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    Deutscher Bundestag 58. Sitzung Bonn, den 7. Februar 1963 Inhalt: Fragestunde (Drucksache IV/947) Frage des Abg. Wellmann: Gesundheitsschädigende ausländische Lebens- und Genußmittel Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister 2589 B Frage des Abg. Blachstein: Verträge der Bundespost für spanische Gastarbeiter Stücklen, Bundesminister 2589 C, 2590 A Blachstein (SPD) . . . . 2589 D, 2590 A Frage des Abg. Dr. Rinderspacher: Unzulässigkeit der Versendung von leeren Briefumschlägen als Drucksache Stücklen, Bundesminister . . 2590 A, B, D, 2591 A, B, C, D Dr. Rinderspacher (SPD) . . . 2590 B, C, D Dr. Mommer (SPD) 2591 A Dr. Bechert (SPD) 2591 B Dr. Schäfer (SPD) 2591 C Regling (SPD) 2591 C, D Fragen des Abg. Biegler: Schmuckblattformulare Stücklen, Bundesminister . . . . 2591 D Fragen der Abg. Dr. Mommer und Dürr: Doppelte Gebühr für Gespräche bei Störung des Selbstwählverkehrs Stücklen, Bundesminister 2592 A, B, C, D, 2593 A, B, C Dr. Mommer (SPD) 2592 B, C Dürr (FDP) . . . . . . 2592 D, 2593 A Dr. Schäfer (SPD) 2593 B Frage des Abg. Freiherr von Mühlen: International gebräuchliche Adressenschreibung Stücklen, Bundesminister 2593 D, 2594 A, B Freiherr von Mühlen (FDP) 2593 D, 2594 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung: Ollenhauer (SPD) 2594 C Dr. von Brentano (CDU/CSU) . . 2604 C Dr. Mende (FDP) 2610 C Schmücker (CDU/CSU) . . . . 2615 D Erler (SPD) 2621 C, 2631 D Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . . 2629 C Dr. Achenbach (FDP) . . . . . . 2632 B Dr. Schröder, Bundesminister . . . 2634 C Dr. Jaeger (CDU/CSU) . . . . . 2638 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . 2643 D Anlagen 2645 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2589 58. Sitzung Bonn, den 7. Februar 1963 Stenographischer Bericht Beginn: 9.01 Uhr.
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    *) Siehe Anlage 2 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2645 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Dr. Aigner * 9. 2. Arendt (Wattenscheid) * 9. 2. Dr. Arndt (Berlin) 16.2., Dr. Dr. h. c. Baade 8.2. Bals 8. 2. Bergmann * 9. 2. Birkelbach * 9. 2. Fürst von Bismarck 22. 2. Dr. Bleiß 8. 2. Frau Brauksiepe 8. 2. Dr. Burgbacher * 9.2. Cramer 8.2. Dr. Deist * 9. 2. Deringer * 9. 2. Dr. Dichgans * 9. 2. Dopatka 21.2. Dr. Dörinkel 8. 2. Drachsler 8. 2. Dr. Dr. h. c. Dresbach 31. 3. Frau Dr. Elsner * 9.2. Faller * 9.2. Felder 8. 2. Figgen 20.4. Dr. Dr. h. c. Friedensburg * 9. 2. Funk (Neuses am Sand) 16.2. Dr. Furler * 9. 2. Gaßmann 8.2. Gedat 15.2. Dr. Gleissner 8. 2. Gscheidle 7. 2. Hahn (Bielefeld) * 9. 2. Hammersen 8.2. Dr. von Haniel-Niethammer 8. 2. Harnischfeger 15. 2. Hauffe 28.2. Herold 8. 2. Hilbert 8.2. Illerhaus * 9. 2. Kalbitzer * 9. 2. Katzer 28. 2. Frau Kipp-Kaule 8.2. Dr. Klein (Berlin) 8. 2. Klein (Saarbrücken) 15.2. Klinker * 9. 2. Kohlberger 8.2. Frau Korspeter 8. 2. Dr. Kreyssig * 9. 2. Kriedemann * 9. 2. Kühn (Hildesheim) 8. 2. Kurlbaum 8.2. Lemmer 28. 2. Lenz (Brühl) * 9. 2. Dr. Löhr * 9.2. Lücker (München) * 9.2. Margulies * 9. 2. Mauk * 9.2. Menke 8.2. Metzger * 9. 2. Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Michels 7. 2. Müller (Berlin) 28.2. Müller (Nordenham) 2. 3. Müser 8. 2. Neubauer 17. 2. Nieberg 8. 2. Oetzel 28. 2. Frau Dr. Pannhoff 8.2. Dr.-Ing. Philipp * 9.2. Pöhler 8. 2. Frau Dr. Probst * 9.2. Rademacher 8. 2. Richarts * 9. 2. Dr. Rieger (Köln) 8. 2. Ritzel 8. 2. Ruf 8.2. Seither 11.3. Steinhoff 15. 2. Dr. Steinmetz 8. 2. Storch * 9. 2. Strauß 18. 3. Frau Strobel * 9. 2. Sühler 8.2. Frau Vietje 15. 2. Wacher 8. 2. Dr. Wahl 28.2. Weinkamm * 9.2. Werner 24.2. Wischnewski * 9. 2. Wittmer-Eigenbrodt 16. 2. Dr. Zimmermann (München) 8. 2. * Für die Teilnahme an einer Tagung des Europäischen Parlaments Anlage 2 Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten Dr. Wuermeling zu der Aussprache über die Regierungserklärung. Wir haben heute nach Neubildung der Bundesregierung die erste allgemeine politische Aussprache. Bei einer solchen Aussprache sollen die Grundlinien unserer Politik erörtert werden. Sie verstehen es gewiß, wenn ich meinerseits dabei das Thema anspreche, mit dem ich durch mein bisheriges Amt als Familienminister engstens verbunden bin und dem ich künftig auch als Abgeordneter mit Leib und Seele verbunden bleiben werde, die Familienpolitik. Dieses Thema gehört in die Generalaussprache über die Gesamtpolitik, weil es ein Thema ist, das in alle politischen Sachbereiche hineinstrahlt und hineinstrahlen muß und weil es bei allen einzelnen Fachgesetzen leider immer nur irgendwie am Rande erscheint. Es pflegt aber dort jeweils im Schatten der Fülle der Fachprobleme zu stehen, die etwa bei jedem Sozialgesetz, bei jedem Steuergesetz, beim Wohnungsbau usw. zu erörtern sind. Ist es 2646 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 nicht wirklich so, daß wir sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Verwaltung immer wieder der Gefahr erliegen, nur in den vertikalen Fachbereichen etwa der Sozialversicherungszweige, der Kriegsopferversorgung, des Lastenausgleichs, des Steuerrechts usw. zu denken und den horizontal quer durch alle vertikalen Fachbereiche gehenden so wichtigen Bereich Familie darüber in den Hintergrund treten zu lassen? Und das, obwohl es doch ein immer wieder gerade von den beiden großen Fraktionen des Hauses betontes Hauptanliegen ist, die Familie als die wichtigste Institution für Staat und Gesellschaft zu schützen und unseren Familien mit Kindern auch wirtschaftlich wenigstens einigermaßen gleichberechtigte Existenzvoraussetzungen zu ermöglichen. Auch die gestrige Regierungserklärung hat das ja erneut in zwei markanten programmatischen Sätzen unterstrichen. Lassen Sie mich zu letzterem Punkt hier heute etwas sagen, aber mit der betonten Vorbemerkung, daß diese Fragen des Familienausgleichs gewiß nicht der einzige — und nicht einmal der wichtigste — Bereich der Familienpolitik sind, aber doch der Bereich, auf dem gerade wir hier auf der Bundesebene die größten Möglichkeiten und Aufgaben haben, mit deren Erfüllung wir uns -- trotz all dessen, was bisher erreicht wurde — in der Bundesrepublik in einem schmerzlichen Rückstand gegenüber unseren westlichen Nachbarländern befinden. Ich bekenne das in aller Offenheit nach neun Jahren unaufhörlichen und leider nicht genügend erfolgreichen Ringens als Familienminister. Ich will hier nicht im einzelnen auf die Ergebnisse der Godesberger Konferenz von acht europäischen Familienministern vom Mai vorigen Jahres, die das gezeigt haben, eingehen. Sie sind Ihnen und der Öffentlichkeit ja aus dem amtlichen Bulletin bekannt. Ich gebe auch zu, daß Vergleiche mit anderen Ländern allein nicht zwingend sind, wenn man Entschlüsse für sein eigenes Land zu fassen hat, zumal da solche Vergleiche ja nicht immer auf absolut gleichartigen Komponenten aufgebaut sind. Wir haben uns allerdings bemüht, in der Familienministerkonferenz eine weitgehende Vergleichbarkeit sicherzustellen. Wichtiger als diese internationalen Vergleiche scheint mir vielmehr die Kenntnis der Situation der Familien in unserem eigenen Lande, insbesondere der Entwicklung der wirtschaftlichen Situation unserer Familien mit Kindern angesichts der Lohn-und Preisentwicklung in einer Zeit, in der wir alle immer wieder die Notwendigkeit des Schutzes und der Gerechtigkeit für sie betont haben. Hier muß leider .die betrübliche Feststellung getroffen werden, daß für die Angehörigen aller Bereiche des sozialen Lebens in den letzten Jahren Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Lebensbedingungen — gewiß unterschiedlichen Ausmaßes, aber jedenfalls sichtbare reale Verbesserungen — eingetreten sind, weithin durch •gesetzliche Maßnahmen, daß aber unsere Familien mit Kindern — und ich wage zu behaupten: allein diese! — hinter der für alle anderen eingetretenen Aufwärtsentwicklung sichtbar zurückgeblieben sind. Weil wir uns das alle täglich vor Augen halten sollten, möchte ich Ihnen diese Feststellung kurz begründen. Dazu zunächst folgendes: Wenn Löhne und Gehälter steigen — und sie sind in den letzten Jahren erheblich, mehr als die Preise gestiegen —, dann hat ,der Alleinstehende die meinetwegen 20 bis 30 DM monatlicher Erhöhung nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben für sich allein und verbessert sich entsprechend um das volle Mehr an Kaufkraft. Wo aber auch Frau und Kinder mitversorgt werden müssen, ,dividiert sich die monatliche Erhöhung durch 4 oder 5 oder noch mehr Köpfe, so daß der Kaufkraftrückstand unserer Kinderfamilien gegenüber den Alleinstehenden schon von daher mit jeder linearen Lohn- und Gehaltserhöhung immer größer wird. Dazu kommt aber noch, daß .die Preiserhöhungen für den lebensnotwendigen Bedarf, mit dem die Lohnerhöhungen ja weithin begründet werden, dieselben Familien mit Kindern, die ohnehin mit den linearen Lohnerhöhungen immer weiter hinter ,die Alleinstehenden zurückfallen, multipliziert mit der Zahl der Familienmitglieder, treffen, daß hier also einer dividierten Lohn- oder Gehaltserhöhung eine multiplizierte Verteuerung des lebensnotwendigen Bedarfs gegenübersteht, dem die Eltern gerade für ihre Kinder nicht ausweichen können. Durch diese Entwicklung kommen die Familien mit Kindern auf doppelte Weise immer weiter in Rückstand. Ich sage das jetzt nicht, um nach irgendeiner Seite hin Vorwürfe zu erheben, sondern ausschließlich, weil ich meine, daß wir uns, da wir unsere öffentlichen Erklärungen zugunsten unserer Kinderfamilien doch ernst nehmen, über diesen Tatbestand klar werden müssen. Denn im Anfange allen Fortschritts steht immer die klare Erkenntnis der Sachlage. Ich habe das Gefühl, daß aus dieser Sachlage bisher deshalb nicht die gebotenen Konsequenzen einer entsprechenden Anpassung der Familienleistungen gezogen worden sind, weil diese Erkenntnis vielen von uns bisher einfach nicht tief genug ins Bewußtsein gelangt ist. Ich darf das deshalb mit einigen wenigen Tatsachen erläutern, die meines Erachtens jeden geradezu erschrecken müssen, der sich den besonderen Sorgen unserer Väter und Mütter verbunden weiß. Zunächst das Bild im großen Bereich der freien Wirtschaft. Seit der letzten Erhöhung des Kindergeldes von 30 auf 40 DM monatlich per 1. März 1959 haben sich die durchschnittlichen Monatslöhne männlicher Industriearbeiter nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes schon bis August 1962 um 42 % — inzwischen noch weiter — erhöht. Da das Kindergeld seitdem unverändert blieb, erhöhte sich hier das Monatseinkommen — schon bis August 1962 — bei Ledigen und kinderlos Verheirateten um die genannten 42 %, bei Familien mit 3 Kindern nur um 39 %, bei Familien mit 5 Kindern nur um 34 %, und das, obschon gerade die Familien mit Kindern, wie gesagt, durch die Preisentwicklung viel stärker betroffen sind als andere. Die Zahlenreihe müßte gerechterweise genau die umgekehrte Tendenz aufweisen. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2647 Hierbei habe ich noch nicht einmal berücksichtigt, daß nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes von 1959/62 die Lebenshaltungskosten für den Unterhalt von Kindern mit rund 10% erheblich stärker angestiegen sind als die allgemeinen Lebenshaltungskosten eines Erwachsenen (7,6 %). Es steht aber ohnedies eindeutig fest, daß in dem großen Bereich der privaten Wirtschaft der Anteil am Sozialprodukt für die Familien mit Kindern sichtbar abgesunken ist, während der Anteil der Kinderlosen am Sozialprodukt zu Lasten der Kinderlosen sich ebenso sichtbar erhöht hat. Das ist aber doch wohl genau das Gegenteil von dem, was wir alle anstreben. Betrachten wir die Entwicklung bei den 835 000 Arbeitern des öffentlichen Dienstes — Bund, Länder und Gemeinden —, von denen über 500 000 allein auf Bundesbahn und Bundespost entfallen, uns also im Bundestag besonders interessieren. Hier ergibt sich, daß, weil die Kinderzuschläge seit 1956 überhaupt nicht mehr erhöht wurden, die Entwicklung noch wesentlich ungünstiger für die Familien ist. Bei einem Arbeiter der Lohngruppe IV (Ortsklasse 1) und einem mittleren Kinderzuschlag von 35 DM monatlich erhöhten sich von 1956 auf 1962 die Monatsbezüge der Kinderlosen um 53 %, bei 3 Kindern um 41%, bei 5 Kindern nur um 35 %. Hier erhöhte sich also der Anteil der Alleinstehenden am Sozialprodukt um 53%, der des Familienvaters mit 5 Kindern aber nur um 35%, beim Alleinstehenden also um rund 50 % mehr, als bei der Familie mit 5 Kindern. Ich glaube, daß das Tatbestände sind, an denen schlechthin niemand von uns vorbeigehen kann und die stärker nach Abhilfe geradezu schreien als jede andere noch so dringlich erscheinende gesellschaftspolitische Maßnahme. Für die Bundesbeamten hat die dem Hause vorliegende Regierungsvorlage, wie wir gern als erfreulich anerkennen, vorgesehen, daß die familienbezogenen Gehaltsteile ab 1. April 1963 ebenso um 6 % erhöht werden wie die Grundgehälter. Die Bundesregierung hat also die mir heute noch absolut unverständlich erscheinende Länderregelung, die ausgerechnet die familienbezogenen Gehaltsteile von der Erhöhung ausschloß, bewußt nicht mitgemacht, so daß hier, wenn man die Dinge rein rechnerisch prozentual sieht — wogegen manches gesagt werden könnte —, die Familien anteilig berücksichtigt sind. Ich glaube, daß dieser familienpolitische Querschnitt durch die verschiedenen Bereiche der Berufstätigen in die allgemeine politische Aussprache gehört, weil man die Lage der Familie einmal quer durch alle Bereiche sehen muß, um ein klares Gesamtbild zu bekommen. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß in allen Bereichen der Lohn- und Gehaltsempfänger — Entsprechendes gilt natürlich auch für die freien Berufe -der Anteil der Familien am Sozialprodukt in den letzten Jahren erheblich geschmälert wurde zugunsten des Anteils der Ledigen und kinderlosen Verheirateten. Die Familien mit Kindern befinden sich wirtschaftlich, gemessen an der Entwicklung der Erwachsenenhaushalte, in einer eindeutig rückläufigen Entwicklung. Bei dieser Sachlage sollen ihnen nun durch die Krankenversicherungsreform noch mehr neue Lasten auferlegt werden als den kinderlosen Haushalten, insbesondere durch die Handhabung des 2%igen Individualbeitrages mit der Selbstbeteiligung auch für Kinder. Ich hoffe zuversichtlich, daß das Hohe Haus den Familien wenigstens solche Sonderbelastungen erspart, wenn schon die vorgesehene Kindergeldaufbesserung nicht einmal das notwendige Mindestausmaß erreicht. Es lag mir sehr daran, diese ernsten und unser aller Wollen eideutig widersprechenden Tatbeständen hier und heute einmal in aller Offenheit darzulegen, damit wir uns demnächst bei allen einschlägigen Gesetzen daran erinnern und alle gemeinsam auf Abstellung dieser eindeutig für die Familien rückläufigen Entwicklung nach besten Kräften bedacht sind, die Wohlstandsentwicklung in den letzten Jahren ist eindeutig auf den Rücken der Familie vor sich gegangen. Das aber kann kein Staat zulassen, der auf seine Zukunft bedacht ist und dessen verantwortliche Träger wissen um die Bedeutung der Familien und ihrer Kinder für den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Lassen Sie mich zum Schluß noch die sich natürlich aufdrängende Frage beantworten, wie eine solche Entwicklung im Zeitalter der Familienpolitik und im Jahrhundert des Kindes überhaupt möglich war. Ich möchte das tun ohne jede Polemik nach irgendeiner Seite hin, ich möchte nur erkennbar machen, wo meines Erachtens die Wurzel des Übels liegt. Die Ursache für diese, wie gesagt von niemandem wirklich gewollte Entwicklung liegt in dem individualistischen Denken unserer Zeit, das immer nur allein das Individuum sieht, das im Gesellschaftsleben pair das „do ut des", die Leistung gegen die Gegenleistung kennt und darüber vergißt, daß die für Staat und Gesellschaft lebenswichtige Institution Familie in der modernen Industriegesellschaft dabei zu kurz kommt, gewissermaßen „erdrückt" wird, obschon sie doch mit die wichtigste Leistung auch für Staat und Gesellschaft erbringt. Wir müssen in allen Bereichen unseres sozialen Lebens — jeder an seiner Stelle — darauf bedacht sein und bleiben, daß dieser Entwicklung Einhalt geboten wird, nicht nur vom Gesetzgeber, sondern auch von den Tarifvertragspartnern, auch von Ländern und Gemeinden und überall, wo man etwas dazu tun kann. Niemand darf hier sagen: Familienausgleich natürlich, aber was geht mich das an? Das kann nicht alles allein der Bundesgesetzgeber machen, was hier notwendig ist. Denn das Sozialprodukt ist nur einmal da, und alles, über das etwa die Sozialpartner in tarifvertraglichen Vereinbarungen verfügen, ist für den Familienausgleich nicht mehr greifbar. Und alle Mittel des Bundeshaushalts, über die wir für andere Zwecke verfügen, sind damit der Verwendung für den so zurückgebliebenen Familienausgleich entzogen. Sollten wir alle uns nicht einmal ganz nüchtern fragen, ob wir daran in den letzten Jahren nicht zu wenig gedacht haben? Ziehen wir aus der ge- 2648 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 wonnenen Erkenntnis die sich zwangsläufig ergebenden Konsequenzen! In unseren Nachbarländern ist es weithin so, daß alle politischen Parteien ebenso wie Wirtschaft und Gewerkschaften die Familienausgleichsmaßnahmen für absolut vordringlich halten gegenüber anderen gesellschaftspolitischen Anliegen. Mit dieser gemeinsamen Haltung haben sie alle einen wirklichen und einigermaßen gerechten Familienausgleich durchgeführt, auch die Länder, deren wirtschaftlicher Aufstieg nicht das Ausmaß des unseren in der Bundesrepublik erreichte. Ich möchte heute darum werben, daß alle beteiligten Kreise sich zu dem Entschluß durchringen, künftig auch bei uns gemeinsam dieses große und unausweichlich wichtige Anliegen nicht nur zu sehen, sondern auch zu gemeinsamem Tun über alle Parteigrenzen hinweg bereit zu sein. Meinerseits möchte ich jedenfalls in diesem Sinne meinem Nachfolger im Amt des Familienministers jede mögliche Unterstützung zuteil werden lassen, auf daß er es leichter hat als ich in den Jahren, in denen die Familienpolitik erst aufgebaut und ihre Idee und Aufgabe erst einmal durchgesetzt werden mußte. Und hierzu erbitte ich die Mitarbeit aller Fraktionen und auch der Presse, eben weil Schutz und Gerechtigkeit für die Familien ein Anliegen unseres ganzen Volkes in allen gesellschaftlichen Bereichen ist. „Die Rettung des Menschengeschlechtes beginnt bei der Familie" ! Dessen mögen wir alle — jeder in seinem Bereich — stets eingedenk sein und bleiben und danach handeln!
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    Rede von Erich Ollenhauer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Ja, Herr von Guttenberg, das ist richtig. Aber hier haben wir es mit dem Vertrag zu tun. In dem Vertrag ist die Frage der Konsultation der Zwei, die Mitglieder der Gemeinschaft sind, ein wesentlicher Bestandteil mit praktischen Konsequenzen, die man nicht durch Erklärungen allgemeiner Art aus der Welt schaffen kann.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Bitte, wir wünschen, diese Frage in aller Sachlichkeit und in allem Ernst zu diskutieren. Aber es ist die entscheidende Frage, wo wir in unserer Europapolitik stehen und welche Linie wir in Zukunft verfolgen wollen. Wir sind der Meinung, es soll eine Europapolitik mit all ihren praktischen Konsequenzen sein im Sinne der Idee z. B. von Robert Schuman und manchem anderen Franzosen,



    Ollenhauer
    der in dieser Frage auf unserer Seite steht, ohne daß er die Möglichkeit hat, heute einen praktischen Einfluß auf die französische Politik auszuüben.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, da liegt unsere besondere Verantwortung auch gegenüber den Europäern in diesem Sinne in anderen Ländern.
    Folgende Konsequenz möchten wir daraus ziehen: Wir werden untersuchen — nicht heute, aber morgen und übermorgen im Zusammenhang mit der Beratung des Vertrages —, inwieweit der Vertrag durch seinen Inhalt und die Konsequenzen seiner Bestimmungen andere internationale oder europäische Verträge, die wir abgeschlossen haben, schwächt oder beeinträchtigt. Das gilt für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, das gilt für den Montanvertrag und das gilt auch für NATO, meine Damen und Herren. Wir wünschen nicht Gefahr zu laufen, daß durch die Bestimmungen dieses Vertrags eine solche Abschwächung und eine solche Beeinträchtigung oder sogar allmähliche Auflösung erfolgt. Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung hinsichtlich der weiteren Entwicklung jede denkbare Anstrengung machen sollte, um die Frage der Mitgliedschaft Großbritanniens und im Zusammenhang damit auch noch der anderen Länder, die um ihre Aufnahme nachgesucht haben und für die, wie z. B. im Falle Dänemark, die Mitgliedschaft in der EWG von lebensentscheidender Bedeutung ist, einer Lösung zuzuführen. Wir sollten auch daran
    denken, daß es, wenn wir unsere Bemühungen um die Mitgliedschaft Großbritanniens fortsetzen, dann ebenfalls um die Mitgliedschaft von Dänemark, Norwegen und anderen Ländern geht, die um die volle Mitgliedschaft nachgesucht haben. Ich gebe zu, daß unsere Minister bei den Beratungen in Brüssel im letzten Stadium große Anstrengungen gemacht haben, um den Zusammenbruch der Verhandlungen zu vermeiden. Wir haben ja auch nach den Ereignissen in Brüssel die Erklärung des Bundeskabinetts gelesen und gehört — der Bundeskanzler hat sie gestern ebenfalls in seiner Rede erwähnt —, daß die Regierung ihre Bemühungen um die Aufnahme Großbritanniens fortsetzen will.
    Aber, meine Damen und Herren, sprechen wir offen. Leider ist es eine Tatsache, daß bei unseren Freunden in Westeuropa immer noch in Frage steht, ob die deutsche Bundesregierung in dieser Forderung und in ihrem praktischen Wirken für die Aufnahme Großbritanniens tatsächlich bis zum letzten entschlossen ist. Ich will hier gar nicht die Ursachen untersuchen. Da gibt es alle möglichen Versionen, die Sie alle kennen. Was uns aber beunruhigt, ist, daß es auch nach der Regierungserklärung des Kabinetts in dieser Frage ebenso gegensätzliche und unterschiedliche Äußerungen gibt wie die des Herrn Bundeskanzlers und die des Herrn Bundeswirtschaftsministers.

    (Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, wo stehen wir hier
    eigentlich? Was ist die Haltung der Regierung? Was
    ist die Haltung der Koalition? Hier muß doch ein-
    mal, über jeden Zweifel erhaben, vor allem gegenüber unseren Freunden im Westen Klarheit geschaffen werden.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Ein Mann wie der Staatssekretär Müller-Armack, der so aktiven Anteil an all den Verhandlungen im Sinne einer Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft genommen hat, hat erklärt, er stimme mit seinem Minister überein, aber er könne die Verantwortung für die Europapolitik nicht mehr tragen, er wolle zurücktreten.

    (Hört! Hört! und Zurufe von der SPD.)

    Meine Damen und Herren, was geht denn hier vor?

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Man kann doch in einer Regierungserklärung nicht so tun, als wenn alles in bester Ordnung wäre, während die ganze Welt darauf wartet: Was sagt das Parlament und was sagt die Regierung, um die Zweifel und Unsicherheit auszuräumen?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Mommer: Und was sagt der Minister des Staatssekretärs!?)

    Meine Damen und Herren, ich glaube, Sie werden verstehen, hier geht es nicht um eine Drängelei der Opposition. Es geht darum, daß in dieser Lage, die durch das unglückliche Zusammentreffen der Unterzeichnung des Vertrages mit dem Zusammenbruch der Verhandlungen entstanden ist, alle Zweifel über die Entschlossenheit der Bundesrepublik in der Richtung einer weiteren aktiven Förderung der EWG und ihrer Ausdehnung um die Mitgliedschaft Großbritanniens ausgeräumt werden, und zwar durch Erklärungen der Bundesregierung, die jedermann als unbestreitbar akzeptfern muß. Daran fehlt es bis heute.

    (Beifall bei der SPD.)

    Diese Frage können nur Sie lösen, meine Damen und Herren, Sie in der Regierung und Sie in der Koalition! Aber Sie müssen sie lösen, und zwar ohne Verzögerung.
    Warum sage ich das? Ich sage es — und das möchte ich noch hinzufügen —, weil wir in Sorge um die weitere Entwicklung nicht nur in Europa, sondern in der freien Welt sind. Wenn wir die Frage der EWG und das Verhältnis unseres Vertrags zur EWG in Zusammenhang mit der Konsultationsverabredung nicht bald lösen, so wird es unvermeidlich sein, daß die Existenz einer solchen Verabredung eine auflösende, zersetzende Wirkung auf die EWG hat.

    (Zuruf von der SPD: Sehr wahr! — Abg. Dr. Schäfer: Leider!)

    Das ist unvermeidlich, das liegt in der Natur der Sache.
    Das zweite! Wir müssen ernsthafte Anstrengungen machen, um die Frage Großbritannien positiv zu lösen. Ich weiß, es gibt kein Rezept, zu sagen: Wir fangen morgen so an. Das ist die Schwierigkeit. Ich bin durchaus einverstanden, wenn gesagt wird: Wir wollen jedenfalls alle vorhandenen Ebenen benutzen, um über diese Frage im Gespräch zu blei-



    Ollenhauer
    ben, z. B. WEU oder andere Möglichkeiten in Zusammenhang mit dem, was das Europäische Parlament jetzt erwogen hat. Einverstanden! Aber, meine Damen und Herren, das muß von uns — und von uns in erster Linie! — aktiv und mit vollem Herzen betrieben werden. Darum geht es.

    (Abg. Dr. Mommer: Das ist die Frage beim Kanzler: Was ist mit dem vollen Herzen!)

    Und warum? Nicht nur, weil wir um diese Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft durch Großbritannien und die skandinavischen Länder nicht herumkommen! Wir brauchen sie, um die Gemeinschaft wirklich weiterzuentwickeln.
    Lassen wir es beim jetzigen Stande, so kommt auch die Frage unserer Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten ins Spiel. Ich möchte jetzt einmal nicht über das Militärische sprechen; das werden wir in anderem Zusammenhang tun müssen, und dann werden wir sicher eine ganze Reihe von wichtigen Fragen zu behandeln haben. Ich möchte über etwas anderes sprechen, nämlich über die Tatsache, die nicht diskutabel sein sollte, daß in Zukunft die militärische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, die für uns unabdingbar sein sollte, für die wirtschaftliche und die politische Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung sein wird. Wir haben im Juli vorigen Jahres eine Botschaft des amerikanischen Präsidenten Kennedy an Europa über eine Partnerschaft auf wirtschaftlichem Gebiet zwischen Europa und den Vereinigten Staaten bekommen. Der amerikanische Präsident hat nach dieser Botschaft in seinem eigenen Kongreß unter großen Schwierigkeiten einen weittragenden und tiefgreifenden Beschluß in bezug auf die künftige Handelspolitik gegenüber Europa durchgesetzt. Er hat in seinem eigenen Lande die Konsequenzen gezogen unter Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, weil das ja ein Schritt gegen viele traditionelle Vorstellungen und Einrichtungen in der bisherigen amerikanischen Außenwirtschaftspolitik war.
    Meine Damen und Herren, diese Zusammenarbeit, die sich nicht nur auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit beschränken, sondern die eine Zusammenarbeit der freien Welt, Europas und der Vereinigten Staaten, auf dem Gebiete der Entwicklungshilfe einbeziehen sollte, hat eine überragende politische Bedeutung nicht nur für die europäischen Länder, sondern auch für die Notwendigkeit eines solchen Zusammenwirkens der beiden — wenn Sie wollen — Ländergruppen in der Entwicklungspolitik.
    Das Bedauerliche ist, daß es seit Juli vorigen Jahres zwar sehr viele Sympathieerklärungen, aber keine einzige positive Maßnahme irgendeiner europäischen Regierung gegeben hat, um diese Initiative von Kennedy wirklich aufzugreifen.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Wehner: Leider wahr!)

    — Das ist leider wahr. Und, meine Damen und Herren, jetzt kommt noch hinzu, daß Kennedy gesagt hat: Wir meinen Europa, europäische Gemeinschaft einschließlich Großbritannien.
    Nun ist die Frage offen: ja, glauben wir denn, daß das alles nun einfach so weitergeht, daß man sich nun einfach damit abfindet: Es geht eben nicht? Ist das unser Interesse? — Es kann nicht unser Interesse sein!
    Ich will hier gar nicht irgend etwas verabsolutieren. Aber es kann doch unter ernsthaften Menschen in diesem Lande in dieser Lage keine Meinungsverschiedenheit geben: unsere Beziehungen mit den Vereinigten Staaten, auf welchem Gebiet immer, müssen so eng und so eindeutig wie nur möglich gestaltet werden,

    (Beifall bei der SPD, in der Mitte und rechts)

    weil unsere Lebensmöglichkeit und die Existenz von Berlin davon abhängen

    (Beifall bei der SPD)

    und auch die Chancen für eine allmähliche Fortentwicklung unserer Position in der Frage der Anerkennung.
    Das ist unsere Sorge, und deshalb in diesem Zusammenhang hier unser dringender Appell an Sie, an die Regierung und an die Koalition: Lassen Sie es nicht bei dem Eindruck, den gestern leider die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers erwecken mußte! Er hat in seiner Aufzählung so etwa gesagt: Ja, darüber spricht man auch, aber das sind eigentlich keine aufregenden Dinge. — Es sind aufregende Dinge, es ist eine Krise, und wir brauchen eine große Anstrengung von unserer Seite.
    Sehen Sie, da hat der Herr Bundeskanzler gestern mit Recht auf die Position der Vereinigten Staaten vor allen Dingen nach ihrer Haltung im Falle Kuba hingewiesen. Er hat mit Recht gesagt, daß wir dieser festen Haltung für die Stärkung der Position des Westens viel verdanken. Einverstanden! Aber ich meine, die Anerkennung dieser Leistung der Vereinigten Staaten auch für die Festigung der westlichen Position allein genügt doch nicht. Die Anerkennung verpflichtet uns, unseren Beitrag dafür zu leisten, daß diese Zusammenarbeit des freien Westens noch stärker und effektiver wird und daß sie jetzt nicht durch innere Auseinandersetzungen in Europa unter Vorstellungen nationalpolitischer Art aus dem 19. Jahrhundert zurückgeworfen und zerstört wird.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Die Gefahr der Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Kräften in der Welt ist noch nicht gebannt. Vielleicht richtig: wir sind etwas beruhigter. Vielleicht ist die Gefahr eines schrecklichen Zusammenstoßes geringer. Aber, meine Damen und Herren, das darf uns nicht dazu führen, daß wir, wie z. B. im Falle des Scheiterns der Verhandlungen in Brüssel, Herrn Chruschtschow einen Erfolg gratis ins Haus liefern.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das ist doch eine Stärkung seiner Position.
    Darum meine ich — und deswegen habe ich Sie bemüht, diesen Ausführungen zu folgen —: Lassen Sie uns diesen ganzen Komplex EWG, Erweiterung



    Ollenhauer
    durch Großbritannien und Verhältnis des deutschfranzösischen Vertrages zu unseren anderen europäischen und sonstigen vertraglichen Verpflichtungen mit aller Gründlichkeit und allem Ernst untersuchen. Es darf nicht so sein, daß wir später etwa den Kommentar erhalten: Da haben die Deutschen in dieser Zeit einen so gut gemeinten und richtigen Vertrag über deutsch-französische Verständigung unterzeichnet, und sie haben gar nicht gewußt, daß im Grunde in diesem Vertrag eine entscheidende Wende ihrer und der westlichen Politik überhaupt begründet lag.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    In diese Lage dürfen wir und möchten wir nicht kommen,

    (Beifall bei der SPD)

    und deswegen diese Bemerkungen.
    Lassen Sie uns alle die Dinge untersuchen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Gefahren oder Mißdeutungen auszuschließen. Man kann z. B. darüber reden. Manches — ich will das hier nur als ein Beispiel nennen — wäre leichter in dieser Lage, wenn die beiden Regierungen — die beiden Regierungen — verbindlich erklärten, als Teil dieses Vertrages, daß der Vertrag im Zusammenhang mit allen anderen vertraglichen Verpflichtungen gesehen werden muß, die die beiden Länder eingegangen sind, einschließlich EWG und NATO und anderer Verträge, und daß sie in ihrem Wert und ihrer Praxis nicht beeinträchtigt werden dürfen, sondern gestärkt werden müssen, damit hier jeder Zweifel ausgeräumt wird. Das mag ein Weg sein; denn einseitige Erklärungen dieses Bundestages oder einseitige Erklärungen dieser Regierung reichen nicht aus. Es kann sich nur um verbindliche Erklärungen der beiden Partner handeln.
    Wie gesagt, ich möchte die Möglichkeiten, die es dort gibt, nicht im einzelnen aufzählen, aber ich bitte, eines zu erwägen. Wir sollten uns angesichts der Wirkung und der psychologischen Situation und auch aus der Sache selbst ernsthaft überlegen, ob die deutsche Bundesregierung nicht Großbritannien und allen ihren anderen europäischen Partnern im Westen einen gleichen Freundschaftsvertrag anbietet,

    (Beifall bei der SPD)

    um deutlich zu machen, daß wir diese Art von Beziehungen mit allen unseren Freunden auf europäischem Boden haben möchten und bereit sind, sie aufzunehmen.
    Ich komme zum Schluß. Ich glaube, wir werden über diesen Komplex noch zu reden haben, vor allem im Zusammenhang mit dem Vertrag selbst. Aber ich bitte Sie noch einmal: Denken Sie daran, daß wir die jetzige Krise in Brüssel nicht ansehen dürfen als ein lokales, zeitlich gebundenes Ereignis, wie manche anderen Fehlschläge auch, sondern daß hier die Frage der Existenz der Gemeinschaft und die Frage ihrer Weiterentwicklung auf dem Spiel steht und daß es von entscheidender Bedeutung ist, daß die Position der Bundesrepublik durch Erklärungen ihrer Regierung und ihrer Mehrheit vor aller Welt, vor allem vor unseren Freunden, so klargemacht wird
    in positivem Sinne, daß jeder Zweifel ausgeräumt ist.
    Sie haben jetzt das Wort, und ich hoffe, wir haben nicht nur Ihre Worte, sondern auch Ihre Taten.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)



Rede von Dr. Carlo Schmid
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete von Brentano.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heinrich von Brentano


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Ich habe die Absicht, in erster Linie zu dem außenpolitischen Teil der Regierungserklärung zu sprechen, aber ich möchte doch mit wenigen Worten auf die Eingangsausführungen unseres Kollegen Ollenhauer eingehen. Er hat — ich weiß nicht, ob es sehr glücklich war, Herr Kollege Ollenhauer — in den ersten Satz seiner Ausführungen die sogenannte Spiegel-Affäre gestellt. Ich weiß nicht, ob das der Bewertung gerecht wird. Aber ich möchte ein anderes dazu sagen: Warum sprechen wir hier eigentlich von „Spiegel-Affäre"? Warum sprechen wir nicht

    (Zuruf von der SPD: — von Strauß?!)

    von dem ganzen Komplex, der mit der Einleitung eines Verfahrens gegen den Redakteur Augstein wegen Verdachts des Landesverrats zusammenhängt?

    (Beifall in der Mitte. — Zurufe von der SPD.)

    Ich glaube, damit gewinnt die Sache einen anderen Aspekt.

    (Erneute Zurufe von der SPD.)

    Sie haben gesagt, Herr Kollege Ollenhauer, Sie erwarteten von der Bundesregierung Garantien dafür, daß sich die Begleiterscheinungen — die auch wir zum Teil, ich sage das in aller Offenheit, beklagen — nicht wiederholen. Dann möchte ich doch vorschlagen — und ich glaube, Sie werden mich verstehen —, daß sich an diesen Garantien auch die Fraktionen dieses Hauses beteiligen,

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    um dadurch nämlich auch wirksame Garantien dafür zu bekommen, daß keine Geheimdokumente in falsche Hände gelangen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD: Die haben Sie doch! — Sind schon wieder welche weg? — Abg. Dr. Mommer: Noch mehr als 152? — Weitere Zurufe und Heiterkeit bei der SPD.)

    — Ich nehme doch bestimmt an, daß Sie in Ihrer Fraktion auch wissen, was ich meine, wenn ich diese Feststellung treffe,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und Sie sollten keinen Anlaß haben, das in irgendeiner Weise zu bagatellisieren.

    (Erneuter Beifall bei' der CDU/CSU und Zurufe von der SPD.)

    Dann hat Herr Kollege Ollenhauer den innenpolitischen Teil der Regierungserklärung beanstan-



    Dr. von Brentano
    det. Er sagte, eine Zusammenstellung solcher Ziele und Aufgaben sei noch keine Politik. Nun, ich glaube, auch die Zusammenstellung unerfüllbarer Forderungen ist keine Politik, Herr Kollege Ollenhauer.

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Sie haben darüber hinaus, Herr Kollege Ollenhauer, den Stil kritisiert und gesagt, die Regierungserklärung sei ziemlich langweilig gewesen. Unter uns gesagt: weite Teile Ihrer Antwort waren nicht sehr kurzweilig.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Lassen Sie mich nun aber, meine Damen und Herren, auf den außenpolitischen Teil der Regierungserklärung eingehen. Ich glaube, der Herr Bundeskanzler hat gestern mit Recht mit der Erwähnung der Kuba-Krise begonnen. Aber selbstverständlich kann man die Aktion der Sowjetunion im Karibischen Meer und die Reaktion der Vereinigten Staaten nicht als einen isolierten Vorgang betrachten. Wir müssen ihn als ein symptomatisches Ereignis in der Auseinandersetzung der freien Welt mit der aggressiven Politik des Weltkommunismus sehen und daraus die Lehren ziehen. Die ruhige Entschlossenheit, mit der die Regierung der Vereinigten Staaten auf die akute Drohung geantwortet hat, hat sicherlich in allen Teilen der Welt, nicht nur der im atlantischen Bündnis zusammengeschlossenen freien Welt, die Überzeugung von der Abwehrkraft und der Abwehrbereitschaft der Vereinigten Staaten gestärkt. Nur dieser Haltung ist es zuzuschreiben, daß sich die akute Krise nicht zu einer weltpolitischen
    3 Katastrophe entwickeln konnte, und ich glaube, daß wir dafür der amerikanischen Administration unsere uneingeschränkte Anerkennung und unseren Dank aussprechen sollten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Aber ein anderes hat uns diese Krise auch ins Bewußtsein gerufen, und hier stimme ich mit den Ausführungen überein, die Herr Kollege Ollenhauer zum Schluß gemacht hat; ich meine die unbedingte Notwendigkeit einer echten und unzerstörbaren Solidarität der freien Welt. Ich stelle dieses Bekenntnis bewußt an den Anfang meiner Ausführungen, denn wir haben alle mit Sorge und Bestürzung gespürt, daß Zweifel an dieser Haltung laut geworden sind. Für meine politischen Freunde erkläre ich schon hier und in diesem Zusammenhang, daß jede Frage nach einer möglichen Änderung der deutschen Außenpolitik unberechtigt ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ausbau und Stärkung der atlantischen Gemeinschaft ist und bleibt das unverzichtbare Ziel der deutschen Politik, zu dem wir uns bekennen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Gerade das deutsche Volk weiß, wie ich meine, um diese Notwendigkeit; denn die Spannung in Europa, die nach wie vor in der Teilung Deutschlands und in der Bedrohung der Stadt Berlin ihren Ausdruck findet, hat sich nicht gemindert. Bis zur Stunde hat die Sowjetunion nicht zu erkennen gegeben, daß sie ernsthaft an einer Lösung der Fragen mitwirken
    will, die nicht nur das ganze deutsche Volk bewegen, sondern die in ihren Auswirkungen die gesamte Welt beunruhigen müssen.
    Das Memorandum der Bundesregierung vom 21. Februar 1962 fand keine Antwort. In seinem Schreiben vom 28. August hat der Bundeskanzler an den Ministerpräsidenten der Sowjetunion appelliert, dazu beizutragen, daß den vielgeprüften Menschen in Berlin in Zukunft neues Leid erspart werde. Die Antwort des sowjetischen Regierungschefs vom 24. Dezember war schlechthin zynisch. Den jungen Peter Fechter, den sowjetzonale Rotarmisten an der Mauer verbluten ließen, bezeichnet er als Opfer eines Verbrechens, in das der junge Deutsche — ich zitiere — „von halbfaschistischen Hetzern aus der Bundesrepublik und aus Berlin" getrieben worden sei. Meine Damen und Herren, es widerstrebt mir, mehr aus diesem wahrhaftig unmenschlichen Dokumen zu zitieren. Ein anderes möchte ich hier allerdings zitieren: Am 27. September vorigen Jahres sprach der britische Außenminister Lord Home vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen auch zu diesem Mord an Fechter. Er sagte:
    Es ist eine fast unerträgliche Provokation für zivilisierte Menschen, daß so etwas in unserer Zeit geschehen kann. Es ist eine Beleidigung für alle, die den Menschen als ein Kind Gottes anerkennen und respektieren.
    Wenn ich diese beiden Äußerungen vergleiche, dann wird mit erschreckender Deutlichkeit klar, daß sich hier zwei Welten gegenüberstehen, die einander ausschließen. Aber es wird auch klar, daß wir gar nicht wählen können, welcher dieser Welten wir angehören wollen, weil es für diejenigen, die sich zu den Grundrechten des Menschen bekennen, keine Alternative geben kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Trotz dieser Enttäuschung haben die Bundesregierung und die Regierungen der mit uns verbündeten Staaten immer wieder den Versuch unternommen, Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Sie haben der Sowjetunion immer von neuem ernsthafte Verhandlungen angeboten, wie es auch der Bundeskanzler am 9. Oktober 1962 getan hat. Ich teile Ihre Auffassung, Herr Kollege Ollenhauer: auch die Enttäuschungen dürfen uns nicht daran hindern, den Versuch immer von neuem fortzusetzen. Aber wir müssen uns auch klar sein, daß solche Verhandlungen mit Aussicht auf Erfolg wohl nur geführt werden können, wenn sich die Sowjetunion endlich dazu entschließt, das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung und auf seine Heimat anzuerkennen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer anders kann über die politische, die soziale und die geistige Ordnung, in der ein Mensch leben soll, bestimmen, wenn nicht der Mensch selbst?
    Aber für den Ministerpräsidenten Chruschtschow stellt sich die Frage anders. Welche Verachtung für jede demokratische Ordnung spricht aus seiner Ablehnung freier Wahlen mit der Begründung, die er neulich in Fürstenberg oder in Berlin gab:



    Dr. von Brentano
    Wir können doch auch rechnen! Die Arithmetik ist doch in diesem Falle nicht zu unseren Gunsten. Wenn die DDR 50 Millionen Menschen hätte und die Bundesrepublik 17 Millionen, nun gut, dann wären wir selbstverständlich für gesamtdeutsche Wahlen.
    Die freie Willensentscheidung der Menschen ist für ihn — er sagt es — vollkommen gleichgültig. Er ist nur bereit, die verfälschte und verlogene Entscheidung zu honorieren, die unter dem Druck eines totalitären Systems zustande kommt. Genauso wie es der in Ideologie und Praxis dem Kommunismus wesensverwandte Nationalsozialismus tat, setzt er voraus, daß die Menschen unter der Angst, unter dem Terror so entscheiden, wie er es will, also gegen sich selber. Es ist wirklich schwer vorstellbar, wie eine Entspannung zustande kommen soll, wenn der eine Teil, der daran mitwirken muß, so denkt und sich so verhält.
    Der Herr Kollege Ollenhauer hat — auch das greife ich gern auf — mit Recht darauf hingewiesen, daß wir unter keinen Umständen nachlassen dürfen, alles zu tun, was in unserer Macht steht, um die Kontakte mit den Menschen in der Zone zu pflegen. Der Herr KollegeOllenhauer hat mit Recht eindringlich auf den Leidensweg dieser Menschen hingewiesen. Ich unterstreiche auch das andere, was er sagte: wir sollten immer wieder den Versuch machen, Verstöße gegen die Menschenrechte, die dort und in Ostberlin, an der Mauer und an der Zonengrenze begangen werden, in der Welt bekanntzumachen und damit den Protest der freien Welt gegen das wachzurufen, was dort an Unmenschlichkeit gegen Deutsche geschieht.
    In diesem Zusammenhang richte ich an die Bundesregierung eine konkrete Frage. Die Sowjetunion hat in diesen Tagen auf einer Pressekonferenz neue Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhoben, die ebenso maßlos wie unberechtigt waren. Es geschah das im Zusammenhang mit einem Verfahren, das zur Zeit in Koblenz gegen Personen geführt wird, die wegen beispielloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind. Ich glaube nicht, daß wir es nötig haben, auf diese Anwürfe einzugehen. Die rechtsstaatliche Ordnung, in der wir leben, legt uns die Pflicht auf, solchen Verbrechen nachzugehen. Die Bundesregierung und die Regierungen der Länder arbeiten zu diesem Zweck loyal und pflichtbewußt zusammen.
    Vor kurzem ist aber auch die schriftliche Begründung des Urteils bekannt geworden, das der Dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofes gegen den sowjetischen Staatsangehörigen Bogdan Staschynskij erlassen hat. Der Angeklagte wurde wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus der Begründung — einer sorgfältigen Begründung — zitiere ich nur folgende Feststellungen:
    Bedenkenlos haben die sowjetrussischen Auftraggeber es für angebracht gehalten, die Begehung zweier politischer Morde auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland anzuordnen und auszuführen und dabei jede internationale
    Gesittung und die aus korrekten diplomatischen Beziehungen zweier Staaten hervorgehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen grob zu mißachten.
    Ich frage die Bundesregierung, ob sie bereit ist, die Akten ,der Regierung der Sowjetunion mit der Aufforderung zuzustellen, diejenigen, die sich dieser Verbrechen schuldig gemacht haben, zur Verantwortung zu ziehen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich frage die Bundesregierung auch, ob sie bereits Überlegungen angestellt hat, ob und wie sie diese unvergleichbaren Tatbestände internationalen Behörden und Institutionen zur Kenntnis bringen will, etwa dem Gerichtshof im Haag oder den Vereinten Nationen. Es ist unerträglich, die Begründung dieses Urteils zu lesen und sich zu vergegenwärtigen, was hier auf deutschem Boden im Auftrag einer ausländischen Macht geschehen konnte.
    Ich sagte schon, .daß die Ost-West-Spannung bis zur Stunde in unverminderter Härte anhält und daß es darum unerläßlich ist, die Geschlossenheit und Solidarität der freien Welt zu erhalten und zu stärken. Gerade darum beklagen auch wir es, Herr Kollege Ollenhauer, daß in den letzten Wochen Unklarheiten und Mißverständnisse aufgetaucht sind. Sie knüpfen sich an einen Vorgang, den wir begrüßen sollten, aber auch an ein Ereignis, das wir bedauern müssen: an die Unterzeichnung des deutsch-französischen Abkommens und an die Unterbrechung der Brüsseler Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zur EWG. Meine politischen Freunde begrüßen es, daß die Regierungserklärung und die Debatte uns Gelegenheit geben, diese Mißverständnisse anzusprechen und, wie ich hoffe, auszuräumen. Der Bundeskanzler hat gestern ein klares und unmißverständliches Bekenntnis zur Fortsetzung unserer europäischen und atlantischen Politik abgelegt. Ich unterstreiche diese Erklärungen ohne Vorbehalt, aber ich möchte sie ergänzen und kommentieren, um jeder Zweifel an der Haltung der Fraktion der CDU/CSU endgültig zu beseitigen.
    Unsere Entschlossenheit und Bereitschaft, die Politik der europäischen Integration fortzusetzen, ist durch die jüngsten Ereignisse nicht geschwächt, sondern gestärkt worden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Es geht hier wirklich um ein Kernstück der deutschen Außenpolitik. Keine der europäischen Nationen innerhalb oder außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist nach unserer Überzeugung in der Lage, allein und auf sich selbst gestellt in der veränderten Welt zu bestehen, sich in geordneter Freiheit zu entfalten und diese Freiheit zu sichern. Die Bundesrepublik kann für sich in Anspruch nehmen, vom ersten Tage ihres Bestehens an sich zu dieser Erkenntnis bekannt und die Konsequenzen daraus gezogen zu haben. Der Vertrag über die Montanunion, der Versuch, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen, der Gedanke, die Europäische Politische Gemeinschaft zu errichten, die Römischen Verträge — alles das war nur mög-



    Dr. von Brentano
    lich, weil die Bundesregierung unablässig diese europäische Politik mit letzter Hingabe vertreten hat; nicht immer, meine Damen und Herren, mit der uneingeschränkten Zustimmung dieses Hohen Hauses.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Aber wir waren uns auch immer im klaren darüber, daß jeder Versuch, Europa zusammenzuschließen, die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich zur Voraussetzung hat. Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht auf die unheilvolle Vergangenheit verwiesen. Im letzten war es der deutsch-französische Gegensatz, an dem sich zwei Weltkriege entzündeten, die die europäischen Staaten an den Rand des Zusammenbruchs führten.
    Auch hier möchte ich daran erinnern, daß es der große britische Staatsmann Sir Winston Churchill war, der bereits am 18. September 1946 in Zürich wörtlich sagte: „Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muß ein Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland sein." Ich war dankbar, auch zu hören, wie sich Herr Kollege Ollenhauer trotz gewisser Vorbehalte — auf die ich noch zu sprechen komme — auch für seine Fraktion und Partei zu der deutsch-französischen Zusammenarbeit bekannt hat. Er hat auf die lange Geschichte seiner Partei und auf das Treffen im Jahre 1913 verwiesen. Aber, meine Damen und Herren, er wird es mir nicht übelnehmen dürfen, wenn ich ihm sage, daß auch manche Zwischenakte in der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei zu registrieren sind, Zeiten, in denen das Bekenntnis zur deutsch-französischen Zusammenarbeit nicht so ohne Einschränkung abgegeben wurde wie heute und hier; und diese Zeiten liegen noch gar nicht allzu lange zurück, als wir hier in diesem Raum über politische Entscheidungen debattierten.

    (Abg. Dr. Mommer: Zum Beispiel den SaarVertrag! — Beifall bei der SPD.)

    — Ach nein, schon früher! Zum Beispiel die Europäische Verteidigungsgemeinschaft!

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Aber ich bin ja sehr dankbar, meine Damen und Herren, daß das nur noch historische Reminiszenzen sind, und ich begrüße — ich sage das in aller Offenheit —, daß wir auch hier die gleiche Sprache zu sprechen beginnen; denn — und hier kann ich auch zitieren, was der Bundeskanzler in anderem Zusammenhang sagte — es kommt mir und meinen politischen Freunden und, ich glaube, uns allen darauf an, daß hier ein Vertrag geschlossen wird nicht nur von Regierung zu Regierung, von Regierungsmehrheit zu Regierungsmehrheit, sondern von Volk zu Volk.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich hoffe und wünsche, meine Damen und Herren, daß das auch in der endgültigen Ratifizierung hier in diesem Hohen Hause zum Ausdruck kommt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Diese Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen begann mit der Initiative des französischen Ministerpräsidenten Robert Schuman, die zum Abschluß des Vertrages über die Montanunion führte, und diese Entwicklung endete vorläufig mit dem Abschluß der Römischen Verträge. Eigentlich bin ich überzeugt, daß alle, die wirklich den Frieden in ,der Welt wünschen, gleichgültig wo sie sind und in welchem Land sie leben, mir zustimmen müssen, wenn ich sage, daß in diesem Bereich ein entscheidender Beitrag zur Erreichung dieses großen Zieles erbracht worden ist. Darum begrüße ich den Abschluß des deutsch-französischen Abkommens. Auf irgendwelche Einzelheiten will ich heute nicht eingehen. Ich sehe in der Unterzeichnung dieses Abkommens in der Tat ein historisches Ereignis und hoffe, daß wir es hier im Bundestag auch in gebührender Weise werden ratifizieren können, nachdem wir Gelegenheit gehabt haben — Herr Kollege 011enhauer, da stimme ich Ihnen zu —, die Auswirkungen des Abkommens auf andere Verträge und auf unsere Beziehungen zu anderen Ländern sorgfältig zu prüfen.
    Ich stelle aber ausdrücklich fest, daß wir in diesem Abkommen keine Änderung der politischen Konzeption der Bundesregierung erblicken.
    ,(Beifall in der Mitte.)

    Das Ziel der multilateralen Integration Europas bleibt unverändert. Niemand von uns denkt daran, es durch bilaterale Allianzen zu ersetzen

    (erneuter Beifall in der Mitte)

    oder auch nur zu gefährden. Eine enge deutschfranzösische Zusammenarbeit wollen wir in den Dienst der europäischen und atlantischen Politik stellen, um die Erreichung der gemeinsamen Ziele zu unterstützen. Ich bin überzeugt, daß mancher besorgte Kritiker dies später erkennen wird.
    Die Politik der europäischen Integration hat in diesen Tagen einen Rückschlag erlitten. Die Unterbrechung der Verhandlungen mit Großbritannien hat, wie auch der Herr Bundeskanzler gestern mit Recht festgestellt hat, zu einer ernsten Krise geführt. Aber er fügte hinzu, daß die Krise heilbar sei, und ich teile diese Überzeugung.
    Wir waren tief befriedigt, als die britische Regierung den Entschluß faßte, den Römischen Verträgen beizutreten. Ich denke an die Rede des britischen Lordsiegelbewahrers vom 17. Mai 1961 vor dem britischen Unterhaus. Sie enthielt ein klares, unmißverständliches Bekenntnis zur Europapolitik. Auch in seiner Rede vor dem Ministerrat der EWG hat sich Minister Heath nicht nur zum Inhalt, sondern auch zur politischen Philosophie der Römischen Verträge bekannt. So war es nur logisch und richtig, daß der Ministerrat einstimmig die Aufnahme der Verhandlungen mit Großbritannien beschloß. Die Präambel der Römischen Verträge hat uns dazu ebenso verpflichtet wie Artikel 237. Die Verhandlungen haben gezeigt, daß Großbritannien bereit war beizutreten. Der Präsident der Kommission, Herr Professor Hallstein, hat noch vorgestern vor dem Europäischen Parlament einen Bericht abgegeben. Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben ihn



    Dr. von Brentano
    mit Recht zitiert. Ich kenne den Bericht noch nicht in seinem Gesamtinhalt, sondern nur auszugsweise, aber man kann wohl von diesem Bericht sagen, daß mit ihm eine Bilanz gezogen wurde, die positiv und optimistisch war, die zeigte, daß die Verhandlungen, wenn sie wieder aufgenommen werden, in der Tat zu einem guten Ende geführt werden können.
    Doch wir können dem, was heute geschehen ist, nur gerecht werden, wenn wir auch einmal an das denken, was in der Vergangenheit geschah oder besser gesagt nicht geschah. Ministerpräsident Robert Schuman hat seinerzeit Großbritannien zu den Verhandlungen über seinen Plan ausdrücklich eingeladen. Die Absage der britischen Regierung wurde damals von der konservativen Opposition im Unterhaus heftig kritisiert. Auch die Beteiligung an den Beratungen über die europäische Verteidigungsgemeinschaft wurde Großbritannien angeboten, ohne daß sich die britische Regierung dazu entschließen konnte. Gewiß, sie hat nach dem Scheitern dieses mutigen Planes des französischen Ministerpräsidenten Pleven mit großer Energie die Initiative ergriffen und durch den Umbau der Brüsseler Verträge zu der sogenannten Westeuropäischen Union den Schock des Scheiterns der EVG zunächst abgefangen. Aber auch als Großbritannien damals zu den Beratungen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingeladen wurde, konnte es sich nicht entschließen, die Einladung anzunehmen. Ich glaube, es ist keine unberechtigte oder gar unbillige Kritik, wenn ich feststelle, daß der Versuch, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft durch die Schaffung einer Freihandelszone wieder aufzulösen, ein wenig glücklicher Beitrag zur Europapolitik war.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Meine Damen und Herren, ich erwähne diese Dinge nur, um darzutun, daß die Bundesregierung und die europäischen Partner der Verträge zu jedem Zeitpunkt das Ihre getan haben, um Großbritannien heranzuziehen. Es ist nicht ohne Interesse, hier einen Satz aus dem Buch des früheren britischen Staatssekretärs Anthony Nutting, der vielen in diesem Hohen Hause noch bekannt ist, anzuführen. Aus einem Gespräch, das er mit dem Bundeskanzler hatte, als es um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ging, zitiert er wörtlich, was ihm der Bundeskanzler damals gesagt hat:
    Sehen Sie nicht, wie schlecht das alles für das deutsche Volk ist? Nichts könnte für den deutschen Charakter schlechter sein, als täglich immer deutlicher zu sehen, wieviel Angst die Franzosen vor uns Deutschen haben. Ich möchte Ihnen vor allem diese Angst nehmen und Frankreich und Deutschland zusammenbringen. Das kann ich aber nicht ohne die Hilfe Großbritanniens. Je länger Sie diese Hilfe verweigern, desto geringer sind die Aussichten, daß wir eine Annäherung durch die EVG zustande bringen.
    Nun, meine Damen und Herren, wäre uns nicht vieles an unerfreulicher Entwicklung erspart geblieben, wenn Großbritannien auf diesen doch warmen Appell damals positiv reagiert hätte?
    Nutting stellt noch eine Erwägung an. Ich glaube, sie gilt für uns. Sie kommt aus dem Munde eines Mannes, der hohe Bedeutung hatte und besitzt. Er sagt:
    Niemand, der Sinn für Geschichte hat, könnte eine erneute Trennung Deutschlands und Frankreichs wünschen. Dieses Paar ist hier als Hauptpartner an dem Geschäft beteiligt, das sich „Gemeinsamer Markt" nennt. Und weder diese beiden noch ihre westlichen Verbündeten haben Interesse daran, daß ihr Verhältnis in naher oder ferner Zukunft wieder gelöst wird.
    Dieser Politik war und ist die Bundesregierung treu geblieben. Auch der Bundestag hat diese Auffassung immer wieder bestätigt.