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    Deutscher Bundestag 58. Sitzung Bonn, den 7. Februar 1963 Inhalt: Fragestunde (Drucksache IV/947) Frage des Abg. Wellmann: Gesundheitsschädigende ausländische Lebens- und Genußmittel Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister 2589 B Frage des Abg. Blachstein: Verträge der Bundespost für spanische Gastarbeiter Stücklen, Bundesminister 2589 C, 2590 A Blachstein (SPD) . . . . 2589 D, 2590 A Frage des Abg. Dr. Rinderspacher: Unzulässigkeit der Versendung von leeren Briefumschlägen als Drucksache Stücklen, Bundesminister . . 2590 A, B, D, 2591 A, B, C, D Dr. Rinderspacher (SPD) . . . 2590 B, C, D Dr. Mommer (SPD) 2591 A Dr. Bechert (SPD) 2591 B Dr. Schäfer (SPD) 2591 C Regling (SPD) 2591 C, D Fragen des Abg. Biegler: Schmuckblattformulare Stücklen, Bundesminister . . . . 2591 D Fragen der Abg. Dr. Mommer und Dürr: Doppelte Gebühr für Gespräche bei Störung des Selbstwählverkehrs Stücklen, Bundesminister 2592 A, B, C, D, 2593 A, B, C Dr. Mommer (SPD) 2592 B, C Dürr (FDP) . . . . . . 2592 D, 2593 A Dr. Schäfer (SPD) 2593 B Frage des Abg. Freiherr von Mühlen: International gebräuchliche Adressenschreibung Stücklen, Bundesminister 2593 D, 2594 A, B Freiherr von Mühlen (FDP) 2593 D, 2594 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung: Ollenhauer (SPD) 2594 C Dr. von Brentano (CDU/CSU) . . 2604 C Dr. Mende (FDP) 2610 C Schmücker (CDU/CSU) . . . . 2615 D Erler (SPD) 2621 C, 2631 D Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . . 2629 C Dr. Achenbach (FDP) . . . . . . 2632 B Dr. Schröder, Bundesminister . . . 2634 C Dr. Jaeger (CDU/CSU) . . . . . 2638 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . 2643 D Anlagen 2645 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2589 58. Sitzung Bonn, den 7. Februar 1963 Stenographischer Bericht Beginn: 9.01 Uhr.
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    *) Siehe Anlage 2 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2645 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Dr. Aigner * 9. 2. Arendt (Wattenscheid) * 9. 2. Dr. Arndt (Berlin) 16.2., Dr. Dr. h. c. Baade 8.2. Bals 8. 2. Bergmann * 9. 2. Birkelbach * 9. 2. Fürst von Bismarck 22. 2. Dr. Bleiß 8. 2. Frau Brauksiepe 8. 2. Dr. Burgbacher * 9.2. Cramer 8.2. Dr. Deist * 9. 2. Deringer * 9. 2. Dr. Dichgans * 9. 2. Dopatka 21.2. Dr. Dörinkel 8. 2. Drachsler 8. 2. Dr. Dr. h. c. Dresbach 31. 3. Frau Dr. Elsner * 9.2. Faller * 9.2. Felder 8. 2. Figgen 20.4. Dr. Dr. h. c. Friedensburg * 9. 2. Funk (Neuses am Sand) 16.2. Dr. Furler * 9. 2. Gaßmann 8.2. Gedat 15.2. Dr. Gleissner 8. 2. Gscheidle 7. 2. Hahn (Bielefeld) * 9. 2. Hammersen 8.2. Dr. von Haniel-Niethammer 8. 2. Harnischfeger 15. 2. Hauffe 28.2. Herold 8. 2. Hilbert 8.2. Illerhaus * 9. 2. Kalbitzer * 9. 2. Katzer 28. 2. Frau Kipp-Kaule 8.2. Dr. Klein (Berlin) 8. 2. Klein (Saarbrücken) 15.2. Klinker * 9. 2. Kohlberger 8.2. Frau Korspeter 8. 2. Dr. Kreyssig * 9. 2. Kriedemann * 9. 2. Kühn (Hildesheim) 8. 2. Kurlbaum 8.2. Lemmer 28. 2. Lenz (Brühl) * 9. 2. Dr. Löhr * 9.2. Lücker (München) * 9.2. Margulies * 9. 2. Mauk * 9.2. Menke 8.2. Metzger * 9. 2. Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Michels 7. 2. Müller (Berlin) 28.2. Müller (Nordenham) 2. 3. Müser 8. 2. Neubauer 17. 2. Nieberg 8. 2. Oetzel 28. 2. Frau Dr. Pannhoff 8.2. Dr.-Ing. Philipp * 9.2. Pöhler 8. 2. Frau Dr. Probst * 9.2. Rademacher 8. 2. Richarts * 9. 2. Dr. Rieger (Köln) 8. 2. Ritzel 8. 2. Ruf 8.2. Seither 11.3. Steinhoff 15. 2. Dr. Steinmetz 8. 2. Storch * 9. 2. Strauß 18. 3. Frau Strobel * 9. 2. Sühler 8.2. Frau Vietje 15. 2. Wacher 8. 2. Dr. Wahl 28.2. Weinkamm * 9.2. Werner 24.2. Wischnewski * 9. 2. Wittmer-Eigenbrodt 16. 2. Dr. Zimmermann (München) 8. 2. * Für die Teilnahme an einer Tagung des Europäischen Parlaments Anlage 2 Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Dr. Wuermeling zu der Aussprache über die Regierungserklärung. Wir haben heute nach Neubildung der Bundesregierung die erste allgemeine politische Aussprache. Bei einer solchen Aussprache sollen die Grundlinien unserer Politik erörtert werden. Sie verstehen es gewiß, wenn ich meinerseits dabei das Thema anspreche, mit dem ich durch mein bisheriges Amt als Familienminister engstens verbunden bin und dem ich künftig auch als Abgeordneter mit Leib und Seele verbunden bleiben werde, die Familienpolitik. Dieses Thema gehört in die Generalaussprache über die Gesamtpolitik, weil es ein Thema ist, das in alle politischen Sachbereiche hineinstrahlt und hineinstrahlen muß und weil es bei allen einzelnen Fachgesetzen leider immer nur irgendwie am Rande erscheint. Es pflegt aber dort jeweils im Schatten der Fülle der Fachprobleme zu stehen, die etwa bei jedem Sozialgesetz, bei jedem Steuergesetz, beim Wohnungsbau usw. zu erörtern sind. Ist es 2646 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 nicht wirklich so, daß wir sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Verwaltung immer wieder der Gefahr erliegen, nur in den vertikalen Fachbereichen etwa der Sozialversicherungszweige, der Kriegsopferversorgung, des Lastenausgleichs, des Steuerrechts usw. zu denken und den horizontal quer durch alle vertikalen Fachbereiche gehenden so wichtigen Bereich Familie darüber in den Hintergrund treten zu lassen? Und das, obwohl es doch ein immer wieder gerade von den beiden großen Fraktionen des Hauses betontes Hauptanliegen ist, die Familie als die wichtigste Institution für Staat und Gesellschaft zu schützen und unseren Familien mit Kindern auch wirtschaftlich wenigstens einigermaßen gleichberechtigte Existenzvoraussetzungen zu ermöglichen. Auch die gestrige Regierungserklärung hat das ja erneut in zwei markanten programmatischen Sätzen unterstrichen. Lassen Sie mich zu letzterem Punkt hier heute etwas sagen, aber mit der betonten Vorbemerkung, daß diese Fragen des Familienausgleichs gewiß nicht der einzige — und nicht einmal der wichtigste — Bereich der Familienpolitik sind, aber doch der Bereich, auf dem gerade wir hier auf der Bundesebene die größten Möglichkeiten und Aufgaben haben, mit deren Erfüllung wir uns -- trotz all dessen, was bisher erreicht wurde — in der Bundesrepublik in einem schmerzlichen Rückstand gegenüber unseren westlichen Nachbarländern befinden. Ich bekenne das in aller Offenheit nach neun Jahren unaufhörlichen und leider nicht genügend erfolgreichen Ringens als Familienminister. Ich will hier nicht im einzelnen auf die Ergebnisse der Godesberger Konferenz von acht europäischen Familienministern vom Mai vorigen Jahres, die das gezeigt haben, eingehen. Sie sind Ihnen und der Öffentlichkeit ja aus dem amtlichen Bulletin bekannt. Ich gebe auch zu, daß Vergleiche mit anderen Ländern allein nicht zwingend sind, wenn man Entschlüsse für sein eigenes Land zu fassen hat, zumal da solche Vergleiche ja nicht immer auf absolut gleichartigen Komponenten aufgebaut sind. Wir haben uns allerdings bemüht, in der Familienministerkonferenz eine weitgehende Vergleichbarkeit sicherzustellen. Wichtiger als diese internationalen Vergleiche scheint mir vielmehr die Kenntnis der Situation der Familien in unserem eigenen Lande, insbesondere der Entwicklung der wirtschaftlichen Situation unserer Familien mit Kindern angesichts der Lohn-und Preisentwicklung in einer Zeit, in der wir alle immer wieder die Notwendigkeit des Schutzes und der Gerechtigkeit für sie betont haben. Hier muß leider .die betrübliche Feststellung getroffen werden, daß für die Angehörigen aller Bereiche des sozialen Lebens in den letzten Jahren Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Lebensbedingungen — gewiß unterschiedlichen Ausmaßes, aber jedenfalls sichtbare reale Verbesserungen — eingetreten sind, weithin durch •gesetzliche Maßnahmen, daß aber unsere Familien mit Kindern — und ich wage zu behaupten: allein diese! — hinter der für alle anderen eingetretenen Aufwärtsentwicklung sichtbar zurückgeblieben sind. Weil wir uns das alle täglich vor Augen halten sollten, möchte ich Ihnen diese Feststellung kurz begründen. Dazu zunächst folgendes: Wenn Löhne und Gehälter steigen — und sie sind in den letzten Jahren erheblich, mehr als die Preise gestiegen —, dann hat ,der Alleinstehende die meinetwegen 20 bis 30 DM monatlicher Erhöhung nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben für sich allein und verbessert sich entsprechend um das volle Mehr an Kaufkraft. Wo aber auch Frau und Kinder mitversorgt werden müssen, ,dividiert sich die monatliche Erhöhung durch 4 oder 5 oder noch mehr Köpfe, so daß der Kaufkraftrückstand unserer Kinderfamilien gegenüber den Alleinstehenden schon von daher mit jeder linearen Lohn- und Gehaltserhöhung immer größer wird. Dazu kommt aber noch, daß .die Preiserhöhungen für den lebensnotwendigen Bedarf, mit dem die Lohnerhöhungen ja weithin begründet werden, dieselben Familien mit Kindern, die ohnehin mit den linearen Lohnerhöhungen immer weiter hinter ,die Alleinstehenden zurückfallen, multipliziert mit der Zahl der Familienmitglieder, treffen, daß hier also einer dividierten Lohn- oder Gehaltserhöhung eine multiplizierte Verteuerung des lebensnotwendigen Bedarfs gegenübersteht, dem die Eltern gerade für ihre Kinder nicht ausweichen können. Durch diese Entwicklung kommen die Familien mit Kindern auf doppelte Weise immer weiter in Rückstand. Ich sage das jetzt nicht, um nach irgendeiner Seite hin Vorwürfe zu erheben, sondern ausschließlich, weil ich meine, daß wir uns, da wir unsere öffentlichen Erklärungen zugunsten unserer Kinderfamilien doch ernst nehmen, über diesen Tatbestand klar werden müssen. Denn im Anfange allen Fortschritts steht immer die klare Erkenntnis der Sachlage. Ich habe das Gefühl, daß aus dieser Sachlage bisher deshalb nicht die gebotenen Konsequenzen einer entsprechenden Anpassung der Familienleistungen gezogen worden sind, weil diese Erkenntnis vielen von uns bisher einfach nicht tief genug ins Bewußtsein gelangt ist. Ich darf das deshalb mit einigen wenigen Tatsachen erläutern, die meines Erachtens jeden geradezu erschrecken müssen, der sich den besonderen Sorgen unserer Väter und Mütter verbunden weiß. Zunächst das Bild im großen Bereich der freien Wirtschaft. Seit der letzten Erhöhung des Kindergeldes von 30 auf 40 DM monatlich per 1. März 1959 haben sich die durchschnittlichen Monatslöhne männlicher Industriearbeiter nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes schon bis August 1962 um 42 % — inzwischen noch weiter — erhöht. Da das Kindergeld seitdem unverändert blieb, erhöhte sich hier das Monatseinkommen — schon bis August 1962 — bei Ledigen und kinderlos Verheirateten um die genannten 42 %, bei Familien mit 3 Kindern nur um 39 %, bei Familien mit 5 Kindern nur um 34 %, und das, obschon gerade die Familien mit Kindern, wie gesagt, durch die Preisentwicklung viel stärker betroffen sind als andere. Die Zahlenreihe müßte gerechterweise genau die umgekehrte Tendenz aufweisen. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2647 Hierbei habe ich noch nicht einmal berücksichtigt, daß nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes von 1959/62 die Lebenshaltungskosten für den Unterhalt von Kindern mit rund 10% erheblich stärker angestiegen sind als die allgemeinen Lebenshaltungskosten eines Erwachsenen (7,6 %). Es steht aber ohnedies eindeutig fest, daß in dem großen Bereich der privaten Wirtschaft der Anteil am Sozialprodukt für die Familien mit Kindern sichtbar abgesunken ist, während der Anteil der Kinderlosen am Sozialprodukt zu Lasten der Kinderlosen sich ebenso sichtbar erhöht hat. Das ist aber doch wohl genau das Gegenteil von dem, was wir alle anstreben. Betrachten wir die Entwicklung bei den 835 000 Arbeitern des öffentlichen Dienstes — Bund, Länder und Gemeinden —, von denen über 500 000 allein auf Bundesbahn und Bundespost entfallen, uns also im Bundestag besonders interessieren. Hier ergibt sich, daß, weil die Kinderzuschläge seit 1956 überhaupt nicht mehr erhöht wurden, die Entwicklung noch wesentlich ungünstiger für die Familien ist. Bei einem Arbeiter der Lohngruppe IV (Ortsklasse 1) und einem mittleren Kinderzuschlag von 35 DM monatlich erhöhten sich von 1956 auf 1962 die Monatsbezüge der Kinderlosen um 53 %, bei 3 Kindern um 41%, bei 5 Kindern nur um 35 %. Hier erhöhte sich also der Anteil der Alleinstehenden am Sozialprodukt um 53%, der des Familienvaters mit 5 Kindern aber nur um 35%, beim Alleinstehenden also um rund 50 % mehr, als bei der Familie mit 5 Kindern. Ich glaube, daß das Tatbestände sind, an denen schlechthin niemand von uns vorbeigehen kann und die stärker nach Abhilfe geradezu schreien als jede andere noch so dringlich erscheinende gesellschaftspolitische Maßnahme. Für die Bundesbeamten hat die dem Hause vorliegende Regierungsvorlage, wie wir gern als erfreulich anerkennen, vorgesehen, daß die familienbezogenen Gehaltsteile ab 1. April 1963 ebenso um 6 % erhöht werden wie die Grundgehälter. Die Bundesregierung hat also die mir heute noch absolut unverständlich erscheinende Länderregelung, die ausgerechnet die familienbezogenen Gehaltsteile von der Erhöhung ausschloß, bewußt nicht mitgemacht, so daß hier, wenn man die Dinge rein rechnerisch prozentual sieht — wogegen manches gesagt werden könnte —, die Familien anteilig berücksichtigt sind. Ich glaube, daß dieser familienpolitische Querschnitt durch die verschiedenen Bereiche der Berufstätigen in die allgemeine politische Aussprache gehört, weil man die Lage der Familie einmal quer durch alle Bereiche sehen muß, um ein klares Gesamtbild zu bekommen. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß in allen Bereichen der Lohn- und Gehaltsempfänger — Entsprechendes gilt natürlich auch für die freien Berufe -der Anteil der Familien am Sozialprodukt in den letzten Jahren erheblich geschmälert wurde zugunsten des Anteils der Ledigen und kinderlosen Verheirateten. Die Familien mit Kindern befinden sich wirtschaftlich, gemessen an der Entwicklung der Erwachsenenhaushalte, in einer eindeutig rückläufigen Entwicklung. Bei dieser Sachlage sollen ihnen nun durch die Krankenversicherungsreform noch mehr neue Lasten auferlegt werden als den kinderlosen Haushalten, insbesondere durch die Handhabung des 2%igen Individualbeitrages mit der Selbstbeteiligung auch für Kinder. Ich hoffe zuversichtlich, daß das Hohe Haus den Familien wenigstens solche Sonderbelastungen erspart, wenn schon die vorgesehene Kindergeldaufbesserung nicht einmal das notwendige Mindestausmaß erreicht. Es lag mir sehr daran, diese ernsten und unser aller Wollen eideutig widersprechenden Tatbeständen hier und heute einmal in aller Offenheit darzulegen, damit wir uns demnächst bei allen einschlägigen Gesetzen daran erinnern und alle gemeinsam auf Abstellung dieser eindeutig für die Familien rückläufigen Entwicklung nach besten Kräften bedacht sind, die Wohlstandsentwicklung in den letzten Jahren ist eindeutig auf den Rücken der Familie vor sich gegangen. Das aber kann kein Staat zulassen, der auf seine Zukunft bedacht ist und dessen verantwortliche Träger wissen um die Bedeutung der Familien und ihrer Kinder für den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Lassen Sie mich zum Schluß noch die sich natürlich aufdrängende Frage beantworten, wie eine solche Entwicklung im Zeitalter der Familienpolitik und im Jahrhundert des Kindes überhaupt möglich war. Ich möchte das tun ohne jede Polemik nach irgendeiner Seite hin, ich möchte nur erkennbar machen, wo meines Erachtens die Wurzel des Übels liegt. Die Ursache für diese, wie gesagt von niemandem wirklich gewollte Entwicklung liegt in dem individualistischen Denken unserer Zeit, das immer nur allein das Individuum sieht, das im Gesellschaftsleben pair das „do ut des", die Leistung gegen die Gegenleistung kennt und darüber vergißt, daß die für Staat und Gesellschaft lebenswichtige Institution Familie in der modernen Industriegesellschaft dabei zu kurz kommt, gewissermaßen „erdrückt" wird, obschon sie doch mit die wichtigste Leistung auch für Staat und Gesellschaft erbringt. Wir müssen in allen Bereichen unseres sozialen Lebens — jeder an seiner Stelle — darauf bedacht sein und bleiben, daß dieser Entwicklung Einhalt geboten wird, nicht nur vom Gesetzgeber, sondern auch von den Tarifvertragspartnern, auch von Ländern und Gemeinden und überall, wo man etwas dazu tun kann. Niemand darf hier sagen: Familienausgleich natürlich, aber was geht mich das an? Das kann nicht alles allein der Bundesgesetzgeber machen, was hier notwendig ist. Denn das Sozialprodukt ist nur einmal da, und alles, über das etwa die Sozialpartner in tarifvertraglichen Vereinbarungen verfügen, ist für den Familienausgleich nicht mehr greifbar. Und alle Mittel des Bundeshaushalts, über die wir für andere Zwecke verfügen, sind damit der Verwendung für den so zurückgebliebenen Familienausgleich entzogen. Sollten wir alle uns nicht einmal ganz nüchtern fragen, ob wir daran in den letzten Jahren nicht zu wenig gedacht haben? Ziehen wir aus der ge- 2648 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 wonnenen Erkenntnis die sich zwangsläufig ergebenden Konsequenzen! In unseren Nachbarländern ist es weithin so, daß alle politischen Parteien ebenso wie Wirtschaft und Gewerkschaften die Familienausgleichsmaßnahmen für absolut vordringlich halten gegenüber anderen gesellschaftspolitischen Anliegen. Mit dieser gemeinsamen Haltung haben sie alle einen wirklichen und einigermaßen gerechten Familienausgleich durchgeführt, auch die Länder, deren wirtschaftlicher Aufstieg nicht das Ausmaß des unseren in der Bundesrepublik erreichte. Ich möchte heute darum werben, daß alle beteiligten Kreise sich zu dem Entschluß durchringen, künftig auch bei uns gemeinsam dieses große und unausweichlich wichtige Anliegen nicht nur zu sehen, sondern auch zu gemeinsamem Tun über alle Parteigrenzen hinweg bereit zu sein. Meinerseits möchte ich jedenfalls in diesem Sinne meinem Nachfolger im Amt des Familienministers jede mögliche Unterstützung zuteil werden lassen, auf daß er es leichter hat als ich in den Jahren, in denen die Familienpolitik erst aufgebaut und ihre Idee und Aufgabe erst einmal durchgesetzt werden mußte. Und hierzu erbitte ich die Mitarbeit aller Fraktionen und auch der Presse, eben weil Schutz und Gerechtigkeit für die Familien ein Anliegen unseres ganzen Volkes in allen gesellschaftlichen Bereichen ist. „Die Rettung des Menschengeschlechtes beginnt bei der Familie" ! Dessen mögen wir alle — jeder in seinem Bereich — stets eingedenk sein und bleiben und danach handeln!
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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


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    „Ohne Großbritannien ist kein Europa denkbar".
    Wir sollten allerdings auch die sachlichen Schwierigkeiten, die dem Beitritt neuer Mitglieder zur I EWG zwangsläufig entgegenstehen, nicht unterschätzen oder gar verschweigen.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Ich glaube, es genügt nicht, nur auf den guten Willen und auf die eine oder andere optimistische Darstellung hinzuweisen. Es ist doch dahin gekommen — und das ist gut so —, daß die Gemeinschaft in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Entwicklung genommen hat. Sie ist zusammengewachsen, und es sind Fakten geschaffen worden. Jeder, der neu hinzutritt, muß sich zunächst mit diesen Fakten abfinden und auch diese Entscheidungen übernehmen. Das ist kein einfacher Vorgang. Deswegen können wir auch gar nicht erwarten, Herr Kollege Ollenhauer, daß England oder ein anderes Land sagt: Ich trete den Römischen Verträgen bei, so wie sie sind. — Das wäre zuviel und zuwenig, meine Damen und Herren. Es wäre zu wenig, denn die Römischen Verträge haben sich weiterentwikkelt. Es wäre aber auch zu viel verlangt, denn wir waren und wir sind bereit, so, wie wir das auch im Kreise der Sechs taten, dem einzelnen Mitglied gewisse Übergangsmöglichkeiten, gewisse Rechte einzuräumen, die damals als clauses de sauvegarde bezeichnet wurden. Es ist das unbedenklich gewesen, wie die Entwicklung gezeigt hat; denn alle diese Klauseln sind niemals in Anspruch genommen worden.
    Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang auch daran erinnern — ich komme nachher noch auf unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, auf den



    Dr. von Brentano
    Wunsch der Partnerschaft zurück, den ich voll und ganz unterstreiche, Herr Kollege Ollenhauer hat mit Recht die Botschaft des amerikanischen Präsidenten vom Juli 1962 in Philadelphia zitiert, in der er diese Partnerschaft anbot —, aber ich darf daran erinnern, daß noch bis vor zwei Jahren die amerikanische Regierung uns mit guten Gründen sagte: Den Zusammenschluß der Sechs akzeptieren wir; aber den Zusammenschluß der Sieben können wir wegen der objektiv diskriminierenden Wirkungen dieses größeren Gemeinsamen Markts nicht hinnehmen. Es ist also nicht so, daß diese Gedankengänge schon immer die amerikanische Politik bestimmt hätten. Das sage ich auch ohne Kritik; denn wir haben für diesen Vorbehalt der Vereinigten Staaten volles Verständinis.
    Nun, ich sprach davon, welche Entwicklung der Gemeinsame Markt in diesen Jahren genommen hat, und wir sollten hier auch hören und sehen, wie die Sowjetunion reagiert, einmal, wie sie reagiert hat auf die Entwicklung im Herbst vorigen Jahres, als in Moskau jene Wirtschaftskonferenz zusammentrat. Wenn man die Berichte und die Artikel liest, die dann darüber in der „Prawda" und in anderen Zeitungen erschienen sind, erkennt man die Unruhe, die dort entstanden ist. Denn hier, in dieser europäischen Politik, wurde ein neues Selbstbewußtsein, ein neuer Behauptungswille der europäischen Völker sichtbar, ein Wille, der nicht auf machtpolitische Auseinandersetzungen mit Waffen gerichtet ist, sondern der nichts anderes zum Ziel hatte, als die unendlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die der Zusammenschluß der hochindustriealisierten, technisch und geistig hochentwickelten europäischen Völker auch für die Erhaltung des Weltfriedens bedeutet.
    Es ist nicht uninteressant, die sowjetrussischen Kommentare zur Unterbrechung der Brüsseler Verhandlungen zu hören oder zu lesen, und ich unterstreiche das, was Sie, Herr Kollege Ollenhauer, uns sagten. Gerade diese Kommentare geben uns Anlaß, nachdenklich zu werden und einen neuen Weg zu suchen; denn wir empfinden, daß wir hier der Sowjetunion zumindest vorübergehend einen Vorteil in die Hand gespielt haben, der sich logischerweise zu unserem Nachteil auswirken muß. Es ist interessant, daß in einer Sendung für Nordamerika die Sowjetunion wissen läßt, Frankreich habe die Unterstützung Deutschlands erhalten, um England aus Europa herauszuhalten. In einer Sendung für Frankreich hört man, die Bundesrepublik habe die britische Karte gespielt und Großbritannien habe als Gegenleistung versprochen, den Atomwaffenhunger der deutschen Revanchisten zu stillen. Nun, ich könnte beliebig viele solcher Zitate bringen; aber das scheint mir langweilig zu sein. Viele von uns kennen solche Sendungen noch aus der Zeit des „Dritten Reiches".
    Meine Damen und Herren, ich habe betont, daß die deutsch-französische Zusammenarbeit den europäischen Zusammenschluß nicht behindern, sondern fördern soll. Darum soll uns auch niemand unterstellen, daß die deutsch-französische Vereinbarung ein Streben nach Hegemonie verberge. Die Bundesregierung
    sollte sich unbedenklich bereit erklären — wie Sie es auch angeregt haben, Herr Kollege —, Verträge ähnlicher Art mit anderen europäischen Partnern abzuschließen; denn ein Netz wohlabgewogener zweiseitiger Verträge kann auch die multilaterale Integration wirksam unterstützen.
    Über unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten sprach ich schon. Hier dürfen keine Mißverständnisse aufkommen, und wir müssen die Vereinigten Staaten davon überzeugen, daß die deutsch-französische Zusammenarbeit ebenso wie die Politik der europäischen Integration das ausgesprochene Ziel haben, die atlantische Gemeinschaft zu stärken.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir wissen es, meine Damen und Herren, und wir bedauern es, daß Frankreich nicht immer die gleiche Bereitschaft gezeigt hat wie wir selbst, sich an der militärischen Integration im Rahmen der NATO zu beteiligen. Aber darum gerade begrüßen wir es, daß die Bundesregierung nicht gezögert hat, den Vorschlag der amerikanischen Regierung anzunehmen, den der amerikanische Staatssekretär Ball in Bonn gemacht hat, sich an der Errichtung einer multilateralen Atomstreitmacht zu beteiligen. Wir wissen es alle, und es ist nicht nötig, uns daran zu erinnern, daß die NATO das stärkste Bündnissystem in der Welt ist und daß die Vereinigten Staaten nicht nur Partner in diesem Verband sind, sondern daß sie die stärkste Macht der freien Welt sind. Wir begrüßen es, daß die Vereinigten Staaten unter dem Präsidenten Eisenhower wie unter dem Präsidenten Kennedy so eindeutig und entschlossen die Sache der freien Welt zu ihrer eigenen gemacht haben. In der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und dem Ostblock muß sich diese Solidarität der Bündnispartner zu jeder Zeit und in jeder Lage neu bewähren.
    In der NATO sind freie, unabhängige Staaten von verschiedenartigem politischem Gewicht zusammengeschlossen. Darin besteht die Eigenart, darin besteht aber auch der Vorzug dieses Bündnisses, das keine Prärogativen der Macht legalisiert. Aber es ist eine sehr nüchterne Erkenntnis, daß die Stärke und die Kraft der Bündnispartner eben von verschiedenem Gewicht sind. Die Bundesrepublik erkennt den Führungsanspruch der Vereinigten Staaten in diesem Bündnis gleichberechtigter Partner nicht nur an; sie hat wiederholt die Vereinigten Staaten aufgefordert, diese Führungsrolle zu übernehmen, sogar schon zu einem Zeitpunkt, in dem die Opposition noch gegen die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik war.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine politischen Freunde gehen davon aus, daß das deutsch-französische Abkommen ebenso wie alles andere, was im europäischen Bereich geschieht, die Wirksamkeit und Kraft des atlantischen Bündnisses stärken muß und nicht schwächen darf. Wenn Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten, dann mit dem Ziel, die europäische Politik zu stärken, der europäischen Integration ungeachtet augenblicklicher Rückschläge neue Impulse zu geben und



    Dr. von Brentano
    der atlantischen Gemeinschaft zusätzlich neue Stärke zu verleihen.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der amerikanische Präsident hat in seiner Rede vom 4. Juli, die Sie auch zitiert haben, Herr Kollege, auch über diese Fragen gesprochen. Mir scheint, wir können alles, was er dort sagte, unterstreichen. Er hat die Europäer aufgefordert, sich in einem starken, geeinten Europa zusammenzuschließen, in dem die Vereinigten Staaten einen Partner, nicht einen Rivalen sehen. Er hat auf die interkontinentale Zusammenarbeit verwiesen und hat eine atlantische Partnerschaft gefordert, zu der wir bereit sind. Wir begrüßen es, daß der frühere amerikanische Außenminister Herter beauftragt wurde, die Voraussetzungen für diese atlantische Partnerschaft mit den europäischen Regierungen und mit der EWG zu erörtern.
    Meine politischen Freunde erwarten von der Bundesregierung, daß sie, wie es auch der Bundeskanzler angekündigt hat, alles tun wird, was in ihrer Macht steht, um die europäische Integration voranzuführen. Ich möchte auch hier wiederholen, daß wir uns der Krise, in die wir geraten sind, bewußt sind. Aber ich meine doch, wir sollten hier auch auf das hören, was die britische Regierung selbst sagt. Am 30. Januar hat Macmillan auf die Frage: Sind das düstere oder abschreckende Aussichten?, ganz klar erklärt: „Keineswegs. In Situationen dieser Art haben wir uns in der Vergangenheit stets am besten bewährt. So wird es auch diesmal wieder sein." Und der stellvertretende Außenminister Heath hat nach der Unterbrechung der Verhandlungen gesagt:
    Wir denken gar nicht daran, nunmehr Europa den Rücken zu kehren. Im Gegenteil, wir werden die Zusammenarbeit mit Europa erneut suchen, so lange bis sie unterschrieben ist.
    Deswegen sage ich auch: die Verhandlungen mit Großbritannien müssen wieder in Gang kommen.
    Vielleicht bietet in der Tat Art. 2 des Protokolls zu den Brüsseler Verträgen dazu auch eine Möglichkeit; denn die Westeuropäische Union hat sich ja auch zu dem Ziel bekannt — ich zitiere aus diesem Protokoll —, „die Einheit Europas zu fördern und seine fortschreitende Integration zu unterstützen". Wir werden dabei sicherlich auch die Mitarbeit unserer Freunde in der EWG finden, die die Unterbrechung der Brüsseler Verhandlungen ebenso bedauert haben wie wir selbst. Ebenso erwarten wir von der Bundesregierung — auch daran besteht nach den Erklärungen des Kanzlers kein Zweifel — die Fortsetzung ihrer aktiven Politik im Rahmen der NATO. Auch in dieser Organisation, vielleicht auch in der OECD, sollte die Frage der atlantischen Partnerschaft diskutiert werden. Wir dürfen auf keine Möglichkeit verzichten, uns der Instrumente zu bedienen, die wir schon besitzen. Zu diesen Instrumenten wird dann auch der französisch-deutsche Vertrag gehören, der der Bundesregierung — das hoffe ich bestimmt -- zusätzlich Möglichkeiten geben wird, ihre Vorstellungen über die europäische und atlantische Zusammenarbeit mit Frankreich abzustimmen.
    Jeder Fortschritt, den wir in diesen Bereichen in gemeinsamer Anstrengung erzielen, dient auch — das sollten wir uns immer vor Augen halten — der Verwirklichung dieses obersten Ziels der deutschen Politik, der Wiedervereinigung mit den Deutschen in der Zone in einem freiheitlichen, rechtsstaatlichen Deutschland.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Carlo Schmid
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mende.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Erich Mende


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freie Demokratische Partei begrüßt diese Aussprache des Deutschen Bundestages als eine Möglichkeit des öffentlichen Gesprächs mit der Bundesregierung und als eine Möglichkeit der Auseinandersetzung der drei Fraktionen dieses Hauses.
    Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion, Kollege Ollenhauer, hat die „langweilige" Regierungserklärung beklagt. Man hätte demnach mit einer fesselnden Programmrede des Oppositionsführers rechnen müssen, die dieser „langweiligen" Regierungspolitik ,die zündende Alternative der Opposition entgegenhält.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Aber wer in den anderthalb Stunden, die Kollege Ollenhauer sprach, darauf wartete, der wurde enttäuscht.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Die Rede des Oppositionssprechers war nämlich eine Addition von Ermahnungen, guten Ratschlägen, Befürchtungen und dem Bekenntnis zur Gemeinsamkeit bei der jetzt auf uns zukommenden Prüfung des Vertrags.
    Der Bundeskanzler hat gestern zum erstenmal in den 14 Jahren dieses Parlaments die Opposition inständig gebeten, Opposition zu sein und als belebendes Element zu wirken. In der Tat, ein einmaliger Vorgang, daß der Regierungschef die Opposition bitten muß, Opposition zu sein.

    (Heiterkeit und Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

    Man hat manchmal den Eindruck, daß die sozialdemokratische Opposition mehr und mehr auf 'dem Wege ist, eine Koalitionspartei im Wartestand zu werden

    (Erneute Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien — Zurufe von der SPD)

    und sich mit allen Mitteln darum bemüht, möglichst noch in dieser Wahlperiode in die Bundesregierung einzutreten. Auch hier erscheint es mir als ein Widerspruch. Auf der einen Seite spricht man von einem verlorenen Jahr und beklagt diese schlechte Bundesregierung. Auf der anderen Seite hat man es eilig, in diese schlechte Bundesregierung als Teilhaber einzutreten.

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien. Zurufe von der SPD.)




    Dr. Mende
    Verlorenes Jahr, Herr Kollege Ollenhauer! Es ist eine harte Kritik an der starken Opposition von 200 Abgeordneten in diesem Hause, wenn es ein verlorenes Jahr dieser 4. Legislaturperiode geben sollte. Dieser Vorwurf trifft dann auch die Sozialdemokraten selber, die eben nicht dieser Regierung so im Nacken saßen, daß nicht ein Jahr verlorengehen konnte.

    (Beifall bei der FDP und CDU/CSU — Lachen und Zurufe von der SPD.)

    — Ach, nun empören Sie sich doch nicht! Sie waren doch vor zwei Monaten bereit, in eine vierte Bundesregierung Adenauer einzutreten und personelle Konzessionen zu machen, die Sie mir vor einem Jahr hart vorgeworfen haben!

    (Beifall bei der FDP. — Zuruf von der SPD: Das stimmt ja ,gar nicht! — Weitere Zurufe links.)

    Lassen Sie mich zu dieser Frage der Auseinandersetzung mit dem Wesen und Wirken der Opposition noch im innenpolitischen Teil sprechen! Ich möchte mich, wie es die Regierungserklärung tat, zunächst dem außenpolitischen Teil zuwenden.
    Die Kuba-Krise hat drei positive Elemente, wie jede überwundene Krise eine heilsame Wirkung hat. Die Geschlossenheit ,der westlichen Allianz und die Entschlossenheit des amerikanischen Präsidenten und des amerikanischen Volkes werden dem sowjetischen Ministerpräsidenten die Grenze der Selbstachtung der Vereinigten Staaten markiert haben und werden ihn — auch in .der Berlin-Frage —
    vor einer Fehleinschätzung .der Lage bewahren.
    Das zweite positive Element ist die ernüchternde Wirkung auf einen Teil unserer Bevölkerung. Mehr denn je erkannten wir in diesen Oktobertagen des vergangenen Jahres, daß sich niemand auf den privaten Bereich einer Selbstisolierung zurückziehen kann, sondern daß die res privata untrennbar mit der res publica verbunden ist und .daß daher das Schicksal ,des einzelnen und seiner Familie eng an das Schicksal des Volkes, ja sogar des Kontinents geknüpft ist und schließlich mit der Frage Krieg oder Frieden verbunden bleibt.
    Drittens hat insbesondere der 28. Oktober 1962 mit dem Einlenken des sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow möglicherweise ein historisches Datum der Erkenntnis der Weltmächte markiert, daß sich' auch schwerwiegende Konflikte heute nicht mehr durch atomare Kriege lösen lassen, sondern im atomaren Zeitalter der Krieg aufgehört hat, eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu sein.
    Die Regierungserklärung widmet einen ganzen Abschnitt der europäischen Entwicklung und der deutsch-französischen Freundschaft. Die Freie Demokratische Partei ist zu einer Zeit, als das noch nicht selbstverständlich war, in diesem Hause für die Europa-Politik der Regierung eingetreten, in der sie damals auch Koalitionspartner war: Beitritt zum Straßburger Europarat 1950, Beitritt zur Montanunion, die Bemühung um das Zustandekommen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gegen den damals erbitterten Widerstand weiter Teile

    (die ,das „Ohne mich!" zum Prinzip der Verteidigung eines Volkes machen wollten. Schließlich scheiterte die EVG in der Assemblée Nationale im August 1954. Es folgten dann der Beitritt zur Westeuropäischen Union und zum Nordatlantikpakt. Dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hat die Freie Demokratische Partei widersprochen, aber nicht aus Europa-Feindlichkeit, sondern aus der Sorge, daß der Zusammenschluß der Sechsergemeinschaft zu einer Reaktion Großbritanniens und der anderen europäischen Staaten führen müßte, was dann ja auch im Rahmen der EFTA geschehen ist, also zu einer erneuten Spaltung. Wir haben .damals die Freihandelszone und die Ausweitung des Europa-Gedankens aus der Enge der Sechs in ein weiteres Feld befürwortet. Um so dankbarer waren wir, daß schließlich die Sechser-Gemeinschaft eine Attraktivkraft auszuüben schien und Großbritannien und die skandinavischen Staaten sich um den Beitritt bemühten. Auch das deutsch-französische Verhältnis war spätestens mit dem ehrenwerten Respekt, den die französische Regierung und das französische Volk der Entscheidung an der Saar zuteil werden ließen, außerhalb jeglicher Mißverständnisse für die Freie Demokratische Partei. Wir bejahen die deutsch-französische Versöhnung und die deutsch-französische Freundschaft als eine Ausgangsstation, als Basis einer europäischen Zusammenarbeit und als einen historischen Schlußstrich unter eine Zeit deutschfranzösischer tragischer Bruderkriege. Aber die deutsch-französische Freundschaft kann nur Ausgangsstation der europäischen Zusammenarbeit sein. Sie darf niemals Endstation europäischer Sehnsucht werden. Wir bedauern den Rückschlag, den die Ausweitung des Europagedankens in Brüssel erlitten hat. Aber wie damals 1954 beim Scheitern der EVG in der Assemblée Nationale und wie bei anderen ähnlichen Ereignissen wird sich auch hier das Rad der europäischen Geschichte weiterdrehen. Neue Situationen werden die Gelegenheit zu neuen Konstruktionen bieten, sei es im Rahmen von Zollvereinbarungen, sei es im Rahmen einer engeren Kontaktaufnahme im Rahmen der Westeuropäischen Union, der OECD und schließlich in der atlantischen Gemeinschaft. Die Freie Demokratische Partei wird als Koalitionspartner dem Bemühen der Bundesregierung um die Ausweitung des Europagedankens, also auch um den Beitritt Großbritanniens und der skandinavischen Staaten, ihre volle Unterstützung gewähren. Denn Europa ist auf die Dauer ohne Großbritannien und die skandinavischen Staaten nicht lebensfähig. (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Wir begrüßen daher die Erklärung, daß die Bundesregierung alle Möglichkeiten der Heilung des Brüsseler Rückschlages ausnutzen werde, und wir sehen hier keine Differenz, wie sie Herr Ollenhauer sah. Denn schließlich hat das Kabinett diese Erklärung einstimmig verabschiedet, unter Vorsitz des Bundeskanzlers. In den offiziellen Äußerungen mögen die Temperamente wohl gewisse Nuancen erkennen lassen; aber die ganze Öffentlichkeit weiß



    Dr. Mende
    doch, meine Damen und Herren, daß diese Regierung verpflichtet ist, im Sinne des Beitritts Großbritanniens und anderer zu wirken, weil sie sonst nicht mehr das Vertrauen dieses Hauses besäße. Die Bundesregierung ist durch die einmütige Erklärung dieses Hauses an diese Politik gebunden, die keine Änderung zuläßt.

    (Beifall bei der FDP.)

    Besonders in ausländischen Zeitungen ist die Frage aufgetaucht, ob die deutsche Politik nicht wählen müsse zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien einerseits und der deutsch-französischen Freundschaft andererseits. Eine solche Alternative wäre absurd, und wir sollten alles vermeiden, was uns in diese Wahlpflicht drängen könnte. Deutsch-französische Freundschaft, europäische Zusammenarbeit — auch mit Großbritannien und den skandinavischen Staaten —, atlantische Partnerschaft sind allesamt Kinder gleichen freiheitlichen Geistes und keine Gegensätze. Es wäre im übrigen leichtfertig, in unserer Lage das deutschamerikanische Verhältnis irgendwie in Frage zu stellen. Denn die Vereinigten Staaten sind die Alternative zu dem großen Block der kommunistischen Bedrohung. Mehr denn je ist die Freiheit in Europa von der Garantie der Vereinigten Staaten abhängig. Die Vereinigten Staaten haben ausschließlich den ersten und den zweiten Weltkrieg entschieden. Von ihnen allein hängt die Garantie unserer Freiheit und unseres Rechts ab. Aber auch die Vereinigten Staaten wissen, daß sie ohne Europa in eine tödliche Gefahr kämen. Denn geht Europa an den Kommunismus verloren, ist auch Afrika nicht mehr zu halten. Die Vereinigten Staaten und Europa befinden sich in einer wechselseitigen Schicksalsgemeinschaft, von dem strategischen Potential ganz zu schweigen. Während die Vereinigten Staaten über eine Atomschlagkraft von 50 000 Explosionskörpern verfügen, die sie durch Raketen, Flugzeuge der strategischen Bomberflotte und auf andere Weise ins Ziel bringen können, verfügt Großbritannien über 75 und Frankreich über 5 Sprengsätze. Allein dieses realistische Bild der Abschreckung zwingt uns, nichts in Frage zu stellen, nichts zu diskutieren, was sich bewährt hat: nämlich die atlantische Gemeinschaft.

    (Beifall bei der FDP.)

    Die Freie Demokratische Partei hat, seinerzeit ebenfalls als Regierungspartner, dem Beitritt zum Nordatlantischen Bündnis zugestimmt. Sie hat auch die Konsequenzen innerstaatlicher Art aus diesem Bündnis gezogen und lediglich in einer Frage sich der Stimme enthalten, bei dem Wehrpflichtgesetz, weil wir glaubten, daß der Zeitpunkt für eine Wehrpflicht noch nicht gekommen sei und gewisse Kadervorbereitungen erst einmal anlaufen sollten, und weil wir die umfassendere allgemeine Verteidigungspflicht aller Bürger für moderner hielten und noch halten als die eng begrenzte, aus der Vergangenheit übernommene Wehrpflicht, nach der heute nur jeder Zehnte zum Wehrdienst einberufen werden kann, aus dem Limit heraus, das wir uns selbst in den Brüsseler Verträgen gesetzt haben.
    Der Bundeskanzler erwähnte, daß es aus dem Nichts gelungen sei, trotz schwerer psychologischer
    Belastungen wieder 400 000 Soldaten kampffähig in verschiedenen Verbänden des Heeres, der Marine und der Luftwaffe zu organisieren. Es ist hie und da die Auffassung vertreten worden, wir müßten nunmehr, wenn wir die 500 000-Grenze erreicht hätten, uns als nächstes Ziel 750 000 Mann Effektivstärke stellen. Eine solche Forderung ist irreal, sowohl im personellen Bereich der militärischen Kräfte, wie im materiellen Bereich und schließlich auch im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich unseres Volkes. Im übrigen sollte man Qualität vor Quantität setzen. Die Bundeswehr braucht nach ihrem Aufbau eine Zeit der Konsolidierung, der Ausbildung der Offiziere und Unteroffiziere und auch der Mobilisierung der Reserven und der Organisierung der territorialen Verteidigung. Wir haben in der Vergangenheit unser Hauptaugenmerk primär auf den Aufbau der mobilen Verbände, die wir der NATO zur Verfügung stellten, gerichtet und dabei zu sehr die territoriale Verteidigung, auch die Organisation der Reservisten, vernachlässigt. Wir haben jetzt schon etwa 400 000 junge Männer, die bereits die 12- oder 18monatige Wehrpflichtzeit hinter sich haben. Es fehlt aber für diese Reservisten die Organisation in der Heimatverteidigung, insbesondere in einem tiefgestaffelten Abwehrsystem gegen mögliche, mit konventionellen Waffen geführte Angriffe.
    Die Frage der strategischen Konzeption im Rahmen der NATO wird ja den Verteidigungsausschuß und auch dieses Haus beschäftigen. Herr Kollege Ollenhauer hat recht, wenn er sagt, daß es zweckmäßig ist, diese Frage heute nicht auszuweiten, um dem neuen Verteidigungsminister Gelegenheit zu geben, sich in diesem Ressort erst einmal einzuarbeiten.
    Die Bundesregierung hat sich in ihrer Regierungserklärung auch zur Berlin- und Deutschlandfrage und zu den Äußerungen des sowjetischen Ministerpräsidenten auf dem 6. SED-Parteitag geäußert. Wer von dem 6. SED-Parteitag in Ostberlin eine Entstalinisierung — etwa eingeleitet durch den Rücktritt des Planungschefs Mewis — erhofft hatte, mußte enttäuscht werden. Auch das neue SED-Zentralkomitee setzt sich in der Hauptsache aus den alten bekannten Stalinisten zusammen.
    Trotz der Enttäuschungen, trotz auch der harten Worte, die der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow sowohl in Berlin wie in seiner jüngsten Note an uns richtete, sollten wir nicht das Bemühen um die Einheit Deutschlands aufgeben. Wir haben bereits am 1. Oktober 1958 in diesem Hause erkannt, daß auch die Wiedervereinigungspolitik sich den geänderten Zeitverhältnissen anpassen müsse, als wir seinerzeit feststellten, daß freie Wahlen nicht am Beginn der Wiedervereinigung stehen würden, sondern am Ende eines Wiedervereinigungsprozesses in Phasen, gewissermaßen als Krönung unserer Bemühungen durch Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes. Eine Wiedervereingiung uno acto durch die freien Wahlen im ersten Stadium, wie wir sie noch in den ersten Jahren dieses Bundestages vertraten, ist heute nicht mehr möglich. Die Wiedervereini-



    Dr. Mende
    gung Deutschlands wird ein langfristiger Prozeß des Zusammenwachsens der getrennten Teile Deutschlands sein, und am Beginn dieses Prozesses werden möglicherweise Klärungen im Rahmen der Abrüstung, Klärungen im Rahmen der Vereinbarung der Siegermächte stehen, Klärungen, die sich aus der debellatio, aus der kriegerischen Niederwerfung Deutschlands, und der capitulatio der deutschen Wehrmacht ergeben, Fragen, die der Präsident dieses Hauses in seiner Erklärung am 30. Juni 1961 mit der Billigung aller drei Fraktionen hier bekanntgab.
    Wir begrüßen die erneute Forderung der Regierung nach dem Selbstbestimmungsrecht, und wenn es noch so lange dauern mag. Wir sollten nicht die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht zurückstellen und uns sagen lassen, dies sei doch nur noch ein Schlagwort. Das Selbstbestimmungsrecht ist die Grundlage für das Zusammenleben der Völker dieser Erde; es ist ein wesentlicher Bestandteil der Vereinbarungen der Vereinten Nationen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir fordern für Deutschland nicht mehr und nicht weniger als jenes Recht, das gegenwärtig jungen Völkern in Asien und Afrika zugestanden wird, nämlich ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in eigener Verantwortung frei zu regeln. Die Welt soll wissen — und darin stimmen alle drei Parteien dieses Hauses überein —, daß das deutsche Volk, daß insbesondere die heranwachsende Jugend sich niemals mit der Teilung Deutschlands und mit dem Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht abfinden werden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es genügt jedoch nicht, in der Frage der Wiedervereinigung immer nur die materiellen Verhältnisse der wechselseitigen Produktionen, die Lebensverhältnisse in der Sowjetzone darzulegen und sie zu beklagen. Die Frage der Wiedervereinigung wird im wesentlichen auch eine Angelegenheit der geistigen Auseinandersetzung unseres Volkes und der Mobilisierung geistiger, nicht materieller Kräfte sein.

    (Beifall bei der FDD.)

    Wir Freien Demokraten sehen es als eine neu gestellte Aufgabe für den politischen Liberalismus an, in dieser Auseinandersetzung geistige Antithese zu sein gegen alle Formen der Bevormundung, der Machtanmaßung, der Unterdrückung der Freiheit durch den Kollektivismus in allen seinen Erscheinungsformen bis zum Kommunismus Moskauer oder Pekinger Prägung. Eine Möglichkeit, nach vorn weisende Wiedervereinigungspolitik zu treiben, hat der Deutsche Bundestag in der Entschließung vom 12. Oktober 1962 bekanntgegeben. Diese Entschließung appelliert an die Vier Mächte, eine ständige Deutschlandkonferenz im Range stellvertretender Außenminister oder Botschafter mit dem Sitz in Berlin einzurichten. Unter dieser ständigen Deutschlandkonferenz der Vier könnten sich gesamtdeutsche technische Kommissionen für Wirtschaft, Verkehr, Handel, Sport und Kultur bilden. Es wäre ein Anfang, ein Ingangsetzen des Abbaues der
    Mauer in Berlin und der Stacheldrahthindernisse an der Zonengrenze, natürlich in einem langfristigen, schwierigen Prozeß.
    Aber das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht allein tut es nicht. Nostra res agitur! Wir müssen uns auch bemühen, dem Willen des deutschen Volkes sichtbar vor aller Welt Ausdruck zu geben. Mir scheint, daß die bisherige Gestaltung des Tages der nationalen Einheit, des 17. Juni 1953, diesen Bemühungen des deutschen Volkes nicht mehr entspricht und daß dieses Haus prüfen sollte, ob es nicht durch eine Novelle zu diesem Gesetz, das das Haus damals beschloß, möglich ist, diesen Tag der Einheit umzugestalten zu einer Demonstration des deutschen Volkes im freien Teil. Wir sollten nicht mehr feiern, sondern an diesem Tage arbeiten, die Veranstaltungen auf den nächsten Sonntag verlegen,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    und das deutsche Volk sollte freiwillig den Erlös dieses Arbeitstages in eine nationale Opferspende einzahlen zur Linderung der durch die Teilung Deutschlands noch täglich entstehenden menschlichen Not. Hier böte sich dem Kuratorium Unteilbares Deutschland eine neue und nach dem 13. August 1961 aktuellere Aufgabe, als sie der Tag der Einheit heute am 17. Juni zu bieten pflegt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine Kollegen, wer Kritik übt, muß auch bereit sein, Selbstkritik zu üben. Dieses Haus hat seit der Wahl des Bundespräsidenten im Sommer 1959 darauf verzichtet, sich in Berlin zu versammeln. Es sind zwar die Fraktionen hintereinander in Berlin gewesen, die Regierung, der Bundesrat. Dieses Haus sollte auch wieder durch eine Sitzungswoche in Berlin vor aller Welt dokumentieren, daß wir uns mit Berlin und seiner Not solidarisch fühlen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Lassen Sie mich nun zu der Frage der Innenpolitik übergehen, die ich auch nur in den Hauptmarkierungspunkten behandeln möchte, weil die Sprecher des Nachmittags Gelegenheit haben sollen, in die Einzelheiten einzutreten.
    Es ist hier von der Ermittlung der Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts des Landesverrats und Geheimnisverrats gesprochen worden. Man kann nicht darauf verzichten, auf diese Frage hier einzugehen, weil ja an dieser Frage sich dann eine Regierungskrise entwickelte, die zur Regierungsumbildung führte. Die Objektivität gebietet aber, Herr Kollege Ollenhauer, festzuhalten, daß die erste Reaktion — und Sie selbst waren Zeuge — am 29. Oktober 1962 vormittags im Bundeskanzleramt bei einer Sitzung des Bundeskabinetts unter Teilnahme der drei Fraktionsvorsitzenden aus der Regierungskoalition gekommen ist und es nicht des Anstoßes der Opposition bedurft hat, gewisse Verfahrensmängel aufzuklären und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Gewiß, die Opposition hat sich dann insbesondere
    in der Fragestunde um die Aufklärung bemüht. Der



    Dr. Mende
    Abschlußbericht, den der Bundeskanzler angefordert hatte, liegt vor.
    Wir glauben, Herr Kollege Ollenhauer, daß die Bundesregierung durch diese Regierungskrise, die zur Regierungsumbildung führte, gestärkt wurde. Sie ist nicht nur heute frei von gewissen personellen Belastungen, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit hat durch die Vorlage des Berichtes erkannt, daß das Wesenselement einer parlamentarischen Demokratie die Kontrolle auch .der Organe dieses Staates durch die Öffentlichkeit ist. Wir wissen jetzt wohl, wo die Amtshilfe beginnen sollte und wo möglicherweise die Amtsanmaßung die Konsequenz war. Aber es ist doch ein positives Element, daß wir darüber in unserem Staate offen sprechen und nicht gewillt sind, so etwas mit dem Mantel einer Koalitionskumpanei zuzudecken.

    (Beifall bei der FDP.)

    Die Bundesregierung hat sich sehr deutlich in einer Mahnung an das Parlament um die baldige Verabschiedung der Strafrechtsreform bemüht. Wir begrüßen die Mahnung des Bundeskanzlers, nach zehnjähriger Vorbereitung nunmehr an die Behandlung der Strafrechtsreform heranzugehen, die vom Kollegen Stammberger eingebracht und vom Kollegen Bucher erneut dem Parlament zur baldigen Verabschiedung anempfohlen wurde. Wir glauben, daß es gut ist, hier entsprechende Gremien zu schaffen, keine Unterausschüsse, sondern vielleicht ein besonderes Gremium. Wenn wir der Auffassung folgten, die in einer Darstellung einer großen Zeitung geäußert wurde, der Bundestag habe nicht genügend Juristen, um die Strafrechtsreform noch in dieser Wahlperiode zu verabschieden, dann wäre das in der Tat eine peinliche Selbsteinschätzung dieses Parlaments.

    (Beifall bei der FDP.)

    Wir begrüßen auch, daß die Haushaltspolitik der umgebildeten Bundesregierung auf dem gleichen Wege fortgeführt werden soll, der das erste Jahr markiert hat: die Eindämmung der Ausgaben der öffentlichen Hand hier im Bund, aber ebenso in Ländern und Gemeinden, die Erhaltung der Kaufkraft unserer D-Mark und die Bildung von Eigentum. Ich bin froh, daß der Herr Bundeskanzler in seiner eigenen Familie vor kurzer Zeit die gleiche Erfahrung machen konnte wie manche andere Bausparer schon früher. Die gegenwärtige Entwicklung auf dem Baumarkt und Hand in Hand damit — durch die Lohn- und Preisbewegung — die Verminderung der Kaufkraft unserer D-Mark ist ein Betrug an den Millionen Bausparern, die die Hoffnung haben, auf dem Wege über die Bausparverträge eines Tages zu Eigentum zu kommen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Es gilt zu verhindern, daß das Bausparwesen einen so schweren Rückschlag infolge einer bedauerlichen konjunkturellen Entwicklung erfährt.
    Der Appell an die Tarifpartner soll nur kurz unterstrichen werden. Es war eine noble Geste und eine Geste staatspolitischer Verantwortung, daß der neugewählte Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes Regierung, Parlament und Fraktionen dieses Hauses Antrittsbesuche machte, um damit zu dokumentieren, daß der Souverän unserer Demokratie das Parlament ist und ein loyales Vertrauensverhältnis zwischen dem Parlament und den auf Grund des Koalitionsrechtes entstandenen Interessenverbänden zustande kommen muß. Wir sind erfreut über aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund und aus der Deutschen Angestelltengewerkschaft in den letzten Wochen zu vernehmende Äußerungen, daß man bezüglich der Lohnkämpfe der nächsten Zeit auf die Wettbewerbslage der deutschen Industrie, insbesondere der Exportindustrie, Rücksicht nehmen wolle und daß man das Problem einer freiwilligen Schlichtung diskutieren wolle.
    Die Freie Demokratische Partei bejaht die Gewerkschaften. Sie muß sie auf Grund des Koalitionsrechtes bejahen, denn das Koalitionsrecht ist ein liberales Element. Sie bejaht die Tarifautonomie und denkt gar nicht daran — wie uns gelegentlich unterstellt wurde —, diese durch Zwangsmaßnahmen und Zwangsschlichtung einzuengen. Aber alle legalen Interessenkämpfe in unserer Demokratie müssen sich am Gemeinschaftsvorbehalt unseres Grundgesetzes orientieren: die Gemeinschaft des ganzen Volkes muß den Vorrang vor dem Wohl einzelner Interessenverbände haben.

    (Beifall bei der FDP.)

    Wir hören die Botschaft wohl, daß im Jahre 1963
    keine Steuererhöhungen beschlossen werden sollen, und uns fehlt nicht der Glaube. Wir glauben daran, daß bei diner sehr klugen Finanz- und Sozialpolitik neue Steuererhöhungen in diesem Jahr nicht nötig sind. Nicht mit einer Ausweitung des Steuervolumens, sondern mit einer Eindämmung der Ausgaben des Staates fängt man eine kluge Haushaltspolitik an.

    (Beifall bei, der FDP.)

    Allerdings geben wir die Hoffnung nicht auf, daß es bei der Umsatzsteuerreform gelingt, Verzerrungen zu beseitigen und gewisse Ungerechtigkeiten, die die Mittelschichten schwer belasten, auszuräumen.
    Die Bundesregierung hat den Dank an Bundespost und Bundesbahn zum Ausdruck gebracht. Diesem Dank können wir uns nur anschließen, und diesem Dank tun die Verluste einzelner Postsendungen dieses Hauses auch keinen Abbruch. Aber ich glaube, wir sollten uns in der Würdigung der Leistungen in diesem harten Winter nicht nur Bundespost und Bundesbahn zuwenden. Die Bundeswehr hat ohne große propagandistische Trommel insbesondere im Rhein-Main-Gebiet zur Versorgung mit Heizöl beigetragen. Die Lastkraftwagen und Lastkraftwagenfahrer haben auf den deutschen Straßen nicht minder der allgemeinen Güterversorgung gedient. Insbesondere sollten wir unser Augenmerk rechtzeitig den Schwierigkeiten zuwenden, die die 'deutsche Binnenschiffahrt als Folge dieses harten Winters in den nächsten Monaten belasten werden.
    Zur Agrarpolitik nur einige wenige Bemerkungen. Es ist erschütternd, zu hören, daß die deutsche Land-



    Dr. Mende
    wirtschaft mit 141/2 Milliarden DM verschuldet ist. Die deutsche Landwirtschaft hat genauso wie jede andere Produktion Anspruch auf kostendeckende Preise. Das ist die erste Forderung, und erst in zweiter Linie sollte man dann die Frage der zinsverbilligten langfristigen Kredite prüfen. Die Erhaltung eines lebensfähigen, gesunden Bauerntums ist für uns nicht nur eine Frage der Erhaltung eines Teils unserer Ernährungsbasis, sondern wir wollen ein Bauerntum auch aus gesellschaftspolitischer Sicht erhalten, weil der freie Bauer auf freiem Grund einer der besten Garanten einer freiheitlich-demokratischen Ordnung und ein erbitterter Gegner kommunistischer Entwicklungen ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    In ,der Sozialpolitik will ich auf das Sozialpaket nicht eingehen. Aber mir scheint, daß die Kriegsopfergesetzgebung dem Augenmerk dieses Hauses empfohlen werden müßte und daß wir uns die Verabschiedung des Zweiten Neuregelungsgesetzes baldigst vornehmen sollten genauso wie die Veränderung der Stichtage, die Frage des Lastenausgleichs für die älteren Menschen und die Aufwertung privater Rentenversicherungen. Personenschäden gehen für uns vor Vermögensschäden, und gerade die Kriegsopfer haben von uns mehr zu erwarten als nur eine soziale oder karitative Betreuung. Ich empfehle dem neuen Bundesverteidigungsminister, einmal die Verzerrungen zu prüfen, die sich zwischen der Versorgung der alten Soldaten, der Kriegsbeschädigten, Witwen und Waisen und der heutigen Versorgung der Bundeswehrsoldaten im Unglücksfall, im Todesfall im Vergleich mit der Unfallversicherung ergeben. Die Versorgung der Hinterbliebenen und Opfer des Krieges und in der Bundeswehr wird den Ansprüchen eines sozialen Rechtsstaates gegenwärtig in keiner Weise gerecht.
    Einige Bemerkungen zur wissenschaftlichen Forschung. Es sind hier einige Kompetenzsorgen aufgetreten bezüglich der Zuständigkeiten dieses neuen Ministeriums. Ich glaube, wir sollten uns nicht über die Frage der Kompetenzschwierigkeiten verbreitern, sondern dem neuen Minister Gelegenheit geben, Versäumtes auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung und auch der Koordinierung unseres Erziehungswesens nachzuholen, in enger Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz der Länder.
    Der französische Staatspräsident de Gaulle hat, wenn Pressemeldungen stimmen, die deutsche Verfassung kritisiert. In der Tat, ich kann mir manches vorstellen, was an unserem Grundgesetz reformbedürftig wäre. Aber waren es nicht gerade französische Einsprüche, die damals ein etwas stärkeres Gewicht auf die unitarische Seite verhindert und uns einen manchmal übersteigerten Föderalismus aufgezwungen haben?

    (Beifall bei der FDP.)

    Aber diese Veränderung meint der französische Staatspräsident gar nicht. Er beklagt, daß der Parlamentarische Rat kein Plebiszit eingeführt habe, sondern der parlamentarischen Demokratie den Vorzug vor plebiszitären, vor Volksentscheidungen und
    Volksentscheiden gegeben hat. Wir sollten uns glücklich schätzen, daß wir in der Zeit der Massenkommunikationsmittel keine plebiszitären Entscheidungen kennen. Mir ist die parlamentarische Demokratie mit ihren Balancen und Sicherungen wesentlich sympathischer als die Fernsehdemokratie mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen emotioneller Entscheidungen.

    (Beifall bei der FDP und in der Mitte.)

    Die Freie Demokratische Partei hat als Koalitionspartner in loyaler Zusammenarbeit auch manchmal in manchem personellen und sachlichen Gegensatz fast eineinhalb Jahre in dieser Regierung mitgearbeitet. Wir haben die Absicht, Herr Kollege Ollenhauer und Herr Kollege Wehner, und auch die Hoffnung, daß diese Zusammenarbeit der Koalition auch über den Herbst 1963 hinaus in von Monat zu Monat sich verbessernder Atmosphäre vonstatten gehen wird.

    (Beifall bei der FDP. — Zuruf von der SPD: Wunderbar!)

    Was wir Freien Demokraten dazu beitragen können, wollen wir tun. Eine Koalition ist eine Partnerschaft guten Willens auf Gegenseitigkeit und der wechselseitigen Bereitschaft zum Kompromiß. Koalition heißt nicht Gleichschaltung und Verzicht auf das belebende Element geistiger Auseinandersetzungen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)