkungen dieses größeren Gemeinsamen Markts nicht hinnehmen. Es ist also nicht so, daß diese Gedankengänge schon immer die amerikanische Politik bestimmt hätten. Das sage ich auch ohne Kritik; denn wir haben für diesen Vorbehalt der Vereinigten Staaten volles Verständinis.Nun, ich sprach davon, welche Entwicklung der Gemeinsame Markt in diesen Jahren genommen hat, und wir sollten hier auch hören und sehen, wie die Sowjetunion reagiert, einmal, wie sie reagiert hat auf die Entwicklung im Herbst vorigen Jahres, als in Moskau jene Wirtschaftskonferenz zusammentrat. Wenn man die Berichte und die Artikel liest, die dann darüber in der „Prawda" und in anderen Zeitungen erschienen sind, erkennt man die Unruhe, die dort entstanden ist. Denn hier, in dieser europäischen Politik, wurde ein neues Selbstbewußtsein, ein neuer Behauptungswille der europäischen Völker sichtbar, ein Wille, der nicht auf machtpolitische Auseinandersetzungen mit Waffen gerichtet ist, sondern der nichts anderes zum Ziel hatte, als die unendlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die der Zusammenschluß der hochindustriealisierten, technisch und geistig hochentwickelten europäischen Völker auch für die Erhaltung des Weltfriedens bedeutet.Es ist nicht uninteressant, die sowjetrussischen Kommentare zur Unterbrechung der Brüsseler Verhandlungen zu hören oder zu lesen, und ich unterstreiche das, was Sie, Herr Kollege Ollenhauer, uns sagten. Gerade diese Kommentare geben uns Anlaß, nachdenklich zu werden und einen neuen Weg zu suchen; denn wir empfinden, daß wir hier der Sowjetunion zumindest vorübergehend einen Vorteil in die Hand gespielt haben, der sich logischerweise zu unserem Nachteil auswirken muß. Es ist interessant, daß in einer Sendung für Nordamerika die Sowjetunion wissen läßt, Frankreich habe die Unterstützung Deutschlands erhalten, um England aus Europa herauszuhalten. In einer Sendung für Frankreich hört man, die Bundesrepublik habe die britische Karte gespielt und Großbritannien habe als Gegenleistung versprochen, den Atomwaffenhunger der deutschen Revanchisten zu stillen. Nun, ich könnte beliebig viele solcher Zitate bringen; aber das scheint mir langweilig zu sein. Viele von uns kennen solche Sendungen noch aus der Zeit des „Dritten Reiches".Meine Damen und Herren, ich habe betont, daß die deutsch-französische Zusammenarbeit den europäischen Zusammenschluß nicht behindern, sondern fördern soll. Darum soll uns auch niemand unterstellen, daß die deutsch-französische Vereinbarung ein Streben nach Hegemonie verberge. Die Bundesregierungsollte sich unbedenklich bereit erklären — wie Sie es auch angeregt haben, Herr Kollege —, Verträge ähnlicher Art mit anderen europäischen Partnern abzuschließen; denn ein Netz wohlabgewogener zweiseitiger Verträge kann auch die multilaterale Integration wirksam unterstützen.Über unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten sprach ich schon. Hier dürfen keine Mißverständnisse aufkommen, und wir müssen die Vereinigten Staaten davon überzeugen, daß die deutsch-französische Zusammenarbeit ebenso wie die Politik der europäischen Integration das ausgesprochene Ziel haben, die atlantische Gemeinschaft zu stärken.
Wir wissen es, meine Damen und Herren, und wir bedauern es, daß Frankreich nicht immer die gleiche Bereitschaft gezeigt hat wie wir selbst, sich an der militärischen Integration im Rahmen der NATO zu beteiligen. Aber darum gerade begrüßen wir es, daß die Bundesregierung nicht gezögert hat, den Vorschlag der amerikanischen Regierung anzunehmen, den der amerikanische Staatssekretär Ball in Bonn gemacht hat, sich an der Errichtung einer multilateralen Atomstreitmacht zu beteiligen. Wir wissen es alle, und es ist nicht nötig, uns daran zu erinnern, daß die NATO das stärkste Bündnissystem in der Welt ist und daß die Vereinigten Staaten nicht nur Partner in diesem Verband sind, sondern daß sie die stärkste Macht der freien Welt sind. Wir begrüßen es, daß die Vereinigten Staaten unter dem Präsidenten Eisenhower wie unter dem Präsidenten Kennedy so eindeutig und entschlossen die Sache der freien Welt zu ihrer eigenen gemacht haben. In der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und dem Ostblock muß sich diese Solidarität der Bündnispartner zu jeder Zeit und in jeder Lage neu bewähren.In der NATO sind freie, unabhängige Staaten von verschiedenartigem politischem Gewicht zusammengeschlossen. Darin besteht die Eigenart, darin besteht aber auch der Vorzug dieses Bündnisses, das keine Prärogativen der Macht legalisiert. Aber es ist eine sehr nüchterne Erkenntnis, daß die Stärke und die Kraft der Bündnispartner eben von verschiedenem Gewicht sind. Die Bundesrepublik erkennt den Führungsanspruch der Vereinigten Staaten in diesem Bündnis gleichberechtigter Partner nicht nur an; sie hat wiederholt die Vereinigten Staaten aufgefordert, diese Führungsrolle zu übernehmen, sogar schon zu einem Zeitpunkt, in dem die Opposition noch gegen die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik war.
Meine politischen Freunde gehen davon aus, daß das deutsch-französische Abkommen ebenso wie alles andere, was im europäischen Bereich geschieht, die Wirksamkeit und Kraft des atlantischen Bündnisses stärken muß und nicht schwächen darf. Wenn Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten, dann mit dem Ziel, die europäische Politik zu stärken, der europäischen Integration ungeachtet augenblicklicher Rückschläge neue Impulse zu geben und
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Dr. von Brentanoder atlantischen Gemeinschaft zusätzlich neue Stärke zu verleihen.
Der amerikanische Präsident hat in seiner Rede vom 4. Juli, die Sie auch zitiert haben, Herr Kollege, auch über diese Fragen gesprochen. Mir scheint, wir können alles, was er dort sagte, unterstreichen. Er hat die Europäer aufgefordert, sich in einem starken, geeinten Europa zusammenzuschließen, in dem die Vereinigten Staaten einen Partner, nicht einen Rivalen sehen. Er hat auf die interkontinentale Zusammenarbeit verwiesen und hat eine atlantische Partnerschaft gefordert, zu der wir bereit sind. Wir begrüßen es, daß der frühere amerikanische Außenminister Herter beauftragt wurde, die Voraussetzungen für diese atlantische Partnerschaft mit den europäischen Regierungen und mit der EWG zu erörtern.Meine politischen Freunde erwarten von der Bundesregierung, daß sie, wie es auch der Bundeskanzler angekündigt hat, alles tun wird, was in ihrer Macht steht, um die europäische Integration voranzuführen. Ich möchte auch hier wiederholen, daß wir uns der Krise, in die wir geraten sind, bewußt sind. Aber ich meine doch, wir sollten hier auch auf das hören, was die britische Regierung selbst sagt. Am 30. Januar hat Macmillan auf die Frage: Sind das düstere oder abschreckende Aussichten?, ganz klar erklärt: „Keineswegs. In Situationen dieser Art haben wir uns in der Vergangenheit stets am besten bewährt. So wird es auch diesmal wieder sein." Und der stellvertretende Außenminister Heath hat nach der Unterbrechung der Verhandlungen gesagt:Wir denken gar nicht daran, nunmehr Europa den Rücken zu kehren. Im Gegenteil, wir werden die Zusammenarbeit mit Europa erneut suchen, so lange bis sie unterschrieben ist.Deswegen sage ich auch: die Verhandlungen mit Großbritannien müssen wieder in Gang kommen.Vielleicht bietet in der Tat Art. 2 des Protokolls zu den Brüsseler Verträgen dazu auch eine Möglichkeit; denn die Westeuropäische Union hat sich ja auch zu dem Ziel bekannt — ich zitiere aus diesem Protokoll —, „die Einheit Europas zu fördern und seine fortschreitende Integration zu unterstützen". Wir werden dabei sicherlich auch die Mitarbeit unserer Freunde in der EWG finden, die die Unterbrechung der Brüsseler Verhandlungen ebenso bedauert haben wie wir selbst. Ebenso erwarten wir von der Bundesregierung — auch daran besteht nach den Erklärungen des Kanzlers kein Zweifel — die Fortsetzung ihrer aktiven Politik im Rahmen der NATO. Auch in dieser Organisation, vielleicht auch in der OECD, sollte die Frage der atlantischen Partnerschaft diskutiert werden. Wir dürfen auf keine Möglichkeit verzichten, uns der Instrumente zu bedienen, die wir schon besitzen. Zu diesen Instrumenten wird dann auch der französisch-deutsche Vertrag gehören, der der Bundesregierung — das hoffe ich bestimmt -- zusätzlich Möglichkeiten geben wird, ihre Vorstellungen über die europäische und atlantische Zusammenarbeit mit Frankreich abzustimmen.Jeder Fortschritt, den wir in diesen Bereichen in gemeinsamer Anstrengung erzielen, dient auch — das sollten wir uns immer vor Augen halten — der Verwirklichung dieses obersten Ziels der deutschen Politik, der Wiedervereinigung mit den Deutschen in der Zone in einem freiheitlichen, rechtsstaatlichen Deutschland.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mende.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freie Demokratische Partei begrüßt diese Aussprache des Deutschen Bundestages als eine Möglichkeit des öffentlichen Gesprächs mit der Bundesregierung und als eine Möglichkeit der Auseinandersetzung der drei Fraktionen dieses Hauses.Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion, Kollege Ollenhauer, hat die „langweilige" Regierungserklärung beklagt. Man hätte demnach mit einer fesselnden Programmrede des Oppositionsführers rechnen müssen, die dieser „langweiligen" Regierungspolitik ,die zündende Alternative der Opposition entgegenhält.
Aber wer in den anderthalb Stunden, die Kollege Ollenhauer sprach, darauf wartete, der wurde enttäuscht.
Die Rede des Oppositionssprechers war nämlich eine Addition von Ermahnungen, guten Ratschlägen, Befürchtungen und dem Bekenntnis zur Gemeinsamkeit bei der jetzt auf uns zukommenden Prüfung des Vertrags.Der Bundeskanzler hat gestern zum erstenmal in den 14 Jahren dieses Parlaments die Opposition inständig gebeten, Opposition zu sein und als belebendes Element zu wirken. In der Tat, ein einmaliger Vorgang, daß der Regierungschef die Opposition bitten muß, Opposition zu sein.
Man hat manchmal den Eindruck, daß die sozialdemokratische Opposition mehr und mehr auf 'dem Wege ist, eine Koalitionspartei im Wartestand zu werden
und sich mit allen Mitteln darum bemüht, möglichst noch in dieser Wahlperiode in die Bundesregierung einzutreten. Auch hier erscheint es mir als ein Widerspruch. Auf der einen Seite spricht man von einem verlorenen Jahr und beklagt diese schlechte Bundesregierung. Auf der anderen Seite hat man es eilig, in diese schlechte Bundesregierung als Teilhaber einzutreten.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2611
Dr. MendeVerlorenes Jahr, Herr Kollege Ollenhauer! Es ist eine harte Kritik an der starken Opposition von 200 Abgeordneten in diesem Hause, wenn es ein verlorenes Jahr dieser 4. Legislaturperiode geben sollte. Dieser Vorwurf trifft dann auch die Sozialdemokraten selber, die eben nicht dieser Regierung so im Nacken saßen, daß nicht ein Jahr verlorengehen konnte.
— Ach, nun empören Sie sich doch nicht! Sie waren doch vor zwei Monaten bereit, in eine vierte Bundesregierung Adenauer einzutreten und personelle Konzessionen zu machen, die Sie mir vor einem Jahr hart vorgeworfen haben!
Lassen Sie mich zu dieser Frage der Auseinandersetzung mit dem Wesen und Wirken der Opposition noch im innenpolitischen Teil sprechen! Ich möchte mich, wie es die Regierungserklärung tat, zunächst dem außenpolitischen Teil zuwenden.Die Kuba-Krise hat drei positive Elemente, wie jede überwundene Krise eine heilsame Wirkung hat. Die Geschlossenheit ,der westlichen Allianz und die Entschlossenheit des amerikanischen Präsidenten und des amerikanischen Volkes werden dem sowjetischen Ministerpräsidenten die Grenze der Selbstachtung der Vereinigten Staaten markiert haben und werden ihn — auch in .der Berlin-Frage —vor einer Fehleinschätzung .der Lage bewahren.Das zweite positive Element ist die ernüchternde Wirkung auf einen Teil unserer Bevölkerung. Mehr denn je erkannten wir in diesen Oktobertagen des vergangenen Jahres, daß sich niemand auf den privaten Bereich einer Selbstisolierung zurückziehen kann, sondern daß die res privata untrennbar mit der res publica verbunden ist und .daß daher das Schicksal ,des einzelnen und seiner Familie eng an das Schicksal des Volkes, ja sogar des Kontinents geknüpft ist und schließlich mit der Frage Krieg oder Frieden verbunden bleibt.Drittens hat insbesondere der 28. Oktober 1962 mit dem Einlenken des sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow möglicherweise ein historisches Datum der Erkenntnis der Weltmächte markiert, daß sich' auch schwerwiegende Konflikte heute nicht mehr durch atomare Kriege lösen lassen, sondern im atomaren Zeitalter der Krieg aufgehört hat, eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu sein.Die Regierungserklärung widmet einen ganzen Abschnitt der europäischen Entwicklung und der deutsch-französischen Freundschaft. Die Freie Demokratische Partei ist zu einer Zeit, als das noch nicht selbstverständlich war, in diesem Hause für die Europa-Politik der Regierung eingetreten, in der sie damals auch Koalitionspartner war: Beitritt zum Straßburger Europarat 1950, Beitritt zur Montanunion, die Bemühung um das Zustandekommen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gegen den damals erbitterten Widerstand weiter Teile
Wir begrüßen daher die Erklärung, daß die Bundesregierung alle Möglichkeiten der Heilung des Brüsseler Rückschlages ausnutzen werde, und wir sehen hier keine Differenz, wie sie Herr Ollenhauer sah. Denn schließlich hat das Kabinett diese Erklärung einstimmig verabschiedet, unter Vorsitz des Bundeskanzlers. In den offiziellen Äußerungen mögen die Temperamente wohl gewisse Nuancen erkennen lassen; aber die ganze Öffentlichkeit weiß
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2612 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Dr. Mendedoch, meine Damen und Herren, daß diese Regierung verpflichtet ist, im Sinne des Beitritts Großbritanniens und anderer zu wirken, weil sie sonst nicht mehr das Vertrauen dieses Hauses besäße. Die Bundesregierung ist durch die einmütige Erklärung dieses Hauses an diese Politik gebunden, die keine Änderung zuläßt.
Besonders in ausländischen Zeitungen ist die Frage aufgetaucht, ob die deutsche Politik nicht wählen müsse zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien einerseits und der deutsch-französischen Freundschaft andererseits. Eine solche Alternative wäre absurd, und wir sollten alles vermeiden, was uns in diese Wahlpflicht drängen könnte. Deutsch-französische Freundschaft, europäische Zusammenarbeit — auch mit Großbritannien und den skandinavischen Staaten —, atlantische Partnerschaft sind allesamt Kinder gleichen freiheitlichen Geistes und keine Gegensätze. Es wäre im übrigen leichtfertig, in unserer Lage das deutschamerikanische Verhältnis irgendwie in Frage zu stellen. Denn die Vereinigten Staaten sind die Alternative zu dem großen Block der kommunistischen Bedrohung. Mehr denn je ist die Freiheit in Europa von der Garantie der Vereinigten Staaten abhängig. Die Vereinigten Staaten haben ausschließlich den ersten und den zweiten Weltkrieg entschieden. Von ihnen allein hängt die Garantie unserer Freiheit und unseres Rechts ab. Aber auch die Vereinigten Staaten wissen, daß sie ohne Europa in eine tödliche Gefahr kämen. Denn geht Europa an den Kommunismus verloren, ist auch Afrika nicht mehr zu halten. Die Vereinigten Staaten und Europa befinden sich in einer wechselseitigen Schicksalsgemeinschaft, von dem strategischen Potential ganz zu schweigen. Während die Vereinigten Staaten über eine Atomschlagkraft von 50 000 Explosionskörpern verfügen, die sie durch Raketen, Flugzeuge der strategischen Bomberflotte und auf andere Weise ins Ziel bringen können, verfügt Großbritannien über 75 und Frankreich über 5 Sprengsätze. Allein dieses realistische Bild der Abschreckung zwingt uns, nichts in Frage zu stellen, nichts zu diskutieren, was sich bewährt hat: nämlich die atlantische Gemeinschaft.
Die Freie Demokratische Partei hat, seinerzeit ebenfalls als Regierungspartner, dem Beitritt zum Nordatlantischen Bündnis zugestimmt. Sie hat auch die Konsequenzen innerstaatlicher Art aus diesem Bündnis gezogen und lediglich in einer Frage sich der Stimme enthalten, bei dem Wehrpflichtgesetz, weil wir glaubten, daß der Zeitpunkt für eine Wehrpflicht noch nicht gekommen sei und gewisse Kadervorbereitungen erst einmal anlaufen sollten, und weil wir die umfassendere allgemeine Verteidigungspflicht aller Bürger für moderner hielten und noch halten als die eng begrenzte, aus der Vergangenheit übernommene Wehrpflicht, nach der heute nur jeder Zehnte zum Wehrdienst einberufen werden kann, aus dem Limit heraus, das wir uns selbst in den Brüsseler Verträgen gesetzt haben.Der Bundeskanzler erwähnte, daß es aus dem Nichts gelungen sei, trotz schwerer psychologischerBelastungen wieder 400 000 Soldaten kampffähig in verschiedenen Verbänden des Heeres, der Marine und der Luftwaffe zu organisieren. Es ist hie und da die Auffassung vertreten worden, wir müßten nunmehr, wenn wir die 500 000-Grenze erreicht hätten, uns als nächstes Ziel 750 000 Mann Effektivstärke stellen. Eine solche Forderung ist irreal, sowohl im personellen Bereich der militärischen Kräfte, wie im materiellen Bereich und schließlich auch im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich unseres Volkes. Im übrigen sollte man Qualität vor Quantität setzen. Die Bundeswehr braucht nach ihrem Aufbau eine Zeit der Konsolidierung, der Ausbildung der Offiziere und Unteroffiziere und auch der Mobilisierung der Reserven und der Organisierung der territorialen Verteidigung. Wir haben in der Vergangenheit unser Hauptaugenmerk primär auf den Aufbau der mobilen Verbände, die wir der NATO zur Verfügung stellten, gerichtet und dabei zu sehr die territoriale Verteidigung, auch die Organisation der Reservisten, vernachlässigt. Wir haben jetzt schon etwa 400 000 junge Männer, die bereits die 12- oder 18monatige Wehrpflichtzeit hinter sich haben. Es fehlt aber für diese Reservisten die Organisation in der Heimatverteidigung, insbesondere in einem tiefgestaffelten Abwehrsystem gegen mögliche, mit konventionellen Waffen geführte Angriffe.Die Frage der strategischen Konzeption im Rahmen der NATO wird ja den Verteidigungsausschuß und auch dieses Haus beschäftigen. Herr Kollege Ollenhauer hat recht, wenn er sagt, daß es zweckmäßig ist, diese Frage heute nicht auszuweiten, um dem neuen Verteidigungsminister Gelegenheit zu geben, sich in diesem Ressort erst einmal einzuarbeiten.Die Bundesregierung hat sich in ihrer Regierungserklärung auch zur Berlin- und Deutschlandfrage und zu den Äußerungen des sowjetischen Ministerpräsidenten auf dem 6. SED-Parteitag geäußert. Wer von dem 6. SED-Parteitag in Ostberlin eine Entstalinisierung — etwa eingeleitet durch den Rücktritt des Planungschefs Mewis — erhofft hatte, mußte enttäuscht werden. Auch das neue SED-Zentralkomitee setzt sich in der Hauptsache aus den alten bekannten Stalinisten zusammen.Trotz der Enttäuschungen, trotz auch der harten Worte, die der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow sowohl in Berlin wie in seiner jüngsten Note an uns richtete, sollten wir nicht das Bemühen um die Einheit Deutschlands aufgeben. Wir haben bereits am 1. Oktober 1958 in diesem Hause erkannt, daß auch die Wiedervereinigungspolitik sich den geänderten Zeitverhältnissen anpassen müsse, als wir seinerzeit feststellten, daß freie Wahlen nicht am Beginn der Wiedervereinigung stehen würden, sondern am Ende eines Wiedervereinigungsprozesses in Phasen, gewissermaßen als Krönung unserer Bemühungen durch Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes. Eine Wiedervereingiung uno acto durch die freien Wahlen im ersten Stadium, wie wir sie noch in den ersten Jahren dieses Bundestages vertraten, ist heute nicht mehr möglich. Die Wiedervereini-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2613
Dr. Mendegung Deutschlands wird ein langfristiger Prozeß des Zusammenwachsens der getrennten Teile Deutschlands sein, und am Beginn dieses Prozesses werden möglicherweise Klärungen im Rahmen der Abrüstung, Klärungen im Rahmen der Vereinbarung der Siegermächte stehen, Klärungen, die sich aus der debellatio, aus der kriegerischen Niederwerfung Deutschlands, und der capitulatio der deutschen Wehrmacht ergeben, Fragen, die der Präsident dieses Hauses in seiner Erklärung am 30. Juni 1961 mit der Billigung aller drei Fraktionen hier bekanntgab.Wir begrüßen die erneute Forderung der Regierung nach dem Selbstbestimmungsrecht, und wenn es noch so lange dauern mag. Wir sollten nicht die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht zurückstellen und uns sagen lassen, dies sei doch nur noch ein Schlagwort. Das Selbstbestimmungsrecht ist die Grundlage für das Zusammenleben der Völker dieser Erde; es ist ein wesentlicher Bestandteil der Vereinbarungen der Vereinten Nationen.
Wir fordern für Deutschland nicht mehr und nicht weniger als jenes Recht, das gegenwärtig jungen Völkern in Asien und Afrika zugestanden wird, nämlich ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in eigener Verantwortung frei zu regeln. Die Welt soll wissen — und darin stimmen alle drei Parteien dieses Hauses überein —, daß das deutsche Volk, daß insbesondere die heranwachsende Jugend sich niemals mit der Teilung Deutschlands und mit dem Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht abfinden werden.
Es genügt jedoch nicht, in der Frage der Wiedervereinigung immer nur die materiellen Verhältnisse der wechselseitigen Produktionen, die Lebensverhältnisse in der Sowjetzone darzulegen und sie zu beklagen. Die Frage der Wiedervereinigung wird im wesentlichen auch eine Angelegenheit der geistigen Auseinandersetzung unseres Volkes und der Mobilisierung geistiger, nicht materieller Kräfte sein.
Wir Freien Demokraten sehen es als eine neu gestellte Aufgabe für den politischen Liberalismus an, in dieser Auseinandersetzung geistige Antithese zu sein gegen alle Formen der Bevormundung, der Machtanmaßung, der Unterdrückung der Freiheit durch den Kollektivismus in allen seinen Erscheinungsformen bis zum Kommunismus Moskauer oder Pekinger Prägung. Eine Möglichkeit, nach vorn weisende Wiedervereinigungspolitik zu treiben, hat der Deutsche Bundestag in der Entschließung vom 12. Oktober 1962 bekanntgegeben. Diese Entschließung appelliert an die Vier Mächte, eine ständige Deutschlandkonferenz im Range stellvertretender Außenminister oder Botschafter mit dem Sitz in Berlin einzurichten. Unter dieser ständigen Deutschlandkonferenz der Vier könnten sich gesamtdeutsche technische Kommissionen für Wirtschaft, Verkehr, Handel, Sport und Kultur bilden. Es wäre ein Anfang, ein Ingangsetzen des Abbaues derMauer in Berlin und der Stacheldrahthindernisse an der Zonengrenze, natürlich in einem langfristigen, schwierigen Prozeß.Aber das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht allein tut es nicht. Nostra res agitur! Wir müssen uns auch bemühen, dem Willen des deutschen Volkes sichtbar vor aller Welt Ausdruck zu geben. Mir scheint, daß die bisherige Gestaltung des Tages der nationalen Einheit, des 17. Juni 1953, diesen Bemühungen des deutschen Volkes nicht mehr entspricht und daß dieses Haus prüfen sollte, ob es nicht durch eine Novelle zu diesem Gesetz, das das Haus damals beschloß, möglich ist, diesen Tag der Einheit umzugestalten zu einer Demonstration des deutschen Volkes im freien Teil. Wir sollten nicht mehr feiern, sondern an diesem Tage arbeiten, die Veranstaltungen auf den nächsten Sonntag verlegen,
und das deutsche Volk sollte freiwillig den Erlös dieses Arbeitstages in eine nationale Opferspende einzahlen zur Linderung der durch die Teilung Deutschlands noch täglich entstehenden menschlichen Not. Hier böte sich dem Kuratorium Unteilbares Deutschland eine neue und nach dem 13. August 1961 aktuellere Aufgabe, als sie der Tag der Einheit heute am 17. Juni zu bieten pflegt.
Meine Kollegen, wer Kritik übt, muß auch bereit sein, Selbstkritik zu üben. Dieses Haus hat seit der Wahl des Bundespräsidenten im Sommer 1959 darauf verzichtet, sich in Berlin zu versammeln. Es sind zwar die Fraktionen hintereinander in Berlin gewesen, die Regierung, der Bundesrat. Dieses Haus sollte auch wieder durch eine Sitzungswoche in Berlin vor aller Welt dokumentieren, daß wir uns mit Berlin und seiner Not solidarisch fühlen.
Lassen Sie mich nun zu der Frage der Innenpolitik übergehen, die ich auch nur in den Hauptmarkierungspunkten behandeln möchte, weil die Sprecher des Nachmittags Gelegenheit haben sollen, in die Einzelheiten einzutreten.Es ist hier von der Ermittlung der Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts des Landesverrats und Geheimnisverrats gesprochen worden. Man kann nicht darauf verzichten, auf diese Frage hier einzugehen, weil ja an dieser Frage sich dann eine Regierungskrise entwickelte, die zur Regierungsumbildung führte. Die Objektivität gebietet aber, Herr Kollege Ollenhauer, festzuhalten, daß die erste Reaktion — und Sie selbst waren Zeuge — am 29. Oktober 1962 vormittags im Bundeskanzleramt bei einer Sitzung des Bundeskabinetts unter Teilnahme der drei Fraktionsvorsitzenden aus der Regierungskoalition gekommen ist und es nicht des Anstoßes der Opposition bedurft hat, gewisse Verfahrensmängel aufzuklären und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen.
Gewiß, die Opposition hat sich dann insbesonderein der Fragestunde um die Aufklärung bemüht. Der
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2614 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Dr. MendeAbschlußbericht, den der Bundeskanzler angefordert hatte, liegt vor.Wir glauben, Herr Kollege Ollenhauer, daß die Bundesregierung durch diese Regierungskrise, die zur Regierungsumbildung führte, gestärkt wurde. Sie ist nicht nur heute frei von gewissen personellen Belastungen, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit hat durch die Vorlage des Berichtes erkannt, daß das Wesenselement einer parlamentarischen Demokratie die Kontrolle auch .der Organe dieses Staates durch die Öffentlichkeit ist. Wir wissen jetzt wohl, wo die Amtshilfe beginnen sollte und wo möglicherweise die Amtsanmaßung die Konsequenz war. Aber es ist doch ein positives Element, daß wir darüber in unserem Staate offen sprechen und nicht gewillt sind, so etwas mit dem Mantel einer Koalitionskumpanei zuzudecken.
Die Bundesregierung hat sich sehr deutlich in einer Mahnung an das Parlament um die baldige Verabschiedung der Strafrechtsreform bemüht. Wir begrüßen die Mahnung des Bundeskanzlers, nach zehnjähriger Vorbereitung nunmehr an die Behandlung der Strafrechtsreform heranzugehen, die vom Kollegen Stammberger eingebracht und vom Kollegen Bucher erneut dem Parlament zur baldigen Verabschiedung anempfohlen wurde. Wir glauben, daß es gut ist, hier entsprechende Gremien zu schaffen, keine Unterausschüsse, sondern vielleicht ein besonderes Gremium. Wenn wir der Auffassung folgten, die in einer Darstellung einer großen Zeitung geäußert wurde, der Bundestag habe nicht genügend Juristen, um die Strafrechtsreform noch in dieser Wahlperiode zu verabschieden, dann wäre das in der Tat eine peinliche Selbsteinschätzung dieses Parlaments.
Wir begrüßen auch, daß die Haushaltspolitik der umgebildeten Bundesregierung auf dem gleichen Wege fortgeführt werden soll, der das erste Jahr markiert hat: die Eindämmung der Ausgaben der öffentlichen Hand hier im Bund, aber ebenso in Ländern und Gemeinden, die Erhaltung der Kaufkraft unserer D-Mark und die Bildung von Eigentum. Ich bin froh, daß der Herr Bundeskanzler in seiner eigenen Familie vor kurzer Zeit die gleiche Erfahrung machen konnte wie manche andere Bausparer schon früher. Die gegenwärtige Entwicklung auf dem Baumarkt und Hand in Hand damit — durch die Lohn- und Preisbewegung — die Verminderung der Kaufkraft unserer D-Mark ist ein Betrug an den Millionen Bausparern, die die Hoffnung haben, auf dem Wege über die Bausparverträge eines Tages zu Eigentum zu kommen.
Es gilt zu verhindern, daß das Bausparwesen einen so schweren Rückschlag infolge einer bedauerlichen konjunkturellen Entwicklung erfährt.Der Appell an die Tarifpartner soll nur kurz unterstrichen werden. Es war eine noble Geste und eine Geste staatspolitischer Verantwortung, daß der neugewählte Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes Regierung, Parlament und Fraktionen dieses Hauses Antrittsbesuche machte, um damit zu dokumentieren, daß der Souverän unserer Demokratie das Parlament ist und ein loyales Vertrauensverhältnis zwischen dem Parlament und den auf Grund des Koalitionsrechtes entstandenen Interessenverbänden zustande kommen muß. Wir sind erfreut über aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund und aus der Deutschen Angestelltengewerkschaft in den letzten Wochen zu vernehmende Äußerungen, daß man bezüglich der Lohnkämpfe der nächsten Zeit auf die Wettbewerbslage der deutschen Industrie, insbesondere der Exportindustrie, Rücksicht nehmen wolle und daß man das Problem einer freiwilligen Schlichtung diskutieren wolle.Die Freie Demokratische Partei bejaht die Gewerkschaften. Sie muß sie auf Grund des Koalitionsrechtes bejahen, denn das Koalitionsrecht ist ein liberales Element. Sie bejaht die Tarifautonomie und denkt gar nicht daran — wie uns gelegentlich unterstellt wurde —, diese durch Zwangsmaßnahmen und Zwangsschlichtung einzuengen. Aber alle legalen Interessenkämpfe in unserer Demokratie müssen sich am Gemeinschaftsvorbehalt unseres Grundgesetzes orientieren: die Gemeinschaft des ganzen Volkes muß den Vorrang vor dem Wohl einzelner Interessenverbände haben.
Wir hören die Botschaft wohl, daß im Jahre 1963keine Steuererhöhungen beschlossen werden sollen, und uns fehlt nicht der Glaube. Wir glauben daran, daß bei diner sehr klugen Finanz- und Sozialpolitik neue Steuererhöhungen in diesem Jahr nicht nötig sind. Nicht mit einer Ausweitung des Steuervolumens, sondern mit einer Eindämmung der Ausgaben des Staates fängt man eine kluge Haushaltspolitik an.
Allerdings geben wir die Hoffnung nicht auf, daß es bei der Umsatzsteuerreform gelingt, Verzerrungen zu beseitigen und gewisse Ungerechtigkeiten, die die Mittelschichten schwer belasten, auszuräumen.Die Bundesregierung hat den Dank an Bundespost und Bundesbahn zum Ausdruck gebracht. Diesem Dank können wir uns nur anschließen, und diesem Dank tun die Verluste einzelner Postsendungen dieses Hauses auch keinen Abbruch. Aber ich glaube, wir sollten uns in der Würdigung der Leistungen in diesem harten Winter nicht nur Bundespost und Bundesbahn zuwenden. Die Bundeswehr hat ohne große propagandistische Trommel insbesondere im Rhein-Main-Gebiet zur Versorgung mit Heizöl beigetragen. Die Lastkraftwagen und Lastkraftwagenfahrer haben auf den deutschen Straßen nicht minder der allgemeinen Güterversorgung gedient. Insbesondere sollten wir unser Augenmerk rechtzeitig den Schwierigkeiten zuwenden, die die 'deutsche Binnenschiffahrt als Folge dieses harten Winters in den nächsten Monaten belasten werden.Zur Agrarpolitik nur einige wenige Bemerkungen. Es ist erschütternd, zu hören, daß die deutsche Land-
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Dr. Mendewirtschaft mit 141/2 Milliarden DM verschuldet ist. Die deutsche Landwirtschaft hat genauso wie jede andere Produktion Anspruch auf kostendeckende Preise. Das ist die erste Forderung, und erst in zweiter Linie sollte man dann die Frage der zinsverbilligten langfristigen Kredite prüfen. Die Erhaltung eines lebensfähigen, gesunden Bauerntums ist für uns nicht nur eine Frage der Erhaltung eines Teils unserer Ernährungsbasis, sondern wir wollen ein Bauerntum auch aus gesellschaftspolitischer Sicht erhalten, weil der freie Bauer auf freiem Grund einer der besten Garanten einer freiheitlich-demokratischen Ordnung und ein erbitterter Gegner kommunistischer Entwicklungen ist.
In ,der Sozialpolitik will ich auf das Sozialpaket nicht eingehen. Aber mir scheint, daß die Kriegsopfergesetzgebung dem Augenmerk dieses Hauses empfohlen werden müßte und daß wir uns die Verabschiedung des Zweiten Neuregelungsgesetzes baldigst vornehmen sollten genauso wie die Veränderung der Stichtage, die Frage des Lastenausgleichs für die älteren Menschen und die Aufwertung privater Rentenversicherungen. Personenschäden gehen für uns vor Vermögensschäden, und gerade die Kriegsopfer haben von uns mehr zu erwarten als nur eine soziale oder karitative Betreuung. Ich empfehle dem neuen Bundesverteidigungsminister, einmal die Verzerrungen zu prüfen, die sich zwischen der Versorgung der alten Soldaten, der Kriegsbeschädigten, Witwen und Waisen und der heutigen Versorgung der Bundeswehrsoldaten im Unglücksfall, im Todesfall im Vergleich mit der Unfallversicherung ergeben. Die Versorgung der Hinterbliebenen und Opfer des Krieges und in der Bundeswehr wird den Ansprüchen eines sozialen Rechtsstaates gegenwärtig in keiner Weise gerecht.Einige Bemerkungen zur wissenschaftlichen Forschung. Es sind hier einige Kompetenzsorgen aufgetreten bezüglich der Zuständigkeiten dieses neuen Ministeriums. Ich glaube, wir sollten uns nicht über die Frage der Kompetenzschwierigkeiten verbreitern, sondern dem neuen Minister Gelegenheit geben, Versäumtes auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung und auch der Koordinierung unseres Erziehungswesens nachzuholen, in enger Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz der Länder.Der französische Staatspräsident de Gaulle hat, wenn Pressemeldungen stimmen, die deutsche Verfassung kritisiert. In der Tat, ich kann mir manches vorstellen, was an unserem Grundgesetz reformbedürftig wäre. Aber waren es nicht gerade französische Einsprüche, die damals ein etwas stärkeres Gewicht auf die unitarische Seite verhindert und uns einen manchmal übersteigerten Föderalismus aufgezwungen haben?
Aber diese Veränderung meint der französische Staatspräsident gar nicht. Er beklagt, daß der Parlamentarische Rat kein Plebiszit eingeführt habe, sondern der parlamentarischen Demokratie den Vorzug vor plebiszitären, vor Volksentscheidungen undVolksentscheiden gegeben hat. Wir sollten uns glücklich schätzen, daß wir in der Zeit der Massenkommunikationsmittel keine plebiszitären Entscheidungen kennen. Mir ist die parlamentarische Demokratie mit ihren Balancen und Sicherungen wesentlich sympathischer als die Fernsehdemokratie mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen emotioneller Entscheidungen.
Die Freie Demokratische Partei hat als Koalitionspartner in loyaler Zusammenarbeit auch manchmal in manchem personellen und sachlichen Gegensatz fast eineinhalb Jahre in dieser Regierung mitgearbeitet. Wir haben die Absicht, Herr Kollege Ollenhauer und Herr Kollege Wehner, und auch die Hoffnung, daß diese Zusammenarbeit der Koalition auch über den Herbst 1963 hinaus in von Monat zu Monat sich verbessernder Atmosphäre vonstatten gehen wird.
Was wir Freien Demokraten dazu beitragen können, wollen wir tun. Eine Koalition ist eine Partnerschaft guten Willens auf Gegenseitigkeit und der wechselseitigen Bereitschaft zum Kompromiß. Koalition heißt nicht Gleichschaltung und Verzicht auf das belebende Element geistiger Auseinandersetzungen.
Die Fraktionen haben vereinbart, nach der Rede des Kollegen Dr. Mende eine Pause eintreten zu lassen und heute nachmittag um 14.30 Uhr fortzufahren. Als erster wird dann Herr Abgeordneter Schmücker das Wort erhalten.
Ich unterbreche die Sitzung.
Wir fahren in der Sitzung fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmücker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So will es ja wohl die Übung dieses Hauses, daß man seine Ausführugen mit ein paar Vorbemerkungen beginnt. Vielleicht dienen sie auch dazu, es denjenigen, die noch kommen wollen, zu ermöglichen, bei der Debatte, dann, wenn es um das Sachliche geht, dabei zu sein. Die erste Vorbemerkung ist dann meist eine Zensur des Vorredners. Ich versage es mir, in dieses Spiel einzusteigen; denn ich weiß ja nicht, ob mir mein Referat gelingt. Im Bundestag ist es ja nicht anders als in den Versammlungen: Das, was man sachlich zu sagen hat, wissen die Leute sowieso, und es kommt nur darauf an, wie man es sagt. Das gelingt einem nicht jedesmal in gleicher Weise.
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2616 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
SchmückerDie zweite Bemerkung, die ich machen wollte: Leider ist der Herr Bundeskanzler noch nicht da; ich kann es ihm ja nachher erzählen. Er war so humorvoll, seinen Ausführungen selbst ein Prädikat zu geben, und Herr Kollege Ollenhauer sagte dann, der Herr Bundeskanzler habe möglicherweise mit Absicht so geredet. Ich bin dieser Auffassung nicht. Herr Bundeskanzler — ich glaube, wir können es uns auch gegenseitig sagen —, ich habe den Eindruck, daß wir der inneren Politik nicht immer den Rang zukommen lassen, den sie verdient, daß wir doch hin und wieder unter einer gewissen Überbetonung der Außenpolitik leiden.Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl, daß in keinem Bereich der Politik die Aufgabenstellung, und zwar die umfassende Aufgabenstellung, so deutlich wird wie in der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen. Aber liegt nicht in der Anerkennung dieses Vorrangs, dieses Primats der Außenpolitik auch eine gewisse Gefahr, daß man eben zu leicht geneigt wird, die übrigen Probleme zu unterschätzen?Wir haben es heute morgen auch wieder erlebt, daß jeder sofort und selbstverständlich im Grundsatz bereit ist, beispielsweise die Unteilbarkeit von nationaler und persönlicher Freiheit, die Unteilbarkeit von sozialer, wirtschaftlicher und militärischer Sicherheit anzuerkennen; aber wenn es dann um die Realisierung geht, sieht das Bild leider recht oft anders aus.
Es ist fraglos ein großer Gewinn, daß wir in diesem Bundestag nicht mehr wie in den ersten zehn Jahren außen- und verteidigungspolitisch so unversöhnlich kontrovers diskutieren; aber ausreichend ist das nicht. Es genügt nicht, sich zur Wiedervereinigung, zu Berlin, zu einem verstärkten Verteidigungsbeitrag zu bekennen. Dieses Bekenntnis wird erst glaubwürdig, wenn man bereit ist, wirtschafts-, finanz-und sozialpolitisch, eben im gesamten politischen Bereich, die Konsequenzen zu ziehen.
Wer dazu nicht bereit ist, meine Damen und Herren, dessen Worte sind hohl.Nun bin ich keineswegs der Meinung, daß die Abzweigung wirtschaftlichen Potentials für unsere nationalen Aufgaben, für die Verteidigung oder für die Entwicklungshilfe oder auch für die Überwindung der Übergangsschwierigkeiten in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine selbstlose Opferleistung der deutschen Wirtschaft darstellen würde. Das ist nichts anderes als die Sache einer vernünftigen Gegenseitigkeit. Ohne eine gute Politik im Inneren wie im Äußeren kann auch idle Wirtschaft nicht gedeihen, und ohne eine starke Wirtschaftskraft kann die Politik ihre besten Ideen nicht verwirklichen. Und sprechen wir es offen 'aus: Um die Verwirklichung dieser ganz einfachen Wahrheit — sicher ist das ein Gemeinplatz; aber man kann nicht ganz darauf verzichten, hin und wieder darauf hinzuweisen — ist es in 'der Bundesrepublik noch nicht zubest bestellt. Wir alle, das ganze deutscheVolk, seine Parlamente und Regierungen von den Kommunen über die Länder bis zu uns, haben das rechte Maß für diese Politik noch nicht gefunden.In seiner Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler gesagt, daß er angesichts des in der nächsten Woche zu erstattenden Wirtschaftsberichts keine längeren Ausführungen zur wirtschaftspolitischen Lage machen wolle. Meine Freunde von der CDU/CSU-Fraktion sind damit einverstanden, daß wir die Fragen der engeren Wirtschaftspolitik bei Vorlage des Berichts behandeln. Das gilt auch für die Agrarpolitik, die eine Spezialdebatte im Zusammenhang mit dem Grünen Bericht erfordert.Aber das in der Regierungserklärung angeschnittene und von mir aufzugreifende Thema geht über den Rahmen einiger Ressorts hinaus. Ich möchte sogar behaupten, daß bei aller Anerkennung ihrer Wichtigkeit .die Fragen der Wirtschaftspolitik in engerem Sinn wie das Kartellrecht oder die Frage des Warentests oder sogar die Konzentrationsenquete nicht zur ersten Dringlichkeitsstufe gehören.Nun verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Die genannten Dinge sind sehr wichtig, und es gibt gar keinen Grund, sie zu verzögern. Aber die lebensnotwendige Stärkung unserer Wirtschaft, ohne die wir unsere politischen Aufgaben nicht werden erfüllen können, ohne die auch die Wirtschaftskraft selber nicht wachsen kann, geht in Aufgaben hinein, die — ich sagte es schon — weit über die engen Bereiche einzelner Ressorts hinausreichen. Es geht hier im wesentlichen um folgende vier Punkte — auch ich möchte keine Rangordnung, wenn ich sie in folgender Reihenfolge aufzähle —: 1. die Gestaltung der öffentlichen Haushalte, 2. die Fortentwicklung unseres Steuer- und Finanzrechts, 3. unsere Sozialpolitik und 4. nicht zum geringsten die Tarifpolitik. Alle diese Fragen können nicht nur nach innerdeutschen Gesichtspunkten behandelt werden, sie müssen auch nach der Entwicklung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und nach den Bedürfnissen, die sich aus der übrigen Außenwirtschaft ergeben, behandelt werden.Aber ich möchte noch einmal betonen: Es kommt mir hier nicht darauf an, eine Spezialdebatte zu entfesseln, sondern den Zusammenhang herzustellen mit der Tatsache, daß hohe Ausgaben befriedigt werden müssen, und der Tatsache, daß die Mittel dafür erarbeitet werden müssen. Ich glaube, wenn wir die Bereitschaft zu diesen Ausgaben nicht mit konkreten Vorschlägen stützen, sind wir auch in unseren Grundsatzerklärungen nicht ausreichend glaubwürdig.Zunächst also zur Gestaltung der öffentlichen Haushalte! Herr Kollege Ollenhauer hat uns davor gewarnt, dieses Problem immer wieder in den Vordergrund zu stellen. Aber, meine Herren von der SPD, die Summe der öffentlichen Haushalte hat 100 Milliarden überschritten. Daran erkennen wir, welche Bedeutung die öffentlichen Haushalte haben. Wenn ich einmal aus der anderen Kiste ein Wort herausnehmen darf, möchte ich sagen: Die öffentliche Hand sind die marktbeherrschenden Unternehmen schlechthin. Wenn Sie die Beziehung des Ein-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2617
Schmückerzelnen zu dieser Summe bei 25 Millionen Beschäftigten nehmen, stellen Sie fest, daß auf den Kopf dieser Beschäftigten eine Leistung von 4000 DM entfällt. Wenn Sie die Lohnsumme des Haushalts der öffentlichen Hand einschließlich Post und Bahn nehmen, dann macht sie über ein Fünftel der Gesamtlohnsumme aus.Daß diese gewaltige Macht am Markt das Marktgeschehen sehr stark beeinflußt, kann doch niemand bestreiten. Daß wir, die wir einen Teil kontrollieren, genauso wie die Parlamente von Ländern und Gemeinden dazu verpflichtet sind, gerade die Haushalte auf das öffentliche Wohl auszurichten, daran kann doch wohl kein Zweifel bestehen. Nun haben wir es aber mit einer ganz merkwürdigen Erscheinung zu tun. Wenn eine einzelne Person zum eigenen Vorteil etwas Geschäftliches tut, dann kommen noch gewisse Bedenken, dann sind noch sehr viele Skrupel vorhanden, sich über Gebote und Gesetze hinwegzusetzen. Aber in dem Augenblick, wo der einzelne für eine größere Gemeinschaft handelt, sind diese Skrupel viel geringer. Es kommt darauf an, daß wir mit gutem Beispiel vorangehen — das will ich gar nicht bestreiten; ich will es sogar unterstreichen — und verlangen, daß die öffentliche Hand sich auf allen ihren Ebenen den Möglichkeiten des Marktes anpaßt, daß man mit größerem wirtschaftlichem Verständnis an die Dinge herangeht.Nun werden Sie dazu sagen: Was hat 'das mit deinem Thema zu tun? Nun, ich meine, sehr viel; denn die Kostenverteuerungen — ein anderes Wort für die nicht ausgenutzte Wirtschaftskraft — rührenja zum großen Teil daher, daß in geradezu unsinniger Weise teilweise die Kapazitäten am Markt überfordert werden. Was nützt es zum Beispiel, wenn die Bundesregierung Bundesmittel zögerlich herausgibt, um einen langsameren Ablauf zu erreichen und die bedachten Stellen dieses Unternehmen durch Zwischenfinanzierungen wieder auffangen!
Oder was nützt es, wenn wir festlegen, daß Verwaltungsbauten nicht oder nur in beschränktem Ausmaß errichtet werden sollen, und sehr schlaue Ausleger dieses Gesetzes dann feststellen, daß beispielsweise ein Katasteramt ein Kartenhaus und kein Verwaltungshaus ist! Man baut darauf los und verfälscht so die Begriffe.Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal, daß wir mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Alle die Kritik, die von Ihrer Seite gekommen ist, daß der vorgelegte Bundeshaushalt geradezu ein klassisches Beispiel dafür sei, wie man nicht vorgehen dürfe, trifft nicht den Kern. Ich möchte einmal wissen, wie Sie reagiert hätten, wenn wir in diesem Bundeshaushalt bereits Beträge für Gesetze eingestellt hätten, die noch gar nicht beschlossen sind.
Es ist 'doch eine alte Sache, daß so etwas nicht geht. Andererseits war die tage, als das Stabilisierungsprogramm verkündet wurde, völlig anders als heute. Inzwischen ist doch etwas geschehen.Meine Damen und Herren, wie sähe es wohl aus, wenn wir im Herbst die Nominallösung gemacht hätten und alles heute noch zusätzlich verkraften müßten! Wir sollten aber nach den Verhältnissen des heutigen Tages diskutieren und nicht in vergangenen Dingen, die heute nur noch historische Bedeutung haben, herumkramen.Wenn wir eine antizyklische Haushaltspolitik auf allen Ebenen unter dem guten Beispiel des Bundes verlangen, dann wissen wir sehr wohl, daß die Bundesregierung keine ausreichenden Vollmachten hat, um eine solche Politik durchzusetzen. Einesteils bin ich sogar froh, daß sie diese Vollmachten nicht hat; denn wenn es zu schwierig wird, weicht man ja allzu leicht und allzu gern in dirigistische Maßnahmen aus. Es ist besser, daß wir versuchen, uns gegenseitig zu überzeugen, und daß wir als politische Parteien, die nicht nur in Bonn, sondern auch in den Ländern und Gemeinden vertreten sind, jeweils eine einheitliche Linie vertreten. Als wir in Niedersachsen einen sehr interessanten Streit mit den Rathausparteien hatten, haben wir von unserer Seite immer wieder darauf hingewiesen, daß es doch gerade der Sinn der politischen Parteien im kommunalen Bereich sei, die politischen Vorstellungen von der obersten Ebene bis zur kommunalen einheitlich zu verwirklichen, damit sich keiner aus der Gesamtverpflichtung herauslösen könnte. So, meine ich, sind wir bei dieser Frage als politische Parteien insgesamt angesprochen, ob es uns gegen den verständlichen Egoismus des Bundes, der Länder und der Gemeinden gelingt, diesen Zusammenhalt in der Haushaltspolitik herzustellen.
Ich wäre sehr begierig, von der Sozialdemokratie zu hören, wie sie dazu steht. Herr Kollege Deist, Sie sind ja im Januar äußerst aktiv und produktiv gewesen,
und ich habe, wo ich es zu Gesicht bekam, alles gelesen, um festzustellen, in welchem Grade der Annäherung wir uns befinden und welche neuen Liebeserklärungen Sie sogar einigen großwirtschaftlichen Verbänden gewidmet haben. Ich glaube Ihnen durchaus, daß wir hier weitgehend einer Meinung sind; aber ich habe auch einige andere Zitate aus Ihren Reihen vorliegen, aus denen hervorgeht, daß man gar nicht der Auffassung ist, daß wir hier zu einer einheitlichen Gestaltung des öffentlichen Haushalts kommen sollten. Auf unsere Bitten hin, hier etwas zu tun, wird uns dann entgegengehalten — Herr Möller, das waren Sie —, der Bund solle lieber zwei Milliarden an die Länder und Gemeinden geben, als zwei Milliarden von ihnen zu verlangen.
Und Herr von Knoeringen sagte im Herbst vor den Kommunalpolitikern der SPD — so habe ich es schriftlich vorliegen; wenn es nicht stimmte, wäre ich froh. Ich habe nicht vor, Zitate vorzulesen und hinter Zitaten etwas zu verstecken. Es kommt mir darauf an, von Ihnen zu hören, ob Sie mit uns der Auffassung sind, daß wir die Gestaltung der öffent-
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2618 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Schmückerlichen Haushalte im Sinne einer antizyklischen Politik gemeinsam durchführen müssen, und ob Sie bereit sind, die Konsequenzen aus dieser Notwendigkeit zu ziehen. Die Konsequenzen aus dieser Notwendigkeit sind fraglos die, daß wir uns verstärkt Sorgen und Gedanken-um die Umgestaltung unseres Steuer- und Finanzrechts machen müssen. Ich weiß — und ich schließe mich der Kritik voll und ganz an —, daß die Kommission schon längst hätte tätig werden können. Aber was soll andererseits eine solche Kommission machen, wenn sie politisch im luftleeren Raum schwebt und gar nicht weiß, welche Beschlüsse eventuell von den Parteien überhaupt honoriert werden! Es muß doch von den Parteien auch gesagt werden, wozu sie bereit sind.Wir haben auf dem Dortmunder Parteitag der CDU ausdrücklich festgestellt, daß für uns die Finanzverfassungsreform eines der wichtigsten Anliegen ist. Solange wir aber nicht die allgemeine Zustimmung dazu haben, also die notwendige Mehrheit dazu nicht haben, schwebt doch eine Kommission im luftleeren Raum. Sie können also diese Arbeit, die trotzdem hätte angelaufen sein können, jetzt ganz wesentlich dadurch erleichtern, daß Sie sich zu diesem Prinzip bekennen.Ich möchte zur Begründung der Notwendigkeit dieser Reform noch ein paar weitere Hinweise geben, und ich darf zwischendurch bemerken, daß ich hier keine Spezialdebatte entfesseln und mich auch gar nicht zu Einzelfragen dieses Themas äußern will. Ich möchte vielmehr den Zusammenhang herstellen zwischen der allgemeinen inneren Politikund den notwendigen Mehrausgaben. Ich möchte also dazu sprechen, wie es uns gelingen kann, die Wirtschaftskraft so zu fördern und zu stärken, daß wir in der Lage sein werden, diese Mehrausgaben zu leisten. Jede wettbewerbliche Ungleichheit, jede strukturelle Verschiebung, ja — ich möchte sagen — jede strukturelle ungesunde Entwicklung bedeutet immer gleichzeitig eine Kostenverteuerung und eine Verringerung des wirtschaftlichen Gesamtertrags.Sehen Sie sich beispielsweise die Verhältnisse in den Kommunen an, dann stellen Sie fest, daß an der Spitze die beiden Autostädte Rüsselsheim und Wolfsburg stehen. Rüsselsheim hegt bei 1153 pro Kopf der Bevölkerung, Wolfsburg bei 805, und die Landgemeinden — die Landkreise eingerechnet krebsen so bei 50 bis 80 herum. Dabei weiß jeder von uns, daß die wesentliche Steuerquelle, die Gewerbesteuer, an sich nur in den Gemeinden anfällt, aber nicht von den Bürgern der Gemeinden gezahlt wird. Das wird von der breiten Konsumentenschicht im Bund gemacht. Dadurch entstehen doch Strukturverschlechterungen — ich sage noch einmal —, die Kostenverteuerungen großen Ausmaßes bedeuten. Wir müssen diese Dinge bereinigen.Unsere Großstädte, in denen man nicht teurer oder billiger lebt als auf dem Lande, werden ja praktisch von der Gesamtheit eben über diese Gewerbesteuer finanziert. Ich habe nichts dagegen. Aber wenn Sie sich das Ausmaß ansehen und beispielsweise feststellen, daß eine Stadt wie Dortmund ein Steueraufkommen hat, das nur halb so groß ist wie das von Stuttgart, und sich dann dieStädte ansehen, fragen Sie sich: Mit welchem Recht eigentlich? Wenn Sie sich die Liste der 20 steuerstärksten Kommunen in Deutschland ansehen, so stellen Sie fest, daß darunter erstaunlicherweise abgesehen von einer Stadt, die aber atypisch ist, keine Stadt aus dem Ruhrgebiet ist.Meine Damen und Herren, Nordrhein-Westfalen hat das stärkste Steueraufkommen auf dem Kommunalsektor, ich glaube, im Schnitt 155 DM pro Kopf der Bevölkerung. Unter den Spitzenstädten ist Nordrhein-Westfalen jedoch kaum zu finden. Sehen wir uns einmal speziell das Ruhrgebiet an. Ich verstehe es — die Bundesregierung hat es ja auch angeschnittten —, daß es im Interesse des Ruhrgebietes notwendig ist, die Frage der Energieplanung zu lösen. Aber was wird hier deutlich? Das Ruhrgebiet steht mit fast allen seinen Städten am unteren Ende, unter dem Durchschnitt des kommunalen Steueraufkommens. Hier findet also eine Strukturwandlung statt, die aus dem Bereich selbst getragen wird, während in anderen Bereichen überhaupt keine nennenswerte Eigenleistung erbracht wird. So ist es vielleicht zu verstehen, daß das RheinMain-Becken in den letzten zehn Jahren eine Verzwölffachung der Wirtschaftskraft erfahren hat, während das Ruhrgebiet im Vergleich damit stagniert.Meine Damen und Herren, ich würde viel lieber als Provinzler die Beispiele der Strukturwandlung aus den Landgemeinden als Folgen der agrarwirtschaftlichen Verhältnisse bringen. Aber dann würde man vielleicht sagen: Du vertrittst hier eine Interessentenmeinung, eine Wahlkreisauffassung. Ich möchte lieber auf dieses Beispiel des Ruhrgebiets hinweisen, um darzutun, wie bitter notwendig es ist, eine Änderung im Interesse der Stärkung der Wirtschaftskraft herbeizuführen. Damit wir alle in die Lage versetzt werden, die Mehrausgaben, die wir leisten müssen, auch ohne Minderung unseres Lebensstandards zu leisten, kommen wir um erhebliche Reformen nicht herum.Ich darf in diesem Zusammenhang ein Wort aus der Regierungserklärung aufgreifen, Herr Bundeskanzler, das Sie zur Raumordnung gesagt haben. Ich bin sehr für diese Raumordnung. Aber ich warne davor, daß man eine Raumordnung mit administrativen Maßnahmen beginnt, wenn man nicht die Grundlagen der Finanzwirtschaft geordnet hat.
Das nützt uns doch nichts, daß wir — ich darf hier auf das Beispiel des Hannoverschen Gesetzes hinweisen — einen Großraum schaffen, der eine Überkommune darstellt, und in der Finanzwirtschaft noch keine gesunden Verhältnisse haben.
Die beste Raumordnung, die beste Strukturpolitik ist eine Änderung der Finanzverfassung im Sinne einer möglichst gleichmäßigen Beteiligung am Steueraufkommen.
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Schmücker— Herr Dr. Deist, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nachher hierherkämen und die Bereitschaft Ihrer Partei zur Durchführung all dieser Maßnahmen erklärten. Dann hätten wir es nicht mehr nötig — wir haben sowieso nicht so gute Leute in der Dokumentation wie Sie —, das Material all der anderen zu sammeln, die sich immer leidenschaftlich dagegen äußern.
Meine Damen und Herren, ich möchte, auch ohne in eine Sachdebatte einzusteigen, das zweite Steuerproblem, das Problem der Umsatzsteuer, ansprechen. Hier sind die Dinge ja durch die Brüsseler Direktive Gott sei Dank — ich sage das auch mit einem gewissen Vorwurf — jetzt in Gang gekommen. Aber was hat sich bei den Beratungen zumindest in unserer Fraktion herausgestellt? Daß die Harmonisierung dieser Steuersätze allein gar nicht genügt, daß man das Verhältnis der direkten zu den indirekten Steuern im EWG-Raum betrachten muß. Dabei stellen wir fest, daß wir in Deutschland — und allein auf Deutschland bezogen halte ich diese Zahl für sehr gesund — einen Anteil der direkten Steuern von etwa 56,5% haben. Ich habe die Zahlen dem Finanzbericht 1963 Seite 64 entnommen. Frankreich liegt bei 43%, Italien bei 36%.Was geht daraus hervor? Daß alle Pläne, die auf der Annahme beruhen, man könne noch ein bißchen auf unsere Ertragsteuern aufstocken, uns wirtschaftlich in die größten Schwierigkeiten bringen. Denn wenn wir beim grenzüberschreitenden Verkehr für die indirekten Steuern eine Abgleichung vornehmen, dann bleibt doch immer noch diese Differenz der direkten Belastungen. Diese Differenz ist so erheblich, daß es unserer deutschen Wirtschaft schwerfallen wird, sich zu behaupten.Aber im wesentlichen mache ich diesen Hinweis, damit die Länder einmal die Konsequenzen bedenken möchten. Wenn nämlich unsere Wirtschaft nicht floriert, dann werden auch sie nicht das Steueraufkommen haben, da sie ja im Steueraufkommen im wesentlichen vom Ertrag abhängen.Wenn man die internationalen Vergleiche zieht, dann sieht das Spiel beim Kampf um die Quote Bund : Länder etwas anders aus. Vielleicht stehen wir sogar vor der Notwendigkeit, die Aufteilung der Steuerquellen auch im Hinblick auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft völlig neu zu überdenken. Damit möchte ich ein paar Bemerkungen zur Einkommen-, Körperschaft- und Lohnsteuer machen. Ich sagte schon, daß es eine fast naive Überlegung ist, nun einfach aufzustocken, sowohl auf den Plafond wie insgesamt mit einer Ergänzungsabgabe aufzustocken. Das sage ich ausdrücklich.
Eine Aufstockung ist nur möglich, wenn wir eine weitere Bereinigung der noch im Tarif enthaltenen Ungerechtigkeiten durchführen. Aber es wäre auch naiv, den Plafond zu erhöhen. Siehe England und die Vereinigten Staaten. Dort hat man das ja auch versucht und hat davon später Abstand genommen.Nun möchte ich hier ganz kurz ein Thema anreißen, Herr Dr. Deist, das bei Ihnen — seit derHerbstrede — immer wieder auftaucht. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Sie der Meinung, daß es durch die Art der deutschen Steuergesetzgebung, vor allen Dingen durch die degressive Abschreibung, zu einer Überinvestition gekommen ist, die letzten Endes nicht rationalisierend wirkt, sondern kostenverteuernd. Ich gebe Ihnen recht, daß das für viele Bereiche der Fall ist, z. B. für den Bereich, aus dem ich selber komme. Man kann in diesem Bereich gar nicht rationalisieren, ohne gleichzeitig zu expandieren. Wir sollten Ihnen dankbar dafür sein, daß Sie diesen Hinweis gegeben haben. Ich möchte doch davor warnen — Sie haben sicher selbst gar nicht die Absicht gehabt, aber so ist es aufgenommen worden —, daß man diese Behauptung generalisiert.
— Ich sage es aus einem anderen Grund, nicht aus einem polemischen Grund. Die Behauptung trifft nur einen bestimmten Bereich der deutschen Wirtschaft. Durch diesen Hinweis wird aber etwas anderes deutlich: daß bei der Begünstigung oder vielleicht nur bei der gerechten Behandlung — das können Sie auslegen, wie Sie wollen — der Investitionen im Gegensatz dazu der Barmittelbedarf der deutschen Wirtschaft zu kurz kommt. Der Barmittelbedarf, der liquide Bedarf ist eigentlich nur ein anderes Wort für die Lagerhaltung. Wir spüren das gerade in diesen Wochen, in diesem Winter, daß sowohl nach dem Prinzip der Marktwirtschaft als auch nach unserer Steuergesetzgebung die Lagerhaltung zu kurz kommt. Das führt weiterhin zu einer Verschärfung des Konjunkturablaufs, und die mangelhafte Lagerhaltung — damit bin ich wieder bei dem roten Faden — muß kostenverteuernd wirken.Wir müssen uns also überlegen, wie wir diese Benachteiligung der deutschen Wirtschaft gegenüber der Wirtschaft im Ausland beseitigen können. Wir müssen uns das auch deswegen überlegen, weil wir darauf angewiesen sind, einen noch höheren Effekt aus der deutschen Wirtschaft herauszuholen, um unsere gewachsenen Aufgaben bestreiten zu können. Gleichzeitig wird aber, glaube ich, mit diesem Problem der Kern des sogenannten Mittelstandsproblems angesprochen. Denn das eigentliche Problem im Mittelstand ist doch, wie man den sehr gestiegenen Kapitalbedarf befriedigen kann.Wenn wir also über solche Fragen künftig diskutieren, dann bitten wir darum, daß wir uns im Interesse der Steigerung der deutschen Wirtschaftskraft — und zwar für alle Aufgaben, für die sozialen, die kulturellen wie für die militärpolitischen — überlegen, wie wir die Steuergesetzgebung im Hinblick auf diese Notwendigkeiten verbessern können.Meine Damen und Herren, ich nannte drittens ,als maßgebend für die wirtschaftliche Entwicklung unsere Sozialgesetzgebung. Befürchten Sie nun nicht, daß ich hier in eine Spezialdebatte einsteige. Außerdem beherrsche ich die Terminologie gar nicht ausreichend, um das zu können. Aber so viel darf man ja wohl feststellen, daß die Art der Sozialgesetzgebung heute völlig anders ist als früher; es ist keine Fürsorgegesetzgebung mehr, sondern schon
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Schmückermehr eine Versorgungsgesetzgebung. Hoffentlich habe ich den richtigen Ausdruck gebraucht; aber ich denke, Sie wissen, was ich meine. Wir wollen nicht darüber jammern. All dieses Gerede über den Wohlfahrtsstaat: Gott, es gehört ja wohl dazu. Aber es gehört auch ein Sicherheitsbedürfnis dazu. Wir müssen verstärkt darauf Bedacht nehmen, daß man die Sozialgesetzgebung leistungsbejahend gestaltet, daß heißt die Eigenverantwortung stärkt, und das heißt, Kasten sparen für die Gesamtheit.
Wir haben ja die Gesetze vorliegen, und ich erkläre ausdrücklich im Auftrage meiner Fraktion, daß wir nach wie vor an der geschlossenen Verabschiedung dieser Gesetze festhalten.
Meine Damen und Herren, wir sagen es gar nicht als Klage, sondern wir sagen es mit Stolz, daß wir in den Sozialleistungen in Deutschland an der Spitze innerhalb der EWG marschieren. Wir sagen das mit Stolz, und wir möchten diese Leistungen aufrechterhalten. Wir weisen aber darauf hin, daß wir diese Leistungen nur aufrechterhalten können, sie nur geben können, wenn sie vorher genommen worden sind.
Dieser Zusammenhang muß immer wieder herausgestellt werden, schon um das rechte Maß zu finden.Ich habe vorhin gesagt, wir stehen an der Spitze.Wenn man nun die einzelnen Gruppen untersucht, stellen wir — und hier sage ich, leider — fest, daß wir in der Familienpolitik nachhinken. Daraus ergibt sich doch eigentlich nur, wenn wir das Bestehende erhalten wollen, 'daß wir dann, wenn wir Weiteres tun, zunächst einmal familienpolitisch vorgehen müssen.
Wir 'wollen mehr leisten. Dann aber sollten wir den Sektor zuerst nehmen, der am schlechtesten dran ist. Dazu gehört aber nicht nur das Fordern, sondern auch das Verzichten; denn erst dann ist es wahrhaftig.
Ich möchte als letzten Punkt kurz die Tarifpolitik ansprechen. Jeder betont, er sei für die Autonomie der Tarifpartner. Man stelle sich doch bloß einmal vor, wir hätten im Bundestag diese Zuständigkeit auch noch. Nun, vielleicht wird es dann wieder etwas interessanter; aber seien wir doch heilfroh, daß wir keine unmittelbare Einwirkung haben. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, die Tarifpartner darauf hinzuweisen, in welcher Situation wir uns befinden. Wirtschaftsbericht hin und her; ich halte sehr viel davon. Aber auch ohne daß. der Bericht da ist, wissen 'wir, daß wir maßhalten müssen. Wir hören mit einiger Sorge die Forderungen, die 'aufgestellt worden sind. Daß man in der Frage der Lohnhöhe beweglich bleiben muß, ist selbstverständlich. Wenn die Tarifpartner es nicht sind, dann sorgt der Markt schon dafür, daß die Sache im Spiel bleibt. Aber für eines haben wir — das darf ich für meine ganze Fraktion sagen — gar keinVerständnis, daß wir angesichts der heutigen Situation auf dem Arbeitsmarkt noch Forderungen vorgesetzt bekommen, die Arbeitszeit über das durchschnittliche Maß hinaus zu verkürzen. Meine Damen und Herren, diese Forderungen sind ja nicht echt; denn die Verkürzung findet ja gar nicht statt.
Entweder leisten diejenigen, die die verkürzte Zeit bekommen haben, Überstunden — na, das 'geht noch —, oder sie leisten Schwarzarbeit. Auf jeden Fall halten wir eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit, abgesehen von den Bereichen, die noch nicht im Mittel liegen, für nicht vertretbar. Wenn hier soviel von sozialer Gesinnung geredet wird, bitte ich, auch einmal 'an diejenigen zudenken, die heute noch 60 und mehr Stunden arbeiten müssen. Dann sollten wir uns zunächst einmal um diese kümmern. Wenn man nicht weiß, wer das ist, empfehle ich, einmal aufs Land und in die Bauernhöfe zu gehen und nachzusehen, was die Hausfrauen arbeiten müssen, und auch einmal anzusehen, wieviel Selbständige, die nicht über eine Versorgung verfügen, heute noch zu schuften haben.Meine Damen und Herren, 'darüber hinaus meinen wir, sollten wir gerade zur Auflockerung des Arbeitsmarktes — und ich setze hinzu: zur Stärkung unserer Wirtschaftskraft, damit wir unsere gewachsenen Aufgaben erfüllen können — uns Gedanken darüber machen, wie man immer mehr — seien Sie nicht erschrocken — Selbständige in die Arbeit bis in den öffentlichen Bereich einordnen kann; denn der große Unterschied zwischen einem Beschäftigten mit festgesetzter Arbeit und einem Selbständigen ist doch der, daß der Selbständige sich dem Arbeitsanfall anpassen muß und das auch gerne tut, während der andere aus der Organisation der Behörde oder des Betriebes heraus das gar nicht kann.Meine Damen und Herren, ich habe versucht, in hoffentlich nicht zu langen Ausführungen über den engeren Rahmen der Wirtschaftspolitik hinaus die Probleme anzusprechen, die wir meinen jetzt lösen zu müssen, damit wir unsere Wirtschaft intakt halten und sie stärken und damit wir im politischen Raum unsere sozialen, unsere kulturellen, unsere verteidigungspolitischen, kurzum unsere politischen Aufgaben erfüllen können.Wir sollten diese Überlegungen auch im Hinblick auf den wachsenden — ich sage das bewußt: den wachsenden — Raum der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anstellen; denn, meine Damen und Herren, so ist es ja nicht, daß man einfach sagen kann: Noch ein paar dazu! Wir müssen uns ja auch im Wettbewerb gegenüber der Wirtschaft 'in diesen Ländern behaupten.
Ich las mit großer Freude, 'daß man beispielsweise in Österreich — man hatte dort unsere Finanzverfassung — eine Finanzverfassungsreform bereits durchgeführt hat im Hinblick auf den späteren Anschluß an die EWG, 'während wir — wie war das heute morgen noch? — auf Grund unseres Grundgesetzes noch nicht zu einer 'derartigen Finanzver-
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Schmückerfassungsreform gekommen sind. Die Franzosen sollen schuld daran sein? Nun, mögen sie schuld daran sein, daß wir diese Einteilung haben. Wir haben es doch selbst als Deutsche in der Hand, diese Dinge nun im Rahmen der Buchstaben und des Geistes des Grundgesetzes so auslegen, so zu gestalten, daß das Gesamte einen Vorteil hat.Herr Bundeskanzler, es hat geheißen, Ihre Regierungserklärung sei langweilig gewesen. Möglich, daß derjenige, der nur die Worte hörte, das als langweilig empfunden hat. Aber ich glaube, es sind eine Fülle interessanter und lebenswichtiger Probleme, wenn auch nur stichwortartig, angesprochen worden. Es kommt nun für jeden von uns darauf an, die direkte Verbindung von der Alltagsarbeit bis zur hohen Politik zu sehen und von diesen Zusammenhängen durchdrungen zu sein. Wir verkennen und verschweigen gar nicht die Schwierigkeiten, welche die Regierung im ersten Jahr gehabt hat. Aber ich nehme das Wort des Kollegen Mende auf und sage: Wer diese Schwierigkeiten überwunden hat, überwindet auch den Tadel, den er bis dahin vielleicht verdiente.Ich darf in abschließender Zusammenfassung noch einmal feststellen: jede soziale Maßnahme, überhaupt jede fortschrittliche Leistung, gleich welcher Art, jede Verteidigungsanstrengung ist nur möglich, wenn wir die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür schaffen. Wer sich zur Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit bekennt, muß immer dazu sagen, welches Geld — und das heißt letzten Endes, welche Arbeit — notwendig ist und was er vom deutschen Volke verlangen muß, um diese Leistungen zu erbringen. Wer es unterläßt, dies zu tun, der kann seine Ideale so leidenschaftlich vortragen, wie es ihm die Schule erlaubt, letzten Endes redet er hohl und unwahrhaftig, oder — um ein Schlagwort der letzten Tage zu gebrauchen — er stellt sich selber ins Zwielicht.Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ CSU ist bereit, alle, auch die im einzelnen unpopulären Maßnahmen zu unterstützen, um das Gesamtziel unserer Politik zu realisieren. Sie fordert die Bundesregierung auf, die Arbeit in diesem Sinne vérstärkt und auch beschleunigt fortzusetzen. Wir bitten die Opposition, die sich erfreulicherweise in vielen Punkten der Außen- und Verteidigungspolitik nach Jahren harten Widerstandes unseren Auffassungen genähert hat, nun auch die innerpolitischen Konsequenzen zu ziehen, also nicht nur die großen Ziele anzuerkennen, sondern auch den Weg dahin im Alltag mitzugehen oder aber ihrerseits andere Vorschläge zu machen. Niemand darf unserem Volk verschweigen, daß wir große Anstrengungen zu machen haben, wenn wir gleichzeitig unseren Lebens standard aufrechterhalten und unsere Verteidigung kräftigen wollen. Wir können das letztlich nur durch Arbeit und durch die Bereitschaft zu persönlicher Verantwortung. Wir sind überzeugt, daß diese Bereitschaft in unserem Volk besteht. Sorgen wir in Politik und Verwaltung in Bund, Ländern und Gemeinden dafür, daß — ausgerichtet auf das Ganze die Grundlagen richtig gelegt werden.
Das Wort hat der' Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorhin hat Herr Kollege Dr. Mende uns hier in diesem Hause seinen Albtraum vorgetragen, den Albtraum, daß unter Umständen einmal die Sozialdemokratische Partei in der Regierung sitzen könnte. Er hat mit etwas — beinahe — Bedauern verzeichnet, daß die Sozialdemokraten inzwischen die Partei der Regierungsanwärter geworden seien, was wohl einschließt, daß dann andere — ich lasse es völlig offen, wer — gewissermaßen die Parteien der Oppositionsanwärter wären.
Ich bin ehrlich genug, zuzugestehen, daß die Bereitschaft, vom Anwärter zum aktiven Tun überzugehen, natürlich verschieden entwickelt ist. Die Bereitschaft der Sozialdemokratischen Partei, Regierungsverantwortung zu übernehmen, ist sicherlich stärker entwickelt als die Bereitschaft der Freien Demokraten, in die Opposition zu gehen; das kann ich vollkommen verstehen.
Eines möchte ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Eine Regierung mit der Sozialdemokratischen. Partei ist eben einfach nicht mehr dieselbe Regierung. Eine Regierung mit einer Partei, die 40 % der Sitze in diesem Hause hat, schaut nicht nur personell ein bißchen anders aus, sondern da kommt dann natürlich auch das politische und allgemeine Gewicht dieser Partei in einer solchen Regierungskombination zur Geltung; wie sollte das denn auch anders sein? Vielleicht gestehe ich hier ganz offen, daß ich das Gefühl habe, daß dies der entscheidende Grund dafür gewesen ist, daß wir diesmal noch nicht auf die Regierungsbänke gekommen sind.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Für uns jedenfalls bleibt das durchaus auf der Tagesordnung, und das ist ein heilsamer Faktor der Unruhe für alle anderen Beteiligten.
Jedenfalls ist das Ansehen der Sozialdemokratischen Partei auch im Zuge dieser Erörterungen des vergangenen Jahres in unserem Volk außerordentlich gestärkt worden. In der Welt draußen war das schon längst passiert. Es geht hier nicht immer ganz so schnell, daß man das auch bei uns einsieht.
Ich möchte das zurückführen auf unsere Haltung — worauf denn sonst? —, aber natürlich auch auf Ihre Fehler. Nun muß ich sagen, über Ihre Fehler könnte ich mich im Interesse meiner Partei freuen; im Interesse des Ganzen sind sie natürlich zu bedauern. Eine makel- und fehlerlose Regierung wäre für das Volk besser, auch wenn es die Opposition schwerer hätte.
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ErlerBei dieser Lage hilft es nun wirklich nichts, wenn Herr Kollege Dr. Mende hier das schöne Bild entrollte: Wenn etwas erreicht worden ist, dann liegt es an der FDP; wenn nichts erreicht worden ist, hat die Opposition die Schuld.
Das war so ungefähr das einleitende Kapitel seiner Rede.Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es wirklich mit einem verlorenen Jahr — inzwischen ist noch mehr Zeit verflossen — zu tun hatten. Die Ankündigungen munterer Taten sind kein Ersatz für das, was in dieser Zeit alles nicht geschehen ist. Ich habe soeben mit großer Aufmerksamkeit und einer guten Portion Wohlwollen gehört, was uns alles über Raumordnung und Finanzverfassung vom Kollegen Schmücker vorgetragen worden ist, so ungefähr, als würde er die Oppositionsrede gegen eine Regierung halten, die seit nunmehr 14 Jahren regiert.
Ganz so ist das aber nicht. Er hat auf richtige, notwendige Dinge hingewiesen, die nun angepackt werden müssen. Ich entsinne mich noch, wie wir hier haben kämpfen müssen um einen Antrag, den der Kollege Dr. Möller eingebracht hatte, den Antrag, um z. B. an dieses Kernstück: Neuordnung der finanziellen Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden heranzugehen, eine Sachverständigenkommission einzusetzen. Da war es der damalige Finanzminister, der gesagt hat: „Oh nein, das braucht ihr gar nicht, die habe ich schon längst berufen." Nun, wir haben inzwischen gemerkt: die Kommission hat noch nicht ein einziges Mal getagt. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, wenn wir damals den Möllerschen Antrag angenommen hätten.Ein ähnliches Kapitel wäre etwa über die derzeitigen doch recht torsohaften Beratungen des Haushaltsauschusses über den Bundeshaushalt zu schreiben. Jeder weiß: was der Haushaltsausschuß dort berät, das stimmt schon gar nicht mehr, weil inzwischen eine ganze Reihe von neuen Forderungen auf uns zugekommen sind — wie es so schön im Neudeutschen heißt —, die also dort nun noch mit verkraftet werden müssen, und weil — das gestehe ich hier auch ganz offen — wir bisher weder in der Regierungserklärung noch in irgendwelchen finanziellen Erwägungen der Bundesregierung etwas davon vernommen haben, wie sie denn die Zusage des Herrn Bundeskanzlers nun auch finanziell zu honorieren gedenkt, die er erst vor wenigen Tagen den Vertretern der deutschen Landwirtschaft gegeben hat. Das ist doch auch ein Betrag von 800 bis 900 Millionen DM, den man nicht einfach aus dem Ärmel schütteln kann; er muß doch irgendwo also noch im Bundeshaushalt da sein. Wir wären gern neugierig zu wissen, wo dieser Haushalt nach der Meinung des Bundeskanzlers so viel Luft aufweist, und vielleicht kann man sich dann über dieses Problem relativ rasch verständigen.
— Ach, das ist mir interessant, daß der Herr Bundeskanzler jetzt also meint, er habe diese Zusage nicht gegeben. Das wird die Bauernverbände freuen. In den Zeitungen stand das.
Nun gut; ich meine, was nun zwischen dem Bauernverband und dem Bundeskanzler und der CDU passiert, das überlasse ich ganz Ihnen, meine Herren; das ist nicht unsere Sorge.
Wir haben zu ein paar anderen großen Fragen, die unser Volk gemeinsam angehen müssen, in dieser Regierungserklärung verhältnismäßig wenig gehört. Da ist z. B. ein Problem, auf das der Herr Bundespräsident neulich die Aufmerksamkeit gelenkt hat und von dem ich durchaus zugebe, daß es sich der reinen Gesetzgebungsarbeit entzieht: das Problem von fünf Millionen alten Menschen, die in Einsamkeit leben. Das ist aber auch nicht ein Problem, das man nur mit der karitativen Liebestätigkeit der Nachbarn angehen kann; hier müssen wir zu einem Zusammenwirken aller gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen und politischen Kräfte dieses Landes kommen, von der Spitze — der Bundespräsident hat ein Signal gegeben — bis hin zu den Gemeinden.Ähnliches gilt für den dringend notwendigen Ausbau unseres Erziehungswesens. Auch da will ich jetzt nicht in eine Fachdebatte eintreten. Es wäre gut, wenn, über die reine Forschung hinaus, bei aller Respektierung der im Grundgesetz gezogenen Kompetenzabgrenzungen auch hier ein Wort über die Zusammenarbeit gefallen wäre. Wenn man das in Staatsverträgen mit fremden Ländern angeht, dann kann man auch im Bundestag ein verbindliches Wort zu diesem allgemeinen nationalen Problem sagen, meine Damen und Herren.
Hier ist vorhin einiges, mit Recht, glaube ich, vom Kollegen Schmücker vorgetragen worden über die Belastung vieler Menschen unseres Landes durch eine für sie noch allzu harte und allzu lange Arbeitslast. Das wird niemand bestreiten. Wir leben — übrigens betrifft das nicht nur die Landwirtschaft und die Selbständigen, sondern auch viele andere — in einem Lande, in dem wir ein erstaunlich hohes Ausmaß an Frühinvalidität haben. Darüber ist 'bei der ersten Beratung des Sozialpakets gesprochen worden. Die wichtigste Aufgabe wäre, dafür zu sorgen, daß nicht so viele Millionen Menschen vorzeitig verschlissen sind und gar nicht erst das Alter der Altersrente erreichen, sondern wegen vorzeitiger Berufs- und Arbeitsunfähigkeit Invalidenrente zugebilligt bekommen müssen. Das ist einmal Leid für die Betroffenen, das ist Leid für deren Familien; und außerdem — hier bin ich nun bei dem Punkt —: das kostet eine Stange Geld. Diese Menschen schlagen volkswirtschaftlich ganz anders zu Buche, wenn sie vorzeitig Rente bekommen müssen, statt bei Bewahrung ihrer Arbeitskraft noch Beiträge und Steuern zahlen und einen Beitrag zum Sozialprodukt leisten zu können. Mit
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Erleranderen Worten: Investitionen in vorausschauender Gesundheitspolitik sind keine Fehlinvestitionen, sondern dienen der Erhaltung unseres kostbarsten Gutes, nämlich unserer Arbeitskraft.
Wenn wir diesen Zusammenhang richtig sehen — und deswegen habe ich es eigentlich nur gesagt, Kollege Schmücker — und wenn wir dieses Problem einmal energisch anpacken, wenn wir uns z. B. sagen, daß man dabei vielleicht in unserer überbeschäftigten Wirtschaft Arbeitskräfte länger erhalten und damit auch die Arbeitsmarktlage entspannen kann — allein ein Jahr Arbeitszeit mehr macht schon den ganzen Bestand an ausländischen Arbeitskräften in der Bundesrepublik Deutschland aus —, dann würde auch manches andere Licht auf die Diskussion über die Arbeitszeit fallen,
die man nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Überstundenvergütung sehen darf. Wenn es uns gelingt, das in die Gesundheitspolitik einzubauen, wo es eigentlich hingehört, dann kann eine vernünftige Urlaubs- und Arbeitszeitgestaltung auf Sicht ein volkswirtschaftlicher Gewinn durch Gesunderhaltung unserer Arbeitskraft sein.
Zu den Problemen Städtebau, Raumordnung und was damit zusammenhängt, kann ich Ihnen nur sagen: Wenn die Bundesregierung sich entschließen sollte, an diesen ganzen Komplex, der nicht nur ein Komplex der Gewerbesteuer, sondern doch wohl auch ein Komplex der Strukturpolitik ist, die unsere Wirtschaft im ganzen betrifft, energisch heranzugehen, so wird es an der sozialdemokratischen Unterstützung daran bestimmt nicht fehlen. Bei allen diesen vier genannten Gebieten handelt es sich um große Gemeinschaftsaufgaben eines ganzen Volkes, das seine Existenzbedingungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts allmählich der modernen Industriegesellschaft anpassen muß. Das werden wir nur in einer gemeinsamen Arbeit von Bund, Ländern und Gemeinden schaffen. Das ist mehr als ein finanzielles Problem, aber auch ein finanzielles Problem.Sie sehen, wie das alles zusammengehört. Das geht von einer Energiepolitik, über deren Fehlen sich heute gerade auch die Sachkundigen in den betroffenen Bereichen beschweren, bis zu einer Wirtschaftspolitik aus einem Guß, die nicht darin bestehen kann, daß man die Dinge treiben läßt und von Zeit zu Zeit Ermahnungen an die Bevölkerung richtet, sondern die in wirtschaftspolitischer Führung bestehen muß.Jetzt gibt es einen Ansatz. Wir werden hier demnächst — und dieser Debatte möchte ich keineswegs vorgreifen — den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung vorgelegt bekommen. Ich finde, es ist ein guter Ansatz, nachdem früher einmal der Herr Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, mit ihm könne man solche Scherze nicht machen. Man sieht, daß im wechselseitigen Gespräch offenbar auf allenSeiten Einsicht geweckt werden kann, auf den verschiedensten Gebieten.
Das Sozialpaket, das wir hier behandelt haben, enthält noch sehr viel schädlichen Ballast. Die Vorsorge für Notfälle — um die hier in diesem Hause in den Ausschüssen anstehende Beratung der vielfältigen Gesetze auf diesem Gebiet noch einmal in ein etwas anderes Licht zu bringen — war auf weiten Gebieten auch ohne Grundgesetzergänzung und ohne neue Gesetze möglich.
Ich weiß, daß es viele Dinge gibt — darüber haben wir uns hier unterhalten —, zu denen diese Gesetzgebung gehört. Aber der Bau von Ersatzbetten für Krankenhäuser, die Bevorratung mit bestimmten Dingen, die Gewinnung von noch mehr Freiwilligen für die Tätigkeit in den Bereichen des zivilen Bevölkerungsschutzes und anderes mehr wären durchaus möglich gewesen, schon bevor der Bundestag hier nunmehr erst weitergehende Gesetze beschließt. Auch da handelt es sich um eine Unterlassungssünde. Darüber haben wir seit 1955 jedes Jahr bei der Haushaltsberatung gesprochen und die entsprechenden Anträge vorgelegt. Was in unserem Volke fehlt, ist offenbar, daß man eine entschlossene, von Interessengruppen freie Führung an der Spitze weiß.
Meine Damen und Herren, dieser Mangel an Führung oder das Auseinanderklaffen der Meinungen der Führenden hat sich besonders in der Außenpolitik bemerkbar gemacht. Ich will das, was Kollege Dr. Mende hier behandelt hat, nicht noch einmal in aller Breite darstellen, daß es in der deutschen Frage sicher auch und gerade darauf ankommt, daß wir immer wieder erneut mit unseren Verbündeten das Gespräch führen, damit sie wirklich wissen, daß diejenigen, die hier in erster Linie berufen sind, nicht nur zu reagieren, sondern den Westen zu einer eigenen politischen Konzeption zu bringen, die Deutschen sein müssen; denn das ist in erster Linie unsere Frage und weniger eine Frage anderer, soviel Verantwortung sie weltpolitisch oder auch juristisch für die deutsche Frage tragen mögen.Das Thema, um das es heute vor allem ging, ist doch wohl die Zukunft der europäischen Gemeinschaft und ihre Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Auf diesen beiden Gebieten ist das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland nicht klar und eindeutig zur Geltung gebracht worden. Es hat lange gedauert, bis sich auch die Bundesregierung in Brüssel, nachdem sich dort schon Minister anderer Regierungen sehr lange aufgehalten haben, nicht nur durch Verhandlungspartner im Beamtenrange, sondern auch durch die Minister selber vertreten ließ.Wir haben nun einen in diesem Hause von allen bedauerten Fehlschlag in Brüssel erlebt. Niemand von uns wird die deutschen Möglichkeiten zur seinerzeitigen Abwehr dieses Fehlschlages oder auch jetzt zur Überwindung der Folgen überschätzen
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Erlerwollen; das wäre völlig verfehlt. Wir wissen, daß es auch für die Bundesrepublik Deutschland sehr schwierig würde, wenn man ihr zumuten wollte, etwas fertigzubekommen — etwa bei der französischen Regierung —, was der großen Macht der Vereinigten Staaten von Amerika und dem seit Jahrzehnten mit Frankreich befreundeten und verbündeten Großbritannien nicht gelungen ist. Von so viel Größenwahn ist in diesem Hause niemand erfüllt, daß er diese Aufgabe etwa allein auf seine Schultern nehmen wollte. Wir müssen sogar dafür sorgen, daß auch in unserem Lande kein falscher Eindruck entsteht, weil man uns sonst mit falschen Verantwortungen belasten würde, die uns nicht zukommen.Aber wir dürfen auch draußen in der Welt nicht den Eindruck entstehen lassen, daß hinsichtlich des Fehlschlages von Brüssel die deutsche Politik etwa mit denen solidarisch sei, die ihn herbeigeführt haben. Es ist ein Unterschied, ob die Kräfte nicht ausreichen, den Fehlschlag abwenden zu helfen, oder ob man durch eigenes Verhalten einen falschen Eindruck aus der Welt schaffen kann. Gerade jetzt kommt es auf das richtige Verhalten der deutschen Politik entscheidend an. Aus dieser Sicht einer Solidarität mit einer Politik, die nicht die unsere ist, muß der deutsch-französische Vertrag heraus. Dazu ist sorgsame politische Arbeit nötig. Ich warne vor der Vorstellung, daß wir, weil andere Porzellan zerschlagen haben, nun auch noch Porzellan zerschlagen sollten;
das macht das zerschlagene Porzellan auch nicht wieder heil.
Deshalb darf der Leidtragende vor allem nicht die europäische Gemeinschaft sein. Denn ich weiß, daß jene Kräfte in Frankreich, die jetzt den Fehlschlag herbeigeführt haben, seinerzeit im französischen Parlament nicht zu den glühenden Anhängern der europäischen Gemeinschaft gehört haben.
Es kommt also darauf an, daß wir die Gemeinschaft erhalten, stärken, ausbauen und schließlich so erweitern, wie sie dieser Bundestag in der überwältigenden Mehrheit seiner Mitglieder selber erweitert zu sehen wünschte. Das ist eine Arbeit der Überzeugung. Zwingen kann man nach dein Mechanismus der Verträge nämlich niemanden. Möglicherweise dauert diese Arbeit länger, als uns allen lieb ist.Ich bin überzeugt, daß die politische Fernhaltung Großbritanniens vom europäischen Kontinent und die damit unvermeidliche Störung der Solidarität zwischen Europa und den Vereinigten Staaten auch nicht im wahren Interesse Frankreichs liegt und daß wir hier durchaus zusammen' mit unseren Freunden geduldige Überzeugungsarbeit leisten können und müssen. Aber heute stehen wir noch etwas im Zwielicht. Ich will gar nicht untersuchen, worauf das zurückzuführen ist; das ist einfach eine Tatsache. Was können wir nun, damit diese Überzeugungsarbeit eines Tages einmal Erfolg hat, inzwischen tun?Inzwischen kommt es darauf an — und hier schließe ich mich sehr eng an einige Gedanken an, die Herr Dr. von Brentano vorhin vorgetragen hat —, die Abmachungen sorgsam auf ihre Auswirkungen zu prüfen, aber nicht nur dies, sondern nach dem Ergebnis dieser Prüfungen auch etwas zu tun, um Mißdeutungen und eventuell schädliche Auswirkungen zu verhindern. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die nun auszuarbeiten und im diplomatischen Geschäft auf ihre Tragfähigkeit hin abzutasten Sache der Bundesregierung ist. Das kann nicht das Parlament machen; wir können hier nur anregen. Dazu könnten z. B. in Form von Protokollen oder Briefwechseln bestimmte Zusätze gehören, die klarstellen, daß deutsch-französische Konsultation nicht dazu benutzt wird, Gemeinschaftsentscheidungen in den bestehenden Gemeinschaften zu präjudizieren und damit einen deutsch-französischen Sonderbund gegen andere zu schaffen oder ihnen gar deutsch-französischen Sonderwillen aufzwingen zu wollen.
Dann bleibt immer noch ein erstaunlich hohes Maß an Konsultation übrig.Ich weiß, daß z. B. hier der Gedanke, ähnliche Verträge mit anderen abzuschließen — der von mir unterstützt wird, von Ihnen auch — begreiflicherweise etwas Hemmungen bei denen auslöst, die da sagen: Aber, um Himmels willen, ein solches Netzwerk bilateraler Konsultation ist doch noch kein Ersatz für wirkliche Gemeinschaftsarbeit!
— Gut, es ist eine politische Demonstration: Keine Einseitigkeit! Es muß, führte man es durch, in den Fragen, die die Gemeinschaft angehen, zwangsläufig dazu führen — schon aus Zeitgründen —, daß man einander nicht mehr bilateral, sondern am Gemeinschaftstisch konsultiert und die Dinge, die die Gemeinschaft angehen, eben nicht in zweiseitigen Abmachungen regelt und vorab festlegt, sondern dort behandelt, wohin sie gehören, am Tisch der Gemeinschaft, unter gleichberechtigten Freunden.
Da geht es mir nicht nur um das Verhältnis zu Großbritannien, so wichtig das auch ist. Großbritannien ist ein großer Staat; wenn die Briten in die europäische Gemeinschaft hineinkommen, werden sie sich in bestimmten Dingen schon ihrer Haut wehren. Mir geht es um die Befürchtungen auch und gerade der kleineren Partner in der europäischen Gemeinschaft, die nach dem jetzigen Stimmengewicht jedes Einflusses beraubt wären, wenn das deutsch-französische Gewicht immer geschlossen in die Waagschale gelegt werden müßte.
Darauf sollten wir achten, damit auch bei jenen Ländern, ob es sich nun um Luxemburg, um Belgien oder die Niederlande handelt und schließlich auch um Italien, das ja eine ähnliche Bedeutung hinsichtlich des Stimmgewichts hat wie wir, gar nicht erst das Gefühl aufkommt, der Gemeinschaftscharakter würdedurch Sonderabmachungen gefährdet.
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ErlerDazu gehört auch, daß wir näher definieren, was mit den deutsch-französischen Besprechungen auf militärischem Gebiet gemeint ist. Es gab bisher schon eine ganze Masse; die waren völlig unschädlich, im Gegenteil, sogar nützlich, und so gibt es bestimmte Probleme der Rüstungswirtschaft, der waffentechnischen Zusammenarbeit, der Erziehung, des Truppenaustauschs. Das steht in völliger Übereinstimmung mit der allgemeinen Zielsetzung der NATO. Warum soll man das nicht weiterentwickeln? Die Sache wäre gefährlich, wenn der Versuch unternommen würde, durch diese Konsultation die Bundesrepublik Deutschland auf eine strategische Konzeption festzulegen, die in erklärtem Gegensatz zu der strategischen Konzeption nicht nur der Führungsmacht, sondern der Mehrheit der Atlantikpaktstaaten stände. Das wäre gefährlich und würde die Allianz schwächen. Deshalb wäre es gut, wenn wir auch zu diesem Punkt ein paar Klarstellungen von beiden Regierungen, nicht nur von der deutschen, bekommen könnten. Schließlich wäre es wichtig, wenn man einen neuen Anlauf nehmen könnte, um die Besprechungen mit Großbritannien, die ja nach offizieller französischer Erklärung nicht abgebrochen, sondern nur unterbrochen sind, auf geeignete Weise und in geeignetem Rahmen wieder anzufangen. Vielleicht gibt der Tisch der Westeuropäischen Union eine Möglichkeit, wo die Sechs und Großbritannien zusammenkommen, nicht als einander gegenüberstehende Fremde, bei denen der eine bei den anderen erst eintreten soll, sondern bereits als gleichberechtigte Teilnehmer ein und derselben Gemeinschaft, — übrigens einer viel engeren, als man vielerorts zu wissen scheint.Die Westeuropäische Union unterscheidet sich z. B. dadurch vom Atlantikpakt, daß sie eine automatische Beistandsklausel mit allen militärischen Hilfsmitteln einschließt. Durch die Westeuropäische Union ist Großbritannien stärker mit dem Kontinent verbunden als die Vereinigten Staaten von Amerika, wenn auch die Vereinigten Staaten von Amerika physisch durch ihre Anwesenheit stärker mit dem europäischen Kontinent verbunden sind. Der NATO-Vertrag enthält an sich nur ein Beistandsversprechen, hat jedoch eine weitgehende Integration der Streitkräfte zur Folge gehabt, die faktisch eine gewisse automatische Antwort der Beteiligten auslöst. Es bleibt in der Hoheit des unter Umständen zum Beistand verpflichteten Landes, zu entscheiden, mit welchen Mitteln und in welchem Umfang es eingreift und ob es überhaupt zu militärischen Mitteln greift. Die Westeuropäische Union verpflichtet zum Einsatz mit allen Mitteln. Deswegen sollten wir in dieser Verhandlungsrunde dieses Instrument einer sehr engen Gemeinschaft — denn es ist eine Gemeinschaft auf Leben und Tod — nicht unterschätzen.Ein anderes geeignetes Forum wäre zum Beispiel der Tisch der OECD. Er hat den Vorteil, daß dort auch die Amerikaner mit von der Partie sind. Dort kann man mit den Briten natürlich nicht die engeren europäischen Probleme besprechen, aber die Fragen der wirtschaftlichen und politischen Solidarität zwischen den beiden Partnern diesseits und jenseits des Atlantik, die ja auch durch den Brüsseler Fehl-schlag Schaden gelitten haben. Diese Fragen könnten in jenem Rahmen nach meiner Überzeugung erneut angegangen werden.Schließlich muß man, glaube ich, dafür sorgen — und das wird jetzt Aufgabe der deutschen Politik im weiteren Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sein —, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft weltoffen bleibt, wirklich eine liberale Außenhandelspolitik betreibt, sich nicht von anderen abschließt. Hier habe ich große Sorgen. Etwas populär gesagt, hat doch der französische Staatspräsident in seiner Pressekonferenz ungefähr ausgeführt: Eßt europäisch, und ihr bleibt gesund! Wir sollten also zunächst einmal die Erzeugnisse des eigenen europäischen Wirtschaftsgebiets verdauen, bevor wir uns daran machen, auch von woanders etwas zu beziehen.Meine Damen und Herren, Europa in Autarkie wäre ein verstümmeltes Europa mit einer völlig künstlichen Wirtschaft, mit jener Abschnürungswirtschaft, die zum Schein sogar einmal auf hohen Touren laufen kann — wie im „Dritten Reich" vor 1939 —, in der aber in Wahrheit der Wurm ist, und sei es auch nur die schleichende Inflation. Ich meine, daß ein Land wie unseres, +das für 50 Milliarden DM Erzeugnisse pro Jahr exportiert, ein Lebensinteresse daran hat, daß sich Europa nicht von den übrigen Weltmärkten +abschließt; denn wer exportieren will, muß auch zur Einfuhr bereit sein. Das ist das kleine Einmaleins der Wirtschaftspolitik.
Darauf werden wir achten müssen, daß bis in sehr viele Einzelheiten hinein die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft diesen dem Geist und dem Wortlaut des Vertrages allein entsprechenden Kurs auch einhält und sich von Vertretern autarker Wirtschaftsvorstellungen darin nicht im geringsten beirren läßt.Meine Damen und Herren, wenn wir das alles zusammen machen, dann kann eine politische Landschaft entstehen, die die deutsch-französischen Abmachungen eines jeden schädlichen Beiklangs entkleidet. Ich verlange nicht, daß das alles durchgeführt wird — um Himmels willen —, bevor der Bundestag zu diesem Dokument Stellung genommen hat. Das ist ein ziemlich reichhaltiges Programm. Aber einleiten muß man es, und zwar bald, gerade damit die deutsche Politik den Vertrauensverlust wieder wettmacht, den Deutschland und Europa in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika leider erlitten haben. Verschließen wir doch nicht die Augen vor der Wirklichkeit! Deswegen müssen wir jetzt ein bißchen mehr tun als reden. Deshalb muß unsere Regierung auf diesen Gebieten — wenn nicht auf allen, dann auf einigen — in Bälde Fortschritte vorzuweisen haben, die von ihrer guten Absicht zeugen.Das bedeutet, daß man mit anderen Regierungen darüber spricht und versucht, von dem, was ich ungefähr zu skizzieren versucht habe, etwas in die Wirklichkeit umzusetzen. Denn niemand in diesem Hause hat doch falsche Vorstellungen von der welt-
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2626 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Erlerpolitischen Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses. Wir sind alle froh, daß die Zeit der deutsch-fanzösischen Bürgerkriege ein für allemal der Geschichte angehört. Aber wir wissen doch alle, daß, selbst wenn Deutschland und Frankreich zusammen mehr sind als jedes einzelne von ihnen, sie auch zusammen keine Weltmacht sind, auch wenn der eine oder andere vielleicht sogar schon den einen Partner drüben ,für eine Weltmacht hält. Dazu gehört ein bißchen mehr als allein ein ungebrochenes Selbstbewußtsein, meine Damen und Herren!
Daher sollten wir uns hier der realen Machtverteilung in der Welt immer bewußt sein und erkennen, daß Deutschland und Frankreich gemeinsam in enger Verbindung und in enger Freundschaft Teil der europäischen Gemeinschaft sein müssen und gleichfalls ein enges solidarisches Vertrauensverhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika aufrechterhalten müssen. Das liegt im Interesse beider Länder, nicht nur eines von ihnen.Ich darf noch etwas zu dem Problem Großbritannien sagen. Mir geht es dabei nicht nur um das Hereinholen eines wirtschaftlich wichtigen Landes, damit der europäische Markt noch ein bißchen größer wird, die Wachstumschancen noch größer werden, die Lebenshaltung der Bevölkerung steigt. Alles wichtig, aber ich finde, hier gibt es noch einen politischen Grund, nämlich den: Wie soll die künftige europäische Gemeinschaft in ihrem inneren Leben beschaffen sein? Mir geht es um das Verhältnis des werdenden Europa zu den Prinzipien der freiheitlich-rechtsstaatlichen parlamentarischen Demokratie.
Gerade deshalb sollten wir uns Mühe geben, die Briten mit ihrer in Jahrhunderten gewachsenen Tradition, so fremd sie auch manchem Kontinentaleuropäer sein mag, mit bei der Partie zu haben. Wir meinen, daß ein solches volles Mitwirken der Briten eine der besten Garantien dafür ist, daß im künftigen Europa freiheitlich-demokratische rechtsstaatliche Grundlagen für unser Zusammensein vorhanden sind.Hier könnte auch die Bundesregierung heute schon einiges tun. Wir wollen ja alle — der Herr Bundeskanzler hat das neulich noch einmal sehr eindrucksvoll nach seiner Rückkehr aus Paris dargetan — keine unkontrollierten Bürokratien haben, ob die nun in Brüssel oder anderwärts sitzen. Nun gut, wie wäre es denn, wenn die Bundesregierung bei der 'nächsten Ministerratsitzung den Vorstoß des Europäischen Parlaments unterstützte, der dahin ging, daß die Befugnisse dieses Parlaments gestärkt, seine Mitglieder — wenn auch im Anfang zunächst nur teilweise — direkt 'gewählt und die drei Exekutiven zu einer einzigen verschmolzen würden? Nach dieser Rede des Herrn Bundeskanzlers habe ich keinen Zweifel mehr daran, daß die Bundesregierung nun sicher auf schnellstem Wege in der nächsten Ministerratsitzung der EWG diesen Vorstoß zur Stärkung ides demokratisch-parlamentarischen Charakters der Gemeinschaft unternehmen wird.
Der Bundestag wird sich darüber freuen und vielleicht gar nicht erst einen Antrag einbringen müssen, den wir dann einstimmig annehmen, sondern vielleicht nachträglich eine Haltung der Regierung in dieser Frage mit großer Mehrheit billigen. Das ist noch viel besser.
Meine Damen und Herren, vorhin ist wieder einmal die berühmte Frage aufgeworfen worden, die uns oft und oft in diesem Hause beschäftigt hat: Warum wart ihr Sozialdemokraten eigentlich seinerzeit bei der Beratung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Montanunion gegen dieses Unternehmen und warum setzt ihr euch heute so warm für die weitere Festigung und den Ausbau der europäischen Gemeinschaft und die Stärkung der atlantischen Solidarität ein? — Ich will zunächst einmal den Komplex Montanunion von den anderen Verträgen, die etwas mit den militärischen Problemen zu tun haben, trennen.Die Einwände gegen die Montanunion waren dreifach; davon sind zwei durch die Geschichte weitgehend überholt. Der erste Einwand war das vermutete besatzungsrechtliche Relikt, die Unterwerfung von wichtigen Teilen der deutschen Wirtschaft unter fremde Interessen ohne entsprechende Gegenseitigkeit. Ich glaube, das ist im wesentlichen überwunden, auch wenn sich gelegentlich die Ruhrwirtschaft wegen des Kohlenverkaufs oder wegen der Verbundwirtschaft, die es in Frankreich gibt und bei uns nicht, noch benachteiligt fühlt. Aber das ist im wesentlichen überwunden; hier haben die Vertragspartner im guten Geiste der Gemeinschaft diese Besorgnisse aus dem Weg räumen können.Der zweite war der allgemeine Einwand, der in unserem Volke sicher als Problem heute immer noch diskutiert wird: Wie weit steht die Einschmelzung des halben Deutschlands in westliche Organisationen den Chancen der Wiederherstellung des ganzen Deutschlands im Wege? Das ist ein wirkliches Problem, und es hat gar keinen Sinn, den Kopf davor zu verschließen. Ich bin der Meinung, daß wir hier sorgsam trennen müssen zwischen dem Gebiet, wo ich aus Gründen, die ich nachher noch darlegen werde, keinen anderen Weg als die Einschmelzung sehe, nämlich dem militärischen, wo man aber wahrscheinlich für die Zukunft im Zusammenhang — und wohl nur dann — mit Fortschritten auf dem Gebiete der Abrüstung und der kontrollierten Begrenzung der Rüstung überhaupt wieder an die deutsche Frage heran kann und wo ein einigermaßen verständliches legitimes Interesse der Sowjetunion erkennbar ist, und allen anderen Gebieten — Wirtschaft, Politik, soziales und kulturelles Leben —, wo ich kein legitimes Interesse eines fremden Staates sehe, sich in die Gesundung der europäischen Völker einzumischen; hier sehe ich allenfalls ein kommunistisches Parteiinteresse daran, daß durch Unordnung, Elend
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Erlerund Unzufriedenheit der Weizen der kommunistischen Propaganda blüht.
Da ich aber in der Außenpolitik sagen muß: ich bin bereit, mich über die Interessen fremder Staaten zu unterhalten, ich bin nicht bereit, die Interessen der kommunistischen Partei zu fördern, verbitte ich mir jede Intervention einer anderen Macht in diesen inneren Vorgang der Gesundung der europäischen Staaten von der Kleinstaaterei zu einer modernen Gemeinschaft.
Das ist das eine.Und nun, meine Damen und Herren, gibt es ein einfaches Rechenexempel. Wer da sagt, man müsse mit der europäischen Einigung warten, bis die deutsche Einheit erreicht sei, der zahlt der Sowjetunion eine Prämie für die Verhinderung der deutschen Einheit, denn damit hätte sie gleichzeitig auch noch die europäische Einheit torpediert. Dann kommt beides überhaupt nicht zustande.
— Ich habe zu diesem Thema schon einmal gesprochen und habe Ihnen das gleiche schon einmal gesagt; ich rufe es nur noch einmal in Erinnerung.1) Dieser zweite Einwand hinsichtlich der Montanunion, der verständlich ist und der auf dem militärischen Gebiete noch eher verständlich sein müßte— auf das militärische Gebiete komme ich noch —, ist durch den Lauf der Geschichte überholt.Bliebe ein dritter! Es war lebensgefährlich, auf die Dauer aus den lebendigen Volkswirtschaften zwei Scheiben herauszuschneiden — Kohle und Stahl — und diese sozusagen zu einem autonomen Kuchen zu verbacken, weil das nicht funktionieren kann, wenn der Rest der Volkswirtschaft draußen ist, da man Wirtschaftskraft nicht so aufspalten kann. Aus dem Grunde mußte man den Sprung nach vorne wagen und die gesamten Wirtschaften integrieren. Aus diesem Grunde haben wir Sozialdemokraten den Gemeinsamen Markt nicht nur gefordert, sondern mit beschlossen, im Gegensatz zu den Freien Demokraten, die sich seinerzeit diesem Vertragswerk versagt haben.
Und nun zu den offenbar bei Ihnen immer noch schwer verständlichen Diskussionen um die militärischen Probleme! Dazu muß man sich einfach die Machtverteilung in der Welt ansehen, heute und in den 50er Jahren. Damals verfügten die Vereinigten Staaten von Amerika über ein beinahe vollständiges Monopol an Atomwaffen und als einzige über eine strategische Luftwaffe, mit deren Hilfe sie ihre Atomwaffen im Falle eines großen Konflikts nahezu an jeden Punkt der Sowjetunion hätten bringen können, ohne daheim auch nur zu verdunkeln zu brauchen. In jener Lage war die Frage offen — Siehaben sie mit Nein beantwortet, wir mit Ja —, ob man zur Überwindung der Sorge der Sowjetunion vor einer Kombination dieser amerikanischen atomaren und Fernwaffenüberlegenheit mit dem amerikanischen Rüstungspotential unter amerikanischer Führung, der deutschen militärischen Tüchtigkeit und Erfahrung — wo ja die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg immerhin einiges erlebt hatte — und den ungelösten Problemen im Herzen Europas als Gegenleistung für eine andere Sicherheitslösung im Herzen Europas, die nicht die Waffenlosigkeit gewesen wäre, sondern die ein europäisches Sicherheitssystem mit der Höhe nach vertraglich begrenzten Beiträgen einer Reihe von Partnerstaaten außer den Deutschen gewesen wäre, die Sowjetunion zu einer Lösung der Deutschlandfrage im Sinne der Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit hätte bewegen können.Es ist heute nahezu müßig, darüber zu streiten. Der Versuch ist nicht unternommen worden. Aber heute sieht die Weltlage anders aus. Diese Sorge, meine Damen und Herren, ist doch weitgehend nur noch ein sowjetischer Propagandaschlager. Wir haben es doch bis vor Kuba erlebt — erst seit Kuba ist das wieder anders —, daß die sowjetische Politik sich beinahe in einer Euphorie der Macht bewegt hat. Seit 1958 weiß man von sowjetischer Raketentechnik. Der Sputnik war der erste Beweis für die ganze Welt. Seitdem hallen die sowjetischen Atomexplosionen beinahe ununterbrochen über den Erdball, seitdem weiß man, daß die Sowjetunion nicht allein empfindlich ist, sondern sowohl die Vereinigten Staaten als auch Europa.Sehen Sie, diese Veränderung der weltpolitischen Machtverhältnisse hat auch zu einer brutalen Zuspitzung der sowjetischen Deutschlandpolitik geführt. Denn seitdem liegt das Berlin-Ultimatum auf dem Tisch. Seitdem handelt es sich nicht mehr um Angebote, einen Vertrag — so schlecht er in der Vorlage auch gewesen sein mag — mit einem Deutschland abzuschließen, sondern darum, unserem Volke ein Spaltungsdiktat aufzuerlegen. Seitdem handelt es sich um den Versuch, das freie Berlin aus den freiheitlichen Lebensformen des Westens herauszubrechen. Diese Veränderung der Weltpolitik muß man einfach sehen.Ich bedauere Sie. Ich kann nicht mit Stolz sagen: Gott sei Dank, daß es so gekommen ist. Aber bitte, ist das ein Grund, daß man sich heute über jene erhebt, die damals versucht haben, nach einem anderen im Interesse unseres Volkes liegenden Wege zu ringen? Sie waren anderer Meinung. Laßt die beiden Meinungen gegeneinander stehen! Aber die Veränderung der weltpolitischen Machtverhältnisse kann nicht dahin mißdeutet werden, daß wir politische Entscheidungen des Jahres 1952 heute für richtig halten, die damals falsch waren, deren Konsequenzen aber heute von uns allen miterlebt und mitgetragen werden müssen, weil niemand aus der Geschichte dieses Volkes aussteigen kann,
weil bei der Entwicklung der Machtverhältnisseunser Volk auf Gedeih und Verderb auf die engste
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2628 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
ErlerSolidarität mit der westlichen Führungsmacht angewiesen ist und — was ich seit 1955 in diesem Saal gesagt habe — weil selbstverständlich auch eine Oppositionspartei Verträge einhalten muß, die von der Mehrheitspartei seinerzeit gegen ihren Willen abgeschlossen worden sind. Ich wollte Ihnen das hier ruhig noch einmal im Zusammenhang sagen.Und nun ganz zum Schluß: ich sprach von der Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Vorhin klang in diese Debatte etwas die Aussprache über die Grundprobleme der Verteidigung hinein. Ich freue mich darüber, daß der Verteidigungsausschuß demnächst Gelegenheit haben wird, mit dem Herrn Verteidigungsminister, wenn er sich einen allgemeinen Einblick verschafft hat, über diese Dinge ausführlicher zu sprechen. Ich möchte hier nur meinen, daß es auch im Interesse des deutschen Volkes und nicht nur der westlichen Führungsmacht liegt, wenn die Glaubwürdigkeit des Verteidigungswillens überhaupt, die manchmal erschüttert war, wiederhergestellt wird. Dazu gehört, daß der Westen aus der schrecklichen Alternative herausmuß, für den Fall eines jeden Konflikts nur wählen zu können zwischen einer atomaren Auseinandersetzung, die mit dem eigenen Selbstmord identisch ist, und der Kapitulation. Das ist eine Verführung des Gegners, auf die Kapitulation zu spekulieren. Deshalb muß man über eine breitere Skala von Abwehrmöglichkeiten verfügen, in die immer noch eingebaut ist — jawohl — als durchaus der Abschreckung dienende Möglichkeit, daß in der heutigen Welt jeder Konflikt die Gefahr der Entartung bis in die letzte atomare Auseinandersetzung hinein in sich trägt. Die Ungewißheit des Risikos gehört zur Abschrekkung, aber das Risiko ist nur dann ungewiß, wenn man zwischen mehreren Möglichkeiten wählen kann.Dazu muß man eben mehrere haben. Und das ist nun heute die Sorge in der westlichen Allianz: Wie sollen diese Möglichkeiten beschaffen sein? Nachdem der Westen insgesamt über ein atomares Potential verfügt, das ausreicht, um die Menschheit ein paarmal auszurotten, fehlt es ganz entscheidend auf dem Gebiet der konventionellen Kampfkraft. Wir können uns auch hier nicht übernehmen. Wir wissen um unsere Grenzen, um die Menschen, um die finanziellen, um die wirtschaftlichen Grenzen. In der Regierungserklärung heißt es daher mit Recht, daß es auf die Verstärkung der Qualität und der Kampfkraft ankommt, und ich freue mich darüber, daß endlich entgegen dem Text einer vom früheren Verteidigungsminister dem Hause leider schriftlich erteilten Antwort auf eine Anfrage die territoriale Verteidigung einen gebührenden Rang in der Verteidigungsplanung bekommt. Hier sind also Aufgaben zu erfüllen, bei denen auch wir, ohne daß wir uns Unmögliches zumuten, die Kampfkraft unserer Bundeswehr im Rahmen des westlichen Bündnisses stärken können.Das zweite ist: Das Bündnis muß Sicherheit für alle schaffen. Und da gab es natürlich die Sorge, ob der stärkste Partner in der Stunde der Gefahr auf Leben und Tod seine Mittel auch für den schwächeren einsetzt. Ich habe nie verstanden, warum ausgerechnet ein Land, das zweimal durch eben jenen stärksten Partner von einem gefährlichen Invasoren erlöst worden ist, ein übergroßes Maß an Mißtrauen gegenüber der westlichen Führungsmacht entwickelt. Offenbar liegen diese geschichtlichen Erfahrungen schon zu lange zurück.Ich finde, daß zur Glaubwürdigkeit des Verteidigungswillens der Allianz gegenüber der Sowjetunion auch das Vertrauen in die Entschlossenheit der westlichen Führungsmacht gehört, ohne die Europa heute in diesen globalen Machtverhältnissen sich gar nicht schützen kann.
Wer an diesem Vertrauen nagt, der zerstört praktisch die kriegsverhütende Wirkung des Bündnisses und ermuntert andere zu Abenteuern. Das löst noch nicht das Problem, daß man zur Bewahrung dieses Vertrauens im Mechanismus des Bündnisses seine Stimme erheben muß für eine Verteidigungsplanung, die so angelegt ist, daß jeder mit gutem Gewissen weiß: Jawohl, dies deckt die Interessen aller Beteiligten, auch unsere. Wenn hier jene militärische, nach meiner Meinung gar nicht notwendige, aber für diesen politischen Zweck vielleicht sinnvolle Anregung von Nassau diesem Ziele dienen kann, dann liegt es durchaus in unserem Interesse, daß wir die Hand, die uns da hingestreckt worden ist — um ernsthaft darüber zu reden, wie dieses Problem gemeistert werden kann —, ergreifen und mit den anderen Beteiligten darüber sprechen, wie man diesem Problem beikommen kann.Was ich aber für lebensgefährlich und geradezu für beleidigend halte, das ist jene unsinnige Diskussion, daß die Führungsmacht angeblich die Europäer in den Rang eines Fußvolks herabdrücken wolle, um nur ja sich selber für unbegrenzte Zeit im Besitz der atomaren Verfügungsgewalt zu wissen. Die Vereinigten Staaten wissen einmal, was der Verlust Euorpas auch für sie bedeuten würde. Und zum zweiten — das sei hier nicht verschwiegen —: das mit dem Fußvolk sieht doch wohl so aus, daß die Amerikaner mit 400 000 Soldaten auf dem europäischen Kontinent einen größeren Beitrag zu dem Fußvolk leisten als die meisten europäischen Staaten.Damit, meine Damen und Herren, bin ich am Ende. Auf die Bemerkungen von Herrn von Brentano wegen der Zusammenarbeit der Fraktionen beim Schutz von Staatsgeheimnissen brauche ich nicht ausführlich zurückzukommen. Dazu liegen Vorschläge seit langem vor; wir sollten uns ernsthaft darüber unterhalten. Nur hat dies nichts ,mit dem Fallex-Artikel zu tun; das wissen Sie auch, und um den geht es ja heute,
um den ging es bei den Untersuchungen. Dazu möchte ich sagen: was wir hier erörtert haben und woran eine Bundesregierung zerbrochen ist, war doch nicht der Inhalt des Artikels einer Zeitschrift; so mächtig ist die auch nicht,
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Erlersondern es war das, was hinterher passierte und was in der Öffentlichkeit den Eindruck hervorrief, daß man hier nicht nach einwandfrei rechtsstaatlichen Prinzipien vorgegangen ist. Daß das Militärressort Zuständigkeiten der Rechtspflege an sich gezogen hat, war das Beunruhigende;
und zwar nicht einmal deswegen, weil die Soldaten das wollten, sondern weil der zivile Verantwortliche des Militärressorts dies zur Bewahrung seiner politischen Machtposition tat. Das hat Beunruhigung verursacht. Dieser Punkt ist durch die Aktionen dieses Hauses, durch die Auseinandersetzungen auch im Regierungslager und durch den Sturm in der öffentlichen Meinung in erfreulicher Weise klargestellt worden. So etwas wollen wir alle in unserem Lande nicht noch einmal erleben. Ich bin überzeugt, daß z. B. der neue Verteidigungsminister — soviel wir vielleicht auch in anderen Fragen gelegentlich werden streiten müssen; ich weiß es ja noch nicht — sich in dieser Frage — davon zeugt die Regierungspraxis in seinem Lande — anders verhalten wird. Das wollte ich hier doch noch einmal ausdrücklich gesagt haben.Was uns weiterhin erregt hat, war die Tatsache, daß das Haus es ertragen mußte, von einem verantwortlichen Minister so hinters Licht geführt zu werden, wie wir es jetzt dokumentarisch vor uns sehen. Auch das war nicht gut; auch das darf sich nicht wiederholen. Vor diesem Hause müssen alle die Wahrheit sagen, auch und in erster Linie die Bundesregierung.
Im Hintergrund steht das Verhältnis von Regierung und Parlament zu Presse und öffentlicher Meinung. Die sorgsame Abgrenzung — bei der Strafrechtsreform werden wir noch darüber reden müssen — zwischen dem legitimen Bedürfnis nach Geheimnisschutz des Staates und dem legitimen Grundrecht der Informations- und Meinungsfreiheit auf der anderen Seite ist eine schwierige Aufgabe; wir müssen uns an sie heranmachen. Nur so erreichen wir, daß unsere Staatsbürger, wenn sie an die Wahlurne gehen, auch einwandfrei informiert sind und eine Entscheidung fällen können; denn sie sind der Souverän, nicht wir. Wir handeln in ihrem Auftrag, meine Damen und Herren. Auch zwischen den Wahlen müssen die Staatsbürger sich regen können. Ohne Demokraten gibt es keine Demokratie. Das ist ein schwieriges Erziehungswerk, zu dem dieses Haus sicher schon einen Beitrag geleistet hat, aber auch weiterhin leisten muß.
Denn in Stunden der Gefahr ist kein Verlaß auf noch so gut geölte Maschinerien; da kommt es auf den Willen und die Bereitschaft der Bürger dieses Landes an, für ihre freiheitlich rechtsstaatliche Grundordnung auch unter Risiken einzustehen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Herr Kollege Erler spricht nach meiner Schätzung etwa 250 bis 300 Silben in der Minute.
Ich schätze das so aus der Tätigkeit der Stenographen. Natürlich ist es dann sehr schwer, auf alles zu antworten, was er in verhältnismäßig kurzer Zeit mit größter Schnelligkeit sagt. Aber einige Sachen habe ich mir doch notiert.Sie haben gesagt, Herr Erler: Wer an dem Vertrauen der Führungsmacht nagt, macht sich — ich weiß nicht, welchen Vergehens — schuldig. Sie haben dann einige Minuten darauf gesagt: Hier müssen alle die Wahrheit sagen. Etwas übertrieben, Herr Erler, nicht wahr? Das würden Sie doch zugeben.
Aber Sie haben dann gesagt: auch die Bundesregierung! Sehen Sie, wer an dem Vertrauen zur Bundesregierung nagt, der macht sich auch einer schweren Schuld gegenüber dem deutschen Volk schuldig.
Sie sind heute hingewiesen worden — ich kann nicht einmal sagen: angegriffen worden — auf Ihre starken Veränderungen wichtigster politischer Anschauungen und Grundsätze, die Sie im Laufe dieser Jahre erlebt haben und die wir miterlebt haben. Sicher, meine Herren, es muß mehr Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut. Aber, meine Herren, er muß auch Buße tun! Das gehört auch dazu.
Meine Herren, Herr Erler ist wirklich — um seinen Ausdruck zu gebrauchen — ein Mann von ungebrochenem Selbstbewußtsein. Ich habe so etwas selten erlebt wie heute Ihre Rede hier. Sie haben den schönen Satz zur Begründung für den Wechsel in Ihren Auffassungen zu lebenswichtigen Dingen des deutschen Volkes gesagt: Die Veränderung der Weltpolitik muß man sehen. Vollkommen richtig! Aber es fragt sich, Herr Erler, wann man sie sieht. Politik kann nur der machen, der sie rechtzeitig sieht und nicht post.
Ich meine, wenn mir nachher vorgeführt wird, daß Sowjetrußland eine ganz außerordentlich große nukleare Macht geworden ist und daß es uns an den Kragen will, dann gehe ich mit, Herr Erler, dann sehe ich die Weltgeschichte. Nein, man muß sie eben vorher sehen.Sie haben zum Beispiel auch davon gesprochen, daß Sie überlegt hätten, ob man an Amerika, diese
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2630 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Dr. Adenauernukleare Macht, herangehen solle, solange nicht die Frage der Wiedervereinigung seitens Rußlands negativ beantwortet sei. Wissen Sie denn nicht, Herr Erler, was der amerikanische Präsident Eisenhower ganz kurz nach seinem Regierungsantritt der Welt öffentlich angeboten hat? Richtig, damals hatten die Vereinigten Staaten allein nukleare Waffen. Aber Eisenhower hat der ganzen Welt angeboten, sämtliche amerikanischen nuklearen Waffen, sämtliche Stoffe zur Herstellung, alle Vorräte einer öffentlichen Kontrolle zu unterstellen, um sie zu friedlichen Zwecken zu verwenden. Der einzige Staat, der das abgelehnt hat, war Sowjetrußland, meine Damen und Herren. Ich meine, da konnte man doch schon die Weltgeschichte in etwa sehen und wußte, was man für Konsequenzen daraus zu ziehen hat.Sie haben dann das mit der Montanunion wundervoll dargestellt. Meine Herren, dem Herrn Kollegen Erler waren Kohle und Eisen zu wenig; es müßte viel mehr hereinkommen. Er hat angedeutet, was alles hereinkommen müsse, damit wirklich was entstehe. Herr Kollege Erler, es gibt ja auch noch Zeugen der Entstehung der Montanunion. Sie können darüber auch in den Stenographischen Berichten des Bundestages nachlesen. Wie ist denn die Montanunion entstanden?Mir hat Herr Schumann damals geschrieben: Zwischen dem französischen Volk und dem deutschen Volk dauert das Mißtrauen an, und die Franzosen sind voll Furcht, daß sich Deutschland eines Tages wieder erholen wird und daß es dann an Frankreich Revanche nehmen wird. Er hat dann in dem Brief fortgefahren: Jede Aufrüstung zeigt sich auf zwei Gebieten an, auf dem Gebiete der Produktion von Stahl und Eisen und damit zusammenhängend von Kohle. Darum schlug er vor, daß zwischen den Staaten, die er angeschrieben hat -auch Großbritannien war dabei, an allererster Stelle —, eine Montanunion derart gegründet wird, daß jedes Land überschauen kann, wenn auf dem Gebiet der Produktion von Eisen, Stahl und Kohle irgendeine Unruhe entsteht. Wenn wir so etwas schaffen — so fuhr er fort —, dann gewinnen wir das Vertrauen zueinander, das keiner den anderen überfallen wird. — Das war der Gesichtspunkt der Montanunion, und dem haben Sie nicht zugestimmt.
— Nein, es war nichts anderes!
Dem haben Sie nicht zugestimmt. Und neben Ihnen standen — ich darf da nicht Genossen sagen — als Genossen in dem Kampf die Schwerindustrie.
Das waren damals Ihre Freunde.
Ich erinnere mich noch sehr, welche Mühe es auchmich persönlich gekostet hat, die Schwerindustrie —ob sie nun in intimer Verbindung mit Ihnen stand, weiß ich nicht —,
die Bergwerksindustrie davon zu überzeugen, daß sie unter keinen Umständen hier nein sagen dürfe. Und wir haben es getan. Die Sozialdemokratische Partei hat damals leider nicht mitgemacht.Ich würde jetzt hier nicht davon gesprochen haben — ich hatte gar nicht daran gedacht, davon zu sprechen —, wenn Sie sich nicht hier hingestellt hätten als ein Prophet, wie seit Christi Geburt keiner mehr auf die Welt gekommen ist.
Aber sehen Sie, Herr Erler, wer Begabung hat — und Sie haben Begabung —,
hat auch eine große Verantwortung für den Gebrauch dieser Begabung. Ich sage Ihnen: weitere solche Reden hier in diesem Hause tragen nicht dazu bei, daß das Vertrauen zum deutschen Volk wächst.
— Natürlich müssen Sie nein sagen; Sie dürfen doch nicht ja sagen, das ist doch klar.
Sie glauben noch immer, wie es scheint, daß mandraußen in der Welt zum deutschen Volk ein ungebrochenes Vertrauen hat. Gar kein Gedanke daran!
Meine Damen und Herren, im Ausland ist nicht vergessen, was von hier ausgegangen ist, von Deutschland.
Darum müssen wir, meine Damen und Herren — ich spreche aus dem Gefühl einer tiefen Verantwortung und einer großen Sorge heraus — mit der größten Sorgfalt alle Reden bedenken, die sich so direkt an das Ausland wenden.
Und deswegen war diese Bemerkung von dem Mann mit (dem ungebrochenen Selbstvertrauen, auf den Sie so reagiert haben, eine höchst überflüssige Bemerkung.
Meine Damen und Herren, seien wir doch froh, daß es so ist, wie es jetzt ist mit Frankreich. Ich weiß, vom Standpunkt der parlamentarischen Demokratie aus kann man Kritik üben.
Aber, meine Damen und Herren — ich sage dassehr offen —: der Zustand, wie er in Frankreich dieJahre vorher gewesen ist, wo die Regierungen stän-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2631
Dr. Adenauerdig gewechselt haben, war für Frankreich schlecht, war für uns schlecht, war für Europa schlecht.
Und ich will Ihnen nur folgendes sagen — gerade den Herren, die von da hinten die Zwischenrufe machen —: mir hat der verstorbene Foster Dulles zweimal gesagt: „Wenn Sie nicht zu uns halten, dann werden wir Europa verlassen." So sah es doch damals in Europa aus! Die Amerikaner glaubten nicht an die Festigkeit. Wir haben uns konsolidiert, und wir haben dafür gesorgt, daß man doch wieder Vertrauen zum deutschen Volke bekommen hat. Und seien wir froh, Herr Erler, über jede Freundschaft, die wir uns noch erwerben in irgendeinem Volke. Wir können sie bei Gott gebrauchen.
Und überlassen wir jedem Volke, sich eine Regierungsreform zu bauen, die es will. Das ist seine Sache, meine Damen und Herren, solange es damit keine anderen bedroht; das ist seine Sache, und wir sollten uns hüten vor an Spott grenzender Kritik.Im übrigen möchte ich Ihnen nur das eine sagen: Nach den letzten Zählungen in Frankreich haben 67 Prozent der Befragten sich für dieses Regime ausgesprochen. Ich möchte Ihnen noch ,ein weiteres sagen. Als ich jetzt in Paris war, hat Herr Blankenhorn 150 Abgeordnete für mich eingeladen zu einem Zusammenkommen. Natürlich, der größte Teil da-von waren Gaullisten. Es waren aber auch Nichtgaullisten dabei, und ich habe sehr freimütig mit den Herren über alles gesprochen. Und im Grunde genommen sind die Herren alle ganz zufrieden.
Und das 'ist doch schließlich die Hauptsache!
Aber vor allem, meine Damen und Herren: ich habe mich gestern absichtlich so vorsichtig ausgedrückt und habe gebeten, wir möchten über das deutschfranzösische Abkommen diskutieren, wenn es hier zur Vorlage kommt. Wir können jetzt nicht ausgiebig darüber diskutieren; auch 'deswegen nicht, weil dadurch nun im Zusammenhang mit dem, was mit Großbritanniens Beitritt geschehen ist, dann dieses Abkommen eine viel zu große Bedeutung in der außenpolitischen Bewertung erlangt. Man soll doch alle Dinge 'in ihrem Rahmen lassen und nicht darüber hinausgehen.Da ich nun einmal das Wort genommen habe und da Herr Kollege Ollenhauer, der ganz spezielle Fragen an mich gestellt hat, inzwischen wieder anwesend ist, möchte ich ihm diese Fragen jetzt beantworten. Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben zwei spezielle Fragen an mich gerichtet. Die erste betraf die Konsultation mit Frankreich und ging dahin, ob ich auch konsultiert worden sei über die Rede, die de Gaulle auf der Pressekonferenz gehalten hat. Dazu sage ich Ihnen folgendes. Bei der Schlußsitzung, die wir in Paris hatten, hat de Gaulle gesagt: Wenn das Abkommen Rechtens geworden ist, wirdder erste Gegenstand der Konsultation der Beitritt Englands zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sein. Das war sehr korrekt, und das wird auch nach menschlischem Ermessen der erste Gegenstand der Konsultation sein.Ich will Ihnen aber noch weiter wiedergeben, was ich Herrn de Gaulle, als der Antrag der Briten, in die EWG aufgenommen zu werden, ernst wurde — er war nicht immer so ernst —, über die deutsche Stellungnahme und über meine persönliche Stellungnahme gesagt habe. Ich habe ihm erklärt: Wir Deutschen sind auf ein gutes Einvernehmen mit Großbritannien wegen Berlin und der Wiedervereinigung angewiesen, und deswegen bin ich ohne Rücksicht auf alles andere für die Aufnahme 'Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Ich habe gesagt: Natürlich muß über Einzelheiten gesprochen werden.Am 11. Oktober des Jahres 1962 habe ich Ihnen, Herr Kollege Ollenhauer, desselbe geantwortet. Sie können das nachlesen. Ich habe Ihnen ganz klar erklärt, daß ich dafür sei und daß natürlich über dieses und jenes gehandelt werden müsse. Damals habe ich gesagt — und gerade das hat Anerkennung in der britischen Presse gefunden —: Die britischen Vertreter sind dazu da, bei den Verhandlungen die britischen Interessen wahrzunehmen, und die deutschen Vertreter sind dafür da, die deutschen Interessen wahrzunehmen, und dann muß man eben sehen, daß man übereinkommt. Das ist bei jedem politischen Verhandeln so selbstverständlich wie nur denkbar. Aber ich wiederhole nochmals, Herr Kollege Ollenhauer: ich habe damals, als zuerst im Ernst darüber gesprochen wurde, Herrn de Gaulle gesagt, daß ich aus diesen politischen Gründen dafür sei, und ich habe es später hier vor dem Bundestag auch wiederholt.Ich meine, das ist keine gute Außenpolitik: Dadurch, daß man einem Regierungschef immer wieder die Frage stellt, daß man glaubt, verschiedene Schattierungen der Meinungen innerhalb der Bundesregierung herauszufinden, dadurch, daß man vom Zwielicht spricht, fördert man die Sache nicht. Ich wünsche, daß die Briten an mein Wort glauben:
Dadurch werden wir in den ganzen Verhandlungen einen guten Schritt vorankommen. Aber wir werden nicht vorankommen, wenn hier in diesem Hause an meinen Worten Zweifel geäußert werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich mit Befriedigung die Sätze registrieren, die der Herr Bundeskanzler soeben in unmißverständlicher Weise dem deutsch-britischen Verhältnis und der Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Eintritt Groß-
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2632 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
ErlerBritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gewidmet hat. Dieser Standpunkt, ehern durchgehalten, wird die Unterstützung des ganzen Hauses haben.
Ich möchte nicht auf die Geschichtsbetrachtungen zurückkommen, Herr Bundeskanzler. Da sind wir nun einmal verschiedener Meinung. Ich sehe beängstigende Perspektiven vor mir. Wenn ich heute schon ein Prophet mit ungebrochenem Selbstbewußtsein sein sollte, was wird dann erst einmal in späteren Lebensjahren aus mir werden?
Hoffentlich passen dann andere auf mich auf.
Ein letztes. Ich würde mich freuen, wenn vielleicht der Herr Außenminister sich zu einigen Anregungen äußerte — denn das ging sehr ins Fachliche, und das möchte ich dem Herrn Bundeskanzler gar nicht zumuten —, die hier für den Fortgang der Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens gegeben worden sind, und zwar sowohl vom Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU als auch von mir. Ich behaupte gar nicht unbedingt, daß das alles Perlen aus dem Sack unerschöpflicher Weisheit sind, aber man muß das Gespräch doch wenigstens einmal beginnen. Vielleicht können wir da vom Herrn Bundesaußenminister einiges erfahren. Ich glaube, das würde auch im Interesse aller liegen.Denn — und damit rasch noch ein Wort zur Konsultation — wenn wir von dem deutsch-französischen Vertrag und seinen Konsultationspflichten,
— seinen Konsultierungspflichten ausgehen, dann ist es sicher richtig, daß jeder Partner auf die Gegenstände eingehen muß, die der andere vorschlägt. Gut, wir haben aber doch heute schon durchaus die Möglichkeit, ohne von einer solchen Rechtspflicht Gebrauch zu machen, mit dem Partner darüber zu sprechen. Es hat ja auch schon bisher, ohne einen solchen Vertrag, Konsultationen gegeben. Warum also sollen wir so sehr lange warten? Vielleicht bestünde die Möglichkeit, im Zusammenhang mit dem ganzen Bukett, das hier vorzutragen ich vorhin die Ehre hatte, das Gespräch mit unserem französischen Freund — ich wiederhole: Freund — doch schon etwas eher aufzunehmen, damit nicht allzuviel Zeit verlorengeht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Achenbach.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der verehrte Kollege Erler hat seine Darlegungen mit einigen spaßigen Bemerkungen über die Koalition begonnen, 'sicher provoziert durch meinen Freund Erich Mende. Aber, Herr Erler, ich habe Sie doch richtig verstanden, daß Sie 'die These von Erich Mende eigentlich bestätigt haben, daß Sie nämlich eineKoalitionspartei im Wartestand wirklich bleiben wollen und sich jederzeit bereit halten, in die Regierung einzutreten.Sie wissen, es gibt in Berlin einen Mann, der einmal die Bemerkung gemacht hat: Wer nicht so denkt wie die CDU, der fliegt aus der SPD. Ich halte diese Bemerkung natürlich nicht für richtig. Aber sie ist gemacht worden. Auf der anderen Seite wird man nach den Darlegungen des Herrn Bundeskanzlers zugeben müssen, daß die andere These: „Wer nicht 'so denkt wie die SPD, der fliegt aus der CDU" vorläufig noch nicht gilt, wenngleich wir vor einiger Zeit so gewisse Tendenzen glaubten feststellen zu können.Herr Erler, Sie haben dann von dem verlorenen Jahr gesprochen. Stellen wir doch auch das vernünftigerweise richtig! Herr Kollege Ollenhauer, ein Jahr, in dem es gelungen ist, den Frieden zu erhalten und noch eine Steigerung des Sozialprodukts zu erzielen, ist wirklich kein verlorenes Jahr.Nun hat die Frage des deutsch-französischen Vertrages einen großen Raum in den Darlegungen von Herrn Erler eingenommen. Wir sind uns jedoch einig, daß wir uns heute noch nicht in der Ratifizierungsdebatte befinden, und ich möchte mich auch daran halten.Fest steht jedenfalls, daß eine völlige Einigkeit in diesem Hause über die unverrückbare Notwendigkeit einer deutschfranzösischen Feundschaft besteht. Das hat der Bundestag in seiner letzten außenpolitischen Debatte bekräftigt, und das ist, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, auch immer unsere Meinung gewesen. Es hat in der Vergangenheit Dinge gegeben, bei denen wir nicht derselben Meinung waren; in diesem Punkt jedoch habe ich immer mit Freude und mit Bewunderung festgestellt, mit welcher Zähigkeit Sie an diesem Gedanken festgehalten haben. Ich selbst hatte ihn schon von jemandem, der noch älter war als Sie, nämlich von jemandem, der im Siegerland auf dem Kartoffelfeld die Mobilmachung von 1870 noch miterlebt hat und der mir, wenn ich von Paris zurückkam, wo ich studierte, immer sagte: Na, was machen denn die Franzosen? Das sind doch auch Menschen wie wir! — So ist es in der Tat und infolgedessen muß der alte deutsch-französische Gegensatz überwunden werden! Ich bin auch der Meinung, die ganze Welt sollte sich darüber freuen, daß wir diesen Gegensatz überwunden haben.Natürlich gilt das gleiche auch für unser Verhältnis zu den Engländern. Auch mit den Engländern wollen wir gute, ja ausgezeichnete Beziehungen haben. Aber lassen Sie mich hier ganz kurz noch eine Bemerkung machen; sie schlägt ein bißchen in die Kerbe, in die vorhin der Herr Bundeskanzler geschlagen hat. Ich meine — der Bundestag hat es zum Ausdruck gebracht, und der Herr Bundeskanzler hat es jetzt sehr stark unterstrichen —, wir sind nun einmal für ausgezeichnete Beziehungen zu Großbritannien, und wir wollen, daß Großbritannien nach Europa und in die EWG hineinkommt. Das haben wir erklärt.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2633
Dr. AchenbachNun vielleicht ist es ganz natürlich im Hinblick auf gewisse Pressestimmen, auch drüben, bei unseren Freunden, den Amerikanern, wenn ich sie einmal ein bißchen aufkläre auch über gewisse Gefühlsregungen bei uns. Sehen Sie, wenn mich jemand fragt: Sind Sie für den Eintritt der Engländer in Europa?, sage ich ja, und wenn er dann zu mir sagt: Sind Sie wirklich dafür?, dann sage ich ja. Wenn er dann aber sagt: Sind Sie auch ganz wirklich dafür und haben Sie auch gar keine Vorbehalte, und ist es wirklich so?, ja dann, muß ich sagen, fällt mir das langsam doch etwas lästig, und dann würde ich fast reagieren mit dem Wort: Was denken denn die Leute eigentlich, was wir für Leute sind! Das ist übrigens der Titel eines Artikels, der kürzlich drüben in Amerika ein gewisses Aufsehen erregt hat.Wir wollen das einmal richtig verstehen. Es hat ja auch bei uns Leute gegeben, die in früheren Zeiten das Bedürfnis hatten, an jedem Tag morgens, mittags und abends von den Amerikanern bestätigt zu bekommen, daß sie zu uns stehen würden. Das ist natürlich auch nicht richtig. Wir haben Vertrauen dazu, daß die Amerikaner zu uns stehen; aber da wir ihre Verbündeten sind, haben auch wir schließlich ein Recht darauf, daß man zu unserem Wort Vertrauen hat. Dabei sollten wir es belassen und diese Tatsache nicht zerreden.Herr Kollege Erler, wie immer haben sich in Ihren Ausführungen auch Gedankengänge befunden, die unsere Billigung finden können. Ich meine, daß das auch bei unseren Koalitionsfreunden der Fall ist. Ihre Anregung, aus der WEU ein Instrument zu machen, das mithilft, das europäische Vertrauen wieder zu stärken, scheint mir richtig zu sein. Auch ihr Hinweis auf die Verpflichtungen der WEU sind sicher richtig. Nun, die Politische Kommission der WEU, Herr Bundeskanzler, die neulich in Paris getagt hat, hat ja schon den Wunsch geäußert, der Ministerrat der WEU möge es doch als eine vordringliche Aufgabe ansehen, eben im Rahmen der Sieben — der Sechs plus England — wieder einen guten neuen Anfang zu machen und in absehbarer Zeit die Krise zu überwinden. Sie haben gesagt, die Krise sei heilbar. Das ist auch unsere Auffassung, und ich meine, es ist gut, wenn niemand bei uns und auch niemand draußen diesen unseren Willen in Zukunft in Zweifel zieht.Nun, ich habe mich eigentlich gemeldet, weil ich auch noch auf eine andere Tatsache hinweisen möchte. Nicht nur im Westen nämlich, Herr Bundeskanzler, werden die Motive des deutsch-französischen Vertrags oder gewisse Möglichkeiten falsch interpretiert, sondern die Sowjetunion hat uns ja gerade jetzt eine Note übersandt, in dem auch sie diesem Vertrag völlig falsche Motive unterschiebt. Auch die Sowjetunion sagt, sie habe nichts gegen gute deutsch-französische Beziehungen — und das ist sehr erfreulich —, aber sie meint, daß dieser Vertrag zwischen uns und den Franzosen den Zweck verfolge, einen Sturmbock gegen sie 'zu bilden.Ich glaube, es ist gut, wenn man hier feststellt, daß diese Auffassung abwegig ist. In diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, ist es sicherauch gut, wenn wir gerade heute noch einmal die Entschließung des Bundestages vom 12. Oktober 1962 zitieren. Ziffer 4 lautet:Der Fortschritt der Menschheit, von der ein großer Teil noch von Hunger und Elend geplagt ist, hat als erste und unerläßliche Voraussetzung die Erhaltung des Weltfriedens.Der Bundestag ist der Auffassung, daß, nachdem in Westeuropa eine dauerhafte Friedensordnung gefunden worden ist, erneut versucht werden muß, auch mit Deutschlands östlichen Nachbarn zu einem wahren Frieden zu gelangen.Das Recht auf Selbstbestimmung, auf nationale Einheit und Freiheit muß dabei für das deutsche Volk ebenso respektiert werden wie für alle anderen Völker.Nun kann man natürlich über den Zeitpunkt von Verhandlungen geteilter Meinung sein; aber ich möchte doch von mir aus auf die Tatsache hinweisen, Herr Bundeskanzler, daß gerade die Westeuropäische Union in einer einmütigen Entschließung im Dezember vorigen Jahres darauf hingewiesen hat, daß nach ihrer Auffassung, also nach Auffassung der Beratenden Versammlung .der Westeuropäischen Union, der Moment gekommen sei, im Hinblick auf die Beendigung der Kuba-Krise nunmehr beschleunigt und dringend Gespräche zu eröffnen mit dem Ziel, zum Abschluß eines Friedensvertrages mit dem Osten zu kommen, der naturgemäß die Wiedervereinigung Deutschlands in sich schließen muß und der natürlich auch — und insofern, Herr Kollege Erler, sind wir uns auch völlig einig — das Recht der Deutschen, sich in eine vernünftigere europäische Organisation einzugliedern, in sich schließt. Das lassen wir uns selbstverständlich von niemandem bestreiten. Ich bin sehr froh, daß auch Sie das hier gesagt haben. Wir sind sicher alle dieser Meinung.Aber ich glaube, Herr Bundeskanzler, wir sollten an dieser Entschließung der Westeuropäischen Union nicht achtlos vorbeigehen, weil sie die falsche Argumentation der russischen Note geradezu demonstriert. Nein, es ist nicht so, daß wir gegen friedliche Koexistenz seien. Das stimmt ja nicht. Der Bundestag und die Westeuropäische Union haben eindeutig erklärt, daß sie einen gerechten Frieden im Osten wollen.Nun, wenn man zu einem Frieden kommen will, Herr Bundeskanzler, dann gibt es zwei Dinge, die man berücksichtigen muß, erstens die Methode und zweitens die Substanz. Sicherlich haben alle die recht, die darauf hingewiesen haben, daß es nicht so aussieht, als ob es in der Substanz jetzt oder ganz schnell eine Einigung zwischen den Auffassungen der Russen und den unseren geben könne. Die russischen Vorschläge vom Jahre 1959 waren sicher nicht geeignet, eine Einigung herbeizuführen.Aber man muß ja, Herr Bundeskanzler, selbst wenn der Gegner — wenn Sie so wollen — einen Balken im Auge hat, als besonders anständiger Mensch auch den geringsten Splitter bei sich selbst vermeiden. Es ist nun nicht ganz zu bestreiten, daß
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2634 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Dr. AchenbachÏ auch wir noch ein bißchen insofern in Verzug sind, als eine Note der Russen, die in höflichem Ton gehalten war, von uns jedenfalls nicht beantwortet worden ist. Das ist die Note vom 3. August 1961, in der die Russen sagen, ihre Vorschläge seien kein Ultimatum, wir sollten Vorschläge machen, und sie wollten sie prüfen.Die Frage, was dabei herauskommt, ist, glaube ich, eine Frage, die man in der Außenpolitik nie stellen sollte, Herr Bundeskanzler. Wenn man zu mir sagt: Mach' Vorschläge!, dann mach' ich welche. Dann wird sich herausstellen, wer zu was steht und was bei der Sache herauskommt.Die Erhaltung des Weltfriedens und ständige Bemühungen um den Weltfrieden sind unsere vornehmste Aufgabe. Vor aller Welt und auch vor der Sowjetunion sollten wir deutlich machen: Wir sind eindeutig bereit, über alles zu sprechen, was an politischen Problemen zwischen Ost und West noch offensteht. Wir möchten nicht, daß es aus der deutschen Frage zu einer Bedrohung des Weltfriedens kommt. Es heißt in der russischen Note, daß, wenn wir uns atomare Waffen zulegten, sie das als eine unmittelbare Bedrohung ihrer lebenswichtigen Interessen betrachten müßten und sie dann gezwungen wären, gewisse Maßnahmen zu ergreifen. Darin liegt natürlich eine gewisse Parallelität zu Kuba.Alle diese Dinge, Herr Bundeskanzler, würden dann entschärft, wenn wir uns zumindest in der Methode dazu entschließen würden, für eine Friedenskonferenz einzutreten. Selbstverständlich soll das in fester Absprache mit unseren Verbündeten geschehen; denn das Bündnis mit den Vereinigten Staaten ist nach wie vor der Eckpfeiler und die Grundlage unserer Außenpolitik. Wer wollte das bezweifeln! Jeder Zweifel daran ist absolut abwegig. Aber zusammen mit unseren Verbündeten sollten wir jetzt sagen: 18 Jahre nach Beendigung der Feindseligkeiten ist es an der Zeit, sich zusammenzusetzen und die Probleme zu erörtern, die noch offenstehen. In diese Verhandlungen sollten wir durchaus selbstbewußt hineingehen, gestützt auf unsere Verbündeten und mit dem festen Willen, dann nein zu sagen, wenn uns etwas zugemutet wird, was mit unseren Lebensinteressen und unserer Selbstachtung nicht vereinbar ist. Zumindest ist dann der sowjetischen Propaganda sehr viel Wind aus den Segeln genommen.Herr Bundeskanzler, ich glaube, gerade Sie werden die Bedeutung dieser Forderung ermessen. In diesem Jahrhundert ist das deutsche Volk zweimal durch das Fegefeuer von großen Kriegen gegangen mit all dem Leid, das Kriege nun einmal mit sich bringen. Es ist unser aller Pflicht, alles zu tun, diesem Volk einen neuen Weltkrieg zu ersparen, soweit es in unseren Kräften steht. Kein zukünftiger Historiker soll sagen dürfen — Herr Bundeskanzler, Sie werden mir da wohl zustimmen —, an den Deutschen sei der Friede mit dem Osten gescheitert. Wir wollen den Frieden. Überall dort, wo es eine Möglichkeit gibt, den Weltfrieden zu erhalten, überall dort, wo es darum geht, offenstehende politische Probleme in gerechter Weise zu lösen oder einer Lösung näherzubringen, sollte die Welt wissen, daßdie Bundesrepublik und die Bundesregierung bereit sind, das Notwendige zu tun.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jaeger. — Verzeihung, Herr Abgeordneter, der Herr Außenminister hat sich inzwischen zu Wort gemeldet. Das Wort hat der Herr Außenminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es tut mir sehr leid, daß ich mich vor dem Kollegen Jaeger gemeldet hatte. Aber er wird nach mir noch lange Zeit haben, um sprechen zu können. Ich halte diesen Augenblick jetzt doch für ganz geeignet, einige Ausführungen zu machen.Ich möchte mich zunächst, um es anschließend etwas einfacher zu haben, mit einigem beschäftigen, das Herr Kollege Erler gesagt hat. Herr Kollege Erler hat manches gesagt, dem ich unbedingt zustimmen kann — und das weiß er auch —, und er hat einiges gesagt, dem ich keineswegs zustimmen kann. Die Dinge, denen ich keineswegs zustimmen kann, liegen ein bißchen in seiner Analyse der Vergangenheit. Darauf ist der Herr Bundeskanzler zu einem Teil schon eingegangen. Ich gestehe ganz offen, daß ich etwas unterstreichen muß, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat: Sosehr wir nach dem geschichtlichen Ablauf gewisse Motivationen von früher unter Umständen in ein neues Licht rücken können und damit zu Änderungen unseres heutigen Verhaltens kommen, so bedeutet doch natürlich für politische Wirksamkeit und politische Entscheidung die Stunde sehr, sehr viel. Ich möchte jetzt nicht wieder ganz so weit zurückgehen, und deswegen will ich das nur eingangs meiner Ausführungen tun.Ich bin der Überzeugung, daß wir damals in diesem Hohen Hause — das ist eine Entwicklung von 1949 an gewesen — einen Kurs eingeschlagen haben, der sich eben als richtig erwiesen hat — ich lasse einmal den Verteidigungsbereich weg, das ist der etwas empfindlichere Bereich —, einen Kurs, der sich in dem Anstreben europäischer Integration als Weg wieder zurück in die Gemeinschaft der freien Völker darstellt. Das ist in den Zeiten Ihres Parteivorsitzenden Schumacher leidenschaftlich umstritten gewesen. Die Zeit ist darüber hinweggegangen. Ich glaube, Herr Kollege Erler, Sie werden fair genug sein, einzuräumen, daß wir in dieser Sache recht behalten haben. Ich sage das nicht der Rechthaberei wegen, sondern ich sage es, weil heute diese Kontroverse aufgekommen ist.Nachdem ich nun das beschrieben habe, worin ich mit dem Kollegen Erler nicht übereinstimme, möchte ich ein zweites hinzufügen; denn das ist notwendig, weil wir sonst immer wieder an diese Stelle kommen, aus der sich per Saldo vielleicht doch einmal eine sich sehr festfressende Legende ergeben könnte. Es ist die Auffassung, die Deutschen hätten in irgendeinem Augenblick seit 1945 die Chance ge-Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den .7. Februar 1963 2635Bundesminister Dr. Schröderhabt, mit sowjetischer Zustimmung ein freies Deutschland zu bekommen.
Das ist in meinen Augen eine Legende, der wir widerstehen müssen, wo immer sie aufkommt. Wir dürfen auch nicht zulassen, daß sie sich in eine Debatte wie die heutige einschleicht.Nun aber kommen wir zu dem eigentlichen Gegenstand! Welches ist, der eigentliche Gegenstand? — Ich verhehle mir keinen Augenblick, daß eine große Beunruhigung sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten vorhanden ist. Das ist eine Tatsache, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Wenn ich diese Tatsache einmal ganz einfach in ein paar Daten kleiden darf, so sehen — zunächst nur so für den landläufigen Verstand, aber manchmal auch für besorgtere Betrachter — drei Daten in folgender Kette so aus, als ob sie zusammengehörten. Das eine ist die Pressekonferenz des französischen Staatspräsidenten de Gaulle am 14. Januar, eine Pressekonferenz, wohlvorbereitet, offensichtlich eine Pressekonferenz mit einem weltweiten Echo. Das zweite Datum liegt ein bißchen mehr als eine Woche später: die Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrags in Paris am 22. Januar. Ein drittes Datum liegt eine Woche später: der 29. Januar in Brüssel, das — wie ich sagen möchte und hoffentlich sagen kann — einstweilige Scheitern der Bemühungen um den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.Meine Damen und Herren, je weiter man manchmal von den Dingen weg ist, desto eher ist man geneigt, sozusagen Kausalität zwischen diesen drei Daten herzustellen oder jedenfalls eine Art inneren Zusammenhangs darzustellen. Das entspricht nicht den Tatsachen. Ich bin mir aber darüber klar — und ich bin mir gleich nach der Pressekonferenz des Generals de Gaulle darüber klar gewesen —, daß wir einiges tun müssen und einiges tun mußten und einiges getan haben, um zu vermeiden, daß wir irgendwie in ein falsches Licht geraten könnten; denn es gibt viele Länder in der Welt, die sich vielleicht dann und wann etwas Zwielicht erlauben können. Wenn es aber ein Land gibt, das sich unter gar keinen Umständen Zwielicht erlauben kann, dann ist es unser Vaterland,
weil es, sobald etwas wie ein Zwielicht aussieht, noch so viele alte Erinnerungen und so viele noch unaufgelöste Vorbehalte gegenüber den Deutschen gibt, daß man unter Umständen sehr schnell in einer sehr schwierigen Situation dastände.Was ist nun geschehen? Ich sage das hier mit solcher Deutlichkeit, um auch hier wieder einer sich möglicherweise weiter entfaltenden Legende entgegenzutreten. Am 14. Januar war jene Pressekonferenz in Paris. Ich habe am 15. Januar, also an dem Tage darauf, in Brüssel eine ganz klare und ganz eindeutige Stellungnahme zu diesen das Thema betreffenden Ausführungen des französischen Staatspräsidenten abgegeben, so klar und so eindeutig,daß über die Position, die wir in dieser Frage des Beitritts Großbritanniens einnehmen, überhaupt kein Zweifel aufkommen konnte. Ich habe das vielleicht sogar ein bißchen nachdrücklicher getan, als es dem einen oder anderen in dem Augenblick richtig erschienen sein mag. Ich habe es getan im ganz klaren Bewußtsein unseres Zeitplanes und unseres Fahrplanes.Ich darf Sie vielleicht noch einmal an die weiteren Stadien dieses Fahrplanes erinnern. Der Herr Bundeskanzler hat die verantwortlichen Spitzen der Fraktionen ein paar Tage später, nämlich am 18. Januar, bei sich gehabt. Wir haben an diesem 18. Januar über diese Fragen ganz offen gesprochen. Dieses Zusammensein bei dem Herrn Bundeskanzler diente der Vorbereitung unserer Reise nach Paris. Ich habe aus diesem Anlaß das, was wir in Paris unterzeichnen wollten, sehr ausführlich, ich möchte sagen, beinahe wörtlich vorgetragen, und die Anwesenden werden sich daran erinnern: das hat damals eine einhellige Zustimmung gefunden, so daß wir hinsichtlich dieser vorgesehenen Reise eine ganz klare Linie hatten.
— Herr Kollege Mommer, ich schildere die Sache ganz vollständig, Sie werden es gleich hören.Wir waren uns also in dem Vorhaben, das für Paris bestand, völlig einig. Im übrigen handelte es sich nicht um ein neu angekündigtes Vorhaben, sondern um ein Vorhaben, von dem jedermann seit' dem Spätherbst wußte, daß es vorbereitet war, und der sorgfältige Zeitungsleser oder jemand, der an anderen Informationen teilnahm, kannte den Inhalt dessen, was vereinbart werden sollte, je sehr genau.Wir haben dann die Zustimmung zu unserem Vorhaben auf der Basis, sagen wir einmal, einer Verständigung, etwa in folgendem Sinne bekommen: Wir stimmen dem, was ihr hier beabsichtigt, völlig zu. Derselbe Eindruck, wie er sich auch aus der Debatte erigbt! Der eine oder andere hat sogar gesagt, man könne eigentlich noch etwas weitergehen in den beabsichtigten Vereinbarungen. Es wurde gesagt, die Zustimmung geschehe auf der Basis unserer Erklärung, daß wir uns so, wie wir uns vor Paris eindeutig für den Beitritt Großbritanniens eingesetzt hätten, auch in Paris bei dieser Sache eindeutig in dieser Richtung einsetzen würden.Meine Damen und Herren, so sind wir am 18. Januar verblieben, und so haben wir uns in Paris verhalten, ganz klar entsprechend dem, was wir vorher von uns aus erklärt hatten, und entsprechend dem, was uns sozusagen als eine Art Mandat mitgegeben wurde.Ich habe noch wenige Stunden, bevor dieser Vertrag im Elysée unterzeichnet wurde, in einer für das Deutsche Fernsehen veranstalteten' Sendung dem Sinne nach etwa folgendes gesagt: Das, was wir hier zu tun vorhaben, ist eine gewisse Bestätigung der heutigen Entwicklung der deutschfranzösischen Freundschaft, ist die Vereinbarung
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2636 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Bundesminister Dr. Schrödereiner bestimmten Art von künftiger Zusammenarbeit, deren Kernstück das Konsultieren ist. Ich komme darauf gleich noch einmal zurück. Das ist eine Methode der Zusammenarbeit, die hier unter Freunden vereinbart wird. Und ich habe ganz klar gesagt: Dies bedeutet nicht, daß wir hier sozusagen einen Blankoscheck für die französische Politik ausstellen — davon kann doch überhaupt keine Rede sein —, sondern wir haben eine Methode vereinbart, nach der wir in Zukunft miteinander umgehen wollen und nach der wir uns unter Freunden unterhalten wollen. Ich habe hinzugefügt: Es kann Meinungsverschiedenheiten unter Freunden geben; ja, es kann unter Umständen sogar schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten unter Freunden geben. Und hier gibt es ein paar Punkte, von denen alle Welt weiß, daß wir in ihnen nicht einig sind. Aber es ist eben eine Frage, wie man mit seinen Freunden umgeht und was man für den Umgang mit ihnen vereinbart; und das haben wir hier getan.Nun, meine Damen und Herren, eine Woche später waren wir in Brüssel, und niemand wird auch nur den Schatten eines Zweifels auf dem Verhalten der deutschen Delegation in Brüssel sehen wollen. Wir haben in Brüssel haargenau das getan und durchgehalten, was wir vor Paris getan haben, was wir in dieser Frage in Paris getan haben, was wir nach Paris getan haben und, wie ja jeder sehen und hören kann, heute in derselben klaren Weise zum Ausdruck bringen.In Brüssel hatte sich eine Situation ergeben, die sicherlich keineswegs angenehm war, vom Standpunkt der deutschen Delegation aus betrachtet; denn es wäre uns sehr, sehr, sehr viel lieber ,gewesen, wenn es uns gelungen wäre, in Brüssel eine Formel zu finden, die nicht zu diesem doch recht massiven einstweiligen Stopp der Verhandlungen geführt hätte, sondern die die Möglichkeit gegeben hätte — nachdem man eine gewisse Zeit 'gewonnen hätte —, in diesen Verhandlungen fortzufahren. Wir haben in Brüssel die Überzeugung ausgesprochen — und diese Überzeugung ist völlig unverändert geblieben —, daß diese an sich sehr schwierigen Fragen, die es zu lösen galt, doch ganz offensichtlich nicht Fragen seien, die eine lange Dauer beinhalteten, die die eigentliche Dauer des Beitritts Großbritanniens beinhalteten, sondern Fragen, bei denen es sich um eine Übergangszeit drehte. Niemand wird daran zweifeln, daß es natürlich einer gewissen Einplanungs- und Anlaufzeit bedarf, wenn ein so großer und bedeutender Wirtschaftskörper — ich spreche jetzt einmal von Großbritannien als von einem Wirtschaftskörper — sich in die europäische Gemeinschaft einfügen will.Das war nach Meinung der Fünf ziemlich dicht vor dem Abschluß. Wenn Sie jetzt die Ausführungen lesen, die Präsident Hallstein darüber in Straßburg gemacht hat, wenn Sie die Reden lesen, die Herr Mansholt gerade über den schwierigen Agrarsektor gehalten hat, dann hat die Grundposition, die wir Fünf dort bezogen haben, doch offensichtlich sehr viel sachlich Richtiges in sich getragen.Es ist uns nicht gelungen, die andere Seite zu überzeugen, soviel Mühe wir auch darauf verwendet haben. Das bedeutet — ich neige gar nicht dazu, die Bedeutung dieses Vorgangs irgendwie zu verkleinern —, daß große Hoffnungen zunächst einmal zerstört worden sind; denn man sah dem Beitritt Großbritanniens etwa Anfang des nächsten Jahres mit großen Hoffnungen entgegen. Das haben wir eigentlich alle hier überall so dargestellt. Ich erinnere mich an das, was ich zuletzt gerade den Berlinern über diese Frage Großbritannien gesagt habe: daß nämlich für uns die Vergrößerung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um die Kraft Großbritanniens sozusagen eine gewisse Krönung dessen zu sein scheine, was wir seit vielen Jahren betrieben haben, wovon wir uns versprächen, daß daraus die Wirkung der Bildung neuer Kräftefelder hervorgehen würde, die auch im Verhältnis zum Osten bedeutende Veränderungen hervorrufen könnten. Nun, dies war eine große Konzeption, dies bleibt eine große Konzeption, dies bleibt eine notwendige Konzeption, so tief die Enttäuschung heute auch sein mag.Das ist die Einleitung zur Beantwortung der Fragen, die nun hier gestellt worden sind.Herr Kollege Ollenhauer hat die Frage gestellt: Bringt uns das etwa zurück in das 19. Jahrhundert? Stellt dieser deutsch-französische Vertrag etwa eine Wende unserer Politik dar? Er hat die Frage gestellt: Hat dieser Vertrag etwa eine auflösende Wirkung für das bisher Geschaffene? Und er hat die Frage gestellt: Ist diese heutige Entwicklung nicht etwa das Gegenteil von dem, was wir als supranational bezeichnen und was wir lange angestrebt haben?Ich glaube, daß sich einige dieser Fragen leicht beantworten lassen und im Grunde durch die gestern abgegebene Regierungserklärung auch beantwortet sind. Niemand hat die Absicht, hier eine Wende zu vollziehen, niemand hat die Absicht, in das 19. Jahrhundert zurückzugehen, und niemand hat die Absicht, hier etwas Auflösendes zu tun. Aber, meine verehrten Damen und Herren, eine Klarstellung würde ich doch sehr gern vornehmen. Ganz sicher ist nicht alles, was etwa in den letzten anderthalb Jahren auf dem Gebiet politischer Einigung in Europa betrieben worden ist, unter dem Stichwort „supranational" zusammenzufassen. Davon kann keine Rede sein. Denken Sie daran, wie die politische Union geschaffen werden sollte. Sie sollte zunächst einmal als ein Zusammenschluß geschaffen werden, dem offensichtlich jenes Kriterium des „Supranationalen" fehlte und womöglich noch sehr lange gefehlt hätte. Ich glaube, man darf also nun nicht in einen Gegensatz zueinander bringen: supranationale Konzeption damals und kleinere — um den Ausdruck zu gebrauchen — Konzeption heute.Wir haben heute vielleicht ein 'bißchen besser erkannt, als man es vor vielen Jahren sehen konnte, daß der Weg bis zu einem wirklich integrierten Europa doch offensichtlich noch ein gutes Stück länger und langwieriger ist, als wir es manchmal angenommen hatten. Wir sind zu der Überzeugung gekommen — und das ist eine Überzeugung, die ja auch hier in mehreren Debatten eine Rolle gespielt
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2637
Bundesminister Dr. Schröderhat —, daß wir nicht das Integrierungsziel aufgeben dürften, daß wir uns aber auf dem Wege dorthin der jeweils möglichen und nach unserer Meinung brauchbaren Methoden bedienen müßten.Sosehr es also richtig ist, daß hier 'derzeit keine supranationale Entwicklung stark gefördert worden ist und auch nicht stark gefördert werden kann, bleibt das Ziel des vereinigten Europas ein Ziel auch dieses deutsch-französischen Vertrages, wie in der ,gemeinsamen Erklärung festgehalten ist. Deswegen ist der Vertrag nicht etwa eine Wende und er ist auch nicht etwa — und ich beziehe mich hier auf Herrn von Brentano, der diesen Ausdruck gebraucht hat — eine bilaterale Allianz. Er ist keineswegs als solche gedacht. Ich sage noch einmal: Er ist nicht etwa die Unterschrift schlechthin unter eine französische Politik, sondern er ist ein Abkommen zur Entwicklung und Vereinbarung und — lassen Sie 'mich sagen — zur Förderung einer gemeinsamen Politik mit einem ganz klaren Ziel, nämlich dem eines vereinten Europas.
Meine Damen und Herren, nun bleiben mir nur noch .ein paar Worte an die Adresse all derjenigen, mit denen wir es dabei in der Zukunft zu tun haben werden. Das eine ist ein Wort an Großbritannien. Das Wort an Großbritannien bedeutet zunächst einmal die Anerkennung und ,die Bekräftigung der Tatsache, daß Großbritannien nun nicht etwa das Brüsseler Ereignis dahin deutet, daß die Folge ein neuer Kurs Großbritanniens wäre. Wir erkennen die Bedeutung der Tatsache an, daß sich die britische Regierung entschlossen hat, an ihrem Europa-Kurs festzuhalten. Dieses Festhalten am Europakurs ist die entscheidende Voraussetzung für 'alles Weitere, was sich entwickeln wird.Nun ist hier die Frage gestellt worden, in welcher Weise sich dieses Ziel bei der gegebenen Grundeinstellung Großbritanniens weiter fördern lassen werde. Es ist in der Tat zu früh, schon irgendeine Art von Festlegung vorzunehmen, welcher mögliche Weg beschritten werden wird. Hier sind darüber einige Andeutungen gemacht worden. Wir sind dabei, zu prüfen, ob die Westeuropäische Union, die, ja ein Siebener-Gremium ist, ein geeignetes Gremium ist, um durch Konsultation dort das Beitrittsproblem ein Stück voranzubringen. Da Deutschland im Augenblick den Vorsitz im Ministerrat der Westeuropäischen Union führt, liegt es nahe, :daß wir uns um diese Frage besonders bemühen. Wir glauben aber, daß die Einberufung einer Ministerkonferenz in diesem Rahmen erst dann sinnvoll ist, wenn man vorher doch durch mehr bilaterale Berührungen ein Stück Fortschritt als einigermaßen gesichert ansieht; denn es hat keinen Zweck, daß wir in jenem Siebener-Gremium zusammenkommen, um nur noch einmal Klagen über das Brüsseler Ereignis zu äußern. Zweck hat es nur, wenn wir konkret ein Stück weiter vorangehen können.Deswegen bleibt die Frage: Welche anderen Möglichkeiten gibt es dafür? Wir haben die Frage geprüft und prüfen die Frage weiter, was geschehen kann, um weitere bilaterale Kontakte zu pflegen.Diese bilateralen Kontakte gehören sowieso zu unseren täglichen Vorgängen. Deswegen — und das ist ein Bemühen, bei dem wir augenblicklich sind — werden wir zunächst alles, was wir tun können, versuchen im Rahmen dieser bilateralen Kontakte. Ich glaube aber auch, daß die Hinweise auf andere Gremien — auch auf die NATO ist als ein Konsultationsgremium verwiesen worden, ebenso auf die OECD — sehr wertvoll und wichtig waren. Solche Hinweise bedeuten aber immer erst dann etwas, wenn man vorher jene Schritte etwas klarer ins Auge gefaßt hat, die dem Ziel dienen können, nämlich zunächst einmal unter den Sechs zu einer Übereinstimmung über die Modalitäten des britischen Beitritts zu kommen.In diesem Zusammenhang ist es durchaus möglich, daß man auf einen Gedanken zurückgreift, den man früher einmal gehabt hat, einen Gedanken, der auch heute erwogen wird: ob nicht unter Umständen eine Zwischenlösung im Bereich der Assoziierung angestrebt werden kann, die eines Tages in eine volle Lösung hineinwachsen könnte. Daß es dagegen auch viele Bedenken gibt, liegt auf der Hand. Aber ich möchte die Möglichkeit dieses Weges nicht ausgeschlossen haben. Wenn man sich innerlich für einen bestimmten Zeitpunkt zu einer vollen Lösung entschließen kann, dann mag eine Zwischenlösung eine Möglichkeit darstellen.Ich habe also die Hoffnung, wenn auf dieser Seite, d. h. auf der Seite der Fünf und des Einen, also auf der Seite der Sechs, derselbe Wille lebendig bleibt bzw. aktiver wird, als das in Brüssel der Fall gewesen ist, und sich mit dem unveränderten Willen Großbritanniens trifft, daß wir dann dieses Ziel erreichen können.Mir liegt aber daran, noch ein Wort an die Adresse der Vereinigten Staaten von Amerika zu sagen. Sie wissen, daß augenblicklich Staatssekretär Carstens drüben zu Besprechungen ist, die dem Ziel dienen, unsere Haltung sowohl in der europäischen Politik wie in der atlantischen Politik darzulegen. Ich habe die Hoffnung, daß es ihm gelingen wird und gelungen ist, Verständnis für die Gesichtspunkte zu gewinnen, die wir hier auch in der Regierungserklärung und heute in der Debatte vertreten haben. Wir haben uns mit einer solchen Eindeutigkeit, wenn das überhaupt noch nötig gewesen wäre, für das atlantische Bündnis ausgesprochen, wir haben mit einer solchen Klarheit die auch deutscherseits gegebene Interessenlage gekennzeichnet, daß es eigentlich keinen Zweifel an unserer Grundeinstellung geben sollte. Für uns, meine Damen und Herren, ist der Kanal nicht, was er früher vielleicht einmal war, eine wirksame Wassergrenze zwischen dem Kontinent und Großbritannien, für uns ist auch der Atlantik nicht mehr eine unübersehbare Wasserfläche, hinter der irgend etwas liegen mag, was sich die Neue Welt nennt, sondern für uns sind dies alles Wirklichkeiten, die mit den Augen der modernen Technik gesehen und gewertet werden müssen.Meine Damen und Herren, wenn es möglich ist — ich sehe das jetzt nur einen Augenblick einmal unter einem militärischen Gesichtspunkt —, daß man im Grunde binnen weniger Tage zwei ganze amerika-
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2638 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Bundesminister Dr. Schrödernische Devisionen durch die Luft nach Europa verlegen kann, dann kann man, glaube ich, nicht mehr davon sprechen, daß der Atlantik eine Trennung bedeutet, die in Augenblicken der Gefahr unüberwindliche Hindernisse aufwürfe. Ich glaube, wir brauchen hier ein etwas moderneres Anschauungsbild davon, daß diese Welt in einer ganz anderen Weise zusammengewachsen ist, als man das vielleicht vor 30, 40, 50 Jahren für möglich gehalten hätte.Nun noch ein einziges Wort zum Schluß. In diesen Tagen, in denen es wirklich sehr viele Sorgen und Bewegungen in der Welt gegeben hat, gibt es ganz bestimmt eine Stelle in der Welt, in der man aufs äußerste angenehm berührt ist, und das ist der Kreml in Moskau. Man braucht sich nicht sehr viel Mühe beim Nachdenken zu geben, man braucht nur einen Blick in die sowjetischen Publikationen zu werfen, dann wird man sehen, was dieser Rückschlag in Brüssel tatsächlich für Wirkungen ausgelöst hat. Denn wie war die Lage? Ein ganz klares Bild: Kuba war von der sowjetischen Entwicklung aus gesehen ein Punkt, der nicht so ganz leicht überwunden werden konnte. Was es für eine Weltmacht heißt, irgendwo einen großen Teil ihres Raketenpotentials zu placieren und es dann auf denselben Schiffen, mit denen es hintransportiert worden ist, unfreiwillig wieder abzutransportieren, das will ich hier im einzelnen gar nicht weiter beschreiben. Das muß man sich nur ein bißchen plastisch vorstellen, um einen geringen Begriff davon zu bekommen, was sich in Wirklichkeit in den Köpfen der Herren des Kreml seit Kuba abspielt. Und nun kommt ihnen etwas entgegen, was von ihnen aus gesehen wie ein großes Geschenk wirken muß.
Gerade hatte man einen Augenblick geglaubt, daß die freie Welt zu etwas fähig schiene, was in die sowjetische Theorie nie hineingepaßt hätte: einen Zusammenhang und einen Zusammenhalt darzustellen, der eine unüberwindliche Kraft bedeuten würde. Und nun glauben sie plötzlich, Spaltungserscheinungen, jedenfalls große Schwierigkeiten im westlichen Lager zu sehen. Das muß man klar erkennen..Deswegen glaube ich, daß dieselbe Klarheit und Einschätzung der Interessenlage in dem West-OstVerhältnis, die uns bis an diese Stelle positiv gebracht hatte, es uns auch morgen ermöglichen muß, dieses Werk wirklich zu vollenden. Wenn wir in diesem Sinne sowohl- an das Konsultieren mit unseren französischen Freunden herangehen als auch an die weitere Zusammenarbeit im europäischen Rahmen, dann wird dies nicht ein definitiver Rückschlag, nicht ein definitiver Stopp sein, sondern es wird nur eine Verzögerung bedeuten. Und — das sage ich ganz offen — es liegt zu einem ganz großen Teil an uns allen, wie kurz die Verzögerung sein mag. Ich habe' die Hoffnung, daß das Ergebnis der heutigen Debatte in seiner Auswirkung dazu beiträgt, die Verzögerung so kurz wie nur möglich zu halten.
Das Wort hat(' der Herr Abgeordnete Dr. Jaeger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe natürlich nicht die Absicht, dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen zu anworten, mit dessen Ausführungen meine politischen Freunde aus -der Christlich Demokratischen und Christlich Sozialen Union einig gehen, sondern ich habe die Absicht, in erster Linie — wie schon des öfteren — Herrn Kollegen Erler zu antworten, nicht deswegen, weil ich ihn für einen Propheten halten würde — seine Ankündigungen in diesem Hause in den letzten zehn Jahren sind, weiß Gott, nicht immer eingetreten —,
sondern deshalb, weil seine Person und seine Worte so bedeutend sind, daß sie nicht in allem unwidersprochen bleiben dürfen.Herr Kollege Erler hat den deutsch-französischen Vertrag von Paris in den nun einmal — leider Gottes — gegebenen zeitlichen Zusammenhang mit dem Scheitern der Verhandlungen in Brüssel gebracht. Ich möchte meinen, daß es eigentlich eine tragische Sache ist, daß der deutsch-französische Vertrag in jenem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickte, in dem die Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zum vereinten Europa gescheitert sind. Dadurch ist der deutsch-französische Vertrag in seiner Bedeutung verdunkelt; das heißt, er ist sehr rasch von den ersten Seiten unserer Zeitungen verschwunden. Nun, ob ein politisches Ereignis geschichtliche Bedeutung erlangt, richtet sich nicht nach den Zeitungsüberschriften; das hängt von der Zukunft ab.Aber viel schlimmer, so meine ich, ist, daß der Sinn dieses Abkommens vernebelt und verschoben worden ist, weil ihm eine Tendenz gegen irgend jemand anderen unterschoben worden ist, die gar nicht in diesem Vertrag vorhanden ist. Meine Damen und Herren, der Herr Bundesaußenminister hat schon mit Recht gesagt, daß dieser Vertrag gar keine Wende darstellt; er ist nur die Krönung einer Politik, an der die Bundesregierung und an der auch dieses Parlament nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt arbeiten.Herr Kollege Ollenhauer hat heute vormittag auf die Verdienste deutscher und französischer Sozialdemokraten um die deutsch-französische Verständigung, insonderheit in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, hingewiesen. Meine Damen und Herren, das Tragische ist doch, daß die Bemühungen, die zu dieser Zeit Sozialdemokraten, die zwischen den Kriegen vor allem damals sogenannte bürgerliche Politiker versucht haben, alle gescheitert sind und daß sie uns vor dem ersten und vor dem zweiten Weltkrieg nicht bewahrt haben, daß über unser Volk und über das französische Volk und über die ganze Welt Not und Tränen und Blut gekommen sind und daß es nun erst nach der zweiten Katastrophe endlich gelungen ist, das, was man in den Schulen beider Nationen fälschlicherweise eine Erb-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2639
Dr. Jaegerfeindschaft genannt hat, zu bannen und daraus Verständigung, Versöhnung und dauerhafte Freundschaft zu formen.Wenn Sie den geschichtlichen Ablauf des Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich in der Zeit der Gegnerschaft und in der Zeit der wachsenden Freundschaft sehen, dann wissen Sie, daß dieses Verhältnis immer eingebettet ist 'in die gesamte europäische Politik; ja ich glaube sagen zu müssen: die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ist überhaupt die Voraussetzung dafür, daß europäische Politik als gestaltende Kraft möglich ist.
Darum begrüßen wir diesen Vertrag als die Formulierung all dessen, was in ungezählten Gesprächen und Konferenzen und nicht zuletzt in den Staatsbesuchen unseres Bundespräsidenten und unseres Bundeskanzlers wie in dem Staatsbesuch des Generals de Gaulle bei uns in Deutschland schon zum Ausdruck gekommen ist; zum Ausdruck gekommen ist vor allem in den Äußerungen beider Völker.Deshalb halten wir es auch nicht für möglich, daß zwischen diesem Vertrag und irgendwelchen anderen gegenwärtigen oder künftigen Verträgen ein Junktim geschaffen werden kann. Eine Freundschaft ist, privat und zwischen den Völkern, etwas Absolutes, und man kann sie nicht an Bindungen knüpfen, sonst sät man Mißtrauen. Andererseits ist eine Freundschaft im privaten wie im öffentlichen LebenB) eine Angelegenheit, die nur 'im Geiste der Offen- heit und Ehrlichkeit gepflegt werden kann; das heißt, auf dem Boden dieser Freundschaft ist es uns möglich, unsere Auffassungen von dem Bau des gemeinsamen Europa unseren französischen Freunden und auch dem französischen Staatspräsidenten in aller Deutlichkeit viel besser darzulegen, als wenn diese Freundschaft nicht geschlossen oder nicht formuliert wäre.
Schließlich enthält dieser Vertrag die Pflicht zur Konsultation, und das, meine Damen und Herren, was uns diesmal alle unangenehm überrascht hat — daß die Erklärung des französischen Staatspräsidenten in seiner Pressekonferenz ohne jede vorherige Kenntnisnahme bei uns so plötzlich in die Welt gesetzt wurde —, das wird eben nach der Ratifizierung dieses Vertrages nicht mehr möglich sein. Wir werden also mit einer baldigen, nicht übereilten, aber doch zügigen Verabschiedung dieses Vertrages auch der Sache Gesamteuropas dienen.Dazu kommt ein anderes. Das Scheitern der Verhandlungen in Brüssel ist ein großes Unglück für Europa und damit auch für unser Volk. Aber es ist keine Katastrophe. Ich brauche nur auf das zu verweisen, was am 'Ende seiner Ausführungen der Herr Bundesaußenminister gesagt hat, der von einer Verzögerung sprach, die überwunden werden kann und die, wie 'wir alle wissen, hoffen und gestalten wollen, auch überwunden werden wird. Wenn aber dieser Vertrag nicht ratifiziert würde, wäre das ,ein Anzeichen dafür, daß wir die Freundschaft mitFrankreich nicht wollten; und das Scheitern dieser Freundschaft — das wäre wahrhaftig kein Unglück mehr, das wäre eine Katastrophe, die man nicht mehr reparieren könnte.
Man hat im Zusammenhang mit diesen Dingen gesagt, der Herr Bundeskanzler hätte energischer, oder, was vielleicht richtiger ist: erfolgreicher auf den General de Gaulle, mit dem er so gut steht und auf den er, wie man sagt, einen gewissen Einfluß hat, einwirken sollen, um das Scheitern der Verhandlungen in Brüssel zu verhindern. Meine Damen und Herren, ganz abgesehen davon, daß dazu der Besuch des Bundeskanzlers in Paris bereits zu spät erfolgt ist, darf ich doch meinen, daß man hier auf seiten der Opposition den Bundeskanzler überfordert, was man sonst in der Einschätzung seiner Persönlichkeit nicht unter allen Umständen immer getan hat. Denn Sie erwarten sich vom Herrn Bundeskanzler das, was einem Roosevelt, was einem Churchill, was einem Kennedy und was einem Macmillan nicht .gelungen ist. Wenn Sie einmal die Memoiren des Generals de Gaulle lesen sollten, die inhaltlich und formal zu lesen außerordentlich interessant ist, werden Sie sehen, daß es gar nicht so einfach ist, diesen Mann dann zu beeinflussen, wenn er bereits eine feste Entscheidung getroffen hat. Dann muß man wohl einige Zeit vorübergehen lassen, bis man zu einer Änderung seiner Politik kommen, bis man auf diese hoffen kann. Falls es wahr sein sollte, was man immer wieder hört, nämlich daß der letzte Grund — ob der bestimmende oder nur der auslösende, weiß ich nicht — für das Verhalten der französischen Regierung in Brüssel das Abkommen von Nassau gewesen ist, würde ich überhaupt glauben, daß der Schlüssel zum französischen Verhalten nicht in Bonn liegt, sondern einzig und allein in Washington.
Wie man in Washington diesen Schlüssel gebrauchen wird und wann man ihn gebrauchen wird, weiß ich nicht; aber jedenfalls' haben wir diesen Schlüssel nicht in der Hand.Man sagt, es sei zu wählen zwischen der Freundschaft mit Frankreich und der mit Amerika. Mir scheint das ein sehr kurzsichtiges, ein sehr dummes Wort zu sein. Im „Sonntagsblatt" in Hamburg ist am 2. Februar eine sehr hübsche Karikatur erschienen. Auf der ersten Seite finden Sie unseren Bundeskanzler in Unterwäsche und rechts von ihm einen Mann — er stellt offensichtlich den französischen Staatspräsidenten dar —, der eine Hose über dem Arm trägt, auf der die Worte stehen: „Französisch-deutsche Freundschaft". Auf der anderen Seite finden Sie den amerikanischen Präsidenten, der eine Joppe trägt, auf der zu lesen steht: „Amerikanisch-deutsche Freundschaft", und darunter steht: „Wollen Sie nun Jacke oder Hose?"Meine Damen und Herren, ein Mann, der in dieser Situation ist wie der Herr Bundeskanzler auf dem Bild, braucht, nicht nur, wenn es so kalt ist wie in diesen Tagen, unbedingt sowohl die Jacke wie 'die Hose.
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2640 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Dr. JaegerDa die Kälte in der Politik wohl etwas länger dauern wird — ich meine hier den Kalten Krieg — als die Kälte, die zur Zeit in Mitteleuropa herrscht, brauchen wir eben politisch sowohl die Freundschaft mit Amerika als auch die Freundschaft mit Frankreich. Wir können ohne beide nicht leben.Das deutsch-französische Abkommen ist keine Verschwörung, wie die Sowjetunion in ihrer jüngsten Note meint; denn es richtet sich gegen niemand. Es handelt sich aber auch nicht um irgendeinen Sonderbund innerhalb der NATO oder innerhalb Europas. Ich kann gar nicht verstehen, was Herr Erler hier für Sorgen hat 'hinsichtlich des Stimmengewichts, das sich ergeben würde, wenn die deutschen und die französischen Stimmen immer gemeinsam abgegeben würden. Ich meine, daß das nicht einmal eine Gefahr für andere wäre in den europäischen Parlamenten, deren Bedeutung, wie Sie wissen, nur sehr begrenzt ist.
— Das entscheidende Gremium ist ja wohl der Ministerrat, in dem jedes Land eine Stimme hat.
— Verzeihen Sie, Herr Erler, aber in verschiedenen europäischen Verträgen ist es so geregelt, daß nach der Bevölkerungszahl die Abgeordneten für das Parlament gewählt werden, so daß Deutschland und Frankreich mehr Abgeordnete haben als etwa die Beneluxländer. Andererseits ist es im MinisterratB) so, daß bei der Montanunion oder bei der WEU die Länder jeweils mit einem vertreten sind. — Bitte sehr!
Dort sitzt ein Minister. Aber, Herr Kollege, wollen Sie nicht vielleicht doch den Vertragstext lieber noch einmal daraufhin überprüfen, daß es im Ministerrat tatsächlich ein abgewogenes Stimmenverhältnis gibt, das immer dann in Frage kommt, wenn Mehrheitsentscheidungen nach dem Vertrag gefällt werden können, und nur dann nicht, wenn Einstimmigkeit erforderlich ist.
Jedenfalls, Herr Kollege Erler, ist in jedem dieser — —
— Ja, Sie wollen jetzt auf das Vetorecht hinaus, auf die Sperrminderheit. Das will ich Ihnen nicht bestreiten. Aber bei der Abstimmung selbst hat jedes Land eine Stimme. Darauf wollte ich hinaus. Infolgedessen stehen immer, wenn der Fall jemals eintreten oder gar zur Regel werden sollte, nur zwei gegen vier, und die zwei können den anderen nicht ihren Willen aufzwingen, weil sie eben nicht die Mehrheit haben. Aber abgesehen davon ist es ja gar nicht im Sinn des Vertrages. Wenn Sie den Vertrag, von dem wir jetzt gerade sprechen, nämlich den deutsch-französischen Vertrag, noch einmal lesen, Herr Kollege Erler, werden Sie daraus ersehen, daß das in diesem Vertrag auch gar nicht beabsichtigt ist. Sicher ist Ihnen das auch bekannt.Außerdem sind wir der Meinung, daß es falsch wäre, die Isolierung Großbritanniens, die in diesem Augenblick eingetreten zu sein scheint, die wir bedauern und die wir verhindern wollen, durch eine Isolierung Frankreichs zu beantworten. Wir wollen kein Land in Europa isolieren, so wie wir auch selbst nicht isoliert werden möchten, sondern wir möchten, daß alle zusammenwirken.Meine Damen und Herren, es sind besondere Bedenken gegen jenen Teil des deutsch-französischen Vertrages erhoben worden, der mir nach meiner Tätigkeit in diesem Hause — ich meine den militärischen Teil dieses Vertrages — besonders naheliegt. Der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages, dessen Vorsitzender ich bin, wird diesen Vertrag sicherlich zur Mitberatung überwiesen bekommen. Sie können sicher sein, daß er diese Passagen gründlich beraten und daraufhin prüfen wird, ob irgendwelche Verstrickungen mit dem NATO-Vertrag eintreten könnten. Meine persönliche Prüfung des Vertrages hat ergeben, daß solche Schwierigkeiten nicht vorhanden sind. Ich entnehme dem Sinn und dem Wortlaut des Vertrages, daß er sich im Rahmen der NATO hält. Im Rahmen der NATO sollen solche Probleme gemeinsam erörtert werden, die man als nachbarschaftliche Probleme ansprechen muß. Es sind Verhältnisse, die bei der militärischen und vielleicht noch mehr bei der zivilen Verteidigung eintreten können, Verhältnisse, die in gleicher Weise nur noch zwischen Deutschland und den Benelux-Staaten, sonst aber kaum zwischen anderen NATO-Staaten eintreten könnten. Ich glaube, hier sind die Bedenken 'unbegründet.Da ich nun schon bei den militärischen Fragen bin, muß ich auf das eingehen, was Herr Kollege Erler hier zur strategischen Situation der Gegenwart gesagt hat. Er hat gesagt, der „new look" der amerikanischen Politik solle dazu führen, daß der Westen in Zukunft nicht mehr die Wahl allein zwischen der Kapitulation und dem totalen, alles mehr oder minder zertrümmernden Atomkrieg habe. Das ist durchaus ein beachtenswerter Gesichtspunkt. Die Politik der abgestuften Abschreckung ist ja schon immer unser strategisches Konzept gewesen, das Konzept der NATO und das Konzept der Bundesregierung und der Mehrheit dieses Hauses.Ich glaube aber, es wäre doch falsch, aus dem großen Erfolg von Kuba allzu viele strategische Konsequenzen zu ziehen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß jene Überlegenheit der Vereinigten Staaten in konventionellen Waffen, die dazu geführt hat, daß sie in Kuba Erfolge erzielen konnten, ohne Atomwaffen einzusetzen, für Deutschland oder für die NATO überhaupt in Mitteleuropa je geschaffen werden könnte. Das ist bei den Zahlenverhältnissen, die hier maßgebend sind, überhaupt nicht möglich; das weiß jeder, der sich mit diesen Fragen jemals befaßt hat.
Daraus ist aber zu folgern, daß die Bedeutung deratomaren Waffen für Europa unmittelbar viel größerist, als sie es in manchen anderen Teilen der Welt,
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2641
Dr. Jaegeretwa in Kuba oder im Nahen Osten, in den jüngsten Jahren gewesen ist.Daraus folgt nach unserer Überzeugung doch, daß der wichtigste Gesichtspunkt der Politik nicht der ist, ob man nun die Wahl zwischen Kapitulation und totalem Atomkrieg hat. Der wichtigste Gesichtspunkt ist vielmehr der, überhaupt zu verhindern, daß der Krieg je wieder zu einem Mittel der internationalen Politik wird; denn wenn man den Krieg allzusehr verharmlost, indem man sagt, daß konventionelle Kriege ja ruhig geführt werden könnten, dann wird man zu unserem Nachteil handeln; wir sind es nämlich, auf deren Rücken ein konventioneller Krieg geführt würde. Wenn wir den Krieg überhaupt wieder salonfähig machen, so führen wir ihn wieder in die Politik ein. Und das ist es, was wir in den vergangenen Jahren in der NATO mit unserer gemeinsamen Politik verhindert haben und was wir auch in Zukunft verhindern wollen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu den Ereignissen in Brüssel zurückkehren, die ich weiß Gott nicht verniedlichen will. Ich will sie vor allem deswegen nicht verkleinern, weil ein Wort von Chruschtschow überliefert wird, der gesagt haben soll, das Ereignis von Brüssel, der Streit zwischen den Europäern sei ein Geschenk des Himmels. Ob der russische Diktator dieses Wort gebraucht hat oder nicht, — es ist auf jeden Fall tieftraurig, daß innerwestliche Gegensätze genau in einem Augenblick auftreten, in dem inneröstlicheGegensätze weltbekannt geworden sind und natürlich zu einer gewissen Erleichterung der Weltsituation geführt haben. Man mag es vielleicht beruhigend finden, daß die Situation im Augenblick nicht so bedrohlich ist, wie sie es vor wenigen Jahren war. Aber, meine Damen und Herren, man muß es doch als traurig empfinden, daß der Westen nicht auch in diesem Augenblick jene volle Einigkeit beweist, die notwendig ist, wenn er sich behaupten und die Gunst der Stunde zur Erhaltung des Friedens und der Freiheit nutzen will.Dazu aber kommt etwas anderes. Der Entscheid von Brüssel ist nach meiner Überzeugung ein Entscheid gegen die geschichtliche Entwicklung; denn der Sinn der Politik dieses Jahrhunderts liegt doch in der Einigung unseres Erdteils. Dieser Sinn darf nicht verfälscht werden. Die Einigung kann auch nur kurzfristig aufgehalten werden. Herr Erler war der Meinung, das Ereignis von Brüssel sei die Schuld eines einzigen Mannes. Nun, wenn dem wirklich so ist, dann brauchen wir ja nicht allzu besorgt zu sein; denn daß ein einzelner Mann, selbst wenn er eine so achtenswerte Persönlichkeit und ein so großer Staatsmann ist wie der französische Staatspräsident, den Gang der Weltgeschichte auf die Dauer aufhalten kann, das glaubt ja wohl nicht einmal Herr Erler. Wenn Herr Erler sich mit Herrn Präsidenten de Gaulle befaßt, und wenn er Bedenken hat, daß de Gaulle die europäische Einheit verhindert, desintegrierend wirkt und all das verlangsamt, was wir hier erstreben, wenn er das so darlegt — es ist seine Darlegung — , habe ich den Eindruck, daß Herr Erler Herrn de Gaulle allediejenigen Fehler unterschiebt, die die deutschen Sozialdemokraten in den vergangenen zehn Jahren begangen haben.
— Nicht mehr heute begehen, o nein, begangen haben!
Wenn ich aber schon von der Vergangenheit rede, nachdem hier die Montanunion — —
— Der Zwischenruf wurde hier schon oft gemacht, Herr Blachstein, er ist gar nicht mehr originell.
— Nein, nein, es war deutsch, Herr Erler.Aber wenn ich nun schon von der jüngsten Vergangenheit rede, und wenn Herr Erler so ausführlich von der Montanunion gesprochen hat und er seine damalige Haltung für richtig und die unsere für falsch gehalten hat, habe ich folgenden Eindruck: Nach der Meinung des Herrn Erler war die Politik der Christlich-Demokratischen und der ChristlichSozialen Union falsch; aber sie hat zu richtigen Ergebnissen geführt,
während die Politik der Sozialdemokraten richtig war, aber zu falschen Ergebnissen geführt hätte, wären sie in der Regierung gesessen, und 'deshalb jetzt hat revidiert werden müssen.
Hier scheinen mir die Begriffe von Ursache und Wirkung und von richtig und falsch völlig durcheinandergebracht zu sein.Wenn Herr Erler in diesem Zusammenhang wieder einmal von dem verlorenen Jahr gesprochen hat, dann kann ich ihm nur antworten: Wir waren von der vierten Regierung Adenauer selbst etwas enttäuscht, und deshalb haben unsere Minister durch ihren gemeinsamen Rücktritt dafür gesorgt, daß eine fünfte Regierung Adenauer gebildet wurde, von der wir hoffen, daß sie auf einer festeren Grundlage steht.
Meine Damen und Herren, wir werden die Regierung nach ihren Taten beurteilen und hoffen, daß sie Sie wieder dazu bringen wird, hinter der Entwicklung einherzumarschieren.
Aber abgesehen von den Dingen, die Herr Kollege Achenbach vorhin schon erwähnt hat, darf ich doch bemerken, daß das Jahr allein schon deshalb nicht verloren war, weil die deutsche Opposition offenbar dieses Jahr gebraucht hat, um in der Außen-
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2642 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Dr. Jaegerpolitik voll und ganz auf unsere Linie aufzuschließen.
Wären wir zu rasch weitermarschiert, hätten Sie wieder den Atem verloren.
Wir werden jetzt weitermarschieren und hoffen, daß Sie diesmal den Atem behalten.
— Der Zuruf, Herr Kollege, erinnert mich an eine Zeit, die uns beiden fernliegen sollte.Wenn hier aber von Zwielicht gesprochen wird, möchte ich sagen: in den 13 Jahren, in denen die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union, teils allein, teils im Bunde mit den Freien Demokraten, die Außenpolitik gestaltet haben, war es die deutsche Bundesregierung, die eine eindeutige Haltung an den Tage gelegt hat.
In nahezu 12 Jahren war es einzig die Opposition, die den deutschen Namen in der Welt gelegentlich ins Zwielicht gebracht hat. Wir sind erfreut. daß dieses Zwielicht nun verschwindet, weil die Opposition diese ihre Bemühungen eingestellt hat. Aber ich muß, wenn hier immer unterstellt oder behauptet wird, die Bundesregierung und damit der Bun- destag und damit Deutschland ständen im internationalen Zwielicht, sagen: Es ist die Opposition, die dieses Zwielicht postuliert, und es wäre gut, wenn die Opposition in der Außenpolitik die Regierung noch stärker unterstützte, damit man nicht mehr von einem Zwielicht sprechen kann.
Herr Abgeordneter Erler, eine Zwischenfrage!
Gern!
Ich hätte gern im Licht dieser letzten Ausführungen von Ihnen gewußt, weshalb Herr Staatssekretär Müller-Armack eigentlich zurückgetreten ist.
Im Zwielicht Ihrer Ausführungen müßte ich darauf antworten, Herr Kollege Erler, daß ich noch nicht die Gelegenheit hatte, mich mit Herrn Staatssekretär Müller-Armack darüber zu unterhalten,
und auch nicht weiß, ob sein Entschluß endgültig
ist. Immerhin ist es ein Zeichen persönlichen Charakters, den ich achte, wenn ich auch persönlich der Auffassung bin — —
— Freut mich, daß ein Staatssekretär unserer Regierung so Ihre Sympathie genießt. Aber ich habe den Eindruck, Herr Schmitt-Vockenhausen, daß unsere Staatssekretäre bei Ihnen nur dann Sympathien genießen, wenn sie gehen, nicht wenn sie arbeiten.
Um aber Ihre Frage nun noch völlig eindeutig zu Ende zu beantworten, möchte ich sagen, daß nach meiner persönlichen Auffassung eine Rücktrittsnotwendigkeit überhaupt nicht besteht, da ja zwischen dem Herrn Staatssekretär, seinem Minister, der Bundesregierung und uns, wie ich hinzufügen darf, überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten bestehen.
— Wir pflegen meist einmütig zu sein, zumindest in Fragen der Außenpolitik. Gerade in diesen Fragen sind wir viel einmütiger, als Sie es sind, verehrter Herr Kollege.
— Ich würde doch sehr bitten, Herr Schmitt-Vockenhausen, bei einer Zwischenfrage ans Mikrophon zu treten, weil es mir sonst nicht möglich ist, Sie zu verstehen, selbst Sie nicht mit Ihrer weittragenden Stimme.
Herr Kollege, ich wollte Sie nur fragen: In welche Reihe von Propheten werden Sie denn vom Bundeskanzler nach Ihren jetzigen Ausführungen eingereiht werden?
Ach, verehrter Herr Kollege, in welche Kategorie einen der Herr Bundeskanzler einteilt, kann man nie vorher wissen.
Das wechselt gelegentlich auch.
Um aber nun zum Thema, dem Scheitern der Verhandlungen in Brüssel, zurückzukehren: wir bedauern doch gemeinsam dieses Scheitern. Als einen besonderen Grund meines Bedauerns möchte ich den aussprechen, daß ich mir vom Beitritt Großbritanniens zu den europäischen Gemeinschaften eine Stärkung der demokratischen und parlamentarischen
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2643
Dr. JaegerInstitutionen, die auf Grund der Verträge gebildet worden sind, erhofft hätte. Als ein europäischer Parlamentarier wünsche ich dies ebenso sehr, wie es vermutlich die Kollegen aus den anderen Fraktionen, links und rechts von uns, wünschen.Aber mir scheint das Scheitern in Brüssel auch aus einem besonderen Grund sinnlos zu sein, und das ist folgender: Es gibt seit alten Tagen den Streit darüber, wie groß und wie fest dieses Europa sein soll. Es hat Jahre gegeben, in denen nur die Möglichkeit gegeben schien, ein größeres Europa, das locker organisiert ist, zu schaffen, oder ein kleineres, ein Kerneuropa, das fest organisiert ist, das supranational, das integriert ist.Wenn diese Wahl zur Entscheidung stand, haben sich meine politischen Freunde immer für das kleinere Europa entschieden, weil sie im festintegrierten Europa den Kern eines großen Europa gesehen haben. Wir haben damit ja auch Recht bekommen, weil nicht nur Großbritannien, sondern auch eine ganze Reihe anderer europäischer Nationen schon bald den Anschluß an dieses Kerneuropa der Sechs gewünscht haben und noch in dieser Stunde wünschen.Dieser Streit war also diesmal gar nicht zu entscheiden, sondern was nun geschehen ist, ist die Tatsache, daß weder die Integration gefördert worden noch eine Erweiterung Europas eingetreten ist. Das müssen wir in besonderer Weise bedauern. Wir meinen aber gerade deshalb, daß wir an dem Begriff Europas, wie er von uns immer vertreten wurde, festhalten müssen, an dem Begriff also der Integration, an dem Begriff einer supranationalen Einheit, an einem Europa, dessen Begrenzung nur durch die Grenzen zwischen der Welt der Freiheit und der Welt der Gewalt gegeben ist, die nun leider in der Mitte unseres Erdteils verläuft. Eine Grenze ist auch noch dadurch gegeben, welches Land beitreten will und welches diese Absicht nicht hat.Der von mir persönlich sehr geschätzte frühere Ministerpräsident Debré hat einmal mit der Formulierungsgabe, die im eigen ist, vom Europe des patries, vom Europa der Vaterländer, gesprochen. Sicherlich eine elegante Formulierung; aber ich meine, meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Europa der Vaterländer das Europa des 19. Jahrhunderts ist und daß die Parole, unter der wie alle, die wir für Europa kämpfen und weiterhin wirken müssen, immer noch „Vaterland Europa" heißt.
Ich meine, daß das die Parole ist für das Europa der zweiten Hälfte des 20. und das Europa des 21. Jahrhunderts, auf das hin wir wirken müssen.
Keine weiteren Wortmeldungen! Die Aussprache ist geschlossen. Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Dr. Wuermeling werden zu Protokoll genommen *).
Meine Damen und Herren, damit sind wir für heute am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 8. Februar 1963, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.