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    6. Bundeskanzler.: 1
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    Deutscher Bundestag 58. Sitzung Bonn, den 7. Februar 1963 Inhalt: Fragestunde (Drucksache IV/947) Frage des Abg. Wellmann: Gesundheitsschädigende ausländische Lebens- und Genußmittel Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister 2589 B Frage des Abg. Blachstein: Verträge der Bundespost für spanische Gastarbeiter Stücklen, Bundesminister 2589 C, 2590 A Blachstein (SPD) . . . . 2589 D, 2590 A Frage des Abg. Dr. Rinderspacher: Unzulässigkeit der Versendung von leeren Briefumschlägen als Drucksache Stücklen, Bundesminister . . 2590 A, B, D, 2591 A, B, C, D Dr. Rinderspacher (SPD) . . . 2590 B, C, D Dr. Mommer (SPD) 2591 A Dr. Bechert (SPD) 2591 B Dr. Schäfer (SPD) 2591 C Regling (SPD) 2591 C, D Fragen des Abg. Biegler: Schmuckblattformulare Stücklen, Bundesminister . . . . 2591 D Fragen der Abg. Dr. Mommer und Dürr: Doppelte Gebühr für Gespräche bei Störung des Selbstwählverkehrs Stücklen, Bundesminister 2592 A, B, C, D, 2593 A, B, C Dr. Mommer (SPD) 2592 B, C Dürr (FDP) . . . . . . 2592 D, 2593 A Dr. Schäfer (SPD) 2593 B Frage des Abg. Freiherr von Mühlen: International gebräuchliche Adressenschreibung Stücklen, Bundesminister 2593 D, 2594 A, B Freiherr von Mühlen (FDP) 2593 D, 2594 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung: Ollenhauer (SPD) 2594 C Dr. von Brentano (CDU/CSU) . . 2604 C Dr. Mende (FDP) 2610 C Schmücker (CDU/CSU) . . . . 2615 D Erler (SPD) 2621 C, 2631 D Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . . 2629 C Dr. Achenbach (FDP) . . . . . . 2632 B Dr. Schröder, Bundesminister . . . 2634 C Dr. Jaeger (CDU/CSU) . . . . . 2638 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . 2643 D Anlagen 2645 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2589 58. Sitzung Bonn, den 7. Februar 1963 Stenographischer Bericht Beginn: 9.01 Uhr.
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    *) Siehe Anlage 2 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2645 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Dr. Aigner * 9. 2. Arendt (Wattenscheid) * 9. 2. Dr. Arndt (Berlin) 16.2., Dr. Dr. h. c. Baade 8.2. Bals 8. 2. Bergmann * 9. 2. Birkelbach * 9. 2. Fürst von Bismarck 22. 2. Dr. Bleiß 8. 2. Frau Brauksiepe 8. 2. Dr. Burgbacher * 9.2. Cramer 8.2. Dr. Deist * 9. 2. Deringer * 9. 2. Dr. Dichgans * 9. 2. Dopatka 21.2. Dr. Dörinkel 8. 2. Drachsler 8. 2. Dr. Dr. h. c. Dresbach 31. 3. Frau Dr. Elsner * 9.2. Faller * 9.2. Felder 8. 2. Figgen 20.4. Dr. Dr. h. c. Friedensburg * 9. 2. Funk (Neuses am Sand) 16.2. Dr. Furler * 9. 2. Gaßmann 8.2. Gedat 15.2. Dr. Gleissner 8. 2. Gscheidle 7. 2. Hahn (Bielefeld) * 9. 2. Hammersen 8.2. Dr. von Haniel-Niethammer 8. 2. Harnischfeger 15. 2. Hauffe 28.2. Herold 8. 2. Hilbert 8.2. Illerhaus * 9. 2. Kalbitzer * 9. 2. Katzer 28. 2. Frau Kipp-Kaule 8.2. Dr. Klein (Berlin) 8. 2. Klein (Saarbrücken) 15.2. Klinker * 9. 2. Kohlberger 8.2. Frau Korspeter 8. 2. Dr. Kreyssig * 9. 2. Kriedemann * 9. 2. Kühn (Hildesheim) 8. 2. Kurlbaum 8.2. Lemmer 28. 2. Lenz (Brühl) * 9. 2. Dr. Löhr * 9.2. Lücker (München) * 9.2. Margulies * 9. 2. Mauk * 9.2. Menke 8.2. Metzger * 9. 2. Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Michels 7. 2. Müller (Berlin) 28.2. Müller (Nordenham) 2. 3. Müser 8. 2. Neubauer 17. 2. Nieberg 8. 2. Oetzel 28. 2. Frau Dr. Pannhoff 8.2. Dr.-Ing. Philipp * 9.2. Pöhler 8. 2. Frau Dr. Probst * 9.2. Rademacher 8. 2. Richarts * 9. 2. Dr. Rieger (Köln) 8. 2. Ritzel 8. 2. Ruf 8.2. Seither 11.3. Steinhoff 15. 2. Dr. Steinmetz 8. 2. Storch * 9. 2. Strauß 18. 3. Frau Strobel * 9. 2. Sühler 8.2. Frau Vietje 15. 2. Wacher 8. 2. Dr. Wahl 28.2. Weinkamm * 9.2. Werner 24.2. Wischnewski * 9. 2. Wittmer-Eigenbrodt 16. 2. Dr. Zimmermann (München) 8. 2. * Für die Teilnahme an einer Tagung des Europäischen Parlaments Anlage 2 Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Dr. Wuermeling zu der Aussprache über die Regierungserklärung. Wir haben heute nach Neubildung der Bundesregierung die erste allgemeine politische Aussprache. Bei einer solchen Aussprache sollen die Grundlinien unserer Politik erörtert werden. Sie verstehen es gewiß, wenn ich meinerseits dabei das Thema anspreche, mit dem ich durch mein bisheriges Amt als Familienminister engstens verbunden bin und dem ich künftig auch als Abgeordneter mit Leib und Seele verbunden bleiben werde, die Familienpolitik. Dieses Thema gehört in die Generalaussprache über die Gesamtpolitik, weil es ein Thema ist, das in alle politischen Sachbereiche hineinstrahlt und hineinstrahlen muß und weil es bei allen einzelnen Fachgesetzen leider immer nur irgendwie am Rande erscheint. Es pflegt aber dort jeweils im Schatten der Fülle der Fachprobleme zu stehen, die etwa bei jedem Sozialgesetz, bei jedem Steuergesetz, beim Wohnungsbau usw. zu erörtern sind. Ist es 2646 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 nicht wirklich so, daß wir sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Verwaltung immer wieder der Gefahr erliegen, nur in den vertikalen Fachbereichen etwa der Sozialversicherungszweige, der Kriegsopferversorgung, des Lastenausgleichs, des Steuerrechts usw. zu denken und den horizontal quer durch alle vertikalen Fachbereiche gehenden so wichtigen Bereich Familie darüber in den Hintergrund treten zu lassen? Und das, obwohl es doch ein immer wieder gerade von den beiden großen Fraktionen des Hauses betontes Hauptanliegen ist, die Familie als die wichtigste Institution für Staat und Gesellschaft zu schützen und unseren Familien mit Kindern auch wirtschaftlich wenigstens einigermaßen gleichberechtigte Existenzvoraussetzungen zu ermöglichen. Auch die gestrige Regierungserklärung hat das ja erneut in zwei markanten programmatischen Sätzen unterstrichen. Lassen Sie mich zu letzterem Punkt hier heute etwas sagen, aber mit der betonten Vorbemerkung, daß diese Fragen des Familienausgleichs gewiß nicht der einzige — und nicht einmal der wichtigste — Bereich der Familienpolitik sind, aber doch der Bereich, auf dem gerade wir hier auf der Bundesebene die größten Möglichkeiten und Aufgaben haben, mit deren Erfüllung wir uns -- trotz all dessen, was bisher erreicht wurde — in der Bundesrepublik in einem schmerzlichen Rückstand gegenüber unseren westlichen Nachbarländern befinden. Ich bekenne das in aller Offenheit nach neun Jahren unaufhörlichen und leider nicht genügend erfolgreichen Ringens als Familienminister. Ich will hier nicht im einzelnen auf die Ergebnisse der Godesberger Konferenz von acht europäischen Familienministern vom Mai vorigen Jahres, die das gezeigt haben, eingehen. Sie sind Ihnen und der Öffentlichkeit ja aus dem amtlichen Bulletin bekannt. Ich gebe auch zu, daß Vergleiche mit anderen Ländern allein nicht zwingend sind, wenn man Entschlüsse für sein eigenes Land zu fassen hat, zumal da solche Vergleiche ja nicht immer auf absolut gleichartigen Komponenten aufgebaut sind. Wir haben uns allerdings bemüht, in der Familienministerkonferenz eine weitgehende Vergleichbarkeit sicherzustellen. Wichtiger als diese internationalen Vergleiche scheint mir vielmehr die Kenntnis der Situation der Familien in unserem eigenen Lande, insbesondere der Entwicklung der wirtschaftlichen Situation unserer Familien mit Kindern angesichts der Lohn-und Preisentwicklung in einer Zeit, in der wir alle immer wieder die Notwendigkeit des Schutzes und der Gerechtigkeit für sie betont haben. Hier muß leider .die betrübliche Feststellung getroffen werden, daß für die Angehörigen aller Bereiche des sozialen Lebens in den letzten Jahren Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Lebensbedingungen — gewiß unterschiedlichen Ausmaßes, aber jedenfalls sichtbare reale Verbesserungen — eingetreten sind, weithin durch •gesetzliche Maßnahmen, daß aber unsere Familien mit Kindern — und ich wage zu behaupten: allein diese! — hinter der für alle anderen eingetretenen Aufwärtsentwicklung sichtbar zurückgeblieben sind. Weil wir uns das alle täglich vor Augen halten sollten, möchte ich Ihnen diese Feststellung kurz begründen. Dazu zunächst folgendes: Wenn Löhne und Gehälter steigen — und sie sind in den letzten Jahren erheblich, mehr als die Preise gestiegen —, dann hat ,der Alleinstehende die meinetwegen 20 bis 30 DM monatlicher Erhöhung nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben für sich allein und verbessert sich entsprechend um das volle Mehr an Kaufkraft. Wo aber auch Frau und Kinder mitversorgt werden müssen, ,dividiert sich die monatliche Erhöhung durch 4 oder 5 oder noch mehr Köpfe, so daß der Kaufkraftrückstand unserer Kinderfamilien gegenüber den Alleinstehenden schon von daher mit jeder linearen Lohn- und Gehaltserhöhung immer größer wird. Dazu kommt aber noch, daß .die Preiserhöhungen für den lebensnotwendigen Bedarf, mit dem die Lohnerhöhungen ja weithin begründet werden, dieselben Familien mit Kindern, die ohnehin mit den linearen Lohnerhöhungen immer weiter hinter ,die Alleinstehenden zurückfallen, multipliziert mit der Zahl der Familienmitglieder, treffen, daß hier also einer dividierten Lohn- oder Gehaltserhöhung eine multiplizierte Verteuerung des lebensnotwendigen Bedarfs gegenübersteht, dem die Eltern gerade für ihre Kinder nicht ausweichen können. Durch diese Entwicklung kommen die Familien mit Kindern auf doppelte Weise immer weiter in Rückstand. Ich sage das jetzt nicht, um nach irgendeiner Seite hin Vorwürfe zu erheben, sondern ausschließlich, weil ich meine, daß wir uns, da wir unsere öffentlichen Erklärungen zugunsten unserer Kinderfamilien doch ernst nehmen, über diesen Tatbestand klar werden müssen. Denn im Anfange allen Fortschritts steht immer die klare Erkenntnis der Sachlage. Ich habe das Gefühl, daß aus dieser Sachlage bisher deshalb nicht die gebotenen Konsequenzen einer entsprechenden Anpassung der Familienleistungen gezogen worden sind, weil diese Erkenntnis vielen von uns bisher einfach nicht tief genug ins Bewußtsein gelangt ist. Ich darf das deshalb mit einigen wenigen Tatsachen erläutern, die meines Erachtens jeden geradezu erschrecken müssen, der sich den besonderen Sorgen unserer Väter und Mütter verbunden weiß. Zunächst das Bild im großen Bereich der freien Wirtschaft. Seit der letzten Erhöhung des Kindergeldes von 30 auf 40 DM monatlich per 1. März 1959 haben sich die durchschnittlichen Monatslöhne männlicher Industriearbeiter nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes schon bis August 1962 um 42 % — inzwischen noch weiter — erhöht. Da das Kindergeld seitdem unverändert blieb, erhöhte sich hier das Monatseinkommen — schon bis August 1962 — bei Ledigen und kinderlos Verheirateten um die genannten 42 %, bei Familien mit 3 Kindern nur um 39 %, bei Familien mit 5 Kindern nur um 34 %, und das, obschon gerade die Familien mit Kindern, wie gesagt, durch die Preisentwicklung viel stärker betroffen sind als andere. Die Zahlenreihe müßte gerechterweise genau die umgekehrte Tendenz aufweisen. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2647 Hierbei habe ich noch nicht einmal berücksichtigt, daß nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes von 1959/62 die Lebenshaltungskosten für den Unterhalt von Kindern mit rund 10% erheblich stärker angestiegen sind als die allgemeinen Lebenshaltungskosten eines Erwachsenen (7,6 %). Es steht aber ohnedies eindeutig fest, daß in dem großen Bereich der privaten Wirtschaft der Anteil am Sozialprodukt für die Familien mit Kindern sichtbar abgesunken ist, während der Anteil der Kinderlosen am Sozialprodukt zu Lasten der Kinderlosen sich ebenso sichtbar erhöht hat. Das ist aber doch wohl genau das Gegenteil von dem, was wir alle anstreben. Betrachten wir die Entwicklung bei den 835 000 Arbeitern des öffentlichen Dienstes — Bund, Länder und Gemeinden —, von denen über 500 000 allein auf Bundesbahn und Bundespost entfallen, uns also im Bundestag besonders interessieren. Hier ergibt sich, daß, weil die Kinderzuschläge seit 1956 überhaupt nicht mehr erhöht wurden, die Entwicklung noch wesentlich ungünstiger für die Familien ist. Bei einem Arbeiter der Lohngruppe IV (Ortsklasse 1) und einem mittleren Kinderzuschlag von 35 DM monatlich erhöhten sich von 1956 auf 1962 die Monatsbezüge der Kinderlosen um 53 %, bei 3 Kindern um 41%, bei 5 Kindern nur um 35 %. Hier erhöhte sich also der Anteil der Alleinstehenden am Sozialprodukt um 53%, der des Familienvaters mit 5 Kindern aber nur um 35%, beim Alleinstehenden also um rund 50 % mehr, als bei der Familie mit 5 Kindern. Ich glaube, daß das Tatbestände sind, an denen schlechthin niemand von uns vorbeigehen kann und die stärker nach Abhilfe geradezu schreien als jede andere noch so dringlich erscheinende gesellschaftspolitische Maßnahme. Für die Bundesbeamten hat die dem Hause vorliegende Regierungsvorlage, wie wir gern als erfreulich anerkennen, vorgesehen, daß die familienbezogenen Gehaltsteile ab 1. April 1963 ebenso um 6 % erhöht werden wie die Grundgehälter. Die Bundesregierung hat also die mir heute noch absolut unverständlich erscheinende Länderregelung, die ausgerechnet die familienbezogenen Gehaltsteile von der Erhöhung ausschloß, bewußt nicht mitgemacht, so daß hier, wenn man die Dinge rein rechnerisch prozentual sieht — wogegen manches gesagt werden könnte —, die Familien anteilig berücksichtigt sind. Ich glaube, daß dieser familienpolitische Querschnitt durch die verschiedenen Bereiche der Berufstätigen in die allgemeine politische Aussprache gehört, weil man die Lage der Familie einmal quer durch alle Bereiche sehen muß, um ein klares Gesamtbild zu bekommen. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß in allen Bereichen der Lohn- und Gehaltsempfänger — Entsprechendes gilt natürlich auch für die freien Berufe -der Anteil der Familien am Sozialprodukt in den letzten Jahren erheblich geschmälert wurde zugunsten des Anteils der Ledigen und kinderlosen Verheirateten. Die Familien mit Kindern befinden sich wirtschaftlich, gemessen an der Entwicklung der Erwachsenenhaushalte, in einer eindeutig rückläufigen Entwicklung. Bei dieser Sachlage sollen ihnen nun durch die Krankenversicherungsreform noch mehr neue Lasten auferlegt werden als den kinderlosen Haushalten, insbesondere durch die Handhabung des 2%igen Individualbeitrages mit der Selbstbeteiligung auch für Kinder. Ich hoffe zuversichtlich, daß das Hohe Haus den Familien wenigstens solche Sonderbelastungen erspart, wenn schon die vorgesehene Kindergeldaufbesserung nicht einmal das notwendige Mindestausmaß erreicht. Es lag mir sehr daran, diese ernsten und unser aller Wollen eideutig widersprechenden Tatbeständen hier und heute einmal in aller Offenheit darzulegen, damit wir uns demnächst bei allen einschlägigen Gesetzen daran erinnern und alle gemeinsam auf Abstellung dieser eindeutig für die Familien rückläufigen Entwicklung nach besten Kräften bedacht sind, die Wohlstandsentwicklung in den letzten Jahren ist eindeutig auf den Rücken der Familie vor sich gegangen. Das aber kann kein Staat zulassen, der auf seine Zukunft bedacht ist und dessen verantwortliche Träger wissen um die Bedeutung der Familien und ihrer Kinder für den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Lassen Sie mich zum Schluß noch die sich natürlich aufdrängende Frage beantworten, wie eine solche Entwicklung im Zeitalter der Familienpolitik und im Jahrhundert des Kindes überhaupt möglich war. Ich möchte das tun ohne jede Polemik nach irgendeiner Seite hin, ich möchte nur erkennbar machen, wo meines Erachtens die Wurzel des Übels liegt. Die Ursache für diese, wie gesagt von niemandem wirklich gewollte Entwicklung liegt in dem individualistischen Denken unserer Zeit, das immer nur allein das Individuum sieht, das im Gesellschaftsleben pair das „do ut des", die Leistung gegen die Gegenleistung kennt und darüber vergißt, daß die für Staat und Gesellschaft lebenswichtige Institution Familie in der modernen Industriegesellschaft dabei zu kurz kommt, gewissermaßen „erdrückt" wird, obschon sie doch mit die wichtigste Leistung auch für Staat und Gesellschaft erbringt. Wir müssen in allen Bereichen unseres sozialen Lebens — jeder an seiner Stelle — darauf bedacht sein und bleiben, daß dieser Entwicklung Einhalt geboten wird, nicht nur vom Gesetzgeber, sondern auch von den Tarifvertragspartnern, auch von Ländern und Gemeinden und überall, wo man etwas dazu tun kann. Niemand darf hier sagen: Familienausgleich natürlich, aber was geht mich das an? Das kann nicht alles allein der Bundesgesetzgeber machen, was hier notwendig ist. Denn das Sozialprodukt ist nur einmal da, und alles, über das etwa die Sozialpartner in tarifvertraglichen Vereinbarungen verfügen, ist für den Familienausgleich nicht mehr greifbar. Und alle Mittel des Bundeshaushalts, über die wir für andere Zwecke verfügen, sind damit der Verwendung für den so zurückgebliebenen Familienausgleich entzogen. Sollten wir alle uns nicht einmal ganz nüchtern fragen, ob wir daran in den letzten Jahren nicht zu wenig gedacht haben? Ziehen wir aus der ge- 2648 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 wonnenen Erkenntnis die sich zwangsläufig ergebenden Konsequenzen! In unseren Nachbarländern ist es weithin so, daß alle politischen Parteien ebenso wie Wirtschaft und Gewerkschaften die Familienausgleichsmaßnahmen für absolut vordringlich halten gegenüber anderen gesellschaftspolitischen Anliegen. Mit dieser gemeinsamen Haltung haben sie alle einen wirklichen und einigermaßen gerechten Familienausgleich durchgeführt, auch die Länder, deren wirtschaftlicher Aufstieg nicht das Ausmaß des unseren in der Bundesrepublik erreichte. Ich möchte heute darum werben, daß alle beteiligten Kreise sich zu dem Entschluß durchringen, künftig auch bei uns gemeinsam dieses große und unausweichlich wichtige Anliegen nicht nur zu sehen, sondern auch zu gemeinsamem Tun über alle Parteigrenzen hinweg bereit zu sein. Meinerseits möchte ich jedenfalls in diesem Sinne meinem Nachfolger im Amt des Familienministers jede mögliche Unterstützung zuteil werden lassen, auf daß er es leichter hat als ich in den Jahren, in denen die Familienpolitik erst aufgebaut und ihre Idee und Aufgabe erst einmal durchgesetzt werden mußte. Und hierzu erbitte ich die Mitarbeit aller Fraktionen und auch der Presse, eben weil Schutz und Gerechtigkeit für die Familien ein Anliegen unseres ganzen Volkes in allen gesellschaftlichen Bereichen ist. „Die Rettung des Menschengeschlechtes beginnt bei der Familie" ! Dessen mögen wir alle — jeder in seinem Bereich — stets eingedenk sein und bleiben und danach handeln!
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    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorhin hat Herr Kollege Dr. Mende uns hier in diesem Hause seinen Albtraum vorgetragen, den Albtraum, daß unter Umständen einmal die Sozialdemokratische Partei in der Regierung sitzen könnte. Er hat mit etwas — beinahe — Bedauern verzeichnet, daß die Sozialdemokraten inzwischen die Partei der Regierungsanwärter geworden seien, was wohl einschließt, daß dann andere — ich lasse es völlig offen, wer — gewissermaßen die Parteien der Oppositionsanwärter wären.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Ich bin ehrlich genug, zuzugestehen, daß die Bereitschaft, vom Anwärter zum aktiven Tun überzugehen, natürlich verschieden entwickelt ist. Die Bereitschaft der Sozialdemokratischen Partei, Regierungsverantwortung zu übernehmen, ist sicherlich stärker entwickelt als die Bereitschaft der Freien Demokraten, in die Opposition zu gehen; das kann ich vollkommen verstehen.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der FDP.)

    Eines möchte ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Eine Regierung mit der Sozialdemokratischen. Partei ist eben einfach nicht mehr dieselbe Regierung. Eine Regierung mit einer Partei, die 40 % der Sitze in diesem Hause hat, schaut nicht nur personell ein bißchen anders aus, sondern da kommt dann natürlich auch das politische und allgemeine Gewicht dieser Partei in einer solchen Regierungskombination zur Geltung; wie sollte das denn auch anders sein? Vielleicht gestehe ich hier ganz offen, daß ich das Gefühl habe, daß dies der entscheidende Grund dafür gewesen ist, daß wir diesmal noch nicht auf die Regierungsbänke gekommen sind.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.) Aber was nicht ist, kann ja noch werden.


    (Erneute Heiterkeit.)

    Für uns jedenfalls bleibt das durchaus auf der Tagesordnung, und das ist ein heilsamer Faktor der Unruhe für alle anderen Beteiligten.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

    Jedenfalls ist das Ansehen der Sozialdemokratischen Partei auch im Zuge dieser Erörterungen des vergangenen Jahres in unserem Volk außerordentlich gestärkt worden. In der Welt draußen war das schon längst passiert. Es geht hier nicht immer ganz so schnell, daß man das auch bei uns einsieht.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Ich möchte das zurückführen auf unsere Haltung — worauf denn sonst? —, aber natürlich auch auf Ihre Fehler. Nun muß ich sagen, über Ihre Fehler könnte ich mich im Interesse meiner Partei freuen; im Interesse des Ganzen sind sie natürlich zu bedauern. Eine makel- und fehlerlose Regierung wäre für das Volk besser, auch wenn es die Opposition schwerer hätte.

    (Beifall bei der SPD.)




    Erler
    Bei dieser Lage hilft es nun wirklich nichts, wenn Herr Kollege Dr. Mende hier das schöne Bild entrollte: Wenn etwas erreicht worden ist, dann liegt es an der FDP; wenn nichts erreicht worden ist, hat die Opposition die Schuld.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

    Das war so ungefähr das einleitende Kapitel seiner Rede.
    Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es wirklich mit einem verlorenen Jahr — inzwischen ist noch mehr Zeit verflossen — zu tun hatten. Die Ankündigungen munterer Taten sind kein Ersatz für das, was in dieser Zeit alles nicht geschehen ist. Ich habe soeben mit großer Aufmerksamkeit und einer guten Portion Wohlwollen gehört, was uns alles über Raumordnung und Finanzverfassung vom Kollegen Schmücker vorgetragen worden ist, so ungefähr, als würde er die Oppositionsrede gegen eine Regierung halten, die seit nunmehr 14 Jahren regiert.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ganz so ist das aber nicht. Er hat auf richtige, notwendige Dinge hingewiesen, die nun angepackt werden müssen. Ich entsinne mich noch, wie wir hier haben kämpfen müssen um einen Antrag, den der Kollege Dr. Möller eingebracht hatte, den Antrag, um z. B. an dieses Kernstück: Neuordnung der finanziellen Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden heranzugehen, eine Sachverständigenkommission einzusetzen. Da war es der damalige Finanzminister, der gesagt hat: „Oh nein, das braucht ihr gar nicht, die habe ich schon längst berufen." Nun, wir haben inzwischen gemerkt: die Kommission hat noch nicht ein einziges Mal getagt. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, wenn wir damals den Möllerschen Antrag angenommen hätten.
    Ein ähnliches Kapitel wäre etwa über die derzeitigen doch recht torsohaften Beratungen des Haushaltsauschusses über den Bundeshaushalt zu schreiben. Jeder weiß: was der Haushaltsausschuß dort berät, das stimmt schon gar nicht mehr, weil inzwischen eine ganze Reihe von neuen Forderungen auf uns zugekommen sind — wie es so schön im Neudeutschen heißt —, die also dort nun noch mit verkraftet werden müssen, und weil — das gestehe ich hier auch ganz offen — wir bisher weder in der Regierungserklärung noch in irgendwelchen finanziellen Erwägungen der Bundesregierung etwas davon vernommen haben, wie sie denn die Zusage des Herrn Bundeskanzlers nun auch finanziell zu honorieren gedenkt, die er erst vor wenigen Tagen den Vertretern der deutschen Landwirtschaft gegeben hat. Das ist doch auch ein Betrag von 800 bis 900 Millionen DM, den man nicht einfach aus dem Ärmel schütteln kann; er muß doch irgendwo also noch im Bundeshaushalt da sein. Wir wären gern neugierig zu wissen, wo dieser Haushalt nach der Meinung des Bundeskanzlers so viel Luft aufweist, und vielleicht kann man sich dann über dieses Problem relativ rasch verständigen.

    (Bundeskanzler Dr. Adenauer: Wo habe ich die Zusage gemacht?)

    — Ach, das ist mir interessant, daß der Herr Bundeskanzler jetzt also meint, er habe diese Zusage nicht gegeben. Das wird die Bauernverbände freuen. In den Zeitungen stand das.

    (Große Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Nun gut; ich meine, was nun zwischen dem Bauernverband und dem Bundeskanzler und der CDU passiert, das überlasse ich ganz Ihnen, meine Herren; das ist nicht unsere Sorge.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir haben zu ein paar anderen großen Fragen, die unser Volk gemeinsam angehen müssen, in dieser Regierungserklärung verhältnismäßig wenig gehört. Da ist z. B. ein Problem, auf das der Herr Bundespräsident neulich die Aufmerksamkeit gelenkt hat und von dem ich durchaus zugebe, daß es sich der reinen Gesetzgebungsarbeit entzieht: das Problem von fünf Millionen alten Menschen, die in Einsamkeit leben. Das ist aber auch nicht ein Problem, das man nur mit der karitativen Liebestätigkeit der Nachbarn angehen kann; hier müssen wir zu einem Zusammenwirken aller gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen und politischen Kräfte dieses Landes kommen, von der Spitze — der Bundespräsident hat ein Signal gegeben — bis hin zu den Gemeinden.
    Ähnliches gilt für den dringend notwendigen Ausbau unseres Erziehungswesens. Auch da will ich jetzt nicht in eine Fachdebatte eintreten. Es wäre gut, wenn, über die reine Forschung hinaus, bei aller Respektierung der im Grundgesetz gezogenen Kompetenzabgrenzungen auch hier ein Wort über die Zusammenarbeit gefallen wäre. Wenn man das in Staatsverträgen mit fremden Ländern angeht, dann kann man auch im Bundestag ein verbindliches Wort zu diesem allgemeinen nationalen Problem sagen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD.)

    Hier ist vorhin einiges, mit Recht, glaube ich, vom Kollegen Schmücker vorgetragen worden über die Belastung vieler Menschen unseres Landes durch eine für sie noch allzu harte und allzu lange Arbeitslast. Das wird niemand bestreiten. Wir leben — übrigens betrifft das nicht nur die Landwirtschaft und die Selbständigen, sondern auch viele andere — in einem Lande, in dem wir ein erstaunlich hohes Ausmaß an Frühinvalidität haben. Darüber ist 'bei der ersten Beratung des Sozialpakets gesprochen worden. Die wichtigste Aufgabe wäre, dafür zu sorgen, daß nicht so viele Millionen Menschen vorzeitig verschlissen sind und gar nicht erst das Alter der Altersrente erreichen, sondern wegen vorzeitiger Berufs- und Arbeitsunfähigkeit Invalidenrente zugebilligt bekommen müssen. Das ist einmal Leid für die Betroffenen, das ist Leid für deren Familien; und außerdem — hier bin ich nun bei dem Punkt —: das kostet eine Stange Geld. Diese Menschen schlagen volkswirtschaftlich ganz anders zu Buche, wenn sie vorzeitig Rente bekommen müssen, statt bei Bewahrung ihrer Arbeitskraft noch Beiträge und Steuern zahlen und einen Beitrag zum Sozialprodukt leisten zu können. Mit



    Erler
    anderen Worten: Investitionen in vorausschauender Gesundheitspolitik sind keine Fehlinvestitionen, sondern dienen der Erhaltung unseres kostbarsten Gutes, nämlich unserer Arbeitskraft.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wenn wir diesen Zusammenhang richtig sehen — und deswegen habe ich es eigentlich nur gesagt, Kollege Schmücker — und wenn wir dieses Problem einmal energisch anpacken, wenn wir uns z. B. sagen, daß man dabei vielleicht in unserer überbeschäftigten Wirtschaft Arbeitskräfte länger erhalten und damit auch die Arbeitsmarktlage entspannen kann — allein ein Jahr Arbeitszeit mehr macht schon den ganzen Bestand an ausländischen Arbeitskräften in der Bundesrepublik Deutschland aus —, dann würde auch manches andere Licht auf die Diskussion über die Arbeitszeit fallen,

    (Sehr wahr! bei der SPD)

    die man nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Überstundenvergütung sehen darf. Wenn es uns gelingt, das in die Gesundheitspolitik einzubauen, wo es eigentlich hingehört, dann kann eine vernünftige Urlaubs- und Arbeitszeitgestaltung auf Sicht ein volkswirtschaftlicher Gewinn durch Gesunderhaltung unserer Arbeitskraft sein.

    (Beifall bei der SPD.)

    Zu den Problemen Städtebau, Raumordnung und was damit zusammenhängt, kann ich Ihnen nur sagen: Wenn die Bundesregierung sich entschließen sollte, an diesen ganzen Komplex, der nicht nur ein Komplex der Gewerbesteuer, sondern doch wohl auch ein Komplex der Strukturpolitik ist, die unsere Wirtschaft im ganzen betrifft, energisch heranzugehen, so wird es an der sozialdemokratischen Unterstützung daran bestimmt nicht fehlen. Bei allen diesen vier genannten Gebieten handelt es sich um große Gemeinschaftsaufgaben eines ganzen Volkes, das seine Existenzbedingungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts allmählich der modernen Industriegesellschaft anpassen muß. Das werden wir nur in einer gemeinsamen Arbeit von Bund, Ländern und Gemeinden schaffen. Das ist mehr als ein finanzielles Problem, aber auch ein finanzielles Problem.
    Sie sehen, wie das alles zusammengehört. Das geht von einer Energiepolitik, über deren Fehlen sich heute gerade auch die Sachkundigen in den betroffenen Bereichen beschweren, bis zu einer Wirtschaftspolitik aus einem Guß, die nicht darin bestehen kann, daß man die Dinge treiben läßt und von Zeit zu Zeit Ermahnungen an die Bevölkerung richtet, sondern die in wirtschaftspolitischer Führung bestehen muß.
    Jetzt gibt es einen Ansatz. Wir werden hier demnächst — und dieser Debatte möchte ich keineswegs vorgreifen — den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung vorgelegt bekommen. Ich finde, es ist ein guter Ansatz, nachdem früher einmal der Herr Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, mit ihm könne man solche Scherze nicht machen. Man sieht, daß im wechselseitigen Gespräch offenbar auf allen
    Seiten Einsicht geweckt werden kann, auf den verschiedensten Gebieten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das Sozialpaket, das wir hier behandelt haben, enthält noch sehr viel schädlichen Ballast. Die Vorsorge für Notfälle — um die hier in diesem Hause in den Ausschüssen anstehende Beratung der vielfältigen Gesetze auf diesem Gebiet noch einmal in ein etwas anderes Licht zu bringen — war auf weiten Gebieten auch ohne Grundgesetzergänzung und ohne neue Gesetze möglich.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich weiß, daß es viele Dinge gibt — darüber haben wir uns hier unterhalten —, zu denen diese Gesetzgebung gehört. Aber der Bau von Ersatzbetten für Krankenhäuser, die Bevorratung mit bestimmten Dingen, die Gewinnung von noch mehr Freiwilligen für die Tätigkeit in den Bereichen des zivilen Bevölkerungsschutzes und anderes mehr wären durchaus möglich gewesen, schon bevor der Bundestag hier nunmehr erst weitergehende Gesetze beschließt. Auch da handelt es sich um eine Unterlassungssünde. Darüber haben wir seit 1955 jedes Jahr bei der Haushaltsberatung gesprochen und die entsprechenden Anträge vorgelegt. Was in unserem Volke fehlt, ist offenbar, daß man eine entschlossene, von Interessengruppen freie Führung an der Spitze weiß.

    (Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, dieser Mangel an Führung oder das Auseinanderklaffen der Meinungen der Führenden hat sich besonders in der Außenpolitik bemerkbar gemacht. Ich will das, was Kollege Dr. Mende hier behandelt hat, nicht noch einmal in aller Breite darstellen, daß es in der deutschen Frage sicher auch und gerade darauf ankommt, daß wir immer wieder erneut mit unseren Verbündeten das Gespräch führen, damit sie wirklich wissen, daß diejenigen, die hier in erster Linie berufen sind, nicht nur zu reagieren, sondern den Westen zu einer eigenen politischen Konzeption zu bringen, die Deutschen sein müssen; denn das ist in erster Linie unsere Frage und weniger eine Frage anderer, soviel Verantwortung sie weltpolitisch oder auch juristisch für die deutsche Frage tragen mögen.
    Das Thema, um das es heute vor allem ging, ist doch wohl die Zukunft der europäischen Gemeinschaft und ihre Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Auf diesen beiden Gebieten ist das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland nicht klar und eindeutig zur Geltung gebracht worden. Es hat lange gedauert, bis sich auch die Bundesregierung in Brüssel, nachdem sich dort schon Minister anderer Regierungen sehr lange aufgehalten haben, nicht nur durch Verhandlungspartner im Beamtenrange, sondern auch durch die Minister selber vertreten ließ.
    Wir haben nun einen in diesem Hause von allen bedauerten Fehlschlag in Brüssel erlebt. Niemand von uns wird die deutschen Möglichkeiten zur seinerzeitigen Abwehr dieses Fehlschlages oder auch jetzt zur Überwindung der Folgen überschätzen



    Erler
    wollen; das wäre völlig verfehlt. Wir wissen, daß es auch für die Bundesrepublik Deutschland sehr schwierig würde, wenn man ihr zumuten wollte, etwas fertigzubekommen — etwa bei der französischen Regierung —, was der großen Macht der Vereinigten Staaten von Amerika und dem seit Jahrzehnten mit Frankreich befreundeten und verbündeten Großbritannien nicht gelungen ist. Von so viel Größenwahn ist in diesem Hause niemand erfüllt, daß er diese Aufgabe etwa allein auf seine Schultern nehmen wollte. Wir müssen sogar dafür sorgen, daß auch in unserem Lande kein falscher Eindruck entsteht, weil man uns sonst mit falschen Verantwortungen belasten würde, die uns nicht zukommen.
    Aber wir dürfen auch draußen in der Welt nicht den Eindruck entstehen lassen, daß hinsichtlich des Fehlschlages von Brüssel die deutsche Politik etwa mit denen solidarisch sei, die ihn herbeigeführt haben. Es ist ein Unterschied, ob die Kräfte nicht ausreichen, den Fehlschlag abwenden zu helfen, oder ob man durch eigenes Verhalten einen falschen Eindruck aus der Welt schaffen kann. Gerade jetzt kommt es auf das richtige Verhalten der deutschen Politik entscheidend an. Aus dieser Sicht einer Solidarität mit einer Politik, die nicht die unsere ist, muß der deutsch-französische Vertrag heraus. Dazu ist sorgsame politische Arbeit nötig. Ich warne vor der Vorstellung, daß wir, weil andere Porzellan zerschlagen haben, nun auch noch Porzellan zerschlagen sollten;

    (Sehr richtig! bei der SPD)

    das macht das zerschlagene Porzellan auch nicht wieder heil.

    (Abg. Dr. von Brentano: Sehr gut!)

    Deshalb darf der Leidtragende vor allem nicht die europäische Gemeinschaft sein. Denn ich weiß, daß jene Kräfte in Frankreich, die jetzt den Fehlschlag herbeigeführt haben, seinerzeit im französischen Parlament nicht zu den glühenden Anhängern der europäischen Gemeinschaft gehört haben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es kommt also darauf an, daß wir die Gemeinschaft erhalten, stärken, ausbauen und schließlich so erweitern, wie sie dieser Bundestag in der überwältigenden Mehrheit seiner Mitglieder selber erweitert zu sehen wünschte. Das ist eine Arbeit der Überzeugung. Zwingen kann man nach dein Mechanismus der Verträge nämlich niemanden. Möglicherweise dauert diese Arbeit länger, als uns allen lieb ist.
    Ich bin überzeugt, daß die politische Fernhaltung Großbritanniens vom europäischen Kontinent und die damit unvermeidliche Störung der Solidarität zwischen Europa und den Vereinigten Staaten auch nicht im wahren Interesse Frankreichs liegt und daß wir hier durchaus zusammen' mit unseren Freunden geduldige Überzeugungsarbeit leisten können und müssen. Aber heute stehen wir noch etwas im Zwielicht. Ich will gar nicht untersuchen, worauf das zurückzuführen ist; das ist einfach eine Tatsache. Was können wir nun, damit diese Überzeugungsarbeit eines Tages einmal Erfolg hat, inzwischen tun?
    Inzwischen kommt es darauf an — und hier schließe ich mich sehr eng an einige Gedanken an, die Herr Dr. von Brentano vorhin vorgetragen hat —, die Abmachungen sorgsam auf ihre Auswirkungen zu prüfen, aber nicht nur dies, sondern nach dem Ergebnis dieser Prüfungen auch etwas zu tun, um Mißdeutungen und eventuell schädliche Auswirkungen zu verhindern. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die nun auszuarbeiten und im diplomatischen Geschäft auf ihre Tragfähigkeit hin abzutasten Sache der Bundesregierung ist. Das kann nicht das Parlament machen; wir können hier nur anregen. Dazu könnten z. B. in Form von Protokollen oder Briefwechseln bestimmte Zusätze gehören, die klarstellen, daß deutsch-französische Konsultation nicht dazu benutzt wird, Gemeinschaftsentscheidungen in den bestehenden Gemeinschaften zu präjudizieren und damit einen deutsch-französischen Sonderbund gegen andere zu schaffen oder ihnen gar deutsch-französischen Sonderwillen aufzwingen zu wollen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Dann bleibt immer noch ein erstaunlich hohes Maß an Konsultation übrig.
    Ich weiß, daß z. B. hier der Gedanke, ähnliche Verträge mit anderen abzuschließen — der von mir unterstützt wird, von Ihnen auch — begreiflicherweise etwas Hemmungen bei denen auslöst, die da sagen: Aber, um Himmels willen, ein solches Netzwerk bilateraler Konsultation ist doch noch kein Ersatz für wirkliche Gemeinschaftsarbeit!

    (Abg. Dr. von Brentano: Kein Ersatz!)

    — Gut, es ist eine politische Demonstration: Keine Einseitigkeit! Es muß, führte man es durch, in den Fragen, die die Gemeinschaft angehen, zwangsläufig dazu führen — schon aus Zeitgründen —, daß man einander nicht mehr bilateral, sondern am Gemeinschaftstisch konsultiert und die Dinge, die die Gemeinschaft angehen, eben nicht in zweiseitigen Abmachungen regelt und vorab festlegt, sondern dort behandelt, wohin sie gehören, am Tisch der Gemeinschaft, unter gleichberechtigten Freunden.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Da geht es mir nicht nur um das Verhältnis zu Großbritannien, so wichtig das auch ist. Großbritannien ist ein großer Staat; wenn die Briten in die europäische Gemeinschaft hineinkommen, werden sie sich in bestimmten Dingen schon ihrer Haut wehren. Mir geht es um die Befürchtungen auch und gerade der kleineren Partner in der europäischen Gemeinschaft, die nach dem jetzigen Stimmengewicht jedes Einflusses beraubt wären, wenn das deutsch-französische Gewicht immer geschlossen in die Waagschale gelegt werden müßte.

    (Beifall bei der SPD.)

    Darauf sollten wir achten, damit auch bei jenen Ländern, ob es sich nun um Luxemburg, um Belgien oder die Niederlande handelt und schließlich auch um Italien, das ja eine ähnliche Bedeutung hinsichtlich des Stimmgewichts hat wie wir, gar nicht erst das Gefühl aufkommt, der Gemeinschaftscharakter würde
    durch Sonderabmachungen gefährdet.



    Erler
    Dazu gehört auch, daß wir näher definieren, was mit den deutsch-französischen Besprechungen auf militärischem Gebiet gemeint ist. Es gab bisher schon eine ganze Masse; die waren völlig unschädlich, im Gegenteil, sogar nützlich, und so gibt es bestimmte Probleme der Rüstungswirtschaft, der waffentechnischen Zusammenarbeit, der Erziehung, des Truppenaustauschs. Das steht in völliger Übereinstimmung mit der allgemeinen Zielsetzung der NATO. Warum soll man das nicht weiterentwickeln? Die Sache wäre gefährlich, wenn der Versuch unternommen würde, durch diese Konsultation die Bundesrepublik Deutschland auf eine strategische Konzeption festzulegen, die in erklärtem Gegensatz zu der strategischen Konzeption nicht nur der Führungsmacht, sondern der Mehrheit der Atlantikpaktstaaten stände. Das wäre gefährlich und würde die Allianz schwächen. Deshalb wäre es gut, wenn wir auch zu diesem Punkt ein paar Klarstellungen von beiden Regierungen, nicht nur von der deutschen, bekommen könnten. Schließlich wäre es wichtig, wenn man einen neuen Anlauf nehmen könnte, um die Besprechungen mit Großbritannien, die ja nach offizieller französischer Erklärung nicht abgebrochen, sondern nur unterbrochen sind, auf geeignete Weise und in geeignetem Rahmen wieder anzufangen. Vielleicht gibt der Tisch der Westeuropäischen Union eine Möglichkeit, wo die Sechs und Großbritannien zusammenkommen, nicht als einander gegenüberstehende Fremde, bei denen der eine bei den anderen erst eintreten soll, sondern bereits als gleichberechtigte Teilnehmer ein und derselben Gemeinschaft, — übrigens einer viel engeren, als man vielerorts zu wissen scheint.
    Die Westeuropäische Union unterscheidet sich z. B. dadurch vom Atlantikpakt, daß sie eine automatische Beistandsklausel mit allen militärischen Hilfsmitteln einschließt. Durch die Westeuropäische Union ist Großbritannien stärker mit dem Kontinent verbunden als die Vereinigten Staaten von Amerika, wenn auch die Vereinigten Staaten von Amerika physisch durch ihre Anwesenheit stärker mit dem europäischen Kontinent verbunden sind. Der NATO-Vertrag enthält an sich nur ein Beistandsversprechen, hat jedoch eine weitgehende Integration der Streitkräfte zur Folge gehabt, die faktisch eine gewisse automatische Antwort der Beteiligten auslöst. Es bleibt in der Hoheit des unter Umständen zum Beistand verpflichteten Landes, zu entscheiden, mit welchen Mitteln und in welchem Umfang es eingreift und ob es überhaupt zu militärischen Mitteln greift. Die Westeuropäische Union verpflichtet zum Einsatz mit allen Mitteln. Deswegen sollten wir in dieser Verhandlungsrunde dieses Instrument einer sehr engen Gemeinschaft — denn es ist eine Gemeinschaft auf Leben und Tod — nicht unterschätzen.
    Ein anderes geeignetes Forum wäre zum Beispiel der Tisch der OECD. Er hat den Vorteil, daß dort auch die Amerikaner mit von der Partie sind. Dort kann man mit den Briten natürlich nicht die engeren europäischen Probleme besprechen, aber die Fragen der wirtschaftlichen und politischen Solidarität zwischen den beiden Partnern diesseits und jenseits des Atlantik, die ja auch durch den Brüsseler Fehl-
    schlag Schaden gelitten haben. Diese Fragen könnten in jenem Rahmen nach meiner Überzeugung erneut angegangen werden.
    Schließlich muß man, glaube ich, dafür sorgen — und das wird jetzt Aufgabe der deutschen Politik im weiteren Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sein —, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft weltoffen bleibt, wirklich eine liberale Außenhandelspolitik betreibt, sich nicht von anderen abschließt. Hier habe ich große Sorgen. Etwas populär gesagt, hat doch der französische Staatspräsident in seiner Pressekonferenz ungefähr ausgeführt: Eßt europäisch, und ihr bleibt gesund! Wir sollten also zunächst einmal die Erzeugnisse des eigenen europäischen Wirtschaftsgebiets verdauen, bevor wir uns daran machen, auch von woanders etwas zu beziehen.
    Meine Damen und Herren, Europa in Autarkie wäre ein verstümmeltes Europa mit einer völlig künstlichen Wirtschaft, mit jener Abschnürungswirtschaft, die zum Schein sogar einmal auf hohen Touren laufen kann — wie im „Dritten Reich" vor 1939 —, in der aber in Wahrheit der Wurm ist, und sei es auch nur die schleichende Inflation. Ich meine, daß ein Land wie unseres, +das für 50 Milliarden DM Erzeugnisse pro Jahr exportiert, ein Lebensinteresse daran hat, daß sich Europa nicht von den übrigen Weltmärkten +abschließt; denn wer exportieren will, muß auch zur Einfuhr bereit sein. Das ist das kleine Einmaleins der Wirtschaftspolitik.

    (Beifall bei der SPD.)

    Darauf werden wir achten müssen, daß bis in sehr viele Einzelheiten hinein die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft diesen dem Geist und dem Wortlaut des Vertrages allein entsprechenden Kurs auch einhält und sich von Vertretern autarker Wirtschaftsvorstellungen darin nicht im geringsten beirren läßt.
    Meine Damen und Herren, wenn wir das alles zusammen machen, dann kann eine politische Landschaft entstehen, die die deutsch-französischen Abmachungen eines jeden schädlichen Beiklangs entkleidet. Ich verlange nicht, daß das alles durchgeführt wird — um Himmels willen —, bevor der Bundestag zu diesem Dokument Stellung genommen hat. Das ist ein ziemlich reichhaltiges Programm. Aber einleiten muß man es, und zwar bald, gerade damit die deutsche Politik den Vertrauensverlust wieder wettmacht, den Deutschland und Europa in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika leider erlitten haben. Verschließen wir doch nicht die Augen vor der Wirklichkeit! Deswegen müssen wir jetzt ein bißchen mehr tun als reden. Deshalb muß unsere Regierung auf diesen Gebieten — wenn nicht auf allen, dann auf einigen — in Bälde Fortschritte vorzuweisen haben, die von ihrer guten Absicht zeugen.
    Das bedeutet, daß man mit anderen Regierungen darüber spricht und versucht, von dem, was ich ungefähr zu skizzieren versucht habe, etwas in die Wirklichkeit umzusetzen. Denn niemand in diesem Hause hat doch falsche Vorstellungen von der welt-



    Erler
    politischen Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses. Wir sind alle froh, daß die Zeit der deutsch-fanzösischen Bürgerkriege ein für allemal der Geschichte angehört. Aber wir wissen doch alle, daß, selbst wenn Deutschland und Frankreich zusammen mehr sind als jedes einzelne von ihnen, sie auch zusammen keine Weltmacht sind, auch wenn der eine oder andere vielleicht sogar schon den einen Partner drüben ,für eine Weltmacht hält. Dazu gehört ein bißchen mehr als allein ein ungebrochenes Selbstbewußtsein, meine Damen und Herren!

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

    Daher sollten wir uns hier der realen Machtverteilung in der Welt immer bewußt sein und erkennen, daß Deutschland und Frankreich gemeinsam in enger Verbindung und in enger Freundschaft Teil der europäischen Gemeinschaft sein müssen und gleichfalls ein enges solidarisches Vertrauensverhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika aufrechterhalten müssen. Das liegt im Interesse beider Länder, nicht nur eines von ihnen.
    Ich darf noch etwas zu dem Problem Großbritannien sagen. Mir geht es dabei nicht nur um das Hereinholen eines wirtschaftlich wichtigen Landes, damit der europäische Markt noch ein bißchen größer wird, die Wachstumschancen noch größer werden, die Lebenshaltung der Bevölkerung steigt. Alles wichtig, aber ich finde, hier gibt es noch einen politischen Grund, nämlich den: Wie soll die künftige europäische Gemeinschaft in ihrem inneren Leben beschaffen sein? Mir geht es um das Verhältnis des werdenden Europa zu den Prinzipien der freiheitlich-rechtsstaatlichen parlamentarischen Demokratie.

    (Beifall bei der SPD.)

    Gerade deshalb sollten wir uns Mühe geben, die Briten mit ihrer in Jahrhunderten gewachsenen Tradition, so fremd sie auch manchem Kontinentaleuropäer sein mag, mit bei der Partie zu haben. Wir meinen, daß ein solches volles Mitwirken der Briten eine der besten Garantien dafür ist, daß im künftigen Europa freiheitlich-demokratische rechtsstaatliche Grundlagen für unser Zusammensein vorhanden sind.
    Hier könnte auch die Bundesregierung heute schon einiges tun. Wir wollen ja alle — der Herr Bundeskanzler hat das neulich noch einmal sehr eindrucksvoll nach seiner Rückkehr aus Paris dargetan — keine unkontrollierten Bürokratien haben, ob die nun in Brüssel oder anderwärts sitzen. Nun gut, wie wäre es denn, wenn die Bundesregierung bei der 'nächsten Ministerratsitzung den Vorstoß des Europäischen Parlaments unterstützte, der dahin ging, daß die Befugnisse dieses Parlaments gestärkt, seine Mitglieder — wenn auch im Anfang zunächst nur teilweise — direkt 'gewählt und die drei Exekutiven zu einer einzigen verschmolzen würden? Nach dieser Rede des Herrn Bundeskanzlers habe ich keinen Zweifel mehr daran, daß die Bundesregierung nun sicher auf schnellstem Wege in der nächsten Ministerratsitzung der EWG diesen Vorstoß zur Stärkung ides demokratisch-parlamentarischen Charakters der Gemeinschaft unternehmen wird.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei einigen Abgeordneten der FDP.)

    Der Bundestag wird sich darüber freuen und vielleicht gar nicht erst einen Antrag einbringen müssen, den wir dann einstimmig annehmen, sondern vielleicht nachträglich eine Haltung der Regierung in dieser Frage mit großer Mehrheit billigen. Das ist noch viel besser.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, vorhin ist wieder einmal die berühmte Frage aufgeworfen worden, die uns oft und oft in diesem Hause beschäftigt hat: Warum wart ihr Sozialdemokraten eigentlich seinerzeit bei der Beratung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Montanunion gegen dieses Unternehmen und warum setzt ihr euch heute so warm für die weitere Festigung und den Ausbau der europäischen Gemeinschaft und die Stärkung der atlantischen Solidarität ein? — Ich will zunächst einmal den Komplex Montanunion von den anderen Verträgen, die etwas mit den militärischen Problemen zu tun haben, trennen.
    Die Einwände gegen die Montanunion waren dreifach; davon sind zwei durch die Geschichte weitgehend überholt. Der erste Einwand war das vermutete besatzungsrechtliche Relikt, die Unterwerfung von wichtigen Teilen der deutschen Wirtschaft unter fremde Interessen ohne entsprechende Gegenseitigkeit. Ich glaube, das ist im wesentlichen überwunden, auch wenn sich gelegentlich die Ruhrwirtschaft wegen des Kohlenverkaufs oder wegen der Verbundwirtschaft, die es in Frankreich gibt und bei uns nicht, noch benachteiligt fühlt. Aber das ist im wesentlichen überwunden; hier haben die Vertragspartner im guten Geiste der Gemeinschaft diese Besorgnisse aus dem Weg räumen können.
    Der zweite war der allgemeine Einwand, der in unserem Volke sicher als Problem heute immer noch diskutiert wird: Wie weit steht die Einschmelzung des halben Deutschlands in westliche Organisationen den Chancen der Wiederherstellung des ganzen Deutschlands im Wege? Das ist ein wirkliches Problem, und es hat gar keinen Sinn, den Kopf davor zu verschließen. Ich bin der Meinung, daß wir hier sorgsam trennen müssen zwischen dem Gebiet, wo ich aus Gründen, die ich nachher noch darlegen werde, keinen anderen Weg als die Einschmelzung sehe, nämlich dem militärischen, wo man aber wahrscheinlich für die Zukunft im Zusammenhang — und wohl nur dann — mit Fortschritten auf dem Gebiete der Abrüstung und der kontrollierten Begrenzung der Rüstung überhaupt wieder an die deutsche Frage heran kann und wo ein einigermaßen verständliches legitimes Interesse der Sowjetunion erkennbar ist, und allen anderen Gebieten — Wirtschaft, Politik, soziales und kulturelles Leben —, wo ich kein legitimes Interesse eines fremden Staates sehe, sich in die Gesundung der europäischen Völker einzumischen; hier sehe ich allenfalls ein kommunistisches Parteiinteresse daran, daß durch Unordnung, Elend



    Erler
    und Unzufriedenheit der Weizen der kommunistischen Propaganda blüht.

    (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: sehr richtig!)

    Da ich aber in der Außenpolitik sagen muß: ich bin bereit, mich über die Interessen fremder Staaten zu unterhalten, ich bin nicht bereit, die Interessen der kommunistischen Partei zu fördern, verbitte ich mir jede Intervention einer anderen Macht in diesen inneren Vorgang der Gesundung der europäischen Staaten von der Kleinstaaterei zu einer modernen Gemeinschaft.

    (Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der FPD.)

    Das ist das eine.
    Und nun, meine Damen und Herren, gibt es ein einfaches Rechenexempel. Wer da sagt, man müsse mit der europäischen Einigung warten, bis die deutsche Einheit erreicht sei, der zahlt der Sowjetunion eine Prämie für die Verhinderung der deutschen Einheit, denn damit hätte sie gleichzeitig auch noch die europäische Einheit torpediert. Dann kommt beides überhaupt nicht zustande.

    (Abg. Rasner: Späte Erkenntnis! — Abg. Majonica: Wie gut, daß Sie kein Prämienzahler mehr sind, Herr Erler! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ich habe zu diesem Thema schon einmal gesprochen und habe Ihnen das gleiche schon einmal gesagt; ich rufe es nur noch einmal in Erinnerung.
    1) Dieser zweite Einwand hinsichtlich der Montanunion, der verständlich ist und der auf dem militärischen Gebiete noch eher verständlich sein müßte
    — auf das militärische Gebiete komme ich noch —, ist durch den Lauf der Geschichte überholt.
    Bliebe ein dritter! Es war lebensgefährlich, auf die Dauer aus den lebendigen Volkswirtschaften zwei Scheiben herauszuschneiden — Kohle und Stahl — und diese sozusagen zu einem autonomen Kuchen zu verbacken, weil das nicht funktionieren kann, wenn der Rest der Volkswirtschaft draußen ist, da man Wirtschaftskraft nicht so aufspalten kann. Aus dem Grunde mußte man den Sprung nach vorne wagen und die gesamten Wirtschaften integrieren. Aus diesem Grunde haben wir Sozialdemokraten den Gemeinsamen Markt nicht nur gefordert, sondern mit beschlossen, im Gegensatz zu den Freien Demokraten, die sich seinerzeit diesem Vertragswerk versagt haben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Und nun zu den offenbar bei Ihnen immer noch schwer verständlichen Diskussionen um die militärischen Probleme! Dazu muß man sich einfach die Machtverteilung in der Welt ansehen, heute und in den 50er Jahren. Damals verfügten die Vereinigten Staaten von Amerika über ein beinahe vollständiges Monopol an Atomwaffen und als einzige über eine strategische Luftwaffe, mit deren Hilfe sie ihre Atomwaffen im Falle eines großen Konflikts nahezu an jeden Punkt der Sowjetunion hätten bringen können, ohne daheim auch nur zu verdunkeln zu brauchen. In jener Lage war die Frage offen — Sie
    haben sie mit Nein beantwortet, wir mit Ja —, ob man zur Überwindung der Sorge der Sowjetunion vor einer Kombination dieser amerikanischen atomaren und Fernwaffenüberlegenheit mit dem amerikanischen Rüstungspotential unter amerikanischer Führung, der deutschen militärischen Tüchtigkeit und Erfahrung — wo ja die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg immerhin einiges erlebt hatte — und den ungelösten Problemen im Herzen Europas als Gegenleistung für eine andere Sicherheitslösung im Herzen Europas, die nicht die Waffenlosigkeit gewesen wäre, sondern die ein europäisches Sicherheitssystem mit der Höhe nach vertraglich begrenzten Beiträgen einer Reihe von Partnerstaaten außer den Deutschen gewesen wäre, die Sowjetunion zu einer Lösung der Deutschlandfrage im Sinne der Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit hätte bewegen können.
    Es ist heute nahezu müßig, darüber zu streiten. Der Versuch ist nicht unternommen worden. Aber heute sieht die Weltlage anders aus. Diese Sorge, meine Damen und Herren, ist doch weitgehend nur noch ein sowjetischer Propagandaschlager. Wir haben es doch bis vor Kuba erlebt — erst seit Kuba ist das wieder anders —, daß die sowjetische Politik sich beinahe in einer Euphorie der Macht bewegt hat. Seit 1958 weiß man von sowjetischer Raketentechnik. Der Sputnik war der erste Beweis für die ganze Welt. Seitdem hallen die sowjetischen Atomexplosionen beinahe ununterbrochen über den Erdball, seitdem weiß man, daß die Sowjetunion nicht allein empfindlich ist, sondern sowohl die Vereinigten Staaten als auch Europa.
    Sehen Sie, diese Veränderung der weltpolitischen Machtverhältnisse hat auch zu einer brutalen Zuspitzung der sowjetischen Deutschlandpolitik geführt. Denn seitdem liegt das Berlin-Ultimatum auf dem Tisch. Seitdem handelt es sich nicht mehr um Angebote, einen Vertrag — so schlecht er in der Vorlage auch gewesen sein mag — mit einem Deutschland abzuschließen, sondern darum, unserem Volke ein Spaltungsdiktat aufzuerlegen. Seitdem handelt es sich um den Versuch, das freie Berlin aus den freiheitlichen Lebensformen des Westens herauszubrechen. Diese Veränderung der Weltpolitik muß man einfach sehen.
    Ich bedauere Sie. Ich kann nicht mit Stolz sagen: Gott sei Dank, daß es so gekommen ist. Aber bitte, ist das ein Grund, daß man sich heute über jene erhebt, die damals versucht haben, nach einem anderen im Interesse unseres Volkes liegenden Wege zu ringen? Sie waren anderer Meinung. Laßt die beiden Meinungen gegeneinander stehen! Aber die Veränderung der weltpolitischen Machtverhältnisse kann nicht dahin mißdeutet werden, daß wir politische Entscheidungen des Jahres 1952 heute für richtig halten, die damals falsch waren, deren Konsequenzen aber heute von uns allen miterlebt und mitgetragen werden müssen, weil niemand aus der Geschichte dieses Volkes aussteigen kann,

    (Beifall bei der SPD)

    weil bei der Entwicklung der Machtverhältnisse
    unser Volk auf Gedeih und Verderb auf die engste



    Erler
    Solidarität mit der westlichen Führungsmacht angewiesen ist und — was ich seit 1955 in diesem Saal gesagt habe — weil selbstverständlich auch eine Oppositionspartei Verträge einhalten muß, die von der Mehrheitspartei seinerzeit gegen ihren Willen abgeschlossen worden sind. Ich wollte Ihnen das hier ruhig noch einmal im Zusammenhang sagen.
    Und nun ganz zum Schluß: ich sprach von der Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Vorhin klang in diese Debatte etwas die Aussprache über die Grundprobleme der Verteidigung hinein. Ich freue mich darüber, daß der Verteidigungsausschuß demnächst Gelegenheit haben wird, mit dem Herrn Verteidigungsminister, wenn er sich einen allgemeinen Einblick verschafft hat, über diese Dinge ausführlicher zu sprechen. Ich möchte hier nur meinen, daß es auch im Interesse des deutschen Volkes und nicht nur der westlichen Führungsmacht liegt, wenn die Glaubwürdigkeit des Verteidigungswillens überhaupt, die manchmal erschüttert war, wiederhergestellt wird. Dazu gehört, daß der Westen aus der schrecklichen Alternative herausmuß, für den Fall eines jeden Konflikts nur wählen zu können zwischen einer atomaren Auseinandersetzung, die mit dem eigenen Selbstmord identisch ist, und der Kapitulation. Das ist eine Verführung des Gegners, auf die Kapitulation zu spekulieren. Deshalb muß man über eine breitere Skala von Abwehrmöglichkeiten verfügen, in die immer noch eingebaut ist — jawohl — als durchaus der Abschreckung dienende Möglichkeit, daß in der heutigen Welt jeder Konflikt die Gefahr der Entartung bis in die letzte atomare Auseinandersetzung hinein in sich trägt. Die Ungewißheit des Risikos gehört zur Abschrekkung, aber das Risiko ist nur dann ungewiß, wenn man zwischen mehreren Möglichkeiten wählen kann.
    Dazu muß man eben mehrere haben. Und das ist nun heute die Sorge in der westlichen Allianz: Wie sollen diese Möglichkeiten beschaffen sein? Nachdem der Westen insgesamt über ein atomares Potential verfügt, das ausreicht, um die Menschheit ein paarmal auszurotten, fehlt es ganz entscheidend auf dem Gebiet der konventionellen Kampfkraft. Wir können uns auch hier nicht übernehmen. Wir wissen um unsere Grenzen, um die Menschen, um die finanziellen, um die wirtschaftlichen Grenzen. In der Regierungserklärung heißt es daher mit Recht, daß es auf die Verstärkung der Qualität und der Kampfkraft ankommt, und ich freue mich darüber, daß endlich entgegen dem Text einer vom früheren Verteidigungsminister dem Hause leider schriftlich erteilten Antwort auf eine Anfrage die territoriale Verteidigung einen gebührenden Rang in der Verteidigungsplanung bekommt. Hier sind also Aufgaben zu erfüllen, bei denen auch wir, ohne daß wir uns Unmögliches zumuten, die Kampfkraft unserer Bundeswehr im Rahmen des westlichen Bündnisses stärken können.
    Das zweite ist: Das Bündnis muß Sicherheit für alle schaffen. Und da gab es natürlich die Sorge, ob der stärkste Partner in der Stunde der Gefahr auf Leben und Tod seine Mittel auch für den schwächeren einsetzt. Ich habe nie verstanden, warum ausgerechnet ein Land, das zweimal durch eben jenen stärksten Partner von einem gefährlichen Invasoren erlöst worden ist, ein übergroßes Maß an Mißtrauen gegenüber der westlichen Führungsmacht entwickelt. Offenbar liegen diese geschichtlichen Erfahrungen schon zu lange zurück.
    Ich finde, daß zur Glaubwürdigkeit des Verteidigungswillens der Allianz gegenüber der Sowjetunion auch das Vertrauen in die Entschlossenheit der westlichen Führungsmacht gehört, ohne die Europa heute in diesen globalen Machtverhältnissen sich gar nicht schützen kann.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wer an diesem Vertrauen nagt, der zerstört praktisch die kriegsverhütende Wirkung des Bündnisses und ermuntert andere zu Abenteuern. Das löst noch nicht das Problem, daß man zur Bewahrung dieses Vertrauens im Mechanismus des Bündnisses seine Stimme erheben muß für eine Verteidigungsplanung, die so angelegt ist, daß jeder mit gutem Gewissen weiß: Jawohl, dies deckt die Interessen aller Beteiligten, auch unsere. Wenn hier jene militärische, nach meiner Meinung gar nicht notwendige, aber für diesen politischen Zweck vielleicht sinnvolle Anregung von Nassau diesem Ziele dienen kann, dann liegt es durchaus in unserem Interesse, daß wir die Hand, die uns da hingestreckt worden ist — um ernsthaft darüber zu reden, wie dieses Problem gemeistert werden kann —, ergreifen und mit den anderen Beteiligten darüber sprechen, wie man diesem Problem beikommen kann.
    Was ich aber für lebensgefährlich und geradezu für beleidigend halte, das ist jene unsinnige Diskussion, daß die Führungsmacht angeblich die Europäer in den Rang eines Fußvolks herabdrücken wolle, um nur ja sich selber für unbegrenzte Zeit im Besitz der atomaren Verfügungsgewalt zu wissen. Die Vereinigten Staaten wissen einmal, was der Verlust Euorpas auch für sie bedeuten würde. Und zum zweiten — das sei hier nicht verschwiegen —: das mit dem Fußvolk sieht doch wohl so aus, daß die Amerikaner mit 400 000 Soldaten auf dem europäischen Kontinent einen größeren Beitrag zu dem Fußvolk leisten als die meisten europäischen Staaten.
    Damit, meine Damen und Herren, bin ich am Ende. Auf die Bemerkungen von Herrn von Brentano wegen der Zusammenarbeit der Fraktionen beim Schutz von Staatsgeheimnissen brauche ich nicht ausführlich zurückzukommen. Dazu liegen Vorschläge seit langem vor; wir sollten uns ernsthaft darüber unterhalten. Nur hat dies nichts ,mit dem Fallex-Artikel zu tun; das wissen Sie auch, und um den geht es ja heute,

    (Abg. Dr. von Brentano: Nicht allein!)

    um den ging es bei den Untersuchungen. Dazu möchte ich sagen: was wir hier erörtert haben und woran eine Bundesregierung zerbrochen ist, war doch nicht der Inhalt des Artikels einer Zeitschrift; so mächtig ist die auch nicht,

    (Beifall bei der SPD)




    Erler
    sondern es war das, was hinterher passierte und was in der Öffentlichkeit den Eindruck hervorrief, daß man hier nicht nach einwandfrei rechtsstaatlichen Prinzipien vorgegangen ist. Daß das Militärressort Zuständigkeiten der Rechtspflege an sich gezogen hat, war das Beunruhigende;

    (Beifall bei der SPD)

    und zwar nicht einmal deswegen, weil die Soldaten das wollten, sondern weil der zivile Verantwortliche des Militärressorts dies zur Bewahrung seiner politischen Machtposition tat. Das hat Beunruhigung verursacht. Dieser Punkt ist durch die Aktionen dieses Hauses, durch die Auseinandersetzungen auch im Regierungslager und durch den Sturm in der öffentlichen Meinung in erfreulicher Weise klargestellt worden. So etwas wollen wir alle in unserem Lande nicht noch einmal erleben. Ich bin überzeugt, daß z. B. der neue Verteidigungsminister — soviel wir vielleicht auch in anderen Fragen gelegentlich werden streiten müssen; ich weiß es ja noch nicht — sich in dieser Frage — davon zeugt die Regierungspraxis in seinem Lande — anders verhalten wird. Das wollte ich hier doch noch einmal ausdrücklich gesagt haben.
    Was uns weiterhin erregt hat, war die Tatsache, daß das Haus es ertragen mußte, von einem verantwortlichen Minister so hinters Licht geführt zu werden, wie wir es jetzt dokumentarisch vor uns sehen. Auch das war nicht gut; auch das darf sich nicht wiederholen. Vor diesem Hause müssen alle die Wahrheit sagen, auch und in erster Linie die Bundesregierung.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)

    Im Hintergrund steht das Verhältnis von Regierung und Parlament zu Presse und öffentlicher Meinung. Die sorgsame Abgrenzung — bei der Strafrechtsreform werden wir noch darüber reden müssen — zwischen dem legitimen Bedürfnis nach Geheimnisschutz des Staates und dem legitimen Grundrecht der Informations- und Meinungsfreiheit auf der anderen Seite ist eine schwierige Aufgabe; wir müssen uns an sie heranmachen. Nur so erreichen wir, daß unsere Staatsbürger, wenn sie an die Wahlurne gehen, auch einwandfrei informiert sind und eine Entscheidung fällen können; denn sie sind der Souverän, nicht wir. Wir handeln in ihrem Auftrag, meine Damen und Herren. Auch zwischen den Wahlen müssen die Staatsbürger sich regen können. Ohne Demokraten gibt es keine Demokratie. Das ist ein schwieriges Erziehungswerk, zu dem dieses Haus sicher schon einen Beitrag geleistet hat, aber auch weiterhin leisten muß.

    (Vorsitz: Präsident D. Dr. Gerstenmaier.)

    Denn in Stunden der Gefahr ist kein Verlaß auf noch so gut geölte Maschinerien; da kommt es auf den Willen und die Bereitschaft der Bürger dieses Landes an, für ihre freiheitlich rechtsstaatliche Grundordnung auch unter Risiken einzustehen.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)



Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Konrad Adenauer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Herr Kollege Erler spricht nach meiner Schätzung etwa 250 bis 300 Silben in der Minute.

    (Heiterkeit in der Mitte. — Zuruf von der SPD: Was soll das?)

    Ich schätze das so aus der Tätigkeit der Stenographen. Natürlich ist es dann sehr schwer, auf alles zu antworten, was er in verhältnismäßig kurzer Zeit mit größter Schnelligkeit sagt. Aber einige Sachen habe ich mir doch notiert.
    Sie haben gesagt, Herr Erler: Wer an dem Vertrauen der Führungsmacht nagt, macht sich — ich weiß nicht, welchen Vergehens — schuldig. Sie haben dann einige Minuten darauf gesagt: Hier müssen alle die Wahrheit sagen. Etwas übertrieben, Herr Erler, nicht wahr? Das würden Sie doch zugeben.

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien. — Abg. Erler: Ein Unterschied der Lebensgewohnheiten, Herr Bundeskanzler! — Weitere Zurufe von der SPD.)

    Aber Sie haben dann gesagt: auch die Bundesregierung! Sehen Sie, wer an dem Vertrauen zur Bundesregierung nagt, der macht sich auch einer schweren Schuld gegenüber dem deutschen Volk schuldig.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Erler: Und das nach dem ,,Spiegel"-Bericht? — Weitere Zurufe von der SPD.)

    Sie sind heute hingewiesen worden — ich kann nicht einmal sagen: angegriffen worden — auf Ihre starken Veränderungen wichtigster politischer Anschauungen und Grundsätze, die Sie im Laufe dieser Jahre erlebt haben und die wir miterlebt haben. Sicher, meine Herren, es muß mehr Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut. Aber, meine Herren, er muß auch Buße tun! Das gehört auch dazu.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

    Meine Herren, Herr Erler ist wirklich — um seinen Ausdruck zu gebrauchen — ein Mann von ungebrochenem Selbstbewußtsein. Ich habe so etwas selten erlebt wie heute Ihre Rede hier. Sie haben den schönen Satz zur Begründung für den Wechsel in Ihren Auffassungen zu lebenswichtigen Dingen des deutschen Volkes gesagt: Die Veränderung der Weltpolitik muß man sehen. Vollkommen richtig! Aber es fragt sich, Herr Erler, wann man sie sieht. Politik kann nur der machen, der sie rechtzeitig sieht und nicht post.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich meine, wenn mir nachher vorgeführt wird, daß Sowjetrußland eine ganz außerordentlich große nukleare Macht geworden ist und daß es uns an den Kragen will, dann gehe ich mit, Herr Erler, dann sehe ich die Weltgeschichte. Nein, man muß sie eben vorher sehen.
    Sie haben zum Beispiel auch davon gesprochen, daß Sie überlegt hätten, ob man an Amerika, diese



    Dr. Adenauer
    nukleare Macht, herangehen solle, solange nicht die Frage der Wiedervereinigung seitens Rußlands negativ beantwortet sei. Wissen Sie denn nicht, Herr Erler, was der amerikanische Präsident Eisenhower ganz kurz nach seinem Regierungsantritt der Welt öffentlich angeboten hat? Richtig, damals hatten die Vereinigten Staaten allein nukleare Waffen. Aber Eisenhower hat der ganzen Welt angeboten, sämtliche amerikanischen nuklearen Waffen, sämtliche Stoffe zur Herstellung, alle Vorräte einer öffentlichen Kontrolle zu unterstellen, um sie zu friedlichen Zwecken zu verwenden. Der einzige Staat, der das abgelehnt hat, war Sowjetrußland, meine Damen und Herren. Ich meine, da konnte man doch schon die Weltgeschichte in etwa sehen und wußte, was man für Konsequenzen daraus zu ziehen hat.
    Sie haben dann das mit der Montanunion wundervoll dargestellt. Meine Herren, dem Herrn Kollegen Erler waren Kohle und Eisen zu wenig; es müßte viel mehr hereinkommen. Er hat angedeutet, was alles hereinkommen müsse, damit wirklich was entstehe. Herr Kollege Erler, es gibt ja auch noch Zeugen der Entstehung der Montanunion. Sie können darüber auch in den Stenographischen Berichten des Bundestages nachlesen. Wie ist denn die Montanunion entstanden?
    Mir hat Herr Schumann damals geschrieben: Zwischen dem französischen Volk und dem deutschen Volk dauert das Mißtrauen an, und die Franzosen sind voll Furcht, daß sich Deutschland eines Tages wieder erholen wird und daß es dann an Frankreich Revanche nehmen wird. Er hat dann in dem Brief fortgefahren: Jede Aufrüstung zeigt sich auf zwei Gebieten an, auf dem Gebiete der Produktion von Stahl und Eisen und damit zusammenhängend von Kohle. Darum schlug er vor, daß zwischen den Staaten, die er angeschrieben hat -auch Großbritannien war dabei, an allererster Stelle —, eine Montanunion derart gegründet wird, daß jedes Land überschauen kann, wenn auf dem Gebiet der Produktion von Eisen, Stahl und Kohle irgendeine Unruhe entsteht. Wenn wir so etwas schaffen — so fuhr er fort —, dann gewinnen wir das Vertrauen zueinander, das keiner den anderen überfallen wird. — Das war der Gesichtspunkt der Montanunion, und dem haben Sie nicht zugestimmt.

    (Abg. Dr. Mommer: Es gab auch andere, Herr Bundeskanzler!)

    — Nein, es war nichts anderes!

    (Abg. Dr. Mommer: Auch andere!)

    Dem haben Sie nicht zugestimmt. Und neben Ihnen standen — ich darf da nicht Genossen sagen — als Genossen in dem Kampf die Schwerindustrie.

    (Heiterkeit.)

    Das waren damals Ihre Freunde.

    (Fortgesetzte Heiterkeit und Zurufe von der SPD.)

    Ich erinnere mich noch sehr, welche Mühe es auch
    mich persönlich gekostet hat, die Schwerindustrie —
    ob sie nun in intimer Verbindung mit Ihnen stand, weiß ich nicht —,

    (Heiterkeit)

    die Bergwerksindustrie davon zu überzeugen, daß sie unter keinen Umständen hier nein sagen dürfe. Und wir haben es getan. Die Sozialdemokratische Partei hat damals leider nicht mitgemacht.
    Ich würde jetzt hier nicht davon gesprochen haben — ich hatte gar nicht daran gedacht, davon zu sprechen —, wenn Sie sich nicht hier hingestellt hätten als ein Prophet, wie seit Christi Geburt keiner mehr auf die Welt gekommen ist.

    (Beifall und anhaltende allgemeine Heiterkeit.)

    Aber sehen Sie, Herr Erler, wer Begabung hat — und Sie haben Begabung —,

    ('erneute Heiterkeit)

    hat auch eine große Verantwortung für den Gebrauch dieser Begabung. Ich sage Ihnen: weitere solche Reden hier in diesem Hause tragen nicht dazu bei, daß das Vertrauen zum deutschen Volk wächst.

    (Widerspruch bei der SPD.)

    — Natürlich müssen Sie nein sagen; Sie dürfen doch nicht ja sagen, das ist doch klar.

    (Heiterkeit in der Mitte.)

    Sie glauben noch immer, wie es scheint, daß man
    draußen in der Welt zum deutschen Volk ein ungebrochenes Vertrauen hat. Gar kein Gedanke daran!

    (Zuruf von der SPD: Denken Sie doch mal an Strauß!)

    Meine Damen und Herren, im Ausland ist nicht vergessen, was von hier ausgegangen ist, von Deutschland.

    (Zuruf von der SPD: Von dort!)

    Darum müssen wir, meine Damen und Herren — ich spreche aus dem Gefühl einer tiefen Verantwortung und einer großen Sorge heraus — mit der größten Sorgfalt alle Reden bedenken, die sich so direkt an das Ausland wenden.

    (Lebhafte Rufe Sehr gut! und Sehr wahr! bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Ins Stammbuch!)

    Und deswegen war diese Bemerkung von dem Mann mit (dem ungebrochenen Selbstvertrauen, auf den Sie so reagiert haben, eine höchst überflüssige Bemerkung.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, seien wir doch froh, daß es so ist, wie es jetzt ist mit Frankreich. Ich weiß, vom Standpunkt der parlamentarischen Demokratie aus kann man Kritik üben.

    (Zuruf von der SPD: Muß man!)

    Aber, meine Damen und Herren — ich sage das
    sehr offen —: der Zustand, wie er in Frankreich die
    Jahre vorher gewesen ist, wo die Regierungen stän-



    Dr. Adenauer
    dig gewechselt haben, war für Frankreich schlecht, war für uns schlecht, war für Europa schlecht.

    (Hört! Hört! und Zurufe von der SPD.)

    Und ich will Ihnen nur folgendes sagen — gerade den Herren, die von da hinten die Zwischenrufe machen —: mir hat der verstorbene Foster Dulles zweimal gesagt: „Wenn Sie nicht zu uns halten, dann werden wir Europa verlassen." So sah es doch damals in Europa aus! Die Amerikaner glaubten nicht an die Festigkeit. Wir haben uns konsolidiert, und wir haben dafür gesorgt, daß man doch wieder Vertrauen zum deutschen Volke bekommen hat. Und seien wir froh, Herr Erler, über jede Freundschaft, die wir uns noch erwerben in irgendeinem Volke. Wir können sie bei Gott gebrauchen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und Abgeordneten der FDP.)

    Und überlassen wir jedem Volke, sich eine Regierungsreform zu bauen, die es will. Das ist seine Sache, meine Damen und Herren, solange es damit keine anderen bedroht; das ist seine Sache, und wir sollten uns hüten vor an Spott grenzender Kritik.
    Im übrigen möchte ich Ihnen nur das eine sagen: Nach den letzten Zählungen in Frankreich haben 67 Prozent der Befragten sich für dieses Regime ausgesprochen. Ich möchte Ihnen noch ,ein weiteres sagen. Als ich jetzt in Paris war, hat Herr Blankenhorn 150 Abgeordnete für mich eingeladen zu einem Zusammenkommen. Natürlich, der größte Teil da-von waren Gaullisten. Es waren aber auch Nichtgaullisten dabei, und ich habe sehr freimütig mit den Herren über alles gesprochen. Und im Grunde genommen sind die Herren alle ganz zufrieden.

    (Lachen bei der SPD.)

    Und das 'ist doch schließlich die Hauptsache!

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Aber vor allem, meine Damen und Herren: ich habe mich gestern absichtlich so vorsichtig ausgedrückt und habe gebeten, wir möchten über das deutschfranzösische Abkommen diskutieren, wenn es hier zur Vorlage kommt. Wir können jetzt nicht ausgiebig darüber diskutieren; auch 'deswegen nicht, weil dadurch nun im Zusammenhang mit dem, was mit Großbritanniens Beitritt geschehen ist, dann dieses Abkommen eine viel zu große Bedeutung in der außenpolitischen Bewertung erlangt. Man soll doch alle Dinge 'in ihrem Rahmen lassen und nicht darüber hinausgehen.
    Da ich nun einmal das Wort genommen habe und da Herr Kollege Ollenhauer, der ganz spezielle Fragen an mich gestellt hat, inzwischen wieder anwesend ist, möchte ich ihm diese Fragen jetzt beantworten. Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben zwei spezielle Fragen an mich gerichtet. Die erste betraf die Konsultation mit Frankreich und ging dahin, ob ich auch konsultiert worden sei über die Rede, die de Gaulle auf der Pressekonferenz gehalten hat. Dazu sage ich Ihnen folgendes. Bei der Schlußsitzung, die wir in Paris hatten, hat de Gaulle gesagt: Wenn das Abkommen Rechtens geworden ist, wird
    der erste Gegenstand der Konsultation der Beitritt Englands zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sein. Das war sehr korrekt, und das wird auch nach menschlischem Ermessen der erste Gegenstand der Konsultation sein.
    Ich will Ihnen aber noch weiter wiedergeben, was ich Herrn de Gaulle, als der Antrag der Briten, in die EWG aufgenommen zu werden, ernst wurde — er war nicht immer so ernst —, über die deutsche Stellungnahme und über meine persönliche Stellungnahme gesagt habe. Ich habe ihm erklärt: Wir Deutschen sind auf ein gutes Einvernehmen mit Großbritannien wegen Berlin und der Wiedervereinigung angewiesen, und deswegen bin ich ohne Rücksicht auf alles andere für die Aufnahme 'Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Ich habe gesagt: Natürlich muß über Einzelheiten gesprochen werden.
    Am 11. Oktober des Jahres 1962 habe ich Ihnen, Herr Kollege Ollenhauer, desselbe geantwortet. Sie können das nachlesen. Ich habe Ihnen ganz klar erklärt, daß ich dafür sei und daß natürlich über dieses und jenes gehandelt werden müsse. Damals habe ich gesagt — und gerade das hat Anerkennung in der britischen Presse gefunden —: Die britischen Vertreter sind dazu da, bei den Verhandlungen die britischen Interessen wahrzunehmen, und die deutschen Vertreter sind dafür da, die deutschen Interessen wahrzunehmen, und dann muß man eben sehen, daß man übereinkommt. Das ist bei jedem politischen Verhandeln so selbstverständlich wie nur denkbar. Aber ich wiederhole nochmals, Herr Kollege Ollenhauer: ich habe damals, als zuerst im Ernst darüber gesprochen wurde, Herrn de Gaulle gesagt, daß ich aus diesen politischen Gründen dafür sei, und ich habe es später hier vor dem Bundestag auch wiederholt.
    Ich meine, das ist keine gute Außenpolitik: Dadurch, daß man einem Regierungschef immer wieder die Frage stellt, daß man glaubt, verschiedene Schattierungen der Meinungen innerhalb der Bundesregierung herauszufinden, dadurch, daß man vom Zwielicht spricht, fördert man die Sache nicht. Ich wünsche, daß die Briten an mein Wort glauben:

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dadurch werden wir in den ganzen Verhandlungen einen guten Schritt vorankommen. Aber wir werden nicht vorankommen, wenn hier in diesem Hause an meinen Worten Zweifel geäußert werden.

    (Anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien.)