Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich zur 20. Sitzung des DeutschenBundestages.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ichzunächst drei Kollegen zu ihren Geburtstagen gratulie-ren, die sie in den vergangenen Tagen gefeiert haben: zu-nächst zu ihren „runden“ Geburtstagen den KolleginnenDr. Herlind Gundelach und Katharina Landgraf so-wie dem Kollegen Dr. Franz Josef Jung, der vor eini-gen Tagen seinen 65. Geburtstag gefeiert hat. Alle gutenWünsche für die Zukunft!
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Für den Bei-rat der Stiftung Datenschutz schlägt die Fraktion derSPD vor, die Kolleginnen Christina Kampmann undMichelle Müntefering sowie für die ausgeschiedene Kol-legin Gisela Piltz den Kollegen Gerold Reichenbach alsMitglieder zu wählen. Sind Sie mit diesen Vorschlägeneinverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sinddie genannten Kolleginnen und der Kollege als Mitglie-der des Beirates gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zur Abschaf-fung des Optionszwangs im Staatsangehörig-keitsrecht
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 14Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür mehr Transparenz in der InternationalenAtomenergie-OrganisationDrucksache 18/772Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Abgeord-neten Agnieszka Brugger, Katja Keul, OmidNouripour, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Rüstungsexporte nach Saudi-ArabienDrucksachen 18/576, 18/793ZP 4 Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnalena Baerbock, Marieluise Beck ,Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinsetzung einer „Parlamentarischen Kom-mission zur Überprüfung, Sicherung undStärkung der Parlamentsrechte bei der Man-datierung von Auslandseinsätzen der Bundes-wehr“Drucksache 18/775Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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1518 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 5 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates zur Fest-legung einheitlicher Vorschriften und eines ein-heitlichen Verfahrens für die Abwicklung vonKreditinstituten und bestimmten Wertpapier-firmen im Rahmen eines einheitlichen Abwick-lungsmechanismus und eines einheitlichenBankenabwicklungsfonds sowie zur Änderungder Verordnung Nr. 1093/2010 des Euro-päischen Parlaments und des RatesKOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesZum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinte-ressen – Für eine echte Europäische Banken-unionDrucksache 18/774Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsauschussDabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 6 und 14 a werden abge-setzt. Der Tagesordnungspunkt 8 wird nach dem Tages-ordnungspunkt 15 und der Zusatzpunkt 5 mit einerDebattenzeit von 38 Minuten nach dem Tagesordnungs-punkt 13 aufgerufen.Ich mache jetzt schon darauf aufmerksam, dass eszum Tagesordnungspunkt 9 eine namentliche Abstim-mung geben wird, die dann im Laufe des Nachmittagsgegen 16.30 Uhr stattfinden wird.Schließlich mache ich Sie darauf aufmerksam, dassdie Überweisung der Unterrichtung der Bundesregierungauf der Drucksache 18/641 Nr. 23 an den Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zur Fe-derführung sowie zur Mitberatung an den Ausschuss fürRecht und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Aus-schuss für Kultur und Medien aufgehoben wird. – Auchdazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bun-deskanzlerinzum Treffen der Staats- und Regierungschefsder Europäischen Union zur Lage in derUkraine am 6. März 2014Hierzu habe ich den Botschafter der Ukraine einge-laden, der zusammen mit zahlreichen anderen Vertre-tern weiterer Botschaften unserer heutigen Debattebeiwohnt und den ich auf der Ehrentribüne herzlich be-grüße.
Das gilt auch für eine Delegation des Abgeordneten-hauses des Königreiches Bahrain, die ebenfalls an die-ser Debatte teilnimmt. Seien Sie uns alle herzlich will-kommen!
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch dies ist offenkun-dig unstreitig. Dann können wir so verfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Jahrhundertelang waren dieBeziehungen der europäischen Staaten von Rivalität,wechselnden Bündnissen und immer wieder schreckli-chem Blutvergießen geprägt. Daran denken wir geradein diesem Jahr, 2014, dem Jahr der Gedenktage, ganz be-sonders.Wir denken an den Ersten Weltkrieg, der vor 100 Jah-ren ausbrach. Er war die erste große Katastrophe des20. Jahrhunderts, der alsbald die zweite folgen sollte: derAusbruch des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren mitdem Zivilisationsbruch durch die Schoah. Dass sich andiese Schrecken nunmehr über ein halbes Jahrhundertvon Frieden, Freiheit und Wohlstand in weiten TeilenEuropas anschloss, das grenzt immer noch an ein Wun-der. Mit der europäischen Einigung hat Europa die Leh-ren aus seiner leidvollen Geschichte gezogen, zunächstim Westen Europas, nach 1989 darüber hinaus. Wir erin-nern uns in diesem Jahr auch an den Fall der BerlinerMauer vor 25 Jahren und an den Beginn der EU-Ost-erweiterung vor 10 Jahren. Die europäische Einigung istund bleibt auch im 21. Jahrhundert das große Verspre-chen von Frieden, von Freiheit und von Wohlstand.
Längst hat die Globalisierung unsere Welt – unsereArt zu leben, zu arbeiten, zu wirtschaften – bis in denletzten Winkel erfasst. Heute leben über 7 MilliardenMenschen auf der Erde. Sie alle wollen am Wohlstandteilhaben. Niemand kann sich mehr darauf beschränken,nur seine eigenen Belange im Blick zu haben, und wer esdoch tut, der schadet sich selbst über kurz oder lang. Dasgilt für alle: Das gilt für Deutschland, das gilt für unsereNachbarn, das gilt selbst für ein so großes und starkesLand wie die Vereinigten Staaten von Amerika, ebensofür China und Russland. Wir sind alle, und zwar stärkerund stärker, miteinander verflochten – und eben auchRussland.Ausdruck dessen sind zum Beispiel jährliche deutsch-russische Regierungskonsultationen, der PetersburgerDialog, das Deutsch-Russische Rohstoff-Forum, mehr
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1519
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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als 20 bilaterale Abkommen Russlands mit der Europäi-schen Union, der Ostseerat, unsere Zusammenarbeit mitRussland im Rahmen der G 8 und der G 20, der NATO-Russland-Rat, Verhandlungsmandate im Nahost-Frie-densprozess und bei den Nukleargesprächen mit demIran und vieles, vieles mehr.Das alles ist gelebte Globalisierung im 21. Jahrhun-dert. Sie ist Ausdruck der Erkenntnis, dass wir alle inEuropa und darüber hinaus uns den großen Aufgaben ge-meinsam stellen müssen. Sie ist Ausdruck dessen, dassjeder von uns allein weniger erreicht als gemeinsam.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Umfeld,in dem wir wie 2008 in Georgien und jetzt mitten inEuropa, in der Ukraine, einen Konflikt um Einflusssphä-ren und um Territorialansprüche erleben, wie wir ihn ei-gentlich aus dem 19. oder 20. Jahrhundert kennen, einenKonflikt, den wir für überwunden gehalten hatten.
Dass er ganz offensichtlich nicht überwunden ist, zeigenbereits drei Nachrichten der letzten 14 Tage:27. Februar. Das Krim-Parlament setzt in nichtöffent-licher Sitzung eine neue Regierung ein und spricht sichin dieser Sitzung für eine Volksbefragung über den künf-tigen Status der Region aus, zunächst geplant für den25. Mai. – Diese wurde dann vorverlegt auf den30. März und schließlich auf den 16. März. Dies ist eineVerletzung der ukrainischen Verfassung, die Sezessions-referenden in einzelnen Landesteilen ohne Zustimmungdes Gesamtstaats nicht erlaubt.1. März. Der Föderationsrat Russlands stimmt aufBitten von Staatspräsident Putin in einem Vorratsbe-schluss einem Militäreinsatz auf der Krim im Grundsatzzu, nachdem Russland zuvor, wie es heißt, um Beistandgebeten worden sei.11. März. Das Krim-Parlament beschließt die Unab-hängigkeit der Krim von der Ukraine, womit das in derukrainischen Verfassung vorgesehene Verbot von Sezes-sionsreferenden umgangen werden soll.Meine Damen und Herren, es ist offenkundig: Die ter-ritoriale Unversehrtheit und damit die staatliche Einheitder Ukraine werden ganz offen infrage gestellt und ver-letzt.
In einer Phase großer Unsicherheit in der Ukraine hatsich Russland nicht als Partner für Stabilität in dem mitihm historisch, kulturell und wirtschaftlich eng verbun-denen Nachbarland erwiesen, sondern nutzt dessen ge-gebene Schwäche aus. Das Recht des Stärkeren wirdgegen die Stärke des Rechts gestellt, einseitige geopoliti-sche Interessen über Verständigung und Kooperation.
Das ist Handeln nach den Mustern des 19. und 20. Jahr-hunderts im 21. Jahrhundert. Denn noch einmal: Nie-mand, schon gar nicht die Europäische Union oder Län-der wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder auchRussland, niemand von uns kann sich heute im 21. Jahr-hundert noch darauf beschränken, nur seine eigenen Be-lange im Blick zu haben. Wenn er es doch tut, dann scha-det er sich über kurz oder lang selbst.
Es ist ganz ohne Zweifel beklemmend, was wir der-zeit mitten in Europa erleben. Ich fürchte, wir werden ei-nen langen Atem brauchen, um den Konflikt zu lösen.Aber wir können diese für Europa zentrale Herausforde-rung entschlossen annehmen. Es geht um die territorialeUnversehrtheit eines europäischen Nachbarlandes, umden Respekt vor den Prinzipien der Vereinten Nationen,um Prinzipien und Methoden des Interessenausgleichsim 21. Jahrhundert.Weil in diesen Tagen von dem einen oder anderen derVergleich mit dem Kosovo-Konflikt gezogen wird– vielleicht auch gleich in dieser Debatte –, erlaube ichmir dazu eine kurze Nebenbemerkung. Nachdem damalsdie Staatengemeinschaft den sogenannten ethnischenSäuberungskriegen von Milosevic auf dem Gebiet desehemaligen Jugoslawien jahrelang mehr oder wenigerohnmächtig zugesehen hatte, nachdem Sanktionen undVerhandlungen keinerlei Wirkung gezeigt hatten, ent-schloss sich die NATO, ohne UN-Mandat militärischeinzugreifen, auch weil Russland jeden Beschluss desUN-Sicherheitsrates für ein UN-Mandat blockiert hatte.Um es klipp und klar zu sagen: Die Situation damals istin keiner Weise mit der in der Ukraine heute vergleich-bar.
Doch wenn ich mich schon auf diesen aus meinerSicht beschämenden Vergleich einlasse, dann hat ganzgrundsätzlich Folgendes zu gelten: Das Vorgehen Russ-lands in der Ukraine stellt eindeutig einen Bruch grund-legender völkerrechtlicher Prinzipien dar. Dieser würdenicht dadurch relativiert, wenn es andere Völkerrechts-verletzungen gegeben hätte.
Es bleibt ein Bruch des Völkerrechts mitten in Europa,nach dem wir nicht zur Tagesordnung übergehen dürfenund nach dem wir nicht zur Tagesordnung übergegangensind.In dieser spannungsgeladenen und gefährlichen Situa-tion gilt es, Wege aus der Krise zu finden. Militärisch istder Konflikt nicht zu lösen. Ich sage allen Menschen, dieAngst und Sorge haben: Militärisches Vorgehen ist keineOption für uns.
Die Politik der Bundesregierung und unserer Partner inder Europäischen Union und den Vereinigten Staaten
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von Amerika folgt vielmehr einem politisch-ökonomi-schen Dreiklang:Erstens. Wir arbeiten intensiv für die Einrichtung ei-ner internationalen Beobachterkommission und einerKontaktgruppe bzw. Koordinierungsgruppe; Sie könnenes nennen, wie Sie wollen. Wir arbeiten damit für einenpolitisch-diplomatischen Weg aus der Krise.
Ziel der Beobachtermission wäre es, Behauptungen zuüberprüfen und ein objektives Bild der Lage überall inder Ukraine zu erreichen. Ziel einer Kontaktgruppe wärees, einen Gesprächskanal zwischen Moskau und Kiewunter Vermittlung internationaler Partner aufzubauen. Insolchen Gesprächen müssten all die Themen auf denTisch, die zum jetzigen Konflikt geführt haben oder die-sen in Zukunft noch anheizen könnten. Natürlich würdees dabei auch um Autonomierechte der Krim und Spra-chenfragen gehen. Eines muss dabei aber unmissver-ständlich klar sein: Die territoriale Integrität der Ukrainesteht nicht zur Disposition.
In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich erwähnt:Auch anderen Staaten, wie der Republik Moldau oderGeorgien, gebührt in dieser Situation unsere Solidarität.
Zweitens. Bei ihrem Treffen am 6. März 2014 habensich die Staats- und Regierungschefs der EuropäischenUnion zu umfangreichen Hilfen für die Ukraine ent-schlossen. Wir haben das von der Kommission vorge-legte Unterstützungsprogramm mit einem Gesamtvolu-men von 11 Milliarden Euro begrüßt. Dies umfasst auchMaßnahmen der europäischen Förderbanken EIB undEBRD. Schnelle Hilfe ist jetzt gefragt. Dabei ist aucheine enge Abstimmung mit dem IWF für die Unterstüt-zung durch die EU essenziell. Eine IWF- und eine EU-Delegation sind bereits vor Ort in Kiew, um sich einvollständiges Bild von der Lage in der Ukraine zu ma-chen und erste Vorschläge für ein etwaiges Unterstüt-zungs- und Reformprogramm zu erarbeiten.Wir haben letzte Woche in Brüssel auch gemeinsambeschlossen, den politischen Teil des EU-Assoziierungs-abkommens mit der Ukraine bald zu unterzeichnen, derwichtige Impulse vor allem im Bereich der Rechtsstaats-entwicklung gibt. Einige der wirtschaftlichen Vorteileder im Abkommen angelegten umfassenden Freihan-delszone will die EU kurzfristig durch einseitige Han-delserleichterungen wie eine Senkung von Zöllen zu-gänglich machen.Äußerst wichtig ist in dieser Situation natürlich auch,die Kontakte der Menschen untereinander zu befördern.Wir wollen die Verhandlungen zu Visaerleichterungenfür die Ukraine beschleunigt vorantreiben. Auch imEnergiebereich steht die EU bereit, die Ukraine bei einerStärkung ihrer Energiesicherheit zu unterstützen, etwadurch eine größere Diversifizierung von Energiequellenund Transportwegen und durch Modernisierungsmaß-nahmen.Ganz wichtig werden aber auch Signale der Solidari-tät von Mensch zu Mensch sein – dies auch und vor al-lem in der Ostukraine. Hier können bestehende Städte-partnerschaften – es gibt eine ganze Reihe davon – undandere zivilgesellschaftliche Kontakte eine ganz wich-tige Rolle spielen.
Ich möchte die deutschen Städte, aber auch Schulen,Universitäten und Vereine mit Partnern in der Ukrainedazu ermuntern, in dieser besonderen Zeit den Kontaktnoch zu vertiefen und zu schauen, ob praktische Hilfe-leistungen möglich sind.Wir unterstützen die Übergangsregierung in Kiew da-rin, eine Regierung für alle Ukrainer zu sein. Es geht da-rum, Gräben zu überwinden, erste Schritte zur wirt-schaftlichen Stabilisierung zu gehen und freie und faireWahlen im Mai zu ermöglichen.
Die Ukraine sollte weiterhin ein Ort des friedlichen Zu-sammenlebens für alle ihre Bürger sein, ganz gleich, obsie Ukrainisch, Russisch, Tatarisch oder eine der anderenSprachen sprechen und welchen Glauben sie haben.Wenn dieser Weg des Übergangs erfolgreich gemeis-tert werden kann, dann kann sich das europäische Ange-bot einer Reformpartnerschaft erfüllen, so wie sie imAssoziierungs- und vertieften Freihandelsabkommenniedergelegt ist. Die Zielsetzung ist sehr eng verwobenmit den Erwartungen, die in den Protesten auf dem Mai-dan zum Vorschein kamen: Stärkung der Rechtsstaat-lichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, mehr Transparenz,weniger Korruption und eine weitere Reduktion derHandelsbeschränkungen. Dieses Angebot zur Moderni-sierung ist ein Ansatz der Nachbarschaftspolitik, nichtder Geopolitik. Es ist gegen niemanden gerichtet.
Ich wiederhole in diesem Zusammenhang das, wasich in meiner Regierungserklärung zum EU-Gipfel zurÖstlichen Partnerschaft am 18. November des letztenJahres hier im Deutschen Bundestag gesagt habe, näm-lich,dass sich weder die Östliche Partnerschaft noch diebilateralen vertraglichen Beziehungen, die die EUmit ihren Partnern abschließen will, gegen Russ-land richten.Wir müssen– so habe ich damals gesagt –weiter daran arbeiten, dass es kein Entweder-oderzwischen einer Annäherung der Länder der Östli-chen Partnerschaft an die EU und dem russischen
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Bemühen um eine engere Partnerschaft mit diesenLändern geben sollte.Die Ereignisse in diesen Wochen scheinen darüberhinwegzufegen: Richtig bleibt es trotzdem, auch jetztnichts unversucht zu lassen, genau diesen Ansatz, fürden die EU konkrete Vorschläge unterbreitet hat, weiter-zuverfolgen.
Von der Stärkung und Modernisierung der Volkswirt-schaften unserer osteuropäischen Partner profitierte imÜbrigen auch Russland. Daher gehört für uns natürlichauch dazu, mit Russland über vermeintliche Nachteileaus einer ukrainischen Assoziierung für den ukrainisch-russischen Handel zu sprechen. Dazu gehört, zusammenmit Russland an Lösungsansätzen für ungelöste Kon-flikte in der gemeinsamen Nachbarschaft zu arbeiten.
Dazu würde auch gehören, mit Russland über ein neuesWirtschaftsabkommen zu beraten.Drittens. Es gilt aber auch: Für den Fall, dass Russ-land nicht bereit ist, auf den Weg der Zusammenarbeitund des Rechts zurückzukehren, für den Fall, dass Russ-land unverändert nicht bereit ist, zur Entspannung beizu-tragen, haben die Staats- und Regierungschefs der Euro-päischen Union bei ihrem Treffen in der letzten Wochein Brüssel drei Stufen für ihr weiteres Vorgehen festge-legt.In einer ersten Stufe haben wir die Verhandlungenüber ein neues Abkommen zu den Grundlagen der EU-Beziehungen mit Russland und über Visafragen suspen-diert. Wenn es in den allernächsten Tagen nicht zu Ver-handlungen mit Russland kommt, und zwar zu Verhand-lungen, die Resultate hervorbringen und in denen nichtnur auf Zeit gespielt wird, dann werden die Außenminis-ter der EU-Mitgliedstaaten in ihrem Rat am kommendenMontag, dem 17. März 2014, als zweite Stufe weitereMaßnahmen beschließen. Dazu gehören Einreisesperren,Kontensperrungen und die Absage des EU-Russland-Gipfels.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist inIhrer aller Namen, wenn ich an dieser Stelle die Gele-genheit nutze, unserem Außenminister Frank-WalterSteinmeier zu danken.
Ich danke ihm für seinen unermüdlichen Einsatz inschier endlosen, leider auch frustrierenden Gesprächen,aber nie nachlassend in unserem gemeinsamen Bemü-hen, einen Ausweg aus der Krise zu finden.Es versteht sich von selbst, dass sich der nächste regu-läre Rat der Staats- und Regierungschefs neben denPunkten auf seiner seit langem geplanten Tagesordnungzu Klima- und Energiefragen natürlich auch mit demweiteren Fortgang der Ereignisse in der Ukraine befas-sen wird.Für den Fall, dass Russland die Lage in der Ukraineweiter destabilisiert – auch in der Ostukraine sehen wirbesorgniserregende Entwicklungen –, haben die Staats-und Regierungschefs bei ihrem Treffen am 6. März einedritte Stufe von Maßnahmen vereinbart, die wir bereitwären, zu ergreifen. Sie könnten in vielfältiger Weise diewirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland betreffen.Um es unmissverständlich klarzumachen: Niemandvon uns wünscht sich, dass es zu solchen Maßnahmenkommt.
Doch wir alle wären zu ihnen bereit und entschlossen,falls sie unumgänglich werden.
Wir alle, das sind die 28 Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union in engster Abstimmung mit unseren trans-atlantischen Partnern und innerhalb der G 7. Gemeinsamhaben wir auch in der G 7 in der vergangenen Woche be-schlossen, unsere Beteiligung an den Vorbereitungspro-zessen für den im Juni geplanten G-8-Gipfel auszuset-zen, bis ein Umfeld hergestellt ist, in dem sinnvolleGespräche im G-8-Rahmen wieder möglich sind.Wenn Russland seinen Kurs der letzten Wochen fort-setzt, dann wäre das nicht nur eine Katastrophe für dieUkraine. Dann empfänden wir das nicht nur als Nach-barstaaten Russlands als eine Bedrohung. Dann verän-derte das nicht nur das Verhältnis der EuropäischenUnion als Ganzes zu Russland. Nein, dann schadete dasnicht zuletzt – davon bin ich zutiefst überzeugt – massivauch Russland, und zwar ökonomisch wie politisch.Denn – ich kann es gar nicht oft genug und nachdrück-lich genug sagen – die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen.Interessenkonflikte mitten in Europa im 21. Jahrhundertlassen sich erfolgreich nur dann überwinden, wenn wirnicht auf Muster des 19. und 20. Jahrhunderts zurück-greifen.
Sie lassen sich nur dann überwinden, wenn wir mit denPrinzipien und Mitteln unserer Zeit, des 21. Jahrhun-derts, agieren.
Auch geopolitische Stärke entwickeln, das geht er-folgreich nur mit den Prinzipien und Mitteln unsererZeit. Uns allen in Europa und der Welt – auch Russland –eröffnen sich auf diesem Weg so sehr viel mehr Chancenals Risiken. Dem folgt der Dreiklang unseres Handelnsals Bundesregierung: Gespräche, Hilfen und Sanktionen,indem Deutschland in der aktuellen Krise in enger Ab-stimmung mit unseren Partnern die jeweils nächstenSchritte geht. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.Herzlichen Dank.
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1522 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Putin willdie gesamte Krise in der Ukraine militärisch lösen. Erhat nicht begriffen, dass die Probleme der Menschheitweder mit Soldaten noch mit Gewehren zu lösen sind,ganz im Gegenteil.
Auch die Probleme Russlands lassen sich so nicht lösen.
Sein Denken und Handeln ist falsch und wird von unsdeutlich verurteilt.
Es ist aber dasselbe Denken, das im Westen vor-herrschte und vorherrscht: bei Jugoslawien, Afghanistan,dem Irak und Libyen.
An die Stelle der Systemkonfrontation sind die Interes-sengegensätze der USA und Russlands getreten. DerKalte Krieg ist beendet, aber solche Interessengegen-sätze können zu ganz ähnlichen Zügen führen.Die USA wollen mehr Einfluss gewinnen und vor-handenen verteidigen, und Russland will mehr Einflussgewinnen und vorhandenen verteidigen. Ich sage alsStichworte zu Russland nur: Georgien, Syrien, Ukraine.Auch wenn man Putins Vorgehen verurteilt, mussman sehen, wie es zur gesamten Zuspitzung und Kon-frontation kam. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Alles,was NATO und EU falsch machen konnten, haben siefalsch gemacht.
Ich beginne bei Gorbatschow im Jahre 1990. Er schlugein gemeinsames europäisches Haus, die Auflösung derNATO und des Warschauer Vertrages und ein Konzeptder „Gemeinsamen Sicherheit“ mit Russland vor. Dashat die NATO ausgeschlagen. Sie hat gesagt: Den War-schauer Vertrag aufzulösen, ist okay, aber die NATObleibt. Und aus dem Verteidigungsbündnis NATO wurdeein Interventionsbündnis gemacht.Der zweite Fehler: Bei der Herstellung der deutschenEinheit erklärten der amerikanische Außenminister, un-ser damaliger Außenminister Genscher und andere Au-ßenminister gegenüber Gorbatschow, dass es keine Ost-erweiterung der NATO geben wird. Dieses Versprechenist gebrochen worden. Es gab eine vehemente Auswei-tung der NATO in Richtung Russland.Der ehemalige US-Verteidigungsminister RobertGates bezeichnete die eilfertige Aufnahme der osteuro-päischen Staaten in die NATO als schweren Fehler undden Versuch des Westens, die Ukraine in die NATO ein-zuladen, als schwere Provokation. Nicht ich, sondern derehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister hatdas erklärt.Dann kam drittens der Beschluss, Raketen in Polenund Tschechien zu stationieren. Die russische Regierungsagte: Das tangiert unsere Sicherheitsinteressen; wirmöchten das nicht. – Das hat den Westen überhauptnicht interessiert. Es wurde dennoch gemacht.Zudem hat die NATO im Zusammenhang mit dem Ju-goslawienkrieg das Völkerrecht mehrfach und schwerverletzt. Das räumt inzwischen auch der damalige KanzlerSchröder ein. Serbien hatte keinen anderen Staat angegrif-fen, und es gab keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrates.Es wurde dennoch mit erstmaliger bundesdeutscher Be-teiligung nach 1945 bombardiert. Und die Bewohnerin-nen und Bewohner des Kosovo durften in einem Volks-entscheid die Loslösung von Serbien beschließen.Ich habe damals die Völkerrechtsverletzung schwerkritisiert und Ihnen gesagt: Sie öffnen beim Kosovo eineBüchse der Pandora; denn wenn das im Kosovo erlaubtist, müssen Sie es auch in anderen Gegenden erlauben. –Sie haben mich beschimpft. Sie haben es nicht ernst ge-nommen, und zwar weil Sie glaubten, solche Sieger imKalten Krieg zu sein, dass alle alten Maßstäbe für Sienicht mehr gelten. Ich sage Ihnen: Die Basken fragen,warum sie keinen Volksentscheid machen dürfen, ob siezu Spanien gehören wollen oder nicht. Die Katalanenfragen, warum sie keinen Volksentscheid machen dür-fen, ob sie zu Spanien gehören wollen oder nicht. Natür-lich fragen das nun auch die Bewohnerinnen und Be-wohner der Krim.Durch Völkerrechtsverletzung kann man über Ge-wohnheitsrecht auch neues Völkerrecht schaffen; daswissen Sie. Ich bleibe aber der Meinung, dass die Ab-trennung der Krim völkerrechtswidrig wäre, genausowie die Abtrennung des Kosovo völkerrechtswidrig war.
Ich wusste aber, dass sich Putin auf den Kosovo berufenwird, und er hat es auch getan. Jetzt sagen Sie, Frau Bun-deskanzlerin: Die Situation ist doch eine völlig andere.
– Das kann schon sein. – Sie verkennen aber: Völker-rechtsbruch ist Völkerrechtsbruch.Meine liebe Frau Roth, fragen Sie doch einmal einenRichter, ob ein Diebstahl aus edlerem Motiv im Ver-gleich zu einem Diebstahl aus unedlerem Motiv keinDiebstahl ist. Er wird Ihnen sagen: Es bleibt ein Dieb-stahl. – Das ist das Problem.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1523
Dr. Gregor Gysi
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Herr Struck hat damals erklärt: Die Bunderepublikmuss ihre Sicherheit am Hindukusch verteidigen. – Nunerklärt Herr Putin: Russland muss seine Sicherheit aufder Krim verteidigen. – Deutschland hatte am Hindu-kusch übrigens keine Flotte und war auch wesentlichweiter entfernt. Trotzdem sage ich: Beide Sätze warenbzw. sind falsch.
Aber es bleibt auch Folgendes: Wenn viele Völker-rechtsverletzer dem Völkerrechtsverletzer Russland vor-werfen, das Völkerrecht zu verletzen, ist das nicht be-sonders wirksam und glaubwürdig. Das ist die Tatsache,mit der wir es zu tun haben.
Obama sprach genauso wie Sie, Frau Bundeskanzle-rin, von der Souveränität und territorialen Integrität derStaaten. Aber diese beiden Prinzipien wurden in Serbien,im Irak, in Libyen verletzt. Der Westen meinte, das Völ-kerrecht verletzen zu können, weil der Kalte Krieg vor-bei sei. Man hat die chinesischen und die russischen In-teressen grob unterschätzt. Sie haben Russland unterJelzin, der häufig angetrunken war, überhaupt nichtmehr ernst genommen. Aber die Situation hat sich geän-dert. Sehr spät berufen Sie sich jetzt wieder auf die imKalten Krieg entstandenen völkerrechtlichen Grund-sätze. Ich bin sehr dafür, dass sie wieder gelten – aberdann für alle! Anders geht es nicht.
Dann gab es das Gezerre zwischen der EU und Russ-land an der Ukraine. Beide dachten und handeltengleich. Barroso, der Kommissionschef der EU, hat ge-sagt: Entweder Zollunion mit Russland oder Verträgemit uns! – Er hat nicht gesagt: „Beides“, sondern: „Ent-weder – oder!“. Putin hat gesagt: Entweder Verträge mitder EU oder mit uns! – Beide haben gleichermaßen al-ternativ gedacht und gehandelt. Das war ein verheeren-der Fehler von beiden Seiten.
Kein einziger EU-Außenminister hat versucht, mit derrussischen Regierung zu sprechen und die berechtigtenSicherheitsinteressen Russlands überhaupt zur Kenntniszu nehmen.
Russland fürchtet doch, dass nach engeren Beziehungenmit der EU die NATO in die Ukraine kommt. Es fühltsich immer eingekreister. Aber es wurde nur an derUkraine gezerrt.Die EU- und NATO-Außenminister haben die Ge-schichte Russlands und der Ukraine völlig unberücksich-tigt gelassen. Sie haben die Bedeutung der Krim fürRussland nie verstanden. Die ukrainische Gesellschaftist tief gespalten.
Auch das wurde nicht berücksichtigt. Diese tiefe Spal-tung zeigte sich schon im Zweiten Weltkrieg, und siezeigt sich auch heute. Die Ostukraine tendiert in Rich-tung Russland. Die Westukraine tendiert in RichtungWesteuropa. Es gibt derzeit keine einzige politische Per-sönlichkeit in der Ukraine, die beide Teile der Gesell-schaft repräsentieren könnte. Das ist eine traurige Wahr-heit.Dann gibt es noch den Europarat und die Organisa-tion für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa,OSZE. Die haben Sie in letzter Zeit schwer vernachläs-sigt, Frau Bundeskanzlerin und Herr Außenminister. DieGelder für diese Organisationen wurden immer mehr zu-sammengestrichen, weil Sie meinten, dass sie nichtwichtig sind. Das sind aber die einzigen europäischenOrganisationen, in denen sowohl Russland als auch dieUkraine organisiert sind. Deshalb müssen wir diese Or-ganisationen wieder stärken – auch finanziell – und dür-fen nicht über einen Ausschluss Russlands faseln; das istvöllig daneben.
Dann erlebten wir eine starke Zuspitzung auf demMaidan. Wir erlebten Scharfschützen und viele Tote. Esgibt verschiedene Gerüchte. In solchen Situationen wirdviel gelogen. Deshalb schlagen wir vor, eine internatio-nale Untersuchungskommission einzusetzen. Wir, abervor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer haben einRecht, zu erfahren, was dort gelaufen ist und wer dortwelche Verantwortung trägt. Ich freue mich, dass Sie,Frau Bundeskanzlerin, das unterstützen.
Auf dem Maidan gab es viele demokratische Kräfte,aber auch Faschisten. Der Westen machte direkt und in-direkt mit.
Dann haben Außenminister Steinmeier, der französischeund der polnische Außenminister mit Janukowitsch undder Opposition einen Vertrag geschlossen. Jetzt sagenSie, Herr Außenminister, Janukowitsch habe die Verein-barung durch seine Flucht hinfällig gemacht. Das istfalsch. Die Menschen auf dem Maidan lehnten die Ver-einbarung mit großer Mehrheit ab,
und Sie, Herr Außenminister, haben auf dem Platz auchnicht für diese Vereinbarung geworben. Erst nach derAblehnung verließ Janukowitsch Kiew.
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1524 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Gregor Gysi
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Dann tagte das Parlament und wählte ihn mit72,88 Prozent ab.Die Verfassung schreibt aber 75 Prozent vor. Nun sagenHerr Röttgen und andere: Na ja, bei einer Revolutionkann man nicht so genau auf die Verfassung achten. Einpaar Prozentchen mehr oder weniger … – Das kann manja alles machen. Nur, Putin beruft sich darauf und sagt:„Es gab nicht die verfassungsmäßige Mehrheit für dieAbwahl“,
und stützt sich deshalb auf Schreiben, die Janukowitschihm sendet.Außerdem: Bei der Abstimmung im Parlament stan-den lauter Bewaffnete herum. Das ist nicht besondersdemokratisch. Bei der Volksabstimmung auf der Krimam kommenden Sonntag stehen auch lauter bewaffneteSoldaten herum. Auch das ist nicht besonders demokra-tisch.
Interessant ist, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagen,ein solcher Volksentscheid sei nach der ukrainischenVerfassung verboten. Wann gilt sie denn nun und wannnicht? Bei der Abwahl des Präsidenten gilt sie nicht, undbei der Abstimmung auf der Krim soll sie plötzlich gel-ten. Sie müssen schon wissen: Akzeptieren Sie die ukrai-nische Verfassung ganz oder nur in bestimmten Teilen,wenn es Ihnen genehm ist? Das ist die Art, die ich kenneund die ich nicht mag.
Dann wurde eine neue Regierung gebildet, sofort an-erkannt von Präsident Obama, auch von der EU, auchvon der Bundesregierung. Frau Merkel! Der Vizepre-mierminister, der Verteidigungsminister, der Landwirt-schaftsminister, der Umweltminister, der Generalstaats-anwalt – das sind Faschisten. Der Chef des nationalenSicherheitsrates war Gründungsmitglied der faschisti-schen Swoboda-Partei. Faschisten haben wichtige Pos-ten und dominieren zum Beispiel den Sicherheitssektor.Noch nie haben Faschisten freiwillig die Macht wiederabgetreten, wenn sie einmal einen Teil davon eroberthatten.
Zumindest die Bundesregierung hätte hier eine Grenzeziehen müssen, schon aufgrund unserer Geschichte.
Als Haiders FPÖ in die österreichische Regierungging, gab es sogar Kontaktsperren und Ähnliches. Undbei den Faschisten in der Ukraine machen wir nichts?Swoboda hat engste Kontakte zur NPD und zu anderenNaziparteien in Europa. Der Vorsitzende dieser Partei,Oleg Tjagnibok, hat Folgendes wörtlich erklärt. Ichzitiere jetzt; Sie müssen sich anhören, was er wörtlichgesagt hat – Anführungsstriche –:Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russen-säue, die Deutschen, die Judenschweine und andereUnarten.Ende des Zitats. – Ich wiederhole. Dieser Mann hat ge-sagt – Anführungsstriche –:Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russen-säue, die Deutschen, die Judenschweine und andereUnarten.Ende des Zitats. – Es gibt jetzt Übergriffe auf Jüdinnenund Juden und auf Linke, und gegen all das sagen Sienichts? Mit diesen Swoboda-Leuten reden Sie? Ich emp-finde das als einen Skandal. Ich muss Ihnen das ganzklar sagen.
Jetzt wollen Sie – auch das haben Sie angekündigt –Sanktionen verhängen, wenn es nicht anders ginge, wieSie sagen. Aber die werden Putin nicht imponieren. Dasspitzt doch die Situation nur zu. Kissinger, der ehema-lige Außenminister der USA, hat recht. Er sagt, dieSanktionen seien nicht Ausdruck einer Strategie, son-dern Ausdruck des Fehlens einer Strategie. Das gilt auchfür die eskalierenden Militärflüge über Polen und diebaltischen Republiken. Was soll das?Konten von Janukowitsch und seinen Anhängern sindgesperrt, weil es gestohlenes Staatsgeld ist. Meine Frage:Das wussten Sie vorher nicht? – Zweite Frage: Warumeigentlich nur deren Konten? Was ist mit dem Milliar-denvermögen der Oligarchen, die andere Kräfte unter-stützen? Warum machen Sie da nichts? Wie einseitigläuft das eigentlich alles?
Es gibt nur den Weg der Diplomatie.Erstens. Der Westen muss die legitimen Sicherheits-interessen Russlands auf der Krim anerkennen, wie dasübrigens auch US-Außenminister Kerry erkannt hat. Esmuss ein Status für die Krim gefunden werden, mit demdie Ukraine, Russland und wir leben können.
Russland muss garantiert werden, dass die Ukraine nichtMitglied der NATO wird.Zweitens. Die Perspektive der Ukraine liegt in einerBrückenfunktion zwischen EU und Russland.Drittens. Es muss in der Ukraine ein Prozess der Ver-ständigung und Versöhnung zwischen Ost und West ein-geleitet werden, vielleicht über einen föderalen oderkonföderalen Status, vielleicht auch über zwei Präsiden-ten.Was ich der EU und der NATO vorwerfe: Bis heute istkein Verhältnis zu Russland gesucht und gefunden wor-den. Das muss sich jetzt gründlich ändern.
Sicherheit in Europa gibt es weder ohne noch gegenRussland, sondern nur mit Russland. Wenn die Krise ei-
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Dr. Gregor Gysi
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nes Tages überwunden ist, könnte ein Vorteil darin beste-hen, dass das Völkerrecht endlich wieder von allen Sei-ten respektiert wird.Danke schön.
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Rolf
Mützenich das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esbesteht heute kein Zweifel: Dies ist eine ernste interna-tionale Krise, und sie stellt einen tiefen Einschnitt in denBeziehungen zu Russland dar. Genau darauf muss dasSchwergewicht in unseren Reden heute liegen, und wirdürfen nicht einem innenpolitischen Reflex folgen, wennwir über Außenpolitik reden. Wir müssen dieser Situa-tion gerecht werden, indem wir berücksichtigen, überwen wir hier sprechen, und indem wir darüber nachden-ken, welche Auswege bestehen, um unser Verhältnis zuRussland letztlich wieder in eine friedliche Kooperationmünden zu lassen.Es ist angemessen, auch von dieser Stelle aus zu sa-gen: Es ist absehbar, dass durch die Vorgänge, die wirauf der Krim und in der Ukraine sehen und in den Bezie-hungen zu Russland erleben, Unsicherheit und neueSpannungen in Europa leider wieder wachsen werden.Ich persönlich hätte diesen Rückfall in Chauvinismusund das Denken in Einflusszonen nicht erwartet. Geradevon deutscher Seite haben wir viel dafür getan, um derEntspannungspolitik zum Durchbruch zu verhelfen undletztlich eine Verhaltensänderung in der Politik zu errei-chen.Insofern müssen wir den Bundesbürgern sagen: Esgibt unterschiedliche Dimensionen. Nicht nur dieUkraine ist unmittelbar betroffen – die Bundeskanzlerinhat es gesagt –; es geht auch um andere Länder, in denenrussische Minderheiten wohnen und wo die Unsicherheitmöglicherweise wächst, etwa in Bulgarien, im Baltikum,aber auch in Ländern Zentralasiens. Um diese Länderherum werden sich Spannungen aufbauen.Außerdem werden die Vorgänge in der Ukraine – dasmuss man auch dem russischen Präsidenten sagen – auchAuswirkungen auf Russland selbst haben. Auch dort le-ben viele Minderheiten, die sich von Putins Politik mög-licherweise beeinflussen lassen und eigene Forderungenin Richtung nationale Unabhängigkeit stellen. Natürlichlegt auch die russische Politik heute eine andere Mess-latte an. Sie spricht nicht mehr allein von russischenStaatsbürgern, sondern mittlerweile auch von ethnischenRussen, vom Slawentum. Das bringt die Gefahr zumAusdruck, die für unseren Kontinent an dieser Stelleherrscht.
Wir machen uns insbesondere darüber Sorgen, dasssich Regierungen in anderen europäischen Ländern dasVorgehen Russlands möglicherweise zum Vorbild neh-men. Wir dürfen nicht vergessen: Selbst innerhalb derEuropäischen Union und auch außerhalb der Europäi-schen Union gibt es Regierungen, die sich in diesenDenkstrukturen bewegen und überlegen, eigene politi-sche Hasardeurritte in Europa zu unternehmen. Deswe-gen müssen wir von hier aus sehr deutlich machen: Es istauch in unserem eigenen Interesse, zu versuchen, diesenKonflikt so gut wie möglich zu bewältigen.
Folglich ist die Frage angemessen: Hat der russischePräsident eine Strategie, oder ist er angesichts schwer-wiegender innenpolitischer Probleme ein von Schwächeund Willkür Getriebener? Für beides gibt es Hinweise;für beides sprechen Fakten. Genau das ist das große Pro-blem: Jemand, der innenpolitisch getrieben ist und sozu-sagen Innenpolitik über Außenpolitik machen will, birgtin sich die Gefahr, möglicherweise internationale Span-nungen zu produzieren, um von innenpolitischen Proble-men abzulenken.
Auf der einen Seite scheint es aber in der Tat eineStrategie zu geben; die Bundeskanzlerin hat darauf hin-gewiesen. Die von ihr genannten Daten deuten daraufhin, dass möglicherweise bestimmte Gruppen auf derKrim die Ereignisse frühzeitig für ihre politischen Zielegenutzt haben.Auf der anderen Seite dürfen wir nicht verkennen:Russland ist in einer schweren Wirtschafts- und Moder-nisierungskrise. Der russische Präsident selbst hat imletzten Jahr in der Rede zur Lage der Nation auf dieseProbleme hingewiesen. Hier bietet sich die Möglichkeit,Angebote zu unterbreiten, um ihm bei der Bewältigungder Wirtschafts- und Modernisierungskrise zu helfenund im Grunde genommen also die innenpolitischen He-rausforderungen aufzugreifen. Das schlägt uns auch ausder russischen Bevölkerung entgegen. Wir kennen dochdie Meinungsumfragen. Das, was die russische Politikheute macht, ist gar nicht so unumstritten. Wir wissen,dass die Bürger in Russland mittlerweile auch Angst vordieser Situation haben. Nach meinem Dafürhalten soll-ten wir uns dies in weiteren Gesprächen mit Russlandzunutze machen.
Ein weiterer Aspekt. Ich wäre froh, wenn wir nichtimmer über die Ukraine reden würden und Vorschlägemachen würden, wie zukünftig ihre Verfassung aussehensoll oder wie sie sich zukünftig verhalten soll, ob es also
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Dr. Rolf Mützenich
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zwei Präsidenten und eine Föderalregierung oder ande-res geben soll.
Ich würde mich vielmehr freuen, wenn wir die Integritätdieses Landes und die Souveränität der Bürgerinnen undBürger in der Ukraine anerkennen würden, egal welchepolitische Verantwortung wir heute im Deutschen Bun-destag sehen.
Es geht deswegen hauptsächlich darum, zu beobachten,was in der Ukraine passiert. Die Proteste waren am An-fang friedlich. Sie waren auch der Ausdruck von Fin-dung einer Nation, die über Sprache, gemeinsames Ver-halten und natürlich auch Hoffnungen Orientierunghatte. Natürlich ist Europa für viele dort Vorbild. Aber inerster Linie müssen wir die nationale Identität derUkraine respektieren; daran müssen wir auch unser poli-tisches Handeln messen lassen.Natürlich hat die Regierung Janukowitsch zur Bruta-lisierung der Verhältnisse auf dem Maidan beigetragen.Das müssen doch auch Sie vonseiten der Linken aner-kennen. Staatliche Institutionen haben mit Brutalisierungund Gewalt auf dem Maidan, aber auch in der Ukraineinsgesamt begonnen. Deswegen unterstützen wir dieBundeskanzlerin, wenn sie in ihrer Regierungserklärungfordert: Darüber muss aufgeklärt werden. Auch eineÜbergangsregierung muss die Verantwortlichen zur Re-chenschaft ziehen. Das ist aber eine Herausforderung fürdie gesamte Gesellschaft in der Ukraine und eben nichtnur für die Regierung alleine.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich ganzherzlich für das, was die Bundesregierung in den vergan-genen Tagen und Wochen unternommen hat. Das warKrisenmanagement. Man hat versucht, das Blutvergie-ßen auf dem Maidan und in der Ukraine zu stoppen. Hierhaben wir versucht, unsere moralischen Kategorien ein-zubringen und auch auf diplomatischem Wege den Kon-flikt auf dem Maidan zu beenden, der möglicherweise zuSchlimmerem geführt hätte. Wir wollten Schlimmeresverhindern. Die Bundeskanzlerin und insbesondere derAußenminister haben das zusammen mit anderen, abernicht über die Köpfe anderer hinweg unternommen. Da-für gebührt der gesamten Bundesregierung Dank.
Beide haben in den vergangenen Tagen – auch das ge-hört zu einem Krisenmanagement – versucht, die ver-schiedenen Interessen der Europäischen Union zusam-menzuhalten, zu bedenken und sozusagen auch zumAusdruck zu bringen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, habendas in Telefonaten, aber auch bei Besuchen wie gesternin Polen getan. Der Außenminister war im Baltikum.Gerade das sind ja Länder, die sich von dieser Situationinternational herausgefordert fühlen.Im Nachhinein kann man natürlich immer sagen, wasfalsch gemacht worden ist. Aber dass das Blutvergießengestoppt worden ist, müssen doch auch Sie, Herr Kol-lege Gysi, an dieser Stelle anerkennen. Genau das hat dieBundesregierung in den Gesprächen mit dem polnischenund dem französischen Außenminister erreicht. Dafürgebührt ihr in der Tat Anerkennung.
Wir dürfen nicht verkennen: Putin kann drohen, aberer kann auf die zivilgesellschaftliche Entwicklung in derUkraine langfristig keinen Einfluss nehmen. Auch dasmuss Präsident Putin und den handelnden Akteuren inMoskau klar werden. Deswegen hätte ich mir ge-wünscht, dass auch die russische Regierung an ihrenWorten gemessen worden wäre, auch in der Auseinan-dersetzung über all das, was falsch gelaufen ist. AuchPräsident Putin hat für Deeskalation geworben, undtrotzdem hat er Manöver abgehalten, trotzdem hat ereine Interkontinentalrakete getestet, trotzdem ist er nichtauf den Vorschlag eingegangen, eine Kontaktgruppe zubilden. Er hat sozusagen all die Wege, die von hier auf-gezeigt worden sind, nicht angenommen. Er war ebennicht an Deeskalation interessiert. Ich finde, das, lieberKollege Gysi, hätte man dem Präsidenten genauso vor-halten müssen.
In der Tat: Nach dem Ende des Kalten Krieges hat esEntwicklungen gegeben, bei denen die Interessen Mos-kaus missachtet wurden – Sie, Herr Kollege Gysi, habendarüber gesprochen –: die NATO-Osterweiterung undvieles andere. Aber es war die letzte Große Koalition,die damals in schwierigen Gesprächen verhindert hat,dass neue Mitgliedstaaten in die NATO aufgenommenwerden, weil wir eben die Sicherheitsinteressen Russ-lands beachtet haben. Ich glaube, man muss doch würdi-gen, dass das gerade von hier, von der Bundesregierungund vom Deutschen Bundestag, ausgegangen ist. Des-wegen bin ich der Meinung: Wir müssen aus beiderseiti-gem Verhalten lernen. Russland hat eben nicht die Handausgestreckt: Bezüglich eines Assoziierungsabkom-mens traf man in allen Gesprächen, die geführt wordensind, auf Ablehnung von russischer Seite.Insofern will ich Ihnen sehr deutlich sagen, Herr Kol-lege Gysi: Die Kritik der Linken allein um der Kritikwillen wird den außenpolitischen Herausforderungennicht gerecht.
Ich habe mir mal die Mühe gemacht, nachzulesen, wel-che Hinweise Sie in der letzten Legislaturperiode dazu
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1527
Dr. Rolf Mützenich
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gegeben haben, was wir nach Ihrer Meinung alles falschgemacht haben: Sie haben keine einzige Frage, keineneinzigen Antrag gestellt und keine Debatte im Plenumbeantragt, um über die Ukraine und ihr schwieriges Ver-hältnis zu Russland zu diskutieren. Das ist Ihr Versagenals Opposition an dieser Stelle.
Es ist gut, dass wir auf Konfliktvermeidung achten,dass wir weiter den diplomatischen Weg gehen. Für die-jenigen, die immer auch das Empfinden Russlands inihre Arbeit einbezogen haben, waren die letzten Wochenein herber Rückschlag; es waren Tage der Verunsiche-rung und Enttäuschung. Dennoch bin ich der Überzeu-gung: Wir brauchen eine Entspannungspolitik in Zeitenneuer Spannungen, vor allem über den Tag hinaus. DerKalte Krieg war ein Übel, das nicht nach Europa zurück-kehren darf. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.Vielen Dank.
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorgenau drei Wochen haben wir im Plenum des DeutschenBundestages schon einmal über die Lage in der Ukrainedebattiert. Das war der 20. Februar. Während wir hierdebattiert haben, starben auf dem Maidan in Kiew Men-schen durch die Schüsse von Scharfschützen. 82 Men-schen sind es gewesen, die an diesem Tag zu Tode ge-kommen sind. Wenn man sich die Biografien dieserMenschen anschaut, dann sieht man: Menschen unter-schiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft, rus-sisch- wie ukrainischsprachig haben dort ihr Leben ge-lassen.Einer von ihnen ist Josef Schilling, 61 Jahre alt, Mit-glied der jüdischen Gemeinde. An dem Tag, an dem wirhier debattiert haben, wurde ihm in der Nähe des Okto-ber-Palastes in den Kopf geschossen. Josef Schilling isteiner von 82, die für ihren Wunsch nach Freiheit, nachDemokratie mit dem Leben bezahlt haben. Der Maidan,der Ort der Revolution war, ist Ort des Gedenkens ge-worden, meine Damen und Herren.Herr Gysi, wenn Sie sich heute hier noch einmal hin-stellen und die Maidan-Bewegung diffamieren,
wenn Sie sich hier noch einmal hinstellen und so tun,
als wären es die rechten Kräfte gewesen, die den Maidanbestimmt hätten,
wenn Sie so tun, als ob in der ukrainischen Regierungdiese Kräfte die Oberhand hätten,
dann will ich Ihnen eines sagen: Niemand hier im Hauswird verkennen, dass Swoboda und der rechte Sektor inder Ukraine Kräfte sind, mit denen es bezüglich dem,was wir an Werten und demokratischen Vorstellungenhaben, nichts, ja, überhaupt nichts an Übereinstimmunggibt, meine Damen und Herren.
Es hilft nichts, mit einem Zitat von 2004 zu kommen.
Es hilft auch nichts, dabei zu verschweigen, dass wir unsmit Blick auf die Krim schon fragen müssen, warumausgerechnet Rechtspopulisten aus ganz Europa dort zurWahlbeobachtung eingeladen werden.
Das dürfen Sie nicht verschweigen; denn dann ist klar:Die demokratische Bewegung in der Ukraine hat zuRecht unsere Unterstützung bekommen. Wir distanzie-ren uns in aller Form von den rechtsnationalen Kräften.Und es ist richtig so, dass wir trotzdem sagen: Die De-mokratie und die freiheitliche Grundordnung in derUkraine werden ganz sicher auch damit fertig werden.Das ist der entscheidende Punkt.
Ich sage Ihnen: Ich bin sehr dankbar, dass sichDeutschland eben nicht neutral verhalten hat. Es warrichtig, dass der deutsche Außenminister und das Wei-marer Dreieck nach Kiew gereist sind, um zu vermitteln.Es war notwendig, dass Europa dem schamlosen Bruchdes Völkerrechts durch ein Mitglied des Sicherheitsratesweder mit falscher Zurückhaltung noch mit militärischenDrohgebärden, sondern mit Diplomatie und Besonnen-heit begegnet ist.
Diplomatie bedeutet eben auch sichtbare Worte undklare Konsequenzen.
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1528 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Katrin Göring-Eckardt
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Wenn an diesem Wochenende das Referendum aufder Krim den Ausgang nimmt, den wir im Moment ver-muten, dann muss man deutlich sagen: Es handelt sichum keine Abstimmung über Unabhängigkeit, sondernum eine ungültige Legitimation für eine völkerrechts-widrige Annexion. Das muss man so nennen. Das mussman so sagen. Das muss auch Frau Wagenknecht verste-hen, die Verständnis dafür aufbringt. Ich, meine Damenund Herren, kann dafür kein Verständnis aufbringen.
Es ist beispiellos, wie hier eine Region militärisch be-setzt wird, kritische Stimmen unterdrückt und mit Hoch-druck Fakten geschaffen werden. Ein so dreister und ge-fährlicher Rechtsbruch kann nicht ohne Konsequenzenbleiben. Weil wir eben keine EU wollen, die auf dem Zu-schauerplatz sitzt, sondern ein einheitliches Vorgehender EU wollen, kann man nicht zulassen, dass man ver-zweifelt in Richtung NATO schaut. Deswegen ist esauch richtig, Sanktionen in drei Stufen vorzusehen. Dassind die Mittel, mit denen wir deutlich sagen können,was wir wollen. Sie sind ein Mittel der Diplomatie undnichts anderes.Wenn man sich die Handelsbeziehungen anschaut,dann sieht man, dass es natürlich etwas ausmachen wird.Natürlich wird Russland nicht mehr einfach so weiter-machen können wie bisher. Das ist selbstverständlich.Das ist klar. Das ist auch die Perspektive, vor der mansteht, wenn man klar und deutlich darüber spricht.Ich möchte noch einen kritischen Punkt ansprechen.Ich glaube, dass wir in Deutschland, wenn wir überSanktionen reden, tatsächlich über unsere eigene Politiksprechen müssen. Dabei geht es vor allem um unsereRohstoffimporte. Es ist nicht egal, dass wir eine großeAbhängigkeit vom russischen Gas haben. Es ist auchnicht egal, dass wir eine große Abhängigkeit von russi-schem Öl und russischer Kohle haben. Wenn wir inDeutschland die Energiewende nach wie vor mit angezo-gener Handbremse, wenn wir die Energiewende nachwie vor so zurückhaltend betreiben, dann wird unsereAbhängigkeit von solchen Rohstoffimporten weiterhinbestehen bleiben. Das ist für mich ein weiterer und einsehr zentraler Grund dafür, warum wir die Energiewendevehement vorantreiben müssen.
Wenn wir in Europa über Sanktionen sprechen, dannkönnen wir nicht einfach weiter wie bisher über Rüs-tungsexporte nach Russland reden.Die Situation in der Ukraine ist nicht nur politischprekär und wirtschaftlich desolat. Deswegen ist es gutund richtig, dass es Finanzhilfen gibt. Deswegen ist esgut und richtig, dass es Zoll- und Visaerleichterungengeben soll. Es muss eine klare Unterstützung für dasVolk der Ukraine geben. Es muss klar und deutlich sein,was „europäische Perspektive“ eigentlich heißt. Dieseeuropäische Perspektive ist nicht gegen jemanden ge-richtet. Diese europäische Perspektive heißt vielmehr inallererster Linie, dass die Ukraine selbstständig, alleinund eigenständig entscheiden können muss und nicht ir-gendjemand so tut, als könne man über die Ukraine undüber die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinwegentscheiden. Das ist der entscheidende Punkt: Eigenstän-digkeit der Ukraine. Es geht um die Ukrainer, darum,was sie wollen und wohin sie wollen. Unser Angebotmuss sein, sie darin zu unterstützen.
Unsere Aufgabe wird es sein, Konsequenzen zu zie-hen und konsequent zu bleiben. Das tun wir mit diplo-matischen, mit friedlichen Mitteln.Es geht darum, dass die Menschen in der Ukraine eineklare Perspektive haben. Für Russland, das Verträge un-terschrieben hat, in denen die Grenzen der Ukraine nichtnur akzeptiert, sondern auch garantiert werden, mussklar sein: Eine Annexion der Krim hat mit dem Völker-recht nichts zu tun. Das ist unsere klare Position, und beider werden wir auch bleiben.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSituation im Osten Europas ist gefährlich angespannt.Die Ukraine steckt mitten in einer Zerreißprobe.Ich danke Ihnen, verehrte Frau Bundeskanzlerin, fürIhre besonnene und bestimmte Art, für Ihr besonnenesund bestimmtes, klares Handeln in dieser historischschwierigen Situation.
Sie haben auch in Ihrer Regierungserklärung eindrucks-voll dargelegt, welche Schritte Deutschland und Europagehen müssen, damit wieder ein friedliches und selbst-bestimmtes Zusammenleben der Völker möglich ist. Da-für möchte ich Ihnen herzlich danken.In diesen Dank schließe ich auch den Bundesaußen-minister, Herrn Steinmeier, mit ein. Was Sie in den letz-ten Wochen und Monaten auf europäischer Ebene durchbilaterale Gespräche und Verhandlungen geleistet haben,verdient unser aller Dank, Respekt und Anerkennung.
Die Menschen in der Ukraine haben in den letztenWochen großen Mut bewiesen. Sie haben wochenlang
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1529
Gerda Hasselfeldt
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unter widrigsten Bedingungen gegen die damalige Re-gierung demonstriert, zunächst auf dem Maidan, späterauch andernorts, im Osten des Landes. Sie haben fürFreiheit, Selbstbestimmung und Demokratie demon-striert.Diesen Menschen in der Ukraine, die ein Stück ihresLebens eingesetzt haben, die immer wieder unter wid-rigsten Bedingungen für Freiheit und Demokratie auf dieStraße gegangen sind, gilt unser Respekt, unsere Aner-kennung, unsere Solidarität, aber auch unsere Unterstüt-zung.
Gerade wir in Deutschland wissen, was es heißt, fürFreiheit zu kämpfen. Wir wissen aus eigener Erfahrung:Es lohnt sich. Aber es geht nicht nur darum, zu kämpfen,sondern es geht auch darum, aufrecht zu stehen und im-mer wieder ein zentrales Menschenrecht einzufordern,nämlich Freiheit und damit auch Demokratie.Die plötzliche Entscheidung des Staatspräsidenten,entgegen vorherigen Ankündigungen, das Assoziie-rungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zuunterzeichnen, hat gerade jungen Menschen die zunächstsicher geglaubte Zukunftsperspektive genommen. Siegingen auf die Straße, weil sie genau das wollten, waswir in Europa seit langem haben, nämlich Freiheit,Sicherheit und Zukunftschancen. In dieser Zeit, denkeich, ist es gut, sich auch daran zu erinnern, welche beein-druckende Attraktivität und Anziehungskraft Europa füruns alle und gerade für die jüngere Generation hat.Nun stehen sich auf der Krim russische und ukraini-sche Soldaten gegenüber. Russland hat auf die Freiheits-bemühungen von Anfang an mit Gegendruck reagiert,zunächst einmal wirtschaftlich, dann aber auch völker-rechtswidrig. Erst wurden Kreditzusagen zurückgenom-men. Dann wurde der Gaspreis eklatant erhöht und da-mit die wirtschaftliche Daumenschraube zusätzlichangezogen. Schließlich wurde die Krim de facto durchnicht gekennzeichnete Soldaten besetzt. Einige andereDinge wurden ja schon angesprochen.All das, was in den letzten Tagen und Wochen vonsei-ten Russlands geschehen ist, war eindeutig eine Verlet-zung der territorialen Unversehrtheit eines europäischenStaates und verstößt eindeutig gegen das Völkerrechtund gegen bilaterale Verträge.
Aus meiner Sicht ist es ganz besonders bitter, dass da-mit auch all das, was in der Nachkriegsordnung und inder zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit derUN-Charta, der OSZE-Charta, den bilateralen Verträgenund im Europarat an Errungenschaften im europäischen,aber auch im internationalen Bereich aufgebaut wurde,durch so ein Verhalten mit Füßen getreten wird. Daskönnen wir nicht akzeptieren. Das dürfen wir nicht ak-zeptieren. Das müssen wir auch mit aller Deutlichkeitansprechen.
Klar ist, dass dauerhafter Frieden nur mit Russlandund nicht gegen Russland möglich ist. Deshalb ist dasGebot der Stunde, dass wir gemeinsam mit unseren Ver-bündeten und Freunden Russland zu echten Verhandlun-gen bewegen. Die Bemühungen der Bundeskanzlerin,des Außenministers und ihrer Kollegen auf europäischerEbene dazu sind bekannt. Das muss gemeinsam mit derEuropäischen Union, den G-7-Staaten, der NATO undder OSZE geschehen. Vorrangig sind natürlich Verhand-lungen zwischen der Ukraine und Russland.Ich begrüße sehr die Bemühungen um die internatio-nale Kontaktgruppe und um die Beobachtergruppe. DasZiel dieser internationalen Kontaktgruppe muss sein,Vertrauen zu schaffen und Vertrauen wiederherzustellen,aber vor allem die territoriale Integrität und Souveränitätder Ukraine und nicht zuletzt auch Menschenrechte undMinderheitenrechte zu sichern.Wir alle wissen, dass der Weg zur Erreichung dieserZiele weit und alles andere als einfach ist. Wir wissen,dass dabei Besonnenheit und Diplomatie gefragt sindund ein langer Atem, wie es die Bundeskanzlerin heuteausgedrückt hat, sicher notwendig ist. Bei allem Ver-ständnis für die historischen Entwicklungen und Zusam-menhänge und für die unterschiedlichen Interessen dereinzelnen Länder muss dabei ein klarer Kompass sicht-bar werden. Dieser Kompass muss meines Erachtens fol-gendermaßen aussehen: erstens keine Verletzung desVölkerrechts und bilateraler Verträge, zweitens Wahrungder territorialen Souveränität und der Integrität derUkraine, drittens Sicherung der Freiheitsrechte, derMenschenrechte und der Minderheitenrechte für dieLeute dort.
Zur Erreichung dieses Ziels kann es notwendig sein,Druckmittel einzusetzen; denn mit dem Propagieren vonZielen allein ist es nicht getan. Verhandlungen, Gesprä-che, das Aufzeigen von Konsequenzen sind das eine– bei den Verhandlungen muss man auch klare Kantezeigen –, aber notfalls müssen eben auch entsprechendeDruckmittel eingesetzt werden. Die Stufen, die die Euro-päische Union vorgegeben hat, sind bekannt.Es gilt aber auch, den Menschen in der Ukraine zuhelfen. Es reicht nicht, unsere Solidarität zu bekunden,sondern wir müssen sie auch sichtbar werden lassendurch solidarische Unterstützung auf europäischer, aberauch auf internationaler Ebene. Ich begrüße die Initiati-ven der Europäischen Union und des InternationalenWährungsfonds sehr, vor allem aber auch die Bereit-schaft Polens, Frankreichs und Deutschlands, im Ver-waltungsbereich gemeinsam Hilfe zur Verfügung zu stel-len, was gestern zum Ausdruck gebracht wurde. Das istSolidarität für die Menschen vor Ort, die sich nicht nurin einer schwierigen politischen, sondern auch in einer
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1530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Gerda Hasselfeldt
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schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden. Auchdem müssen wir Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren, ich denke, dies ist letztlichauch die Stunde Europas. Trotz unterschiedlicher Inte-ressen ist es gelungen, immer wieder mit einer Stimmezu sprechen. Das ist auch das Verdienst kluger Außen-politiker, der Bundeskanzlerin und unseres Außenminis-ters. Europa ist das größte Friedens-, Freiheits- und De-mokratieprojekt des vergangenen Jahrhunderts und derjetzigen Zeit. Ich denke, jetzt muss Europa zeigen – daskann es auch zeigen –, dass dieses Europa nicht nur einegut gemeinte Idee ist, dass es weit mehr ist als ein wirt-schaftlicher Zusammenschluss, dass diese Gemein-schaft Europa sich nicht darin erschöpft, sich Regelun-gen für alles Mögliche im Detail auszudenken. Nein, esmuss deutlich werden: Wir sind eine Wertegemeinschaft,deren Strahlkraft für Demokratie, deren Strahlkraft fürFreiheit über die Grenzen Europas und der EuropäischenUnion hinausreicht. Deshalb müssen wir hier mit einerStimme sprechen, mit der Stimme der Freiheit, der De-mokratie, des Selbstbestimmungsrechts der Menschenund der Staaten. Da tragen wir alle miteinander einegroße Verantwortung.Ich danke Ihnen, verehrte Frau Bundeskanzlerin undHerr Bundesaußenminister, herzlich für das, was Sie bis-her geleistet haben, und ich wünsche Ihnen weiterhineine glückliche Hand.
Das Wort erhält nun die Kollegin Marieluise Beck für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute über die Ukraine sprechen, sprechen wir
auch über die Zukunft Europas. Der große Traum von
Michail Gorbatschow, das gemeinsame europäische
Haus, war nie so bedroht wie heute. Selbst wenn es so
sein mag, dass wir 10 oder 20 Jahre zurückgeworfen
werden, und wenn das Vertrauen aktuell tief erschüttert
ist: Russland muss um seiner Bürger und Bürgerinnen
willen Teil dieses gemeinsamen europäischen Hauses
bleiben.
Es ist die jetzige russische Führung, die auf Gegenkurs
zu Europa gegangen ist. Wir alle aber wollen die Tür für
Russland offen lassen. Ich glaube, das kann ich für das
ganze Haus feststellen.
Die Krise um die Ukraine ist zugleich ein Prüfstein
für die internationale Politik. Die Ukraine ist ein Land
mit ehemals der drittstärksten atomaren Bewaffnung und
war freiwillig bereit, diese einseitig abzugeben. Im Ge-
genzug wurde ihr mit dem Budapester Memorandum die
Integrität der Grenzen zugesichert, und zwar durch die
USA, Großbritannien und Russland. Nun muss die
Ukraine erleben, dass das Papier, auf dem dieser Vertrag
steht, nichts wert ist. Dieser Vertrauensbruch wird uns in
unserem Bemühen, atomar abzurüsten, weit zurückwer-
fen. Denn wer wird sich in Zukunft noch auf vertragliche
Zusicherungen verlassen wollen?
Niemand will eine militärische Antwort auf die Ag-
gression Russlands. Wer aber der neuen Regierung in
Kiew abverlangt, stillzuhalten und die Annexion eines
Landesteiles zunächst zu erdulden, ohne zu den Waffen
zu greifen, der muss dieser Regierung ernsthafte Zusi-
cherungen machen. Es muss klar sein, dass der Kreml
für dieses Vorgehen einen hohen politischen und wirt-
schaftlichen Preis zahlen muss, auch als Abschreckung
vor einer möglichen weiteren Intervention in der Ost-
ukraine. Die Ukrainer sagen uns: Es geht nicht nur um
die Krim, es geht vielleicht sogar nicht nur um die Ost-
ukraine, sondern es geht um Kiew im Zusammenhang
mit der geplanten Eurasischen Union. Denn eine Eurasi-
sche Union wäre ohne die Ukraine nichts wert.
Der Dreistufenplan ist richtig, um dem zu begegnen.
Ich möchte Ihnen, Herr Gysi, sagen: Ja, es gibt rechte
Kräfte in der Ukraine, aber sie werden umso stärker wer-
den, je aggressiver Putin vorgeht.
Dann werden im Sinne einer Self-fulfilling Prophecy die
Rechten in der Ukraine auf der Straße und in der Regie-
rung sein. Das ist das Szenario, das Realität wird, wenn
das Völkerrecht nicht auch durch unser entschiedenes
Handeln durchgesetzt wird.
Die Marionettenregierung auf der Krim stellt die Be-
völkerung vor die Wahl: Russland oder Faschismus. –
Herr Präsident.
Der Kollege Beck würde sich gern mit einer Zwi-
schenfrage oder -bemerkung in die Debatte einschalten.
Frau Kollegin, Sie haben gerade das Problem ange-sprochen, das uns alle besorgt macht: die Auseinander-setzung auch mit rechten Kräften in der ukrainischen Re-gierung. Die Situation der Juden in der Ukraine macht
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1531
Volker Beck
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uns alle besorgt. Dazu gibt es eine sehr unterschiedlicheInformationslage. Könnten Sie dem Hohen Hause dazuvielleicht etwas sagen? Ich weiß, dass Sie diese Sorgenteilen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Schönen Dank. – Ich bin, nachdem die ersten Alarm-rufe bei uns im Deutschen Bundestag angekommen sind,in der Ukraine mehrmals mit unterschiedlichen jüdi-schen Organisationen zusammengetroffen und habemich dort informiert. Ich habe Ihnen die Informationenzusammengestellt; alle Kollegen des Hauses könnendiese von mir erhalten. Vor allen Dingen der Vorsitzendedes Vereins Jüdischer Gemeinden und Organisationen inder Ukraine, der gleichzeitig stellvertretender Vorsitzen-der des World Jewish Congress ist, Herr Zissels – erwird übrigens nächste Woche hier in Berlin sein –, hatganz klar dargelegt, dass hier mit einem Stereotyp, demvermeintlichen ukrainischen Antisemitismus, gearbeitetwird, was sehr stark auf russische Propaganda zurück-zuführen ist, und dass der Antisemitismus zu einemKampfinstrument in der Desinformationskampagne, diediese Auseinandersetzung begleitet, geworden ist.Diese jüdischen Organisationen haben dargelegt, dasses – das sollten wir in Deutschland uns wirklich genauanschauen – im Jahre 2013 in der Ukraine drei antisemi-tische Übergriffe mit vier verletzten Personen gegebenhat. Ich wünschte mir, wir hätten in Deutschland solchegeringen Zahlen. Außerdem haben sie sehr deutlichdargelegt, dass die zwei Überfälle auf zwei Synagogen-besucher, die es in den vergangenen Wochen gegebenhat, vermutlich von Provokateuren der Berkut-Kräfteverübt wurden.
Schauen Sie sich im Internet an – man kann darin jadankenswerterweise alles finden –, wie die Facebook-Seiten der Berkut-Kräfte ausgesehen haben! Mitfaschistischen und Nazisymbolen sind dort JulijaTimoschenko, Klitschko, überhaupt der gesamte Mai-dan versehen worden. Ich glaube, dass wir gerade hiersehr genau hinschauen sollten, dass wir nicht dem Miss-brauch des Antisemitismus in diesem Desinformations-krieg folgen.
Ich bin damit gleich beim Thema: Die Marionettenre-gierung auf der Krim stellt mit ihren Plakaten die Bevöl-kerung vor die Wahl: Russland oder Faschismus? Dassoll die Erinnerung an den Großen VaterländischenKrieg hervorrufen. Aber sie steht heute nicht vor derWahl: Hitler-Faschismus oder Sowjetunion. Heute gehtes um den Konflikt zwischen Demokratie und Autokra-tie in Europa. Der Maidan ist eine antiputinistische Be-wegung. Dort waren auch Armenier und Belarussen,weil es auch um ihre Freiheit geht.Wie sieht das Putin-Russland heute aus? Bürgerrechtewerden abgebaut, Homosexuelle werden diskriminiert,die nationalistische Rechte wird immer stärker, der Ras-sismus gegenüber Minderheiten im Land nimmt zu, undim Netz verbreitet sich die Botschaft: Die Krim war nurder Anfang. – Putin spielt mit dem Geist des großrussi-schen Nationalismus, und man muss befürchten, dass erselbst Gefangener dieser Rhetorik wird.Es erreichen uns von der Krim Hilferufe, etwa aus Syna-gogen. Tatsache ist aber auch, dass tatarische Häuser mitKreuzen gezeichnet werden. 20 Jahre nach dem ZerfallJugoslawiens – ich weiß wirklich, wovon ich spreche –wird wieder die ethnische Karte gespielt, um territorialeHerrschaftsansprüche militärisch durchzusetzen. Dafürwerden Menschen gegeneinander aufgehetzt. Ich wün-sche mir, dass die Ukrainer stark genug sind, dagegenzu-halten. Dabei müssen wir sie unterstützen.
Eines möchte ich noch sagen: Es gibt eine junge Ge-neration in Europa, die sich vernetzt, die sich kulturellnah ist, die Demokratie, Rechtsstaat und offene Gesell-schaften möchte. Sie will ein Europa ohne Grenzen. Wirschulden dieser jungen Generation, dass wir keine Mau-ern aufbauen. Ich bitte das Haus, ich bitte die Bundesre-gierung und die Europäische Union: Machen Sie fürdiese jungen Menschen die Türen auf! Ein erster mach-barer Schritt wäre: Lassen Sie endlich dieses kleinlicheVisaregime fallen! Lassen Sie die jungen Leute reisen!Die Menschen auf dem Maidan sagen: Wir wollen nachEuropa. – Wir müssen ihnen sagen: Ihr seid Europa. Seidwillkommen!Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält nun der Kollege Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Wenn am Sonntag auf der Krim das Referendum überdie Loslösung von der Ukraine durchgeführt wird, dannist das eine neue Stufe der Eskalation, die Moskau be-treibt. Das gilt erst recht, wenn dann eine Annexion derKrim durch Russland erfolgt.Welches sind die fatalen Botschaften, die von diesemVerhalten Moskaus gegenüber der Ukraine an die Völ-kergemeinschaft ausgehen?Erstens. Der Verzicht auf die Atomwaffen, den dieUkraine gegen russische Sicherheitsgarantien eingegan-gen ist, rächt sich jetzt. Das wird einige Staaten in ihrerAbsicht bestärken, sich Atomwaffen anzuschaffen. Dasist die erste fatale Botschaft Moskaus, nicht nur in Rich-tung Nordkorea oder Iran; es ist die Ermutigung zu nu-klearer Proliferation.
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1532 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Andreas Schockenhoff
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Zweitens. Russische Sicherheitsgarantien, die Mos-kau im Budapester Abkommen der Ukraine gegeben hat,stehen bloß auf dem Papier und sind in der Wirklichkeitnichts wert.Drittens. Wenn die Abspaltung der Krim vom Kremlbetrieben wird und die Krim von Russland annektiertwird, dann lautet die Botschaft an die Völkergemein-schaft: Für Moskau hat das Völkerrecht ausgedient; eswird willkürlich gebeugt und gebrochen.Ein solches Verhalten Moskaus ist ein gravierendesVergehen gegen seine Pflichten als ständiges Mitgliedder Vereinten Nationen, den Weltfrieden und die interna-tionale Sicherheit zu wahren. Moskau tut genau das Ge-genteil. Und: Das Verhalten Moskaus steht in eklatantemWiderspruch zu den Pflichten eines führendes OSZE-Mitglieds, das Sicherheit und Zusammenarbeit in Eu-ropa fördern und nicht Europa destabilisieren soll.Noch ist es möglich, diese Eskalation zu vermeiden:indem Moskau auf ein Referendum auf der Krim undihre Abspaltung von der Ukraine verzichtet, dem eineklare Absage erteilt, indem es seine illegal auf der Krimstationierten Truppen zurückzieht, indem es die OSZE-Beobachter ihre Arbeit auf der Krim machen lässt, in-dem es direkte Gespräche mit der legitimen ukrainischenRegierung führt und indem es der Einsetzung einer Kon-taktgruppe endlich zustimmt. Wenn Moskau dazu nichtbereit ist, werden Sanktionen, wie sie die Bundeskanzle-rin vorhin als nächsten Schritt beschrieben hat, unver-zichtbar. Wir können nicht darüber hinwegsehen, wennin Europa Völkerrecht gebrochen wird. Wir hoffen, dassSanktionen nicht erforderlich sind. Wir sagen aber auch:Wenn es erforderlich ist, dann sind wir, dann ist Europastark genug, Sanktionen zu ergreifen, auch wenn sie unsselbst wehtun.In Richtung der Kritiker von Sanktionen frage ich:Können wir tatenlos zusehen, wenn Völkerrecht gebro-chen wird? Sollen wir tatenlos zusehen, wenn ein souve-ränes Land besetzt wird, nur weil Moskau seine politi-sche Ausrichtung auf das freiheitliche, rechtsstaatlicheund politisch wie wirtschaftlich wesentlich attraktivereEuropa nicht passt? Was wird der nächste russischeSchritt sein, wenn Moskau die Botschaft erhält, dassVölkerrechtsbruch ohne Konsequenzen bleibt? Wird esdann der Osten der Ukraine sein? Was wird es dannsein? Das können wir nicht hinnehmen. Deswegen wardie Entscheidung der Staats- und Regierungschefs vomletzten Donnerstag notwendig und richtig.In dieser Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen,ist die Geschlossenheit innerhalb der EuropäischenUnion wichtig und unverzichtbar. Denn wir müssen da-von ausgehen, dass Russland Gegenmaßnahmen ergreift,allerdings nicht gegen die gesamte EU, sondern dass essich, wie auch in der Vergangenheit üblich, einige EU-Länder herauspickt – mit dem Ziel, die EU zu spalten –und gegen diese Länder empfindliche Wirtschaftssank-tionen verhängt. Dass Moskau uns auseinanderdividiert,dürfen wir nicht zulassen. Deshalb waren die Besuchevon Bundeskanzlerin Merkel in Warschau und von Au-ßenminister Steinmeier in den baltischen Staaten sowichtig. Sie geben das klare Signal: Die EU lässt sich indieser Frage nicht auseinanderdividieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die politischstärkste Maßnahme wird allerdings sein, dass wir unsereKräfte so einsetzen, dass die Ukraine zu einer Erfolgsge-schichte wird; das heißt, dass wir ihre politische undwirtschaftliche Modernisierung entschieden fördern unddies auch den Russen in der Ukraine, auch in der Ost-ukraine, zugutekommt. Denn nichts setzt die Politiker inMoskau mehr unter Druck, als wenn die eigene russischeBevölkerung fragt, warum es den Russen in einer demo-kratischen und europäischen Ukraine besser geht als denRussen im eigenen Land.
Deshalb war es richtig, dass die EU das Hilfspaket inHöhe von 11 Milliarden Euro so schnell zur Verfügunggestellt hat. Die EU hat damit deutlich gemacht, dass sieder Ukraine auf diesem schwierigen Weg nicht nurschöne Worte mitgibt, sondern auch ganz konkret hilft.Deshalb ist es so wichtig, dass gerade auch der Osten derUkraine von diesen Wirtschafts- und Finanzhilfen profi-tiert. Denn dann lautet die Botschaft an die Menschendort: Während Moskau nur mit Truppen droht, leistetKiew mithilfe der EU konkrete Hilfe. Herr Gysi, wir un-terstützen nicht einzelne Politiker, wir unterstützen nichteinzelne Parteien, wir unterstützen auch nicht einzelneRegionen, sondern wir geben der gesamten Ukraine einewirtschaftliche und politische Perspektive.
Die Menschen auf dem Euromaidan – das ist verschie-dentlich gesagt worden – haben monatelang für das Asso-ziierungsabkommen mit der EU demonstriert; sie habensich auch von den Scharfschützen des Janukowitsch-Re-gimes nicht davon abschrecken lassen.
Es erfüllt uns mit tiefem Respekt, wie diese Menschenfür ihre Freiheit, für ihre Zukunft und für die EU-Per-spektive ihres Landes eingetreten sind; einige haben da-für sogar ihr Leben gelassen. Deshalb ist es gut, dassdie Staats- und Regierungschefs der EU klargemachthaben, dass sie den politischen Teil des Assoziie-rungsabkommens so bald wie möglich unterschreibenwollen – und auch den Handelsteil –, wenn sicherge-stellt ist, dass dadurch keine negativen Auswirkungenauf die ukrainischen Exporte nach Russland entstehen.Eine wichtige Maßnahme zur Stabilisierung und Mo-dernisierung der Ukraine sind auch die Finanzhilfen desIWF. Klar ist allerdings auch: Mit diesen Finanzhilfenwerden tiefgreifende politische und wirtschaftlicheStrukturreformen einhergehen müssen; sonst würden wirviel Geld in ein Fass ohne Boden werfen, statt derUkraine durch die notwendige Modernisierung eine Zu-kunftsperspektive zu eröffnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen unskeine Illusionen machen: Diese Reformen werden fürdie ukrainische Bevölkerung erhebliche Belastungen mitsich bringen, beispielsweise eine deutliche Anhebung
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Dr. Andreas Schockenhoff
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der Energiepreise. Es ist klar, dass Moskau diese schwie-rige Situation mit dem Schüren neuer Unzufriedenheitund mit neuen Demonstrationen ausnützen und jedenVersuch zur Destabilisierung unternehmen wird, um denEindruck zu erwecken, eine Einverleibung in den Mos-kauer Machtbereich stelle für die Menschen in derUkraine eine bessere Alternative dar als die EU-Perspek-tive.Deshalb ist es so wichtig, dass mit dem Assoziie-rungsabkommen die Botschaft einhergeht: Die Ukrainehat eine klare EU-Perspektive. Ja, die Ukraine soll, wennsie es will, eng an die Europäische Union angebundenwerden. – Diese Botschaft muss auch konkret untermau-ert werden, beispielsweise durch eine schnelle Realisie-rung der Visafreiheit und durch Städtepartnerschaften;die Bundeskanzlerin hat ja eine ganze Reihe konkreterMaßnahmen genannt.Wir wollen ein starkes Russland, wir wollen ein mo-dernes Russland, wir wollen ein friedliches und demo-kratisches Russland als unseren Nachbarn haben. Wirwollen ein Russland als Partner haben, das die Lösungder globalen Herausforderungen mitgestaltet, statt aufdestruktive Nullsummenpolitik des 19. und 20. Jahrhun-derts zu setzen, welche letztlich Russland selbst ammeisten schadet. Russland muss erkennen, dass es heutepolitisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich kein inter-national attraktives Modell für andere Länder darstellt,ganz im Gegenteil.Russland muss erkennen – dies gilt auch mit Blick aufSyrien, auf die Transformationsländer der arabischenWelt und andere Problemzonen –: Dieses Russland hatkeine Soft Power. Dieses Russland kann zur Lösung in-ternationaler Krisen nicht beitragen. Die Menschen aufdem Maidan haben eben auch zum Ausdruck gebracht:Nach diesem Modell, wie es von Moskau zurzeit propa-giert wird, wollen sie nicht leben. Sie wollen europäi-sche Werte, sie wollen Freiheit, sie wollen Souveränität,sie wollen Selbstbestimmung. Mit militärischen Drohun-gen und Völkerrechtsbruch wird sich Moskau weiter iso-lieren und sich damit selbst schwächen. Die Politik, dieMoskau betreibt, schadet seinen eigenen Interessen undseiner Zukunft. Das ist nicht in unserem Interesse.Wir hoffen, dass Moskau wieder zur Vernunft kommt.Wir wollen, dass Moskau politisch und ökonomisch einstarker Partner ist. Auch ökonomisch kann dieses Russ-land langfristig kein Partner sein. Es schadet damit sei-nen eigenen Entwicklungschancen. Deswegen hoffenwir sehr, dass man in Moskau wieder zur Vernunftkommt,
eine Partnerschaft wieder möglich wird. Das würdeRussland nutzen, das würde uns nutzen, das würde derUkraine nutzen, das würde Chancen für eine friedlicheGestaltung der Welt des 21. Jahrhunderts bieten.Herzlichen Dank.
Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wiralle haben das Gefühl: Die Vorgänge, die gegenwärtig zwi-schen der Ukraine und der Russischen Föderation ablaufen,können zur Entstehung neuer Bruchlinien führen – Bruch-linien, die uns allen schaden werden, Bruchlinien, die sehrkostspielig werden können, und zwar für alle Beteiligten,Bruchlinien, die – das haben wir nicht mehr für möglich ge-halten – mitten durch unseren Kontinent laufen. Wir sind ineinem Prozess, der mit wachsender Wahrscheinlichkeitzu einem fatalen Tabubruch führen wird, nämlich zu ei-ner mutwilligen und rechtswidrigen Veränderung vonGrenzen.Wir befinden uns in diesem Jahr in einem Gedenk-jahr, in dem an zwei Weltkriege gedacht wird; die Bun-deskanzlerin hat daran erinnert. In der Vergangenheitsind Millionen Menschen dafür gestorben, dass Grenzenverändert werden sollten, oder beim Kampf dafür, solcheGrenzveränderungen zu verhindern. In Deutschland er-innern wir uns außerdem daran, wie wichtig es friedens-politisch war, dass unser Land die im Zweiten Weltkriegneu gezogenen Grenzen anerkannt hat. Ohne diese Aner-kennung, ohne die glaubhafte Selbstverpflichtung, dieseGrenzen nie wieder verändern zu wollen, hätte es dieOst- und Entspannungspolitik von Egon Bahr und WillyBrandt, die all ihre Nachfolger fortgesetzt haben, nichtgeben können.Die schrittweise Grenzveränderung auf der HalbinselKrim – erst Unabhängigkeitserklärung, dann Referen-dum, dann Eingliederung in die Russische Föderation,und das alles wahrscheinlich innerhalb von nicht vielmehr als einer Woche – stellt einen gefährlichen Tabu-bruch dar.
Wenn russische Kolleginnen und Kollegen über dieUkraine sprechen, habe ich immer wieder das Attribut„Brudervolk“ als Ausdruck für eine besondere sprachli-che, kulturelle, geschichtliche und auch emotionaleNähe gehört.
Aber wohin soll es führen, wenn man so mit einemBrudervolk umgeht? In der internationalen Politik gibtes Werte, Regeln und Prinzipien, zu denen sich alle be-kennen und für deren Kontrolle und Einhaltung wirOrganisationen geschaffen haben, etwa die VereintenNationen, den Europarat oder die OSZE. Niemand be-hauptet, dass diese Regelwerke und Prinzipien immer,auch dem Geiste nach, eingehalten werden; aber sie sind
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Dr. h. c. Gernot Erler
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wichtig, ja unverzichtbar für das Zusammenleben aufunserem Planeten und auf unserem Kontinent.Das weiß auch Russland. Es ist noch nicht lange her,dass Moskau in zwei verlustreichen Kriegen die Separa-tion Tschetscheniens im Nordkaukasus gestoppt hat.Wollen jetzt unsere Duma-Kolleginnen und -Kollegentatsächlich einen Berufungstatbestand für künftige sepa-ratistische Bestrebungen schaffen? Ist das wirklich einevernünftige, nachvollziehbare Vertretung russischer In-teressen?Noch eines: Im Budapester Memorandum von 1994und im bilateralen Vertrag über Freundschaft, Koopera-tion und Partnerschaft von 1997 hat Russland die Unab-hängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine ver-traglich garantiert. Wenn in den nächsten Tagen daseintritt, was wir befürchten, dann haben wir es auch miteinem eklatanten Vertragsbruch zu tun, und zwar durcheine sehr starke Macht gegenüber einem Nachbarland,das sich in der Realität nicht dagegen wehren kann.
Ich frage unsere Abgeordnetenkollegen in Moskau:Kann es wirklich im Interesse Russlands sein, ein solchschlechtes Beispiel für die internationale Politik zu geben?Wie will derjenige, der selbst vertragsbrüchig wird, nochauf Einhaltung von Verträgen pochen, wenn sie im eigenenInteresse – und da fallen mir einige für Russland ein – sind?
Über all dies muss geredet werden, und zwar zwi-schen den Betroffenen: zwischen Vertretern Russlandsund der Ukraine. Die russische Kontaktsperre gegenüberden Repräsentanten der ukrainischen Übergangsregie-rung ist der Brisanz der Lage nicht angemessen.
Erwachsene Nationen finden einen Weg zum wechsel-seitigen Dialog, auch wenn Legitimationen infrage ge-stellt werden. Auch dafür findet man übrigens in derjüngsten deutschen Geschichte Beispiele, die in Moskauwohlbekannt sind.Die Bundesregierung hat gekämpft: sowohl die Bun-deskanzlerin als auch Außenminister Frank-WalterSteinmeier. Ich glaube, der wichtigste Erfolg war dasAbkommen vom 21./22. Februar, weil es die Gewalt inKiew, die zu vielen Opfern führte, beendet hat.Die Bundesregierung hat für eine Kontaktgruppe zurÜberwindung der eskalationsfördernden Sprachlosig-keit gekämpft. Die russische Führung hat nicht einfachNein gesagt, aber den inzwischen von vielen anderenLändern unterstützten Vorschlag dilatorisch behandelt.Das hat die Lage verschlechtert, auch deshalb, weil dieRealitätswahrnehmungen zwischen Russland und derwestlichen Welt immer weiter auseinanderdriften. Dafürhat es auch Beispiele in dieser Diskussion gegeben: DerMaidan ist für die einen ein faschistisch gesteuerter Um-sturz mit großen Gefahren für alle russischsprachigenUkrainer. Für die anderen ist der Maidan ein von muti-gen Menschen von unten erzwungener Regime Change,der sich gegen keine andere Gruppe der Bevölkerungwendet. Das sind letztlich zwei unvereinbare Wahrheits-ansprüche, die möglicherweise beide korrigiert werdenmüssen.
Wir wissen aber aus der Konfliktforschung, dass einesolche Drift von Realitätswahrnehmung tendenziell zueiner gefährlichen Dialogunfähigkeit führt, weil sich je-der in seiner Sicht der Dinge einigelt und damit seinpolitisches Vorgehen legitimiert. Deswegen noch ein-mal: Das muss geklärt werden, darüber muss gesprochenwerden, und zwar besser heute als morgen.Ich finde, die Politik der Bundesregierung verdientUnterstützung vom ganzen Haus. Die EU hat einen Stu-fenplan von Sanktionen beschlossen. Niemand solltesich Illusionen über die Handlungsfähigkeit der EU ma-chen. Zug um Zug wird dieser Stufenplan vollzogen,wenn es keine Änderung der russischen Politik gibt.Wir brauchen und erwarten aber, dass zwischen je-dem dieser Schritte eine Tür mit der Aufschrift „Exit“offen steht, mit der Einladung zur gemeinsamen Suchenach einer politischen Lösung. Es ist nie zu spät, durchdiese Tür zu gehen. Das ist mein letzter Appell an dierussische Führung und an unsere Kolleginnen und Kolle-gen aus dem russischen Parlament.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Karl-Georg Wellmann
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!Es droht, in Europa politisch eiskalt zu werden. Wennwir nicht sehr aufpassen, dann bekommen wir eine neueEiszeit zwischen der EU und Russland. Ich fürchte, eswird sehr viele Jahre dauern, um wieder zu einem gere-gelten Miteinander zu kommen. Ich persönlich gehe in-zwischen sicher davon aus, dass Russland die Krim an-nektieren wird. Das widerspricht allem Völkerrecht. DieBundeskanzlerin hat das Notwendige dazu gesagt. Russ-land wird es aber trotzdem tun und sich durch nichts da-von abbringen lassen.Bisher gibt es keinerlei Zeichen Moskaus für einepolitische Kooperation. Damit stoßen sie vor allem jenevor den Kopf, die sich für ein besseres Verhältnis mitRussland eingesetzt haben. Ich darf daran erinnern, dassdas die große Mehrheit dieses Hauses ist. In der aktuel-len Koalitionsvereinbarung steht ein ganzer Passus, dersich mit der Verbesserung des Verhältnisses mit Russ-land beschäftigt.
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Karl-Georg Wellmann
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Die russische Westpolitik und vor allem die russischeUkraine-Politik sind krachend gescheitert. Man musssich einmal bei Licht ansehen, was Putin mit seiner Ge-waltanwendung auf der Krim bewirkt: Erstens. Er hateine nie gesehene europäische Dynamik in der Ukraineausgelöst, vor allem bei der jungen Generation. Putin hatdamit das Gesicht der Ukraine nach Westen gedreht.Zweitens. Putin hat mit seiner Politik Entschlossenheitund Dynamik bei der EU hervorgerufen und dafür ge-sorgt, dass sich die europäische Staatengemeinschaftherausgefordert fühlt und dass sie ungeahnte, nicht ge-plante Anstrengungen unternehmen wird, um den Ukrai-nern zu helfen. Schon nächste Woche soll das Assoziie-rungsabkommen abgeschlossen werden.Putin hat auch dafür gesorgt, dass alte Vorurteile überdie Russen wieder Konjunktur haben, Vorurteile, nachdenen die Russen nur eine Sprache verstehen: die Spra-che der Macht. Putin hat ironischerweise für eine Revita-lisierung der NATO gesorgt. Wer von uns hat geahnt,dass es wieder Bedrohungsgefühle gegenüber dem Ostengeben könnte, so große Bedrohungsgefühle, dass wiederNATO-Flugzeuge an die Ostgrenzen verlegt werden?Sogar die harmlosen Schweden fangen jetzt an, darüberzu diskutieren, ob sie nicht größere Verteidigungsan-strengungen unternehmen und ihr Verhältnis zur NATOpositiv gestalten müssen. Putin sorgt dafür, dass Europamit einer Stimme redet.Es war und bleibt richtig, dass Frau Merkel und HerrSteinmeier alles versucht haben, um zunächst diplomati-sche Möglichkeiten auszuschöpfen. Das ganze Haussollte Steinmeier und Sikorski dafür danken, dass sie imFebruar mit großem physischen und intellektuellen Ein-satz das Morden auf dem Maidan beendet haben. Alleindafür hat sich die Mission gelohnt.
Mir macht die geradezu gespenstische PropagandaSorgen, die im Moment die Seelen der russischen Men-schen vergiftet. Wer russisches Fernsehen sieht, musswirklich den Eindruck gewinnen, in Kiew hätten die Fa-schisten die Macht übernommen.
– Jetzt gibt es den Zuruf „Ach so!“. Ich meine, Gysi hatja vorhin die russische Propaganda von diesem Platz auswiederholt.
Danach müsste man dem russischen Militär geradezudankbar sein, dass es die Menschen vor marodierendenNeonazihorden schützt. – Es wurde im russischen Fern-sehen auch darüber geredet, man dürfe in der Ukrainejetzt nicht mehr die russische Sprache benutzen, das seiverboten, und Menschen, die das täten, liefen Gefahr, ander nächsten Laterne aufgehängt zu werden. – Unsäg-lich!Damit eines klar ist – ich sage es gerne noch einmal,auch wenn das in diesem Haus Konsens ist –: Wir sindstrikt gegen irgendwelche rechtsradikalen oder gar anti-semitischen Kräfte in der Ukraine. Keiner will sie unter-stützen, und das bleibt auch so.
Es gibt noch viel schlimmere Sachen. Ein führenderrussischer Politiker sagte, es gebe Hunderttausende vonWahhabiten auf der Krim.
Ich habe erst gar nicht verstanden, was er damit meinte.Er meint damit die muslimischen Krimtataren. DieseVolksverhetzung, die für die Erreichung militärischerZiele genutzt wird, ist unglaublich.
Wie müssen wir reagieren? Es ist richtig, was dieStaatschefs in Brüssel kürzlich beschlossen haben. Wirkönnen keine gute Miene zum bösen Spiel machen. Wirmüssen über staatliche Sanktionen reden; das muss sein.Aber das kommt von alleine. Es haben schon jetzt deut-sche Firmen Investitionen in dreistelliger Millionenhöhein Russland storniert, weil sie sagen: In diesem Umfeldkönnen wir nicht investieren. – Banken berichten mirvon einem rasanten Abzug von Kapital aus Russland.Ein hochrangiger russischer Gesprächspartner hat miram Montag gesagt, Russland bereite gerade die Explora-tion neuer Gasfelder im Nordmeer vor, schon im nächs-ten Jahr könne die Firma Exxon beginnen, dort Gas zufördern. – In Washington wird man das gerne hören. Eswird nur eines einzigen Anrufs aus dem Weißen Hausbedürfen, und Exxon wird auf diese Investitionen ver-zichten. Die Russen werden dann diese Erdgasvorkom-men, die für sie so wichtig sind, nicht erschließen kön-nen.Mit anderen Worten: Die ökonomischen Kosten die-ses militärischen Abenteuers werden für die Russen vielgrößer sein als der Nutzen, den sie durch die Besetzungder Krim erzielen könnten. Wenn sich das – ich sage dasganz deutlich – zu einem Kalten Krieg auswächst, dannwerden die Westeuropäer alles tun, um sich zukünftignoch unabhängiger von Russland zu machen.
Dabei muss man die Tatsache bedenken, Frau Beck, dassdie russische Wirtschaft in einem katastrophal schlech-ten Zustand ist. Putin müsste eigentlich das Gegenteilvon dem tun, was er tut. Er schadet sich und den Men-schen in seinem Land in hohem Maße.Ich sage noch etwas anderes. Es gibt eine MillionenKöpfe zählende russische Mittel- und Oberschicht.Diese Menschen genießen den westlichen Way of Life,das Dolce Vita, den Luxus des Westens: an der Côted’Azur, in Kitzbühel. Sie mögen unsere Banken, vor al-lem die in Zypern.
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Karl-Georg Wellmann
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Die Familien dieser Menschen fühlen sich in Londonwohl, und sie meinen, dass ihre Kinder in englischenoder schottischen Internaten am besten aufgehobenseien. Damit ich nicht missverstanden werde: Diese Ent-wicklung ist gut. Das ist Europa. Aber in Russland mussman wissen, was auf dem Spiel steht, wenn man interna-tionale Vereinbarungen auf diese Weise bricht und damitEuropa seine Verachtung zeigt.Ich finde das alles tragisch, weil der Westen seit Endeletzten Jahres zu einem echten politischen Dialog mitRussland bereit war. Russland hätte in einem Dialog sehrviel erreichen können, wenn man sich zusammengesetztund einen stabilen politischen Prozess in Europa initiierthätte. Ich rede von gemeinsamen Wirtschafts- und Inno-vationsprojekten, von Handel und Wandel, von dem alleprofitiert hätten, und ich rede von Sicherheitsfragen.Es ist inzwischen fast unstreitig, dass man auch übereine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hättesprechen können. Auch in der Ukraine ist das inzwi-schen offenbar herrschende Meinung. Man hätte auchgemeinsam über eine Verfassungsreform reden können:über eine Föderalisierung nach deutschem Modell. Wowelche Sprache in welchen Ämtern oder Schulen ge-sprochen wird, kann in den Regionen entschieden wer-den.Wir sollten der jetzigen Regierung auch mit auf denWeg geben, schnell einen öffentlichen Verfassungsdia-log zu beginnen und den Menschen in allen Landesteilenden Eindruck zu geben, dass sie gut aufgehoben sind.Ich sage Ihnen noch etwas anderes voraus: Wir wer-den nächste Woche, wenn es zu dem Annexionsbe-schluss gekommen ist, intensive außenpolitische Aktivi-täten der russischen Regierung und Angebote an denWesten erleben, und wir müssen überlegen, wie wir da-mit umgehen. Wir müssen darüber reden, wie wir reagie-ren, wenn sich die Bevölkerung auf der Krim möglicher-weise mit großer Mehrheit für einen Anschlussaussprechen wird.Wir müssen einen kühlen Kopf behalten. Es gibtviele, die jetzt versuchen, mit strammer Haltung scharfeMaßnahmen gegen Russland zu fordern. Das sagt sichvon Washington aus möglicherweise leichter als an-derswo. Wir müssen auch daran erinnern, dass wir ir-gendwann wieder Politik machen müssen und nicht alleTüren zuschlagen können.
Herr Kollege Wellmann, darf Ihnen der Kollege
Dehm eine Zwischenfrage stellen?
Sehr gerne.
Kollege Wellmann, ich freue mich über die nachdenk-
lichen Töne, die ich von Ihnen im Unterschied zu ande-
ren Beiträgen gehört habe. Sie können sicher sein: Es
geht nicht nur in der Bevölkerung jede Sympathie für
ethnische und rassistische Vorbehalte zurück, sondern
auch in diesem Hause ist mir kein Kollege bekannt, der
in der von Ihnen angesprochenen Frage nicht meint, dass
es gegen Muslime keine solche Stimmung geben darf.
Dennoch möchte ich Sie etwas fragen. Sie haben die
Rede des Kollegen Gysi vorhin verfolgt und das Zitat
des Swoboda-Vorsitzenden gehört, und Sie wissen, dass
die Regierung in der Ukraine 11 Milliarden Euro Unter-
stützung von der EU bekommen soll. Ist es das Gleiche,
mit solchen Geldern eine Regierung, in der in Größenord-
nung Faschisten vertreten sind – auch viele Provinzgouver-
neure gehören der faschistischen Partei an –, zu unterstüt-
zen, wie eine Regierung zu unterstützen, in der keine
Faschisten sind? Können Sie sich vorstellen, dass über
verbale Bekundungen hinaus auch erheblicher Druck
eingesetzt werden muss, damit in ganz Europa der Fa-
schismus, der sich noch nie freiwillig aus einer Regie-
rung verabschiedet hat, zurückgedrängt wird?
Ich sage es noch einmal: Zwei Dinge sind für unswichtig. Erstens. Wir werden nie faschistische oder garantisemitische Politiker, Parteien oder Gruppen in ir-gendeiner Weise dulden. Wir werden sie bekämpfen.Zweitens. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Bewe-gung auf dem Maidan eine Volksbewegung war. Siewollten – Herr Erler hat es schon gesagt – einen RegimeChange.Herr Gysi, Sie haben vorhin gesagt, eigentlich sei dieAbsetzung von Janukowitsch verfassungswidrig. Siewollen doch diesem Hause und der Öffentlichkeit nichtim Ernst vorschlagen, diesen Herrn wieder als Präsiden-ten zu reinstallieren.
Das wäre die Konsequenz dessen, was Sie gesagt haben.Ich will Ihrer Frage gar nicht ausweichen, HerrDehm. Es gibt leider nicht nur in der Ukraine rechtsradi-kale Tendenzen. Wir machen uns große Sorgen, was inFrankreich bei den nächsten Wahlen passieren könnte.Es gibt sie nach wie vor auch in Italien und Griechen-land.
Wir werden sie bekämpfen. Aber wir können doch nichtdeshalb von einer Unterstützung dieser Regierung, dieoffenbar die breite Zustimmung der Bevölkerung hat,absehen, nur weil es einige unästhetische Figuren gibt,die mit einbezogen werden mussten, um die Maidan-Be-wegung zu integrieren. Davon können wir nicht absehen.
Zum Schluss. Wenn wir über die Vorschläge, die inder nächsten Woche von der russischen Regierung kom-men werden, sprechen, dann muss eines klar sein: DasErgebnis kann nur sein, dass die Russen letztendlich deneuropäischen Weg der Ukraine, ihre Integration bzw. As-soziierung, anerkennen müssen. Ohne das wird es nicht
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gehen. Die russische Regierung hat nun die Wahl zwi-schen einem neuen Kalten Krieg und einem geregelten,zivilisierten Nebeneinander im Europa des 21. Jahrhun-derts.Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Franz Thönnes für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Manchmal muss man Handelnde an ihre Worte erinnern,die sie vor kurzer Zeit ausgesprochen haben. PräsidentPutin hat am 12. Dezember 2013 in seiner Jahresbot-schaft an die Föderale Versammlung der Russischen Fö-deration unter anderem gesagt:Wir mischen uns nicht in fremde Interessen ein. Wirzwingen uns niemandem auf. Wir sagen nieman-dem, was er tun oder was er lassen soll. Aber wirwerden bestrebt sein, eine Führungsrolle innezuha-ben, indem wir das Völkerrecht schützen und unsfür die Achtung der nationalen Souveränität,Selbstständigkeit und Eigenart der Völker einset-zen. Für einen Staat wie Russland ist es absolut ob-jektiv und nachvollziehbar – bedenkt man seinegroße Geschichte und Kultur sowie seine jahrhun-dertelange Erfahrung –, nicht in sogenannter Tole-ranz, geschlechtslos und unfruchtbar, sondern indem organischen Miteinander unterschiedlicherVölker in einem ungeteilten Staat zu leben. Wie dieSituation um Syrien und nunmehr um den Iranzeigt, kann und muss jedes internationale Problemausschließlich mit politischen Mitteln gelöst wer-den, ohne den Einsatz von Gewalt, die perspektiv-los ist und in den meisten Ländern der Welt auf Ab-lehnung stößt.
Lassen Sie es mich bitte noch einmal unterstrei-chen: Russland ist bereit, mit allen Partnern im In-teresse einer gemeinsamen, gleichen und unteilba-ren Sicherheit zusammenzuarbeiten. Wir zwingenniemandem etwas auf.Ich denke, daran muss der Präsident heute erinnert wer-den, wenn ich sehe, dass auf der Krim Soldaten in Uniformohne Nationalitätsabzeichen eingesetzt werden. Wir wis-sen, nachdem die OSZE ihren Bericht vorgelegt hat, dasses sich dabei – das haben wir schon vermutet – um russi-sche Soldaten handelt. Damit werden die Worte des russi-schen Präsidenten von Dezember 2013 unglaubwürdig.
Es ist auch zu kritisieren, dass die Entwaffnung der il-legalen Waffenträger in der Ukraine und insbesondere inKiew gemäß dem Abkommen vom 21. Februar nichtumgesetzt worden ist. Wenn diese sogenannten maskier-ten Selbstverteidigungskräfte in Uniform ukrainischeKasernen umstellen, ukrainische Soldaten und Polizei-kräfte bedrohen und von diesen erwarten, ihre Waffenabzugeben, dann wird der letzte Rest des in der Ukraineexistierenden staatlichen Gewaltmonopols zunichtege-macht. Auch das führt die Worte von Präsident Putin adabsurdum.
Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale Botschaft:Herr Putin, tun Sie das, was Sie im Dezember gesagt ha-ben! Ermöglichen Sie dem ukrainischen Volk ein organi-sches Miteinander unterschiedlicher Völker in einem un-geteilten Land!
Die Umsetzung dessen, was im Dezember gesagt wurde,muss nun eingefordert werden. Herr Putin, wenn Sie an-geblich bereit sind, mit allen Partnern zu reden, dann for-dere ich Sie auf: Stimmen Sie einer OSZE-Vermittlungzu! Stimmen Sie der Einrichtung einer Kontaktgruppezu! Setzen Sie sich an einen Tisch, und sprechen Sie mit-einander! Seien Sie bereit, sich auf Vermittlungslösun-gen einzulassen! Hören Sie auf, mit Gewalt zu drohenoder Gewalt gar anzuwenden!
In der gleichen Rede vom Dezember wird gesagt,man müsse Russland wirtschaftlich neu aufstellen und esmodernisieren. Nun wird all das infrage gestellt, waseingeleitet werden soll; denn der InvestitionsstandortRussland wird aufgrund der nun vorgesehenen Maßnah-men unattraktiv. Kapital wird zurückgehalten oder fließtins Ausland. Der russische Präsident handelt hier gegendie Interessen seines eigenen Landes und widersprichtdamit seinen eigenen Worten von Dezember 2013.
Deswegen gilt es, im Kern daran zu arbeiten und da-für zu sorgen – das war die Philosophie von WillyBrandt und Egon Bahr –, dass die Stärke des Rechts giltund nicht das Recht des Stärkeren, dass das, was an Völ-kerrecht verabredet worden ist, auch eingehalten unddas, was am 21. Februar aufgeschrieben worden ist,ebenfalls eingehalten wird. Das heißt für die Ukraine,möglichst bald durch Neuwahlen zu einer inklusivenRegierung zu kommen, die den wirklichen Willen desVolkes widerspiegelt. Dann löst sich vielleicht dasProblem mit den Nationalisten und Faschisten ganz vonalleine.
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1538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Franz Thönnes
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Es ist auch notwendig, dass die Rechte neutralerMinderheiten geachtet werden. Minderheiten müssendas Recht erhalten, ihre Sprache zu sprechen. MilitanterAntisemitismus und Rechtsextremismus dürfen in einerUkraine, die ihren Blick nach Europa richtet, keinenPlatz haben.
Die tragischen Ereignisse vom Februar dieses Jahres mitrund 100 Toten und mit Hunderten von Verletzten sindaufzuarbeiten, und die Verantwortlichen sind zur Re-chenschaft zu ziehen.Für Russland gilt, dass wir erwarten, dass die Integri-tät der Ukraine respektiert und das Völkerrecht und diebestehenden Abkommen geachtet werden. Die zusätzli-chen Truppen auf der Krim sind abzuziehen. Es geht derAppell an die russische Regierung, im direkten Gesprächmit der aus dem Parlament heraus legitimierten Regie-rung in Kiew zusammenzukommen und zu verhandeln.Präsident und Regierung in Moskau sind nun aufgeru-fen, der Bildung einer Kontaktgruppe, einer Fact-Finding-Commission und einer OSZE-Beobachter-gruppe zuzustimmen. Auch angesichts der angespanntenLage, die wir zurzeit haben, gilt der Rat von WillyBrandt: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohneden Frieden nichts.“
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christoph
Bergner, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FrauBundeskanzlerin hat uns in ihrer Regierungserklärungaufgefordert, die Herausforderung dieser schwierigen,krisenhaften Situation entschlossen anzunehmen.Aus meiner Sicht müssen wir die Entschlossenheitauf drei Feldern zeigen. Zum einen besteht die Notwen-digkeit, zu einer entschlossenen Reaktion gegenüber derrussischen Regierung bereit zu sein, um ihrer völker-rechtswidrigen Einverleibung der Krim in die RussischeFöderation entgegenzutreten. Die gleiche Entschlossen-heit wünsche ich mir zum anderen aber auch bei derselbstkritischen Analyse der bisherigen EU-Politik derÖstlichen Partnerschaft und schließlich, drittens, bei derFrage – das ist sicher besonders wichtig –: Was könnenwir tun, um der Ukraine, das heißt dem Land und denMenschen, dabei zu helfen, zu Stabilität, Demokratieund Rechtsstaatlichkeit zu finden?Wenn wir uns dieser letzten Frage zuwenden, so soll-ten wir die kritische Lage der Ukraine nicht unterschät-zen. Medizinisch gesprochen befindet sich das Landmomentan in der Gefahr, ins Koma zu fallen. Gleichzei-tig soll eine so ernste Diagnose nicht ausgesprochenwerden, ohne auf die Potenziale des Landes hinzuwei-sen: Die Ukraine ist reich an Kulturen, Sprachen undLandschaften, sie besitzt fruchtbare Böden. Bergbau,Schwerindustrie und Maschinenbau haben in derUkraine eine lange Tradition, und – das ist wohl dasWichtigste – das Land hat begabte und weltoffene Men-schen, die das Glück haben, aus verschiedenen Kulturengleichzeitig zu schöpfen.Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass diesesLand eine gute Voraussetzung für eine erfolgreicheEntwicklung hat. Aber zu dieser Feststellung gehört wie-derum die Analyse, weshalb das Wirtschaftswachstumdieses Landes im Unterschied zu den meisten anderenStaaten der ehemaligen Sowjetunion unter seiner Pro-duktivität zu Sowjetzeiten liegt. Die Ursachen dafür sindvielfältiger Natur.Die größten Probleme in der Ukraine haben die Men-schen zum Protest auf den Maidan gebracht. Es warenKorruption, Selbstbedienungsmentalität der Politiker,Schattenwirtschaft, Oligarchie, und das – meine Damenund Herren, das sollten wir aussprechen – nicht nur inden Zeiten Janukowitschs.Leider hat auch die Orangene Revolution, die geradein Europa groß gefeiert wurde, nicht die vom Volk er-wünschten Erfolge und Fortschritte gebracht. Das be-gründet Skepsis gegenüber manchen der Protagonistenvon damals. Aber diese berechtigte Skepsis darf unsnicht davon abhalten, in der Regierung Jazenjuk gegen-wärtig den legitimen Vertreter des Landes zu sehen. Nie-mand sonst verfügt momentan über eine vergleichbareLegitimität.Meine Damen und Herren, als jemand, der sich überacht Jahre mit europäischer Minderheitenpolitik be-schäftigt hat, möchte ich nun eine Sorge noch einmalbesonders aussprechen und vertiefen – das ist eineSorge, die die Zukunft der Ukraine, aber auch andereRegionen in der ehemaligen Sowjetunion betrifft –: Wirmüssen uns in der Debatte über die Krise in der Ukrainekategorisch gegen jeden Versuch der Ethnisierung desKonfliktes wenden. Es ist eine große Gefahr, dass dieserKonflikt in einen Konflikt zwischen Nationen undEthnokulturen umgedeutet wird. Die größte Gefahr die-ser Umdeutung geht von einer Propaganda Russlandsaus, die die russische Bevölkerung der Ukraine, genauergesagt: die ukrainischen Russen auf der Krim, über ihreVolkszugehörigkeit für hegemoniale Ziele instrumentali-sieren möchte.
Meine Damen und Herren, Kampf gegen Ethnisie-rung des Konfliktes bedeutet aber auch, dass wir an dieRegierung Jazenjuk appellieren, sich von nationalisti-schen Radikalen, teilweise auch in den eigenen Reihen,zu distanzieren. Denn es ist kein Konflikt zwischenNationalitäten, den wir erleben. Die Ukraine hat trotzschwieriger wirtschaftlicher Situationen – ich habe esüber Jahre beobachtet – eine gute Minderheitenpolitikbetrieben. Es gibt keine nachweisbare Diskriminierungethnischer Russen auf der Krim, die Hilferufe nach mili-tärischem Schutz durch den großen Nachbarn rechtferti-
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Dr. Christoph Bergner
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gen würde. Der Konflikt ist kein Konflikt zwischenEthnien. Es ist ein Konflikt zwischen denen, die aufeuropäische Werte setzen, und denen, die sich vomKreml Schutz versprechen. Es ist höchst bedauerlich,dass dieser Konflikt sich so zugespitzt hat.Deshalb lassen Sie uns bitte nicht auf den Leim derrussischen Propaganda gehen. Das bedeutet auch: Sim-plifizieren wir den Konflikt nicht dahin gehend, dass wirin der einen Region von einer prorussischen Haltung undin der anderen Region von einer prowestlichen Haltungausgehen und diese unterstellen. Spaltungsszenariendürften weiteres Öl in das Feuer der Ethnisierunggießen.Noch ein Wort zu dem Sezessionsreferendum. Sezes-sionsreferenden waren nach dem Ersten Weltkrieg eineMethode des Völkerbundes, die neue Grenzziehungen,aber auch neue Minderheiten schufen, die Nachfolge-konflikte und ethnische Säuberungen zum Resultathatten. Der Europarat hat mit gutem Grund – sowohlRussland wie die Ukraine sind Unterzeichner des ent-sprechenden Rahmenübereinkommens – die Sicherungnationaler Minderheitenrechte als eine innenpolitischeAufgabe der Nationen angesehen und nicht als eine Auf-gabe, die durch Grenzkorrekturen erfüllt werden sollte.Dies ist ein ausgesprochen wichtiger Punkt, auf den hierhingewiesen werden muss.Wir sollten, wenn wir der Ukraine helfen wollen, derRegierung Jazenjuk die Bereitschaft zur Partnerschaftimmer wieder deutlich machen. Aber wir sollten dabeidie bisherige Anwendung der Instrumente der ÖstlichenPartnerschaft der EU selbstkritisch überprüfen. Dazugehört die Aufarbeitung der Zuspitzung vor der Ratssit-zung in Vilnius. Aber dazu gehört auch die Frage, ob dieEU mit dem Assoziierungsabkommen überhaupt dieErwartungen der leidgeprüften Ukrainer hätte erfüllenkönnen. In der Neigung, komplexe Verhältnisse undmehrschichtige Sachverhalte zu vereinfachen, wurde dasAssoziierungs- und Freihandelsabkommen in der öffent-lichen Meinung der Ukraine oft genug als goldener Wegzur Mitgliedschaft im europäischen Klub dargestellt,was es so natürlich nicht ist. Das Assoziierungs- undFreihandelsabkommen im Rahmen der Östlichen Part-nerschaft sollte zwar weitreichende Beteiligungsmög-lichkeiten eröffnen, aber keine definitive Beitrittsper-spektive. Auch da müssen wir uns nicht wundern, dassfalsche Erwartungen zu eigentlich vermeidbaren Kon-flikten geführt haben.
Umgekehrt ist zu fragen, ob denn durchaus problema-tische Spezifika – ich denke beispielsweise an das Phä-nomen der Oligarchenwirtschaft, das eine Bürde nichtnur für die wirtschaftliche, sondern auch für die zivil-gesellschaftliche Entwicklung ist – in den Instrumentenunserer Partnerschaftspolitik hinreichend berücksichtigtwurden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bei mei-nem Überdenken der Partnerschaftspolitik mit folgen-dem Punkt schließen: Die Bemühungen der russischenRegierung um Einverleibung der Krim verfolgen zwei-fellos ein völkerrechtswidriges Ziel, das wir konsequentzurückweisen müssen. Diese Feststellung und die konse-quente Ablehnung des Vorgehens Russlands enthebenuns nicht der Frage, wie die EU bei ihrer östlichen Nach-barschaftspolitik mit Inkompatibilitäten mit den Plänender russischen Regierung umgehen wird. Frau Bundes-kanzlerin hat darauf hingewiesen, dass die europäischeEinigung der Versuch war, Lehren aus den Katastrophender Geschichte zu ziehen.Im Jahre 2012 erhielt die Europäische Union denFriedensnobelpreis. Sie erhielt diese Auszeichnung inWürdigung ihrer friedensstiftenden Wirkung bei derÜberwindung der Folgen zweier Weltkriege, die unserenKontinent in Katastrophen stürzten. Wenn die Europäi-sche Union auch einen Beitrag zur Überwindung derFolgen des Kalten Krieges leisten will, dann muss esgelingen, den Dialog mit Russland fruchtbarer zu gestal-ten, als es in der jüngeren Zeit der Fall war. Deshalb be-grüße ich ausdrücklich, dass die Bundesregierung nebender notwendigen klaren, unzweideutigen Reaktion aufrussisches Fehlverhalten die ständige Bereitschaft zuGespräch und Dialog mit Russland wachhält.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der
Kollege Nobert Spinrath, SPD, dem ich damit das Wort
erteile.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren!Russland und die EU müssen ab sofort an einemStrang ziehen: zur Verhinderung eines Bürgerkriegsin der Ukraine – im Interesse der demokratischenKräfte, im Interesse der Menschen in der Ukraine.Das war der Schlussappell meiner letzten Rede zumThema Ukraine am 20. Februar, am blutigen Donnerstagin Kiew. Die Außenminister des Weimarer Dreiecks ausFrankreich, Polen und Deutschland haben es durch harteVerhandlungen einen Tag später geschafft, das Blutver-gießen in Kiew zu beenden. Ihnen ist berechtigterweisedafür heute viel Anerkennung ausgesprochen worden.
Das von ihnen vermittelte Abkommen vom 21. Fe-bruar hingegen wurde in der Ukraine nicht so in die Tatumgesetzt wie vereinbart. Schon am nächsten Tag über-schlugen sich durch eine Lawine von Entscheidungendes Parlaments der Ukraine die Ereignisse. An jenemWochenende war nicht abzusehen, was sich daraus ent-wickeln würde, und nur drei Wochen später scheint sichdort die Welt vollkommen verändert zu haben. Alle Di-
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1540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Norbert Spinrath
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plomatie der letzten Wochen konnte nicht bewirken, dieEskalation der Situation insbesondere auf der Krim zuverhindern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem düsterenHintergrund zweier Weltkriege wurde die EuropäischeUnion geschaffen. Deren wesentliches Fundament undauch deren wesentliches Erfolgsergebnis ist der uner-schütterliche Wille der beteiligten Mitgliedstaaten, Kon-flikte ohne militärische Gewalt zu lösen. Nie wieder sollKrieg in Europa herrschen – diesen Satz haben wir auchin diesem Hause häufig gehört.
Und dies gelingt – in der EU durch Beachtung der natio-nalen Eigenheiten und der nationalstaatlichen Souverä-nität, durch engmaschige Verknüpfungen der gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen, durch den Willen zurAngleichung der Lebensstandards, durch das Schaffenselbstgewählter Abhängigkeiten und durch das Monito-ring der gemeinsamen Politik.Der Europäischen Union wird nun von interessierterSeite vorgeworfen, dass sie die Lage in der Ukrainefalsch eingeschätzt habe, dass sie mit ihrem Drängen aufein einseitiges Assoziierungsabkommen zur Entwick-lung der Situation beigetragen und im Vorgarten Russ-lands gegrast habe. Jedoch, liebe Kolleginnen und Kolle-gen: Die Welt hat sich in den letzten 25 Jahren, nachdem Zerreißen des Eisernen Vorhangs und dem Ende desKalten Krieges, verändert. Auch die Europäische Unionhat sich entwickelt. Sie hat es verstanden, dem Friedeneinen eigenständigen Wert zu geben. Sie hat es verstan-den, über einen gemeinsamen Binnenmarkt, durch Frei-zügigkeit, durch gemeinsame Regelwerke, durch einenRaum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts unddurch Regulierungen ein Geflecht von gemeinsamen In-teressen zu knüpfen. Dieses Geflecht macht es nahezuunmöglich, mit den früher üblichen kriegerischen Mit-teln Tatsachen zu schaffen.Russland dagegen ist nach Ende des Kalten Kriegesnoch auf der Suche; es muss seine neue Rolle im Weltge-füge noch definieren und sieht nun sein Projekt der Eura-sischen Union durch die Hinwendung der Ukraine zu ei-ner Assoziierung mit der Europäischen Union in Gefahr.Jedoch sage ich mit allem Nachdruck: Wenn sich dieWelt verändert hat, dann darf man nicht einfach zu altemBlockdenken zurückkehren. Vielmehr muss man zumWohle aller Beteiligten bei gemeinsamen Interessen,aber auch zum Wohle der unterschiedlichen nationalenInteressen zusammenarbeiten.
Vor dem Hintergrund dieses Gebots ist es nicht hin-nehmbar, dass Russland mit falschen BehauptungenSchutzinteressen für einen Teil der Krim-Bevölkerungvorgibt. Es ist nicht hinnehmbar, dass Russland die Krimfaktisch besetzt hat. Es ist nicht hinnehmbar, dass Russ-land als Folge des für Sonntag geplanten Referendumsdie Annexion der Krim plant. Und es ist nicht hinnehm-bar, dass Russland trotz aller Warnungen aus dem Restder Welt dieses Szenario unverändert umsetzt.Europa hat die erste Stufe von Sanktionen in Kraft ge-setzt. Weitere werden folgen, wenn Russland nicht aufAbsetzung des Referendums hinwirkt. Europa hat dieseKonfrontation nicht gewollt. Aber Verletzungen desVölkerrechts sind nie hinnehmbar, gleich, auf welcherSeite sie geschehen. Deshalb müssen wir ihnen Einhaltgebieten, aber ausschließlich mit den Mitteln, die seitfast 70 Jahren Garant für den Frieden in Europa sind,nämlich mit den Mitteln der Demokratie. Es stimmt, wasFrau Merkel heute Morgen sagte: Militärisches Vorge-hen darf keine Option sein.Russland muss seine eigene Isolation verhindern,muss auf die Gesprächsebene zurückkehren, muss sicheiner realpolitischen Diskussion stellen und auf das An-gebot der EU zur Zusammenarbeit eingehen. Ziel musses sein, eine politische Kultur der Kompromisse zu ent-wickeln, die dann auch in der Ukraine die Grundlage füreinen Dialog schafft, der es ermöglicht, das Abkommenvom 21. Februar umzusetzen, das unter anderem rascheNeuwahlen vorsieht, damit es zu einer Übergangsregie-rung der nationalen Einheit kommen kann.Lieber, werter Kollege Gysi, ich will Ihnen in Bezugauf die Vertreter der Swoboda-Partei durchaus recht ge-ben; sie haben auch nach meinem Empfinden in der Re-gierung nichts zu suchen. Aber auch deshalb will ichschnelle Parlamentsneuwahlen in der Ukraine: damit dieMenschen, die den Protest auf dem Maidan so vorbild-lich friedlich begonnen haben, die Chance der Korrekturnutzen können. Ich frage Sie und Ihre Fraktion dann aberauch, wie man mit dieser Situation die völkerrechtswid-rige Annexion der Krim durch Russland rechtfertigenkann. Ihre oft kruden Diskussionen der letzten Wochen,Ihre Reminiszenzen an altes Blockdenken und Ihre Ni-belungentreue zu alten Freunden machen es mir und vie-len in diesem Haus oftmals hinreichend schwer, Sie ernstzu nehmen.
In den Dialog in der Ukraine müssen alle Bevölke-rungsgruppen einbezogen werden, auch die russisch-stämmigen. Es bedarf dringend der Bildung einer inter-nationalen Kontaktgruppe. Dabei kann und mussDeutschland eine wichtige Rolle als aktiver Vermittlerspielen.
Herr Kollege Spinrath, Sie denken an die Redezeit?
Gerne. Ich komme zum Ende. – Ich sage aber auch:Es bedarf des sofortigen Handelns durch Russland, näm-lich zu bewirken, dass das Referendum auf der Krim ab-gesagt wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Dank fürIhre Aufmerksamkeit formuliere ich vier Tage vor die-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1541
Norbert Spinrath
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sem Referendum: Wenn es gelingt, eine Zusammenar-beit aller Beteiligten nicht gegen, sondern mit Russlandzu organisieren, dann kann es auch gelingen, den wich-tigsten Grundwert der modernen Demokratie im21. Jahrhundert zu bewirken und dauerhaft zu sichern –den Frieden.
Damit schließe ich die Aussprache.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKrischer, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDie Energiewende europäisch verankernDrucksache 18/777Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Als ersten Redner rufe ich den Kollegen Dr. AntonHofreiter, Bündnis 90/Die Grünen, auf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wer in den vergangenen Wochen und Mona-ten aufmerksam die Zeitung verfolgt hat, konnte lesen,dass über Großbritannien und Irland über Wochen undMonate immer wieder schwere und schwerste Stürmeniedergegangen sind, dass in vielen Regionen seit Mona-ten Häuser und ganze Ortschaften unter Wasser stehenund dass nach dem fünften schweren Orkan an der West-küste Irlands inzwischen diskutiert wird, welche Ort-schaften aufgegeben werden müssen und welche gegendas sich ändernde Wetter und Klima gehalten werdenkönnen. Das ist nicht etwas, das in ferner Zukunft pas-siert, sondern etwas, das gerade jetzt passiert.Wenn wir uns am wunderschönen Frühlingswetter derletzten Wochen erfreuen, sollten wir bedenken – wir hat-ten am 9. März 2014 einen neuen Temperaturrekord vonfast 24 Grad in Nordrhein-Westfalen zu verzeichnen –:Eigentlich ist noch Winter. Temperaturen von 24 Gradim Winter sind mehr als ungewöhnlich. Jetzt mögenSkeptiker argumentieren: Einzelne Wetterereignisse stel-len noch keine Klimaveränderung dar. Wenn wir unsaber die Häufung dieser Wetterereignisse – schwersteOrkane und Wirbelstürme in Südostasien, schwersteÜberschwemmungen in Großbritannien, Extremstwin-ter in Nordamerika, extrem warme Sommer bei uns – an-schauen, dann erkennen wir, dass diese Ereignisse voll-kommen in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen derKlimawissenschaft stehen. Diese besagen nämlich, dassdie Klimakatastrophe längst begonnen hat.
Es ist eine ganz entscheidende Aufgabe für uns, dieKlimakatastrophe – verhindern können wir sie eh nichtmehr – so zu bremsen, dass die Lebenschancen auf unse-rem Planeten für künftige Generationen erhalten bleiben.
Dieses Jahr ist ein ganz entscheidendes Jahr. 2015 fin-det in Paris die internationale Klimakonferenz statt, und2014 legt die Europäische Union ihre Klimaschutzzielebis zum Jahr 2030 fest. Es muss uns bewusst sein: DieKlimakonferenz 2015 in Paris wird nur ein Erfolg, wennEuropa ehrgeizige Ziele vorgibt. Nur so haben wir dieChance, die Klimakatastrophe bzw. den Klimawandel zubremsen, sodass er unsere Ökosysteme und damit unsereLebensgrundlage nicht überfordert.
Was sind die zentralen Bausteine, damit uns das ge-lingt? Zum einen müssen wir dafür sorgen, dass derCO2-Zertifikatehandel, der sogenannte Emissionshandel,wieder funktioniert. Es kann nicht sein, dass eine Tonnedes Klimakillers CO2 nur ein bisschen mehr kostet alseine Schachtel Zigaretten; was zur Folge hat, dass dieschmutzige Braunkohle am Markt boomt. Den Emis-sionshandel müssen wir reparieren.
Was ist des Weiteren notwendig? Des Weiteren istnotwendig, dass wir starke CO2-Minderungsziele bis2030 beschließen. Die Bundesrepublik Deutschland darfihre armseligen nationalen Ziele nicht auf die EU über-tragen. Vielmehr brauchen wir ehrgeizige Ziele, Ziele,mit denen wir das sogenannte 2-Grad-Ziel erreichenkönnen.
Es ist ferner notwendig, dass wir den Ausbau der er-neuerbaren Energien beschleunigen; denn sie sind einSchlüssel dafür, den CO2-Ausstoß zu senken und unsvon Importen fossiler Energien unabhängig zu machen.Es ist dringend notwendig, dass wir die Energieeffi-zienz verstärken; denn die billigste KilowattstundeStrom ist die Kilowattstunde, die ich gar nicht benötige.
Die Bundesregierung allerdings ist in den letztenWochen und Monaten – man muss leider sagen: in denletzten Jahren – auf EU-Ebene nur durch armselige Lob-bypolitik für Ausnahmen innerhalb des EEG aufgefal-len. Diese Ausnahmen sind inzwischen so zahlreich,dass sie bald die Regel darstellen. Das ist nicht nur kli-maschädlich, sondern das führt auch zu einer Wettbe-werbsverzerrung; denn man muss sich fragen: Wer be-
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1542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Anton Hofreiter
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zahlt für diese Ausnahmen? Das sind jene Unternehmen,die den kompletten Preis zahlen müssen, sowie die Ver-braucher. Das ist skandalös.
Die Koalition behandelt die Energiewende so, alswäre sie nicht in der Lage, ihre Chancen zu erkennen. Inder Energiewende liegen große Chancen, aber Sie behar-ren auf alten Strukturen.
Ökologie und Ökonomie sind eben kein Widerspruch,wenn ich kluge Politik gestalte. Mit grünen Ideen lassensich schwarze Zahlen schreiben.
Die Energiewende kann eine große Chance für die eu-ropäische Wirtschaft sein.
Nehmen wir als Beispiel die Stahlindustrie. Die europäi-sche Stahlindustrie leidet unter massiven Überkapazitä-ten. Aber diese bekommen Sie dadurch, dass Sie versu-chen, den Industriestrom noch etwas günstiger zumachen, nicht in den Griff.
Überkapazitäten bekommen Sie nur durch eine entspre-chende Nachfrage bzw. Investitionen in den Griff.
Wenn Sie eine moderne Windkraftanlage bauen– vielleicht wissen Sie nicht, dass das inzwischen eingroßes Industrieprodukt ist –, dann benötigen Sie dafürso viel Stahl wie für 500 Automobile. Man sieht: Investi-tionen in erneuerbare Energien sind eine Chance für dieeuropäische Stahlindustrie. Deswegen darf der Ausbaunicht gebremst werden.
Wenn man es richtig macht, dann passen alte Industrienund neue Energien wunderbar zusammen.
Die Menschen in Deutschland erkennen auch, welcheChancen in einer innovativen Energiepolitik liegen. Des-halb fordern über 80 Prozent von der Bundesregierung,ehrgeizigere Ziele zu setzen;
denn sie wissen, wie wichtig das für die Zukunft ihrerKinder und für ihre Jobs ist.Es gibt einen weiteren Grund, einen Grund, den ichschon angesprochen habe: Europa importiert für circa500 Milliarden Euro fossile Energieträger. AlleinDeutschland importiert für 33 Milliarden Euro fossileEnergieträger aus Russland, Erdgas und Erdöl.
Wind und Sonne schicken uns keine Rechnung.
Das System Putin schickt uns durchaus eine Rechnung.
Setzen Sie deshalb auf die Beschleunigung der Energie-wende! Setzen Sie auf den Ausbau der erneuerbarenEnergien! Dann wird das Geld hier investiert, dann wirdlokal investiert. Das ist eine Chance für unser Handwerk,und das macht uns entsprechend unabhängig.
Zum Abschluss: Man muss sich vielleicht einmalklarmachen, welche Verantwortung wir hier haben. GanzEuropa und die ganze Welt schauen darauf, ob inDeutschland die Energiewende gelingt. Die ganze Weltschaut darauf, ob sie in Deutschland und in Europa ge-lingt. Wenn die Energiewende in Deutschland und in Eu-ropa, diesem reichen Kontinent, gelingt und die Klima-schutzziele eingehalten werden, dann kann sie weltweitgelingen. Es muss auch weltweit gelingen. Wenn wirnämlich unsere Lebensgrundlagen zerstören, dann hin-terlassen wir unseren Kindern und Kindeskindern einenzerstörten Planeten. Das darf nicht unsere Politik sein.
Ich gestehe gern zu, dass das kein leichtes Projekt ist.Deutschland und Europa stehen vor großen Herausforde-rungen. Aber es lohnt sich, diese Herausforderungen an-zupacken, für den Klimaschutz, für eine lebenswerteWelt und für unsere und die Zukunft unserer Kinder undKindeskinder.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wenn man den Antrag in die Hand bekommt und
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1543
Dr. Joachim Pfeiffer
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den Titel „Energiewende europäisch verankern“ liest,dann hört sich das zunächst gut an. Wenn man dann aberden Antrag liest, stellt sich leider heraus, dass der Inhalteigentlich im genauen Gegensatz zum Titel steht. Diekonkreten Vorschläge, die Sie dort machen, sind nämlichkeine europäisch verankerte Energie- und Klimapolitik.Sie setzen auf nationale Kleinstaaterei, staatlichenZwang und planwirtschaftliche Instrumente, die immernur zu weiteren Belastungen führen, aber sicher nicht imeuropäischen Sinne sind, statt auf die Harmonisierungvon wettbewerblich organisierten und effizienzsteigern-den Fördersystemen. Auch auf EU-Ebene wollen Sieideologiebetriebene Verbots- und Gebotspolitik umset-zen.Sie sprechen sich in Ihrem Antrag beispielsweise ge-gen die Überlegung der EU-Kommission aus, nur einKlimaschutzziel festzulegen und dieses entsprechend zuuntermauern. Wenn die Lage so ist, wie gerade vonHerrn Hofreiter beschrieben, dass nämlich der Weltun-tergang in Irland und anderen Ländern der EuropäischenUnion unmittelbar bevorsteht, dann müsste es doch rich-tig sein, genau an diesem Ziel anzusetzen und ein euro-päisches Emissionsreduktionsziel festzulegen, das tech-nologieoffen im Wettbewerb Reduktionen ermöglicht.Genau das aber wollen Sie nicht. Sie wollen, dass in Eu-ropa mehrere Ziele nebeneinander bestehen und zumgleichen Ergebnis wie in Deutschland führen, wo sichzahlreiche Ziele gegenseitig konterkarieren. Ein Beispieldafür ist KWK. Mit großer Mehrheit haben wir hier imHaus 2008 ein KWK-Ziel von 25 Prozent beschlossen.Wir sind weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen,weil es durch andere Ziele, beispielsweise das EEG, kon-terkariert wird. Im Ergebnis führt das dazu, dass heuteKraft-Wärme-Kopplungsanlagen nicht nur nicht neu ge-baut werden, sondern bestehende, sowohl im industriel-len Bereich als auch bei Stadtwerken, nicht rentabelsind. – Da bemüht sich jemand schon seit längerem umeine Wortmeldung.
Herr Kollege Pfeiffer, sind Sie mit einer Zwischen-
frage der Kollegin Baerbock einverstanden?
Selbstverständlich, gerne.
Herr Pfeiffer, vielen Dank für die Möglichkeit, eine
Zwischenfrage zu stellen. – Sie haben gerade angeführt,
dass Sie es komisch finden, dass wir uns für drei Ziele
auf europäischer Ebene einsetzen. Es verwundert mich
sehr, dass unser Antrag diesbezüglich bei Ihnen auf Ver-
wunderung stößt. Schließlich hat sich die deutsche Bun-
deskanzlerin dafür eingesetzt, dass wir bezogen auf das
Jahr 2020 eine Zieltrias formulieren, die auch hinsicht-
lich der Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Ener-
gien und hinsichtlich der Ziele in Bezug auf die Energie-
effizienz verbindlich ist. Halten Sie die damalige
Position Ihrer Bundeskanzlerin für falsch? Wie kann
man Ihrer Meinung nach ein ambitioniertes CO2-Ziel
umsetzen, wenn man nicht zeitgleich in Energieeffizienz
und den Ausbau der erneuerbaren Energien investiert?
In der Tat ist es richtig, dass man 2007, glaube ich, diedrei 20-Prozent-Ziele festgelegt hat: Reduktion derEmissionen auf europäischer Ebene um 20 Prozent alseinseitige Vorleistung, Steigerung der Energieeffizienzum 20 Prozent bis 2020 und ein Anteil der erneuerbarenEnergien von 20 Prozent bis 2020. In der Zwischenzeithat man aber hinzugelernt. Auch die EU-Kommissionversucht, hinsichtlich dieser Frage hinzuzulernen. Ichhabe das gerade am Beispiel der KWK in Deutschlanderläutert: Wir waren der Überzeugung, dass es richtig ist,mehrere verbindliche Ziele festzulegen, stellen jetzt aberbei der Umsetzung fest, dass das so nicht funktioniert,dass sich die Ziele zum Teil gegenseitig konterkarieren.Deshalb ist die Frage: Was ist richtig, wenn wir weiter indie Zukunft denken? Wir haben Ziele festgelegt, die bis2020 erreicht werden sollen. Damit haben wir dieGrundlage gelegt. Wenn es jetzt um die Frage geht, waswir 2030, 2040 und 2050 machen, dann müssen wir auchdie Frage stellen – dieser Diskussionsprozess findet ge-rade in Europa statt –, was sinnvoll ist.Das entscheidende Thema ist der Klimaschutz – da-rauf komme ich nachher noch einmal zu sprechen –, dernicht nur auf europäischer Ebene realisiert werden muss.Es nützt uns und dem Weltklima nämlich gar nichts,wenn nur wir in Europa Klimaschutz betreiben. Der Kli-maschutz muss weltweit betrieben werden. Ein zentralesElement dafür ist der Emissionshandel, der in den be-troffenen Sektoren die Zielerreichung entsprechend ei-nem klaren und verbindlichen Reduktionspfad gewähr-leistet. Das ist der richtige Weg. Selbstverständlich kannman flankierend integrative Ziele vereinbaren – das wirdja auch vorgeschlagen –, zum Beispiel hinsichtlich derEnergieeffizienz oder in anderen Bereichen. – VielenDank für die Gelegenheit, dies an dieser Stelle etwas zuvertiefen.Jetzt komme ich auf die Emissionen zu sprechen, dieSie auch angesprochen haben. Sie wollen die Emissio-nen bis 2030 um 55 Prozent reduzieren. Wie sieht dieRealität aus? Die EU hat sich verpflichtet, die CO2-Emissionen bis 2020 um 20 Prozent im Vergleich zu1990 zu reduzieren. Sie hat in Aussicht gestellt, dieQuote auf 30 Prozent zu erhöhen, wenn es gelingt, einKioto-Nachfolgeregime zu vereinbaren. Leider sind wirim Moment von der Festlegung auf ein solches Nachfol-geregime weit entfernt. Ich bin sehr skeptisch, dass esgelingt, im nächsten Jahr in Paris diesbezüglich ent-scheidend weiterzukommen.Bis 2020 wollen wir die CO2-Emissionen gegenüber1990 um 20 Prozent reduzieren. In diesen Zeitraum von30 Jahren fallen die Deindustrialisierung, die quasi statt-gefunden hat, und der völlige Neuaufbau der Konver-sionsländer Osteuropas. Das betrifft auch die fünf neuenBundesländer. In der Quote von 1990 sind auch die da-maligen Emissionen in den fünf neuen Bundesländernenthalten, die bereits – das war einmalig – reduziert wur-den. Wir sagen: Zwischen 2020 und 2030 wollen wir
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1544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Joachim Pfeiffer
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quasi das Gleiche erreichen, nämlich noch einmal eineReduktion um 20 Prozent. Ich glaube, das ist mehr alsambitioniert. Sie sagen jetzt, dass Sie eine Reduktion um55 Prozent bis 2030 erreichen wollen. Ich halte das, ehr-lich gesagt, für weltfremd und nicht erreichbar.In Deutschland haben wir die Emissionen bereits umweit über 20 Prozent reduziert. Der Anteil der Emissio-nen in Deutschland lag 1990 im weltweiten Vergleichbei 4,7 Prozent. Heute beträgt er 2,4 Prozent. Die EUinsgesamt hat ihre Emissionen um über 16 Prozent redu-ziert. Der Anteil der EU am globalen CO2-Ausstoß liegtheute bei gerade einmal 10 Prozent. Das ist die Hälfteder Quote von 1990. Damals lag sie bei 20 Prozent. Dasheißt, selbst wenn wir in Europa um 100 Prozent redu-zieren – das betrifft alle industriellen Prozesse; dakommt man auch an physikalische Grenzen –, dann wür-den wir dem Weltklima damit im Ergebnis kaum helfen.Wer etwas anderes suggeriert, der erzählt bewusst etwasFalsches.China hat seit 1990 seine Emissionen vervierfacht, In-dien hat seine Emissionen vervierfacht und auch in denASEAN-Ländern steigen die Emissionen. Insofern nutztes uns in Europa nichts, Zahlenfetischismus zu betrei-ben. Vielmehr müssen wir den Rest der Welt davon über-zeugen, mitzumachen. Wie machen die anderen Ländermit? Am besten, indem wir hocheffiziente Kraftwerks-technologien dorthin liefern, sodass in diesen Ländern dieEnergieeffizienz steigt und der CO2-Ausstoß reduziert wird.Es nutzt nichts, wenn wir die weltweit Klimaschonendstenund Energieeffizientesten sind. – Da möchte schon wiederjemand meine Redezeit verlängern.
Der Kollege Janecek würde gerne eine Zwischenfrage
stellen. Ich vermute aufgrund seines Hinweises, dass
Kollege Pfeiffer diese Zwischenfrage zulässt.
Es ist ja schön, dass Sie, Herr Pfeiffer, sich so über
den Dialog freuen. – Ich habe, weil Sie es direkt ange-
sprochen haben, eine Frage zu China. Ich möchte Sie
fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen, dass China – heute
kam die Meldung – mittlerweile mehr Strom aus Wind-
kraft produziert als aus Atomenergie und dass China in
diesem Jahr Photovoltaikanlagen mit einer Kapazität
von insgesamt 14 Gigawatt installieren will. Das ist fast
doppelt so viel wie in der gesamten EU. Daher kann man
nicht sagen, dass wir in Deutschland diesen Weg nicht
weiter beschreiten sollten, weil die Chinesen die Produk-
tion von Treibhausgasen vorantreiben. Wo auf der Welt
ist eigentlich momentan der Pfad gegeben? In China, in
Europa und in den USA geht man auf diesem Pfad vo-
ran.
Gott sei Dank machen die Chinesen das. Die Chine-sen setzen übrigens ohne Scheuklappen auf alle Techno-logien. Sie bauen die Kernkraft genauso wie die erneuer-baren Energien und Kohlekraft massiv aus; denn siehaben bei der Industrialisierung ihres Landes einen enor-men Nachholbedarf. Sie hatten 1990 – ich weiß es nichtgenau auswendig – Emissionen in einer Größenordnungvon vielleicht 2 oder 3 Tonnen CO2 pro Person. Heutehaben sich die Emissionen bereits mehr als verdoppelt.Das gleiche Problem gibt es in Indien. Deshalb ist es na-türlich richtig, dass sie die erneuerbaren Energien aus-bauen. Aber es gibt in der Welt noch viel mehr Möglich-keiten, wo wir Beiträge dazu leisten können, dieEnergieeffizienz voranzubringen.Tatsache ist, dass es trotz dieser massiven Investitio-nen in die erneuerbaren Energien und in die Energieeffi-zienz, was in China heute durchaus stattfindet – das er-kenne ich ja auch an –, zu dieser Vervierfachung derEmissionen gekommen ist. Wenn Sie die Prognosen fürdie Wachstumsraten in China betrachten, dann sehenSie, dass die Emissionen dort weiter steigen werden.Den Chinesen gelingt es in den nächsten 20 Jahren viel-leicht, das zu erreichen, was wir von 1970 bis 1990 er-reicht haben, nämlich das Wirtschaftswachstum vomEmissionswachstum bzw. das Wirtschaftswachstum vomEnergieverbrauch zu entkoppeln. Wir haben unsereEnergieeffizienz verdoppelt. Das heißt, wir produzierendie gleiche Einheit Bruttosozialprodukt nur noch mit derHälfte an Energieeinsatz. Das war in China bis 2010noch nicht der Fall. Dort ist der Energieverbrauch imVergleich zum Wirtschaftswachstum überproportionalgestiegen. Sie sind jetzt massiv dabei, dieses Problemanzugehen. Das ist richtig; denn sonst würden die Emis-sionen explosionsartig ansteigen. Faktenlage aber ist,dass die CO2-Emissionen weltweit leider nicht gestopptwurden oder gar rückläufig sind, sondern weiter anstei-gen. Es geht jetzt darum, sie zu bremsen.Um Ihnen hier noch eine Zahl zu nennen: In ganz Eu-ropa hatten wir im Rahmen des Kioto-Protokolls von1990 bis 2012 – dieser Zeitraum ist jetzt leider vorbei –CO2-Emissionen in Höhe von rund 350 Millionen Ton-nen eingespart. – Ich bin übrigens immer noch bei derBeantwortung der Frage; schließlich hatten Sie mich zuChina gefragt. – 350 Millionen Tonnen CO2 sind durchdas Kioto-Protokoll in Europa eingespart worden. Wis-sen Sie, wie viel das ist? Das entspricht genau dem halb-jährlichen Zuwachs an Emissionen in China im Jahr2006. Das heißt, die CO2-Emissionen, die wir in Europadurch das Kioto-Protokoll in 22 Jahren eingespart haben,hat man quasi in China in 2006 in einem halben Jahr da-zubekommen. Das ist leider die Realität. Deshalb ist esnotwendig, dass wir hier nicht nur einen europäischenAnsatz suchen, sondern einen weltweiten Ansatz.Sie fordern in Ihrem Antrag, dass das EEG mehr oderweniger so erhalten bleibt, wie es jetzt ist, und dass dasEinspeiseregime so fortgeführt wird. Dass das nichtfunktioniert, haben wir in Deutschland, glaube ich, mitt-lerweile begriffen. Die jährliche Belastung allein durchdie EEG-Umlage beträgt inzwischen 24 MilliardenEuro. Um sich das noch einmal zu vergegenwärtigen:Nach den neuesten Zahlen summiert sich die Gesamtbe-lastung durch das EEG für die Zeit von 2014 bis 2030– so die heutige Vorausschau; durch die langen Laufzei-ten ist ja vieles schon festgelegt – auf rund 450 Milliar-den Euro. Das ist das Eineinhalbfache des Bundeshaus-halts.
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Dr. Joachim Pfeiffer
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Wenn Sie angesichts dieser Zahlen ernsthaft der Mei-nung sind, dass wir das in ganz Europa so betreiben kön-nen, muss ich Ihnen sagen: Das wird nicht funktionieren.Wir haben gerade erfahren, dass bei dem Aland-Verfah-ren zwischen Schweden und Finnland der Generalanwaltbeim EuGH leider die Meinung vertritt, dass es europa-rechtswidrig und binnenmarktrechtswidrig ist, wennman eine Förderung der Erneuerbaren nur national be-treibt. Wenn der EuGH so entscheiden sollte, dannwürde das bedeuten, dass unser EEG quasi für ganz Eu-ropa zur Verfügung stünde. Was das wiederum bedeutenwürde, ist, glaube ich, jedem klar: So kann es nicht wei-tergehen. Deshalb brauchen wir in Europa die Harmoni-sierung der Fördersysteme im Bereich der Erneuerbaren.Nicht 28 unterschiedliche Regime der Förderung erneu-erbarer Energien und am besten noch 28 Kapazitäts-märkte darf es geben. Den Binnenmarkt müssen wir ent-sprechend stärken. Es gilt, einheitliche Preiszonen – diezentraleuropäische Preiszone ist hier Vorbild – sukzes-sive auszuweiten, sodass wir einen europäischen Strom-preis haben. Dazu brauchen wir Interkonnektoren. Dazubrauchen wir einen europäischen Netzausbau und, wiegesagt, die Harmonisierung der Marktsysteme statt na-tionaler Kleinstaaterei. Es geht nicht an, zu sagen: „Wirmüssen das EEG so erhalten, wie es bisher besteht“, weiles uns dann nicht nur in Deutschland, sondern auch inEuropa um die Ohren fliegt.Leider machen Sie in Ihrem Antrag immer die Indus-trie, insbesondere die energieintensive Industrie, für denangeblichen Anstieg der Strompreise verantwortlich undführen das auf eine unsachgemäße Ausweitung des För-dertatbestands zurück; vorhin hat das der KollegeHofreiter auch wieder so dargestellt. Was ist der Sachver-halt? Wir haben in der Tat die Zahl der durch das EEG Be-günstigten 2012 ausgeweitet; das waren vor allem mittel-ständische Unternehmen. Begünstigt ist jetzt nicht nureine dreistellige, sondern eine mittlere vierstellige Zahlvon Unternehmen. Nur: Die Strommenge, die zusätzlichbegünstigt ist, beträgt gerade einmal 10 Prozent.
Sie fordern, dass über die EU-Stromkompensations-richtlinie entsprechend entlastet wird.
Was würde das bedeuten? Das würde bedeuten, dass bei-spielsweise die Bauindustrie oder die Zementindustrie inDeutschland nicht mehr entlastet würde. Was wäre dieunmittelbare Folge? Das ist alles nachzulesen; das ist al-les untersucht. Rund 60 Prozent der Zementproduktionin Deutschland wären sofort gefährdet, und dann würdeaus dem Ausland nach Deutschland geliefert. DemKlima würde das überhaupt nichts nützen.
– Natürlich ist es so. Sie wollen die Entlastung abschaf-fen. Das Ergebnis wäre: Sie würden Hunderttausendevon Arbeitsplätzen vernichten, und Sie würden die Wert-schöpfungsketten durchtrennen. Wir in der Bundesregie-rung sind gerade in intensivsten Gesprächen mit der EU-Kommission, damit dies nicht passiert.Sie reden der Deindustrialisierung Deutschlands dasWort.
Vielleicht ist das aber auch der wahre Hintergrund; dennnur dann, wenn Sie die Industrie so vernichten, wie Siees vorschlagen, können Sie Ihre Reduktionsziele errei-chen. In der Tat, wenn wir keine Aluminiumproduktion,keine Stahlproduktion, keine Chemie mehr in Deutsch-land und Europa haben, können wir diese Reduktions-ziele erreichen. Das ist aber nicht unser Weg.Wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Energienwirtschaftlich vernünftig gestalten, in einem wettbe-werblichen Rahmen. Wir wollen den IndustriestandortDeutschland und Europa erhalten, und das werden wirauch tun. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie in Ih-rem Antrag vorschlagen. Diese Bundesregierung wirddies in der nächsten Woche in und mit Brüssel hoffent-lich auch erreichen.
Sie bekämpfen mit Ihrem Antrag eher den StandortDeutschland, als dass Sie die europäische Energiepolitikvoranbringen.
Für die Linke erteile ich nun der Kollegin Eva
Bulling-Schröter das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Essteht viel auf dem Spiel, und wir haben nicht viel Zeit.Europäische Energiepolitik muss deshalb Klimaschutz-politik sein.
Diese muss sich am 2-Grad-Ziel orientieren. Wenn ichmir aber die Vorschläge der EU-Kommission zum Rah-men der Klima- und Energiepolitik anschaue, muss ichsagen: Ich halte sie für eine Bankrotterklärung. Denn dasZiel einer Minderung um 40 Prozent bis 2030 bedeutetnichts anderes, als dass wir 2050 maximal bei minus70 Prozent statt bei minus 80 bis 95 Prozent herauskom-men. Wenn ich mir dann vorstelle, wie wir als EU-Ver-handlungsdelegation nächstes Jahr in Paris dastehen– wir sind ja mit dabei –, kann ich nur sagen: Eigentlichkönnen wir uns da gar nicht blicken lassen. Ich findedas, was hier passiert, ganz peinlich.
Statt der nun vorgeschlagenen Reduzierung um 40 Pro-zent bräuchten wir als Ziel bis 2030 mindestens eine Re-
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Eva Bulling-Schröter
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duzierung um 55 bis 60 Prozent der CO2-Emissionen ge-genüber 1990.
Auch der Vorschlag der Kommission im Hinblick aufein Reförmchen des europäischen Emissionshandels istabsolut ungenügend. An den derzeit 2 Milliarden Über-schüssen an Zertifikaten, die eigentlich sofort stillgelegtwerden müssten, wird mit der sogenannten Marktstabili-tätsreserve eben kaum gerüttelt; das funktioniert allesnicht, Herr Pfeiffer. Deshalb werden die CO2-Preise wei-terhin im Keller bleiben; sie sind übrigens sogar niedri-ger als der Preis für eine Schachtel Zigaretten.Auf gut Deutsch heißt das, dass weitere 10 bis15 Jahre aus dem Emissionshandel kein Klimaschutz er-wachsen wird. Wir rechnen es einmal hoch: Bis 2030gibt es dann immer noch einen Überschuss von 650 Mil-lionen Zertifikaten. Das kann einfach nicht sein; dasfunktioniert nicht. Das ist eine weitere Bankrotterklä-rung. Da kann man nur noch baff sein. Schließlich sollteder Emissionshandel das wichtigste Klimaschutzinstru-ment sein. Ich sage Ihnen: Er hat absolut versagt. DieDimension dieses Totalversagens ist bisher aber nochgar nicht so öffentlich. Wir müssen auch die Bevölke-rung darüber aufklären, was hier wirklich passiert.
Vor dem Hintergrund der deutschen Entwicklung be-kommen diese EU-Bankrotterklärungen wirklich ein be-sonderes Geschmäckle. Denn Deutschland verabschie-det sich selbst von den Klimazielen; wir haben es jagehört, Herr Pfeiffer. Die Bundesregierung tut ebennichts, um die dramatische Entwicklung der Kohlever-stromung in Deutschland aufzuhalten. Mit hoffnungsvol-len Augen hat man im Ausland auf die deutsche Energie-wende geblickt. Sie war bislang ein Modell mitVorbildfunktion; „Energiewende“ ist ein Wort, das auchim Ausland verwendet wird. Doch die Chance der Er-neuerbaren, wegzukommen von monopolistischenKohle- und Atomkonzernen, hin zu kommunalen Stadt-werken, zur Bürgerenergie, wird gerade verzockt.Ich sage Ihnen: Die massive Kohleverstromung istnicht der Preis, zu dem wir die Erneuerbaren haben woll-ten. Das ist Konsens in der Bevölkerung; das wollen dieMenschen nicht. Das ist auch nicht nur ein Wermutstrop-fen beim Ausbau der Erneuerbaren. Das ist eine völligverfehlte Politik, eine Politik, die vor der Kohlelobbyeinknickt. Denn während Kohle so billig ist wie nie unddie Klimaziele in weite Ferne rücken, sind klimafreund-lichere Gaskraftwerke nicht konkurrenzfähig. Wer willein solches Modell dann in Europa anpreisen?Die Energiewende soll ausgebremst werden, und da-durch soll die Kohleverstromung weiter gestärkt werden.Deshalb fordern wir ein nationales Kohleausstiegsge-setz. Wir wollen uns dabei unter anderem an Großbritan-nien orientieren.
Dort wird für jedes Kraftwerk ein festes CO2-Budgetfestgelegt.
Somit werden also nicht direkt Kapazitäten begrenzt,sondern produzierte Strommengen. Das ist dringend not-wendig.
Ich sage Ihnen: Das würde im Übrigen auch einen er-heblichen Teil des Netzausbaus einsparen. Die Protestewerden Ihnen noch große Sorgen machen. Denn dieMenschen vor Ort wollen keine Stromleitungen für Koh-lestrom, sondern höchstens solche für regenerative Ener-gien.
Das ist auch gut so. Es muss diskutiert werden.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für
die SPD der Kollege Wolfgang Tiefensee.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Mit dem uns vorliegenden Antrag widmen sichdie Grünen einem wichtigen Aspekt der deutschen Ener-giewende, nämlich ihrer europäischen Einbindung. Wirwollen diese Einbindung. Wir wollen genauso wie Sie,Herr Hofreiter, dass der Kampf gegen den Klimawandelin Deutschland Erfolg hat. Wir wollen, dass er in EuropaErfolg hat; wir wollen auch, dass er international Erfolghat. Mit Blick auf Ihren Antrag müssen wir uns aber zu-nächst fragen: Was sind eigentlich die Voraussetzungenfür eine europäische Einbindung der deutschen Energie-wende? Ich will drei Voraussetzungen nennen, die mirzentral scheinen:Erstens. Wir müssen uns vor Augen führen, dass dieenergiepolitischen Rahmenbedingungen in den Mit-gliedsländern der EU unterschiedlich sind.Zweitens. Voraussetzung für eine europäische Veran-kerung der Energiewende ist ein kritischer Blick auf un-sere eigene Energiepolitik, auf unsere Erfolge, die zwei-fellos vorhanden sind, aber auch auf unsere Irrtümer.Drittens. Nicht zuletzt brauchen wir für die europäi-sche Energiepolitik eine Vorstellung von einem gemein-samen Rahmen, der den unterschiedlichen Bedingungenin den verschiedenen europäischen Ländern Rechnungträgt und schrittweise ausgebaut wird.Auf diese Unterschiede – das ist meine Hauptkritik –gehen Sie in Ihrem Antrag viel zu wenig ein. Dies führtdann zu unterschiedlichen Einschätzungen, wie die
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Wolfgang Tiefensee
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Energiewende auf europäischer Ebene verankert werdenkann. Das will ich im Einzelnen ausführen.Deutschland wird sich für eine Reduktion der Treib-hausgasemissionen innerhalb der EU um mindestens40 Prozent bis 2030 einsetzen,
als Teil einer Zieltrias aus Reduktion der Treibhausgas-emissionen, Ausbau der erneuerbaren Energien und Stei-gerung der Energieeffizienz.
Die Bundesrepublik macht sich stark für ein verbindli-ches Ziel für den Ausbau der erneuerbaren Energien– das Ziel sind 30 Prozent –; das ist Bestandteil unseresKoalitionsvertrages,
und das sagt auch die Bundesregierung bzw. der Minis-ter an jeder Stelle.Meine Damen und Herren, wenn wir von Europa re-den, dürfen wir nicht nur die Europäische Kommissionim Blick haben. Der Ansatz, den ich geschildert habe,deckt sich mit dem des Europäischen Parlaments. DasEuropäische Parlament hat im Februar dieses Jahres mitdrei verbindlichen Zielen der EU für das Jahr 2030 Ak-zente gesetzt, nämlich Reduktion der CO2-Emissionenum mindestens 40 Prozent, Ausbau der erneuerbarenEnergien auf 30 Prozent und eine Senkung des Energie-verbrauchs um 40 Prozent. Die Ziele im Antrag der Grü-nen sind zum Teil ambitionierter; ansonsten sind wir hin-sichtlich der Zieltrias nicht weit auseinander.
Unseres Erachtens ist es wichtig, sicherzustellen, dassjeder Mitgliedstaat einen verlässlichen Beitrag zum Er-reichen dieser Zieltrias leistet. Ich kann Ihnen allerdingsnicht zustimmen, wenn Sie die nationale Energiewendeauch in Europa verankern wollen, um ihren Fortgang da-mit effizienter und schneller zu gestalten. Ich fürchte,dass wir bei einer Erhöhung der Geschwindigkeit Gefahrlaufen, die Zustimmung der Bevölkerung zu verlieren,weil wir sie und uns überfordern. Die Sicherheit derEnergieversorgung und die Bezahlbarkeit von Energiemüssen immer im Blick behalten werden.Auch wenn wir Vorreiter sind, müssen wir die Be-lange unserer Partner berücksichtigen; denn wir sind aufunsere Partner angewiesen. Beispielsweise haben wir dieSynchronisationsaufgaben im Rahmen unserer Energie-wende noch nicht gelöst, also die Abstimmung von An-gebot und Nachfrage. Derzeit bringen wir sozusagen un-kontrolliert Strom aus erneuerbaren Energien zu unserenNachbarn. Das bringt beispielsweise Polen in Schwierig-keiten, weil dann dort die eigenen, konventionellenKraftwerke heruntergefahren werden müssen und roteZahlen schreiben.Ein anderes Beispiel ist der EU-Emissionshandel. DieGrünen fordern in ihrem Antrag, die von der EU-Kom-mission vorgeschlagene Marktstabilitätsreserve schondeutlich vor 2020 einzuführen. Wir sind im Prinzip mitdem Backloading, ja auch mit dem Set-aside einverstan-den. Aber wir müssen innerhalb Europas auch die Be-lange der osteuropäischen Staaten berücksichtigen. Dasbereits anvisierte Backloading im Rahmen der vorüber-gehenden Herausnahme von 900 Millionen CO2-Zertifi-katen macht den Staaten in Osteuropa große Sorgen.Die größten Kooperationsmöglichkeiten in den Län-dern der EU sehen wir darüber hinaus im Bereich derEnergieeffizienz. Deutschland zählt zu den wenigen In-dustrieländern, die es geschafft haben, wirtschaftlichesWachstum und Energieverbrauch zu entkoppeln. Mitdiesem technologischen Pfund wollen wir wuchern. Inder zweiten Jahreshälfte wird das Bundeswirtschafts-ministerium einen Gesetzentwurf zur Umsetzung derEU-Effizienzrichtlinie in nationales Recht vorlegen.
Ein Weiteres: die EEG-Umlage bei energieintensivenUnternehmen. Wir können nicht auf der einen Seite diebestehenden Ausnahmeregelungen für die Industrie alsfehlgeleitete Politik bezeichnen und auf der anderenSeite die Bundesregierung auffordern, sich mit Nach-druck für den Fortbestand der gültigen und erfolgreichenEinspeisevergütung für erneuerbare Energien in Brüsseleinzusetzen. Auch wir sind für eine Verringerung derAnzahl der Unternehmen, die unter die Ausgleichsrege-lung fallen. Aber dieser Zusammenhang muss auch mitBlick auf Brüssel gesehen werden.Ein weiterer Punkt betrifft die Einführung der Aus-schreibungssysteme. Ja, es stimmt: Derzeit kommen dieAusschreibungssysteme in der Praxis nicht gut weg. Wirsollten aus den Fehlentwicklungen lernen. Wichtig ist,dass wir unser Pilotvorhaben in einer Größenordnungvon 400 Megawatt für Photovoltaik-Freiflächenanlagenstarten, die Pilotversuche auswerten und dann gemein-sam nach Lösungen suchen, wie wir die kleinen Bürger-windparks, gegebenenfalls zusammen mit den Stadt-werken, in ein solches Ausschreibungssystem bringen.Dann können wir zum richtigen Zeitpunkt die Einfüh-rung von Ausschreibungssystemen diskutieren.
Zurück zu den Voraussetzungen. Ich plädiere dafür,dass wir die unterschiedlichen europapolitischen Rah-menbedingungen im Blick behalten, dass wir einen kriti-schen Blick auf unsere eigene Energiepolitik bewahrenund dass wir eine Vorstellung für einen gemeinsameneuropäischen Rahmen entwickeln.Wir lehnen den Antrag ab, da er die deutsche Energie-wende unreflektiert in den Mittelpunkt einer europäi-schen Verankerung stellt
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Wolfgang Tiefensee
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und durch das Ausblenden der unterschiedlichen Rah-menbedingungen in den Ländern einer europäischenEnergiewende nicht förderlich ist.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-
gin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich bin schon etwas verwundert:Heute führen wir eine Debatte über ein solch wichtigesThema, aber weder die Umweltministerin noch derEnergieminister sind anwesend. Das finde ich sehrschade.
Sie hätten vielleicht zu etwas Aufklärung beitragen kön-nen, was die Diskussion über die Zieltrias angeht. Dasscheint zwischen den Koalitionspartnern der GroßenKoalition noch nicht ganz geklärt zu sein.Mein Kollege Toni Hofreiter hat es schon sehr tref-fend beschrieben: Wenn es um mehr Klimaschutz, ummehr erneuerbare Energien und um mehr Energieeffi-zienz geht, dann ist von der Regierung des größten Lan-des in der EU, nämlich von unserer Bundesregierung, inBrüssel nichts zu sehen und nichts zu hören. Das findeich beschämend.
Ganz anders sieht es aus, wenn es beispielsweise da-rum geht, neue CO2-Grenzwerte für die Automobilindus-trie abzuwenden. Dann nämlich ist unsere KanzlerinMerkel ganz schnell in Brüssel, um allzu ambitionierteVorgaben zu verhindern. Liebe Frau Merkel, wollen Siewirklich von der einst gefeierten Klimakanzlerin jetztzur Klimaschutzblockiererin werden?Herr Pfeiffer, ich bin sehr irritiert, was Sie zur Ziel-trias gesagt haben. Wie gesagt, ich hätte mir hierzu et-was Aufklärung gewünscht. Ich habe Herrn Tiefensee,aber auch die Umweltministerin in den letzten Wochenund Monaten immer so verstanden, dass sie sich für eineZieltrias einsetzen wollen. Ich erwarte jetzt Taten. BeimEU-Gipfel gibt es ja die Gelegenheit dafür. Auchdarüber hinaus gibt es sehr viele Möglichkeiten, guteund effektive Klima- und Energiepolitik aus Brüssel zuunterstützen – insbesondere in Bezug auf die Energie-effizienz.Herr Pfeiffer hat das Thema Energieproduktivität an-gesprochen. Sie sagen, wir seien bei der Energieproduk-tivität schon sehr viel besser geworden. Herr Pfeiffer, Siemachen bei der Statistik aber einen ganz großen Fehler:Sie rechnen sie schön, wenn die Herstellung der Pro-dukte, die wir importieren, in der Energiebilanz des Aus-landes angerechnet wird. Sagen Sie doch einmal ganzehrlich, wie unsere Energieproduktivität tatsächlich aus-sieht. Bei der Energieeffizienz haben wir noch sehr vielPotenzial.
Ich fordere von der Bundesregierung also, dass siesich jetzt mit Nachdruck für ein neues EU-Ziel zur Sen-kung des Energieverbrauchs einsetzt. Hier fordern wirGrüne auch verbindliche nationale Ziele. Alles anderewären einfach nur fromme Wünsche und keine ambitio-nierte und verlässliche Politik.Wir wollen auch, dass Sie jetzt endlich die EU-Effi-zienzrichtlinie umsetzen. Es ist doch eine große gesell-schaftliche und wirtschaftliche Chance, Einsparpoten-ziale zu nutzen und Innovationen voranzutreiben. Das istauch das Gegenteil von einer sogenannten Deindustriali-sierung, die Sie uns vorwerfen, Herr Kollege Pfeiffer. Esist Fortschritt, wenn man effizienter wirtschaftet.
– Genau, man spart nämlich Energiekosten, wenn mandie Energie effizienter nutzt. Das ist richtig.
Die Bundesregierung hat das Thema Energieeffizienzjahrelang verschlafen, Herr Fuchs, und vernachlässigt esauch weiterhin. Ihr Prinzip lautet offenbar: Zuerst wer-den die Richtlinien in Brüssel verwässert, und dann wer-den sie in Deutschland nur leidlich oder verspätet oderals Papiertiger umgesetzt. Das war in der Vergangenheitbei der EU-Gebäuderichtlinie so, und das ist jetzt auchbei der EU-Energieeffizienzrichtlinie zu befürchten.
– Ja, das werden wir sehen. Setzen Sie sich dafür ein,Herr Becker.
Was zusätzlich den Eindruck vermittelt, dass es unse-rer Bundesregierung mit einer echten Energiewendenicht ernst genug ist – das Thema wurde auch schon an-gesprochen –: Obwohl die geplanten Vorgaben der EUfür neue Beihilferichtlinien noch in der Diskussion sindund Deutschland Einfluss nehmen könnte, plant MinisterGabriel die von der Kommission nur vorgeschlagenenAusschreibungen für erneuerbare Energien in vorausei-lendem Gehorsam schon einmal in seinem Gesetzent-wurf zur EEG-Novelle mit ein. Genau das verhindertdoch, dass sich auch künftig Bürgerenergiegenossen-
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Dr. Julia Verlinden
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schaften und kleinere Unternehmen am Ausbau der er-neuerbaren Energien beteiligen. Wollen Sie etwa keinenWettbewerb im Energiemarkt? Das würde mich dochsehr wundern.
Herr Minister Gabriel – leider ist er jetzt nicht da,aber vielleicht kann Frau Zypries ihm das ausrichten –,ich wünsche mir, dass Sie aufhören, mit dem Finger aufBrüssel zu zeigen und so zu tun, als könnten Sie nichtsausrichten. Das Beispiel der CO2-Grenzwerte für Neu-wagen zeigt doch: Deutschland kann sehr wohl Einflussnehmen. Sie haben es in der Hand, sich mit der Kommis-sion in der EU zu einigen.
Es gibt ganz aktuell noch einen Punkt, wo Sie Europain die richtige Richtung lenken können: Wenn Kommis-sar Oettinger, den Sie ja nach Brüssel geschickt haben,liebe Frau Merkel, jetzt nach Fracking ruft, dann antwor-ten Sie ihm doch einfach: Fracking brauchen wir nicht.
Wir setzen lieber auf Energieeffizienz und erneuer-bare Energien, auch im Wärmesektor. Nur so schaffenwir dauerhafte Unabhängigkeit von Öl-, Kohle- undGasimporten, und nur so erreichen wir Versorgungs-sicherheit als nachhaltige Grundlage für unsere Wirt-schaft.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß,
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Zu Beginn möchte ich der Fraktion der Grünen
ein Dankeschön für ihren Antrag aussprechen, weil ich
glaube, dass wir hier im Parlament viel zu wenig über
die Verankerung der Energiewende im europäischen
Kontext reden.
Nach dem Dankeschön muss ich aber gleich betonen,
liebe Frau Verlinden, dass Sie leider wieder auf halber
Strecke stehen bleiben. Ich möchte hier nur einmal einen
kleinen Satz aus Ihrem Antrag zitieren, weil er Ihre
Denke entlarvt und zeigt, dass Sie genau in die andere
als in die europäische Richtung gehen wollen. Ich zi-
tiere:
Verbindliche nationale Ziele sind zudem … ein
wichtiger Schritt, die sich abzeichnende Renationa-
lisierung der Energiepolitik abzuwenden.
Das ist genau das Gegenteil dessen, was Sie wollen.
Sie wollen keine europäische Energiepolitik. Sie konter-
karieren mit diesen Sätzen Ihren guten Ansatz, mehr für
Europa zu tun. Wir brauchen gerade in der Energiewirt-
schaft mehr Europa. Wir brauchen gemeinsame verbind-
liche Ziele. Wir brauchen eine Harmonisierung der Ge-
setzgebung. Wir brauchen einen gemeinsamen stärkeren
Binnenmarkt. Wir brauchen eine gemeinsame Infra-
struktur. Sprich: Wir brauchen mehr und nicht weniger
Europa in der Energiewirtschaft. Daran wollen wir ge-
meinsam arbeiten.
Lieber Herr Hofreiter, ich war angesichts Ihrer Rede
überrascht. Sie haben gesagt: Wir brauchen eine Be-
schleunigung der Energiewende. Frau Bulling-Schröter
hat von „Totalversagen“ gesprochen. Noch einmal: Wir
in Deutschland sind energiepolitisch Vorreiter in Europa.
Es gibt kein Land in Europa, es gibt kein Land in der
Welt, das so hohe energiepolitische Ziele hat wie
Deutschland. Wir wollen bis 2025 den Anteil der erneu-
erbaren Energien am Strommarkt auf 40 bis 45 Prozent
erhöhen, bis 2050 sogar auf 80 Prozent. Im Bereich des
Klimaschutzes wollen wir in Deutschland als nationales
Ziel bis 2020 die Emission von Treibhausgasen um
40 Prozent reduzieren. Wir wollen im Bereich Energie-
effizienz bis 2020 20 Prozent des Primärenergiever-
brauchs einsparen.
Diese drei Bereiche machen deutlich: Wir sind Schritt-
macher in Europa. Wir sind Schrittmacher in der euro-
päischen und weltweiten Energiepolitik.
Nicht nur in der Zielsetzung sind wir Schrittmacher
und an der Spitze, sondern auch in der Umsetzung.
Wir sind Weltmeister im Ausbau von erneuerbaren Ener-
gien. Wir haben einen so hohen Anteil an erneuerbaren
Energien wie kein anderes Land in der Welt: 24 Prozent
in 2013.
Wir hatten in den letzten Jahren einen Boom, den noch
nicht einmal Sie, Herr Krischer, vorhergesehen haben.
Das hat uns nicht immer nur gutgetan; auch das muss
man einmal sagen. Aber wir haben in den letzten Jahren
enorm viel aufgebaut.
Wir sind Weltmeister im Bereich der Energieeffi-
zienz. Keine Volkswirtschaft ist trotz eines starken Wirt-
schaftswachstums 2011 so effizient wie Deutschland.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Baerbock?
Ja, gerne.
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1550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
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Weil Sie gesagt haben, wir seien in allem Weltmeister,auch beim Ausbau der Erneuerbaren und beim Anteil derErneuerbaren am Strommarkt: Vielleicht können Sie ein-mal ein paar Zahlen aus anderen Ländern nennen, um zusehen, wo diese stehen.Ich möchte ein paar Zahlen nennen, die mir bekanntsind: In Costa Rica liegt der Anteil an erneuerbarenEnergien am Strommarkt bei fast 100 Prozent,
in Portugal bei 55 Prozent, und auch Dänemark könnenSie in dieser Hinsicht einmal googeln. Was sind dennIhre Zahlen, um zu vergleichen, wo die anderen Länderstehen?Sie sagen einfach, wir seien hier an der Spitze. Siekönnten das bei einer Wirtschaftsmacht differenzieren.Das haben Sie aber nicht getan. Deswegen möchte icheine Klarstellung bei solchen Behauptungen, die einfachnicht stimmen.
Wissen Sie, Ihre Frage ist zugleich auch eine Ant-wort. Wenn Sie Costa Rica mit Deutschland vergleichenwollen, dann kann ich nur sagen: Wir sind eines derwichtigsten Industrieländer der Welt. Wir sind Export-weltmeister. Wir haben eine Bevölkerung von 80 Millio-nen Menschen.
Eine solche Volkswirtschaft wie unsere gibt es nichtnoch einmal in Europa. Wir sind der Motor Europas. In-sofern sage ich: Für uns sind die Zahlen ganz anders zubewerten als für Costa Rica oder andere Länder. Insofernmöchte ich Sie bitten, auch einmal die Größenmaßstäbezu berücksichtigen. Daher nehme ich die Frage gerne zurKenntnis. Aber ich kann sie, offen gesagt, nicht ganzernst nehmen.
Wir sind Weltmeister auch im Bereich der Energieef-fizienz. Ich möchte es noch einmal betonen: Wir habentrotz unseres Wirtschaftswachstums 2011 – das war sehrgut – den Energieverbrauch um 4,8 Prozent gesenkt. Wirhaben die Energieproduktivität seit 1990 um rund40 Prozent erhöht. Die deutschen Maschinen- und Anla-genbauer sind in der Welt berühmt und geschätzt für ihreProdukte mit hoher Energieeffizienz. Auch da haben wirdie Nase vorn.Wir sind Weltmeister auch im Bereich des Klima-schutzes. Das Kioto-Ziel, das Deutschland vorrangig mitunterstützt, haben wir trotz anderer Aussagen längstübertroffen. Deutschland hatte sich vorgenommen, bei-spielsweise bis 2012 den Ausstoß der Treibhausgase um21 Prozent zu reduzieren. Tatsächlich haben wir ihn um25,5 Prozent reduziert.
Wir sind also nicht nur im Fahrplan mit unserer Reduk-tion des CO2-Ausstoßes, sondern wir sind sogar über dashinausgegangen, was wir uns vorgenommen haben, liebeFrau Höhn.Ich bitte Sie, anzuerkennen, dass wir hier Vorreitersind, unsere Ziele nicht nur einhalten, sondern sie sogarübertreffen. Ich fordere Sie nicht auf, darauf stolz zusein, aber Sie müssen immerhin anerkennen, dass dieZahlen für uns sprechen und dass wir im Bereich desKlimaschutzes wie kein anderes Land nach vorne kom-men.
Bei all den Zielsetzungen, die wir haben, und bei derUmsetzung tun wir das auch als Industrienation, wie ichvorhin beschrieben habe. Wir wollen auch in den nächs-ten Jahren Industrienation bleiben, mit einem Industrie-anteil von 23 Prozent oder vielleicht sogar noch mehr.Wenn man berücksichtigt, dass mit 50 Prozent einGroßteil des von uns produzierten Stroms in die Indus-trie fließt, dann muss man anerkennen, dass die Energie-wirtschaft die Grundlage nicht nur für die Wettbewerbs-fähigkeit unserer Produkte, sondern auch für unsereArbeitsplätze ist. Deshalb ist es nicht nur unser An-spruch, sondern auch unsere Verpflichtung, verantwor-tungsvoll mit dem Thema Energiepreise und Energiesi-cherheit umzugehen.Eine Volkswirtschaft muss auch die Kraft haben, einesolche enorme Herausforderung, wie sie schon von mei-nen Vorrednern beschrieben worden ist, stemmen zukönnen. Bei all den Erfolgen, die wir erzielt haben, dür-fen wir nicht vergessen: Wir haben beim Ausbau der er-neuerbaren Energien meines Erachtens inzwischen diewirtschaftliche und technische Belastbarkeitsgrenze er-reicht. Denn Deutschland ist zwischenzeitlich nicht nurSpitzenreiter in allen Ausbauzielen und Umsetzungs-maßnahmen geworden, sondern wir sind auch Spitzen-reiter im Bereich der Stromkosten. Im Durchschnitt lie-gen die deutschen Strompreise 45 Prozent über dem EU-Schnitt. Die Industriestrompreise liegen über 20 Prozentüber dem EU-Schnitt. Die neuesten Zahlen zeigen, dassnur noch Dänemark, Malta und Italien höhere Industrie-strompreise haben.Deshalb müssen wir jetzt den Schwerpunkt auf Wirt-schaftlichkeit und Energiesicherheit legen. Die Phase derMarkteinführung von erneuerbaren Energien ist über-schritten. Wir müssen jetzt in eine neue Phase kommen.
Deshalb besteht auch Änderungsbedarf beim EEG.Aktuell liegen schon Vorschläge vor. Wir brauchen jetzt
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Thomas Bareiß
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einen Systemwechsel. Einen verlässlichen Zubaukorri-dor für erneuerbare Energien packen wir jetzt an. Imersten Schritt müssen wir jetzt dafür sorgen, dass die Er-zeuger erneuerbarer Energien verpflichtet werden, ihrProdukt direkt am Markt zu platzieren. Damit schaffenwir Systemintegration für erneuerbare Energien, und wirschaffen Markt und Wettbewerb, der auf beiden Seitendringend gebraucht wird.Im zweiten Schritt müssen wir den zukünftigen Zu-bau ausschreiben, also auch hier einen Systemwechseleinleiten. Damit bekommen wir Verlässlichkeit für diePlanung der Infrastruktur auch im Bereich der fossilenKraftwerke und im Bereich der Speicher. Wir schaffendarüber hinaus ein System, in dem der Preis für erneuer-bare Energien vom Markt statt vom Deutschen Bundes-tag festgelegt wird. Auch das ist ein ganz wichtiger Sys-temwechsel, den wir einleiten wollen.
Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie noch eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Ja, gerne.
Danke schön. – Sie haben gerade davon gesprochen,
dass die Industriestrompreise in Europa so hoch wären.
In einem Artikel der Berliner Zeitung von gestern ging
es um die Frage, ob die Energiewende die Aluminium-
industrie bedroht. Wir beide wissen, Aluminium ist sehr
energieintensiv. In dem Artikel steht, dass man in der
Aluminiumindustrie selbst in der Energiewende über-
haupt keine Bedrohung sieht. Das schreibt die Berliner
Zeitung, die ja keine linke oder grüne Zeitung ist.
In dem Artikel heißt es weiter – ich zitiere –:
Derzeit ist die Energie für Industrieunternehmen so
billig zu haben wie seit neun Jahren nicht mehr.
Hinzu kommt, dass sich die Alu-Erzeuger von der
Ökostrom-Umlage befreien lassen können.
Soweit mir bekannt ist, liegen die Strompreise an der
Strombörse bei 3,5 Cent. Ich kann mich noch an meine
letzte Rede erinnern: Zu der Zeit lag Frankreich mit
Atomstrom bei 5 Cent.
Frau Kollegin Bulling-Schröter, Sie wollten eine
Frage stellen.
Meine Frage ist: Sind Sie der Meinung, dass in die-
sem Artikel gelogen wird?
Ich bin der Meinung, dass dieser Artikel ebenso wie Siedie Lage verzerrt darstellt. Sie müssen sehen, dass derStrombörsenpreis nicht die einzige Grundlage der Strom-rechnung ist – das gilt auch für eine Aluminiumhütte –,sondern es kommen noch weitere Faktoren hinzu. EineAluminiumhütte zahlt zwar eine vergünstigte EEG-Umlagein Höhe von 0,05 Cent pro Kilowattstunde Strom. Aberdiese Umlage ist angesichts eines Stromverbrauchs, der imTerawattstundenbereich liegt, viele Millionen Euro hoch.Damit sind die Kosten pro Arbeitsplatz in einer Alumini-umhütte mit 10 000 bis 20 000 Euro zu veranschlagen.Ich bitte Sie, einfach mit Gewerkschaftsvertretern undBetriebsräten von Aluminiumhütten zu sprechen. Diesewerden Ihnen die Situation deutlich darlegen. Dann wer-den Sie auch verstehen, dass wir hier Wettbewerbsnach-teile haben, die wir dringend beseitigen müssen. Sonstgehen die entsprechenden Wertschöpfungsketten verlo-ren. Das ist weder in unserem Sinne noch im Sinne derEnergiewende und des Klimaschutzes.
Wir trauen den erneuerbaren Energien zu, sich demMarkt zu stellen. Wir brauchen in diesem Bereich mehrMarkt und Wettbewerb. Die Vorschläge des Ministersliegen nun auf dem Tisch. Wir werden hier den Ministerunterstützen und ihm helfen, diese Vorschläge Schritt fürSchritt umzusetzen. Je früher wir das anpacken, destobesser ist es für die Energiewende.Angesichts dessen, was wir in den nächsten Wochen an-packen, ist es wichtig, dass wir die Probleme im europäi-schen Kontext schrittweise lösen. Nur so können wir dasThema Wettbewerb und Markt ganzheitlich angehen. Wirknüpfen mit dem europäischen Gedanken auch an unsereGeschichte an; denn es war immer Aufgabe der Europäi-schen Gemeinschaft, die Energieversorgung ganzheitlichzu sehen und die Probleme, die wir bei Energiesicherheitund Bezahlbarkeit der Energie sowie bei Umwelt- undKlimaschutz haben, gemeinsam zu lösen.Ich sehe hier viele Möglichkeiten der Zusammenar-beit, zum Beispiel beim Zubau von erneuerbaren Ener-gien. Dieser wird oft sehr kritisch gesehen. Aber manmuss einfach anerkennen, dass wir in Deutschlanddurchschnittlich 800 Sonnenstunden im Jahr haben,während es in Spanien 2 600 bis 2 800 Sonnenstundensind. Deshalb stellt jede Photovoltaikanlage, die in Spa-nien und nicht in Hamburg oder Berlin gebaut wird, ei-nen viel höheren Gewinn für die gesamteuropäischeEnergiewende dar. Das wäre viel effizienter und günsti-ger. Wir müssen daher darüber nachdenken, wie wir ge-meinsam die Potenziale Gesamteuropas Stück für Stückbesser nutzen können. Wir werden zwangsläufig zu einerschrittweisen Harmonisierung gewisser Fördersystemekommen müssen.Wir brauchen außerdem einen Ausbau der Infrastruk-tur. Gerade Deutschland als Herzland in Europa wirdvon einem Ausbau der Infrastruktur profitieren, insbe-sondere von einer stärkeren Energiesicherheit, aber auchvon mehr Effizienz, die wir dadurch erzielen.
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Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Lenkert?
Also gut, gerne.
Vielen Dank, Kollege Bareiß. – Ich möchte Sie fra-
gen: Sie schlugen gerade vor, Solarenergie nicht in
Deutschland, sondern in Spanien zu produzieren, weil es
dort mehr Sonnenstunden gibt. Das stimmt. Aber ist Ih-
nen bekannt, dass die Entfernung zwischen Spanien und
der Bundesrepublik Deutschland etwa 2 500 bis 3 000
Kilometer beträgt und dass pro 1 000 Kilometer mit
Übertragungsverlusten in Höhe von 30 Prozent beim
Strom zu rechnen ist? Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass
diese Übertragungsverluste mitnichten von den Solar-
stromproduzenten und der Großindustrie in Deutschland
– diese sind schließlich von den Netzentgelten befreit –,
sondern von den Verbraucherinnen und Verbrauchern
getragen werden müssen, die an den Stromtrassen leben?
Wenn der Stromverlust beim Transport von Spanien
nach Deutschland drei mal 30 Prozent beträgt, die Kos-
ten aber nur auf die Verbraucherinnen und Verbraucher
umgelegt werden und neue Stromtrassen notwendig wer-
den, ist es dann aus Ihrer Sicht wirtschaftlich noch sinn-
voll, Solarstrom aus Spanien mithilfe der bestehenden
Netze nach Deutschland zu transportieren?
Lieber Kollege, ich erkenne an, dass wir beide an-
scheinend das gleiche Ziel haben, Strom zu bezahlbaren
Preisen zu produzieren. Wenn wir sehen, dass andere
Länder in Europa drei- bis viermal so viele Sonnenstun-
den haben wie wir in Deutschland, dann muss uns das
zum Nachdenken anregen. Sie wissen genauso gut wie
ich, dass es schon heute Technologien gibt, die die Über-
tragungsverluste deutlich verringern. Bei einer Hoch-
spannungsgleichstromübertragung liegt der Verlust nicht
bei 30 bis 40 Prozent, sondern bei maximal 3 bis 4 Prozent.
Angesichts dessen ist es bedenkenswert, ob solche Leitun-
gen in Europa Sinn machen und dafür geeignet sind, zu-
künftige starke Produktionszentren mit Lastzentren zu ver-
binden, die zum Beispiel in Süddeutschland liegen. Das
machen wir auch schon in Deutschland. Wir versuchen, in
den nächsten Jahren den Zubau von Windenergieanlagen in
Norddeutschland besser zu organisieren, weil es dort mehr
Volllaststunden gibt. Damit der Süden Deutschlands genü-
gend Strom bekommt, brauchen wir aber Gleichstromüber-
tragungsleitungen. Das machen wir auch hier. Deshalb
glaube ich, dass wir nicht nur national denken sollten,
sondern dass wir mehr europäisch denken sollten. Das
betrifft aber auch andere Bereiche, in denen wir die Nase
vorne haben. Es macht Sinn, darüber nachzudenken. Un-
ter dem Strich wäre eine solche Lösung vielleicht sogar
günstiger als das, was wir heute machen.
Wir brauchen neben dem Ansatz einer ganzheitlichen
Betrachtung der erneuerbaren Energien auch einen An-
satz, der die konventionellen Kraftwerke berücksichtigt.
Wir werden auch in den nächsten Jahren stärker schauen
müssen, wie wir den Zubau von effizienten konventio-
nellen Kraftwerken, die wir als Ergänzung zu volatilem
Sonnen- und Windstrom auch noch brauchen, gemeinsam
in Europa angehen. Wir brauchen gemeinsame Mechanis-
men – ich möchte nicht von Kapazitätsmechanismen spre-
chen – und Überlegungen, wie wir nicht nur national, son-
dern auch international vorgehen. Wir schaffen Instrumente
und Rahmenbedingungen, damit die Errichtung von sol-
chen Kraftwerken möglich wird.
Wir werden auch in dem zukünftigen Strommix Kern-
energie haben, Strom aus Kernenergie wird also auch
nach Deutschland gehen. Deshalb müssen wir auch hier
gemeinsame Standards finden. Das liegt in unserem ge-
meinsamen Sicherheitsinteresse. Auch das ist mir ein
wichtiges Anliegen.
Mein letzter Punkt betrifft den Klimaschutz. Auch
den müssen wir gemeinsam anpacken. Das habe ich
schon zu Beginn erwähnt. Wir brauchen auch in diesem
Bereich gemeinsame europäische Ziele. Der Kollege
Pfeiffer hat zu Recht gesagt, wir müssten überlegen, ob
wir das CO2-Ziel als oberstes Ziel thematisieren. Wir
brauchen nicht zwei oder drei Ziele, sondern es macht si-
cherlich Sinn, sich auf ein Ziel zu konzentrieren. Andere
Ziele werden sich diesem obersten Ziel unterordnen.
Unsere Ziele sind anspruchsvoll und eine Herausfor-
derung. Wir haben Enormes vor. Noch einmal: Die Ener-
giewende kann nur gelingen, wenn wir sie besser euro-
päisch einbetten. Wir wollen dieses Projekt gemeinsam
starten.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Bareiß. – Ich erteile jetzt
der Kollegin Caren Lay, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich möchte gerne auf das Thema der Indus-trieprivilegien zu sprechen kommen. Wir haben es ge-hört: Über 2 000 Industrieunternehmen sind inzwischenvon diversen Bestandteilen ihrer Stromrechnung befreit,die dann die Verbraucherinnen und Verbraucher und dienicht befreiten Unternehmen für sie mitbezahlen. Dasüberprüft gerade die EU. Die Bundesregierung klagt da-gegen. Ich habe von den Rednern der Koalition bisherfast nichts dazu gehört, außer dass sie das in der bisheri-gen Form verteidigt haben; denn sie haben gesagt, dassichere Arbeitsplätze und den Standort Deutschland.Ich finde, wir müssten all denjenigen, die dieser De-batte zuhören, die ganze Wahrheit sagen. Die ganzeWahrheit bedeutet, dass die Anzahl der befreiten Unter-
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Caren Lay
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nehmen nicht nur enorm angestiegen ist, sondern dassdie gesamte Konstruktion dieser sogenannten Industrie-rabatte auch erhebliche Pferdefüße hat. Erstens. Sozial-politisch heißt das nichts anderes, als dass beispielsweiseder Hartz-IV-Empfänger oder die alleinerziehende Mut-ter für den Braunkohlekonzern Vattenfall die Stromrech-nung mitbezahlen. Finden Sie das sozial gerecht? Wirnicht.
Zweitens. Großbäckereien sind zum Teil von Strom-kosten befreit, der Handwerksbäckerbetrieb an der Eckeist es aber nicht. Das hat doch nichts mit dem StandortDeutschland zu tun. Das ist einfach nur wirtschaftspoliti-scher Unsinn.
So manches Unternehmen nimmt die derzeitige Rege-lung zu Industrierabatten zum Anlass, um feste Beschäf-tigung in Leiharbeitsverhältnisse umzuwandeln. Wa-rum? Sie rechnen ihre Arbeitskosten künstlich herunterund können dann als Ergebnis dieser sinnlosen Regelungauch noch Stromkosten auf Kosten aller anderen Ver-braucher einsparen. Das hat mit guter Arbeitsmarktpoli-tik überhaupt nichts zu tun. Das ist eine Einladung zumLohndumping. Deswegen lehnen wir das ab.
Andere Firmen rechnen ihre Stromkosten künstlichhoch. Festtagsbeleuchtung am Wochenende, man lässtauch einmal eine Maschine über Nacht laufen. Am Endewird man auch noch dafür belohnt. Wir sagen: Das isteine Einladung zur Energieverschwendung. So wie bis-her kann es nicht bleiben.
Meine Damen und Herren, zur ganzen Wahrheit ge-hört, dass über 5 Milliarden Euro von Otto Normalver-braucher und Erika Mustermann für die privilegiertenUnternehmen an Stromkosten mitbezahlt werden. Wirmüssen an die Industrieprivilegien in der bestehendenForm herangehen; denn so kann es nicht bleiben.
Herr Pfeiffer, wenn Sie hier schon den StandortDeutschland bemühen, dann möchte ich dazu etwas sa-gen. Wenn wir über Wirtschaftspolitik und Arbeitsplätzereden, dann möchte ich, bitte schön, dass wir auch überdie 400 000 Arbeitsplätze sprechen, die im Bereich dererneuerbaren Energien in den letzten Jahren entstandensind. Die Vorgängerregierung hat mit ihrer verfehltenPolitik dafür gesorgt, dass schon Zehntausende Arbeits-plätze in der Solarbranche eingegangen sind, viele davonin Ostdeutschland. Das ist eine Form von Deindustriali-sierung, die wir als Linke ablehnen.
Deswegen muss ich auch sagen: Das, was Sie derzeit inForm der EEG-Novelle vorhaben, hat mit einer nachhal-tigen Wirtschaftspolitik nichts, aber auch überhauptnichts zu tun.Ich sage: Wenn diese Regierung nur halb so vielEnergie darauf verwenden würde, das System der Indus-trieprivilegien zu reformieren anstatt den Ausbau der er-neuerbaren Energien zu deckeln, dann wären wir schonein ganzes Stück weiter.
Meine Damen und Herren, auch wir Linke lehnen dieIndustrieprivilegien nicht komplett ab; aber wir wollensie an sinnvolle Kriterien koppeln. Das erste Kriteriumwäre, dass ein Unternehmen tatsächlich im internationa-len Wettbewerb steht. Das zweite Kriterium wäre, dassein Unternehmen technologiebedingt energieintensivproduziert. Entschuldigen Sie, das kann ich weder beieiner H&M-Filiale noch bei einem Golfplatz noch beieiner Saunaanlage erkennen. Das dritte Kriterium wäre– da gehen wir über die Vorschläge im Antrag der Grü-nen hinaus –:
Industrierabatte kann es nur dann geben, wenn es tat-sächlich verbindliche Energieeinsparziele gibt. Ansons-ten bleibt es nämlich bei dieser Einladung zur Energie-verschwendung, und das kann so nicht bleiben.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Dieser Vorschlag wäre EU-konform. Er wäre sozial ge-recht und würde uns dieses Beihilfeverfahren ersparen.Mit unseren Vorschlägen zur Energiepolitik, die wir ges-tern vorgestellt haben, würde eine durchschnittlichedeutsche Familie im Jahr über 180 Euro an Stromkostensparen, ohne dass wir den Ausbau der erneuerbarenEnergien aufs Spiel setzen würden. Daran könnten Siesich vielleicht einmal ein Beispiel nehmen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Dirk Becker, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn so viele Redner vor einem gesprochen haben,besteht immer das Problem, dass man von seinem Rede-manuskript eigentlich abweichen muss, weil es einigesklarzustellen gibt.
– Danke, Herr Staatssekretär.Ich darf feststellen, dass sich die Frage stellt: Wo isteigentlich der Minister? Während wir hier Anträge bera-ten, während sich einige lohnenswerte Gedanken ma-chen, verhandelt er derzeit mit der EU. Niemand weiß,wie das Ganze ausgeht. Sie alle wissen ja, bereits seitDezember wird verhandelt. Also brauchen wir jetzt
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Dirk Becker
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keine Empfehlung, genau dies zu tun. Wir gehen davonaus, dass wir mit Blick auf die Besondere Ausgleichsre-gelung relativ zeitnah Erfolg haben.
– Herr Krischer, Sie werden wissen, was die Bundes-regierung will, wenn man sich mit der EU geeinigt hat.Eines ist, strategisch gesehen, relativ clever:
Wenn man unterschiedliche Positionen zueinanderbrin-gen will, dann sollte man den anderen nicht über dieÖffentlichkeit in die eigenen Karten gucken lassen.
Seien Sie sich sicher, dass folgende Dinge gelten:Wir brauchen ein europarechtskonformes EEG. DieBesondere Ausgleichsregelung, Frau Lay, ist einer derPunkte, weswegen das EEG-Beihilfeverfahren läuft. Siehaben recht: Die Ausweitung der Besonderen Aus-gleichsregelung, die zu Fehlentwicklungen geführt hat– deren Beurteilung ich teile –, ist der Grund dafür. Wirwerden dafür sorgen, dass die stromintensiven Unterneh-men im internationalen Wettbewerb mit Blick auf dieArbeitsplätze in Deutschland erhalten bleiben, dass esaber in den Bereichen zu einer Reduzierung kommt, woeine solche Regelung einfach nicht verantwortbar ist.Das dafür notwendige Vertrauen hat der Minister.
Ähnlich wie der Kollege Pfeiffer danke ich den Grü-nen für diese Debatte. Ich danke ihnen aber auch, weilwir endlich wieder über Klimapolitik und Wirtschafts-politik reden. Das sind keine Gegensätze, sondern wirmüssen sie beide gemeinsam erfolgreich betreiben.
Frau Verlinden, ich will über das Thema Zieltrias,über die Ziele der Bundesregierung hier jetzt nicht mehrgroß reden. Sie haben vom Ministerium eine schriftlicheStellungnahme zu Ihrer Anfrage bekommen. Darin steht,dass die Regierung für die Zieltrias ist. Wir sind alsoauch hier für ambitionierte Werte.
– Lieber Oliver Krischer, es ist doch so einfach, sichhierhinzustellen und zu behaupten: Die Regierung ver-hindert, dass die EU sich auf das Ziel festlegt, die CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu redu-zieren.Schauen wir einmal zurück auf die Verhandlungen.Das Schlimme ist: Sie wissen ja, wie das Ganze gelaufenist. Dass überhaupt 40 Prozent erreicht wurden, ist nichtgegen, sondern wegen Deutschland erreicht worden.
In den Verhandlungen, in denen die Naturschutzver-bände 55 Prozent gefordert haben und wir bei unter40 Prozent waren, hat es SMS-Verkehr zwischen denOrganisationen und den Verhandlungspartnern gegeben.Dort hieß es: Wenn ihr 40 Prozent abschließen könnt,dann macht das. In diesem Moment ist es dann genug. –Dann kann man sich nicht zwei Stunden später hinstellenund sagen: Es ist alles zu wenig. Hier muss man einmalsagen: Wir danken dieser Bundesregierung, die diesmöglich gemacht hat. Das gehört zum Verfahren.
Ich bin aber auch bei Ihnen. Europäische Energiepoli-tik hört sich super an.
– Das Einzige, was bitter ist, ist, dass Sie nicht mitspie-len können. Deshalb sind Sie sauer. Opposition ist Mist.Ich weiß das.
Herr Krischer, ich will Ihnen Folgendes sagen. Es isteinfach, sich hierhinzustellen und zu sagen, die Bundes-regierung ist schuld, dass die 55 Prozent nicht durch-gesetzt wurden. Das habe ich gerade gesagt. Es ist bei-spielsweise auch einfach, zu sagen: Ihr müsst sehen, dassdas Thema Kernenergie als Klimaschutzinstrumentherausgenommen wird.Ich will eines ganz klar sagen: Ich bin in der Sachebei Ihnen. Aber: Wenn Deutschland sagt: „Wir machenkeine Vereinbarungen mit, in denen das Thema Kern-energie als Klimaschutzinstrument steht“, dann versagenuns im Gegenzug die Briten die Zustimmung zu den40 Prozent. In Europa haben wir ein Einstimmigkeits-verfahren und kein Mehrheitsverfahren. Europa bestehtaus mehr Staaten als aus Deutschland. Wir können imBundestag nicht Richtung Europa gehen und sagen:Macht das mal alle nach. – Die Realität der Energiepoli-tik in Europa ist eine andere. Gucken Sie nach Polen,gucken Sie nach England, gucken Sie nach Frankreich.Da ist es zu leicht, zu sagen: Die Bundesregierung istschuld, dass nichts passiert. – Der Unterschied zuDeutschland ist: Bei uns wird die Energiewende sehrstark von den Menschen im Land getragen. Im Endeffekthat die Politik das aufgenommen, was die Menschen indiesem Land wollten. Fukushima war der entscheidendeFunke, dass alle mitgemacht haben. Nehmen wir dochbitte einmal zur Kenntnis, dass in Polen, Frankreich undGroßbritannien die Debatte anders läuft.Gestern hatte ich eine Delegation aus Asien zu Gast.Sie sagten: Wir finden super, was ihr macht. Wir wollendas auch. Bei uns zu Hause interessiert es keinen Men-schen. Wie können wir Anreize schaffen? Wenn wir diespolitisch durchsetzen wollen, bekommen wir keine Un-terstützung.Wenn wir die Ziele in weiten Bereichen teilen, dannmüssen wir einen europäischen Prozess in Gang setzen,der von den Menschen getragen wird. Wir Deutsche dür-
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fen nicht sagen: Wir stülpen euch etwas über. – Dafürbekommen wir keine Mehrheit. Das muss man in derrealistischen Einschätzung der Europapolitik ausspre-chen.
Ich möchte kurz auf ein paar weitere Punkte einge-hen.Ich habe gerade etwas zur Besonderen Ausgleichs-regelung gesagt. Hier erspare ich mir weitere Ausfüh-rungen.Wir haben ein zweites großes Problem: Das ist derEmissionshandel. Der Emissionshandel ist ein Haupt-grund, warum viele andere geplante Maßnahmen zurzeitfinanziell erschwert werden. Wir sehen zur Börse. DerEmissionshandel hat unmittelbare Auswirkungen aufden Börsenstrompreis in Deutschland. Es ist aber auchTatsache, dass der Anteil des Braunkohlestroms und dieCO2-Emissionen zunehmen. Es ist doch völlig klar, dasswir dort handeln müssen. Ich verweise auf die Bundes-umweltministerin, die das getan hat. Sie hat eindeutiggesagt: Wir müssen beim Emissionshandel nicht die900 Millionen Zertifikate aus dem Handel nehmen – ichwill dem Kollegen Schwabe nicht alles vorwegnehmen;er wird das gleich noch ausführen –, wir brauchen die2 Milliarden, und zwar schon 2016. Dann muss man inden Verhandlungen die Mehrheiten organisieren. Klar istdoch, dass auch wir diese Entwicklung kritisch sehen.Wenn es so weitergeht, haben wir ein Problem mit denKlimazielen; das muss man einmal aussprechen.Ich sage Ihnen eines: Die EEG-Novelle zu kritisieren,sie würde es an dieser Stelle verhindern, geht fehl. Dasist nicht zutreffend. Diese Bundesregierung hat an meh-reren Stellen, auch durch den Bundesminister für Wirt-schaft und Energie, deutlich gemacht, dass das ThemaEnergieeffizienz jetzt wieder den Platz auf der Tagesord-nung einnimmt, den es verdient und den es beim letztenBundeswirtschaftsminister in dieser Form nicht gehabthat, wenn es bei ihm überhaupt einen hatte. Das will ichzugestehen. Wir werden – das hat der Minister zuge-sagt – bezüglich der Umsetzung der Energieeffizienz-richtlinie so schnell wie möglich liefern. Vielleicht war-ten Sie die Lieferung ab und entscheiden dann. Ichglaube, dass auch Sie an diesem Punkt viel Übereinstim-mung finden werden.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich,
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist schon bedauerlich, wie es manchmal so mit dem Ge-dächtnis ist. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wirnicht mit doppelten Standards agieren. Der Beschlusszum Atomausstieg in Deutschland, der mit dem Be-schluss verbunden war, viel mehr erneuerbare Energienzu erzeugen, und auch die Bestrebungen der Europäi-schen Union werden natürlich konterkariert, wenn derBundeswirtschaftsminister in die Ukraine fährt und sagt,die Europäische Union solle Strom aus der Ukraine im-portieren. Denn über 90 Prozent der Stromerzeugung derUkraine stammen aus Kohle und Atom. Wie man dannnoch als Energieminister im Deutschen Bundestag eineglaubwürdige Politik betreiben will, ist vollkommenfraglich.
Eine europäische Energiewende im Interesse derMenschen und der Umwelt hat eine klare Absage an nu-kleare und fossile Energieträger zur Voraussetzung. AberGabriels doppelgleisige Irrfahrt durch die Energie- undKlimapolitik und auch die Vorliebe für nukleare und fos-sile Energieträger bilden leider keine Ausnahme, wederauf deutscher noch auf EU-Ebene. Eine Schwäche fürfossile Energieträger offenbaren die jetzt von der EU-Kommission vorgeschlagenen EU-Energie- und -Klima-ziele. Sie spiegeln deutlich die Interessen der energiein-tensiven Industrie und der Stromkonzerne wider, undzwar zulasten eines sozial-ökologischen Umbaus der eu-ropäischen Energieversorgung. Bleibt die EU bei diesemkaum ambitionierten Kurs, blockiert sie damit alle nochverbleibenden Möglichkeiten, den Klimawandel undseine katastrophalen Auswirkungen auf Menschen undUmwelt einzudämmen.
Ganz offensichtlich ist das von der EU-Kommissionaber genau so gewollt. Nicht die Interessen der Men-schen und der Umwelt, sondern die Interessen der ener-gieintensiven Industrien und der Atomlobby werden mitsolchen Zielen geschützt. Das zeigt sich zum Beispieldaran, dass Fracking als europaweite Alternative gehan-delt wird. Die Linke lehnt diese Technologie ab, die un-verantwortliche Risiken für Bevölkerung und Umweltbirgt, insbesondere auch für das Trinkwasser.
Weil hier so viel von dem Problem geredet wird, dassunsere Nachbarländer noch auf Atomstrom setzen,möchte ich sagen: Es ist zwingend notwendig, dass wirendlich mit Euratom Schluss machen.
Es kann doch nicht sein, dass über Euratom in den letz-ten fünf Jahren fast 4 Milliarden Euro in eine Energie-form investiert wurden, die wir eigentlich abschaffenwollen. Deshalb müssen wir aus Euratom aussteigen.Dazu eine Kritik am Grünen-Antrag: Sie wollen die
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1556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Alexander Ulrich
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Energiewende europäisch verankern, aber gehen in Ih-rem Antrag überhaupt nicht auf Euratom ein.
Aber man erreicht keine Energiewende, ohne das Themaanzufassen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss auch end-lich damit Schluss sein, dass wir den Bau von Atomreak-toren in der ganzen Welt mit Hermesbürgschaften finan-ziell absichern. Wenn das weiterhin betrieben wird, istdas eine unglaubwürdige Politik.
Der Klimawandel, aus dem globale Probleme erwach-sen, ist nur mit konsequenten und ehrgeizigen Klima-zielen zu stoppen. Die Linke fordert deshalb die Bundes-regierung auf, sich auf EU-Ebene für eine Reduktion derTreibhausgasemissionen um mindestens 60 Prozent,
für eine Steigerung des Anteils der erneuerbaren Ener-gien an der Stromversorgung auf 45 Prozent und für eineEnergieeinsparung von 40 Prozent im Endenergiever-brauch bis zum Jahr 2030 einzusetzen. Die Linke forderteine europaweite Energiewende, bei der auf nachhaltigeEnergiequellen gesetzt wird, um eine klimafreundliche,für alle Menschen bezahlbare und sichere Energieversor-gung zu ermöglichen. Mit der jetzigen EU-Energie- und-Klimapolitik werden wir dieses Ziel jedenfalls nicht er-reichen.
Morgen wird EU-Energiekommissar GüntherOettinger mit Mitgliedern des EU-Ausschusses spre-chen. Seine Zuneigung zu gefährlichen Technologienwie der Atomenergie und dem umstrittenen Fracking istallseits bekannt. Es bleibt nur zu hoffen, dass seineAmtszeit als EU-Kommissar für Energiefragen in die-sem Jahr endgültig abläuft.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Die Ener-giewende europäisch zu verankern, ist mit einem sol-chen EU-Kommissar nicht möglich.Vielen Dank.
Als nächster Redner spricht für die CDU/CSU der
Kollege Karl Holmeier.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien soschnell wie möglich erreichen. Bis 2050 wollen wir un-sere Energieversorgung zu 80 Prozent aus erneuerbarenEnergien decken. Gleichzeitig wollen wir aber auch,dass Energie bezahlbar, sicher und umweltverträglich istund bleibt. Anders als Sie, meine sehr verehrten Kolle-ginnen und Kollegen von den Grünen, arbeiten wir mitNachdruck an der Erreichung dieses Zieles. Wir stellenkeine Anträge mit inhaltlich verfehlten Forderungen,sondern wir handeln. Deshalb sind wir auch an der Re-gierung.
Klar ist, dass es die für den Umbau der Energieversor-gung notwendigen Maßnahmen natürlich nicht zumNulltarif gibt. Daraus haben wir auch niemals einenHehl gemacht. Im Gegensatz zu Ihnen haben wir denKostenanstieg kommen sehen. Hinzu kommt, dass wiruns mit einer Menge von Altlasten aus Ihrer Regierungs-zeit herumschlagen müssen.
Ich könnte hierbei noch auf die Bereiche Netzausbau,Ersatzkapazitäten und Speicher eingehen. Denn dort ha-ben Sie vieles versäumt.Ich möchte mich auf den Bereich der erneuerbarenEnergien beschränken, weil alles andere zum Teil schonangesprochen worden ist. Nehmen wir doch einmal diePhotovoltaik und die Entwicklung der Vergütungssätzebei den Freiflächenanlagen als Beispiel. 2003/2004 wa-ren es 45,7 Cent pro Kilowattstunde. 2005 waren es 43,4Cent pro Kilowattstunde. Nachdem wir das EEG 2009und 2012 novelliert haben, liegen wir aktuell bei einemVergütungssatz von 13,5 Cent pro Kilowattstunde. DieseZahlen muss man wahrscheinlich nicht weiter kommen-tieren.Einen weiteren wichtigen Schritt zur Beseitigung Ih-rer Altlasten und hin zu einer Dämpfung des Kostenan-stiegs bei den erneuerbaren Energien gehen wir mit derjetzt anlaufenden Reform des EEG.
Mit der Einführung der verpflichtenden Direktvermark-tung und der Festschreibung des Systemwechsels hinzum Ausschreibungsmodell werden wichtige Grundla-gen für eine marktwirtschaftlichere Ausrichtung deskünftigen EEG gelegt. Auch wenn es an der einen oderanderen Stelle noch Änderungsbedarf geben wird, gehendie Regulierungen sicherlich in die richtige Richtung.Wir sollten darüber hinaus den Mechanismus zur Be-rechnung der EEG-Umlage unter die Lupe nehmen.
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Karl Holmeier
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Wenn eine feste Einspeisevergütung gezahlt wird, die er-neuerbaren Energien aber gleichzeitig eine strompreis-dämpfende Wirkung an den Spotmärkten entfalten, wirddie EEG-Umlage zwangläufig immer weiter steigen.Das kann so nicht bleiben.
In den Strompreisen wird sich eine Überarbeitung desEEG erst mittel- und langfristig bemerkbar machen.Deshalb müssen wir auch darüber nachdenken, wie wirdie Verbraucher kurzfristig entlasten können. Denkbarwäre zum Beispiel, dass die EEG-Umlage bei einem be-stimmten Betrag gedeckelt und der durch diese Einnah-men nicht gedeckte Teil der Kosten anderweitig finan-ziert würde.
Zwei Modelle wären denkbar, auch wenn sie vonmanchen zurzeit vielleicht noch kritisch gesehen wer-den. Möglich wären die Zwischenfinanzierung über ei-nen Fonds oder die Finanzierung durch Einnahmen ausder Stromsteuer. Bei der Zwischenfinanzierung durch ei-nen Fonds würde der Betrag, der einen jährlichen Deckelübersteigt, zunächst aus dem Fonds und nicht durch dieStromkunden beglichen. Sobald die EEG-Umlage nomi-nell wieder unter den Deckel sinkt, würde der Fondsseine Auslagen erstattet bekommen. Dazu würde dieUmlage so lange bei dem Deckel belassen, bis der Fondsauf null zurückgeführt ist. Denkbar wäre auch eine Fi-nanzierung des den Deckel übersteigenden Betragsdurch die Stromsteuer.Warum sollte man in der Debatte zum EEG nicht auchüber solche Modelle diskutieren? Auf diese Weise ließesich die Belastung für den Stromkunden durch die Kos-ten für das EEG konstant und damit kalkulierbar halten.Das Verfahren würde somit eine Glättung und gegebe-nenfalls eine zeitliche Streckung der Belastung für dieStromverbraucher bewirken und könnte damit große Be-lastungsunterschiede zwischen den Generationen ver-meiden.Sie sehen dies wahrscheinlich ganz anders, verehrteDamen und Herren von den Grünen.
Das zeigt sich auch deutlich an den Forderungen in Ih-rem Antrag. Sie bezeichnen das bisherige Einspeisever-gütungssystem als effizient und fordern seine Fortset-zung.
Zudem fordern Sie die Rücknahme der geplanten Um-stellung auf Ausschreibungsverfahren. Man sieht an die-ser Stelle deutlich, dass Sie immer noch nicht verstandenhaben, worum es eigentlich geht.
Das zeigt sich auch am Beispiel der Entlastungen derenergieintensiven Industrien. Wir verfolgen den Ansatz,dass wir die Bezahlbarkeit von Energie für alle Verbrau-cher, das heißt, für unsere Bürgerinnen und Bürger ge-nauso wie für unsere Wirtschaft, gewährleisten wollen.Das ist gerade in der Zukunft absolut notwendig.Hierzu gehört auch, dass wir der energieintensiven In-dustrie unter die Arme greifen, damit sie ihre internatio-nale Wettbewerbsfähigkeit erhalten kann. Zwischen denZeilen Ihres Antrags muss ich lesen, dass Sie daran nichtinteressiert sind;
denn Sie sprechen sich für Einschränkungen an dieserStelle aus. Ich frage mich allerdings, wie Sie dann si-cherstellen wollen, dass Deutschland ein wettbewerbsfä-higer Industriestandort bleibt und unsere Unternehmen– wie von den Linken angesprochen – nicht ins Auslandabwandern.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Die Chemiepro-duzenten in Deutschland zahlen 61 Prozent höhereStrompreise als ihre Wettbewerber in Frankreich.Deutschland liegt mit 14 Prozent deutlich über demDurchschnitt aller 28 EU-Staaten. Diesen staatlich be-gründeten Wettbewerbsnachteil dürfen wir nicht weiterverschärfen.Es ist interessant, dass gerade Sie von den Grünendiese Entlastungen ständig verteufeln, obwohl Sie dieseselbst eingeführt haben; was auch richtig war.
Darüber hinaus waren Sie es, die 2003 mit der zweitenNovelle zum EEG die Ausnahmen ausgedehnt haben.Ich darf eine Rede von Herrn Trittin aus der drittenLesung vom 13. November 2003 zitieren:
Deswegen haben wir dafür Sorge getragen, dassbeispielsweise nicht nur große, sondern auch mitt-lere Unternehmen von der Härtefallregelung profi-tieren können …
Hier sieht man einmal mehr, dass Sie Politik nicht mitVernunft, sondern nach Belieben machen.
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Karl Holmeier
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Dabei nehmen Sie sogar in Kauf, sich selbst zu wider-sprechen.
Wir jedenfalls sind der Meinung, dass es vor demHintergrund der neuesten Entwicklungen der EEG-Um-lage – sie liegt jetzt bei 6,24 Cent pro Kilowattstunde –umso gerechtfertigter ist, die energieintensiven Indus-trien zu unterstützen. Deshalb setzen wir uns in den lau-fenden Gesprächen mit der EU-Kommission dafür ein,zu einer angemessenen Lösung zu kommen.Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien soschnell wie möglich erreichen. Wir wollen die Bezahl-barkeit der Energieversorgung auch in Zukunft sicher-stellen. Wir sind die Koalition, die das kann. Mit unsererEnergiepolitik sind wir auf dem richtigen Weg. Deshalblehnen wir den Antrag der Grünen ab.Danke schön.
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Dr. Nina
Scheer, SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Energiewende ist eine grenzüber-schreitende Aufgabe. Insofern ist, wie alle Vorredner be-reits verdeutlicht haben, das Thema des Grünen-Antrags„Die Energiewende europäisch verankern“ richtig undwichtig. Bei der Betrachtung, wie sich dies in und fürEuropa vollzieht, sollte auch einbezogen werden, welcheMechanismen in der Vergangenheit wie gewirkt haben.Die Thematik verlangt von uns, das Verhältnis zwi-schen EU-Vorgaben und nationalen Regelungen grund-legend und sinnvoll auszutarieren und die auf europäi-scher Ebene zu verankernden Regelungsinhalteumfassender und genauer zu benennen. Hierzu zähltauch, eine europaweite Koordinierung der Best-Practice-Erfahrungen vorzunehmen, statt Europa nur als eineHarmonisierung „von oben“ zu begreifen. Der aufGrundlage der Zieltrias für Klimaschutz, erneuerbareEnergien und Energieeffizienz etablierte Systemwettbe-werb hat sich mehr als bewährt und sollte nicht grundlosaufgegeben werden.
Mit dem EEG und der Vorrangregelung für erneuer-bare Energien hat Deutschland bei einigen Erneuerbare-Energien-Trägern, insbesondere bei Wind-Onshore,Photovoltaik, aber auch bei Biogastechnologie und Was-serkraft, entscheidend zur technologischen Weiterent-wicklung beigetragen, sodass diese Technologien nun ander Schwelle zum wirtschaftlichen Durchbruch stehen.Allein hierdurch trägt Deutschland schon zu einer euro-päischen und internationalen Energiewende bei. Um eineffektives Ineinandergreifen zwischen EuropäischerUnion und nationaler Ebene für die Energiewende zu ge-währleisten, hat es sich bewährt, auf der europäischenEbene die gemeinsame Richtung für die Energie- undKlimapolitik vorzugeben, aber die jeweilige Ausgestal-tung den Mitgliedstaaten zu überlassen, sowohl mitBlick auf die sektorale Aufteilung als auch auf die Wahlder Mittel. Dies entspricht auch den Erfordernissen desVertrags von Lissabon und dem dort festgeschriebenenSubsidiaritätsprinzip. Die Notwendigkeit, das hiermitbenannte Verhältnis zwischen EU-Vorgaben und mit-gliedstaatlichem Handeln sinnvoll auszutarieren, möchteich an folgenden Beispielen kurz benennen.Mithilfe des Entwurfs der Beihilfeleitlinien, der unteranderem Ausschreibungen für erneuerbare Energien vor-sieht, versucht die Wettbewerbsdirektion derzeit, übereinen Beihilferahmen eine Art EU-Förderpolitik für er-neuerbare Energien zu etablieren. Dies ist weder syste-matisch noch politisch akzeptabel und kann mit Blickauf das Subsidiaritätsprinzip auch rechtlich nicht zuläs-sig sein. Insofern, Herr Pfeiffer, möchte ich an dieserStelle kurz noch einmal klarstellen: Wenn unser Bundes-wirtschafts- und -energieminister sich derzeit dafür ein-setzt, im Kontext der Besonderen Ausgleichsregelungmit der EU-Kommission zu einer Einigung zu gelangen,dann bedeutet das keineswegs, dass an dieser Stelle Sou-veränitäts- und Gestaltungshoheiten abgegeben werdensollen und hiermit eine Harmonisierung vorgenommenwird. Diese ist eben nicht Kern des Auftrages, den erdort wahrnimmt.Am Beispiel des Energiebinnenmarktes möchte ichauch noch auf etwas anderes hinweisen: In einem EU-Energiebinnenmarkt können mittels einer verstärktenVernetzung der Energie- und Strommärkte und durch ei-nen stärkeren Austausch mit den Nachbarstaaten dieKosten für den Umbau unseres Stromsystems deutlichgesenkt werden. Mit einer größeren Verteilung geradeder fluktuierenden erneuerbaren Energien wird die Netz-und Systemintegration erleichtert, da es sowohl bei derPrognose als auch bei der Bereitstellung von Ergänzungs-kraftwerken zu Ausgleichseffekten kommt. Dieser zutref-fende Umstand wird aber leider häufig – fehlgeleitet – alsArgument für zentrale Versorgungsszenarien angeführt.An dieser Stelle an meinen Koalitionspartner dochauch die leise Kritik an den von Ihnen, Herr Bareiß, an-geführten Szenarien. Dass es effizienter ist, Photovoltaikinsbesondere in Spanien auszubauen mit einem Minushierzulande – so habe ich Sie jedenfalls verstanden –,wage ich doch zu bezweifeln.
Richtigerweise funktionieren die genannten Aus-gleichseffekte einer verstärkten Vernetzung aber nur beieiner dezentralen Strom- und Energieversorgung. Dashabe ich mit meiner Kritik gerade schon angemerkt. DerGroßteil der Strom- und Energiebereitstellung erfolgt
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nämlich in Regionen, die damit jeweilig die Potenzialefür einen gegenseitigen Austausch vorhalten können.Dieser erfolgt zwischen den Regionen. Folglich mussdie Möglichkeit zur dezentralen Steuerung für den Aus-bau erneuerbarer Energien in den Händen der Mitglied-staaten liegen. Weil es bei zeitweiligen Stromüberschüs-sen zu nicht geplanten Übertragungen in benachbarteStromsysteme kommt – das sind die sogenannten Ring-flüsse über Polen und Tschechien bis nach Süddeutsch-land –, gibt es vonseiten der EU-Kommission derzeit Er-wägungen, diesem Umstand in Form einer Abschaffungder einheitlichen Preiszone Deutschland/ÖsterreichRechnung zu tragen. Damit gäbe es innerhalb Deutsch-lands unterschiedliche Preiszonen und damit unter-schiedliche Großhandelspreise.Eine effektivere Antwort auf die genannte Problema-tik, die gleichzeitig einen kosteneffizienten Ausbau dererneuerbaren Energien und damit auch eine entspre-chende Auslegung der Erneuerbare-Energien-Anlagengewährleisten würde, wäre die Einführung einer soge-nannten Generator- oder G-Komponente, so wie sie auchder Koalitionsvertrag vorsieht. Danach würden sich allezukünftigen Erzeuger, auch die von erneuerbaren Ener-gien, an den von ihnen mit verursachten Netzausbaukos-ten beteiligen. Dies vermittelt ein Allokationssignal fürdie optimale Standortwahl mit den geringsten Gesamt-systemkosten. Die Wahl solcher Instrumente setzt abervoraus, dass die Handlungsoption zur Wahl der bestenMittel für Mitgliedstaaten oder Regionen erhalten bleibtund nicht einzelne Instrumente EU-weit vorgegebenwerden; denn das würde der Möglichkeit zur Wahl ent-gegenstehen.Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass aufgrund deszunehmenden Anteils erneuerbarer Energien die Regelnfür die Ausgestaltung von Ausgleichsenergiesystemenund der Netzentgeltstruktur angeglichen werden müssen.Bei der Ausgestaltung dieser Netzkodizes im Rahmender europäischen Verankerung der Energiewende mussdarauf geachtet werden, dass der Umstieg auf erneuer-bare Energien nicht erschwert bzw. verteuert wird.
Dem muss man sich insbesondere bei der Bundesnetz-agentur – damit möchte ich auch meine Kollegen imBeirat der Bundesnetzagentur ansprechen – widmen.Die Energiewende europäisch verankern heißt also– das sage ich abschließend und zusammenfassend –,das Augenmerk stärker auf die Aufteilung der Verant-wortlichkeiten auf den verschiedenen Ebenen zu lenken,auf der europäischen und der nationalstaatlichen Ebene,und den mit der Energiewende veranlassten Systemwan-del vorzunehmen.Vielen Dank.
Danke schön, Frau Kollegin. – Einen schönen guten
Tag von mir! – Die nächste Rednerin in der Debatte ist
Dr. Herlind Gundelach für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die zuverlässige Versorgung mit bezahlbarer Energie istfür Europa von ganz entscheidender Bedeutung. Die He-rausforderungen – Klimawandel, zunehmende Ein-fuhrabhängigkeit und höhere Energiepreise – betreffensämtliche EU-Staaten. Es reicht heutzutage eben nichtmehr aus, energiepolitische Entscheidungen auf nationa-ler Ebene zu treffen. Das reicht nicht nur nicht aus, son-dern wir müssen uns in Europa auf eine gemeinsameEnergiepolitik verständigen. Nur eine wirklich europäi-sche Energiepolitik kann dauerhaft für Wettbewerbsfä-higkeit, Nachhaltigkeit und Sicherheit der Energiever-sorgung in ganz Europa sorgen. Deshalb muss Europagemeinsam handeln, um die Versorgung mit wettbe-werbsfähiger Energie nachhaltig sicherzustellen.Diesbezüglich stimme ich auch den werten Kollegenvon der Fraktion der Grünen uneingeschränkt zu.
Was mich allerdings schockiert, ist Ihr Wie. Ihr gesamterAntrag wird durchzogen von dem Leitmotiv „am deut-schen Wesen soll die Welt genesen“.
Wir können unsere nationale Energiewendestrategie Eu-ropa nicht aufdrängen, selbst wenn wir noch so sehr vonihr überzeugt sind. Sie jedoch fordern das in Ihrem An-trag ausdrücklich.Ich möchte zunächst auf die europäische Rechtslageeingehen. Über Jahrzehnte galt Energiepolitik in der EUvornehmlich als Sache der Mitgliedstaaten, und Verein-barungen wurden meist bilateral getroffen. Bis zumGrünbuch 2006 gab es gar keine formale Grundlage fürgemeinsame Ziele. Erst mit dem Vertrag von Lissabon,also 2009, wurde in den europäischen Verträgen eine ex-plizite Zuständigkeit für Energie normiert. Vorher gab eslediglich Regularien zu Kohle und Atomkraft. Mit demArt. 194 des Vertrages über die Arbeitsweise der Euro-päischen Union wurde 2009 im Rahmen des LissabonnerVertrags schließlich eine klare Kompetenz der EU fürEnergie verankert, die ihr erstmals die Möglichkeit gab,gesetzgeberisch tätig zu werden. Bis zu diesem Zeit-punkt beschäftigte sich die EU vornehmlich mit der Ver-wirklichung des Energiebinnenmarkts. Dies erklärt auchdie bis heute sehr unterschiedlichen nationalen energie-politischen Strategien, beispielsweise bei der Nutzungvon Atomkraft, aber auch bei der Nutzung fossiler Ener-gien und erneuerbarer Energien.Als Ziele und Kompetenzbereiche wurden in Art. 194folgende Punkte definiert: Vollendung des liberalisiertenEnergiebinnenmarkts, Versorgungssicherheit, transeuro-
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päischer Netzausbau, weitere Förderung und Ausbau desBereichs der erneuerbaren Energien sowie die Steige-rung der Energieeffizienz. Daraus folgt, dass die Ent-scheidungshoheit über den nationalen Energiemix unddie Wertigkeit der einzelnen Energiearten ausschließlichSache der Mitgliedstaaten ist und bleibt.Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt. Sie for-dern in Ihrem Antrag, dass die Bundesregierung in Brüs-sel darauf hinwirkt, dass die neuen BeihilferegelungenGroßbritannien daran hindern, eine Einspeisevergütungfür Strom aus Kernenergie einzuführen, weil sie derEnergiewende in Deutschland entgegenstehe.
– Die Energiewende ist in dieser Form, glaube ich, mo-mentan ausschließlich in Deutschland ein Projekt.
Kurz: Sie erwarten, dass die Mitgliedstaaten in der Euro-päischen Gemeinschaft sich an unserer Energiepolitikund unserer Energiewende orientieren, obwohl wir dieseohne die Konsultation unserer europäischen Nachbarnbeschlossen haben. Das war rechtlich möglich, eineKonsultation war nicht erforderlich; das möchte ich aus-drücklich betonen.Wir müssen in Deutschland zur Kenntnis nehmen –ob uns das freut oder nicht freut, steht in diesem Zusam-menhang nicht zur Debatte –, dass in zahlreichen Län-dern Europas und der Welt Kernenergie als nachhaltigeEnergie betrachtet wird. Auf der ganzen Welt gibt esLehrstühle, die Sustainable Energy, also nachhaltigeEnergie, erforschen und dabei zu dem Schluss kommen,dass auch Kernenergie sustainable, also nachhaltig, ist.Diese Sichtweise müssen wir zur Kenntnis nehmen, undwir müssen akzeptieren, dass andere Länder deswegenandere Wege einschlagen. So weit möchte ich dem Kol-legen Becker von der SPD durchaus zustimmen.
– Das obliegt dann der nationalen Gestaltung und nichtder europaweiten Gestaltung. Wenn diese Länder das alssustainable einschätzen, dann ist das ihre Sicht derDinge, genauso wie wir unsere Sicht der Dinge haben.
Der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland warund ist parteiübergreifender Konsens und Wunsch derBevölkerung. Diese Entscheidung wird heute bei unsvon niemandem mehr infrage gestellt. Aber bisher be-schreiten wir diesen Weg durchaus als Vorreiter in Eu-ropa mit allen Chancen, aber auch mit allen Risiken. Ausmeiner Sicht ist für eine erfolgreiche Energiewende im-mer noch die beste Strategie, andere Länder für unserenWeg zu begeistern, woran wir in diesem Haus gemein-sam arbeiten sollten.
Wir müssen uns auch weiterhin darüber im Klarensein, dass unsere ambitionierten Klima- und Energiezielenicht so einfach auf ganz Europa zu übertragen sind, ins-besondere auch in Anbetracht der finanziellen Lage invielen Ländern nach der Wirtschafts- und Finanzkrise.Wie wollen Sie zum Beispiel Spanien, Portugal undGriechenland erklären, dass sie noch erheblich höhereInvestitionen für den Ausbau der erneuerbaren Energienund der Steigerung der Energieeffizienz tätigen sollen?Selbstverständlich bedeutet das auch neue Beschäfti-gung im Land. Aber was soll man tun, wenn sich einLand bereits jetzt die zu erbringenden Maßnahmen kaumleisten kann? Was machen wir, wenn aufgrund unsererstrengen Ziele Teile der Industrie abwandern oder Be-triebe schließen müssen? Dann haben wir in diesen Län-dern letztlich mehr Arbeitslose, weniger Einnahmen unddamit auch weniger Geld für den Klimaschutz.Einige Staaten liegen schon heute hinter den Zielen desKlimaschutzabkommens. Schauen wir uns beispielsweisedie Förderung der Energieeffizienz im Gebäudebereichan. Mit der EU-Gebäuderichtlinie von 2002 wurden in ei-nigen Ländern erstmals energetische Grundanforderun-gen im nationalen Baurecht festgeschrieben. NationaleRichtlinien existierten zuvor nur in Österreich, Belgien,Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, den Nie-derlanden und Großbritannien.
Trotz dieser inzwischen einheitlichen Anforderungenherrscht innerhalb der EU noch immer eine riesige Kluftin Bezug auf die Einsparung von Energie.
So weist Bulgarien im Vergleich zu Dänemark beispiels-weise eine zehnfach so hohe Energieintensität auf. Soweit zu der höchst unterschiedlichen Gemengelage, diewir in Europa haben.Kehren wir noch einmal zur Rechtslage in Europaund zur europäischen Energiepolitik zurück. Die EUsetzt den Rahmen, und die Länder füllen ihn aus.
– Das ist ihre Aufgabe. – Folglich brauchen wir eine na-tionale Politik, die eine integrierte und nachhaltige euro-päische Strategie befördert und den Energiemarkt unddas Netz harmonisiert. Wir müssen unsere Politik in dieeuropäische Energiepolitik einbetten und nicht Europaunsere Politik aufzwingen.
Wir müssen uns auf einen gemeinsamen Weg einlas-sen; denn sonst droht uns die Gefahr, irgendwann alleinedazustehen. Diese Gefahr ist durchaus realistisch. Der-zeit prüfen unsere Nachbarn in Polen und den Niederlan-den den Bau von Stromsperren, sogenannten Phasen-schiebern, da sie befürchten, dass unser schnellerAusbau der erneuerbaren Energien ihre Netze überlasten
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und damit zu einem Zusammenbruch ihrer Stromversor-gung führen könnte. Wenn ich die Zeitungen heute rich-tig verstanden habe, dann haben sich die Bundeskanzle-rin und ihr polnischer Kollege zu genau dieser Frage aufeinen Weg verständigt.Wenn es also unser gemeinsames Ziel ist, unsereEnergiewende auf europäischer Ebene dauerhaft undnachhaltig zu verankern, dann müssen wir unsere Instru-mente auf den Prüfstand stellen. Dazu gehört auch dasEEG. Wir können nicht sagen, dass das EEG sakrosanktist und sich alle Rahmenbedingungen diesem Gesetz an-passen müssen. Wenn wir davon überzeugt sind, dass derMarkt noch immer die erfolgreichsten Lösungen hervor-bringt, kann die Devise nicht lauten: „Wir passen denMarkt dem EEG an“, sondern sie muss lauten: „Wir ma-chen das EEG marktkompatibel“.
In den Eckpunkten von Minister Gabriel, die auchdem in Abstimmung befindlichen Referentenentwurf zurÄnderung des EEG zugrunde liegen, ist für neue Anla-gen ab einer gewissen Größenordnung und in einem ge-stuften Verfahren die Direktvermarktung vorgesehenund damit das Verlassen der Schutzglocke. Sollten wirnicht auch darüber nachdenken, wie Bestandsanlagenschneller an den Markt herangeführt werden können?Eine sichere Stromversorgung zu wettbewerbsfähi-gen und sozial verträglichen Preisen ist mit einerDauersubvention von Erzeugungskapazitäten nichtzu erreichen.Wer langfristig eine nicht marktfähige Stromerzeu-gung aufbaut, zementiert Unwirtschaftlichkeit alsPrinzip der Energieversorgung.
Die letzten beiden Sätze sind nicht meine Worte, son-dern das sind die Worte des Vorsitzenden der IG Berg-bau, Chemie, Energie, Michael Vassiliadis, denen ich al-lerdings voll zustimme.
Denn ich bin davon überzeugt: Je marktwirtschaftlicherwir das EEG ausgestalten, desto besser werden wir ver-mutlich auch mit dem EU-Beihilfeverfahren zurecht-kommen, das die Kommission gegen die Bundesrepu-blik wegen des EEG und der damit im Zusammenhangstehenden Besonderen Ausgleichsregelung eingeleitethat.Sie gehen in Ihrem Antrag auch auf dieses Verfahrenein und weisen es als unberechtigt zurück; denn die Sa-che sei ja schon entschieden, und das deutsche EEG-För-dersystem sei europarechtskonform. Damit sprechen Sievermutlich das PreussenElektra-Urteil des EuGH vomMärz 2001 an. Der EuGH hatte damals festgestellt, dassdie gesetzliche Abnahmepflicht der Elektrizitätsversor-ger zu Mindestpreisen keine unerlaubte staatliche Bei-hilfe im Sinne des EU-Vertrages darstelle. Wie wir allewissen, stellt die EU-Kommission aber genau diese Ent-scheidung heute infrage.Nun möchte ich mir nicht anmaßen, hier festzustellen,ob diese Zweifel berechtigt sind. Fest steht allerdings,dass 2001 der Anteil der Erneuerbaren an der Strom-erzeugung bei nur wenigen Prozent lag; heute liegt er beiknapp 25 Prozent. Von einer Nische – das war damalsein Teil der Argumentation – kann also heute nicht mehrdie Rede sein. Insofern kann man sich durchaus dieFrage stellen, ob der EuGH heute noch zu dem gleichenUrteil käme.Ich möchte das auch noch durch ein paar Zahlen un-termauern, die heute zwar schon gefallen sind, die dieKostendimension aber noch einmal nachdrücklich ver-deutlichen: 2001 betrugen die Umlagen nach dem EEGnoch 1,6 Milliarden Euro. In 2013 lagen wir bei22,9 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2030 bedeuten dasknapp 400 Milliarden Euro an EEG-Ausgleichszahlun-gen, und dabei sind die Netzausbaukosten noch gar nichteingerechnet.Bei meinen Überlegungen, das EEG durch eine Re-form marktkonformer zu machen, möchte ich nicht soweit gehen – das sage ich ganz bewusst – wie die Exper-tenkommission Forschung und Innovation der Bundesre-gierung, die die Abschaffung des EEG empfohlen hat.Aber gerade in Anbetracht der gesamteuropäischen Si-tuation müssen wir Anpassungen vornehmen, und dieseAnpassungen müssen mit dem EU-Rechtsrahmen über-einstimmen.Ich denke, wir alle hier im Hause sind der Auffas-sung, dass wir auch weiterhin Besondere Ausgleichsre-gelungen für unsere energieintensiven und im internatio-nalen Wettbewerb stehenden Unternehmen brauchen.Wir brauchen sie gewiss nicht für alle Unternehmen, dieheute davon profitieren – da stimme ich mit Ihnen über-ein –, aber wir brauchen sie auch weiterhin für eine statt-liche Zahl, und das erreichen wir nur mit der Kommis-sion gemeinsam und nicht dann, wenn wir mit dem Kopfdurch die Wand gehen.Insofern stimme ich der Überschrift Ihres Antragsdurchaus gerne zu, nicht aber dem Tenor Ihres Antrags,der aus meiner Sicht wenig europäischen Geist aufweist.Herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin. – Nächster und letzter Redner
in dieser Debatte: Frank Schwabe für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, auch in der Debatte ist deutlich geworden:Die Grünen haben recht mit ihrer Auffassung,
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dass das, was wir zum Thema Energiewende in Deutsch-land diskutieren und auch alle gemeinsam durchsetzenwollen, eng verbunden ist mit dem, was auf europäischerEbene passiert. Das ist einfach so. Das ist bei den EU-2030-Zielen so. Das ist bei den erneuerbaren Energienso. Das ist auch im Emissionshandel so. Unsere Sorge istallerdings, auch anlässlich der Debatte innerhalb der Eu-ropäischen Union, dass Europa in dem Bemühen, inter-nationaler Vorreiter zu sein, zurückfällt. Dafür gibt esGründe.Ein Grund ist, dass wir mittlerweile eine sehr hetero-gene Europäische Union haben – mit 28 Staaten mitganz unterschiedlichen Interessen; Polen sei nur bei-spielhaft genannt. Ein Grund ist aber auch – ich kanndem Koalitionspartner nicht ersparen, das zu sagen –,dass wir eigentlich vier verlorene Jahre hatten
für den Klimaschutz und für eine innovative Klimapoli-tik in Deutschland und, finde ich, auch in der EU, weilDeutschland ja eine bestimmte Position innerhalb derEU einnimmt. Ich will das der Einfachheit halber einmalder FDP und vielleicht gar nicht der Union zuordnen.
Es gab durchaus Umweltminister der Union, die das Be-mühen zeigten und denen ein gewisser guter Wille nichtabzusprechen war, eine ambitionierte Politik zu machen.Aber die Union war am Ende gefesselt, und zwar euro-päisch. Das hat dazu geführt, dass sich Deutschland,wenn es um bestimmte energiepolitische und klimapoli-tische Fortschritte ging, an den entscheidenden Stellenverweigert und mit Nein gestimmt oder sich der Stimmeenthalten hat.
Ich glaube, das ist ein zentrales Argument dafür, dassman der EU-Kommission – jedenfalls ein bisschen –Hasenfüßigkeit unterstellen kann, was eine ambitioniertePolitik für die nächsten Jahre betrifft.Zusammen mit den Kolleginnen Höhn und Baerbockwar ich vor einigen Tagen in Washington auf einer Kon-ferenz von GLOBE, einer internationalen Parlamenta-rierorganisation. Wir haben uns die Ergebnisse einerStudie über 66 Staaten auf der Welt und ihre Bemühun-gen im Bereich des Klimaschutzes sowie bei der Ent-wicklung hin zu einer innovativen, progressiven Ener-giepolitik vorlegen lassen. Im Juni dieses Jahres wird eseine neue Studie geben – ihre Ergebnisse werden uns inMexiko vorgestellt –, in der die entsprechenden Bemü-hungen von über 100 Staaten in der Welt untersucht wur-den. Insofern: Wir sind nicht alleine, sondern wir disku-tieren über dieses Thema auch in den USA und in China.Wer sich darüber näher informieren will, kann das dortvor Ort tun. Es ist unglaublich spannend, was sich ge-rade in China auf diesem Gebiet entwickelt.
Ich finde, man muss das Wettbewerbsargument zu-mindest relativieren. Die anderen Länder bewegen sich,auch wenn sie international an vielen Stellen nicht bereitsind, sich zu verpflichten; das hat andere internationaleGründe. Aber sie befinden sich durchaus in einer Ent-wicklung. Ich finde, es wäre genau richtig und wichtig,wenn Europa eine progressive Klima- und Energiepoli-tik betreiben würde. Das wäre gut, nicht nur für denKlimaschutz, sondern auch im Hinblick darauf, dassDeutschland eine innovative Volkswirtschaft sein will;dafür müssen wir auch die politische Kraft haben. Esentbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Deutschland,obwohl in den letzten vier Jahren eher Bremser in derEuropäischen Union, mittlerweile wieder progressiv istund auch als progressive Kraft wahrgenommen wird.Ich will schon sagen, auch in Richtung der grünenFraktion: Ich glaube, man kann nicht bestreiten, dassDeutschland in allen Debatten, die in der EuropäischenUnion aktuell geführt werden, als eher progressiv wahr-genommen wird
und dass zur Kenntnis genommen wird, dass BarbaraHendricks als Ministerin deutlich gemacht hat: Wirwollen ein Sofortprogramm für den Klimaschutz inDeutschland, und wir wollen auch einen Klimaschutz-plan mit gesetzlichen Elementen innerhalb Deutsch-lands. – Außerdem haben wir uns beim Thema Backloa-ding klar positioniert, und zwar schon im Rahmen derKoalitionsverhandlungen. Es gab eine neue und – da binich mir sicher – dauerhafte Harmonie zwischen demUmwelt- und dem Wirtschaftsministerium. Das tat unse-rer Position gut, auch innerhalb der Europäischen Union.Aber – da haben Sie durchaus recht – das reicht nicht.Wenn wir mittelfristig eine Entwicklung weg von fossi-len Energieträgern einleiten wollen – ich sage ausdrück-lich: nicht sofort, aber mittelfristig sehr wohl –, danngeht das nur mit einem funktionstüchtigen Emissions-handel. Zurzeit ist er schlichtweg nicht funktionstüchtig.Ministerin Hendricks hat vollkommen recht: Um ihnfunktionstüchtig zu machen, muss das Backloading dau-erhaft sein, brauchen wir eine weitere Herausnahme von2 Milliarden Zertifikaten, brauchen wir den Mechanis-mus der sogenannten Marktstabilitätsreserve nicht erst2021, sondern schon 2016. Ich persönlich füge hinzu:Diejenigen, die einen funktionstüchtigen Emissionshan-del haben und das Ganze marktwirtschaftlich regelnwollen, müssten ein Rieseninteresse daran haben. Dennes gibt gar keine Alternative dazu, auch über Mindest-preise, CO2-Steuern und andere Steuerungsmöglichkei-ten zu diskutieren, auch im nationalen Kontext; das istdoch völlig klar.
Wenn der Emissionshandel nicht funktioniert, dann wer-den wir ganz automatisch andere Diskussionen bekom-
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men, oder wir müssen unsere Klimaschutzambitionenbeiseitelegen.In der Tendenz haben die Grünen, glaube ich, recht.Bei den 2030-Zielen ist die Kommission bisher zu un-ambitioniert gewesen. Deshalb will ich betonen: Es istdie Große Koalition, die sich in Übereinstimmung mitForderungen des EU-Parlaments im Koalitionsvertragvorgenommen hat, im Rahmen der zukünftigen Politikder Europäischen Union drei Ziele zu verfolgen: einCO2-Ziel, ein Ziel hinsichtlich der erneuerbaren Ener-gien und ein Energieeffizienzziel.
Was das CO2-Ziel angeht, will ich ausdrücklich beto-nen: Wir reden von mindestens 40 Prozent. Es kann imZweifelsfall auch ein bisschen mehr sein. Hier geht esnicht um Belieben; wir würfeln uns ja kein Ziel. Das hatvielmehr damit zu tun, dass wir das 2-Grad-Ziel einhal-ten wollen. Dazu haben wir uns völkerrechtlich verbind-lich verpflichtet. Wenn man dieses Ziel einhalten will,dann muss man sich entsprechend bewegen.Auch wenn über den Antrag der Grünen heute nochnicht abgestimmt werden soll, war die Debatte darüber,glaube ich, gut und sinnvoll; denn sie hat deutlich ge-macht, dass wir im Bundestag fraktionsübergreifend einebestimmte Position, eine bestimmte Erwartungshaltunghaben. Mit dieser Debatte stärken und ermuntern wir dieBundesregierung und die Bundeskanzlerin, sich auf demin der nächsten Woche stattfindenden europäischen Gip-fel für zweierlei einzusetzen: Erstens. Wir brauchen, umdie Energiewende in Deutschland umsetzen zu können,dringend einen funktionierenden europäischen Emis-sionshandel. Das ist die Aufgabe, die wir ihr gemeinsammit auf den Weg geben. Zweitens. Wir brauchen mitBlick auf 2030 starke Ziele für den europäischen Klima-schutz. Solche Ziele täten auch unserer Innovationskraftund unserer Wettbewerbsfähigkeit gut.Glückauf!
Vielen Dank, Kollege Schwabe.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/777 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind sicher damit
einverstanden. – Ja; ich sehe nichts anderes. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Hansjörg Durz, Axel
Knoerig, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Lars Klingbeil, Matthias
Ilgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Technologie-, Innovations- und Gründungs-
standort Deutschland stärken – Potenziale
der Digitalen Wirtschaft für Wachstum und
nachhaltige Beschäftigung ausschöpfen und
digitale Infrastruktur ausbauen
Drucksache 18/764
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss Digitale Agenda
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Digitale Gründungen unterstützen – Zu-
kunftsfähige Rahmenbedingungen für die
digitale Wirtschaft schaffen
Drucksache 18/771
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss Digitale Agenda
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Auch da höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
Brigitte Zypries für die Bundesregierung.
B
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte den Koalitionsfraktionen zu-nächst Dank sagen für diesen umfassenden Antrag. Er isteine Zusammenstellung von allen möglichen, quer durchdie Ressorts gehenden Themen, die uns diese ganzeLegislaturperiode begleiten werden und an denen wiruns abarbeiten werden. Vor allen Dingen gibt er uns dieGelegenheit, jetzt, kurz nach der Einsetzung des Aus-schusses für Digitale Agenda, wieder in diesem Hausüber die digitale Agenda zu diskutieren. Das finde ichgut. Dieses Thema ist nämlich hochaktuell.Sicherlich waren die meisten von Ihnen wie ich aufder CeBIT und haben sich dort informiert. Die CeBITsteht in diesem Jahr unter dem Motto „Datability“; dasist ein Kunstwort, das sich zusammensetzt aus „BigData“, „Responsibility“ und „Sustainability“, also BigData in Verbindung mit Verantwortung und Nachhaltig-keit. Ich denke, das Kunstwort „Datability“ umreißt sehrgut, vor welche Aufgaben die IT-Branche uns stellt. Eswerden inzwischen große Datenmengen verarbeitet, unddiese Datenmengen werden immer größer. Bei der Ver-arbeitung muss die Sicherheit gewährleistet sein. DieMenschen müssen sich darauf verlassen können, dassihre Daten nicht unrechtmäßig gebraucht werden. Wenn
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1564 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
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doch, funktionieren auch zahlreiche Geschäftsmodellenicht, wie man gerade in den letzten Tagen gut sehenkonnte. Von daher, glaube ich, sollten wir uns alle damitbeschäftigen, welche Voraussetzungen und Rahmen-bedingungen die IT-Branche braucht.Ich will ein paar Worte sagen zu dem, was die Bun-desregierung vorhat. Wir haben in Deutschland, wie indem Antrag zutreffend dargestellt wird, eine guteAusgangslage: Deutschland zählt zu den 15 wichtigstenIT-Standorten, die IT-Branche ist ein enormer Beschäfti-gungsfaktor und vieles mehr; ich will das jetzt nicht alleswiederholen. Ich will Ihnen sagen, dass die Bundesregie-rung mit der digitalen Agenda die Rahmenbedingungendafür schaffen wird, dass geschieht, was Sie in IhremAntrag fordern: dass Deutschland zum digitalen Wachs-tumsland Nr. 1 wird.Am Montag haben sich auf der CeBIT der Wirt-schaftsminister, der Innenminister und der Minister fürVerkehr und digitale Infrastruktur zu den zentralenPunkten der digitalen Weiterentwicklung von Gesell-schaft und Wirtschaft erstmals gemeinsam geäußert unddamit quasi gemeinsam die notwendigen Punkte für diedigitale Agenda vorgetragen.Wir haben in der Bundesregierung die Einrichtung ei-nes festen Koordinierungsmechanismus verabredet, umdie verschiedenen Maßnahmen der einzelnen Häuserwirksam aufeinander abzustimmen. Das ist nötig und hatnichts mit Streitereien zwischen den Häusern zu tun, wieder eine oder andere Journalist einem jetzt schon wiederin den Mund legen will; denn selbstverständlich bleibenÜberschneidungen nicht aus, wenn alle Häuser irgend-wie mit diesem Thema befasst sind. Ich denke zumBeispiel an die Bereiche digitale Wirtschaft, Ausbau derInfrastrukturen, Datenschutz oder Datensicherheit inUnternehmen. Daran sind notwendigerweise verschie-dene Häuser beteiligt. Dafür brauchen wir Mechanismender Abstimmung. Das kennen wir, und das können wir.Alle Ressorts werden die verschiedenen politischenVorhaben in ihrem Bereich konkretisieren. Das werdenwir dann gemeinsam diskutieren. Wir haben nämlichauch das erklärte Ziel, dass diese digitale Agenda nichtallein an Beamtenschreibtischen in den Ministerien ent-steht, sondern wollen sie gemeinsam entwickeln, ge-meinsam zunächst mit dem Deutschen Bundestag, wieSie das in Ihrem Antrag richtig fordern, aber auch ge-meinsam mit allen anderen relevanten Akteuren, mit denGewerkschaften, den NGOs usw. Wir werden dazu auchdie bestehenden Plattformen nutzen, sowohl den Natio-nalen IT-Gipfel wie auch Gremien wie den Beirat „JungeDigitale Wirtschaft“. Gemeinsam wollen wir gleicher-maßen innovative wie gesellschaftlich akzeptierteLösungsansätze für die Datenwirtschaft und die privateOnlinekommunikation erarbeiten.Lassen Sie mich kurz noch einige Stichworte zu denSchwerpunkten sagen, die wir im Bundesministeriumfür Wirtschaft und Energie setzen wollen. Ein wichtigerPunkt, der auch auf der CeBIT deutlich adressiert wird,ist das Thema „Industrie 4.0“. Wir werden uns Anfangnächsten Monats auf der Hannover-Messe etwa ansehenkönnen, wie die Datenverarbeitung und die Zuordnungvon Internetadressen zu einzelnen Maschinen neue Pro-duktionsmöglichkeiten eröffnet. Das ist ein wichtigesThema, das wir vorantreiben wollen. Das machen wirauch deutlich durch eine Umorganisation in unseremHause.Wir wollen das hohe IT-Sicherheitsniveau, das wir inDeutschland schon haben, weiter ausbauen. SichereInformationstechnologie Made in Germany soll einesder Markenzeichen werden.Wir wollen natürlich die Unterstützung der jungenkreativen und innovativen Unternehmen und des Mittel-standes. Insofern finde ich, dass der Antrag der Linkenzu diesem Thema etwas zu kurz greift; denn er beziehtsich nur auf die Rahmenbedingungen zur Gründung vonStart-ups im Bereich der digitalen Wirtschaft. Ich meineaber, dass wir durchaus auch die jungen Kreativen undKulturschaffenden mit ihren Start-ups mit einbeziehensollten und nicht nur an die digitale Wirtschaft denkensollten. Wir sehen das Ganze etwas breiter.
Wir hoffen und wünschen, dass wir in allen Punktengut zusammenarbeiten werden. Gerade bei den Start-upssollten wir die Kreativität und die Innovationskraftlocken. Wir wissen ja: Es gibt eine Weiterentwicklung indiesen Technologiefeldern im Grunde nur mit denjungen innovativen Unternehmen. Das ist uns wichtig.Daran werden wir weiter arbeiten. In diesem Sinne freueich mich auf einen anregenden Gedankenaustausch mitIhnen allen in den nächsten knapp vier Jahren.
Vielen Dank, Frau Kollegin Zypries. – Nächster Red-
ner ist Herbert Behrens für die Linken.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Menschenleere Fabriken, papierlose Büros oder Laptop-Klassen, das waren früher unsere Vorstellungen, wennwir uns mit den Bildern der digitalen Welt von morgenbefasst haben. Heute kommen das selbstfahrende Auto,der Computer im oder am menschlichen Körper oder dieDatenbrille hinzu. Wir machen die Erfahrung, dass somanche Erfindung schneller verschwindet, als derenEntwicklung dauerte. Dabei wird viel Wissen und Krea-tivität entwickelt, aber eben genauso viel vernichtet.Wir messen den Wert der Veränderungen in Richtungeiner digital geprägten Welt daran, wie die Lebensbedin-gungen der Menschen verbessert werden. Gute Ausbil-dung, gute Arbeit und ein gutes Leben sind unsere Maß-stäbe für eine digital geprägte Welt von morgen, undzwar nicht nur im eigenen Land und in Europa.
Kolleginnen und Kollegen, Wünsche allein reichennicht aus, um die Wirklichkeit zu verändern. Deshalb ha-
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Herbert Behrens
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ben wir hier im Parlament die Chance, aber auch diePflicht, rechtzeitig, also ab sofort, die notwendigen Rah-menbedingungen zu schaffen.Die elektronische Vernetzung von der Planung bis zurAuslieferung wird die industrielle Produktion weiter ra-tionalisieren. Das Thema „Industrie 4.0“ wurde ebengenannt. Werkstücke werden durch Chips automatischgesteuert und fließen fast selbstständig durch die Pro-duktion. Darum müssen junge Menschen anders ausge-bildet werden, und die älteren Beschäftigten müssen dieChance haben, sich zu qualifizieren.
Wir brauchen eine Bildungsoffensive, um die digitaleWelt zu gestalten. Die Menschen sollen die digitalen In-strumente beherrschen und nicht von ihnen beherrschtwerden. Wir fordern die Bundesregierung auf, gemein-sam mit den Bundesländern mehr Studienplätze für In-formatik zu schaffen und angrenzende Disziplinen wieNatur-, Kultur- und Technikwissenschaften auszubauen.
Gründer im Bereich der digitalen Wirtschaft habenviele gute Ideen und oft nur wenig Geld. Nötig ist einegezielte Initiative der Bundesregierung, damit Gründerfinanziell auf die Beine kommen. Sie sollen ihre eigenenIdeen eigenständig entwickeln können, ohne gezwungenzu sein, sie so schnell es geht an den nächsten Investorzu verkaufen.Die Regierungsfraktionen sind in dieser Frage aller-dings im vergangenen Jahrhundert stecken geblieben. Inden 90er-Jahren sollte Deutschland zu einem führendenFinanzplatz in der Welt gemacht werden. Die Finanz-märkte wurden dereguliert, Hedgefonds und Steuersen-kungen bei hohen Einkommen sollten Risikokapital lo-ckermachen.
Die Internetwirtschaft boomte, bis die Dotcom-Blaseplatzte. Viele junge Unternehmen waren von heute aufmorgen vom Geldmarkt abgeschnitten.Vor gut zehn Jahren aber waren die Fondsgesellschaf-ten schon wieder am Start. Sie versprachen Risikokapitalfür Ideen, an die sich Banken und Sparkassen leidernicht herantrauten. Die Bundesregierung unterstützteRisikokapitalisten seinerzeit mit Steuererleichterungen.Doch schon 2008 kam wieder einmal die Stunde derWahrheit, als die vermeintlichen Geldvermehrungsma-schinen in sich zusammenfielen.Und heute schon wieder das gleiche Programm: DerInvestitionszuschuss Wagniskapital aus der Regierungs-zeit Merkel/Rösler soll fortgesetzt und die Attraktivitätdes Fondsstandortes Deutschland für Wagniskapital er-höht werden. Sogar ein eigenes Börsensegment mit demTitel „Markt 2.0“ soll es geben. Dieser Weg ist falsch.Existenzgründungen brauchen Kapital und kein Risiko,
und die Gründerinnen und Gründer brauchen Sicherheit,um ihre kreativen Ideen in Produkte und Dienstleistun-gen umsetzen zu können.In der Tat, Frau Zypries, mit dem Antrag der Koali-tion ist ein umfangreiches Papier vorgelegt worden –aber ohne jegliche Priorität und ohne jeglichen Zeitplan,dafür mit Finanzvorbehalt.Unsere Antworten auf die Herausforderungen lauten:mindestens 1 Milliarde Euro jährlich für den Breit-bandausbau, ein Kreditprogramm für private, gemein-wirtschaftliche und kommunale Initiativen für eine flä-chendeckende Versorgung mit Glasfaser, Mikrokredite,Förderprogramme mit dem Schwerpunkt Teamgründun-gen und eine stärkere Förderung von Frauen beim Grün-dungsgeschehen.Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kol-
lege Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der amerikanische Ökonom Robert Solow hat einmalgeschrieben: „Die entscheidende Triebfeder für Wirt-schaftswachstum ist nicht Arbeit und Kapital, sonderntechnologischer Fortschritt.“ – Und genau da setzen wirmit diesem Antrag an. Wollen wir also der Solow’schenLogik folgen, dann müssen wir Technologien und Inno-vationen massiv fördern.Vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen bei unsin Deutschland muss es nur ein Ziel geben: Wir sind di-gitales Wachstumsland Nummer eins bis 2017.
Die entscheidende Schlüsselbranche dafür ist die Infor-mations- und Kommunikationstechnologie. Sie mussjetzt mit Hochdruck gefördert werden, damit modernsteSoft- und Hardware sowie Dienstleistungsangebote ent-wickelt werden, um die Digitalisierung wirklich in allenWirtschaftsbereichen voranzutreiben.Wenn wir uns die Entwicklung des IKT-Sektors inEuropa und in der Welt anschauen, dann stellen wir fest,dass in Amerika und auch in Asien, zum Beispiel in In-dien und Brasilien, Marktzuwächse von 9 bis 14 Prozentmöglich sind, während die Rate in Europa bedenklichtief liegt, nämlich bei unter 1 Prozent. Wie können wiralso das Innovationspotenzial unserer IKT-Branche opti-mal ausschöpfen? Bevor wir die Frage beantworten kön-nen, müssen wir, wie ich denke, uns als Erstes die spe-ziellen Eigengesetzlichkeiten dieser Branche anschauenund sie entsprechend berücksichtigen.
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Axel Knoerig
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Punkt eins: Im Vergleich zu vielen anderen Wirt-schaftszweigen ist hier der Zeitrahmen für Innovationenerheblich enger. Bei Internetunternehmen dauern dieProjekte oft nur wenige Wochen. Dadurch entstehen na-türlich hohe Forschungs- und auch Entwicklungskosten.Da ist die Frage aufzuwerfen: Liegt es nicht in unseremeigenen Interesse, steuerliche Förderung zur Unterstüt-zung anzubieten? Die Zeit drängt, und wir sollten dieProgrammförderung diesen schnellen Prozessen entspre-chend anpassen.
Punkt zwei: Im Vergleich zu den USA und Asien sinddie meisten IKT-Unternehmen hierzulande kleinere Be-triebe. Nur 1 Prozent der Softwarefirmen hat über 100 Mit-arbeiter. Wir haben in Deutschland nun einmal keine In-ternetriesen wie Facebook oder Google. Also sind wirim Grunde genommen gezwungen, uns auf unsere eige-nen Stärken zu konzentrieren. Und das sind die klassi-schen Wirtschaftsbereiche: unsere kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen. Sie betreiben ebenfalls Forschungund Entwicklung auf einem internationalen Spitzen-niveau. Das sollten wir auch entsprechend herausstellen.
Ich stelle fest, dass allein in den letzten vier Jahren8 Millionen Euro an Forschungsförderung in meinenWahlkreis geflossen sind. Da sage ich: Das ist nur einAnfang. Die Mittelstandsförderung muss zukünftig nochintensiver mit der Innovationspolitik verbunden werden.Punkt drei: Wir müssen die IKT-Branche als weltwei-tes soziales Netzwerk begreifen. Da reichen nationaleRegelungen nicht aus, insbesondere was die Sicherheitbetrifft. Ein Schritt in die richtige Richtung ist das ge-plante Freihandelsabkommen mit den USA. Daraus wer-den sich, denke ich, viele wirtschaftliche Impulse für un-sere Branche ergeben. Dabei ist entscheidend, wie dieBundeskanzlerin festgehalten hat, dass wir hierbei un-sere hohen Sicherheitsstandards beibehalten möchten.Punkt vier: Mehr als andere Branchen ist die IKT-Branche vom Risikokapital abhängig. Gerade Asien undAmerika bieten hier den jungen Hightechunternehmenweitaus günstigere Voraussetzungen. Damit kommt eszur schnelleren Anschlussfinanzierung, um neue Pro-dukte auf die Märkte zu bringen. Daher müssen wir hin-terfragen: Warum ist das bei uns nicht annähernd mög-lich? Sollten nicht auch unsere Banken gerade diesenkleinen und mittleren Unternehmen solche Risikofinan-zierungen erleichtern?Dieses muss in Crowdfunding, meinem fünftenPunkt, eingebunden werden. Dieses Thema ist erwäh-nenswert, weil damit die digitale Wirtschaft eine neueForm der Eigenkapitalbeschaffung umgesetzt hat. Es istzu hoffen, dass diese private Form der Finanzierung vonden Start-ups weiter ausgebaut wird und sich damitwirklich eine Alternative zur öffentlichen Finanzierungetabliert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hierbei abernicht nur um die IKT-Branche als Kernbranche, sondernsie strahlt wie eine Querschnittstechnologie auch in an-dere Bereiche hinein: in den Automobilbau, die Elektro-technik, die chemische Industrie und sogar die Landwirt-schaft. Ein Beispiel: Schon heute besteht ein Auto zu30 Prozent aus elektronischen Bauteilen. Dieser Anteilwird in den nächsten 15 Jahren bis auf 50 Prozent anstei-gen. Oder schauen wir uns den Maschinen- und Anla-genbau an: Deutschland ist der führende Fabrikausstatterin der Welt. Hier werden bis zu 200 Milliarden Euro um-gesetzt, und dieses Ergebnis sichert fast 15 MillionenMenschen direkt und indirekt Beschäftigung.Deswegen war es zielgerichtet, Frau StaatssekretärinZypries, dass hier das BMBF über die Forschung geradedas Projekt „Industrie 4.0“ mit unterstützt. Auf 15 Jahreist dieses Programm angelegt und hat einen besondershohen Stellenwert, weil wir uns davon versprechen, dieMarktführerschaft vor Asien und Amerika zu sichern.Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren,das ist vorausschauende und verantwortliche Innova-tionspolitik zur Sicherung von Leitbranchen an unseremWirtschaftsstandort Deutschland. Deswegen ist es wich-tig, dass wir den Ordnungsrahmen der digitalen Wirt-schaft international wettbewerbsfähig ausrichten. Dazugehört natürlich im Allgemeinen, die digitale Infrastruk-tur in den Bereichen Verkehr, Energie, Gesundheit undöffentliche Verwaltung entsprechend auszubauen. Ichsage als Vertreter des ländlichen Raumes immer wiedergern: Genauso wie es in Ballungszentren selbstverständ-lich ist, muss es im Grunde genommen auch im ländli-chen Raum selbstverständlich sein, dort auf das schnelleInternet zurückgreifen zu können.Hier ist das Stichwort CeBIT gefallen. Allein auf derCeBIT sind dieses Jahr 1 500 Veranstaltungen undWorkshops zu IT-Sicherheit und Datenschutz abgehaltenworden. In Hannover wurden heute 30 mittelständischeUnternehmen im Bereich IT und Softwareentwicklungausgezeichnet.Trotz alledem stellen wir fest, meine sehr verehrtenDamen und Herren, dass – man höre und staune – durchCybercrime der deutschen Wirtschaft tagtäglich Schädenin Höhe von einer Viertelmilliarde Euro entstehen. Des-wegen müssen wir die mittelständischen Betriebe weitersensibilisieren und vor allem das neue IT-Sicherheitsge-setz zügig voranbringen. Das ist ein politischer Impuls,der aus den Reihen der Politik kommen muss. Wir brau-chen keine Verbundnetze, sondern diesen politischenImpuls.Aber es ist auch wichtig, dass wir die Mitarbeiter mit-nehmen. Wir brauchen interkulturelle Kompetenzen. Im-mer mehr Berufsschulen – zum Beispiel auch die inSyke in meinem Wahlkreis – bieten europäische Ausbil-dungsangebote an. Die Bundesregierung hat sich ja zumZiel gesetzt, die Zahl der Auszubildenden, die einenAuslandsaufenthalt absolvieren, zu verdoppeln.Meine Zeit ist abgelaufen.
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Axel Knoerig
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Ich fasse zusammen: In dem ersten Antrag der GroßenKoalition zur digitalen Wirtschaft geht es darum, dasswir unsere Ziele in Bildungs-, Forschungs- und Arbeits-marktpolitik intensiv miteinander verknüpfen müssen.Dann bleibt auch unsere deutsche IKT-Wirtschaft wett-bewerbsfähig.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke, Herr Kollege. Ich glaube nicht, dass Ihre Zeit
abgelaufen ist, sondern Ihre Redezeit. Ich möchte auf
diesen Unterschied hinweisen.
Nächster Redner ist Dieter Janecek für die Grünen.
„Diese Welt ist in einem rasanten Wandel; wir erlebeneine permanente technologische Revolution“ – mit die-sen Worten hat der britische Premier David Cameron amvergangenen Sonntag auf der CeBIT den digitalen Wan-del, wie ich finde, treffend beschrieben. Aber wir solltenauch bedenken: Als wir Ende Januar die erste General-debatte zur Wirtschaftspolitik geführt haben, war ichnach meiner Erinnerung ziemlich der Einzige, der dasThema angesprochen hatte. Wir haben also in diesemHause im Verständnis für die Digitalwirtschaft nochNachholbedarf.Mittlerweile – das ist das Positive – hat der AusschussDigitale Agenda seine Arbeit aufgenommen, wenn auchgestern leider nicht mit vielen Inhalten, weil wir die Be-ratung abbrechen mussten. Aber es geht voran. All dieSchlagworte wie Big Data, Industrie 4.0 und Internet derDinge beschäftigen uns. Für manch einen sind das nochwenig greifbare Dinge. Die Kanzlerin hat auf der CeBITdurchaus technologiekritisch die „Selbstbehauptung desMenschen vor seiner Überflüssigkeit“ angemahnt. Ichfinde, das ist ein interessanter Punkt. Auch Nachdenkli-ches gehört zur Debatte. Dafür hat sie meinen vollstenRespekt.Aber bei aller gemeinsamen Analyse zum Beispielzur Veränderung der Arbeitswelt oder zur fehlenden Ex-portstärke – ein Großteil der Internetfirmen ist nicht beiuns angesiedelt, sondern in den USA oder in China; dasist ein Problem, das wir angehen müssen – fehlen mir inIhrem Antrag zwei wesentliche Orientierungen. Das istdie Erkenntnis, dass wir in Deutschland zwei ganzwesentliche Standortvorteile gegenüber den USA undChina haben, die es auszubauen gilt und die auch für dieweitere Entwicklung des freien Internets von entschei-dender Bedeutung sein werden. Das eine ist das ThemaSicherheit, Daten- und Vertrauensschutz, und das andereist unsere Technologieführerschaft bei Energieeffizienzund Ressourcenwende.Wer auf der CeBIT mit Unternehmensvertretern gespro-chen hat – ich habe mit einer ganzen Reihe gesprochen –,konnte feststellen, dass die informationelle Selbstbestim-mung nicht nur ein Grundrecht ist, sondern es inzwischenfür viele Unternehmen eine Frage des wirtschaftlichenErfolgs ist, dass sie die Sicherheit ihrer Daten gewähr-leisten können. Das heißt auch, dass sich die Verheißun-gen von Big Data oder Datability – dieses Kunstwort istjetzt auf der CeBIT aufgetaucht – nur dann verwirkli-chen können, wenn wir diese Daten konsequent schüt-zen.Nehmen wir das Beispiel WhatsApp: Innerhalb von24 Stunden hat der kleine Schweizer KonkurrentThreema seine Nutzerzahlen mehr als verdoppeln kön-nen und führt nun die iTunes-Charts in Deutschland undÖsterreich an. Das ist ein Beispiel, wie man Alternativenschaffen kann, wie also auch wir erfolgreich sein kön-nen.Laut der jüngst erschienenen Studie des Bundesver-bands Digitale Wirtschaft sind der Schutz und die Si-cherheit von Daten für 43 Prozent der befragten Unter-nehmen ein zentrales wirtschaftliches Thema. Es istdamit das zweitwichtigste Thema neben der Netzneutra-lität. Das heißt, rund um Datenschutz und IT-Sicherheitergeben sich zahlreiche neue Geschäftschancen, bei-spielsweise die Anwendungen für sichere Telefonie oderdie Abschirmung von Firmennetzwerken. Wir redenauch noch über ein No-Spy-Abkommen und über Spio-nage. Überall dort haben wir Vorteile, die wir voranbrin-gen müssen.
Das fehlt mir in Ihrem politischen Handeln – Stichwort„Vorratsdatenspeicherung“. Um glaubwürdig zu sein,muss man insgesamt so agieren, wie man es nach außendarstellt.Es gibt noch einen weiteren Punkt. Wir hatten vorhineine Debatte zur Energiewende. Auch sie hängt elemen-tar mit der digitalen Agenda zusammen. Ressourcen-schonung und Energieeffizienz, das waren auch Themenauf der CeBIT. Stichwort „Smart Housing“: Hier geht esja um die Frage, wie wir künftig unser Zuhause per intel-ligenter Energiesteuerung vernetzen und die damit ver-bundenen Potenziale nutzen. Wir sollten auch über dieintelligente Steuerung von Kraftwerken und Netzen re-den, über Lastmanagement in der Industrie und SmartMetering in den Haushalten. So funktioniert Energie-wende 2.0, also all das vernetzt sich miteinander. Auchdas müssen wir strategisch und konsequent nutzen.
Die digitale Kommunikation ermöglicht es, dass wirvieles einfach teilen und nutzen können, anstatt es besit-zen zu müssen. Beispiel Carsharing: Am Anfang hatman darüber gelacht. Heute nutzen das viele, und siekönnen es nutzen, weil sie ein Handy haben, womit eineintelligente Steuerung und Nutzung möglich ist. Auchdas sind Potenziale, die wir heben können.Ich komme zum Schluss. Die digitale Wirtschaft istauch ein Treiber für die ökologische Transformation.Das Auto wird in Zukunft ein rollendes Rechenzentrumsein. VW-Chef Winterkorn hat in seiner Rede auf derCeBIT zwei Herausforderungen für die Automobilindus-trie genannt: zum einen das automatische Fahren undzum anderen die Vernetzung des Autos mit der Umwelt.All das müssen wir im Rahmen der Technologieführer-
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Dieter Janecek
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schaft, die wir haben und ausbauen sollten, zusammen-denken und als Standortvorteile für uns begreifen.Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner in der De-
batte ist Christian Flisek für die SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberKollege Janecek, ich teile Ihre Einschätzung nicht. Ichglaube, die digitale Agenda ist in der deutschen Politikangekommen. Das ist die eindeutige Botschaft, die dieKoalition mit dem Koalitionsvertrag aussendet. Das istdie Botschaft, die wir mit der Einsetzung und Konsti-tuierung des Ausschusses Digitale Agenda ausgesendethaben. Das ist auch die Botschaft, die wir mit unseremheutigen Antrag – parallel zur weltgrößten IT-Messe, derCeBIT in Hannover – an die Bürgerinnen und Bürgeraussenden.
Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrie-ben, dass wir „eine digitale Agenda für die Jahre2014–2017 beschließen und ihre Umsetzung gemeinsammit Wirtschaft, Tarifpartnern, Zivilgesellschaft und Wis-senschaft begleiten“ werden. Die Konstituierung desneuen Vollausschusses Digitale Agenda vor wenigenWochen hat deutlich gemacht, dass dieses komplexeQuerschnittsthema einen sichtbaren Platz im Herzen desdeutschen Parlaments bekommt. Mit unserem Antragzum Technologie-, Innovations- und GründungsstandortDeutschland und zu den Potenzialen der digitalen Wirt-schaft in Deutschland machen wir einen weiterenSchritt, den Arbeitsauftrag aus dem Koalitionsvertragumzusetzen. Mit unserem Antrag stecken wir wichtigeHandlungsfelder für die weiteren Schritte in dieser Le-gislaturperiode ab.Meine Damen und Herren, wenn wir über die Wachs-tumspotenziale der digitalen Wirtschaft sprechen, dannsollten wir vor allem die Menschen in den Mittelpunktstellen, die diese Wachstumspotenziale heben sollen.Das sind zum einen die qualifizierten Fachkräfte, diein den Wertschöpfungsketten der Industrie, in denDienstleistungsbetrieben und im Handel beschäftigtsind, in Wertschöpfungsketten, die sich immer stärkerund schneller digitalisieren. Diese Beschäftigten werdensich auch, egal ob sie in einem Start-up-Unternehmenoder in einem Industriebetrieb arbeiten, in der digitalenArbeitswelt dafür einsetzen müssen, dass sie nicht nurArbeit haben, sondern dass sie gute Arbeit haben, mitguter Bezahlung und zu guten Arbeitsbedingungen. WirSozialdemokraten werden sie dabei unterstützen.
Genau deshalb haben wir in unseren Antrag hineinge-schrieben, dass auch in der digitalen Welt, also in einerWelt permanenter Erreichbarkeit, das Prinzip der Kern-arbeitszeit nicht ausgehöhlt werden darf. Gute digitaleArbeit immer wieder neu zu definieren und den Verände-rungen anzupassen, muss auch in Zukunft im Dialogzwischen Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft inten-siv erarbeitet werden.Neben den qualifizierten Fachkräften in der deut-schen Wirtschaft prägt eine zweite Gruppe die digitaleWirtschaft wie keine andere. Das sind die Gründer, Men-schen jeden Alters, die, mit einer frischen Idee ausgestat-tet, versuchen, sich auf eigene, auf selbstständige Beinezu stellen, und dabei Verantwortung für sich und ihreMitarbeiter übernehmen. Hier gibt es viel Licht undSchatten. Wir haben äußerst starke und attraktive Grün-derszenen etwa hier in der Hauptstadt und in einigendeutschen Metropolregionen.Es muss uns aber doch alarmieren, dass die Gründer-zahlen insgesamt in den letzten fünf Jahren rückläufigwaren und dass heute – es liegen Studien und Umfragenvor, aus denen das hervorgeht – von den deutschen Uni-versitätsabsolventen eines Jahrgangs nur noch 7 Prozentsich überhaupt vorstellen können, ein Unternehmen zugründen. Angesichts dieser Zahlen muss man kein Pro-phet sein, um festzustellen: Selbstständigkeit verliert vordem Hintergrund des demografischen Wandels und einesdrohenden Fachkräftemangels zunehmend an Attraktivi-tät. Diesen Trend müssen wir umdrehen.
Die Attraktivität der Selbstständigkeit wird man nichtalleine durch einzelne Maßnahmen erhöhen. Das istmeine Überzeugung. Was wir brauchen, ist eine grund-sätzlich neue Einstellung in unserer Gesellschaft. Füreine neue Gründerzeit in Deutschland, wie es im Koali-tionsvertrag steht, brauchen wir vor allem einen neuenGründergeist. Wir brauchen eine viel höhere gesell-schaftliche Anerkennung der Selbstständigkeit, und wirbrauchen eine Kultur der zweiten, der dritten Chanceund keine Stigmatisierung des Scheiterns.
Erst dann, meine Damen und Herren, werden wir wiedermehr Gründer bekommen, und zwar solche, die aus Lustgründen und nicht aus Frust. Die Gründer von heute sindder Mittelstand von morgen. Ohne Gründungen werdenwir kein Wachstum in Deutschland haben.Neben diesem Mentalitätswechsel braucht es auchklare Bedingungen, um das zu gewährleisten. Geld isteine davon. Wir müssen deshalb die Finanzierungsbe-dingungen verbessern, und zwar für alle Phasen einerGründung, insbesondere für die wichtige Wachstums-phase. Hier haben wir Lücken im deutschen Finanzie-rungssystem. Es ist angesprochen worden: AlternativeFinanzierungsformen wie das Crowdfunding müssenstärker unterstützt werden. Und, ja, es braucht auch einneues Börsensegment zur Belebung von Börsengängenjunger, wachstumsstarker Unternehmen. Wir brauchen
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Christian Flisek
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einen Rechtsrahmen; insbesondere müssen die Eck-punkte für ein Venture-Capital-Gesetz zügig vorgelegtwerden.
Schlussendlich – ich komme zum Schluss – gehörtvor allem der Abbau von bürokratischen Hürden dazu.Wer gründet und wer mit Gründern spricht, weiß: Esmüssen sehr viele Hürden überwunden werden. Wir soll-ten daher die bürokratischen Hürden in der Gründungs-phase so niedrig wie möglich halten und die Ansprech-partner für Gründer in der Verwaltung konzentrieren;denn eine überbordende Verwaltung und eine überbor-dende Bürokratie können aus jeder Lustgründung auchwieder eine Frustgründung machen.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Das Wort hat Halina
Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Wir reden über Gründungsbedingungenin der digitalen Wirtschaft, wir reden über Rahmenbe-dingungen für die digitale Wirtschaft. Beide vorliegen-den Anträge befassen sich nun mit Themen, die deutlichüber die klassischen wirtschaftspolitischen Themen hi-nausgehen. Ich will das einmal benennen: Haftungsrege-lungen für WLAN-Betreiber, digitale Bildung, Entwick-lung von Open Access, Urheberrecht, Open-Data-Gesetz, Medienkompetenz – das alles kommt nicht nurim Antrag der Großen Koalition vor, sondern auch in un-serem Antrag. Ehrlich gesagt, ich finde, das spricht allesdafür, dass das federführend im Ausschuss DigitaleAgenda behandelt wird und nicht im Wirtschaftsaus-schuss.
Es macht, ehrlich gesagt, auch wenig Sinn, hier einenpompösen Antrag vorzulegen, über den dann nächsteWoche – nach der vorläufigen Tagesordnung im Übrigenohne Debatte – abgestimmt werden soll. Das orientiertnicht auf eine seriöse Beratung eines solchen Antrags.
Digitale Gründungsbedingungen zu verbessern oderdie Potenziale der digitalen Wirtschaft auszuschöpfen,beginnt unseres Erachtens in der Schule. Nur wer ver-steht, wie es funktioniert, wird selbstbestimmt und sou-verän mit dem Internet und seinen Möglichkeiten umge-hen können. Deshalb fordern wir ein Förderprogrammfür digitales Lernen und die Ausstattung der Schülerin-nen und Schüler mit entsprechender Hardware sowie dieErarbeitung digitaler und offener Lehr- und Lernmate-rialien. Das ist deutlich konkreter als Ihr Allgemeinplatz.
Wir wollen Netzneutralität gesetzlich festschreiben.Wir sagen auch konkret, wie wir uns das vorstellen,nämlich indem eine Priorisierung unterschiedlicherDienste- und Inhalteklassen nur bei zeitkritischen Diens-ten und ausschließlich zur technischen Effizienzsteige-rung zulässig sein soll. Ergriffene Netzmanagementmaß-nahmen sollen von den Netzbetreibern gegenüber denNutzerinnen und Nutzern begründet und transparent undnachvollziehbar dargestellt werden. Wenn auch Sie vonder Koalition das jetzt fordern, begrüßen wir das. Dannsind wir uns ja einig; denn Netzneutralität ist eine derwichtigsten Voraussetzungen für die Gründung vonStart-ups.
Die Enquete-Kommission Internet und digitale Ge-sellschaft hatte empfohlen, bei Bundesorganen Open-Source-Software zu fördern und ihre Weiterentwicklunggezielt zu unterstützen. Leider ist in Ihrem Antrag davonnicht die Rede. Das finde ich ausgesprochen schade;denn die Förderung und der Einsatz von Open Sourcesind nicht nur eine wichtige Gründungsbedingung, son-dern sie sichern auch die Zukunft mittelständischer digi-taler Unternehmen.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das Urheberrechtwissenschafts- und innovationsfreundlich weiterzuent-wickeln ist. Da sind wir uns alle einig. Eine erste Mög-lichkeit, das umzusetzen, wäre, das aus unserer Sichtinnovationsfeindliche Leistungsschutzrecht für Presse-verlage abzuschaffen.
Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass ein Fokus aufdie soziale Absicherung der Kreativen zu legen ist. WieSie das innerhalb einer Woche durch eine Ausschussbe-ratung klären wollen, ist mir schleierhaft – aber gut. Einkonkreter Weg hierzu wäre beispielsweise, das Urheber-vertragsgesetz zu ändern.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Vor-schlag vorgelegt
– die Grünen auch –, wie die Geltendmachung desRechts auf angemessene Vergütung von Urheberinnenund Urhebern erleichtert werden kann.
Zur sozialen Absicherung der Kreativen gehört aberauch, dass diese die Möglichkeit bekommen oder behal-ten, in die KSK einbezogen zu werden, und dass derje-nige, der mit einem Start-up scheitert, nicht in Hartz IVstürzt; denn das ist keine Ermunterung, aktiv zu werden.
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Halina Wawzyniak
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Eine repressionsfreie soziale Grundsicherung könntehier ein Anfang sein, um Kreativen eine soziale Ab-sicherung zu bieten.Wir sollten uns darüber hinaus wenigstens dazu ent-schließen, eine Enquete-Kommission zum bedingungs-losen Grundeinkommen noch in dieser Legislaturperiodeeinzusetzen, um diese Idee, deren Befürworterin ich per-sönlich bin – sie ist bei uns umstritten; aber ich finde siegut –, mit ihren Vor- und Nachteilen in Ruhe zu erörtern.
Sie sehen: Das Themenspektrum ist umfassender. Esgehört in den Ausschuss Digitale Agenda, und esbraucht mehr Zeit, es zu behandeln.
Danke, Frau Kollegin. – Der nächste Redner ist
Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Ich freue mich, heute meine erste Rede vor diesem Ho-hen Hause über ein Thema halten zu dürfen, das für dieZukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland ganzwesentlich ist, nämlich die Frage, wie wir den Technolo-gie-, Innovations- und Gründungsstandort Deutschlandstärken und wie wir die enormen Potenziale der digitalenWirtschaft für Wachstum und nachhaltige Beschäftigungausschöpfen – ein Ziel, das uns sicher alle eint.Unsere Wirtschaft ist in guter Verfassung und befindetsich auf einem stabilen Kurs. Angesichts der Prognose fürdas aktuelle Jahr dürfen wir positiv gestimmt sein. AlleIndikatoren deuten auf ein weiteres Wachstum der deut-schen Wirtschaft hin. Die Lage und die Stimmung sindgut.Ein Wachstumstreiber der gesamten deutschen Wirt-schaft ist die Digitalisierung, auch weil sie immer mehrwirtschaftliche und gesellschaftliche Lebensbereichedurchdringt und verknüpft, weit über die klassischen Be-reiche der Informations- und Technologiebranche hi-naus.Ein aktuelles und sehr anschauliches Beispiel der un-aufhaltsamen Digitalisierung unserer starken Wirtschaftist die Automobilindustrie. Beim Auto-Salon in Genfwurde einmal mehr deutlich, dass die Digitalisierung dieAutoindustrie antreibt. In Genf stand schon beinahenicht mehr das Auto im Vordergrund, sondern vielmehr dieVernetzung des Autos mit den unterschiedlichen Internet-diensten. Dort wurde von einer revolutionären Entwick-lung gesprochen. Volkswagenchef Martin Winterkorn hatdies als einen der größten Umbrüche seit Bestehen desAutomobils bezeichnet. Wir können uns also der bahn-brechenden Bedeutung, die diese digitale Entwicklungfür unser wirtschaftliches Wachstum und unsere Arbeits-und Lebenswelten mit sich bringt, nicht entziehen; unddas wollen wir auch gar nicht.Die Bedeutung der digitalen Wirtschaft wird durchdie eindrucksvollen Zahlen in den Monitoring-Berichtender letzten Jahre deutlich unterstrichen. Eine für michsehr bemerkenswerte Information lautet, dass den Deut-schen der Zugang zum Netz 5,6-mal so viel wert ist, wieer sie derzeit kostet. Das zeigt den Stellenwert, den dasNetz, den die Digitalisierung für die Menschen mittler-weile einnimmt.Das enorme Potenzial, das uns die Digitalisierung be-schert, gilt es beim Schopfe zu packen; denn Deutsch-land braucht verstärkt Innovationen, um im globalenWettbewerb weiterhin erfolgreich bestehen zu können.In den vergangenen Jahrzehnten war unser Unterneh-mertum ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die deutscheWirtschaft. Ohne die vielen Unternehmer – vom kleinenBetrieb über den Mittelständler bis hin zum global agie-renden Unternehmen – stünden wir heute nicht so gut da.Wir haben es neben den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern vor allem den hervorragenden Innovationen,dem Mut und Fleiß, insbesondere aber auch dem beson-deren Unternehmergeist zu verdanken, dass wir auchheute wirtschaftlich wieder im Aufschwung sind. DiesenUnternehmergeist brauchen wir auch in Zukunft.
Auch heute gibt es viele junge Menschen, die bereitsind, etwas zu unternehmen. So wurden zum Beispielseit 2009 jährlich knapp 9 000 Unternehmen der Infor-mations- und Kommunikationstechnik gegründet. Wirmüssen und wollen aber die Zahl der Gründungen in dennächsten Jahren deutlich steigern, auch weil wir wissen,dass insbesondere inhabergeführte Unternehmen enormeInnovationskraft haben und Innovationen schaffen. Ge-rade vor diesem Hintergrund ist es umso dringlicher,dass wir die Chancen und Potenziale der Digitalisierungergreifen und das Unternehmertum vorantreiben. Diejungen Köpfe in der digitalen Welt bilden das Kapitalunserer wirtschaftlichen Zukunft. Sie treiben die Innova-tionen voran und schaffen Arbeitsplätze. Wir wollen dieGründerkultur und damit den Mittelstand von morgenstärken.
Nun mangelt es in Deutschland nicht an fleißigenMenschen und auch nicht an guten Ideen. Vielmehr sindes oftmals die Rahmenbedingungen, die es Existenz-gründern nicht ganz leicht machen. Dazu gehörensicherlich Themen wie die Entbürokratisierung derAntragsverfahren, eine bessere Vernetzung von Wissen-schaft und Wirtschaft oder der Auf- und Ausbau derNetzwerke für Start-ups. In Bayern besteht beispielsweiseein Netzwerk von 45 Gründerzentren, darunter 23 tech-nologischen. Hier finden Existenzgründer und jungeUnternehmen die Hilfe, die sie in der Gründungs- undFrühphase benötigen. Hier finden auch innovative Ent-wicklungen den Weg in die Wirtschaftlichkeit. Rahmen-bedingungen, die den Erfindergeist aktiv unterstützen,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1571
Hansjörg Durz
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sind sicher der Schlüssel zum Erfolg. Dazu gehört auch,dass genügend Kapital für die Umsetzung neuer, auchwagemutiger Ideen zur Verfügung gestellt wird. Jungen,innovativen Unternehmen ist noch zu häufig der Weg zuden klassischen Finanzierungsquellen versperrt, weil füreine Kreditfinanzierung die Risiken zu hoch und die Si-cherheiten zu gering sind. Zweifellos gibt es eine Reiheerfolgreicher Modelle der Förderung innovativer Unter-nehmen, die fortgesetzt werden müssen. Mit dem High-Tech Gründerfonds II mit einem Fondsvolumen von301,5 Millionen Euro wurden richtige Weichen gestellt.Auch der Innovationszuschuss Wagniskapital ist sicher-lich ein guter Weg, den wir weiter ausbauen müssen.
Aber wir brauchen ein durchgängiges Angebot an Fi-nanzierungsmöglichkeiten für die unterschiedlichstenPhasen der Entwicklung eines jungen Unternehmens:von der Frühphase bis hin zur Wachstumsfinanzierung.Ich bestätige: Da gibt es Lücken.
Dabei müssen wir uns neben den Möglichkeiten staat-licher Fördermodelle vor allem um die Gewinnung pri-vater Investoren kümmern. Das im Koalitionsvertragfestgehaltene Instrument des Crowdfunding ist ein In-strument zur Frühphasenfinanzierung, in welchem vielekleine Beträge einer Geschäftsidee zur Umsetzung ver-helfen. Es ist ein Modell, das gerade in jüngster Zeit anDynamik gewinnt. Aber sogenanntes Wagniskapitalführt in Deutschland im Vergleich zu anderen Industrie-nationen immer noch ein Schattendasein. Auch wenn dieVenture-Capital-Investitionen in IT-Start-ups 2013 leichtzugelegt haben, haben wir in Deutschland relativ wenigGründerkapital. Deswegen müssen wir den gesetzlichenRahmen dafür schaffen, dass mehr Business Angels injunge innovative Unternehmen investieren, dass unserenintelligenten Köpfen mehr Wagniskapital zur Verfügunggestellt wird und dass in einer späteren Unternehmens-phase auch Anteile innovativer, wachstumsstarker Un-ternehmen in einem neu eingeführten Börsensegmentgehandelt werden können.Deutschland kann international mit den besten undkreativsten Köpfen konkurrieren. Wir haben die nötigeManpower und hervorragendes Know-how. Wir müssenunsere Ressourcen nur besser nutzen und vor allem dieRahmenbedingungen für Innovationen und Investitionenfördern. In der Digitalisierung stecken für unsere Wirt-schaft und für unsere Gesellschaft große Potenziale undChancen. Gehen wir sie an!Vielen Dank.
Lieber Herr Kollege, im Namen des ganzen Hauses
wünschen wir Ihnen, unserem Augsburger bzw. Neu-
säßer Kollegen, alles Gute für die nächste Zeit als Abge-
ordneter und gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten und si-
cherlich nicht letzten Rede im Deutschen Bundestag.
Die nächste Rednerin ist Tabea Rößner für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wenn man ein Symbol für die digitale Kompetenz derGroßen Koalition bräuchte, wäre dies ein herausgezoge-ner LAN-Stecker. Den bekam man nämlich am Montag-nachmittag um Punkt 15 Uhr zu sehen, falls man geradedabei war, die Pressekonferenz der Minister Gabriel, deMaizière und Dobrindt im Internet zu verfolgen. Da stel-len sich die drei Minister hin und wollen Einigkeit undKompetenz demonstrieren – und nach einer halbenStunde wird ihnen der Stecker gezogen, weil die Leitungfür den Stream nicht lang genug reserviert worden war.So viel zur vereinten Internetkompetenz der Minister. InSachen Netzpolitik schaut man bei der GroKo in dieRöhre.
Aber selbst als der Stream lief, redeten die drei Minis-ter viel und sagten äußerst wenig.
Minister Dobrindt blieb beim Breitbandausbau im Vagen –so wie übrigens auch Sie in Ihrem Antrag. Das Ziel, bis2018 flächendeckend eine Downloadgeschwindigkeitvon 50 Megabit pro Sekunde zu erreichen, klingt sehrgut; aber schon 2011 hatte Bundeskanzlerin Merkel ver-sprochen, es werde Highspeedinternet für drei Viertel al-ler Haushalte bis zum Jahr 2014 geben. Jetzt haben wirdas Jahr 2014, aber immer noch kein Highspeednetz.
2018 ist also das neue 2014. Ist es eigentlich Zufall, dassSie als Zeitpunkt immer das Jahr nach der Bundestags-wahl nennen?Aber gut, das Ziel ist klar; wie Sie es erreichen wol-len, ist jedoch nicht klar. Ein Kaffeeklatsch mit den Tele-kommunikationsunternehmen hilft da auch nicht weiter.Noch immer ist kein Geld da, und auf die Erlöse einerweiteren digitalen Dividende zu setzen, ist nur scheinbareine Lösung. Es ist völlig unklar, ob es überhaupt hoheEinnahmen geben wird. Das ist ungefähr so, als wollteich mein Eigenheim mit einem zukünftigen Lottogewinnfinanzieren. Das ist unseriös und planlos.
Immerhin gibt es im Antrag zwei Hoffnungsschim-mer: Netzneutralität soll gesetzlich festgeschrieben wer-
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Tabea Rößner
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den, und es soll hinsichtlich der Verbreitung von lokalenund offenen WLAN-Netzen klare Haftungsregelungengeben. Beides darf nicht halbherzig angegangen werden.Es wäre nämlich ein echter Fortschritt, wenn wir das be-kämen. Auf die konkrete Umsetzung bin ich allerdingsziemlich gespannt.Ich möchte noch auf einen zweiten Aspekt eingehen:die Kreativwirtschaft. Ich finde es schon sehr bemer-kenswert, dass Sie die „Gründer von heute“ als den„Mittelstand von morgen“ bezeichnen. Die Wahrheit istdoch etwas differenzierter; denn das Ergebnis vielerGründungen durch Kreative im digitalen Bereich sindKlein- und Kleinstunternehmen, und diese haben häufigganz andere Sorgen. Sie benötigen zum Beispiel für dieGründung oft gar kein großes Risikokapital, sonderneher eine kleine Anschubfinanzierung. Das, HerrJarzombek, hat auch die Arbeit der Enquete-Kommis-sion ergeben; darüber haben wir schon einige Diskussio-nen geführt. Hier könnten zum Beispiel Mikrokrediteschnell und wirksam helfen.
Ebenso mangelt es oft an Platz, an Räumen für das ei-gene Unternehmen.Diese Probleme betreffen insbesondere Unternehmenrund um die Kreativwirtschaft, und für die haben Sieauch sonst nicht viel im Angebot. Sie machen keine kon-kreten Angaben, wie Sie die dringend notwendigen Re-formen im Urheberrecht, im Urhebervertragsrecht oderbei der Künstlersozialkasse angehen wollen. Mir fehltein Signal, das den Kreativen, den Einzelkämpfern, denKleinstunternehmern, frei nach dem britischen KünstlerAstley, zeigt: Wir werden euch niemals aufgeben, nie-mals im Stich lassen, verletzen oder verlassen.Liebe SPD-Kollegen, ich kann mich an einen Antragaus der letzten Legislaturperiode erinnern.
Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich bin gleich fertig. –
Ich kann mich an Ihren Antrag zur Kreativwirtschaft
2020 erinnern. Da waren Sie deutlich weiter. Ich ver-
stehe nicht, warum Sie an dieser Stelle jetzt so zögerlich
sind.
„Agenda“ heißt wörtlich übersetzt: das zu Tuende.
Wenn es bei den vielen vagen Andeutungen ohne Kon-
zept dahinter bleibt, dann werden Sie sich mit der digita-
len Agenda in dieser Legislatur jedenfalls nicht überar-
beiten.
Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin istNadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist gut, dass wir heute im Plenum über diePotenziale der digitalen Wirtschaft und über die Poten-ziale für Wachstum, Innovation und Beschäftigung inDeutschland sprechen. Es passt sehr gut, weil geradezeitgleich in Hannover die CeBIT, die weltgrößte IT-Messe, stattfindet. Auf der CeBIT wird gezeigt, wie dieZukunft im digitalen Bereich aussieht und welche Pro-duktinnovationen und technischen Innovationen es gibt.Es wäre aber zu kurz gesprungen, wenn wir dieCeBIT nur als Leistungsschau der IT-Branche betrachtenwürden. Die CeBIT ist viel mehr. Jeder, der da war, wirddie gleiche Erfahrung gemacht haben. Man hat auf derCeBIT gespürt, wie radikal die Digitalisierung unser Le-ben, unser Arbeiten, unseren Alltag, die Gesellschaftund die Wirtschaft verändert. An dieser Veränderungwollen wir teilhaben.Wir waren mit unserem Ausschuss Digitale Agenda,mit dem Ausschussvorsitzenden Koeppen, mit demSprecher Jarzombek und mit vielen interessierten Kolle-gen, vor Ort. Wir haben gesehen, was Digitalisierung imEinzelnen heißt, zum Beispiel miteinander kommunizie-rende Autos. Wir haben gesehen, dass es Roboter gebenwird, die zukünftig sowohl im Weltall als auch in Kri-sengebieten eingesetzt werden sollen. Wir haben eineFrau mit einer digitalen Handprothese getroffen, diedurch diese Handprothese eine ganz neue Lebensqualitätgewonnen hat. Wir haben gesehen, wie etwa in meinemBundesland, dem Saarland, die Antragstellung für denSchwerbehindertenausweis, die Bewilligung und dieKorrespondenz mit den Ärzten, also das gesamte Verfah-ren, digitalisiert wird. Das heißt, die Verwaltung wirdschlanker, die Antragstellung wird erleichtert, und demBetroffenen kann viel schneller geholfen werden.Das alles wurde durch innovative Forschungsinstituteund durch eine Menge Unternehmen ermöglicht, sowohldurch große Player, die man kennt, als auch durch vieleinnovative Start-ups. Es war schön, zu sehen, dass essehr viel Forschung und Business made in Germany gibtund dies weltweit erfolgreich ist. Ich finde, darauf kön-nen wir sehr stolz sein.
Wir waren auch an den Ständen des PartnerlandesGroßbritannien und sind durch die Asien-Hallen gegan-gen. Wir haben also gesehen, wie die Dynamik in diesenLändern ist. Die Konkurrenz schläft nicht. Deshalb müs-sen wir künftig noch mehr Kraft und Energie in die digi-tale Wirtschaft stecken. Der IKT-Standort Deutschlandliegt derzeit auf einem guten fünften Platz. Wir sind nachUmsätzen der viertgrößte Standort der Welt. Das ist einrespektables Ergebnis. Wir kennen aber die Dynamik in
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Nadine Schön
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anderen Ländern. Wir wissen, wie etwa die USA oderChina beim Thema Industrie 4.0 Gas geben. Da wollenwir den Anschluss nicht verlieren. Deshalb haben wir imKoalitionsvertrag eine Reihe von Maßnahmen verein-bart, um zum digitalen Wachstumsland Nummer eins zuwerden.Im vorliegenden Antrag haben wir vier Schwerpunkteherausgegriffen. Ein Schwerpunkt ist der Breitbandaus-bau. Frau Kollegin Rößner, Sie haben kritisiert, dass Ih-nen das nicht schnell genug geht und dass zu wenig ge-tan wird. Ich hätte mich wirklich sehr gefreut, wenn Sieeinen Vorschlag gemacht hätten, wie es denn schnellergehen kann.
Wir haben die Netzallianz. Wir, das Parlament, werdendie Rahmenbedingungen schaffen, damit es noch schnel-ler geht. Wir werden den Unternehmen und auch der Re-gierung, die die Regulierungen vornehmen muss, dierichtigen Werkzeuge an die Hand geben, damit esschneller geht.
Wenn Sie in der Zwischenzeit noch konkrete Vorschlägehaben, sind wir sehr dankbar und nehmen diese sehrgerne auf. Nur zu meckern, dass es nicht schnell genuggeht, aber keinen einzigen konkreten Vorschlag zu ma-chen, Frau Rößner, das ist wirklich zu wenig.
Ein weiterer Schwerpunkt ist das Thema digitale Si-cherheit. Auf der CeBIT wurde deutlich, dass die For-schung in Deutschland in diesem Bereich sehr gut ist. Esgibt sehr viele kleine und mittelständische Unternehmen,die etwa das Kanzlerhandy entwickelt haben oder sehrerfolgreich im Bereich Ende-zu-Ende-Verschlüsselungsind. Wir haben in Deutschland sichere Router, die vondeutschen Unternehmen hergestellt werden. Auf alldiese Entwicklungen müssen wir setzen. Die Kompetenzdafür ist in Deutschland vorhanden.Eines muss klar sein: Vertrauen in die Digitalisierungund Vertrauen in IT können wir nur erreichen, wenn wirdurch entsprechende Angebote für Sicherheit sorgen.Deutschland hat in diesem Bereich sehr große Chancen.Sicherheit darf aber nicht nur ein Luxus für wenige sein.Ein sicheres Handy gehört nicht nur in die Hände derKanzlerin und der Minister. Sicherheit muss für alle, dieIT nutzen, zum Standard werden; denn nur so werdendie Unternehmen und auch die Bürger das notwendigeVertrauen haben, um sich an diesem Prozess zu beteili-gen. Nur so werden wir den Anschluss an andere Länderhalten können.
Wir müssen verstärkt in Fachkräfte im eigenen Landinvestieren. Wir müssen aber auch Fachkräfte von außenwerben. Außerdem müssen wir – das wurde heute schonsehr oft gesagt – die jungen, innovativen Köpfe in unse-rem Land weiter fördern. Wir müssen für ein besseresGründungsklima in unserem Land sorgen. Wir müssenden Menschen Mut machen. Sie sollen nicht nur abhän-gig beschäftigt arbeiten, sondern ein eigenes Unterneh-men gründen, sich selbstständig machen, das eigeneSchicksal in die Hand nehmen, Mitarbeiter einstellenund für sich und andere Verantwortung übernehmen. DerIT-Bereich ist dafür sehr gut geeignet. Wir haben inDeutschland eine lebendige Gründungskultur. Das wol-len wir weiter unterstützen und fördern.Im Koalitionsvertrag haben wir dafür die Einführungeiner „Gründungszeit“ vereinbart. Wir wollen das ganzeGründungsverfahren endlich entbürokratisieren. Wennman bedenkt, wie lange es in Deutschland dauert, einUnternehmen zu gründen, und wie schnell und effizientdas in anderen Ländern geht, dann wird eines deutlich:Wir als Politiker haben unsere Hausaufgaben zu machen.Wir wollen den Unternehmergeist stärken, wir wollenGründungen vereinfachen und bei den dafür notwendi-gen Instrumenten nachbessern.
Die Kollegen von der Linken haben leider nicht soganz verstanden, wie das heutzutage läuft. Liebe Kolle-gen von der Linken, es ist zwar richtig, dass es Gründun-gen in Deutschland gibt. Aber leider können die Unter-nehmen irgendwann nicht mehr wachsen und sinddeshalb gezwungen, ins Ausland, zum Beispiel in dieUSA, zu gehen, um sich dort von einem Venture-Capi-tal-Unternehmen finanzieren bzw. aufkaufen zu lassen.Sie haben also nur dort eine Zukunft; denn in Deutsch-land bekommen sie kein Venture Capital.Nun sagen Sie: Venture Capital ist in Deutschlandkein Thema, das ist alles Kapitalismus und ganz furcht-bar.
Das ist genau der falsche Ansatz. Wir brauchen das Ven-ture Capital in Deutschland, wir brauchen sogar mehrVenture Capital in Deutschland.Ich weiß nicht, welche Studien Sie zitieren.
Wenn Sie auf der CeBIT mit jungen Start-up-Unterneh-mern sprechen, dann sagen Ihnen alle, dass das VentureCapital, die Wachstumsfinanzierung, das zentrale Pro-blem in Deutschland ist. Die deutschen Unternehmenkommen ab einem gewissen Punkt in Deutschland undauch in Europa nicht mehr weiter. Das wollen wir än-dern. Wir brauchen das Venture Capital, wir brauchendas Wachstumskapital.
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Frau Kollegin.
Nadine Schön (CDU/CSU):
Dafür wollen wir sorgen.
Genau, und wir brauchen jetzt langsam das Ende Ihrer
Rede.
Nadine Schön (CDU/CSU):
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mich an
das Ende meiner Redezeit erinnern.
Viele Aufgaben liegen vor uns. Wir wissen, was wir
anpacken müssen. Wir haben große Ambitionen. Wir
wollen die Neugier in unserem Land stärken und den
jungen, aber auch den klassischen Unternehmen dazu
verhelfen, dass sie die Chancen der Digitalisierung –
Frau Kollegin, das war aber nicht nur ein Erinnern,
sondern Sie müssen wirklich zum Ende kommen!
Nadine Schön (CDU/CSU):
– durch Vernetzung und Internationalisierung nutzen.
Tja, aber dann muss ich es Ihren Kollegen von der
Redezeit abziehen. So ist nun einmal das Leben: gerecht.
Jetzt hat das Wort Lars Klingbeil für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich, dass wir den Koalitionsantrag zur digita-len Wirtschaft heute im Plenum diskutieren können. Dasist ein wichtiges Signal, das die Große Koalition setzt.Ich will hier auch einmal deutlich sagen: WährendGrüne und Linke noch meckern bei der Frage „federfüh-rend oder mitberatend“,
hat der Ausschuss angefangen, zu arbeiten, und zusam-men mit dem Wirtschaftsausschuss hier einen wirklichwegweisenden Antrag vorgelegt, der sich mit der digita-len Wirtschaft befasst.
Wenn ich mir die Reden von Linken und Grünen an-höre, in denen moniert wird, was alles in diesem Antragfehlt – es hat mir jetzt gerade noch gefehlt, dass kritisiertwird, dass da nichts zum Thema Genmais drinsteht –,
dann will ich Ihnen sagen: Das ist ein Antrag, der sichum das Thema „digitale Wirtschaft“ kümmert und derauch andere Themen anschneidet. Aber seien Sie sich si-cher: Es wird von der Großen Koalition noch viele wei-tere Anträge geben, die sich mit Teilaspekten der digita-len Agenda beschäftigen. Staatssekretärin Zypries hatvorhin angesprochen, wie umfassend dieses Thema ist.Es wird jetzt von der Bundesregierung bearbeitet. Auchwir als Parlament werden daran arbeiten.Ich kann Ihnen berichten: Wir haben in der Koalitionvereinbart, dass es bald einen Antrag zu dem gesamtenKomplex der Datensicherheit und zur Frage der IT-Si-cherheit, des Datenschutzes geben wird. Lassen Sie unsheute aber bitte über das diskutieren, wovon dieser An-trag handelt, nämlich über die digitale Wirtschaft und dieFrage: Wie können wir eigentlich die Potenziale, die indiesem Bereich liegen, stärken? Wie können wir sie her-vorheben? Wie können wir Arbeitsplätze hier inDeutschland, aber auch in Europa schaffen?
Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich den Antraganschauen, den wir in den letzten Wochen mit Hoch-druck erarbeitet haben, dann sehen Sie, dass er im Be-reich der digitalen Wirtschaft zwei Schwerpunkte hat.Der eine ist die Frage: Wie können wir Existenzgrün-dungen in Deutschland stärken? Wie können wir dieRahmenbedingungen dafür verbessern? Der andereSchwerpunkt liegt auf der Frage: Wie können wir im Be-reich der Wirtschaftsförderung in Bezug auf die klassi-schen Industriebereiche, die ja auch vor großen Umbrü-chen durch die Digitalisierung stehen, zu Veränderungenkommen? Wie können wir hier Digitalisierungsmecha-nismen fördern und für bessere Rahmenbedingungensorgen?Es gibt dann aber auch eine ganz spannende dritteFrage, die wir in diesem Antrag anfangen zu beantwor-ten: Wie können wir die unterschiedlichen Bereiche– Start-ups auf der einen Seite und Industrie 4.0 auf deranderen Seite – zusammenbringen? Eine ganz entschei-dende Plattform wird der IT-Gipfel sein; das hat dieStaatssekretärin vorhin angesprochen. Auch der Wirt-schaftsminister hat es im Rahmen der CeBIT gesagt. Wirwollen, dass der Nationale IT-Gipfel breiter aufgestelltwird, dass er geöffnet wird, dass dort auch die klassischeIndustrie viel stärker vertreten sein wird und dass wirThemen stärker zusammen diskutieren.Wenn wir über digitale Wirtschaft reden, dann müs-sen wir uns klarmachen: Es ist eine Wirtschaft, die vorallem auf Ideen basiert, auf Innovationen, auf Kreativi-tät. Es ist ganz wichtig, sich das bewusst zu machen,wenn wir darüber nachdenken, wie wir die Potenzialedieser Wirtschaft stärken können.
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Lars Klingbeil
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Auf der CeBIT konnte ich mit vielen jungen Grün-dern sprechen. Man muss schon feststellen: Das ist einesehr ruhige Branche. Die haben nicht viele Forderungen.Aber wenn man die Gründer fragt: „Was ist für euchwichtig? Welche Rahmenbedingungen müssen verbes-sert werden?“, erhält man eigentlich immer nur zweiAntworten. Das Erste ist der Zugang zu Kapital, und dasZweite ist die Frage der Fachkräfte.
Das sind die Fragen, die junge Gründer in Deutschlandbewegen. Auch dazu gibt es in diesem Antrag viele Ant-worten, die wir als Große Koalition geben.Wir wollen den Zugang zu Kapital verbessern. Dabeigeht es nicht nur um die Wachstumsphase. Auch hier ha-ben wir Antworten, etwa beim Thema Crowdfunding;das wollen wir rechtlich besser absichern. Aber es gehtauch um die Wachstumsphase. Das ist das, was unsStart-ups sagen. Das ist ein großes Problem. Wenn mansich entschieden hat, zu wachsen, wenn die Idee viel-leicht auch europäisch oder international interessantwerden soll, dann stellt sich nämlich die Frage: Wiekann man dieses Wachstum absichern? Deswegen wol-len wir das Venture-Capital-Gesetz auf den Weg bringen.Es soll Eckpunkte dazu formulieren. Wir wollen auchdie Einführung eines neuen Börsensegments Markt 2.0prüfen. Wir wollen den Bereich des Wagniskapitalsstaatlicherseits ausbauen. Das ist ein ganz wichtigerPunkt, den wir mit diesem Antrag auf den Weg bringenund den wir von der Bundesregierung einfordern.
Das Zweite ist dann in der Tat der Bereich der Fach-kräfte. Da geht es um eine Willkommenskultur inDeutschland, auch um die Frage der Zuwanderung, diewir anpacken werden. Wir wollen darüber reden: Wiekönnen wir Fachkräfte herholen? Aber es geht auch umdie Fachkräftegeneration von morgen.Das Thema „digitale Bildung“ taucht ebenfalls in die-sem Antrag auf, aber noch nicht so ausführlich, wie wirdas in dieser Legislatur behandeln wollen, auch gemein-sam mit den Ländern. Aber wir haben damals in der En-quete-Kommission viele gute Beschlüsse zur digitalenBildung gefasst, etwa wenn es darum geht, dass Schüle-rinnen und Schüler Zugang zu einem eigenen Laptopoder Tablet haben sollen, dass die Lehrerausbildung ver-ändert werden muss, dass die Bildungsmaterialien digi-talisiert werden müssen. In Bezug auf die digitale Bil-dung und die Fachkräftegeneration von morgen liegtalso noch viel Arbeit vor uns. Auch das wollen wir anpa-cken.Was neben Talents und Capital zur Stärkung vonGründungen und zur Stärkung der Industrie 4.0 gehört,sind die Themen Breitband – das ist schon angesprochenworden – und IT-Sicherheit, die wir in einem eigenenAntrag bearbeiten werden.Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns schauen, wie wir ge-meinsam die digitale Wirtschaft in Deutschland stärkenkönnen. Das sind die Arbeitsplätze von morgen. Dassind neue Arbeitsplätze, auch neue Arbeitsmodelle, diewir fördern müssen. Es geht insgesamt darum, inDeutschland eine neue Gründerzeit beginnen zu lassen.Mit diesem Antrag wollen wir dafür ein deutliches Si-gnal setzen. Ich freue mich auf die Beratung hier im Par-lament und auf die Verabschiedung.Vielen Dank.
Danke schön, Herr Kollege. – Letzter Redner in die-
ser Debatte ist Thomas Viesehon für die CDU/CSU-
Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich in meinerersten Rede in diesem Hohen Hause die Gelegenheithabe, zur Bedeutung der digitalen Wirtschaft zu spre-chen. Als Mitglied des Ausschusses für Verkehr und di-gitale Infrastruktur möchte ich dabei den Fokus auf denweiteren Ausbau der digitalen Netze legen.
Nicht umsonst wurde der Kompetenzbereich des Ver-kehrsausschusses um dieses Thema ergänzt. Die Einbin-dung der digitalen Infrastruktur war sinnvoll und wirdFrüchte tragen. Nachdem es uns in den letzten Jahren ge-lungen ist, eine fast flächendeckende Internetversorgungsicherzustellen, steht nun der qualitative Ausbau im Mit-telpunkt. Denn nicht nur unsere Verkehrsinfrastrukturmuss funktions- und leistungsfähig sein; auch die Anbin-dung an digitale Netze muss diesen Anforderungenentsprechen. Beide Schwerpunkte unserer Arbeit imAusschuss sind wesentliche Bausteine der positivenWeiterentwicklung Deutschlands. So werden wir erfolg-reich Mobilität und Modernität für unser Land und diehier lebenden Menschen ermöglichen.
Meine Vorredner sind bereits ausführlich auf die Po-tenziale, die die digitale Wirtschaft in Deutschland hat,eingegangen. Ich kann mich ihnen nur anschließen.Deutschland muss die Chancen, die sich in der digitalenWirtschaftswelt bieten, konsequent nutzen. Wir als Ver-antwortliche im Bund müssen zusammen mit unserenMitstreitern auf den anderen politischen Ebenen die rich-tigen Rahmenbedingungen setzen, um auch in Zukunftglobal wettbewerbsfähig zu bleiben. Neben der Klärungvon rechtlichen Fragen, die zum Beispiel im Beihilfe-recht oder bei der Öffnung von WLAN-Netzen bestehen,gehört zu den Rahmenbedingungen insbesondere dieschon genannte flächendeckende und funktionsfähige di-gitale Infrastruktur.Das Ziel der nächsten vier Jahre ist gesetzt: in allenTeilen Deutschlands leistungsfähige Breitbandan-schlüsse mit mindestens 50 Mbit/s, und das so schnell
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Thomas Viesehon
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wie möglich. Vom Erreichen dieses Ziels wird insbeson-dere der ländliche Raum profitieren; denn während inden Ballungszentren der Breitbandausbau mit Glasfaser-kabeln zum großen Teil abgeschlossen oder weit fortge-schritten ist, gibt es im ländlichen Raum immer noch Lü-cken.
Hier gilt es, Abhilfe zu schaffen. Ich komme aus demländlichen Raum.
Es gibt durchaus auch dort Fortschritte. Diesbezüglichhat die digitale Agenda schon etwas gebracht. Die Digi-tale Dividende war kein Lottogewinn, sondern sie wurdegezielt eingesetzt, wenn mir das Wort erlaubt ist. Alleunsere Bürgerinnen und Bürger – Sie können sich daraufverlassen, dass das meine Marschrichtung sein wird –,auch die auf dem Land, sollen einen uneingeschränktenZugang zur digitalen Welt haben, und zwar in dem benö-tigten Umfang und in der zuvor genannten Zeit.Wir sind uns darüber im Klaren, dass eine flächende-ckende Versorgung bis 2018 ausschließlich über Glasfa-sernetze aufgrund der damit verbundenen Kosten nichtzu realisieren ist. Wie können wir das Versorgungszielalternativ erreichen? Die Lösung ist die Nutzung vonInnovationen im Bereich der bereits vorhandenen Kup-ferdraht-, Mobilfunk-, Kabel- und WLAN-Netze. Zu-dem müssen die bisherigen Instrumente für den Breit-bandausbau überprüft und neue Ansätze entwickeltwerden. Bezogen auf das Festnetz gehört dazu, für alleeingesetzten Technologien eine weitere Reduzierung derGrabungskosten als einem der größten Kostentreiber zuerreichen. Zur vollen Netzabdeckung können wir zudemgering besiedelte Gebiete über den weiteren Ausbau desLTE-Netzes erschließen. Hierfür gilt es weitere Funkfre-quenzressourcen im Breitbandbereich vorzuhalten.Dies alles soll verdeutlichen: Nur mit dem richtigenTechnologiemix wird es einen schnellen und bezahlba-ren flächendeckenden Breitbandausbau geben.Für 2016 ist im Rahmen der Digitalen Dividende 2die Versteigerung eines weiteren LTE-Frequenzblocksmit guten Ausbreitungsmöglichkeiten geplant. DieserZeitplan ist ambitioniert, denn bei diesen Maßnahmenhandelt es sich um Frequenzen aus dem Rundfunkbe-reich. Da stoßen wir schon jetzt auf Widerstände vonRundfunkanstalten und Interessenverbänden, die dieklassische Kultur- und Medienlandschaft gefährdet se-hen. Deswegen müssen wir frühzeitig den Dialog auf-nehmen und gemeinschaftlich Lösungen erarbeiten, da-mit es nicht zu unnötigen Verzögerungen kommt.Dabei ist auch klar, dass wir die Vergabe der neuenFrequenzen an eine unmissverständliche und eindeutigeVersorgungsauflage für den ländlichen Raum koppelnund die Erträge aus der Frequenzvergabe zweckgebun-den für den flächendeckenden Ausbau der Netze einset-zen müssen. Das heißt: keine Frequenzvergabe ohne dieSicherstellung der Versorgung ländlicher Räume.
Aber wir wollen auch den offenen Dialog mit den Ver-antwortlichen. Deshalb bin ich froh, dass BundesministerAlexander Dobrindt am vergangenen Freitag mit der Ini-tiative „Netzallianz Digitales Deutschland“ hierfür denStartschuss gegeben hat. Denn nur wenn wir die großenTelekommunikations- und Netzunternehmen mit an denTisch holen, können wir gemeinsam und auf schnellemWege unser Ziel der funktions- und leistungsfähigenBreitbandversorgung in ganz Deutschland erreichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns allediesen Weg beschreiten und die Chancen der Digitalisie-rung zum Wohle unseres Landes und der hier lebendenMenschen nutzen.Danke schön.
Vielen herzlichen Dank, lieber Kollege. Sie hätten ei-gentlich noch eine halbe Minute weiterreden können.Vielleicht das nächste Mal; denn mit Sicherheit war dasnicht Ihre letzte Rede. Auch Ihnen sage ich Glück-wunsch zu Ihrer ersten Rede und wünsche Ihnen viel Er-folg bei Ihrer Arbeit hier im Deutschen Bundestag. MitIhnen hat heute ein Kollege seine erste Rede gehalten,der bei der Raiffeisenbank ausgebildet worden ist. Einanderer Kollege, der vorhin ebenfalls seine erste Redegehalten hat, war bei der Sparkasse.
Also ist alles gut austariert. Wir sind in guten Händen.Ich gratuliere Ihnen sehr.
Wir kommen zu den Abstimmungen über die Über-weisungsvorschläge.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 18/764 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federfüh-rung ist jedoch strittig. Deswegen müssen wir abstim-men. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschendie Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft undEnergie, die Fraktion Die Linke wünscht Federführungbeim Ausschuss Digitale Agenda.Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführungbeim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist der Überweisungsvorschlag ab-gelehnt bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen undAblehnung von CDU/CSU und SPD.Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Feder-führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich?
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Vizepräsidentin Claudia Roth
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– Ja, die wollen wir alle, aber jetzt geht es um die Über-weisung.
Dieser Überweisungsvorschlag ist angenommen:Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ablehnung derLinksfraktion und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-nen.Wir kommen jetzt zur Vorlage auf Drucksache 18/771.Sie soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Federfüh-rung strittig, same procedure. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschussfür Wirtschaft und Energie, die Fraktion Die Linkewünscht Federführung beim Ausschuss DigitaleAgenda.Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführungbeim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist abge-lehnt: Zustimmung von Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung von der Mehrheit von CDU/CSU und SPD.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen von CDU/CSU und SPD – Federführungbeim Ausschuss für Wirtschaft und Energie – abstim-men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derÜberweisungsvorschlag angenommen: Zustimmung vonCDU/CSU und SPD und Ablehnung von Linken undBündnis 90/Die Grünen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 b sowie Zusatz-punkt 2 auf:14 b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenHalina Wawzyniak, Jan Korte, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEParteispenden von Unternehmen undWirtschaftsverbänden verbieten, Partei-spenden natürlicher Personen begrenzenDrucksache 18/301Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür mehr Transparenz in der InternationalenAtomenergie-OrganisationDrucksache 18/772Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 h auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 15 a:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENErneute Überweisung von Vorlagen aus frü-heren WahlperiodenDrucksache 18/770Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Dieser Antrag ist einstimmigangenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 15 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 14 zu PetitionenDrucksache 18/594Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 14 ist damit einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 15 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 15 zu PetitionenDrucksache 18/595Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 15 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 15 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 16 zu PetitionenDrucksache 18/596Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 16 ist angenommen:Zustimmung von CDU/CSU und SPD-Fraktion, Nein-stimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/DieGrünen.Tagesordnungspunkt 15 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 17 zu PetitionenDrucksache 18/597
Metadaten/Kopzeile:
1578 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 17 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 15 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 18 zu PetitionenDrucksache 18/598Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Sammelübersicht 18 ist angenommen:Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DieGrünen und Ablehnung der Linken.Tagesordnungspunkt 15 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 19 zu PetitionenDrucksache 18/599Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Sammelübersicht 19 ist angenommen:Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Linken und Ab-lehnung von Bündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 15 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 20 zu PetitionenDrucksache 18/600Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Sammelübersicht 20 ist angenommen:Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ablehnung vonBündnis 90/Die Grünen und Linken; keine Enthaltun-gen. – Jetzt sind wir damit durch.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 8. April 2013 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Repu-blik Östlich des Uruguay über Soziale Sicher-heitDrucksache 18/272Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Auswärtiger AusschussAusschuss für GesundheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Kolle-gin Waltraud Wolff für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Am 5. Juli 1930lief die „Conte Verde“ in Montevideo ein. An Bordwaren die europäischen Teilnehmer der ersten Fußball-weltmeisterschaft. Uruguay hatte sich bereit erklärt, dieWeltmeisterschaft auszutragen.Als das Schiff am Kai festlag– so ist vom belgischen Schiedsrichter Jan Langenus zulesen –,empfing uns eine vieltausendköpfige Menschen-menge, deren herzliches Willkommen nur übertrof-fen wurde von der Geschäftigkeit der Photographen…Deutsche Fußballspieler waren nicht an Bord. Deutsch-land trat 1930 nicht an.Bis zum Jahr 2014 hat sich sehr viel geändert. Min-destens 10 000 Deutsche und 40 000 Menschen mitdeutschen Wurzeln leben in Uruguay. Ich finde, das isteine ungewöhnlich hohe Zahl, wenn man sich einmalvorstellt, dass die Bevölkerung Uruguays circa 3,4 Mil-lionen Menschen umfasst. Auch die wirtschaftlichenBeziehungen zu Deutschland sind sehr eng. Wir sind inEuropa der größte Abnehmer von Produkten aus Uru-guay; weltweit sind wir der sechstgrößte Abnehmer.Heute, meine Damen und Herren, beraten wir in ers-ter Lesung einen Gesetzentwurf über ein Sozialabkom-men zwischen Deutschland und der Republik Östlich desUruguay. Mit diesem Abkommen vertiefen wir die ohne-hin schon sehr gute Zusammenarbeit. Wir schaffen ingegenseitigem Einvernehmen soziale Sicherheit. Dabeigeht es um soziale Errungenschaften für Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer, die zum Arbeiten in dasjeweils andere Land entsandt werden. Außerdem werdendie Rentensysteme koordiniert. Das heißt, Doppelversi-cherungen sollen vermieden werden, und Lücken imRentenverlauf werden geschlossen. Das macht es dannnatürlich einfacher: für die entsendenden Unternehmen,weil sie mit weniger Bürokratie zu tun haben, und für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil sie oftmalsvon doppelter Beitragsbelastung betroffen sind. Das al-les wird besser.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Uruguay hatnach einer sehr schweren Wirtschaftskrise wieder An-schluss an die Weltwirtschaft gefunden. Die Wirtschaftwuchs. 2010 – man wundert sich – gab es ein Wachstumvon 4 Prozent. Armut und Arbeitslosigkeit nahmen indieser Zeit sehr stark ab. In Berichten über Uruguay istimmer von dem Musterknaben in Lateinamerika dieRede. So hat die Wirtschaftswoche 2012 mit Blick aufdas krisengeschüttelte Europa zum Beispiel die Fragegestellt, was Griechenland von Uruguay lernen könnte.Dieses Land in Südamerika hat seinen wirtschaftli-chen Aufschwung geschafft, indem es notwendigeReformen beherzt angepackt hat. Es ist darauf hinzuwei-sen, dass der Staat dabei ein ganz aktiver Motor war undgehandelt hat. Man hat nämlich gesagt: Wir wollenUruguay zur Logistikdrehscheibe Lateinamerikas
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Waltraud Wolff
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machen. – Gleichzeitig hat man das Steuersystem, denArbeitsmarkt und das Gesundheitssystem reformiert. ImJahr 2002, als mit der Frente Amplio ein Mitte-Links-Bündnis gewählt wurde, war völlig klar, in welche Rich-tung man geht. Man wollte die Lebenssituation derbreiten Bevölkerungsschicht verbessern. Die Menschenhaben erwartet, im Zuge des wirtschaftlichen Auf-schwungs an dieser Verbesserung teilzuhaben.2004 waren in Uruguay noch 40 Prozent der arbeiten-den Bevölkerung im informellen Wirtschaftssektor tätig;das heißt, diese Menschen haben ohne Arbeitsvertrag,ohne Sozialversicherung, ohne irgendwelche Rechte ge-arbeitet. Deshalb war es dann auch ausgemachtes Zielder Regierung, genau hier anzusetzen und die Arbeits-marktreformen so anzulegen, dass reguläre Arbeitsplätzeentstehen. Man kann das kaum glauben: Es ist gelungen.Wenn Sie mich danach fragen, wie, kann ich ganz ein-fach die Antwort geben: Der Staat und die Gewerkschaf-ten haben hier an einem Strang gezogen.
Die kollektiven Tarifverhandlungen wurden gestärkt.Die Löhne stiegen zwischen 2005 und 2009 um 24 Pro-zent. Heute arbeiten nur noch 23 Prozent im informellenSektor. Alle anderen Beschäftigten arbeiten sozialversi-cherungspflichtig. Ich glaube, das ist ein echter Erfolg.
Sie werden sich jetzt fragen: Warum erzählt FrauWolff das in epischer Breite? Das kann ich Ihnen sagen:In Deutschland wird immer wieder behauptet, eine Stär-kung der Arbeitnehmerrechte führe dazu, dass Arbeit ab-wandert. Uruguay erzählt uns eine andere Geschichte.
Ich glaube, dieses Land hat gezeigt, dass sich Wirt-schaftswachstum und Arbeitnehmerrechte unter einenHut bringen lassen.
Frau Wolff, denken Sie bitte an Ihre Redezeit?
Ja, ich denke daran; vielen Dank für die Erinnerung.
Meine Damen und Herren, wir haben gesehen: Eine
gute Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik trägt dazu bei, dass
die Menschen am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben. Ich
glaube, wir in Deutschland können auch einmal einen
Blick über den Tellerrand werfen; deshalb freue ich
mich, dass wir die Reden zu diesem Tagesordnungs-
punkt nicht zu Protokoll geben. Wenn wir uns fragen:
„Wie macht Uruguay das?“, erweitert das vielleicht auch
unseren Blick für andere Lösungsmöglichkeiten.
Vielen herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin. – Das Wort hat Azize Tank für
die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Soziale Grundrechte sind eine unabdingbare Vorausset-zung für ein würdiges Leben, egal in welchem Land. Siesind auch eine Verpflichtung für Regierungen, ihre In-nen- und Außenpolitik mit diesen Rechten in Einklangzu bringen; denn auch soziale Sicherheit gehört zu denGrund- und Menschenrechten.
Durch das Abkommen mit Uruguay können bei Ren-tenansprüchen die Versicherungszeiten beider Länderberücksichtigt werden. Die deutsche Seite berücksichtigtsogar Rentenansprüche, die in einem anderen Mitglied-staat der EU erworben wurden. Fortschrittlich ist auchdie Gleichstellung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts derLeistungsempfänger: Ich begrüße, dass das Abkommendie uneingeschränkte Zahlung von Renten in den ande-ren Staat vorsieht; das ist mit dem sogenannten Leis-tungsexportprinzip gemeint.Derartige Abkommen zwischen Deutschland und an-deren Ländern müssten angesichts der fortschreitendenGlobalisierung eigentlich selbstverständlich sein.
Ich frage mich: Warum pflegt die Bundesrepublik einesolche Kooperation bei der Sozialversicherung nicht mitallen Staaten, egal ob es lateinamerikanische oder euro-päische Staaten wie beispielsweise Andorra, Moldawienoder Georgien sind? Es ist erst zwei Monate her, dass derEuropäische Ausschuss für Soziale Rechte die Bundes-republik wegen Verletzungen der Europäischen Sozial-charta gerügt hat, weil Deutschland solche Abkommenmit mehreren Staaten in Europa gerade nicht abgeschlos-sen hat.Bereits abgeschlossene Rentenabkommen wie das mitder Republik Polen von 1975 dürfen dabei nicht dazuführen, Ghetto-Arbeitern ihre berechtigten Rentenan-sprüche zu verweigern. Dies ist aber die gegenwärtigePraxis der Bundesrepublik gegenüber polnischen Juden,die in Ghettos gearbeitet haben. Leider sieht der neueReferentenentwurf der Bundesregierung auch hier keineÄnderungen vor.Die Gewährleistung des Rechts auf soziale Sicherheitist in der Europäischen Sozialcharta festgeschrieben,also die Gleichbehandlung von Staatsbürgern verschie-dener Staaten in Europa hinsichtlich der Ansprüche beider sozialen Sicherheit. „Soziale Sicherheit“ heißt es inder Überschrift des Gesetzentwurfs und in dem zugrundeliegenden Abkommen. Sie ist für Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in der Tat von zentraler Bedeutung.Aber die Vermeidung doppelter Beitragsbelastung unddie Berücksichtigung von Versicherungszeiten bei den
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Azize Tank
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Rentenansprüchen sind nur ein Teil wirklicher sozialerAbsicherung.
Soziale Sicherheit ist ein Grund- und Menschenrechtund Bestandteil der sozialen Menschenrechte, wie sie imUN-Sozialpakt von 1966 längst festgeschrieben sind.Deshalb erlaube ich mir, abschließend an dieser Stelledarauf hinzuweisen, dass das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt endlich auch von der Bundesregierung ratifi-ziert und umgesetzt werden muss,
wie dies übrigens schon durch mehrere lateinamerikani-sche und europäische Staaten geschehen ist. Mit dem Jazu diesem Gesetzentwurf verbinde ich also den Appell,endlich die überfällige Umsetzung der EU-Sozialchartaund des UN-Sozialpaktes vorzunehmen.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat
Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter-stützt den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierungzu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Republik Östlichdes Uruguay über Soziale Sicherheit.Freier Handel und freier Austausch sind für die Ent-wicklungen von Volkswirtschaften von besonderer Bedeu-tung. Dabei sind unsere in Deutschland gelebten sozialenStandards die Richtschnur für internationale Abkommen.Soziale Marktwirtschaft und ihre Errungenschaften schla-gen sich bei diesen transnationalen Vereinbarungen nieder.Durch den freien Handel und die Ausweitung unserer in-ternationalen Abkommen und Beziehungen wollen wirdurch die Ausnutzung komparativer Vorteile nicht nuruns, sondern auch den Partnerländern einen möglichsthohen Wohlstand ermöglichen.Wir wollen eines: die Chancen der Globalisierungnutzen;
denn die Globalisierung verknüpft die Lebensverhält-nisse der Menschen in der ganzen Welt immer enger mit-einander. Aber auch hier brauchen wir Regeln, um eta-blierte Industrien, junge Industrien, strategisch wichtigeIndustrien und heimische Arbeitsplätze zu schützen.Demnach sollen die deutschen wirtschaftlichen Interes-sen in der Welt gleichzeitig gefördert, geschützt und wei-terentwickelt werden zu einer gerechten und nachhalti-gen globalen Wirtschaftskooperation.
Uruguay ist traditionell ein wirtschaftsliberales Landmit entsprechenden Institutionen. In der ersten Hälftedes 20. Jahrhunderts war es eine der reichsten Volkswirt-schaften Lateinamerikas. Nach einer Phase wirtschaftli-cher Schwäche – Frau Wolff hat es schon angesprochen –ist Uruguay heute ein aufstrebendes Land mit einem be-eindruckenden Wirtschaftswachstum. Egal ob es um De-mokratie, Transparenz oder Wettbewerbsfähigkeit geht:Uruguay steht im internationalen Ranking relativ weitvorn.Zu Deutschland pflegt Uruguay traditionell sehr guteBeziehungen. In Montevideo, der Hauptstadt Uruguays,besteht seit 1916 eine Deutsch-Uruguayische Handels-kammer mit über 500 Mitgliedern. In Uruguay lebenderzeit – das wurde auch schon angesprochen – ungefähr10 000 Deutsche. Hinzu kommen 40 000 Deutschstäm-mige. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist das einrelativ hoher Anteil.Bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertshaben Deutsche dort auch einen wichtigen Beitrag zurEntwicklung geleistet. Daher ist es wenig überraschend– auch das hat Frau Wolff schon angesprochen –, dasswir in Europa der größte Importeur uruguayischer Warensind. Laut Statistischem Bundesamt haben wir 2002 Gü-ter im Wert von 291 Millionen Euro aus Uruguay impor-tiert, und gleichzeitig führten wir Waren im Wert von247 Millionen Euro dorthin aus.Aktuell sind 30 deutsche Unternehmen in Uruguayaktiv, vor allem im Industriebereich – Chemie- undPharmaindustrie – sowie im Transport- und Logistikbe-reich. In der Regel versorgen deutsche Unternehmen denMarkt dort durch lokale Partner, aber auch aus Drittlän-dern wie Argentinien und Brasilien. All das spricht da-für, dass es gelungen ist, nachhaltige Beziehungen zuUruguay aufzubauen.Das vorliegende Abkommen verfolgt daher das Ziel,eine Doppelversicherung zu vermeiden und damit eineindirekte Doppelversteuerung zu verhindern. Das istgleichermaßen im Interesse deutscher Arbeitnehmer undder Arbeitnehmer aus Uruguay.
Deshalb stellen die Regelungen für die Zuordnung undAbwicklung von Versicherungsverhältnissen im Bereichder gesetzlichen Rentenversicherung zwischen beidenStaaten einen Vorteil für betroffene Arbeitnehmer, Rent-ner und Betriebe dar, da es zu Verwaltungsvereinfachun-gen und weniger Bürokratie kommt.Das Abkommen sieht außerdem die uneingeschränkteZahlung von Renten in das jeweils andere Land vor. DasAbkommen zwischen der Republik Östlich des Uruguayund der Bundesrepublik Deutschland schließt hier eineLücke. Rentner aus beiden Ländern können ihre Ver-sicherungsleistungen erhalten und so von diesem Ab-kommen profitieren. All das sind wichtige Fortschrittefür die soziale Sicherheit.Ich habe ja noch ein wenig Redezeit, und deswegenmöchte ich die Chance nutzen, noch ein persönlichesWort zu sagen: Uruguay wird in meinem Herzen bleiben,
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Dr. Martin Pätzold
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weil ich zu diesem wichtigen Abkommen und zu diesemwichtigen Land meine erste Rede im Deutschen Bundes-tag halten durfte.
– Danke. – Deswegen werde ich in Zukunft natürlich be-sonders darauf achten, wie sich Uruguay wirtschaftlich,kulturell und sozial entwickelt.
Ich glaube, dass wir mit diesem Abkommen einen gutenBeitrag zu dieser Entwicklung leisten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke, Herr Kollege Dr. Pätzold. Wir alle gratulieren
Ihnen zu Ihrer ersten Rede und freuen uns auf Ihre
zweite Rede – möglicherweise wieder zu Uruguay. Viel
Erfolg bei Ihrer Arbeit als Abgeordneter hier im Deut-
schen Bundestag.
Der nächste Redner ist Markus Kurth für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dr. Pätzold, zunächst einmal auch von
meiner Seite herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten
Rede.
Dieses internationale Sozialschutzabkommen gibt uns
Gelegenheit, einmal über den Tellerrand zu gucken und
generell zu schauen, wie der Sozialstaat jenseits Europas
eigentlich wahrgenommen wird und welche Funktion
dem Sozialstaat in anderen Ländern, gerade in den wirt-
schaftlich aufstrebenden Ländern Südostasiens und La-
teinamerikas, zukommt.
In Gesprächen darüber habe ich sehr interessante Er-
fahrungen gemacht. Wir als Mitglieder des Ausschusses
für Arbeit und Soziales empfangen ja auch regelmäßig
Delegationen, zuletzt etwa aus China; aber auch aus
Indonesien und vielen anderen Ländern waren schon De-
legationen da. Die soziale Absicherung – dafür sind so-
zialstaatliche Regelungen notwendig – wird dort als Vo-
raussetzung für wirtschaftlichen Erfolg gesehen. Es war
für mich wirklich hochinteressant, dass uns die Vertreter
und Vertreterinnen dieser Delegationen gesagt haben:
Wir brauchen jetzt die soziale Absicherung, um wirt-
schaftlich weiterzukommen. Es ist ein Wachstums-
hemmnis, wenn wir nicht die Sozialausgaben steigern
und sichere, trittfeste Sozialsysteme etablieren.
Dieser Zusammenhang zwischen Sozialstaatlichkeit
und Ökonomie wird unmittelbar deutlich, wenn wir uns
etwa die gegenwärtige Lage in der Volksrepublik China
anschauen. Der dortige Immobilienboom hat elementar
etwas damit zu tun, dass es kein vernünftiges Umlage-
system in der Rentenversicherung gibt. Die entstehende
Mittelschicht investiert in Wohnungen, von denen inzwi-
schen Hunderttausende, ja sogar Millionen einfach leer
stehen. Trotzdem wird in diese Wohnungen investiert,
weil es keine andere angemessene Möglichkeit der Al-
tersvorsorge gibt. Das hat man inzwischen auch in China
erkannt.
Kehren wir zurück zum südamerikanischen Konti-
nent. Argentinien hat das Umlagesystem zunächst abge-
schafft und versucht, es durch ein kapitalgedecktes System
zu ersetzen. Das ist gründlich gescheitert. Jetzt etabliert Ar-
gentinien wieder ein Umlagesystem. Uruguay hat zu weiten
Teilen – wir haben es von Frau Wolff gehört – seinen wirt-
schaftlichen Erfolg einer Verschlankung, aber vor allen
Dingen einer Stützung und Stärkung der sozialstaatlichen
Systeme zu verdanken.
Wir sehen also, dass die Debatte über Sozialstaatlich-
keit in diesen wirtschaftlich aufstrebenden Ländern häu-
fig anders abläuft als hier im medialen Mainstream. So-
zialstaat wird hierzulande häufig als Belastung, als
Bürde, als Kostgänger der Wirtschaft dargestellt. Dabei
sind wirtschaftlicher Erfolg und soziale Absicherung
zwei Seiten einer Medaille. Soziale Absicherung ist Vo-
raussetzung für wirtschaftlichen Erfolg.
Wenn wir einen kurzen Blick auf die USA werfen, se-
hen wir, dass Sozialversicherungen die Wirtschaft ent-
lasten. In den USA gibt es trotz der Ansätze einer gesetz-
lichen Krankenversicherung keine flächendeckende
gesetzliche Krankenversicherung. Die Betriebe müssen
dort selbst über Gruppenverträge mit privaten Versiche-
rungen für die Krankenversicherung ihrer Beschäftigten
sorgen. Das ist sehr, sehr teuer. Beschäftigte verlieren,
wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, auch ihren Ge-
sundheitsschutz. Wir sehen also: Es ist sogar im Sinne
des kapitalistischen Wirtschaftens dysfunktional, wenn
man – in dem Fall – auf eine gesetzliche Krankenversi-
cherung, auf eine Sozialversicherung verzichtet.
Darum wünsche ich mir, dass wir öfters über den Tel-
lerrand hinausblicken, uns die Funktion von sozialer Si-
cherung vor Augen führen und dies auch in den hiesigen
Debatten stärker berücksichtigen. Wir sollten eine
schlichte, reduktionistische Sicht auf soziale Sicherung
vermeiden und sehen, dass soziale Sicherung und insbe-
sondere auch die Sozialversicherung mit dazu beitragen,
dass es uns hier in Deutschland wirtschaftlich relativ gut
geht.
Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Als Nächstes hat der KollegeMichael Gerdes von der SPD-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erin-
nere mich an die vergangene Legislaturperiode: Da sind
aus Zeitgründen jede Menge Debattenbeiträge und Re-
den zu Protokoll gegangen, obwohl es sich bei vielen
Themen gelohnt hätte, zu debattieren; nicht nur, um un-
terschiedliche Argumente auszutauschen oder in der Sa-
che zu streiten, nein, auch, um die vielen positiven Er-
rungenschaften unserer Gesellschaft hervorzuheben und
deutlich zu machen. Deswegen freue ich mich, dass ich
das heute an dieser Stelle tun kann. Mir ist es wichtig,
aufzuzeigen, wie umfangreich die soziale Sicherheit un-
seres Staates ist, weil sie nämlich die unterschiedlichsten
Lebens- und Arbeitsformen berücksichtigt.
Das Sozialversicherungsabkommen mit Uruguay
scheint für unser politisches Tagesgeschäft weniger
wichtig zu sein. Aber es zeigt deutlich, was unser Sozial-
staat leistet und wie das Leben im Sinne der Menschen
gestaltet werden kann. Waltraud Wolff und Dr. Pätzold
haben uns dankenswerterweise das Land dargestellt und
seine Strukturen aufgezeigt. Durch den vorliegenden Ge-
setzentwurf wird der soziale Schutz der Staatsangehöri-
gen beider Länder geregelt.
Doppelversicherungen und Lücken im Rentenverlauf
werden vermieden. Das kann nur von Vorteil sein, insbe-
sondere in einer globalisierten Welt, in der die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer immer flexibler sein
müssen und Arbeitsaufenthalte im Ausland immer häufi-
ger werden, nicht nur bei Ingenieuren oder Monteuren.
Auch wenn die Republik Östlich des Uruguay geogra-
fisch sehr fern ist, gibt es viele Menschen, wie wir heute
gehört haben, für die das Abkommen wichtig ist.
Schließlich ist der Anteil der Personen mit deutschem
Migrationshintergrund in Uruguay sehr hoch. Somit be-
grüßen wir das Abkommen.
Zu Uruguay wurde schon sehr viel gesagt. Lassen Sie
mich deshalb etwas grundsätzlicher werden. Sozialversi-
cherungsabkommen haben eine gewisse Tradition. Als
Bergmann und Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet ist mir
besonders das Sozialversicherungsabkommen mit der
Türkei ein Begriff. Es besteht bereits seit 1964, und wir
haben damit gute Erfahrungen gemacht.
Gerade bei dem Sozialversicherungsabkommen mit
der Türkei spielten die Tarifpartner, insbesondere die da-
malige IGBE und die Bergbaubetriebe, eine besondere
Rolle. Ich erinnere daran, dass die Menschen als Gastar-
beiter gerufen wurden. Viele blieben, andere gingen
nach dem Arbeitsleben wieder zurück in ihre Heimat.
Ohne entsprechende Verträge stünden diese Menschen
deutlich schlechter da.
Ähnliches gilt für die deutschstämmige Bevölkerung,
die beispielsweise aus Polen zu uns gekommen ist, oft-
mals mit einer nicht unerheblichen Arbeitsbiografie.
Dank des Sozialversicherungsabkommens können sol-
che Personen problemlos ihre Altersrente klären und An-
sprüche geltend machen.
Deutschland hat mit einer Reihe von Ländern zwei-
seitige Sozialversicherungsabkommen geschlossen.
Dazu gehören große Staaten wie die USA und Brasilien,
aber auch kleinere Länder wie Montenegro und Mazedo-
nien. Im Grundsatz geht es bei allen Abkommen um den
Erwerb von Rentenansprüchen und die Zahlung von
Renten in den jeweiligen Staaten. Es geht also um die
Vorsorge fürs Alter. Wer zeitlich begrenzt im Ausland
arbeitet, aus welchen Gründen auch immer, soll später,
wenn es um seine Rente geht, keine Nachteile erleiden.
Gleiches gilt im Übrigen für die Unfall-, Kranken- und
Arbeitslosenversicherung.
Frau Tank hat die Frage gestellt: Warum werden nicht
mehr Länder mit einbezogen? – Sicherlich ein berechtig-
tes, aber nicht immer einfaches Unterfangen. Aber ich
weiß, dass wir schon mit einer ganzen Reihe von Län-
dern Sozialversicherungsabkommen geschlossen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sozialversiche-
rungsabkommen sind absolut sinnvoll,
auch deshalb, weil Deutschland auf Fachkräfte aus dem
Ausland angewiesen ist. Nur dann, wenn wir es schaf-
fen, ausreichend Fachkräfte für Arbeit und Leben in
Deutschland zu begeistern, bleiben wir wettbewerbsfä-
hig und können langfristig unseren Wohlstand und un-
sere Lebensqualität sichern. Insofern verstehe ich jedes
Sozialversicherungsabkommen als Teil einer guten Will-
kommenskultur. Lassen Sie uns daran arbeiten, dass
nicht nur das Sozialversicherungsabkommen mit Uru-
guay, sondern auch weitere Abkommen hier erfolgreich
debattiert werden.
In diesem Sinne vielen Dank. Glück auf!
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Tobias Zech, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrKurth, Sie haben vorhin einen sehr klugen und interes-santen Blick auf die Welt geworfen und uns mitgeteilt,wie wichtig es ist, dass wir positiv über unser deutschesSozialsystem sprechen und das auch immer wieder un-termauern. Ich freue mich schon darauf, dass Sie das indiesem Hohen Hause wiederholen, wenn wir die Renten-pakete verabschieden werden. Denn auch das gehört zurpositiven Sozialpolitik.
Die Unterzeichnung des Sozialversicherungsabkom-mens zwischen Deutschland und der Republik Östlichdes Uruguay jährt sich nächsten Monat. Damals wurdedieses Abkommen noch von Guido Westerwelle unter-
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Tobias Zech
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schrieben. Es hat sich für uns bis heute vieles verändert,nicht aber die Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit dieses Ab-kommens.Uruguay – das haben wir heute schon mehrmals ge-hört – ist als Einwanderungsland seit vielen Jahrzehnteneng mit Deutschland verbunden. Über 10 000 Deutscheund 40 000 Deutschstämmige leben in diesem Land. Dasist im Verhältnis zur Größe des Landes – es ist ungefährhalb so groß wie Deutschland – und zur Einwohnerzahl– vergleichbar mit der Berlins – ein ungewöhnlich ho-her Anteil. Pro Jahr wandern circa weitere 400 Deut-sche ein.Uruguay ist nach dem Global Peace Index Report dasfriedlichste Land in Lateinamerika. In der ersten Hälftedes 20. Jahrhunderts eine der reichsten Volkswirtschaf-ten Lateinamerikas, ist Uruguay nach einer langen Phasewirtschaftlicher Schwäche heute wieder ein aufstreben-des Schwellenland mit einer Mischung aus marktwirt-schaftlichen und sozialen Elementen. Uruguay ist trotzseiner geringen Größe eines der wachstumsstärkstenLänder der Region. Seit sechs Jahren wächst die Wirt-schaft stärker als der lateinamerikanische Durchschnitt.Das Wirtschaftswachstum betrug 2012 3,9 Prozent. DasBruttoinlandsprodukt erreichte damit knapp 50 Milliar-den US-Dollar. Die Wachstumsschätzungen für 2013 be-laufen sich auf 3,5 bis 4 Prozent. Uruguay setzt damitseine positive Entwicklung seit dem Krisenjahr 2003 fortund wird zunehmend ein wichtiger Standort für deutscheUnternehmen.Es bestehen enge wirtschaftliche Beziehungen zwi-schen unseren beiden Staaten. Deutschland ist in Europader größte Abnehmer von Waren aus Uruguay; weltweitgehört die Bundesrepublik Deutschland zu den wichtigs-ten Abnehmerländern. Die gegenseitigen Beziehungensind von Sympathie und Vertrauen geprägt, sodass besteVoraussetzungen für eine gute und dauerhafte Partner-schaft bestehen. Wir müssen diese Partnerschaft pflegenund weiter ausbauen, um dem politischen Dialog in allenPolitikbereichen eine neue Qualität zu verleihen. Nebendem Blick nach China, Indien und Amerika darf derBlick nach Südamerika nicht verloren gehen. Umso er-freulicher finde ich es, dass dieses Abkommen nunmehrseinen gesetzlichen Rahmen findet.Das Abkommen ist ein sogenanntes offenes Abkom-men, das auf alle Personen Anwendung findet, für diedie Rechtsvorschriften einer der Vertragsstaaten gelten.Inhaltlich bezieht es sich vorrangig auf die gesetzlicheRentenversicherung. Die Bundesrepublik Deutschlandhat mit einer Reihe von Ländern solche zweiseitigen So-zialversicherungsabkommen geschlossen. So werdenderzeit zum Beispiel auch Verhandlungen mit Argenti-nien und den Philippinen geführt. Diese Abkommen re-geln im Wesentlichen den Erwerb von Rentenansprü-chen und die Zahlung von Renten in dem jeweiligenStaat. Sie enthalten Bestimmungen über das anzuwen-dende Recht, die Gleichbehandlung der vom persönli-chen Geltungsbereich erfassten Berechtigten, über dieWahrung der erworbenen Ansprüche sowie über gegen-seitige Amts- und Rechtshilfe.Die Themen Rente und soziale Sicherheit sind nachwie vor für uns alle Themen mit höchster Priorität. Da-her gilt es insbesondere auch den Menschen, die nicht inihrem Heimatland leben und arbeiten, Sicherheit zu ge-währleisten und damit das Arbeiten in einem anderenLand zu ermöglichen. In der heutigen Zeit, in der der Ar-beitsmarkt von einem stetigen Austausch mit anderenNationen lebt, ist die soziale Absicherung besonderswichtig. Das internationale Arbeiten rückt durch welt-weit agierende Unternehmen immer mehr in den Fokus.Wir müssen es unterstützen, wenn deutsche Firmen denuruguayischen Markt entdecken und sich dort mit deut-schen Arbeitnehmern niederlassen wollen. Im Rahmensolcher Gründungen von Unternehmen und Tochterfir-men wird es immer wieder dazu kommen, dass deutscheFachkräfte für einige Zeit in Uruguay tätig sind. Mit die-sem Abkommen sorgen wir dafür, dass dies so unkom-pliziert wie möglich vonstattengehen kann. Der deutscheArbeitnehmer, der in Uruguay arbeitet, kann weiterhinim deutschen Rentensystem bleiben. Das Abkommenunterstützt in höchstem Maße den regen Austausch deut-scher und uruguayischer Arbeitnehmer, eine Entwick-lung, die wir gerade in Anbetracht unseres Fachkräfte-mangels nur begrüßen können.Durch dieses Abkommen wird der soziale Schutz derStaatsangehörigen beider Länder innerhalb der jeweili-gen Rentenversicherungssysteme sichergestellt und ko-ordiniert. Arbeitnehmer, die bis zu 24 Monate in Uru-guay bzw. in Deutschland eingesetzt werden, können imRentensystem ihres Heimatlandes bleiben. Eine Doppel-versicherung und Lücken im Rentenverlauf werden so-mit verhindert. Darüber hinaus sieht das Abkommen dieuneingeschränkte Zahlung von Renten in dem anderenStaat vor. Dies ist für einen aktiven Wechsel der Arbeit-nehmer unerlässlich, von dem sowohl Deutschland alsauch Uruguay in höchstem Maße profitieren. Es gilt da-her, bürokratische Hindernisse abzubauen und einenÜbergang in einen neuen südamerikanischen Arbeitsver-trag für Arbeitnehmer so einfach wie möglich zu gestal-ten. Das ermöglicht dieses Abkommen nunmehr. Abernicht nur für die deutschen Arbeitnehmer ist diese Si-cherheit von besonderer Bedeutung. Gerade unter demAspekt der Internationalität des deutschen Arbeitsmark-tes ist es unser Anliegen, uruguayische Arbeitnehmerwillkommen zu heißen. Wir sind ein offenes Land undkönnen mit diesem Abkommen unsere Willkommens-kultur für Fachkräfte nur noch unterstreichen und weiterausbauen.Der Bildung wird in Uruguay ein sehr hoher Stellen-wert eingeräumt, besonders im Bereich der Informa-tionstechnik. Wir werden hier auch von uruguayischenFachkräften profitieren können.Es ist an der Zeit, dass wir dieses Abkommen in denparlamentarischen Gremien beider Staaten absegnen undzum Beschluss führen.Herzlichen Dank.
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Zur letzten Rede zu diesem Tagesordnungspunkt er-
teile ich einer Kollegin das Wort, die ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag hält. Kollegin Gabriele Schmidt
hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwischen dem Schwarzwald, wo ich herkomme, und
dem Cerro Catedral in Uruguay liegen über 11 000 Kilo-
meter Luftlinie. Diese Entfernung hindert aber weder
Deutschland noch Uruguay, enge wirtschaftliche Bezie-
hungen miteinander zu unterhalten und vor allem Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer in das jeweils andere
Land zu entsenden, im Gegenteil: Die Bundesrepublik
– wir haben einige dieser Informationen heute schon ge-
hört – ist der wichtigste EU-Handelspartner Uruguays,
und Deutschland steht auf Platz sechs der wichtigsten
Abnehmerländer Uruguays weltweit.
Um diese Bindung zu festigen und vor allem um die
Bedingungen dafür zu schaffen, wurde das Abkommen
über die soziale Sicherheit geschlossen. Mit dem vorlie-
genden Vertragsgesetz, das heute in der ersten Lesung
ist, schaffen wir nun die innerstaatlichen Voraussetzun-
gen für die Ratifizierung des Abkommens. Die Welt ist
global geworden, und die Globalisierung macht auch
nicht halt vor der Arbeitswelt. Heute sind es nicht mehr
nur Rucksacktouristen und Abenteurer, die ein exoti-
sches Land wie Uruguay besuchen, sondern Kaufleute
und Techniker oder Landwirte oder Ingenieure. Die ar-
beiten dort und erwerben Rentenanwartschaften. Für
diese Lebenssituationen bietet das Sozialversicherungs-
abkommen konkrete Lösungen an.
Das auf uruguayische Initiative zustande gekommene
bilaterale Sozialversicherungsabkommen, das am 8. Ap-
ril 2013 zwischen dem damaligen Bundesaußenminister
und seinem uruguayischen Amtskollegen in Berlin un-
terzeichnet wurde, hätte genauso gut eine deutsche Ini-
tiative sein können; denn beide Seiten werden von der zu
erwartenden Verbesserung der bilateralen Handels- und
Wirtschaftsbeziehungen profitieren. Die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion begrüßt daher ausdrücklich die
Ratifizierung des Sozialversicherungsabkommens mit
Uruguay. Damit wird der soziale Schutz der Staatsange-
hörigen beider Länder innerhalb der jeweiligen Renten-
versicherungssysteme sichergestellt und koordiniert.
Wenn Beschäftigte nur vorübergehend in den jeweils
anderen Staat entsandt werden, bleibt es beim Versiche-
rungsverhältnis im Heimatstaat. Damit können Doppel-
versicherungen und Lücken im Rentenverlauf verhindert
werden. Der Entsendezeitraum kann dabei bis zu 24 Ka-
lendermonate betragen. Das Abkommen bringt Verwal-
tungsvereinfachungen für betroffene Arbeitnehmer,
Rentner und deren Angehörige und für Betriebe. Wir
können davon ausgehen, dass zum Beispiel Ingenieure,
Techniker oder Monteure in dieses Land entsandt
werden und dort arbeiten, und das nicht nur für wenige
Wochen, sondern vielleicht für viele Monate. Für genau
die ist dieses Sozialversicherungsabkommen gedacht.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit vielen Län-
dern Sozialversicherungsabkommen – es sind schon
einige aufgezählt worden –, darunter mit Brasilien und
Indien, zwei riesigen Ländern mit Millionen von Arbeit-
nehmern. Dagegen ist die Republik Östlich des Uruguay,
wie der Name des Landes in der korrekten Übersetzung
lautet, mit ihren rund 3,4 Millionen Einwohnern ver-
gleichsweise klein. Uruguay – auch das haben wir schon
gehört – hat so viele Einwohner wie Berlin, allerdings
auf einer Fläche, die fast 200-mal größer ist.
Der Anteil der Deutschen und der Deutschstämmigen
ist gemessen an der Einwohnerzahl sehr hoch. Als Ein-
wanderungsland ist Uruguay seit Jahrzehnten eng mit
unserem Land verbunden. Damit gibt es eine starke
kulturelle Verbundenheit zwischen Deutschland und
Uruguay, und es gibt auch, wie schon mehrfach betont,
enge wirtschaftliche Beziehungen. Nach meinem Wissen
sind derzeit 30 deutsche Firmen in Uruguay aktiv. Das
Land ist nach der Wertehaltung seiner Bürger ein fast eu-
ropäisches Land. So lag Uruguay im Demokratie-Index
Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung auf Platz
eins beim Vergleich der Länder Lateinamerikas im
Jahr 2013.
Wir können also davon ausgehen, dass in Zukunft
noch mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das je-
weils andere Land besuchen und dort die Arbeit aufneh-
men werden. Sie werden von diesem neuen Abkommen
profitieren. Das Abkommen verbessert die Vereinbarkeit
der beiden Rentensysteme und trägt insbesondere den
Interessen der Rentner und einer neuen Migrationsreali-
tät Rechnung.
Herzlichen Dank.
Liebe Frau Kollegin Schmidt, der ganze DeutscheBundestag gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede undwünscht Ihnen ein fröhliches, lebendiges, diskursreichesparlamentarisches Wirken.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 18/272 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andereVorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten SusannaKarawanskij, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEDen Grauen Kapitalmarkt durchgreifendregulierenDrucksache 18/769Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und Energie
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1585
Vizepräsident Peter Hintze
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich hörehierzu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Da wir gleich zu Beginn dieser Debatte wieder eineErstrednerin haben, bitte ich, die Gratulationscour beiFrau Schmidt zügig abzuschließen. Ich erteile das Wortder Kollegin Susanna Karawanskij, Die Linke, zu ihrerersten Rede.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich kann mich noch gutdaran erinnern, dass die Bundeskanzlerin die umfas-sende Regulierung der Finanzmärkte gefordert hat undankündigte, dafür zu sorgen. Das war im Jahr 2009. Ichhabe damals die Bundestagsreden nicht hier im Plenar-saal verfolgt, sondern, wie so viele, im Fernsehen. Auchwenn dies meine erste Rede hier im Plenarsaal ist, kannich mit Kritik an der Finanzpolitik der Bundesregierungleider nicht sparen.Der Graue Kapitalmarkt mutet ein wenig an wie einschwelendes Feuer, aus dem immer wieder einmal eineStichflamme herauskommt. Die jüngste Stichflammewar Prokon mit seinen Genussrechten, durch die rund75 000 Anlegerinnen und Anleger rund 1,4 MilliardenEuro zu verlieren drohen. Das ist ein Beispiel desGrauen Kapitalmarkts, welcher seit Jahren hinsichtlichFinanzmarktstabilität und Verbraucherschutz hoch pro-blematisch ist. Anlegern gingen Gelder in Milliarden-höhe verloren. Die vergangenen Bundesregierungen ha-ben, wenn überhaupt, nur zögerlich reagiert. Gewiss gabes in der letzten Wahlperiode einige Verbesserungen, dasallerdings in homöopathischen Dosen, die augenschein-lich im Endeffekt nur sehr wenig gebracht haben.Nun, nach dem Insolvenzantrag von Prokon, verkün-det die Bundesregierung, Anleger besser schützen zuwollen, indem die Finanzaufsicht, die BaFin, Geschäfts-modelle prüfen und Produktverbote bzw. Vertriebsbe-schränkungen aussprechen soll. Die BaFin hingegenspielt den Ball zurück: Es sei nicht ihre Aufgabe, Rendi-teversprechen von Unternehmen oder gar Geschäfts-modelle zu prüfen. – Ein Hin und Her, ein Nullsummen-spiel, bei dem am Ende wie so oft die Verbraucherinnenund Verbraucher in die Röhre schauen und die Finanz-märkte immer noch unzureichend reguliert sind. Wäh-rend die Bundesregierung in handlungsunfähiger Starreverharrt, gehen weitere Unternehmen wie Infinus, Quan-tum, Wölbern und Windwärts in die Insolvenz.Meine Damen und Herren, das kann so nicht weiter-gehen, das darf so nicht weitergehen. Wir müssen denGrauen Kapitalmarkt durchgreifend regulieren, um dieFinanzmärkte zu stabilisieren und die Verbraucherinnenund Verbraucher besser zu schützen.
Es gibt dabei noch ein grundsätzliches Problem, undzwar die Tatsache, dass es immer noch ein Aufsichts-und Regulierungsgefälle gibt. Es besteht neben dem so-genannten Weißen, halbwegs regulierten Finanzmarktein unregulierter Grauer Kapitalmarkt, und auf demkaum regulierten Grauen Kapitalmarkt tummeln sicheben auch fragliche und vermehrt unseriöse Anbieterund Abzocker. Die Linke schlägt deshalb vor, jede Geld-anlage, jedes Kreditgeschäft und auch jede Vermögensan-lage in den einschlägigen, zum Teil schon existierendenGesetzen zu regulieren und dadurch einem inhaltlichenPrüfungsrecht der Finanzaufsicht, also der BaFin, zu un-terstellen. Dazu muss infolgedessen natürlich das Perso-nal bei der BaFin aufgestockt werden. Aber das reichtnoch nicht aus.
Es gibt nach wie vor einfach viel zu viel Finanz-schrott auf den Märkten, und es wird noch mehr – tag-täglich. Das wiederum liegt daran, dass auf den Finanz-märkten immer noch jedes Finanzinstrument erlaubt ist,das nicht ausdrücklich verboten ist. Es ist ein nahezu un-überblickbarer Wust an Finanzinstrumenten, den wederProfis noch Privatanleger durchdringen. Dieses Dickichtmüssen wir lichten; da müssen wir Ordnung hineinbrin-gen. Das geschieht am besten durch die Errichtung einesFinanz-TÜVs.
Das bedeutet ganz einfach, dass alle Finanzinstrumente,-akteure und -praktiken vor ihrer Zulassung dahin ge-hend untersucht werden, ob das gesamtwirtschaftlicheRisiko beherrschbar ist und ob diese auch verbraucher-freundlich sind. Uns ist es an dieser Stelle wichtig, dasswir die Beweislast umkehren: Es kommt nur das auf denMarkt, was ausdrücklich zugelassen wurde, wobei dieBeweislast beim Ausgebenden, bei den Emittenten,liegt.
Hochspekulative bzw. hochriskante, auch intransparenteund leider auch unseriöse Finanzinstrumente werden da-mit erst gar nicht zugelassen oder vom Markt genom-men. In der Folge würden wir die Finanzmärkte wenigerkomplex gestalten, entzerren und in Richtung einer derRealwirtschaft dienenden Funktion entschlacken.Mit einem Finanz-TÜV hätte man schon viel eher dieGefahren des Grauen Kapitalmarkts eindämmen können.Es ist ein präventives Instrument. Was immer Sie gegeneinen Finanz-TÜV vorbringen werden: Sie müssen dieFrage beantworten, wie man es erreichen kann, dass manden Finanzinnovationen, die auf den Markt drängen,nicht immer hinterherhechelt und dann versucht, diesezu regulieren. Wir Linke sind auf Ihre Antworten sehrgespannt.
Darüber hinaus setzen wir, die Linke, uns für die Stär-kung einer unabhängigen Finanzberatung durch Ver-braucherzentralen oder Honorarberatungen ein. Der pro-visionsbasierte Verkauf von Finanzinstrumenten und derVerkaufsdruck, der durch die produktbezogenen Ver-triebsvorgaben auf die Anlageverkäufer entsteht, müss-ten gesetzlich unterbunden werden. Daher fordere ich
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1586 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Susanna Karawanskij
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Sie auf, meine Damen und Herren von der Regierungs-bank: Werden Sie aktiv. Regulieren Sie endlich denGrauen Kapitalmarkt, und zwar durchgreifend. Wirbrauchen eine einheitliche und umfassende, effektiveFinanzaufsicht. Wir brauchen einen Finanz-TÜV. Wirbrauchen eine unabhängige und qualifizierte Finanzbera-tung. Schützen Sie die Verbraucherinnen und Verbrau-cher vor windigen und unseriösen Anbietern. SchützenSie sie auch vor hochriskanten und intransparenten Ge-schäftsmodellen auf dem Finanz- und Kreditmarkt. Undsorgen Sie für stabilere Finanzmärkte, indem wirklichkein Finanzinstrument und keine Finanzpraxis unregu-liert bleiben.Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Auch Ihnen, liebe Frau Kollegin,
herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede und eine
interessante parlamentarische Zeit.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Frank Steffel, CDU/CSU-Fraktion. Er ist schon frei-
willig zum Rednerpult geeilt. Er ahnte, dass er aufgeru-
fen wird.
Nicht nur freiwillig, Herr Präsident, sondern beson-ders gerne, weil ich glaube, dass gerade bei dem Themaneben allen Gesetzen und Regulierungen, die wir teil-weise gemeinsam, teilweise nicht ganz gemeinsam inden letzten Jahren verabschiedet haben und in dennächsten Jahren weiter verabschieden werden, die öf-fentliche Debatte, durch die Aufklärung und Sensibilitätbei Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutschlanderzeugt werden kann, ein ganz wichtiger Beitrag ist. In-sofern bin ich der Fraktion Die Linke dankbar, dass wirheute wieder einmal die Gelegenheit haben, zu diesemThema öffentlich zu diskutieren.Wir bleiben seit Jahren, so auch in dieser Legislatur-periode, unserer Devise treu: Kein Finanzprodukt undkein Anbieter dürfen in Deutschland unreguliert bleiben.
Diesem Kernsatz ordnen wir alles unter. Das haben wirin den vergangenen vier Jahren getan, und das werdenwir auch in den kommenden vier Jahren tun.
Deshalb haben wir bereits Schutzmechanismen, diesich auf dem regulierten Kapitalmarkt bewährt haben,für den sogenannten Grauen Kapitalmarkt übernommen.Unser Ziel ist ja nicht, den Grauen Kapitalmarkt zu regu-lieren; vielmehr ist unser Ziel, dass es möglichst keinenGrauen Kapitalmarkt gibt, sondern einen Weißen Kapi-talmarkt, das heißt einen Kapitalmarkt, von dem dieMenschen vorher wissen, was drin ist, was sie kaufen,und wo sie die Risiken kennen, für die sie sich dann– bewusst oder unbewusst – selbst entscheiden.
Deshalb haben wir Dokumentationspflichten, Sachkun-denachweise, die Pflicht zur Haftpflichtversicherung,scharfe Prüfungs- und Registrierungsverpflichtungenaus dem Weißen Kapitalmarkt auf den Grauen Kapital-markt weitestgehend eins zu eins übertragen. Abernatürlich, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Linksfraktion, müssen wir wach-sam bleiben; denn eines haben wir auch gelernt: DerKreativität der Anbieter und übrigens auch der Gier derKonsumenten scheinen wenige Grenzen gesetzt zu sein.Insofern ist der Gesetzgeber immer gefordert, zu prüfen:Ist das, was wir gestern beschlossen haben, heute nochaktuell, oder müssen wir möglicherweise nachjustierenoder ganz neue Regelungen einführen? – Aber eines istauch klar: Wir können nicht aus Angst vor Bankräuberndie Banken abschaffen,
sondern müssen schon schauen, dass wir in Deutschlandeinen normalen Finanz- und Kapitalbetrieb ermöglichen.
Gerade weil heute viele junge Menschen zuhören,möchte ich eines sehr deutlich sagen – ich komme gleichnoch zum Thema Kreditmarkt –: Wir können nur sicher-stellen, dass der Konsument über die Risiken vollum-fänglich aufgeklärt ist. Die Entscheidung können wirdem sogenannten mündigen Bürger nicht abnehmen. InDeutschland steht auf jeder Zigarettenpackung wirklichnicht übersehbar, was die Risiken sind, wenn manraucht. Trotzdem gibt es Millionen Menschen, die sichin vollem Bewusstsein und in Kenntnis dieser Risikendafür entscheiden, Zigaretten nicht nur zu kaufen, son-dern auch zu konsumieren. Insofern liegt die Entschei-dungsfreiheit schlussendlich beim Konsumenten. Wirkönnen nur die Risiken ausweisen und davor warnen.Aber Schutz und Information sind nach unserem Frei-heitsbild wichtiger als Bevormundung. Das heißt, einVerbot kann nur die Ultima Ratio sein.
Die Verbraucher müssen wissen – das sage ich sehrbewusst in öffentlicher Debatte –, dass natürlich der alteSatz gilt: Je höher der Zinssatz, desto höher das Risiko.Man muss wissen: Wenn der Zinssatz der EuropäischenZentralbank bei gut 0 Prozent liegt, lässt sich das Ver-sprechen von 5, 8, 10 oder 15 Prozent Zinsen eben nurmit Produkten erfüllen, die mit einem höheren oder ho-hen Risiko behaftet sind. Insofern muss der Appell andie Menschen sein: Prüfen Sie insbesondere bei hohenZinsen, ob das Produkt auf dem Grauen oder WeißenKapitalmarkt vertrauenserweckend ist, oder entscheidenSie sich bewusst, eine risikobehaftete Anleihe zu wäh-len!Ich möchte ein zweites Thema ansprechen, das mir imGrundsatz noch wichtiger ist: die Überschuldung, alsodie Frage des Kreditmarktes. Wir können hier sehr er-freut zur Kenntnis nehmen, dass die Arbeitslosigkeit, die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1587
Dr. Frank Steffel
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Hauptursache für Überschuldung, in den letzten Jahrendeutlich abgenommen hat. Das heißt, immer wenigerMenschen in Deutschland geraten in wirtschaftliche Pro-bleme, weil sie arbeitslos sind. Das ist gut. Gleichzeitigmüssen wir jedoch feststellen, dass die Zahl der Fälle, indenen Konsum – also zu viel Konsum – die Ursache vonÜberschuldung und Privatinsolvenzen ist, dramatischzunimmt, insbesondere übrigens, liebe Kolleginnen undKollegen, bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.Das heißt, wir haben immer mehr junge Menschen, die –ganz volkstümlich gesagt – mehr ausgeben, als sie ein-nehmen, also Leasing- und Kreditraten vereinbaren, diehöher sind als das zur Verfügung stehende Nettoeinkom-men. Mittlerweile sind in Deutschland – die meisten vonIhnen werden es wissen – ziemlich stabil 10 Prozent derüber 18-Jährigen überschuldet. Ich finde, das ist eineZahl, die uns nicht kaltlassen kann. Jeder zehnte Deut-sche ist überschuldet; jeder zehnte Deutsche ist damitnicht mehr Herr seines Einkommens, seines Vermögens,mit all den Konsequenzen, die wir hinreichend kennen.Wir müssen hier sehr deutlich machen, dass es ebennicht das Ziel sein kann, dass jeder Junge und jedesMädchen, jede junge Familie den schönsten Fernseherund das modernste Smartphone hat und versucht wird,diesen Wohlstand mit Ratenkrediten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu finanzieren. Auch hier sind Regu-lierung und Gesetzgebung wichtige Aspekte; aber derwichtigere Aspekt ist Aufklärung. Hier sind Elternhäu-ser, Schulen und übrigens auch Unternehmen gefordert.Wir müssen deutlich machen, dass sich gerade jungeMenschen jede Entscheidung für Konsumkredite drei-mal überlegen müssen, dass sie genau überlegen müssen,was sie sich und ihrer Familie damit zumuten, übrigensvielfach in der Hoffnung, dass die junge Ehe hält. Wirwissen alle: 50 Prozent der Ehen in Deutschland haltennicht. Die mit einer Überschuldung verbundenen Pro-bleme und Konsequenzen wirtschaftlicher und emotio-naler Art treffen die junge Familie, übrigens vielfachauch noch die Kinder, zusätzlich.Wir, die Koalitionsfraktionen, werden deshalb dieMittel für die Stiftung Warentest erhöhen. Wir wollendie Verbraucherschutzzentralen mit einer Marktwächter-funktion nicht nur ausbauen, sondern deutlich stärken.Denn wir sind der Auffassung, dass gerade junge Men-schen zu Recht von uns erwarten dürfen, dass sie scho-nungslos über die Risiken eines Kredits aufgeklärt wer-den, dass wir sie zumindest warnen. Ich möchte vondieser Stelle aus noch einmal appellieren: Man möge essich gut überlegen, bevor man einen vermeintlich lukra-tiven Leasing- oder Ratenkreditvertrag unterschreibt.Das bittere Ende trifft zurzeit 10 Prozent der Deutschen.Wir müssen gemeinsam verhindern, dass es jeden Tagmehr werden.Herzlichen Dank.
Als Nächstem erteile ich Kollegen Dr. GerhardSchick, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ihre Rede, Herr Steffel, war voller Appelle anUnternehmen, an Familien und an alle möglichen Leute.Der Teil, in dem Sie sich damit beschäftigt haben, washier im Parlament zu tun wäre, ist in Ihrer Rede relativkurz gekommen.
Wichtig ist aber, dass wir uns über folgende Frage ver-ständigen: Warum müssen wir uns eigentlich in regelmä-ßigen Abständen mit dem Grauen Kapitalmarkt beschäf-tigen? Das ist offensichtlich der Fall, weil die letztenRunden der Beschäftigung des Hauses mit diesemThema nicht ausreichend waren. Wir müssen deshalb diebestehenden Lücken und das, was konkret zu tun ist, an-sprechen, statt auf allgemeine Appelle auszuweichen.
Es gibt eindeutig Lücken bei der Aufsichtspraxis undder Rechtsdurchsetzung. Die BaFin hat bereits 2008/2009, als sie gegenüber Prokon das Erbringen eines un-erlaubten Bankgeschäftes monierte, Handlungsspiel-räume gehabt. Sie hätte sie – so sagen mir Juristen – nut-zen können, um die Geschäftstätigkeit zu untersagen.Stattdessen aber hat sie eine leichte Veränderung des Ge-schäftsmodells, und zwar in Form einer erlaubnisfreienAusgestaltung, angeregt. Es heißt, das sei ständige Ver-waltungspraxis. Mich würde an dieser Stelle schon inte-ressieren, in wie vielen anderen Fällen die BaFin dasAbtauchen in erlaubnisfreie Geschäfte angeregt hat. Ichmeine, wir müssen der Aufsicht hier genauer auf die Fin-ger schauen.
Das gilt auch für die Frage, warum man eigentlichvonseiten der BaFin noch 2013 einen Prospekt von Pro-kon durchgehen ließ, in dem keine Angaben darüber zufinden waren, dass die Geschäftsführer dieses Unterneh-mens früher schon Ärger mit der Aufsicht hatten. EinProspekt ist doch genau dafür da, dass der Kunde sichein Bild machen kann. Das kann er aber nur, wenn rele-vante Aspekte auch wirklich erwähnt werden.
Es gibt auch Lücken, die in der Gesetzgebung selbstliegen. Wir müssen zum Beispiel kritisch auf das im Jahr2012 in Kraft getretene Gesetz zur Novellierung des Fi-nanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechtszurückblicken. Da gibt es einige Probleme. Im Antragder Linken wird eine ganze Reihe von Maßnahmen vor-geschlagen, von denen ich zwei hervorheben möchte:Zum einen wird ein Finanz-TÜV gefordert, der alleFinanzinstrumente daraufhin untersuchen soll, ob sie– ich zitiere – „gesamtwirtschaftlich keine unerwünsch-ten Nebenwirkungen haben, ob das gesamt- und be-triebswirtschaftliche Risiko beherrschbar ist und ob sieverbraucherfreundlich sind“. Das klingt schön. Ich
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1588 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Gerhard Schick
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denke aber, dass es nicht umsetzbar ist. Denn eine solcheWirtschaftlichkeitsprüfung hätte hohe Prognoserisiken.Außerdem könnte ein positives Urteil eines solchenFinanz-TÜVs praktisch als eine Erfolgsgarantie missver-standen werden. Das halte ich, ganz zu schweigen vonder Amtshaftung, die damit einhergehen würde, für pro-blematisch. Es gehört auch nicht zur Aufgabe der BaFin,bei jeder Vermögensanlage eine Wirtschaftlichkeitsprü-fung durchzuführen. Denn ob das Geschäftsmodell be-triebswirtschaftlich sinnvoll ist oder nicht, müssen schondie Anleger selbst überprüfen.Es gibt aber etwas, das die Aufsicht tun muss. An die-ser Stelle muss man genau unterscheiden. Ich nenne alsVergleich gern den Lebensmittelbereich, um das klarzu-machen. Die eine Seite des Hauses sagt häufig, derKunde solle bitte mündig sein. Im Antrag wird aber ge-fordert, dass die Aufsicht praktisch alles überprüfen soll.Hier ist es aber wie im Lebensmittelbereich: Es gibt Sa-chen, die der Kunde nicht erkennen kann. Die Salmo-nelle im Eierprodukt oder die Trichine im Fleisch kannder Kunde nicht sehen. Deswegen brauchen wir eine Le-bensmittelaufsicht, die sicherstellt, dass hygienisch sau-ber gearbeitet wird und dass sich der Kunde, wenn Män-gel nicht erkennbar sind, darauf verlassen kann, dass erkorrekte Produkte bekommt. Es wird zwar nicht jedeseinzelne Produkt von der Lebensmittelaufsicht am Ver-kaufsschalter gegengecheckt. Es gibt aber ausreichendStichproben, die sicherstellen, dass das Hygieneniveauinsgesamt stimmt.Ein solches Verfahren ist genau das, was wir im Fi-nanzaufsichtsbereich brauchen. Gerade das, was einKunde nicht sehen kann, muss die BaFin verstärkt in denBlick nehmen, zum Beispiel, wenn Interessenkonfliktebestehen, wenn Partner unter einer Decke stecken, so-dass die Erträge nicht dem Kunden zugutekommen, oderwenn ein Geschäftsführer nicht verlässlich ist, weil erschon mehrfach Ärger mit der Aufsichtsbehörde hatte.Wir erwarten, dass es auch hier eine laufende Aufsichtgibt, die sich mit der materiellen Produktprüfung befasst.Wir brauchen aber keinen umfassenden Finanz-TÜV;denn ich glaube nicht, dass das leistbar ist.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Wirbrauchen dringend eine Korrektur in Bezug auf die Auf-sicht über den freien Finanzbetrieb. Hier liegt ein Fehlerder alten Gesetzgebung vor, der dringend korrigiert wer-den muss. Ich erinnere an eine Sachverständigenanhö-rung, in der ein Mitarbeiter der Bremer Gewerbebehördedeutlich gemacht hat, dass er als einzelner Mitarbeiter,der auch noch für alle möglichen anderen Bereiche zu-ständig ist, zum Beispiel für Eisdielen, für etwa 1 000Finanzvermittler zuständig ist. So ist ein relevanterSchutz für Kundinnen und Kunden undenkbar. Deswe-gen bedarf es hier dringend einer Korrektur. Das mussdie Finanzaufsicht machen.
Einen letzten Satz zur Ankündigung des Justiz- undVerbraucherschutzministers, dass es einen stärkeren An-legerschutz im Bereich des Grauen Kapitalmarktes ge-ben soll. In den letzten vier Jahren hatten wir im BereichVerbraucherschutz lediglich eine Ankündigungsministe-rin. Für die nächsten vier Jahre hoffen wir, dass es nichtbei Ankündigungen bleibt, sondern dass es zu relevantenÄnderungen in der Praxis kommt. Die Erwartung ist da.Den Kollegen der SPD möchte ich sagen: Ich hoffe, dassmanche Forderungen aus der letzten Legislaturperiodenicht plötzlich in irgendeiner Schublade verschwinden,sondern wirklich durchgesetzt werden.Danke.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächstmöchte ich den letzten Satz des Kollegen Schick aufneh-men und ihm versichern: Darauf können Sie sich verlas-sen. Schon der Blick in den Koalitionsvertrag hilft; denndann werden Sie feststellen, dass wir eine ganze Reihevon wichtigen Maßnahmen vereinbart haben, die in derTat noch umgesetzt werden müssen. Alle hier im HohenHause wissen das. Deswegen braucht man das nicht be-sonders zu betonen.Gegenstand der heutigen Debatte ist der Antrag derFraktion Die Linke. Dazu möchte ich Folgendes sagen:Es ist sicherlich gut, dass das Thema Prokon und die da-mit zusammenhängenden Schwierigkeiten, die es nachwie vor gibt, im Bundestag öffentlich debattiert werden.Wenn man sich den Antrag durchliest, dann gewinntman aber schon den Eindruck, als hätten Sie unter demStichwort „Anlegerschutz“ ein wenig gegoogelt, eineReihe von Stichwörtern gefunden und diese dann alle inIhrem Antrag untergebracht.
Ehrlich gesagt, habe ich nicht ganz verstanden, was dieThemen Deckung von Verbraucherkreditverträgen, Dis-pozinsen, Vorfälligkeitsentschädigung und anderes mehrmit dem Fall Prokon zu tun haben. Wir müssen bei unse-rer Arbeit schon zielgerichteter vorgehen.
Ich brauche nicht zu betonen, dass ich die Einschät-zung des Kollegen Schick zum Thema Finanz-TÜVteile. Dieses Instrument ist zu unscharf. Wir müssen unsauf Maßnahmen verständigen, die mehr leisten können.Es kann auch nicht sein, dass die Verantwortung an
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1589
Dr. Carsten Sieling
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staatliche Behörden delegiert wird. Das ist jedenfalls un-sere Herangehensweise in dieser Angelegenheit.Kollege Steffel hat sehr deutlich auf die Beschlüsseund Verabredungen, die in der letzten Legislaturperiodegetroffen bzw. durchgesetzt wurden, hingewiesen. Siewerden mir zugestehen, dass ich diesbezüglich naturge-mäß nicht ganz so optimistisch bin. Wir brauchen dasaber nicht weiter zu vertiefen. Allein die Tatsache, dasswir in unserem Koalitionsvertrag einige Maßnahmen zurRegulierung des Anlegerschutzes und des Grauen Kapi-talmarktes vereinbart haben, zeigt doch, dass wir nochnicht so weit sind, alle Märkte, alle Akteure und alleProdukte zu regulieren. Das ist die Aufgabe, vor der wirjetzt stehen, und ich bin froh, dass wir das in dieser Gro-ßen Koalition gemeinsam angehen werden.
Es wurde behauptet, dass hier nur allgemein geredetund lediglich Appelle formuliert werden. Nein, das istnicht der Fall. Werfen Sie einen Blick in den Koalitions-vertrag. Ich will Ihnen drei Punkte nennen, die wir kon-kret vereinbart haben.Erstens – das ist neu – wird die BaFin künftig auchfür den Verbraucherschutz zuständig sein. Diese Maß-nahme ist notwendig. Die BaFin wird sich quasi als öf-fentliche Einrichtung darum kümmern und ihre Kompe-tenzen, die sie in diesem Bereich hat, einsetzen; dennFinanzmarktregulierung und Ordnung an den Finanz-märkten bedeutet auch Schutz für die Verbraucherinnenund Verbraucher in unserem Land.Zweitens. Wir brauchen einen Finanzmarktwächter.Das haben wir als Sozialdemokraten in der letzten Legis-laturperiode mehrfach thematisiert. Ich bin froh, dassdieser Aspekt im Koalitionsvertrag verankert wurde.Kollege Steffel hat das eben positiv hervorgehoben. DerFinanzmarktwächter dient als Frühwarnsystem für denMarkt. Dies wird weiterentwickelt werden müssen, da-mit die Ungleichgewichte zwischen den Anbietern undden Anlegern, den Verbraucherinnen und Verbrauchern,behoben werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michauch den dritten Punkt nennen. Wir haben im Koalitions-vertrag vereinbart, dass besonders riskante und risikorei-che Produkte verboten werden müssen und verbotenwerden können.Das sind die drei Schritte, mit denen diese Koalitionbeim Verbraucherschutz vorangeht: BaFin als Aufsicht,Marktwächter und Verbot von gefährlichen Produkten.Kollege Schick, das sind mehr als Parolen. Das sindklare Aufträge, an denen sich diese Koalition auch mes-sen lassen wird.
Ich möchte zum Schluss noch den Fall Prokon an-sprechen, weil das, glaube ich, ein ganz wichtiger Punktist. Auch da finde ich, dass der Antrag die Gefahr be-inhaltet, zu viele Erwartungen zu wecken. Der Fall Pro-kon ist ja kein Thema des Grauen Kapitalmarktes imengeren Sinne. Im Fall von Prokon – Frau KolleginKarawanskij hat das angesprochen – ist Anlegern mas-senhaft Kapitalbeteiligung über sogenannte Genuss-rechte verkauft worden. Das ist größtenteils über den Di-rektvertrieb von Prokon geschehen. Hier geht es ehernicht um die Frage der Aufsicht, nicht um den GrauenKapitalmarkt. Es wird vielmehr Aufgabe der Staats-anwaltschaft sein, zu prüfen, ob hier nicht SchwarzerKapitalmarkt vorherrscht, ob hier nicht gegen Recht undGesetz verstoßen worden ist, ob hier nicht eine Straftatvorliegt.Prokon ist sicherlich ein richtiger Anstoß, um mehr zutun. Ich will zum Schluss sagen: Es steht unserer Koali-tion gut an – ich bin sicher, dass wir da gemeinsam Seit’an Seit’ stehen –, dass wir aktuelle Entwicklungen auf-nehmen, um weiterzudenken und weiterzugehen. Natür-lich müssen wir uns auch mit den Aufsichtsfragenbeschäftigen, beispielsweise mit der Tatsache der Zer-splitterung der Aufsicht, zum einen gegenüber den Ban-ken und zum anderen gegenüber den freien Vermittlernund Beratern. Ich wäre froh, wenn wir zu dem zurückkä-men, was Bundesminister Schäuble Anfang der letztenLegislaturperiode einmal in einen ersten Gesetzentwurfgeschrieben hat. Ich glaube, wir haben da viel zu tun undmüssen etwas voranbringen.Diese Koalition wird den Verbraucherschutz stärken.Wir als SPD wollen die Rolle wahrnehmen, Motor für dieRechte der Verbraucherinnen und Verbraucher zu sein.Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen,
als Nächstes hören wir die Rede eines Kollegen, der
schon wichtige Reden im Europäischen Parlament und
im Bayerischen Landtag gehalten hat, heute aber seine
erste Rede im Deutschen Bundestag hält. Kollege
Radwan, Sie haben für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident, besten Dank für die Ein-führung! Es ist eine Premiere für mich, hier reden zudürfen, aber nicht, parlamentarisch reden zu dürfen, wieSie ja schon gesagt haben.Die heutigen Themen sind Prokon und Grauer Kapi-talmarkt. Ich wundere mich, warum man das Thema Pro-kon als Beispiel dafür heranzieht. Herr Schick hat jabemerkenswerterweise den Prospekt angesprochen undangeführt, was nicht drinstand. Vielleicht können wiruns auch einmal darüber unterhalten, was drinstand.Dann können wir nämlich feststellen, dass in diesemProspekt durchaus Risiken herausgearbeitet und darge-stellt wurden,
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1590 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Alexander Radwan
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nämlich dass es keine Einlagensicherung gibt, dass eskeine Garantie auf Rückzahlung gibt. Darüber hinausmüssen wir uns regelmäßig die Frage stellen: KönnenProdukte, die eine gewisse Rendite versprechen, ohneWeiteres als risikofrei eingestuft werden? Von daher:Wenn wir das Thema Prokon aufgreifen, sollten wir unsschon die Frage stellen, ob es das richtige Beispiel ist, obhier die Verbraucherschützer vielleicht sogar rechtzeitiggewarnt haben und wie es dann beim Kunden entspre-chend angekommen ist.Zu den Vorschlägen, die jetzt gemacht wurden. DenFinanz-TÜV haben meine Vorredner schon angespro-chen. Sehen Sie es mir nach, wenn ich das jetzt ein biss-chen salopp sage: Bei TÜV denke ich immer an Autos.Es kommt mir jetzt vor, als bekomme jemand, der fürsein Auto das TÜV-Siegel bekommt, damit die Garantie,die nächsten Jahre unfallfrei zu fahren.
– Jetzt bleiben wir einmal beim Auto. Jetzt rede ich, unddann können wir auch über Stecker reden. – Es ist schonbemerkenswert. Es ist eine Momentaufnahme, und dieWelt ändert sich.
– Doch. Vielleicht nicht bei Ihnen, aber für den Rest derMenschen ändert sie sich täglich. Vielleicht ist das dasProblem.
Von daher ist es schon spannend, zu wissen und nach-zuvollziehen: Wie soll ein solcher TÜV eigentlich in lang-fristiger Perspektive eine entsprechende Sicherheit brin-gen? Herr Schick hat zu Recht – ausnahmsweise hatte errecht; das hat mich irritiert – die Haftungsfrage ange-sprochen: Was bedeutet es, wenn ich ein solches Güte-siegel vergebe? Was bedeutet es, wenn es dann dochschiefgeht?Die Instrumente, die in dem Antrag vorgeschlagenwerden, sind aus meiner Sicht unbrauchbar, und auchdas Beispiel ist unbrauchbar. Im Koalitionsvertrag steht,dass wir uns vorgenommen haben, entsprechende Maß-nahmen zu ergreifen: Kein Produkt ohne Regulierung!Da die Finanzmärkte keine starre Angelegenheit sind– weiß, grau, schwarz –, müssen wir aber aufpassen,dass durch unser Vorgehen in den Bereichen Banken,Versicherungen und Aufsicht – in diesen Bereichen wa-ren wir sowohl auf nationaler als auch auf internationalerEbene tätig – keine neuen Grauen Kapitalmärkte alsAusweichmärkte entstehen. Wir müssen ganz gezielt sa-gen: Die Produkte müssen transparent sein; sie müssennachvollziehbar sein.Vorhin wurde gesagt, dass die frühere Verbraucher-schutzministerin – sie war quasi meine Vorgängerin; dashaben Sie jetzt nicht gesagt, Herr Präsident – in diesemBereich des Verbraucherschutzes nichts gemacht hat.Wenn ich mir anschaue, wie viele Dokumentations-pflichten und Vorgaben für den Kapitalmarkt in den letz-ten vier Jahren erlassen wurden, dann kann ich nicht sa-gen, dass das nichts ist.
Es wurde viel gemacht. Auf diesem Weg gehen wir jetztweiter.Das Thema Marktwächter wurde bereits angespro-chen, auch vom Koalitionspartner. Ich denke, diesesThema ist wichtig. Wir sollten darauf achten, dass dieWächter eine gewisse Neutralität haben; sie sollten we-der dem einen noch dem anderen Lager angehören. Wirsollten sagen können: Sie sind verlässliche Partner.In der nationalen Gesetzgebung wird etwas gesche-hen. Nach der Wahl zum Europäischen Parlament, nachEinsetzung der Europäischen Kommission wird es auchauf europäischer Ebene ein entsprechendes Vorgehen ge-ben. Die Vorgaben, die wir auf nationaler Ebene haben,sind zusammen mit dem, was sich die Koalition vorge-nommen hat, aus meiner Sicht umfassend.Transparenz ist mir wichtig. Die Produkte dürfennicht nur etwas für akademische Fachkreise sein. Auchder normale Bürger, der sich mit diesen Themen ausein-andersetzt, muss nachvollziehen können, was er von die-sem Produkt zu erwarten hat. Rückblickend auf meineTätigkeit im Bayerischen Landtag möchte ich in diesemZusammenhang Folgendes sagen: Mir ist die Bildungwichtig. Wir müssen ein Bildungsniveau erreichen, dasden Umgang mit solchen Produkten ermöglicht.Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Ichglaube nicht, dass der Staat geeignet ist, letztendlich zuentscheiden, welche Produkte richtig und welche falschsind. Der Verbraucher hat zu entscheiden, welches Pro-dukt er möchte. Er braucht eine Auswahl. Sie wollenihm keine Auswahl geben. Sie wollen staatlicherseits be-stimmen, was richtig für ihn ist. Wir wollen ihm dieMöglichkeit geben, ein Produkt zu wählen, das er nach-vollziehen kann. Er soll sagen können: Ich gehe ein hö-heres Risiko ein und erwarte dafür eine höhere Rendite.Oder er soll sagen: Ich möchte ein geringeres Risiko.Wir wollen das nicht von staatlicher Seite vorgeben. Wirsind nicht die besseren Aufseher in diesem Bereich.
Vor allen Dingen wollen wir dem Markt letztendlichseine Entwicklungsmöglichkeiten lassen und ihn nichtkomplett abwürgen.Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
Das ganze Haus gratuliert Ihnen, lieber Herr KollegeRadwan, zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen Bun-destag. Glückwunsch!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1591
Vizepräsident Peter Hintze
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Wir haben einen weiteren Kollegen, der heute seineerste Rede im Deutschen Bundestag hält. Ich erteile dasWort zur ersten Rede hier Christian Petry von der SPD-Fraktion. – Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir reden heute aufgrund eines Antrags der Lin-ken über den Grauen Kapitalmarkt. Warum sollen wirdarüber reden? Das ist natürlich eine Reaktion auf denaktuellen Fall Prokon und eine Reaktion auf die Finanz-krise der vergangenen Jahre; das ist doch klar. AlleMärkte, alle Produkte, alle Akteure stehen unter Be-obachtung und sollen stärker reguliert werden. In derHochphase der Finanzkrise haben dies sogar die Akteureauf dem Finanzplatz gefordert. Jetzt sind sie wieder et-was zurückhaltender. Vielleicht ist das berühmte Spiel-kasino noch größer und noch offener, als es in der Hoch-phase gewesen ist. Ob Wertpapiere, Anleihen, Derivate,Geldmarkt- oder Investitionsfonds, ob Börsenhandel, au-ßerbörslicher Handel oder Hochfrequenzhandel – alleProdukte, alle Märkte, alle Akteure stehen auf dem Prüf-stand. Wir wollen in all diesen Bereichen mehr Transpa-renz, mehr Kontrolle, mehr Aufsicht, eine bessere Prü-fung bei der Produktzulassung und mehr Stabilität derMärkte.
Ziel ist es, einen besseren Schutz der Anleger, einenbesseren Verbraucherschutz zu erreichen. Herr KollegeSteffel, das hätte schon in der vergangenen Wahlperiodeumgesetzt werden können. Herr Sieling hat in der ver-gangenen Wahlperiode oft genug darauf hingewiesen.Wir haben jetzt einen Koalitionsvertrag, in dem wir diesGott sei Dank vereinbart haben. Ich denke, das ist auchgut so. Wir müssen diese Vereinbarung zügig umsetzen.Da sind Sie jetzt mit im Boot, und das ist schön so.Herr Kollege Radwan, natürlich haben wir hier einestärkere Aufsichtsfunktion gefordert. Das, was Sie ebenvorgetragen haben, deckt sich aus meiner Sicht nichtganz mit dem, was im Koalitionsvertrag steht. Ich denke,darauf sollten wir hinweisen. Wir wollen einen besserenAnlegerschutz und einen besseren Verbraucherschutz.
– Das glaube ich auf jeden Fall. Da bin ich mir sicher.Deshalb haben wir auch einen gemeinsamen Koalitions-vertrag.
– Das glaube ich jetzt weniger. Aber das werden wir inden nächsten Jahren sehen.In diesem Zusammenhang kann ich Herrn Dr. Schickberuhigen. Herr Dr. Schick, ich kann Ihnen garantieren:Wir werden uns zügig um die Umsetzung des Koali-tionsvertrages bemühen. Die Befürchtung, es werde wie-der nicht viel passieren, teile ich nicht. Ich glaube, wirsind hier auf einem guten Weg.
Der Antrag der Linken zum Grauen Kapitalmarktzielt natürlich auch in diese Richtung. Insoweit ist dasder Weg, den auch wir beschreiten wollen. Allerdings istder Antrag, wie Kollege Sieling gesagt hat, zu unscharf,zu ungenau und nicht treffsicher. Der Vergleich mit derGrubenlampe und den Scheinwerfern ist durchaus be-rechtigt; diesen nehme ich gerne mit auf. Alle Geschäfte,die vom geregelten Finanzmarkt noch nicht erfasst sind,sollen betrachtet werden. Kritisiert werden die fehlendeTransparenz dieses Marktes und die daraus resultieren-den Möglichkeiten des Missbrauchs und der Täuschungsowie die Risiken für die Anleger. Natürlich ist hoherZins eine Folge von Risiko; das ist ja klar. Das lerntman, glaube ich, schon im ersten Semester. Man lernt essogar in der Schule, wenn man dort aufpasst.
– Ja, es haben auch nicht alle studiert. – Trotzdem ist esunsere Aufgabe, den Verbraucher weitestgehend zuschützen, Unseriösität abzuwenden und hier die entspre-chenden rechtlichen Grundlagen für Kontrolle und Auf-sicht zu schaffen, damit sich nicht jeder auf einem un-kontrollierten Markt tummeln kann.
Im Antrag wird der vermutete Schaden mit 50 bis100 Milliarden Euro beziffert.Ich begrüße die Forderung nach einem Prüfrecht,nach einer Produktaufsicht, nach der Unterstellung desMarktes unter die Finanzaufsicht statt wie bisher die Ge-werbeaufsicht. Ich begrüße ebenso die Forderung, dassprovisionsbasierter Verkauf unterbunden werden sollund dass künftig echte Marktwächter zur Transparenzund Kontrolle beitragen sollen.Frau Karawanskij, nicht erst seit Prokon behandelnwir dieses Thema. Wir befassen uns damit schon seit derKrise. Viele hier im Haus haben sich in der vergangenenWahlperiode dazu zu Wort gemeldet. Ich denke, daraufsollte hingewiesen werden. Die SPD ist hier die trei-bende Kraft.
– An Ihrer Reaktion merke ich, liebe Kolleginnen undKollegen der CDU/CSU, dass ich damit richtig liege.Danke für diese Reaktion.
Ich unterstütze ausdrücklich die Vorstellung von Ver-braucherminister Heiko Maas bei der Umsetzung der imKoalitionsvertrag hierzu getroffenen Vereinbarung zurReform der Finanzmärkte, auch des Grauen Kapital-markts. Er plant Aufsichtsbefugnisse auch in diesem
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Christian Petry
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Bereich durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht, die BaFin, und eine echte Marktwächter-funktion durch Verbraucherschutzorganisationen. In die-sem Zusammenhang befürworte ich persönlich auch dieEinführung eines Verbandsklagerechts. Viele dieserMaßnahmen sind im Übrigen auch eine Umsetzung vonkünftigem bzw. bestehendem europäischen Recht imFinanzdienstleistungssektor. Deshalb müssen zum Bei-spiel – darüber ist hier nicht diskutiert worden – auch dieVerjährungsfristen für diese Produkte angepasst werden.Sie wissen, dass diese sehr kurz sind: drei Jahre, nach-dem die Produkte auf dem Markt sind. Zehn Jahre – inanderen Bereichen ist dies bereits geändert worden – wä-ren angemessen. Ich freue mich, dass der Minister, deraus dem Saarland stammt – auch ich komme von dort –und den ich gerne unterstütze, Heiko Maas, dies auf-greift und hier eine entsprechende Rechtsänderung aufden Weg bringen will.
Die Verbraucher müssen klar erkennen, auf was siesich einlassen. Die Aufsicht soll künftig durch die BaFinerfolgen und nicht mehr durch andere. Die BaFin sollnicht nur die Produkte überprüfen, sondern auch die Artund Weise der Bewerbung und der Aufklärung über dieRisiken. Eine schärfere Prüfung bei der Zulassung neuerProdukte und die Veränderung der Verjährungsfristensind hier notwendig und stehen auf der Tagesordnung.Der Antrag der Linken geht in die richtige Richtung.Er geht allerdings nicht weit genug.
Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung, mitMinister Maas, eine Regulierung im Sinne eines echtenVerbraucherschutzes auf den Weg bringen, um nicht nuram Grauen Kapitalmarkt Verbesserungen zu erreichen.
In der vergangenen Wahlperiode hat die SPD dies immergefordert. Es ist schön, dass Sie, die Kolleginnen undKollegen der CDU/CSU, jetzt mit im Boot sind; dasfreut mich. Im Koalitionsvertrag haben wir eine Rege-lung dazu vereinbart. Es freut mich, dass auch die Lin-ken in diese Richtung gehen wollen. Lassen Sie uns die-ses Gebiet und diesen Antrag in diesem Jahr gemeinsammit der notwendigen Gründlichkeit bearbeiten!Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Glück auf!
Glückwunsch, lieber Herr Kollege Petry, zu Ihrer ers-
ten Rede! Wir wünschen Ihnen alles Gute für die parla-
mentarische Arbeit.
Die liebevolle Bitte des Präsidiums lautet, in Zukunft
den Blick nicht nur auf das Manuskript, sondern auch
auf die Uhr zu richten. Wir haben Ihnen heute einen
Erstredezuschlag gegeben.
Die Kollegin Mechthild Heil, CDU/CSU-Fraktion,
hat als Letzte in dieser Debatte zum Grauen Kapital-
markt das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr verehrter Herr Präsident! Anders alsdie Linken in ihrem Antrag behaupten, ist der Graue Ka-pitalmarkt nicht unreguliert. Denn auch geschlosseneFonds zum Beispiel sind ab Juli 2014 der Aufsicht unter-worfen; dafür haben wir mit dem Kapitalanlagegesetzbuchgesorgt. Aber Regulierung allein hilft den Verbrauchernnicht. Eigenverantwortung ist auch hier – wie in jedem Be-reich des Lebens – gefragt. Wir reden von erwachsenen,selbstbestimmten Menschen. Sie behandeln alle Bürger inDeutschland ohne Ausnahme wie kleine Kinder, denenman das Leben in kleinen Häppchen servieren muss, da-mit sie sich nicht verschlucken.Natürlich kennt sich nicht jeder mit hochriskanten Fi-nanzprodukten aus. Nicht jeder weiß, was ein Genuss-schein ist und wie diese Anlage funktioniert. Das musser auch nicht. Aber das ist noch lange kein Grund, solcheAnlagen zu verbieten. Wenn allerdings jemand sein er-spartes Geld in risikoreichen Produkten anlegt, zum Bei-spiel in Genussscheinen, dann sollte er sich vorher natür-lich informieren.
Da kann man keinen Verbraucher aus der Verantwortungentlassen.Alleingelassen wird der Verbraucher aber nicht, wieSie das in Ihrem Antrag an einer Stelle behaupten. Im-merhin revidieren Sie diese von Ihnen getroffene Aus-sage eine Zeile später schon wieder, indem Sie auf dieVerbraucherorganisationen hinweisen, die zum Beispielvor Prokon gewarnt haben. Ja, Verbraucherorganisatio-nen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Ge-nussscheine im Falle einer Insolvenz ungeschützt sind,dass der Totalverlust des Geldes drohen kann. Die Stif-tung Warentest – immerhin die Stiftung Warentest! – hatProkon deshalb schon im Jahr 2011 auf ihre Warnliste„Geldanlageangebote“ gesetzt.Zur Erinnerung, vielleicht auch für die SPD zur Erin-nerung: Wir haben die Stiftung Warentest mit 2 Millio-nen Euro zusätzlich ausgestattet. Wir haben im Koali-tionsvertrag festgelegt, dass die Stiftung Warentestweiterhin Geld bekommt. Wir haben also dafür gesorgt,dass die Verbraucher besser unterstützt und vor unseriö-sen Produkten gewarnt werden.Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von derLinken, fordern nun einen Finanz-TÜV. Wer soll dennall die Finanzprodukte, die es auf dem Markt gibt, prü-fen? Wer soll Hunderte, Tausende Finanzprodukte prü-fen? Wie soll das seriös funktionieren? Wie sieht es amEnde dann mit der Haftung aus? Ihre Antwort – klar –:Die Verbraucherzentralen sollen prüfen. Die Verbrau-
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Mechthild Heil
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cherzentralen sind für Sie immer die Allzweckwaffe. Siesollen nicht nur prüfen; nein, sie sollen dann auch nochdie Seite wechseln und gleichzeitig beraten. Konfliktesind damit vorprogrammiert.Ihr Antrag zeigt, dass Sie die Struktur und die Kom-plexität des Finanzmarktes vollkommen verkennen. Wieimmer denken Sie auch hier nur schwarz und weiß. AberFinanzprodukte kann man nicht einfach in gute undschlechte einteilen.
Es kommt immer auf den jeweiligen Anleger an. Eskommt immer auf seine Risikofreudigkeit an. Es kommtimmer auf seine Kapitaldecke an. Es kommt immer auchauf seine Lebenssituation an.Als Verbraucherpolitikerin ist für mich nicht nur derGeldbeutel der Menschen schützenswert, sondern fürmich sind die Entscheidungsfreiheit und die Selbstbe-stimmung der Menschen genauso schützenswert. Dazugehört eben auch die Freiheit, in riskante Geldanlageninvestieren zu können. Wer hohe Renditen erwartet, gehtauch ein hohes Risiko ein. Auch das hat am ganz langenEnde der Fall Prokon wohl gezeigt.Wir haben im Koalitionsvertrag auch darauf hinge-wiesen und uns darauf verständigt, dass der Verbrau-cherschutz ein vorrangiges Ziel der Aufsichtstätigkeitder BaFin werden soll. Auch für die Große Koalition istes ein vorrangiges Ziel, die Rechte der Verbraucher zustärken – aber eben nicht auf Kosten der Eigenverant-wortung und nicht auf Kosten ihrer Wahlfreiheit. Wirsind eben Christdemokraten. Wir sind keine Sozialisten,die es weder mit der Wahlfreiheit noch mit der Eigenver-antwortung jemals besonders ernst genommen haben.
Unser Ziel ist es, für eine bessere Finanzkompetenzbei den Verbrauchern zu sorgen. Wir können nicht alleGefahren der Welt wegregulieren. Aber wir können da-für sorgen, dass die Verbraucher besser einschätzen kön-nen, welche Produkte für sie infrage kommen und wel-che nicht. Als Verbraucherschutzbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion setze ich die Verbesserung derFinanzkompetenz als vorrangiges Ziel auf meine Agendafür diese Legislaturperiode.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/769 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung und Land-
wirtschaft zu dem Antrag der
Abgeordneten Harald Ebner, Renate Künast,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zur Än-
derung der Richtlinie 2001/110/EG des Rates
über Honig
KOM(2012) 530 endg.; Ratsdok. 13957/12
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Ver-
braucher herstellen – Honig mit gentechnisch
veränderten Bestandteilen kennzeichnen
Drucksachen 18/578, 18/792
Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen
Kees de Vries, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Auf Antrag der Fraktion der Grünensteht heute das Thema Honig auf der Tagesordnung, dasNaturprodukt Honig, wichtig für unsere Kulturland-schaft und für unsere Landwirtschaft. Die Biene ist näm-lich nach Rind und Schwein das drittwichtigste Nutztierin unserer Volkswirtschaft. Durch ihre Bestäubungsar-beit wird in der Landwirtschaft ein Wert geschaffen, derden Erlös aus Wachs und Honig um das 10- bis 15-Facheübersteigt. Landwirtschaft und Imkerei sind dadurchaufs Engste miteinander verbunden.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mitihrem Antrag deuten die Grünen an, Pollen nicht als na-türlichen Bestandteil des Honigs zu sehen. Es gibt abermittlerweile eine Klarstellung durch das EuropäischeParlament, dass Pollen in der Tat ein natürlicher Be-standteil des Honigs und nicht eine Zutat sind. In zweiinformellen Trilogen wurde über die offenen Fragen ver-handelt, und es wurde eine Einigung erzielt. Sogar derfür den internationalen Handel bedeutsame Honig-Stan-dard des Codex Alimentarius stuft Pollen als natürlichenBestandteil des Honigs ein. Damit ist, hoffe ich, diesenur schwer nachvollziehbare Diskussion wohl beendet.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieTransparenz durch Kennzeichnung von Lebensmittelnund die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbrau-cher beim Einkauf von Lebensmitteln haben für uns als
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Kees de Vries
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CDU/CSU-Fraktion einen hohen Stellenwert. Daher be-grüßen wir die europäische Vorgabe, alle GVO-verän-derten Lebensmittel zu kennzeichnen.
Alle Lebensmittel, die einen GVO-Gehalt von mehr als0,9 Prozent aufweisen, werden somit gekennzeichnet.Da der Pollengehalt von Honig maximal 0,01 bis0,5 Gramm – im Normalfall ungefähr 0,03 Gramm – jeKilogramm Honig beträgt, ist eine GVO-Kennzeichnungohnehin nicht erforderlich. Hinzu kommt: Bei Lebensmit-teln, die mit dem Ohne-Gentechnik-Siegel gekennzeich-net werden, liegt die Nachweisschwelle für zugelassenegentechnisch veränderte Bestandteile bei 0,1 Prozent;sogar diese Grenze wird von gentechnisch verändertemPollen im Honig nicht überschritten.Aber nehmen wir einmal an, Pollen wäre eine Zutat;dann müsste er ab einer Menge von circa 0,00027 Grammje Kilogramm Honig gekennzeichnet werden. Bei „FairTrade“- und Ökoprodukten liegt der Schwellenwert fürdie Kennzeichnung bei 9 Gramm je Kilogramm. DerSchwellenwert für Tofu aus Soja läge also 30 000-malhöher. Außerdem würde ein technisch schwieriger undfinanziell aufwendiger Nachweis von Zutaten im Honigerforderlich. Das würde zu einem einfach nicht mehrvertretbar hohen bürokratischen Aufwand führen.Mögliche Kennzeichnungspflichten wurden von denbetroffenen Handelspartnern bereits in den zuständigenAusschüssen der WTO als Handelshemmnis gerügt. Vordiesem Hintergrund wäre bei Einführung einer Kenn-zeichnung von gentechnisch verändertem Pollen im Ho-nig mit einem WTO-Streitbeilegungsverfahren zu rech-nen. Dies wäre – auch wegen der schon erwähntenRegelung im Codex Alimentarius – für die EU und ihreMitgliedstaaten mit erheblichen Risiken behaftet.
Es ist gut, dass das Honig-Urteil des EuropäischenGerichtshofs, das zu großer Verwirrung und Unsicher-heit geführt hat, vom EU-Parlament korrigiert wurdeund damit zumindest in diesem Punkt Sachlichkeit indiese Diskussion gekommen ist. Mit der Entscheidungvon Parlament und Kommission haben wir endlich Klar-heit über den rechtlichen Status von Pollen. Das istwichtig für die Imker, die durch die Diskussion einennicht unerheblichen Imageschaden haben, aber auch fürdie Verbraucher, auf deren Rücken hier eine unnötige,ideologische Debatte ausgetragen wird.
Ich kritisiere ausdrücklich den Versuch der Grünen,mit dem von ihnen ins Spiel gebrachten Vorschlag die le-bensmittelrechtliche Behandlung des Honigs zu ändern.Das führt nicht zur notwendigen Versachlichung der Dis-kussion, sondern wird nur zu weiterer Verunsicherungund Ängsten bei den Bürgerinnen und Bürgern beitra-gen.
Ich frage mich: Ist das unseren Kolleginnen und Kolle-gen von den Grünen nicht bewusst, oder ist es sogar ge-wollt?Vergessen wir nicht: Pollen aus GVO ohne EU-Zulas-sung sind in Honig wie in allen anderen Lebensmittelnweiterhin nicht zugelassen. Hier gilt weiterhin die Null-toleranz. Damit ändert der Kommissionsvorschlag nichtdie Vorgabe der EU, dass in Honig nur gentechnisch ver-änderte Pollen enthalten sein dürfen, die in der EU alsLebensmittel zugelassen sind. Deren gesundheitlicheUnbedenklichkeit ist im Rahmen des EU-Zulassungsver-fahrens seitens der Europäischen Behörde für Lebens-mittelsicherheit, EFSA, auch für den Pollen in importier-tem Honig bereits mehrfach nachgewiesen worden.Aus den genannten Gründen ist der Antrag der Grü-nen nicht zielführend und deshalb einfach abzulehnen.Vielen Dank.
Als Nächster erteile ich das Wort der Kollegin Frau
Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Ich würde ja gern einmal auf derBesuchertribüne eine Umfrage machen: Wollen Sie Ho-nig essen, in dem Gentechpollen enthalten sind, ohnedass Sie das wissen, weil es nämlich nicht auf dem Eti-kett steht?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Mehrheit das, völligzu Recht, nicht will.
Nach den Änderungsvorschlägen der EU-Kommissionzur Honigrichtlinie müsste Gentechnikhonig aber nichtgekennzeichnet werden.Die Linke lehnt das ab. Wir folgen hier dem Europäi-schen Gerichtshof. Nach einem Urteil von 2011 habenVerbraucherinnen und Verbraucher das Recht auf Kenn-zeichnung von Honig mit Gentechpollen.Aus meiner Sicht könnte ich meine Rede jetzt eigent-lich beenden. Aber ich mache die Erfahrung, dass vieleMenschen gar nicht verstehen, worum es bei diesemStreit überhaupt geht. Deswegen möchte ich einmal ver-suchen, das zu erklären; denn die Kennzeichnungsregelnfür Agrogentechnik sind ziemlich kompliziert, oder– besser gesagt – sie sind kompliziert gemacht worden.Bei nicht zugelassenen Gentechpflanzen ist es nochleicht; denn die dürfen in Lebensmitteln nicht vorhandensein. Hier gilt die Nulltoleranz. Lebensmittel von Tieren,
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Dr. Kirsten Tackmann
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die mit Gentechnikpflanzen gefüttert wurden, müssennicht gekennzeichnet werden. Aber man kann freiwilligdas Label „Ohne Gentechnik“ aufdrucken, wenn dieTiere gentechnikfrei gefüttert wurden. Bei einer Verun-reinigung durch zugelassene Gentechpflanzen wiederummüssen Lebensmittel gekennzeichnet werden, es seidenn, sie liegt unter 0,9 Prozent, ist zufällig oder tech-nisch unvermeidbar. Dann muss das Lebensmittel nichtgekennzeichnet werden.Haben alle mitgekriegt, worum es hier geht?
Vermutlich haben es nicht alle verstanden. Warum ist dieKennzeichnung eigentlich nicht einfach und verständlichgeregelt? Ich finde, wo Agrogentechnik drin ist, muss esauch draufstehen.
Dann klappt es nämlich auch mit der Wahlfreiheit ganzgut.Doch so viel Transparenz will die EU nicht, weil dannklar wäre, dass in vielen Lebensmitteln ungewollt Agro-gentechnik drin ist. Verunreinigungen sind nämlichan der Tagesordnung. Die Koexistenz zwischen Agro-gentechnik und gentechnikfreier Landwirtschaft hat sichdoch längst als Märchen entlarvt. Bei Ernte, Transport,Lagerung, Verarbeitung und Handel sind Verunreinigun-gen nicht oder nur mit einem hohen Kostenaufwand zuvermeiden. Um das nicht kennzeichnen zu müssen, hatman die 0,9-Prozent-Grenze erfunden. Deshalb mussman eigentlich entscheiden: Will man eine Gentechnikoder eine Kennzeichnung, die Monsanto-freundlich ist,oder will man eine, die im Interesse der Verbraucherin-nen und Verbraucher ist?
Die wollen nämlich zu 80 Prozent keine Lebensmittelaus Agrogentechnik. Das heißt, sie wollen Lebensmittel,die nicht mit Agrogentechnik hergestellt wurden.Deshalb sagt die Linke ganz klar: Wir wollen eineKennzeichnung im Interesse der Verbraucherinnen undVerbraucher, im Interesse der gentechnikfreien Land-wirtschaft und Lebensmittelwirtschaft sowie im Inte-resse der Imkerinnen und Imker.
– Insulin ist aber Rote Gentechnik. Da haben Sie etwasverwechselt.Beim Honig ist die Kennzeichnungsfrage noch kom-plizierter. Dabei geht es nämlich um den Pollen in demHonig. Stammen Pollen aus Gentechpflanzen ohneLebensmittelkennzeichnung, muss der Honig als Son-dermüll entsorgt werden.
Bei Pollen von Gentechnikpflanzen mit Lebensmittelzu-lassung zieht wiederum die 0,9-Prozent-Grenze nicht,weil Honig nämlich nur bis zu 0,5 Prozent Pollen ent-hält, also unter 0,9 Prozent.
Bei dieser Regelung müsste also der Honig nicht ge-kennzeichnet werden, es sei denn, Pollen würde als Zutatbezeichnet oder die Beimengung von Pollen wäre nichtzufällig oder technisch unvermeidbar – noch einmal: derPollen wird durch die Bienen eingetragen – oder derPollengehalt würde im Verhältnis von Gentechpollen zunatürlichem Pollen berechnet oder – noch strenger –Gentechpollen würde auf den Maispollen bezogen. In alldiesen Fällen müsste Honig dann doch gekennzeichnetwerden, sagen manche Juristinnen und Juristen.Alles klar? Wenn nicht, dann liegt es ganz bestimmtnicht an Ihnen; denn so etwas ist nicht verständlich.
Deshalb hilft eigentlich nur ein klarer Rechtsgrund-satz: Im Zweifel für Verbraucherinnen und Verbraucherund für die Imkerei. Die Linke fordert deshalb klipp undklar: Wenn Gentechpollen im Honig drin sind, muss esauch draufstehen.
Von den juristischen Debattierklubs erwarte ich kon-struktive Vorschläge, wie man dieses Ziel erreicht, undkeine juristischen Winkelzüge, um es zu verhindern.Dem Antrag der Grünen stimmen wir deswegen zu.Vielen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Matthias Miersch, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Umes gleich vorwegzusagen: Für die SPD-Fraktion stehtfest, dass Wahlfreiheit im Bereich der Gentechnologieein ganz entscheidender Grundsatz für Verbraucherinnenund Verbraucher ist.
Zur Wahlfreiheit gehört auch, dass man Kennzeich-nungspflichten hat, die für Verbraucherinnen und Ver-braucher nachvollziehbar sind. Insofern freue ich mich,dass es gelungen ist, in diesen Koalitionsvertrag hinein-zuschreiben, dass wir darin einig sind, dass die Bundes-regierung auf europäischer Ebene für die Kennzeich-nungspflicht von Tieren, die mit Gentechnikpflanzengefüttert worden sind, votieren soll. Das ist ein eindeuti-ger Fortschritt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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1596 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Matthias Miersch
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Beim Thema Honig – das gehört auch offen gesagt –ist dies aber komplizierter. Ausgehend von einer Ent-scheidung des Europäischen Gerichtshofs haben wir inden letzten zwei Jahren auf vielen politischen Ebenenintensiv darüber diskutiert. Herr Kollege de Vries, Siesagen, es gibt nur eine Richtung. Es gibt aber auch nocheine andere. Die andere hat sich aus einer Grundsatzent-scheidung des Europäischen Gerichtshofs ergeben.Ich sage auch hier ganz klipp und klar: Die Sozialde-mokratie hat nicht nur auf nationaler Ebene – nicht nurim Bundesrat und teilweise sogar zusammen mit derCSU –, sondern vor allen Dingen auch im EuropäischenParlament für eine Kennzeichnungspflicht im Sinne derGrundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofsvotiert, und das ist nach wie vor auch richtig.
Herr Ebner, jetzt komme ich dazu, was Ihr Antrag be-inhaltet. Ich kann nur sagen: Ich kann von einer Bundes-regierung nichts verlangen, was sie nicht erfüllen kann.Nach dieser langen Zeit haben wir auf der europäischenEbene ein sogenanntes Trilogverfahren durchgeführt.Das ist so etwas wie das Vermittlungsverfahren zwi-schen dem Bundestag und dem Bundesrat, das wir allekennen. Dieses Verfahren ist abgeschlossen, und es gibtden Brauch, dass dieses Verfahren auch nicht wieder er-öffnet werden kann. Das gab es in der europäischen Ge-schichte noch nie. Insofern können wir dem Willen derGrünen an dieser Stelle nicht entsprechen, weil wir hierschlichtweg zur Kenntnis nehmen müssen, dass auf eu-ropäischer Ebene jedenfalls derzeit die Messe gesungenist. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, zu sagen, dass diesesThema auf europäischer Ebene im Augenblick nicht zubewegen ist.
Jetzt kann man natürlich Anträge stellen und eine na-mentliche Abstimmung fordern; das wissen wir alle, diewir schon mal in der Opposition waren, Herr Ebner. AlsNächstes wird es dann Musterpresseerklärungen in denWahlkreisen geben, in denen man sagt, der und der seiunglaubwürdig.
– Lassen Sie mir zumindest die Möglichkeit, Ihnen einenVorschlag zu machen.Ich sage, wir sollten uns in diesem Parlament dieFrage stellen, wie wir in der Sache weiterkommen. Wirmüssen hier in vier Bereichen eine Einigung erzielen:Erstens. Ich habe das schon vor wenigen Wochengesagt: Wir haben hier in diesem Haus und auch in denKoalitionsfraktionen offenkundig einen Dissens, wennes um das Thema Grüne Gentechnik geht. Die CSU- unddie SPD-Minister haben zum Beispiel eindeutig gegendie Zulassung votiert, die CDU dafür. Ich glaube, dasswir das ernst nehmen müssen, was wir in den Koalitions-vertrag geschrieben haben, nämlich dass wir die Zweifelder Bevölkerung in Sachen Grüne Gentechnik anerken-nen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,ich sage auch ganz offen: Wir müssen darum ringen, wasdas bedeutet. Aus meiner Sicht kann das nicht bedeuten,dass wir uns in Brüssel bei der Abstimmung über eine sozentrale Frage wie die Zulassung enthalten.
Deswegen erwarten wir, dass wir, wie wir das im Koali-tionsvertrag auch vereinbart haben, in den nächstenWochen im Einvernehmen miteinander klären, was zu-künftig geschieht, wenn die Bundesregierung nichtsprechfähig ist, weil sie widerstreitende Interessen hat.Zweitens. Ich erwarte eine Diskussion darüber, ob esSinn macht, eine sogenannte Opt-out-Klausel einzufüh-ren, wonach einzelne Mitgliedstaaten, obwohl die Zulas-sung erfolgt ist, davon absehen können. Im Bundesratund bei der CSU gibt es tolle Bewegungen dazu, und wieich jetzt gehört habe, bewegt sich auch die CDU inBaden-Württemberg, Herr Strobl, sodass der Kurs derSozialdemokratie hier möglicherweise übernommenwerden kann.
Ich werbe dafür, dass wir offen darüber reden – im Übri-gen auch mit der Opposition.Drittens. Wir müssen schnell das umsetzen, was wirim Koalitionsvertrag hinsichtlich der Kennzeichnungs-pflicht vereinbart haben, nämlich dass tierische Produktegekennzeichnet werden müssen, wenn die Tiere mitGVO gefüttert wurden. Dafür müssen wir uns auf euro-päischer Ebene einsetzen.
Viertens. Schließlich geht es um den Honig, über denwir hier diskutieren. Herr Ebner, ich glaube, es passiertnichts, ob der Antrag durchgeht oder nicht. Wir müssenin Brüssel dicke Bretter bohren und uns vor allen Dingendie Frage stellen, was wir hier im Parlament tun können.Auch dazu mache ich Ihnen einen Vorschlag.
– Nein. Ich nehme zur Kenntnis, wie im Moment derSachstand ist, Herr Krischer; das wissen Sie so gut wieich. Frau Künast musste schon vor längerer Zeit, also voruns, die Erfahrung machen, dass in Brüssel bestimmteGeschichten so sind, wie sie eben sind, und dass man danicht eingreifen kann. Aber ich lade Sie ein, zu überle-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1597
Dr. Matthias Miersch
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gen, wie wir die Imker national durch Regelungen schüt-zen können.Diese vier Bereiche, Zulassung, Opt-out, Kennzeich-nung, Fleisch und Imkerei, möchte ich in diesem Parla-ment offen diskutieren. Ich glaube, wir haben dafür eineGrundlage, indem wir im Koalitionsvertrag festgehaltenhaben, dass die Skepsis der Bevölkerung anerkannt wird.Diese Debatte fordern wir ein. Ich denke, wir werden siein den nächsten Wochen gemeinsam mit der CDU/CSUund der Opposition führen. Dazu meine Einladung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Kürzlich hat die Große Koalition gegen diehier schon zitierten Regelungen im Koalitionsvertrag,haben vor allem SPD und CSU gegen ihre eigenenProgramme gestimmt und einem weiteren Anbau vongentechnisch veränderten Pflanzen Tür und Tor geöffnet.
Viele von Ihnen haben dann in den Wahlkreisen beteuert,sie seien selbstverständlich weiterhin gegen Gentechnik,obwohl sie gerade dafür gestimmt hatten. Jetzt wollenSie die gleiche Nummer ein zweites Mal durchziehen?
Eigentlich – jetzt komme ich auf das zurück, wasRenate Künast erreicht hat – könnten wir dieser Tage einschönes zehnjähriges Jubiläum feiern. Im April 2004 tratdie Kennzeichnungsverordnung der EU für gentechnischveränderte Lebensmittel in Kraft. Erst seitdem haben wirdie Möglichkeit, Lebensmittel mit Zutaten aus gentech-nisch veränderten Organismen überhaupt zu erkennen.
Diese Kennzeichnungspflicht für Gentechprodukte istdie Grundlage jeder Wahlfreiheit beim Essen. Seitherstehen sie auch nicht mehr in unseren Regalen, und dasist gut so.
Was passiert denn heute? Zehn Jahre später wirkt dieBundesregierung in Brüssel aktiv daran mit, diese Trans-parenzregelung auszuhebeln. Auf solche Festreden kanndie Jubilarin ganz gut verzichten.
Wie auch beim Genmais 1507 liegt leider auch hier derVerdacht nahe – der Kollege de Vries hat es schon bestä-tigt –, dass hier ein weiteres Stück Verbraucherschutz alsHandelshemmnis für die Verhandlungen über das Frei-handelsabkommen mit den USA aus dem Weg geräumtwerden soll. Ich sage Ihnen: Verbraucherinnen und Ver-braucher und ihr Recht auf Information sind eben keineHandelshemmnisse.
Hinter der laufenden Änderung dieser EU-Honig-richtlinie steckt nichts anderes als das Ziel, die Kenn-zeichnung von Honig mit Pollen gentechnisch veränder-ter Pflanzen grundsätzlich zu verhindern und damit– auch Kollege de Vries hat es schon bestätigt – dassogenannte Honigurteil des EuGH zu unterlaufen oderzu korrigieren. Sie unterstützen das. Damit beschneidenSie die Freiheit der Menschen beim Einkauf, Honig ohneGentechnik auswählen zu können.
Damit schränken Kanzlerin Merkel und ihre Koalitiondie Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucherund die Lebensmittelkennzeichnungspflicht deutlich ein.Gegen Ihre Transparenz ist die Stahltür von Fort Knoxeine Milchglasscheibe.
Verbraucherinnen und Verbraucher haben aber einenAnspruch auf Transparenz. Wir teilen deshalb das in Ih-rem Koalitionsvertrag, Herr Miersch, verankerte Ziel,auch eine Kennzeichnung tierischer Produkte zu errei-chen, die mit Genfuttermitteln erzeugt wurden. Doch Siemachen jetzt das genaue Gegenteil dessen. Sie sorgennicht für mehr, sondern für weniger Kennzeichnung beitierischen Produkten; denn Pollen gentechnisch verän-derter Pflanzen gelangt eben in unveränderter Form inden Bienenstock und in den Honig mit dem komplettenErbgut, inklusive aller Veränderungen, die man vorge-nommen hat. Damit ist dieser Honig Genfood.Da kommen Sie und wollen den Menschen im Landweismachen, Gentechpollen sei, Herr Kollege, „einnatürlicher Bestandteil“ von Honig. Solches Gen-techerbgut ist ausnahmslos patentiert. Wir sagen: Einepatentierte Erfindung kann nie und nimmer ein natürli-cher Bestandteil eines Lebensmittels sein.
Da wird gern abgewiegelt und erklärt, der Pollenan-teil im Honig sei sehr gering. Wenn aber die Menschenkeine Gentechnik in ihrem Essen haben wollen, dann istdas ihr gutes Recht. Und Ihre Pflicht als Bundesregie-rung ist es, durch eine klare Kennzeichnungsregelungechte Wahlfreiheit zu ermöglichen.
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1598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Harald Ebner
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Aber was tun Sie? Sie befürworten deren Einschrän-kung, Frau Connemann. Wir wollen jedenfalls nicht,dass Rapshonig, der vollständig von Gentechpflanzenstammt, ohne jede Kennzeichnung im Regal steht. Dasgeht nicht.
Aber das wird die Folge sein.Es wird gesagt, die Messe sei gesungen. Denen, diedas erzählen, sage ich: Das stimmt doch gar nicht. Wowaren Sie denn bisher? Wo war die Stimme der CSU,
wo war die Stimme der SPD gegen die Gentechnik undfür die Wahlfreiheit der Menschen?Sie handeln zum wiederholten Mal in Brüssel glasklargegen die Interessen der Menschen, gegen die Wahlfrei-heit beim Essen
und auch gegen Ihren eigenen Koalitionsvertrag,
und dann haben Sie die Stirn, uns vorzuhalten, es sei zuspät. Das finde ich unerträglich.Dieser Honig ist noch lange nicht gelöffelt. Denn Tri-log hin oder her: Der Rat muss erst noch darüber abstim-men. Dass es unüblich ist, dass man dann gegen das bis-herige Abstimmungsverhalten handelt, mag sein. Aberder Rat muss abstimmen. Deshalb kommt unser Antragzur richtigen Zeit.
Ich appelliere an Sie: Denken Sie jetzt gleich bei derAbstimmung an die Menschen in diesem Land! DenkenSie an ihre Wahlfreiheit! Tauschen Sie Ihr Stimmkärt-chen noch einmal um! Stimmen Sie mit unserem Antragfür die Wahlfreiheit auch beim Honig!
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Alois Rainer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrterHerr Kollege Ebner, ich verkneife es mir, auf Ihre Aus-führungen näher einzugehen. Dann würde meine Rede-zeit nicht reichen; denn ich könnte einiges zum ThemaLebensmittel und Gentechnik sagen und sofort widerle-gen, was Sie gesagt haben. Davon stimmt fast gar nichts.
Bei der Abstimmung vor einigen Wochen ging es umeinen Schaufensterantrag wie heute auch.
Aber heute bleibe ich bei der Sache.
– Ja, ich bleibe bei der Sache.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will esklar an den Anfang stellen: Das Wohl der Menschen inunserem Land liegt uns in jeder Hinsicht ganz besondersam Herzen. Wir nehmen die Sorgen und Ängste derMenschen sehr ernst. Das gilt auch für die Bewertung al-ler modernen Technologien.Oberstes Prinzip bei der Anwendung ist und bleibt dieSicherheit von Mensch, Tier und natürlich auch der Um-welt.
Damit es genau in diesem Verhältnis bestehen bleibt,setze ich mich nach wie vor für eine vernünftige und,meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposi-tionsfraktionen, realistische Kennzeichnung ein.Das Europäische Parlament – das wurde schon gesagt –hat am 15. Januar 2014 klargestellt, dass Pollen ein na-türlicher Bestandteil und keine Zutat von Honig ist. Daswar eine Reaktion auf ein Urteil des Europäischen Ge-richtshofs, wonach Pollen als Zutat von Honig hätte ge-kennzeichnet werden müssen. Aus eigener Erfahrunghabe ich die Transparenz in der Kennzeichnung von Le-bensmitteln und die Wahlfreiheit der Verbraucherinnenund Verbraucher beim Einkauf von Lebensmitteln schät-zen gelernt.Es ist gut und richtig, dass Lebensmittel, die gentech-nisch veränderte Zutaten enthalten, entsprechend ge-kennzeichnet werden müssen. Aber schon jetzt gilt: Ent-hält importierter Honig gentechnisch veränderten Pollen,der in der EU nicht als Lebensmittel zugelassen ist, istder Honig gar nicht erst verkehrsfähig. Eines muss manklar sagen: Unser regional produzierter Honig ist ein rei-nes Naturprodukt.
– Jetzt schon noch. Wenn wir die Opt-out-Regelung zie-hen, wird es auch in Zukunft so sein.
Das werden wir sehen. Warten wir es ab!
Es ist festgelegt, dass eine Zutat ein Stoff ist, der ei-nem Lebensmittel absichtlich hinzugefügt wird. Darüber
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Alois Rainer
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hinaus sind Pollen ein unvermeidbarer natürlicher Be-standteil des Honigs. Das Vorhandensein des Pollens imHonig ist zufällig und technisch nicht vermeidbar, weildie Bienen von Natur aus Nektar, Honigtau und Pollensammeln und dieser Vorgang vom Imker nicht wie beieiner Zutat beeinflusst werden kann. Der Anteil der Pol-len im Honig liegt im Normalfall bei 0,003 Prozent.
– Stimmt, aber ich wiederhole das gerne, damit Sie sichdas merken, Herr Kollege.
– Sie waren vorhin genauso sarkastisch.Der Anteil gentechnisch veränderter Pollen liegt ge-wöhnlich deutlich unter diesem Prozentwert, wie Sie allewissen. Deshalb kann man nicht davon ausgehen, dassdie Bienen nur gentechnisch veränderte Pollen sammeln.
Der gültige, für die Kennzeichnung maßgeblicheSchwellenwert für gentechnisch veränderte Organismenin Lebensmitteln liegt – das haben wir bereits gehört –bei 0,9 Prozent. Ich wiederhole gerne, was vorhin gesagtwurde: Die Nachweisgrenze für zugelassene gentech-nisch veränderte Bestandteile von Lebensmitteln liegtbei 0,1 Prozent. Das gilt auch für das Siegel „Ohne Gen-technik“ oder für das Fair-Trade-Siegel. Eine Pflicht zurKennzeichnung des Honigs ist in der Praxis auch nichtumsetzbar, da es wegen der extrem geringen Mengen anmöglichen gentechnisch veränderten Pollen im Honigderzeit keine zuverlässigen Analysemethoden für dieQuantifizierung gibt. Ähnlich schwierig wäre es, ein Zu-ckerstück im Bodensee zu finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, viel-leicht erinnern Sie sich: Im November 2002 war es diedamalige Ministerin Renate Künast, die dem Schwellen-wert von 0,9 Prozent zugestimmt hat.
– Sie sind vorhin auch ausgewichen.Der Anteil des Importhonigs liegt in Deutschland bei70 bis 75 Prozent. Das heißt, 25 bis 30 Prozent werdennational hergestellt. Durch eine zusätzliche Kennzeich-nungspflicht würden neue und hohe Analysekosten so-wie bürokratische Kontrollaufwendungen auf unsere Im-ker zukommen. Gerade deshalb bin ich mir sicher, dasseine Ausweitung der Kennzeichnung viele kleine undmittlere Imkereien belasten wird. Zumindest da könntenwir uns einig sein. Wir alle wollen doch, dass die Imkernicht zusätzlich belastet werden.
Denn gerade das sollte bei einem Anteil des nationalenHonigs von 25 bis 30 Prozent in Deutschland dringendvermieden werden.Bei allem Verständnis für größtmögliche Transparenzist es in diesem Fall aus den vorgenannten Gründen zur-zeit nicht sinnvoll und auch nicht notwendig, eine Ände-rung der EU-Honigrichtlinie durchzuführen. Dies würdevor allem dem Verbraucher keinen weiteren Nutzen brin-gen, sondern lediglich unnötige Zusatzkosten und büro-kratische Mehraufwendungen für die Imker bedeuten.Im Hinblick auf die besondere Situation sollten wirdringend über eine Zutatenliste diskutieren. Wir müssenuns in Zukunft diesem Thema widmen. Nehmen wir dieEmotionen heraus, und treffen wir uns mit Interessen-vertretern der Imker und den Verbraucherschützern!
Machen wir ein tragfähiges Konzept für alle!
Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass wir über dieseThemen sachlich und fachlich diskutieren und nicht denKonsumenten im Zuge von Informationsdefiziten oderIrritationen verunsichern und unnötige Ängste schü-ren.Wir müssen den Verbrauchern sagen: Kauft deut-schen Honig! – Dann haben sie mit Sicherheit jetzt nochgentechnikfreien Honig.
– Noch und weiterhin.Danke schön.
Herzlichen Dank. – Als letzter Rednerin zum Thema
Honig, aber zur ersten Rede in ihrem parlamentarischen
Leben im Deutschen Bundestag gebe ich das Wort Kol-
legin Rita Hagl-Kehl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lassen Sie mich auch die Gäste und Bürgerin-nen und Bürger auf den Zuschauertribünen des Deut-schen Bundestages begrüßen; denn Transparenz ist dieIdee, die hinter der Architektur dieses Hauses steht. DieTransparenz von Vorgängen und Prozessen, letztlich dieTransparenz von Politik ist die Voraussetzung für demo-kratisches Handeln. Nicht nur frei entscheiden zu dürfen,sondern auch frei entscheiden zu können, muss das Zielsein.Heute sprechen wir über Honig und die Änderung derHonigrichtlinie der Europäischen Union. Seit Men-
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Rita Hagl-Kehl
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schengedenken gehört Honig zu unseren Grundnah-rungsmitteln. Die älteste bekannte Darstellung von Bie-nen ist eine etwa 8 000 Jahre alte Höhlenmalerei inOstspanien, die einen Honigsammler bei der Ernte zeigt.Bereits die alten Ägypter kannten den Zusammenhangzwischen Bienen und Bestäubung.Zwei Drittel der Verbraucher in Deutschland essen re-gelmäßig Honig. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Honigliegt bei 1,4 Kilogramm pro Jahr. Aufgrund des hohenHonigverbrauchs kann nur ein kleiner Teil des Bedarfsmit heimischem Honig gedeckt werden. Ich kenne keineFamilie, die nicht ein Glas Honig zu Hause hat. Warumist das so?
Weil Honig einen Urinstinkt in uns Menschen weckt.Honig steht für Natur und Gesundheit. Genau dasmöchte der Bürger: ein unverfälschtes Naturprodukt, dasein gesunder Bestandteil der Ernährung ist.
Einen kleinen Moment, Frau Kollegin.
Liebe Kollegen, es wäre sehr nett, wenn wir es noch
schaffen würden, drei Minuten der Kollegin bei ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag zuzuhören
und die sicherlich hochinteressanten und extrem wichti-
gen Gespräche dann nach der Abstimmung draußen zu
führen.
Frau Kollegin, bitte schön.
Es ist unsere Verantwortung, dass es auch so bleibt.Der Europäische Gerichtshof hat die Rechte der Ver-braucher und der europäischen Imker in dieser Frage mitdem sogenannten Honigurteil vom 6. September 2011grundlegend gestärkt.Ich möchte klarstellen: Der EuGH hat nicht darüberbefunden, ob Pollen ein natürlicher Bestandteil von Ho-nig ist. Der EuGH hat entschieden, dass genveränderterPollen im Honig wie eine Zutat im Sinne der entspre-chenden EU-Verordnung zu behandeln ist. Drei Argu-mente für die Neuregelung der Honigverordnung werdenregelmäßig ins Feld geführt. Diese möchte ich einmal inKlartext übersetzen.Das erste Argument lautet, alle Pollen seien natürli-cher Bestandteil des Honigs, und deshalb sei Honig perse ein Naturprodukt. Der Satz: „Pollen ist ein natürlicherBestandteil von Honig“, ist absolut richtig. Kein Imkerwürde das je bestreiten. Es geht aber hier darum, ob ge-netisch veränderter Pollen ein natürlicher Bestandteilvon Honig ist, und das ist absolut zu verneinen.
Der Satz: „Gentechnisch veränderter Pollen ist ein natür-licher Bestandteil von Honig“, ist falsch.Das zweite Argument lautet, eine fehlende Kenn-zeichnungspflicht spare Geld, weil Analysen und derNachweis von Genpollen hohe Kosten verursachen wür-den. Fakt ist: Die vermeintliche Kostenersparnis bei derKennzeichnung macht den europäischen Imkern mit ih-ren wertvollen Qualitätsprodukten und hohen Standardsden Markt kaputt. Die Analysetechnik steht nicht nur beiden deutschen Honigimporteuren bereit, sie wird seitdem Honig-Urteil auch genutzt.
Zudem ist der Nachweis – der Kollege Rainer solltevielleicht zuhören; denn genau das hat er gesagt – –
– Ach so, er sitzt da. Das sind die anderen Kollegen, dieratschen. Jetzt weiß ich es.
– Der Kollege Rainer war verdeckt durch die Kollegen,die in der ersten Reihe geratscht haben.
Zudem ist der Nachweis über den Abstand des Bie-nenstocks zu genmanipulierten Pflanzen in Deutschlandnahezu kostenfrei über die Standortregister für GVO-Felder möglich.Drittes Argument: Die neue Regelung bringt Bürokra-tieabbau und Erleichterungen. Klar, wenn ich den TÜVabschaffe, dann können Autos länger gefahren werden.Der Verkehr wird dadurch aber nicht sicherer.
Hinter dem Argument des Bürokratieabbaus bei der Ho-nigverordnung versteckt sich die Schwächung des Ver-braucherschutzes. In Wirklichkeit wird die Wahlfreiheitder Bürger abgebaut.Noch ein Wort zur Lebensmittelkennzeichnung. Beider Einführung der Gentechnik unter freiem Himmelwurden den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landesdrei Dinge versprochen. Um es knapp zu machen – dieZeit drängt –: Die Koexistenz von natürlicher und gene-tisch manipulierter Produktion ist eines dieser drei Ver-sprechen. Die EU-Kommission kann allerdings nicht er-klären, warum Genhonig aus Kanada zu 100 Prozent ausGentechnik bestehen kann und nach der vorgeschlage-nen Neuregelung keine Kennzeichnung benötigt. Zu-gleich wird dem Import von Honig aus genetisch verän-derten Pflanzen Tür und Tor geöffnet. Der Vorschlag derEU-Kommission zur Honigverordnung ist ein Angriffauf die Koexistenz von Gentechnik und natürlicher Pro-duktion.
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Rita Hagl-Kehl
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Nun zum Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen. Wiesollen wir mit ihm verfahren?
Dieser Antrag fordert im Wesentlichen, dass sichDeutschland im Trilogverfahren für Erhalt der Wahlfrei-heit beim Honig einsetzt. Das Trilogverfahren ist abge-schlossen, und das wissen Sie auch.
Dieser Antrag ist entweder als grüner Europawahlkampfzu verstehen, oder er kommt einfach zu spät.
Die nächste Entscheidung in dieser Sache wird nichtheute im Bundestag gefällt, sondern am 19. März 2014im Umweltausschuss des Europaparlaments. Den Antragder Grünen können wir deshalb ohne schlechtes Gewis-sen ablehnen.Vielen Dank.
Das war die erste Rede der Kollegin Rita Hagl-Kehl,zu der wir ihr gratulieren.
Sie hatte das Privileg, vor einem vollen Haus zu spre-chen, und das Problem, dass nicht alle gründlich zuge-hört haben. Das ist aber immer das Problem, wenn mankurz vor einer Abstimmung spricht.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel„Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Verbraucherherstellen – Honig mit gentechnisch veränderten Be-standteilen kennzeichnen“. Zu der Abstimmung liegenmehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsord-nung vor.1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/792, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/578 abzuleh-nen. Auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenstimmen wir nun namentlich über die Beschlussempfeh-lung des Ausschusses ab. Ich bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, die vorgesehenen Plätze an den Urneneinzunehmen. – Darf ich fragen, ob alle Urnen ord-nungsgemäß besetzt sind? – Das ist der Fall. Ich eröffnedie Abstimmung über die Beschlussempfehlung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Damit schließe ich dieAbstimmung und bitte die Schriftführerinnen und1) Anlagen 2 bis 4Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-ben.2)Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b so-wie den Zusatzpunkt 3 auf:10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Janvan Aken, Wolfgang Gehrcke, ChristineBuchholz, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEWaffenexporte in die Golfregion verbietenDrucksache 18/768Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie Auswärtiger Ausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungFederführung strittigb) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierungBericht der Bundesregierung über ihreExportpolitik für konventionelle Rüs-tungsgüter im Jahr 2012
Drucksache 18/105Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Abgeord-neten Agnieszka Brugger, Katja Keul, OmidNouripour, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Rüstungsexporte nach Saudi-ArabienDrucksachen 18/576, 18/793Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch und bitte die Kolleginnen und Kol-legen, die dieser Debatte nicht folgen wollen, sich ent-weder hinzusetzen oder den Plenarsaal zu verlassen.
Bitte verlassen Sie den Plenarsaal, oder besser: BleibenSie hier und lauschen Sie der interessanten Debatte.Als Erste hat die Kollegin Inge Höger, Fraktion DieLinke, das Wort.
2) Ergebnis Seite 1603 A
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Exportevon deutschen Waffen in alle Welt sind ein Skandal.
Sie sind eine Bankrotterklärung für eine verantwortungs-volle Außenpolitik. Firmen, die Waffen liefern, und Re-gierungen, die diese Lieferungen genehmigen, leistenBeihilfe zu Krieg und Mord – weltweit. Das ist ein Skan-dal.Die Absurdität der deutschen Rüstungsexportpolitikzeigt sich ganz aktuell in der Ukraine. Sollte es tatsäch-lich zu einem Krieg um die Krim kommen, was niemandvon uns hofft, kommen deutsche Waffen, deutsche Mu-nition und deutsche Militärfahrzeuge auf der ukraini-schen und der russischen Seite zum Einsatz. Und dieOffiziere beider Seiten werden wahrscheinlich mit deut-schen oder anderen NATO-Soldaten gemeinsame Übun-gen für den Ernstfall absolviert haben. Nun werden jaSanktionen gegen Russland diskutiert. Die weitere Be-lieferung der Ukraine wird jedoch trotz Kriegs- und Bür-gerkriegsgefahr nicht infrage gestellt. In Spannungsge-biete sollten generell keine Waffen geliefert werden, egalan welche Seite.
Wenn mehr Waffen mehr Sicherheit bedeuten, wie sooft behauptet wird, dann müsste der Nahe und MittlereOsten eine besonders stabile Region sein. Das Gebietrund um den Persischen Golf ist das am stärksten milita-risierte Gebiet der Welt. Es ist Kriegs- und Krisengebiet.Die Bundesrepublik ist einer der bedeutendsten Waffen-lieferanten dieser Region. Deutsche Waffen kommenweltweit viel zu oft zum Einsatz, nicht selten auf allenSeiten eines Krieges oder Bürgerkrieges. Ich nenne hiernur beispielhaft einige Länder, in die – historisch oderaktuell – tödliche Systeme verkauft wurden: Die Listereicht vom Iran über den Irak, Indien, Pakistan bis nachLibyen. Überall wurde mit deutscher Rüstungstechnolo-gie Öl ins Feuer gegossen. Dieser Irrsinn muss endlichein Ende haben.
Nur ein Stopp der Rüstungsexporte wäre eine verant-wortungsvolle Außenpolitik. Von der im Wahlkampf ins-besondere von der SPD beschworenen „Kultur derZurückhaltung“ hat sich die neue Regierung bereits öf-fentlich verabschiedet. Es ist nun von einer neuen „Poli-tik der Verantwortung“ die Rede. Bei Waffenexportensoll das Parlament früher und zweimal im Jahr infor-miert werden. Das Parlament soll aber nach wie vornicht über die Voranfragen für Rüstungsexporte infor-miert werden; es wird weiterhin erst im Nachhinein vorvollendete Tatsachen gestellt. Demokratie und Verant-wortung sehen anders aus.
Insgesamt liefert die deutsche GenehmigungspraxisAnlass zu großer Sorge. Lieferungen an Drittländer soll-ten ursprünglich die Ausnahme sein. Inzwischen werdenPanzer, Kriegsschiffe, Maschinengewehre und andereKriegswaffen mehrheitlich an Staaten außerhalb der EUund der NATO geliefert. Allerdings sind auch Lieferun-gen an EU- und NATO-Staaten keineswegs unbedenk-lich. Das gilt nicht nur für Griechenland und die Türkei.Nahezu alle EU- und NATO-Verbündeten befinden sichin Kriegs- und Besatzungseinsätzen. Es gibt schlichtwegkeine unbedenklichen Waffenexporte.
Unter den Top Ten der Empfängerländer finden sichzahlreiche Länder in Spannungsgebieten oder Staaten,die Menschenrechte und Demokratie mit Füßen treten.Mehr als 20 Prozent der Exportgenehmigungen im Jahr2012 entfielen auf Entwicklungsländer. Diese Länderbrauchen Entwicklungshilfe und keine Waffen.
Der Umfang der genehmigten Exporte von Kleinwaf-fen wie Maschinengewehre und Pistolen hat sich fastverdoppelt. Damit ist Deutschland inzwischen weltweitder zweitgrößte Exporteur von Kleinwaffen. Kleinwaf-fen sind die neuen Massenvernichtungswaffen unsererZeit. Diese Geschäfte sind wirklich beschämend.Warum werden Waffen nach Algerien, Singapur, Süd-korea oder in die Vereinigten Arabischen Emirate gelie-fert? Warum ist zwischenzeitlich Saudi-Arabien dergrößte Abnehmer deutscher Rüstungsprodukte? Das ein-zige Kriterium scheint die Zahlungsfähigkeit der Emp-fängerstaaten zu sein. Ein weiteres Verkaufsargumentsind ähnliche Interessen; das ist die neue Merkel-Dok-trin. Aus ähnlichen Interessen können aber in kürzesterZeit Interessengegensätze werden. Die einzigen Profi-teure dieser hochriskanten Politik sind Rüstungskon-zerne und deren Börsenwerte; die steigen gerade wieder.Ist das die werteorientierte Politik der Bundesregierung?Bei der Lieferung von 70 Schnellbooten, 33 Patrouil-lenbooten sowie 34 weiteren Booten an Saudi-Arabiengeht es angeblich nur um Piraterie- und Terrorismusbe-kämpfung.
Wahrscheinlich wird es eher um die Abwehr von Flücht-lingen gehen. Glaubt hier wirklich jemand, Saudi-Ara-bien würde Flüchtlinge entsprechend humanitären Re-geln behandeln?
Glaubt jemand, Piraten könnten in Saudi-Arabien aufrechtsstaatliche Verfahren hoffen? Und wer garantiert,dass die Schnellboote nicht auch für Interventionen inNachbarländer wie Jemen oder Bahrain eingesetzt wer-den? Jeder Export von Waffen ist einer zu viel.
Politische Verantwortung drückt sich nicht in Militär-interventionen und Rüstungsexporten aus. Es gibt keineAlternative zu einer zivilen Politik des fairen Interessen-ausgleichs zwischen den Regionen dieser Welt. Deshalb
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Inge Höger
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fordert die Linke ein Verbot von Waffenexporten in dieGolfregion und alle Teile dieser Welt.
Herzlichen Dank.Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern er-mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung überdie Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährungund Landwirtschaft zu dem Antrag der AbgeordnetenHarald Ebner, Renate Künast, Nicole Maisch, weitererAbgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenzu dem Vorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie2001/110/EG des Rates über Honig – KOM(2012) 530endg.; Ratsdok. 13957/12 –, hier: Stellungnahme gegen-über der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 desGrundgesetzes, mit dem Titel „Wahlfreiheit für Verbrau-cherinnen und Verbraucher herstellen – Honig mit gen-technisch veränderten Bestandteilen kennzeichnen“, liegtvor: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt448, mit Nein haben gestimmt 110, Enthaltungen 9. Da-mit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 559;davonja: 440nein: 110enthalten: 9JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerClemens BinningerPeter BleserWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid Fischbach
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiMichael FrieserHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungXaver JungAndreas Jung
Bartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneUwe LagoskyDr. Karl A. LamersDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergGisela ManderlaMatern von MarschallAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringElisabeth MotschmannCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana Schimke
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1604 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Vizepräsident Peter Hintze
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Norbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleGabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Dr. Klaus-Peter SchulzeUwe SchummerChristina SchwarzerDetlef SeifReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas Strobl
Michael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißMichaela Engelmeier-HeitePetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenKatja MastDr. Matthias MierschSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanUlli NissenMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Bernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Udo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerNeinCDU/CSUJosef GöppelHans-Georg von der MarwitzMartin PatzeltDIE LINKEDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Diether DehmWolfgang Gehrcke
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1605
Vizepräsident Peter Hintze
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Annette GrothDr. André HahnHeike HänselInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschCornelia MöhringNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsEnthaltenCDU/CSUSteffen BilgerAlexander Hoffmann
Johannes SelleSPDGabriele GronebergDr. Bärbel KoflerHilde MattheisDr. Nina ScheerStefan Zierke
Das bedeutet – ich sage das für unsere Zuhörerinnen undZuhörer –, dass der Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen abgelehnt wurde, weil die Beschlussempfehlungdie Ablehnung empfohlen hat.Wir fahren mit unserer Tagesordnung fort. Dernächste Redner ist Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir debattieren heute wieder einmal, wie fast jedeWoche, über das Thema Waffenexporte.
Die Linken haben einen Antrag vorgelegt, der vorsieht,die Waffenexporte in die Golfregion komplett zu verbie-ten.
Sie haben eben den Vorwurf erhoben, Deutschlandwürde eine unverantwortliche Rüstungsexportpolitik be-treiben. Das ist absurd und geht ins Leere.
Die Bundesrepublik Deutschland betreibt seit ihrerGründung eine äußerst verantwortungsvolle Rüstungs-politik,
schon aufgrund der Vorgaben des Grundgesetzes. So lau-tet Art. 26 Abs. 2:Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mitGenehmigung der Bundesregierung hergestellt, be-fördert und in Verkehr gebracht werden.
Deutschland hat unzweifelhaft das weltweit restriktivsteRüstungsexportregime.
– Wenn wir es doch nur wären! Aber wir sind es nicht.Das ist abwegig.
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1606 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
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Herr Pfeiffer, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Höger zu?
Ja, gerne. Bitte schön.
Wenn Deutschland eine der restriktivsten Rüstungs-
exportgenehmigungspolitiken der Welt betreibt, wie
kann es dann sein, dass Deutschland der drittgrößte Rüs-
tungsexporteur der Welt ist?
Sie wissen genau – weil wir diese Frage schon zigmaldebattiert haben –, dass diese Aussage falsch ist. DenZahlen des SIPRI-Instituts liegen bestimmte Kriterienzugrunde. Zum Beispiel wird gebrauchten Waffen dergleiche Wert zugemessen wie neuen. Insofern ist die Be-weiskraft dieser Zahlen mehr als fraglich.
Ich frage Sie in aller Offenheit:
Selbst wenn wir der größte Rüstungsexporteur wären,wo wäre denn das Problem, wenn wir die zugrunde lie-genden Kriterien erfüllten, die eine sorgfältige Abwä-gung ermöglichen,
zum Beispiel bei Dual-Use-Gütern? Da haben wir eineeuropäische Regelung.Ich wünsche mir im Übrigen eine solche europäischeRegelung auch im Bereich des Kriegswaffenexports.Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheits-politik betreiben wollen, dann müssen wir nicht nur inBezug auf den Rüstungsexport von Dual-Use-Gütern,sondern auch in Bezug auf den von Kriegswaffen euro-päisch denken und gemeinsam handeln. Wenn wir danndie besten Produkte liefern können: Wo ist denn danndas Problem?
Dann sind wir doch froh, dass wir mit deutscher Unter-stützung einen Beitrag dazu leisten können, dass Friedenin der Welt erhalten bzw. geschaffen wird.
Ich komme zu Ihrem Antrag und auf Saudi-Arabienzurück. Falls die Zeit nicht reicht, können Sie gerne eineZwischenfrage stellen. Dann kann ich das weiter ausfüh-ren. Sie fordern jedenfalls ein Totalverbot von Waffen-exporten in eine bestimmte Region.
Dies ist weder mit nationalem Recht noch mit dem EU-Ausfuhrkontrollrecht vereinbar. Wie Sie wissen, wider-spricht die von Ihnen beabsichtigte pauschale Untersa-gung dem Gemeinsamen Standpunkt der EU von 2008,der eine Einzelfallprüfung vorsieht. Das käme einemWaffenembargo gleich, was im Übrigen nur der EU-Ratentscheiden kann.
Zentrale Kriterien für die Ausfuhrentscheidung sind Artdes konkreten Exportgutes sowie außen-, sicherheits-,technologie- und menschenrechtspolitische Argumente,die im Einzelfall sorgfältig abgewogen werden.
Kommen wir zu Saudi-Arabien bzw. zum NahenOsten. Saudi-Arabien ist ja wohl unzweideutig seit Jahr-zehnten ein verlässlicher Partner des Westens
und auch ein verlässlicher Partner der BundesrepublikDeutschland.
Saudi-Arabien ist ein stabilisierender Faktor im Mittle-ren Osten. Wenn Sie nach Libyen schauen, wenn Sienach Syrien schauen
– Herr Trittin, Sie haben vorhin selber das Thema Iranangesprochen –, dann ist Saudi-Arabien ein moderaterund stabilisierender Partner in der Region.
Wenn wir der Meinung sind, dass Saudi-Arabien ein sta-bilisierender Partner ist, dann sollten wir es vielleichtauch in die Lage versetzen, dieser Aufgabe nachzukom-men.
Wenn Saudi-Arabien Küstenschutz betreibt und – daswurde ja dargelegt –
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Dr. Joachim Pfeiffer
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zum Schutz gegen Piraterie am Roten Meer Patrouillen-boote ordert – die ordern sie in Deutschland, weil wirhier die geeigneten haben, um die Küsten zu schützen –,wo liegt dann das Problem?
Ganz im Gegenteil: Ich bin stolz darauf, dass wir in derLage sind, diese an Saudi-Arabien zu liefern.
Wenn Sie sehen, dass auch in die Golfregion – kön-nen Sie ja im Rüstungsexportbericht nachlesen – 2011105 und 2012 118 Ausfuhranträge nach der Prüfung derKriterien, die zugrunde gelegt wurden, abgelehnt wur-den, dann erkennen Sie, dass hier nicht nach Schema Fvorgegangen, sondern sehr differenziert untersucht wird,was man erlaubt und was nicht.
Das Gleiche gilt beispielsweise für Katar. Es wäre dochabsurd, wenn wir Katar bei der Modernisierung seinerSicherheitskräfte, auch in der Vorbereitung der Fußball-WM 2022, nicht unterstützen würden. Warum sollen wirdas denn nicht tun?
Rüstungsexporte sind – ich wiederhole es noch ein-mal – aus meiner Sicht ein legitimes Instrument der Au-ßen- und Sicherheitspolitik,
wenn dafür entsprechende Kriterien vorhanden sind undauch eingehalten werden. Betrachten wir einmal ein ak-tuelles Beispiel, über das wir in diesen Wochen auchschon diskutiert haben: Mali.
In Mali sind bisher unsere französischen Verbündetenund zum Teil auch die Bundeswehr im Einsatz. Wennwir der Meinung sind, dass wir Mali in die Lage verset-zen wollen, das Gewaltmonopol des Staates durchzuset-zen,
und dafür sogar die Streit- und Sicherheitskräfte ausbil-den, dann müssen wir sie auch so ausstatten, dass sie inder Lage sind, dieses Gewaltmonopol des Staates durch-zusetzen. Alles andere ist verlogen. Die Scheinheiligkeitder Argumentation,
die hier von den Linken und auch von den Grünen indieser Angelegenheit an den Tag gelegt wird, ist wirk-lich himmelschreiend.
Es ist auch deshalb im nationalen Interesse Deutsch-lands, weil wir mit den Rüstungsexporten auch dieSicherung der Wehrfähigkeit Deutschlands und desTechnologiestandortes Deutschland gewährleisten.
Von einstmals 1,5 Millionen Beschäftigten in der Rüs-tungsindustrie gibt es jetzt gerade einmal noch 400 000in ganz Europa. In Deutschland waren es einmal500 000. Jetzt sind es noch 80 000. Ich will nicht abhän-gig werden von Technologien anderer. Das sehen wir ge-rade beim Thema Ukraine, über das wir vorhin schondiskutiert haben. Ich will, dass wir in Europa und dasswir in Deutschland weiterhin über Kernfähigkeiten ver-fügen, um unsere Sicherheits- und Verteidigungsindus-trie dauerhaft am Leben zu halten und uns so auszustat-ten, dass wir nicht von Technologien anderer, weder vondenen unserer Freunde aus Amerika noch von chinesi-schen oder denen anderer Länder, abhängig werden.Wir nehmen damit auch sicherheitspolitische Interes-sen und unsere Bündnispflichten wahr, indem wir unsereVerbündeten, sei es innerhalb der NATO, der Europäi-schen Union oder sonst wo auf der Welt, entsprechendausstatten. Das halte ich geradezu für natürlich
und richtig. Wir sollten nicht nur darüber reden, sondernwir müssen und sollten dieses natürlich auch weiterhintun.
Sie haben vorhin von einer Politik der Verantwortunggesprochen. Wir nehmen diese Politik der Verantwor-tung ernst. Das heißt: Wenn wir mit unseren Verbünde-ten zu dem Ergebnis kommen, dass es in unserem ge-meinsamen außen- und sicherheitspolitischen Interesseliegt – nehmen wir noch einmal das Beispiel Mali –, unsfür die Sicherung des Friedens einzusetzen, dann sindwir auch dazu bereit. Dann können wir aber eben nichtnur mit humanitären Einsätzen agieren, sondern müssenauch bereit sein, einen weiteren Beitrag zu leisten. Wennich das richtig sehe, sitzen Soldaten auf der Tribüne. Da-her sage ich auch ganz klar: Wenn wir unsere Soldatennicht in Mali oder an anderer Stelle einsetzen wollen– wir können die Bundeswehr sicherlich nicht im Rah-men aller Militäreinsätzen der NATO oder der UNO ein-setzen; denn wir stehen mit dem Einsatz in Afghanistan seitJahren an der Grenze dessen, was wir leisten können –,dann müssen wir andere Instrumente wählen. Daher ist
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1608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Joachim Pfeiffer
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es selbstverständlich, dass wir unsere Technologien andie Partner liefern, die in der Lage und willens sind, diePolitik der Verantwortung vor Ort umzusetzen.
Insofern sind die linke Moralkeule oder auch dievereinfachte Weltsicht mancher Gutmenschen in dieserDebatte wirklich fehl am Platz.
Deutschland wird weiterhin eine verantwortungsbe-wusste Politik betreiben, die einen richtigen Ausgleichschafft zwischen notwendiger Exportkontrolle und derWahrung der außen-, sicherheits-, wehr- und industrie-politischen Interessen unseres Landes.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Keul das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Pfeiffer, wenn man Ihnen zuhört, sehntman sich richtig nach Martin Lindner von der FDP zu-rück.
Wir reden heute über zwei Anträge, die beide daraufzielen, keine Kriegswaffen nach Saudi-Arabien bzw. aufdie Arabische Halbinsel zu liefern.
Beide Anträge sind berechtigt und wohlbegründet.
Der Antrag der Linken kritisiert völlig zu Recht denExport ganzer Waffenfabriken.
Lizenzen zum Bau von Maschinengewehren wie demG36 an Drittstaaten zu exportieren, ist wirklich die Krö-nung der Kurzsichtigkeit.
Das bekommen Sie nie wieder unter Kontrolle, egal werin dem jeweiligen Land die Macht ergreift.Zur Menschenrechtslage in Saudi-Arabien ist schonviel gesagt worden. Ich will heute ausnahmsweise etwasPositives über Saudi-Arabien vorbringen.
Im Gegensatz zur Bundesregierung haben die Saudisnämlich inzwischen erkannt, dass es vor allem ihr Nach-bar Katar mit der Förderung von islamistischen Kämp-fern in allen Krisenländern der Welt – von Mali bisSyrien – deutlich übertreibt. Während Krauss-MaffeiWegmann demnächst 160 Leo-Kampfpanzer mit Geneh-migung der Bundesregierung nach Katar liefert, habendie Saudis ihren Nachbarn mit dem Entzug der Über-flugrechte gedroht, wenn sie nicht endlich aufhören, deninternationalen Terrorismus zu fördern.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-sen: Saudi-Arabien verhindert Lieferungen von deut-schen Waffen nach Katar.
Vielleicht sind die aber auch nur sauer, weil sie selbstbislang keine bekommen haben.
Nichtsdestotrotz gilt ohne Zweifel: Die Arabische Halb-insel ist eine Spannungsregion, und der internationale Ter-rorismus wird auch aus Saudi-Arabien heraus gefördert.Solange Sie den Wortlaut der Rüstungsexportrichtlinieignorieren, kann ich es Ihnen leider nicht ersparen, aus ihrzu zitieren: „Der Export von Kriegswaffen“ außerhalb vonNATO und EU „wird nicht genehmigt, es sei denn, dassim Einzelfall besondere außen- und sicherheitspolitischeInteressen der Bundesrepublik Deutschland … für eineausnahmsweise Genehmigung sprechen.“ – Zitatende.
Warum es im sicherheitspolitischen Interesse Deutsch-lands liegen soll, eine Spannungsregion aufzurüsten,können und wollen Sie bis heute nicht erklären.
Zu den Kriegswaffen gehören eben auch Kriegs-schiffe, wie die Lürssen Werft sie baut. Es gibt eindeu-tige Kriterien, nach denen man ein militärisches von ei-nem zivilen Schiff unterscheiden kann. Nicht nur dieBewaffnungsmöglichkeiten, sondern die ganzen Bau-teile entsprechen militärischen Standards. Da können Sienoch so oft von Patrouillenbooten sprechen, weil sichdas netter anhört, es sind und bleiben Kriegsschiffe.
In der Rüstungsexportrichtlinie steht eben nicht: Alles,was schwimmt, geht. Nein, da steht: Der Export von
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1609
Katja Keul
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Kriegswaffen an Drittstaaten ist nicht zu genehmigen.Und das steht aus gutem Grund in der Richtlinie.
Die Lürssen Werft baut übrigens auch wunderschöneLuxusjachten. Wenn die Saudis darin investierten,
könnten mindestens genauso viele Arbeitsplätze gesi-chert werden, und weder die Grünen noch Herr Lürssenhätten irgendetwas dagegen.Zur Hermesbürgschaft. Bürgschaften werden in derRegel erteilt, wenn Zahlungsausfälle zu befürchten sind.Jetzt frage ich Sie: Wer in aller Welt rechnet damit, dassSaudi-Arabien kurzfristig seine Rechnungen nicht be-zahlen kann? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, oder?Und wenn Sie politische Risiken, eine Revolution oderÄhnliches, befürchten, dann dürfen Sie den Waffen-export doch erst recht nicht genehmigen.
Wir Grüne finden, Rüstungsexporte sollten grundsätz-lich nicht von der öffentlichen Hand abgesichert werden.Die SPD flüchtet sich jetzt in die Aussage, der Wirt-schaftsminister sei leider an den Vorbescheid der Vor-gängerregierung gebunden und müsse deshalb die Ex-portgenehmigung erteilen. Das finde ich schon deshalbinteressant, weil Sie bislang die Beantwortung unsererFragen zu Vorbescheiden immer damit ablehnen, dassdiese ja noch gar keine abschließende Entscheidungseien und der Entscheidungsprozess nicht gefährdet wer-den dürfe. Offensichtlich ist es ja wohl so, dass der Vor-bescheid doch eine erhebliche Bindungswirkung unddamit auch eine Außenwirkung entfaltet. Merkwürdiger-weise war die SPD ja bis September 2013 auch der Auf-fassung, der Bundestag habe ein Anrecht auf dieseAntworten. Im April werden wir hören, was das Bundes-verfassungsgericht dazu sagt. Darauf bin ich sehr ge-spannt.Dann hat die Koalition freundlicherweise den Rüs-tungsexportbericht 2012 an den Antrag der Linken ange-hängt und zu einem Tagesordnungspunkt verbunden. Sokann man das natürlich schnell mit erledigen. Wir for-dern schon seit langem, dass die Rüstungsexportberichtevon der Koalition als eigener Debattenpunkt aufgesetztwerden, wie wir das zum Beispiel vom Abrüstungsbe-richt kennen.
Viel Transparenz ist im Vergleich zu den früheren Forde-rungen der SPD nicht übrig geblieben.
Man kann die Union schon verstehen. Es ist wirklichnicht schön, zu erklären, warum die Exporte an Dritt-staaten immer mehr zur Regel werden, statt die Aus-nahme zu bleiben. Auch 2012 sind von den Rüstungsex-porten mit einem Wert von 4,7 Milliarden Euro mehr alsdie Hälfte, nämlich Rüstungsexporte im Wert von2,6 Milliarden Euro, an Drittstaaten gegangen und davonwiederum die Hälfte an Saudi-Arabien.
Alarmierend war 2012 außerdem der Anstieg bei denKleinwaffenexporten: Maschinengewehre, Maschinen-pistolen und Munition im Wert von 76 Millionen Euro,das ist ein Allzeitrekord. Davon gingen Kleinwaffen imWert von 37 Millionen Euro an Drittstaaten.Während sich das Auswärtige Amt bemüht, in Post-konfliktregionen Waffen einzusammeln, werden sie ananderer Stelle munter und lustig weiter verteilt. EtwasSinnloseres kann man sich kaum noch vorstellen.
Hören Sie endlich auf, Exporte von Kriegswaffen inKrisenregionen zu genehmigen. So groß ist der Nutzenfür die deutsche Wirtschaft an der Stelle wirklich nicht.Der Schaden auf der anderen Seite ist einfach zu hochund für uns alle zu teuer.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Bernd Westphal
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Be-suchertribünen! Die Themenreihenfolge hier im Bundes-tag ist ja manchmal etwas skurril.
Beim letzten Mal haben wir diese Rüstungsdebatte nachder Debatte über das Schulobstgesetz geführt, diesesMal führen wir sie nach der Debatte zum Thema Honig.
Wie schön wäre es, wenn man auf der Welt Friedenohne Waffen schaffen könnte. Wenn man sich die Zeitnimmt und etwas genauer nachdenkt, zeigt sich, dass dieRealität oftmals anders aussieht. Die Welt, gerade auchin der Golfregion, ist nicht so friedlich, wie wir sie unswünschen. Recht und Gesetz lassen sich in der Realitätnach dem Ausschöpfen aller diplomatischen Möglich-keiten leider oft nur mit Waffengewalt oder zumindestmit der Androhung von Waffengewalt durchsetzen. Hierirrt die Kollegin Höger mit ihrer Einschätzung gewaltig.Es gibt weltweit einen Bedarf an Waffen. Deshalbwerden Waffen produziert und auch exportiert. AuchDeutschland benötigt Waffen zur Landesverteidigung
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Bernd Westphal
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und zur Wahrnehmung seiner internationalen Verantwor-tung. Wenn Deutschland nicht selbst aktiv in Krisen-regionen eingreift, sollen zuverlässige Partner mitRüstungsexporten in die Lage versetzt werden, selbstfür politische Stabilität zu sorgen; denn der Besitz vonRüstungsgütern führt eben auch aus Gründen der Ab-schreckung zur Befriedung in den Regionen.
Export von Sicherheits- und Rüstungsgütern bedeutetnicht gleich Krieg. Dieser Export geschieht in Deutsch-land nach klaren Regeln und hohen Maßstäben.
Die Bundesrepublik Deutschland betreibt seit ihrerGründung eine verantwortungsvolle Rüstungsexport-politik. Der Export von Rüstungsgütern in Drittländerwird in Deutschland allein durch die Vorgaben imGrundgesetz sehr restriktiv gehandhabt. Die Grundlagefür die Entscheidungen der Regierung über den Exportvon Rüstungsgütern bilden die Politischen Grundsätzeder Bundesregierung für den Export von Kriegswaffenund sonstigen Rüstungsgütern. Diese wurden 2000 vonder damaligen rot-grünen Regierung verschärft und be-sitzen weiterhin ihre Gültigkeit. Sie stellen die Leitlinienfür die Genehmigung von Rüstungsexporten durch dieBundesregierung dar.Die Beachtung von Menschenrechten ist dabei vonherausragender Bedeutung.
Genehmigungen für Exporte werden laut Exportleitli-nien nicht erteilt – ich zitiere –,wenn hinreichender Verdacht besteht, dass diesezur internen Repression im Sinne des EU-Verhal-tenskodex für Waffenausfuhren oder zu sonstigenfortdauernden und systematischen Menschenrechts-verletzungen missbraucht werden.
Außerdem wird durch die Leitlinien sichergestellt,dass in eine solche Prüfung der MenschenrechtsfrageFeststellungen der EU, des Europarates, der VereintenNationen, der OSZE und anderer internationaler Gre-mien einbezogen werden. Auch Berichte internationalerMenschenrechtsorganisationen werden ausdrücklich be-rücksichtigt.
Damit ist ausgeschlossen, dass Waffen an Länder gelie-fert werden, in denen zum Beispiel Bürgerkrieg herrscht.Unrechtsregime erhalten deshalb keine Waffen, die ge-gen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden könnten.Gerade für Staaten außerhalb der NATO und der EU sinddie Regeln besonders streng.
Diese deutsche Position hat WirtschaftsministerSigmar Gabriel vor einiger Zeit noch einmal bekräftigtund eine Einzelfallprüfung für jedes Waffengeschäft an-gekündigt. Dadurch ist sichergestellt, dass das deutscheExportkontrollsystem auch weiterhin als eines derstrengsten weltweit gilt.
Herr Westphal, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gehrcke zu?
Bitte.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. Schönen Dank, lie-
ber Kollege. – Könnten Sie mir vielleicht erklären, ob
ich mit Blick auf Saudi-Arabien künftig nicht mehr von
einem Unrechtsregime zu sprechen habe – dort herrscht
die Scharia, dort gibt es körperliche Züchtigung, Entfer-
nung von Gliedmaßen als Strafe, in den gesellschaftli-
chen Versammlungen sind keine Frauen –, sondern von
einem Rechtssystem sprechen muss, da nach Saudi-Ara-
bien deutsche Waffen geliefert werden? Erklären Sie mir
Ihre Definition von „Unrechtssystem“ und „Rechtssys-
tem“!
Ich habe in meinen Ausführungen darauf hingewie-sen, welche Kontrollmaßnahmen angewendet werden.Ich gehe davon aus, dass genau die Aspekte, die Sie ge-nannt haben, dort berücksichtigt werden.
Deutsche Rüstungsexporte in die Golfregion sind im-mer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Dassieht man hier im Parlament. Vor allem Saudi-Arabienhat sich in den letzten Jahren zu einem großen Absatz-markt für deutsche Rüstungsexporte entwickelt.
So waren laut Rüstungsexportbericht 2012 mehr als einViertel aller genehmigten Lieferungen für Saudi-Arabienbestimmt. Die Aufträge hatten einen Wert von insgesamt1,2 Milliarden Euro. Dazu gehört allerdings auch die Si-cherung und Befestigung der 9 000 Kilometer langenGrenzanlagen. Das, denke ich einmal, sind keine Kriegs-waffen, wie Sie sie hier beschreiben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1611
Bernd Westphal
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Laut der deutschen Rüstungsexportleitlinien werdenAusfuhren von Kriegswaffen nur gestattet, wenn im Ein-zelfall besondere außen- oder sicherheitspolitische Inte-ressen Deutschlands dafür sprechen. Zu berücksichtigensind zum Beispiel die legitimen Sicherheitsinteressen ei-nes Empfängerlandes.
Genau dies ist hier der Fall. Wir haben vor einiger Zeiteinen Antrag diskutiert. Da ging es um Boote, die zumSchutz von Hoheitsgewässern, internationalen Seewe-gen, Häfen oder Offshoreanlagen geeignet sind.Diese Beispiele zeigen anschaulich, dass bei der poli-tischen Bewertung im Bundessicherheitsrat sorgfältigabgewogen werden muss, zumindest wann was und zuwelchem Zweck geliefert wird. Nicht jedes Rüstungsgutträgt automatisch zur Eskalation einer Situation bei oderist eine potenzielle Bedrohung für die heimische Bevöl-kerung.Bei den Staaten in der Golfregion handelt es sich umsouveräne Staaten mit eigenen außen- und sicherheits-politischen Interessen. Diese Staaten nehmen legitimestaatliche Aufgaben wahr und haben das legitime Recht,sich zu schützen.
Das legt das Beispiel der Patrouillenboote nahe.Rüstungsexporte sind deshalb ein legitimes Instru-ment der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Deutschland hat als Industrie- und Exportnation hier be-rechtigte Interessen. In der Verteidigungs- und Sicherheits-industrie – darauf hat bereits der Vorredner hingewiesen –gibt es mehr als 80 000 Arbeitsplätze für qualifizierte Ar-beitskräfte. Aber das ist nicht allein die Legitimation fürRüstungsexporte.
Ich bin mir sicher, dass sich durch die deutschen Rüs-tungsexportleitlinien eine verantwortungsvolle Politikweiterhin fortsetzen lässt. Da bin ich mir bei unseremWirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel sogarsehr sicher.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Vielen Dank für den Hinweis. – Wir müssen aller-
dings die Transparenz bei einigen hochsensiblen Ent-
scheidungen zu Rüstungsexporten erhöhen; hierbei
stimme ich der Kollegin Keul zu. Die Koalition ist unter-
wegs, etwas zu vereinbaren, dass wir diesem berechtig-
ten öffentlichen Interesse nachkommen.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss und
danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner spricht jetzt Klaus-Peter Willsch.
Danke schön. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegen!Auf die bemerkenswerten Parallelitäten bei der Aufset-zung der Tagesordnung ist mein Kollege Westphal jaschon eingegangen. Das liegt natürlich daran, dass es indiesem Haus eine breite Übereinstimmung gibt, wenn esdarum geht, dass wir den Export von Waffen und Rüs-tungsgütern restriktiv handhaben, dass wir aber nicht da-ran denken, ihn zu verbieten. Vielmehr wollen wir, dassunsere Firmen die guten Produkte, die sie in diesem Be-reich haben, in der Welt verkaufen können.
Wir debattieren den 14. Rüstungsexportbericht derBundesregierung; er bezieht sich auf das Jahr 2012. Nunwerden Sie sagen, dass er spät veröffentlich wurde, näm-lich gegen Ende des letzten Jahres.
Dass wir erst heute über ihn diskutieren, liegt an derDauer der Regierungsbildung und des Wiederanfahrensdes parlamentarischen Normalbetriebs.
Aber unabhängig hiervon sind wir schon in den Ko-alitionsverhandlungen darin übereingekommen – HerrKollege Westphal hat das angedeutet –, dass diese Be-richte zukünftig zügiger vorgelegt werden sollen, undzwar vor der Sommerpause des auf das Berichtsjahrfolgenden Jahres. Außerdem soll es auch Zwischenbe-richte geben. Ich glaube, damit haben wir viel gutenWillen gezeigt, dass wir es mit der Information des Par-laments ernst meinen. Gleichzeitig werden der Schutzderer, die nach Genehmigungen fragen, und der Kon-kurrenzschutz weiterhin gewährleistet.Dass die Rüstungsexportpolitik der Bundesrepublikzurückhaltend ist, ist mehrfach betont worden; das willauch ich unterstreichen. Die politischen Grundsätze,Frau Keul, auf deren Grundlage wir cum grano salisnach wie vor arbeiten, wurden übrigens in der Zeit IhrerRegierungsbeteiligung, nämlich am 19. Januar 2000, zu-letzt verabschiedet und bestätigt.
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1612 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
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Ich will für die Öffentlichkeit transparent machen,dass es bei Exportgenehmigungen nicht so ist, als würdesich jemand zum Ablesen des Zählerstandes der Heizunganmelden. Es ist ein kompliziertes Verfahren notwendig,bis man in den Genuss einer Exportgenehmigungkommt. Jede Rüstungsexportgenehmigung ist eine Ein-zelfallentscheidung. Nach dem Außenwirtschaftsgesetzund der Außenwirtschaftsverordnung ist die Ausfuhr al-ler Rüstungsgüter genehmigungspflichtig. Einige Rüs-tungsgüter sind zugleich Kriegswaffen im Sinne vonArt. 26 Abs. 2 des Grundgesetzes und des Kriegswaffen-kontrollgesetzes. Welche Rüstungsgüter dies sind, ist ineiner Ausfuhrliste aufgeführt, die der Außenwirtschafts-verordnung beigefügt ist. Dort sind 22 Positionen aufge-führt. Es handelt sich hierbei um Handfeuerwaffen,Bomben, Torpedos, Granaten, Flugkörperabwehrsys-teme, biologische und chemische Waffen, Panzer usw.,usw.
Diese Liste umfasst 28 DIN-A4-Seiten.Hinzu kommt, dass in der Kriegswaffenliste, die demKriegswaffenkontrollgesetz beigefügt ist, 62 Positionenvon Kriegswaffen enthalten sind. Die Gliederung ist et-was anders, aber inhaltlich ist das weitgehend deckungs-gleich.
Sie sehen also, dass das nicht so einfach ist, nach demMotto: Wir können da einen großen Deal machen. Jetztwollen wir mal! – Vielmehr haben wir ein dichtes Regel-werk, das die Entschlossenheit Deutschlands, Genehmi-gungen in diesem Bereich keinesfalls leichtfertig zu er-teilen, unterstreicht. Wir sind uns der Verantwortung, diewir haben, sehr bewusst.Die Prüfung und Genehmigung der Ausfuhr vonKriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern obliegt demBundessicherheitsrat. Den Vorsitz hat die Bundeskanzle-rin. Zusätzlich sind vertreten: Verteidigungsminister,Auswärtiges Amt, Innenminister, die Minister der Berei-che Justiz, Finanzen, Wirtschaft und Technologie, wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie derChef BK.
Auch Informationen geheimdienstlicher Art sind dortzugänglich. Diese Entscheidungen können also jeweilsunter Beteiligung eines großen Straußes des exekutivenWissensstandes getroffen werden. Außerdem kann dasGanze so in die wirtschaftspolitischen, außenpolitischenund sicherheitspolitischen Interessen, die wir als Bun-desrepublik Deutschland haben, eingefügt werden.Es handelt sich bei der Erteilung einer Ausfuhrgeneh-migung nicht nur um einen formellen Akt. Die Opposi-tion versucht zwar immer, es so darzustellen, als sei dasalles ein Kinderspiel. Es besteht aber kein Anspruch aufErteilung einer Ausfuhrgenehmigung. Vielmehr sind dievielen Gesetze und Vereinbarungen, die ich bereits kurzangerissen habe, zu beachten.Wir als Bundesrepublik Deutschland sind darüber hi-naus im Rahmen der OSZE und der EU, etwa beim Verhal-tenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren,weitere weitreichende Selbstbindungen eingegangen,weil wir nicht wollen, dass mit diesem Thema fahrlässigumgegangen wird.
Aber wir wollen eben auch nicht fahrlässig industrielleund sicherheitspolitische Interessen Deutschlands ge-fährden. Deshalb wird es weiterhin eine Ausfuhr vonRüstungsgütern bzw. von Waffen geben.Ich will – ich bitte Sie, einmal einen Moment darübernachzudenken, auch wenn das jetzt nicht direkt mit demBericht zusammenhängt – auf die Boote für Saudi-Ara-bien zurückkommen, über die wir kürzlich gesprochenhaben. Schauen Sie sich die Region doch an! Das Inte-resse, auch dort auf Gewässern Grenzsicherung zu be-treiben, ist völlig legitim.
– Ja, natürlich; Sie brauchen ja wirksame Mittel, wennSie die Grenze sichern wollen.
Wenn Saudi-Arabien die Grenzsicherung selbst über-nimmt, ist mir das, ehrlich gesagt, sehr viel sympathi-scher, als wenn wir unsere Soldaten dorthin schickenmüssten, wie es beim Libanon, wo es keinen wirksamenKüstenschutz gibt, im Rahmen der UNIFIL-Mission derFall ist.
Ich finde schon, dass legitime Staaten
wie jedes andere Völkerrechtssubjekt ihre staatlicheExistenz sichern dürfen. Wenn sie bei uns nachfragen,ob sie bei uns Technologie erwerben können, die siedazu in die Lage versetzt, und ob sie sie dafür einsetzendürfen, dann halte ich das für ein völlig legitimes Inte-resse. Diese Anfrage ist darüber hinaus ein Ausweis derLeistungsfähigkeit der deutschen Industrie in diesem Be-reich. Ich freue mich, dass auch deutsche Produkte ausdiesem Bereich nach wie vor nachgefragt sind – wiePkw oder Produkte aus dem Maschinenbau oder aus an-deren Bereichen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014 1613
Klaus-Peter Willsch
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Das ist ein Ausweis unserer Ingenieurskapazitäten, unse-rer Leistungsfähigkeit im Bereich der Hochtechnologie.
Die Rahmenbedingungen haben sich in den vergange-nen Jahren nicht geändert, in Bezug auf die Rüstungsex-portpolitik ist auf unserer Seite eine große Stabilität fest-zustellen. Frau Keul, Sie wissen genau, dass das indiesem Jahr berichtete Wachstum des Exportvolumensim Bereich Drittländer – das sind Staaten, die weder zurEU noch zur NATO gehören noch wie Neuseeland undAustralien befreundete Staaten sind – im Wesentlichenauf die vom Kollegen Westphal schon angesprochenenGrenzsicherungsanlagen zurückzuführen ist, die alleineinen Wert von – wenn ich mich richtig erinnere – 1,3Milliarden Euro haben. Was ist denn, bitte schön, dage-gen zu sagen, dass auch dort versucht wird, Grenzen si-cherer zu machen und mögliche Wanderbewegungen imterroristischen Bereich überhaupt erfassen, beobachtenzu können und Ähnliches?
Wir halten dieses Vorgehen für richtig.Wir denken, dass die Bundesregierung mit dem ge-setzlichen Rahmenwerk für Rüstungsexporte, das wiralle gemeinsam errichtet haben, verantwortlich umgeht.Wir beglückwünschen die deutsche Industrie, die trotzdieser restriktiven Bedingungen noch Geschäfte machenkann, ausdrücklich dazu. Wir hoffen, dass sich das fort-setzt. Wir sind zuversichtlich, dass die Regierung in die-sem Bereich weiterhin eine rationale, an deutschen Si-cherheitsinteressen orientierte Politik verfolgen wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ute Finckh-
Krämer das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri-bünen! Ich freue mich sehr, meine erste Rede im Deut-schen Bundestag zu dem wichtigen Thema Rüstungsex-portbericht halten zu dürfen.
Rüstungsexporte werden zu Recht öffentlich kontro-vers diskutiert. Der Dank dafür gilt den engagierten Bür-gerinnen und Bürgern, insbesondere denen, die sich inBündnissen wie der Aktion Aufschrei zusammenge-schlossen haben, um ihren Finger immer wieder in dieseWunde zu legen.Die deutschen Rüstungsexportrichtlinien bilden diepolitische Vorgabe für eine restriktive Rüstungsexport-politik. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind durchdas Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkon-trollgesetz gegeben. Darüber hinaus gibt es Regulariender Europäischen Union, die jedoch weniger streng sindals die nationalen Richtlinien.Der Rüstungsexportbericht, der jährlich über zurück-liegende Rüstungsexporte bzw. positiv beschiedene Vor-anfragen berichtet, ist unter anderem von kirchlichenGruppen gefordert und dann von der rot-grünen Koali-tion eingeführt worden. Dass es ihn gibt, ist ein Fort-schritt; allerdings erfüllt er bisher nicht all das, was wiruns im Hinblick auf Transparenz gewünscht und erhoffthaben.Der Bericht wurde dem Deutschen Bundestag bisherviel zu spät vorgelegt, teilweise erst anderthalb Jahrenach dem Berichtsjahr. Es macht jedoch politisch wenigSinn, über Rüstungsexporte zu reden, die weit in derVergangenheit liegen, während aufgrund von Pressever-öffentlichungen in der breiten Öffentlichkeit über aktuellanstehende Entscheidungen oder Lieferungen diskutiertwird. Deswegen wurde im aktuellen Koalitionsvertragbeschlossen, dass der Rüstungsexportbericht noch vorder Sommerpause des Folgejahres erscheinen soll, damitsich der Deutsche Bundestag damit zeitnäher beschäfti-gen kann. Darüber hinaus soll ein zusätzlicher Zwi-schenbericht vorgelegt werden. Das sind aus unsererSicht Schritte in die richtige Richtung.
Die Koalition verhandelt außerdem darüber, wie dieim Koalitionsvertrag vereinbarte größere Transparenzumgesetzt werden soll, und wird dem Bundestag danneinen entsprechenden Vorschlag vorlegen.Deutschland wird in verschiedenen Statistiken undBewertungen, zum Beispiel von SIPRI oder vom Con-gressional Research Service des US-Kongresses, als ei-ner der führenden globalen Rüstungsexporteure geführt.Allerdings ist der Umfang der Rüstungsexporte, bezogenauf den Wert der gesamten deutschen Exporte, gering. Erliegt bei ungefähr 1 Prozent. Das muss man bedenken,wenn von der volkswirtschaftlichen Relevanz der Rüs-tungsexporte gesprochen wird.
Die Bundesregierung hat sich in den letzten Jahren fürden Internationalen Waffenhandelsvertrag – Arms TradeTreaty, ATT – eingesetzt. Der Vertrag wurde am 2. Aprilletzten Jahres, also nach dem Berichtszeitraum des vorlie-genden Berichtes, von der Generalversammlung der Ver-einten Nationen mit der überwältigenden Mehrheit derStimmen der Mitgliedstaaten angenommen. Er bietet erst-malig einen rechtlichen Rahmen für den internationalenHandel mit konventionellen Waffen und wurde noch in
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1614 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2014
Dr. Ute Finckh-Krämer
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der letzten Legislaturperiode vom Bundestag verab-schiedet.Das Auswärtige Amt unterstützt Staaten, die demVertrag beitreten wollen, beim Aufbau der notwendigenBehörden und der Schaffung der gesetzlichen Grundla-gen, damit sie den Vertrag umsetzen können. Darüberwird hoffentlich im nächsten Rüstungsexportbericht derBundesregierung berichtet.Einen besonderen Akzent in der Diskussion über diedeutschen Rüstungsexporte setzt der jährlich erschei-nende Bericht der Gemeinsamen Konferenz Kirche undEntwicklung, GKKE, der eine gute Ergänzung und Be-wertung des Rüstungsexportberichtes darstellt. Er er-schien im Dezember 2013 in seiner 17. Ausgabe. Erwird von einer Expertengruppe erstellt, die sich ausFachleuten aus der Friedensforschung und kirchlichenOrganisationen zusammensetzt. Den Autorinnen undAutoren möchte ich an dieser Stelle herzlich danken.
Der Bericht der GKKE bewertet die deutschen Rüs-tungsexporte nach ethischen Maßstäben und bringt da-mit eine wichtige Dimension in die deutsche Debatteein. Darüber hinaus entwickelt er auch Vorschläge fürden zukünftigen Umgang mit Exporten, die wir in diepolitische Debatte einfließen lassen sollten. Einen derVorschläge aus dem aktuellen Bericht der GKKE möchteich besonders hervorheben: Die Experten schlagen vor,dass eine Bedingung für die Genehmigung von Rüs-tungsexporten die Unterzeichnung des ATT durch das je-weilige Empfängerland sein soll. Damit würde Deutsch-land seine Unterstützung für den ATT fortsetzen.Unser Ziel ist es, die Rüstungsexporte mithilfe derrestriktiven Rüstungsexportrichtlinien zu reduzieren.Wir haben aber gerade erst mit der Arbeit begonnen. Da-her ist es jetzt noch zu früh, die Rüstungsexportpolitikder Großen Koalition zu beurteilen oder schon von vorn-herein zu verurteilen.Vielen Dank.
Herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede, liebe Frau
Kollegin!
Damit schließe ich die Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt interfraktio-
nell Übereinstimmung, dass die Vorlage auf Drucksa-
che 18/768 an die Ausschüsse überwiesen wird. Hinge-
gen gibt es keine Übereinstimmung darüber, welcher
Ausschuss federführend sein soll. Deshalb müssen wir
zunächst darüber abstimmen. Die Fraktionen der CDU/
CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke
wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt diesem Überwei-
sungsvorschlag zu? – Die Linke und die Grünen. Wer
stimmt dagegen? – Die SPD-Fraktion und die CDU/
CSU-Fraktion. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der
Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalition
abgelehnt worden.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener-
gie. Wer stimmt diesem Überweisungsvorschlag zu? –
CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Die Linke
und die Grünen. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist
dieser Überweisungsvorschlag angenommen worden
und der Entwurf somit an den Ausschuss für Wirtschaft
und Energie federführend überwiesen.
Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 18/105 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 3. Wir kommen jetzt zur Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/793, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/576 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die
Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand.
Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses ange-
nommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 14. März 2014, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.