Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Jahreswirtschaftsbericht 1993; Stand der Deregulierung; Jahresbilanz 1992 zum Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost; Zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz; Sicherheitsüberprüfungsgesetz; Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte.
Ich darf, da heute der Herr Bundesminister für Wirtschaft zum erstenmal diese Regierungsbefragung zu bestreiten hat, folgenden Hinweis geben. Zum ersten Thema gibt es immer einen einleitenden Bericht von fünf Minuten. Dazu können dann die Kolleginnen und Kollegen Fragen stellen. Wenn wir aber auch noch zu den anderen Themen kommen wollen, müssen wir das Frage-und-Antwort-Spiel auf drei bis vier Minuten beschränken, damit jedes Thema eine Chance hat. Wir müssen es noch kürzer halten, wenn Sie über diese Themenbereiche hinaus zu anderen aktuellen Problemen die eine oder andere Frage an die Bundesregierung richten möchten.
Für den einleitenden Bericht erteile ich dem Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Dr. Günter Rexrodt, das Wort. Bitte, Herr Bundesminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat heute den Jahreswirtschaftsbericht 1993 verabschiedet. Er enthält folgende wesentliche Aussagen.Wir hatten neun Jahre Wachstum, und nach neun Jahren Wachstum — wobei wir im letzten Jahr noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von rund 2 % hatten — sind wir in eine Phase des zyklischen Abschwungs eingetreten, und wir wissen noch nicht, wann dieser Abschwung zum Ende kommt.Alle wichtigen Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung zeigen nach unten, haben ein negatives Vorzeichen: Auftragseingänge, Produktion, Investitionsbereitschaft, Industriebeschäftigte und Exporte. Daraus resultiert für die Bundesregierung in der Wirtschaftspolitik folgendes.Die erste Aufgabe: Wir müssen unsere Kräfte darauf konzentrieren, die Rezession in Deutschland insgesamt abzuwenden.Zweitens. Wir müssen besonderes Gewicht darauf legen, den Aufholprozeß im Osten zu beschleunigen.Drittens. Wir brauchen eine Politik, die auf die Stärkung der Zukunftschancen des Standortes Deutschland hinausläuft.Zur wirtschaftlichen Ausgangslage möchte ich mich sehr kurz fassen. Insgesamt sind wir in einer anhaltenden Schwäche der Weltkonjunktur, trotz hoffnungsvoller Zeichen in Amerika. Der Außenwert der D-Mark ist hoch. Die GATT-Verhandlungen sind nicht so vorangekommen, wie wir uns das gewünscht haben; im Inneren nach wie vor anhaltender Verteilungsstreit, kräftiger Anstieg der Lohnstückkosten und eine schwierige Lage bei den Staatsfinanzen. Wir müssen versuchen, in der Wirtschaft Vertrauen zu wecken, um privates Investitionskapital zu mobilisieren.Ich sage in diesem Zusammenhang mit aller Deutlichkeit — ich habe es heute auch im Kabinett gesagt —: Wir sind in Deutschland nicht in der Situation, daß wir keine Arbeit hätten. Es ist viel Arbeit da, im Westen und zumal im Osten. Wir sind aber in einer Situation, in der es immer schwieriger wird, die Arbeit produktiv zu organisieren. Das führt zu Problemen hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte. Die Märkte beginnen wegzubrechen. Dies hat dann auch auf die Produktion Auswirkungen.Speziell im Osten haben wir ein paar hoffnungsvolle Zeichen bei den Existenzgründungen im Bau- und im Dienstleistungsbereich festzustellen, aber die Lücke zwischen Verbrauch und Produktion ist nach wie vor groß, ja sogar größer geworden. Sie ist von 172 Milliarden DM auf 195 Milliarden DM gestiegen. Die Industrie im Osten Deutschlands ist in einer schlechten Verfassung. Das sehen wir an der Beschäftigtenzahl und an der Tatsache, daß die Lohnstückkosten um 60 % höher als im Westen sind.Das erste Ziel unserer Wirtschaftspolitik ist — ich habe es genannt — Abwendung der Rezession. In diesem Zusammenhang spielt die Verabschiedung des Solidarpaktes ein wesentliche Rolle. Der Solidar-
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12014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtpakt ist mehr als das Föderale Konsolidierungsprogramm. Der Solidarpakt schließt auch einen Konsens mit der Wirtschaft und bestimmte Verhaltensweisen im Tarifbereich ein. Die Wirtschaft hat durch Ankündigung höherer Investitionen im Versicherungsbereich, durch die Banken und in der Wirtschaft selbst ihr Signal gegeben. Sie weist darauf hin, daß es dringend erforderlich ist, das Standortsicherungsgesetz zu verabschieden. Vom Tarifbereich sind mit dem Abschluß für den öffentlichen Dienst gute und richtige Signale zur richtigen Zeit ausgegangen. Auch die Zinssenkungsbeschlüsse der Bundesbank sind richtige Signale.Wir haben im Osten ganz besonders darauf zu achten, daß wir eine Fortführung der erfolgreichen Politik der Treuhand sicherstellen können. Wir müssen uns mit Nachdruck der Politik der Erhaltung und Erneuerung industrieller Kerne widmen. Wir haben dazu verschiedentlich schon etwas gesagt. Es kommt mir darauf an zu sagen, daß es zwar keine Bestandsgarantie gibt, daß die Unternehmen, die dazu gehören, aber eine Bewährungsphase haben, in der sie bei relativer Ruhe in die Marktwirtschaft hineinwachsen können.Ein weiterer Aspekt — hier verkürzt dargestellt — ist: Der Standort Deutschland ist insgesamt in Gefahr. Die Bundesregierung sagt in diesem Jahreswirtschaftsbericht, daß sie sich einigen Elementen wird zuwenden müssen, die für die Zukunftssicherung Deutschlands von besonderer Bedeutung sind. Ich kann hier nur Stichworte nennen. Ich verweise auf Technikfeindlichkeit, die sich, zumindest partiell, breitgemacht hat. Deregulierung ist wichtig. Wir haben heute auch den Deregulierungsbericht vorgelegt. Das muß mit mehr Privatisierung einhergehen. Wir müssen das Ungleichgewicht zwischen akademischer Ausbildung und Berufsausbildung ins Lot bringen. Am Arbeitsmarkt ist mehr Flexibilität erforderlich. Die steuerliche Entlastung der Wirtschaft spielt eine Rolle. In der Energiepolitik wollen wir einen Konsens. Ökonomie und Ökologie bedürfen der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente.Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie mich als letztes sagen, daß das Bundeskabinett heute auch die Einsetzung einer Arbeitsgruppe mit dem Ziel beschlossen hat, bis zum 1. September 1993 einen Bericht vorzulegen, in dem diese wesentlichen und wichtigen Elemente, die für die Zukunftssicherung Deutschlands notwendig sind, behandelt und analysiert sowie Vorschläge unterbreitet werden sollen. Das wird Schwerpunkt einer längerfristig angelegten Politik sein.Dabei, Herr Präsident, möchte ich es bewenden lassen.
Danke, Herr Bundesminister.
Als erster hat sich der Kollege Dr. Fritz Schumann zu einer Frage gemeldet.
Herr Bundesminister, Sie haben eingangs bemerkt, daß alle Parameter auf einen zyklischen Abschwung hindeuten. Das waren Ihre Worte. In der
Folge haben Sie dann von einer Beschleunigung des Aufholprozesses im Osten gesprochen. Welches sind für Sie die Kriterien eines Aufholprozesses im Osten? An welchen Kriterien messen Sie ihn? Denn aus Ihren Worten ergibt sich, daß er überhaupt schon da ist und nur noch beschleunigt werden muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Kriterien des Aufholprozesses sind die klassischen Kriterien wie Beschäftigtenzahlen, Entwicklung der Produktion und Investitionsbereitschaft.
Wenn ich mir diese Kriterien ansehe, ist ja Gott sei Dank festzustellen — ich relativiere mich gleich wieder —, daß im Osten Deutschlands sowohl bei der Entwicklung des Sozialprodukts als auch bei der Produktion positive Zahlen geschrieben werden, also Wachstum vorhanden ist.
Die Arbeitslosenzahl allerdings ist noch einmal größer geworden, insbesondere im Industriebereich. Ich bin mir nicht sicher, ob wir im Industriebereich bereits auf der Talsohle angekommen sind, aber ich gehe davon aus, daß wir uns der untersten Linie nähern. Einen wirklichen Durchbruch werden wir dann haben — Sie haben das ja auf die Kriterien abgestellt —, wenn wir eben nicht nur beim industriellen Output Wachstumsziffern haben, sondern auch die Beschäftigungssituation stabilisieren und verbessern können.
Die nächste Frage stellt Dr. Dietrich Sperling.
Herr Minister, haben Sie dem Kabinett Empfehlungen gegeben, wie in Zukunft Arbeit statt Arbeitslosigkeit bezahlt werden soll und wie man jene mehrere Millionen Grundstücke, auf die sich Einsprüche beziehen, möglichst in einem sehr viel schnelleren Verfahren an diesen Einsprüchen vorbei an den Markt bringen kann, damit das, was in den neuen Ländern an selbst verursachtem Investitionsstau vorhanden ist, möglichst schnell beseitigt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Empfehlungen hinsichtlich der Bezahlung von Arbeit, nicht von Arbeitslosigkeit, enthält der Bericht nahezu auf jeder Seite. Das Konzept, das wir vorlegen, ist ja nicht darauf ausgerichtet, Mittel freizuschaufeln, um Arbeitslosigkeit zu bezahlen, sondern darauf, durch Umschichtungen und Veränderungen beispielsweise im Haushalt, durch Veränderungen und Verlängerungen in den Förderprogrammen dafür Sorge zu tragen, daß im Osten zusätzlich Arbeitsplätze entstehen. Mit dem Solidarpakt soll ja das wichtige Signal gegeben werden, daß diese Gesellschaft in einer schwierigen Situation zum Konsens in der Lage ist, um beispielsweise der Bundesbank Spielräume zu verschaffen und anderes mehr. Das sind alles Maßnahmen, alles Konzepte, die darauf abgestellt sind, mehr Arbeit zu schaffen.Was die juristischen und administrativen Hemmnisse und Probleme angeht, die Sie — wenn ich das sagen darf — meines Erachtens zu Recht ansprechen, kann ich nur sagen: Die Bundesregierung ist ent-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12015
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtschlossen, im Gesetzgebungsverfahren, aber darüber hinaus auch im Administrativen, wo sie zumindest zum Teil unmittelbar zuständig ist, alles zu tun, um zu einer Beschleunigung zu kommen. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich selbst in den letzten Jahren mit diesen Dingen unmittelbar zu tun gehabt. Ich darf sagen, es ist für die Administration äußerst schwierig, komplizierte Gesetze anzuwenden, und die Administration in den neuen Bundesländern ist nicht in allen Bereichen so ausgebaut und so erfahren, wie wir uns das im Interesse einer schnellen Bearbeitung der Anträge wünschen.
Herr Bundesminister, Sie haben die Floskel „wenn ich das sagen darf" benutzt. Wenn Sie einem Kollegen recht geben, dürfen Sie das immer.
Ich habe jetzt noch fünf Wortmeldungen zu diesem Themenbereich. Ich setze Ihr Einverständnis voraus, daß wir es bei diesen fünf Wortmeldungen zu diesem Themenbereich bewenden lassen, um zu den anderen Themenbereichen und vielleicht zu aktuellen Fragen, die Sie haben, ebenfalls noch kommen zu können.
Ich rufe nun den Kollegen Ernst Schwanhold auf.
Herr Minister, Sie haben von der zyklischen Konjunkturschwäche gesprochen und nichts zu der strukturellen Schwäche gesagt, die Teile der bundesdeutschen Wirtschaft befallen hat. Ich möchte Sie gern fragen, ob Sie im Kabinett für jene Bereiche, die von Strukturschwäche betroffen sind, ansatzweise diskutiert haben, wie diese Strukturschwäche zu beheben sei. Damit würde ich gern die Frage verbinden, welche Anreize Sie tatsächlich für die schon mehrfach angekündigten Investitionen sowohl im Osten wie im Westen schaffen wollen und was Sie zu dem Glauben veranlaßt, daß diese Zusagen endlich eingehalten werden. Wir haben ja in Ostdeutschland die Situation, daß seit mehreren Jahren Investitionen angesagt worden sind, die Zusagen dann aber wegen der fehlenden Märkte und der fehlenden Absatzchancen nicht eingehalten wurden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, zur Frage der Strukturschwäche darf ich eingangs sagen, daß ich der Auffassung bin, daß die Wirtschaft im Westen Deutschlands, gemessen an dem, was wir bei unseren Nachbarn und auch darüber hinaus finden, im Ganzen keine strukturschwache Wirtschaft ist. Noch sind wir ein strukturstarkes Land.
In einigen Bereichen gibt es Gefährdungen und Probleme, zum Teil massive Probleme. Das wissen wir. Im Stahlbereich haben wir ein akutes, schweres Problem, das zyklischer, also konjunktureller, und struktureller Natur ist, in anderen Bereichen auch, auch in Teilen des Maschinenbaus. Insgesamt aber sind wir ein strukturstarkes Land, im Osten jedoch ein strukturschwaches. Das wissen wir alle. Ich will dazu hier keine großen Ausführungen machen.
Sie fragten nach den Investitionsanreizen. Herr Abgeordneter, wenn Sie es wünschen, zähle ich Ihnen gern die Palette der Fördermaßnahmen auf. Das ist aber sicher nicht das, was Sie wünschen. Ich glaube, das föderale Konsolidierungskonzept schaufelt eine ganze Menge Mittel frei, um — das wissen wir alle — in der Infrastruktur, im Verkehr, in der Telekommunikation, in den Universitäten, in der Administration, im kommunalen Bereich — durch Aufstockung der kommunalen Investitionshilfen um 1,5 Milliarden DM — und in anderen Bereichen sehr viel zu tun. Sinn der Übung ist es, Freiräume zu schaffen, damit im Osten, im strukturschwachen Gebiet par excellence, mehr geschehen kann.
Als nächsten habe ich den Kollegen Hinrich Kuessner auf der Liste.
Herr Minister, ist die Strategie der Erhaltung industrieller Kerne in den neuen Bundesländern aus Ihrer Sicht eine Änderung der Treuhandpolitik, und, wenn ja, was ändert sich?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, das ist keine Änderung der Treuhandpolitik.
— Augenblick, darf ich noch einen Satz hinzufügen? Es ist eine Systematisierung
und Akzentuierung dessen, was in der Treuhand seit langem getan wird. Ich verspreche mir im übrigen von dieser Systematisierung und Akzentuierung ohne jede Frage eine bessere und größere Wirkung. Wenn das hilft, bin ich auch gern bereit, unter diesen Kriterien dann zu sagen: Es ist in weiten Bereichen neu.
Die Politik der industriellen Kerne zielt darauf ab — und das hat die Treuhand eigentlich seit der Währungsunion versucht —, bestimmten Unternehmen, die sanierungsfähig und sanierungswürdig sind, aber für die marktwirtschaftliche Bedingungen noch nicht gegeben sind, die Chance zu geben, in die Marktwirtschaft hineinzuwachsen. Das ist in der Treuhandanstalt von Anfang an unter der Überschrift Sanierung, einem zugegebenerweise sehr vagen Begriff, gemacht worden.
Die nächste Frage stellt Herr Abgeordneter Professor Dr. Uwe-Jens Heuer.
Herr Bundesminister, Sie haben Ihre Arbeit gerade erst aufgenommen, und jedem Anfang wohnt — wie Rilke sagt — ein Zauber inne.Meine Frage ist folgende: Sie haben gesagt, daß es hier zehn Jahre lang einen Aufschwung gab, daß die Zahlen zehn Jahre lang positiv waren und daß jetzt die Bundesrepublik in eine Phase des zyklischen Abschwungs oder — wenn man will — der Rezession eingetreten ist. Ich frage Sie, ob unter diesen Bedingungen nicht eine Änderung der Politik nötig ist, ob man wirklich die bisherige Politik einfach fortsetzen kann, wenn sich die Bedingungen so gravierend geändert haben, ob der neoliberale Kurs nicht
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12016 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Dr. Uwe-Jens Heuerirgendwo durch ein bißchen Keynes ergänzt werden müßte oder ob man einfach sagen kann, eine bisher erfolgreiche Politik könne fortgesetzt werden. Die Bedingungen haben sich geändert. Kann man da weiter nur mit Deregulierung, mit Sparsamkeit arbeiten, oder vertieft man die Krise nicht gerade dadurch?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, wir haben im Jahreswirtschaftsbericht eine Politik akzentuiert, die den gegenwärtigen Bedingungen der Verfassung der Wirtschaft gerecht wird. Ich will das jetzt nicht weiter aufzählen. Das sind doch ganz wichtige Maßnahmen. Ich denke an die Insbootnahme der Wirtschaft, an die erstrebten richtigen Signale von den Gewerkschaften im Tarifbereich und an die Konsolidierung der Haushalte, um so Mittel für eine antizyklische Politik freizuschaufeln.
Das es zu großen Diskussionen führt, wenn man einspart und umschichtet, wissen wir alle. Das ist eine auch in sich wirtschaftstheoretisch — wenn Sie darauf abheben — richtige Politik. Wir erhöhen die Nettoneuverschuldung, wie Sie wissen, auf 53 Milliarden DM. Wir steigern den Haushalt um 3 %. Wir können das nicht so machen, wie wir das bei einer keynesianischen Betrachtung gerne möchten, weil in dem Augenblick, in dem man weiter ausweiten würde, die Verschuldung die Zinsbelastung des Haushalts, die ohnehin von 12 % auf 19 % steigt, noch weiter erhöhte.
Wir sind in einem Dilemma. Keynes ist gut, und Keynes ist richtig. Wir alle wissen aber auch von der Hochschule, daß Keynes irgendwo seine Grenzen hat. Deshalb machen wir Keynes, soweit Keynes möglich ist.
Herr Kollege Peter Reuschenbach.
Herr Minister, Ihre Bemerkung auf die Frage meines Kollegen Küster, ob sich denn eine Änderung der Politik der Treuhand im Zusammenhang mit dem Stichwort „Erhaltung industrieller Kernanlagen" ergebe, ist schon außerordentlich bemerkenswert, nämlich Ihre Äußerung, daß sich da im Prinzip nichts ändere, daß sich allenfalls die Akzentuierung so oder so verstärke, und das vor dem Hintergrund, daß seit dem August des vorigen Jahres, damals nicht zuletzt durch den Bundeskanzler, die Erhaltung industrieller Kerne angesichts des Wegbrechens des Industriebesatzes in Ostdeutschland sozusagen als ein Hauptziel, als ein Hauptinstrument für die Stabilisierung dargestellt worden ist. Wenn das nichts anderes ist als bisher, dann frage ich mich, warum das seit einem halben Jahr zu einer solchen Bedeutung hochstilisiert worden ist.
Ergänzend folgendes: Seit einem halben Jahr ist die Erhaltung industrieller Kerne in Ostdeutschland über die Überschrift nicht hinausgekommen, nicht konkretisiert worden, und auch das, was Sie eben gesagt haben, ist keine Konkretisierung ist eher ein Abwiegeln.
Herr Kollege, könnten Sie nicht nur sich, sondern vielleicht auch dem Minister eine Frage stellen?!
Jawohl. — Mich interessiert nach dieser Vorrede, ob denn nun endlich im Jahreswirtschaftsbericht diese Überschrift „Erhaltung industrieller Kerne", auch über das hinaus, was Sie eben als lediglich Fortsetzung der bisherigen Politik der Treuhandanstalt bezeichnet haben, konkretisiert ist, nach welchen Kriterien, nach welchen Prinzipien, regionalen, betriebswirtschaftlichen, Strukturkriterien denn nun die industriellen Kerne ausgewählt werden, die es zu erhalten gilt, mit welchen Methoden, mit welchen Zielsetzungen, mit welchen Fristen und mit welchen Aufwendungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, mir zu gestatten, daß ich mich gegen eine überprononcierte Interpretation meiner Aussage gegenüber dem Abgeordneten Küster wehre. Ich habe deutlich gesagt: Das ist eine neue Akzentuierung, die einen neuen Wert und neue Effizienz erreichen kann.Ich habe — das darf ich hier jetzt einmal sagen — an der Frage der Auswahl, der Behandlung, der Pflege und Erneuerung der industriellen Kerne unmittelbar und intensiv von Anfang an mitgearbeitet. In den neuen Bundesländern hat es einen ganz beachtlichen Privatisierungsprozeß gegeben.
Es hat eine Schrumpfung des Industriepotentials in den beiden Bereichen, im privatisierten Bereich und insbesondere im Treuhand-Bereich, gegeben.Nun kommen wir in die Situation, daß strukturell bedeutsame, meist größere Unternehmen, wenn man die Kriterien der Marktwirtschaft anlegt, wegbrechen und damit die Substanz, der Kern, angegangen werden soll. Das ist eine Entwicklung, die sich vollzogen hat. In diesem Augenblick, mit Vorläufen selbstverständlich, gilt es, da entgegenzuwirken, wo das verantwortbar ist.Diese Betriebe sind im großen und ganzen ausgewählt. Die Betriebe sind bekannt. Da mag es an den Rändern — sagen wir einmal so — dieser Gruppierungen noch Diskussionsbedarf geben. Aber was gemacht werden soll, ist offensichtlich. Da sollen Aufsichtsräte gegebenenfalls erneuert werden, Vorstände erneuert werden. Da soll Know-how rein. Da will man Geld in die Hand nehmen — das ist das Entscheidende —, um den Unternehmen Produktentwicklung zu ermöglichen, Märkte zu erschließen. Man will ihnen in dieser Zeit der Bewährung relative Ruhe geben, ohne Bestandsgarantie und ohne das Verbot der Privatisierung. — Die Kriterien sind haarscharf, ganz sauber herausgearbeitet, und daran muß gearbeitet werden.Wenn ich Ihre Frage aufgreifen darf, ob und, wenn ja, wieweit wir das im Jahreswirtschaftsbericht behandeln, muß ich sagen: Das ist völlig unerheblich.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12017
Bundesminister Dr. Günter RexrodtDas sage ich jetzt einmal kritisch mit Blick hier auf uns. Entscheidend ist, daß das in der Treuhand gemacht wird, und daran ist man.
Herr Kollege Dr. Uwe Küster.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister sagte gerade, daß der Solidarpakt mehr ist als das Föderale Konsolidierungskonzept.
Die zweite Aussage, die mich interessiert, ist: Es ist viel Arbeit in Deutschland vorhanden, besonders im Osten. — Ich frage nun den Vertreter des Finanzministeriums und den Vetreter des Bundesministeriums für Arbeit, ob denn dies nur dahin zu verstehen ist, Arbeit zu organisieren, wie Sie sich vorstellen, die liegengebliebene Arbeit im Osten dann auch umsetzbar zu gestalten, und ob vielleicht die DeutschlandAnleihe, die jetzt gerade wieder als Finanzierungsmöglichkeit aufgetaucht ist, da mit einbezogen wird.
Ich darf Sie bitten, den letzten Teil Ihrer Frage zu wiederholen.
Die Christlich Demokratische Arbeitnehmerschaft schlägt eine Deutschland-Anleihe vor. Das ist etwas Ähnliches wie das, was vor gut einem halben Jahr schon durch die Presse und durch dieses Haus ging.
Das Bundesfinanzministerium erwägt nicht die Auflage einer DeutschlandAnleihe.
— Nein.
Können Sie — —
Das war eine sehr klare Antwort, Herr Kollege. Wir stellen in dieser Regierungsbefragung immer nur eine Frage.
Herr Kollege Kraus, wenn Sie den Teil, der das Arbeitsministerium betraf, freundlicherweise übernehmen würden.
Nur zwei kurze Aussagen dazu. — Sie wissen ja, daß sich der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für eine Arbeitsmarktabgabe einsetzt. Ob diese zu verwirklichen ist, muß sich erst noch — das ist das Normale bei Verträgen und Verhandlungen — herausstellen.
Zum zweiten. Es soll alles versucht werden, lineare Kürzungen innerhalb des Bereichs „Arbeit und Soziales" zu verhindern, und zwar dadurch, daß es uns gelingt, Mißbrauchstatbestände in entsprechender Weise aufzuarbeiten. Denn eben müssen lineare Kürzungen mit all den Härten, die daraus folgen, nicht vorgenommen werden.
Damit schließe ich diesen Fragebereich ab. — Herr Bundesminister, ich bedanke mich für die Beantwortung. Dank auch an die beiden Herrn Staatssekretäre.
Ich rufe noch einmal ganz schnell in Erinnerung, was von der Regierung heute behandelt worden ist: Stand der Deregulierung, Jahresbilanz 1992 zum Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, zweitens SEDUnrechts-Bereinigungsgesetz, Sicherheitsüberprüfungsgesetz, Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte.
Stand der Deregulierung. Fragen? — Das ist nicht der Fall.
Jahresbilanz 1992 zum Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. — Drei Fragen.
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß wir jetzt nur noch wenige Minuten haben, aber noch mehrere Themenbereiche zu behandeln sind.
Jetzt zunächst der Kollege Manfred Hampel, bitte.
Ich frage die Bundesregierung: Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung auf der Grundlage der 92er Jahresbilanz des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost gewonnen, und wie gehen diese Erkenntnisse in einen möglichen Solidarpakt ein?
Das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost war für beide Jahre ein herausragender Erfolg, insbesondere auch in 1992. Insgesamt sind von 11,6 Milliarden DM Baransätzen 11,4 Milliarden DM abgeflossen.
Wir sehen auch die Folgen — der Wirtschaftsminister hat eben darauf hingewiesen —, nämlich daß wir im Jahreswirtschaftsbericht davon ausgehen dürfen, daß wir im Osten — anders als im Westen — ein Wachstum zwischen 5 % und 7 % erwarten dürfen.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, wie die Maßnahmen im Föderalen Konsolidierungskonzept und im Solidarpakt umgesetzt werden: Mit dem auf zwei Jahre befristet angelegten Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost war nie das Ende der Finanzierung beabsichtigt, sondern nach diesem Fristablauf sollten die Mittel in den Bundeshaushalt integriert werden, und das ist auch geschehen.
Nach dem Ist-Haushalt 1993, also ohne Nachtrag, sind für den einigungsbedingten Leistungstransfer im Bundeshaushalt insgesamt 96 Milliarden DM vorgesehen.
Die nächste Frage hat Herr Kollege Rolf Schwanitz.
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12018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Herr Staatssekretär, ich habe die Frage: Welchen Anteil hatte denn das Programm, gemessen an dem — —
Herr Kollege, die Fragen werden an die Bundesregierung gerichtet. Wer antwortet, muß dann die Regierung entscheiden.
Selbstverständlich. Die Frage, an die Bundesregierung gerichtet, lautet: Welchen Anteil hatte denn das Programm, gemessen am ostdeutschen Infrastrukturdefizit? Wie schätzt die Bundesregierung das, gemessen an dieser Bedarfsgröße, ein?
Ferner: Habe ich Ihre Ausführungen eben richtig verstanden, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt, im Rahmen des Solidarpakts ein Anschlußprogramm aufzulegen?
Das Programm in den Jahren 1991 und 1992 war nur ein Teil der Gesamtfinanzierungsmaßnahme des Bundeshaushalts. Auch im Haushalt 1992 waren es insgesamt schon 86 Milliarden DM, und der Anteil liegt naturgemäß ganz überwiegend in den infrastrukturellen Maßnahmen, weil bei der öffentlichen Infrastruktur die größten Defizite waren.
Das Programm war von vornherein zeitbefristet, wie eben gesagt. Es findet, so gesehen, als gesondertes Programm keine Fortsetzung im Föderalen Konsolidierungskonzept; aber das Föderale Konsolidierungskonzept enthält über die eben erwähnten 96 Milliarden DM, die im Bundesetat enthalten sind, hinaus Maßnahmen wie beispielsweise 1,5 Milliarden DM für die kommunale Investitionspauschale, weiterhin Verpflichtungsermächtigungen in einer Gesamtgröße von 4 Milliarden DM, überwiegend für das Gemeinschaftswerk „Regionale Wirtschaftsförderung" und zum anderen für eine nachhaltige Aufstockung des so erfolgreichen Eigenkapitalhilfeprogramms.
Der nächste Fragesteller ist der Kollege Kuessner.
Eine Frage an die Bundesregierung: Welche Mittel waren besonders effektiv, und welche waren nach Meinung der Bundesregierung nicht ganz so effektiv? Es wird ja in dem erfolgreichen Programm gewisse Unterschiede gegeben haben, die wir im Haushaltsausschuß schon manchmal diskutiert haben. Was muß nach Meinung der Regierung unbedingt weiter finanziert werden?
Bei der eben von mir dargelegten Abflußquote kann man, ohne unbescheiden zu sein, sagen, daß alle Maßnahmen effizient waren; denn sonst wäre es — auch mit Sicht auf die noch nicht so herausragende Verwaltungsleistung — gar nicht möglich gewesen, einen fast hundertprozentigen Mittelabfluß zu gewährleisten. Es ist nur ein ganz geringer Teil — in der Größenordnung von rund 800 Millionen DM, so glaube ich — umgeschichtet worden, aber auch nur partiell wie etwa 400 Millionen DM im Bereich des Haushaltsplans des Bundesministers für Arbeit.
Was nicht so gelaufen ist, wie wir es uns vorgestellt hatten — ein Posten geringerer Größenordnung von, so glaube ich, rund 70 Millionen DM —, war die Förderung der Wohnungsbaufinanzierung. Aber diese Mittel werden im Jahr 1993 erneut zur Verfügung gestellt.
Damit schließe ich diesen Themenbereich ab und rufe die Fragen zum Zweiten SED-Unrechts-Bereinigungsgesetz auf. Bitte, Herr Dr. de With!
Wir alle freuen uns über dieses längst fällige Gesetz. Dennoch darf ich zu zwei Lücken Fragen stellen: Wie sieht die Kostenregelung aus? Zweitens: Wann gibt es eine entsprechende Regelung für die über 100 000 von der Roten Armee 1945 Zwangsverschleppten, die als Zivilinternierte Zwangsarbeit leisten mußten, darunter unendlich viele Frauen?
Zu Ihrer ersten Frage, Herr Kollege Dr. de With: Die Aufteilung zwischen Bund und Ländern liegt bei 15 und 85 %. Das betrifft auch die neuen Länder.
Herr Kollege Rolf Schwanitz.
Der zweite Teil der Frage, der die Zwangsverschleppten betraf, war noch nicht beantwortet.
Herr Kollege de With, ich kann Ihnen sagen, daß darüber im Kabinett überhaupt noch nicht gesprochen worden ist. Deshalb liegen keine speziellen Informationen darüber vor.
Ich lasse jetzt immer nur zwei Fragen zu einem Themenbereich zu. Sonst können wir nicht einmal die Hälfte abwickeln. — Bitte !
Ich möchte die Bundesregierung in Anlehnung an die Frage meines Kollegen de With noch einmal fragen, welche Opfergruppen nach ihrem Dafürhalten bei dieser Gesetzesvorlage dennoch unberücksichtigt bleiben und ob die Bundesregierung ggf. gewillt ist, in dieser Legislaturperiode noch ein drittes Unrechts-Bereinigungsgesetz aufzulegen?
Herr Kollege, die Bundesregierung wird kein drittes SED-Unrechts-Bereinigungsgesetz auflegen. Wir glauben, daß wir mit den hier getroffenen Regelungen eine zweifellos nicht alle befriedigende, aber entsprechend der Haushaltslage dennoch befriedigende Lösung gefunden haben.
— Auch die muß sicherlich bei der Abwägung derLeistungen eine Rolle spielen. Es würde Ihnen sicher-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12019
Parl. Staatssekretär Rainer Funkelich nicht anders gehen, wenn Sie an der Regierung wären.
Dann rufe ich auf: Sicherheitsüberprüfungsgesetz. — Keine Fragen dazu.
Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte! — Keine Fragen dazu.
Dann, Herr Kollege Hacker, kann ich Ihre Frage jetzt noch aufrufen.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Ich frage die Bundesregierung: Wann wird die angekündigte Entschädigungsrichtlinie für das Erste SED-Unrechts-Bereinigungsgesetz vorgelegt werden, das ja mit diesem Gesetz in Verbindung steht, und welche Mittel sind im Haushalt 1993 dafür eingestellt? Beabsichtigt die Bundesregierung auch, das Problem der Mauergrundstücke im Zweiten SEDUnrechts-Bereinigungsgesetz zu regeln?
Der Tatbestand der Mauergrundstücke wird nicht in diesem Zweiten SEDUnrechts-Bereinigungsgesetz mitgeregelt werden. Die Frage des Entschädigungsgesetzes ist gerade Gegenstand einer Verhandlung im Bundeskanzleramt. Diese Verhandlung wird wahrscheinlich in der nächsten Woche fortgesetzt werden, so daß das Entschädigungsgesetz in seinen Grundzügen noch im März vorliegen wird.
Es sind immer Fächerfragen, die von Ihnen abgegeben werden. Dann werden die Antworten entsprechend lang, und dann kommen die anderen Kollegen nicht mehr zum Zug.
Können Sie auf seiten der Bundesregierung noch etwas zu den Haushaltsmitteln sagen?
Ich kann nicht sagen, in welcher Höhe im Etat 1993 Haushaltsmittel für die Entschädigungsregelung vorgesehen sind. Ich liefere Ihnen die Antwort nach.
Wir sind jetzt zwar schon über die Zeit hinaus, aber, Herr Kollege Penner, ich vermute, Sie haben jetzt noch eine Frage zum allgemeinen. Deshalb bitte ich Sie, sie zu stellen.
Die Opfer des Mordanschlags von Hünxe konnten nach dem Opferentschädigungsgesetz nicht entschädigt werden. Plant die Bundesregierung nach der Entscheidung in Sachen dieses Falles eine Novellierung dieses Gesetzes?
Bitte.
Herr Kollege, ja.
Wir haben uns trotz allem in der Zeit gehalten. Alle Fragen konnten gestellt und beantwortet werden. Ich bedanke mich bei Herrn Bundesminister Rexrodt und den Damen und Herren Staatssekretären, die zur Beantwortung zur Verfügung standen.
Unsere für die Befragung vorgesehene Zeit ist abgelaufen. Ich beende die Regierungsbefragung, und ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/4295 —
Die Frage 36 ist von der Kollegin Dr. Margrit Wetzel gestellt:
Sind die Gefährdungen durch Piratenüberfälle, welchen Seeleute in bestimmten Gebieten ausgesetzt sind, der Gefahr bewaffneter Auseinandersetzungen i. S. d. § 67 Satz 1 Nr. 6 Seemannsgesetz vergleichbar?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Frau Dr. Wetzel, nach § 67 Satz 1 Nr. 6 des Seemannsgesetzes kann das Besatzungsmitglied das Heuerverhältnis außerordentlich kündigen, wenn das Schiff ein Gebiet befahren soll, in dem es besonderen Gefahren durch bewaffnete Auseinandersetzungen ausgesetzt ist, oder wenn das Schiff dieses Gebiet nicht unverzüglich verläßt. Der Begriff „bewaffnete Auseinandersetzung" umfaßt nicht nur Kriege im völkerrechtlichen Sinne. Auch ständige Piratenüberfälle in einem bestimmten Gebiet, vor allem wenn sie Gegenreaktionen durch Sicherheitskräfte in einer Weise auslösen, daß es zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen kommt, können unter diesen Begriff fallen. Nach § 69 des Seemannsgesetzes kann das Seemannsamt, das zuerst angerufen wird, eine vorläufige Entscheidung über die Berechtigung der außerordentlichen Kündigung treffen.
Sie gestatten mir, zu Ihrer zweiten Frage folgendes zu bemerken:
Das Seemannsgesetz selbst sieht keine Ablösung des Besatzungsmitglieds mit dem Anspruch auf Weiterbeschäftigung auf einem anderen Schiff des Reeders bei Gefährdung durch bewaffnete Auseinandersetzungen vor. Ein entsprechender Anspruch ist für tarifgebundene Heuerverhältnisse zwar in § 72 Abs. 2 des Manteltarifvertrages für die deutsche Seeschiffahrt enthalten, er ist aber beschränkt auf Gebiete, für die die Tarifvertragsparteien sogenannte Gefahrenvereinbarungen abgeschlossen haben. Solche Gefahrenvereinbarungen bestehen zur Zeit nur für die Gebiete Nahost und den Arabisch-Persischen Golf. Bei bewaffneten Auseinandersetzungen in anderen Gebieten scheidet daher auch die tarifvertragliche geregelte Ablösung aus.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kollege Kraus, haben Sie die zweite Frage gleich mitbeantwortet. — Dann bitte ich
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12020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Vizepräsident Hans Kleindie Kollegin Dr. Wetzel um nachträgliche Zustimmung. Denn normalerweise muß man die immer einholen. Aber der Zusammenhang zwingt es ein bißchen auf, daß beide gemeinsam beantwortet werden.Frage 37 der Kollegin Dr. Margrit Wetzel ist also mit aufgerufen:Könnte ein Seemann, wenn er erst am Einsatzort seines Schiffes erfährt, daß kurz zuvor auf dem vor dem Schiff liegenden Seeweg Seeleute von Piraten erschossen wurden, berechtigterweise seine Ablösung nach § 67 Satz 1 Nr. 6 Seemannsgesetz verlangen?Frau Kollegin Wetzel, Ihnen stehen jetzt jedenfalls vier Zusatzfragen zur Verfügung. Bitte sehr, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Präsident. Trotzdem gebe ich meine nachträgliche Zustimmung sehr ungern, weil die Fragen einen so direkten Zusammenhang dann doch nicht haben.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich um die Beantwortung meiner ersten Frage sehr elegant gedrückt. Das, was Sie aus dem Kommentar des Seemannsgesetzes vorgelesen haben, ist mir sehr wohl bewußt. Gerade deshalb habe ich die Frage an die Regierung gerichtet, ob denn in diesem Fall bewaffnete Piratenüberfälle anderen bewaffneten Angriffen im Sinne des § 67 Satz 1 Nr. 6 gleichzusetzen sind. Darüber müßte es doch eigentlich eine Bewertung der Regierung geben. Wenn einer erschossen wird, was ist da der Unterschied?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Ich denke schon, daß meine Antwort genau diese Frage getroffen hat, nämlich indem wir sagen, daß ständige Piratenüberfälle in bestimmten Gebieten, die insbesondere sehr häufig Einsätze bzw. Reaktionen von Sicherheitskräften hervorrufen, Kriegshandlungen gleichgestellt sind — im Sinne einer Bejahung Ihrer Frage.
Dann herzlichen Dank für die Konkretisierung. Die zweite Frage im Anschluß an meine zweite Frage, also außerordentliche Kündigung nach § 67 Satz 1 Nr. 6. In dem Kommentar, aus dem Sie eben zitiert haben, ist im Zusammenhang mit der Kündigung nach § 67 Satz 1 Nr. 6 und § 68 der Hinweis darauf, daß ein Reeder als derjenige, der die Kündigung annimmt, nach Lage der Dinge darüber informiert sein muß, daß eine außerordentliche Kündigung mit dem materiellen Hintergrund des § 67 Satz 1 Nr. 6 Seemannsgesetz vorliegt, auch eine Kündigung nach § 68 im Sinne von § 67 Satz 1 Nr. 6 bewerten muß. Gilt das auch in diesem Fall, wenn es sich um bewaffnete Piratenüberfälle handelte, d. h. wenn Leute durch Piraten erschossen wurden? Muß dann die Kündigung nach § 68 auch im Sinne von § 67 Satz 1 Nr. 6 interpretiert werden?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Es tut mir leid, Frau Dr. Wetzel, aber ich habe die Paragraphen, die Sie hier zitieren — Sie beschäftigen sich offensichtlich sehr stark mit dieser Materie — nicht im einzelnen im Kopf. Ich müßte das erst nachlesen, weil diese schlichte Aufzählung der Paragraphen natürlich zu
wenig sagt, um hier mit Ja oder Nein konkret antworten zu können.
Frau Dr. Wetzel, ich bitte doch auch den Charme der Tatsache zu würdigen, daß der Herr Parlamentarische Staatssekretär als gestandener Bayer Ihrer küstennahen Sachkenntnis nur nach Rücksprache mit dem Hause entsprechen kann. Das ist doch ein natürlicher Vorgang.
Gut, ich bin also gerne bereit, mich diesem Charme anzuschließen, Herr Staatssekretär. Ich wäre Ihnen aber dankbar, weil ich drei oder vier Zusatzfragen habe, wenn Sie mir zusagen können, daß ich die Antworten nachgeliefert bekommen kann. Die Kommentarseite schließt sich im übrigen gleich an das an, was Sie eben zitiert haben. Aber, wie gesagt, meine Bitte ist, auch darüber hinaus die Interpretation der Regierung zu diesem Kommentar zu bekommen. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Aber selbstverständlich, Frau Dr. Wetzel, Sie werden das bekommen.
Vielen Dank.
Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich doch, glaube ich, die Frage zu stellen, ob sich die Bundesregierung in der Lage sehen wird, eine eigene Stellungnahme zu formulieren, oder ob sie sich nur dem Kommentar anschließen kann.
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nicht, Herr Sperling, wie Sie auf die Idee kommen, das sei schlicht und einfach ein Kommentar. Ich sagte vorhin zu Frau Dr. Wetzel, daß die Zusammenfassung des Sachverhalts, den ich hier vorgetragen habe, eben eine konkrete Antwort auf ihre Fragen bedeutet.
Der Kollege Sperling bezieht sich auf eine Äußerung von Frau Dr. Wetzel und nicht auf eine Äußerung von Ihnen, wenn ich das richtig interpretiere.
Ich will wissen, ob es Ihnen gelingen kann — —
Es gibt nur eine Zusatzfrage, Herr Kollege Sperling.
Herr Präsident, ich darf Sie nicht kritisieren, also mache ich Sie ganz freundlich darauf aufmerksam, daß der Kollege auf der Regierungsbank zwei Fragen zusammen beantwortet hat und Sie deswegen nach der Geschäftsordnung die Gnade haben dürften, mir zwei Fragen zu gestatten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12021
Unglaublich!
Bitte sehr.
Vielen Dank. — Meine Frage ist, ob Ihre Fähigkeit in der Regierung dazu ausreicht zu sagen: Das, was im Kommentar steht, gilt nicht, wir bewerten das anders, oder ob Sie sich schlicht dem Kommentar anschließen werden, auf den sich Frau Wetzel bezogen hat und auf den sich Ihre Antworten ja auch beziehen.
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Wir sind selbstverständlich bereit, auch eine eigene Interpretation zu bringen; wenn sich das mit dem Kommentar deckt, so ist dagegen sicher nichts einzuwenden.
Herr Kollege Sperling, Sie haben jetzt so getan, als wollten Sie zu zwei verschiedenen Fragen eine Zusatzfrage stellen. Sie haben aber nicht nur zur gleichen Frage Zusatzfragen gestellt, sondern Sie haben auch die gleiche Zusatzfrage gestellt. Das war nicht ganz korrekt.
Bitte sehr, Herr Klejdzinski.
Herr Präsident, dieser Dialog hat mich veranlaßt, darüber mal laut nachzudenken, ob die Regierung eine eigene Meinung hat oder ob sie das wiedergibt, was in dem Kommentar steht. Jetzt darf ich mal fragen: Was meint denn die Regierung?
Entschuldigung, ich muß, ohne Partei zu ergreifen, jetzt ein bißchen geschäftsleitend tätig werden. Dies ist eine Rabulistikfrage, deren Sachzusammenhang nur mühsam herzustellen ist. Aber dennoch wird der Parlamentarische Staatssekretär es sich jetzt nicht nehmen lassen, darauf zu antworten.
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Ich möchte auf die erste Frage einmal eingehen, ob wir glauben — ich darf es mit meinen Worten wiederholen, ohne den Text des Kommentars zu verwenden — oder der Meinung sind, daß Gebiete mit Piratengefährdung Kriegsgebieten gleichzustellen sind. Darauf sagen wir ganz klar: Ja, wenn das ein relativ häufiges Vorkommnis ist und damit die Gefährdung konkret besteht. Ich weiß nicht, was daran unklar sein könnte.
Herr Kollege Koppelin.
Herr Staatssekretär, gibt es Überlegungen in der Bundesregierung, die Genehmigung für die Ausfuhr von Schiffen großzügiger zu handhaben, wenn Länder, die mit Piratenüberfällen zu tun haben, diese Schiffe bestellen, weil sie sie gegen Piratenüberfälle einsetzen wollen? Ich nenne ein Beispiel, das war in Ihrer Aufzählung nicht dabei: der ganze Bereich Südostasien. Da hat es solche Wünsche gegeben, und die Bundesregierung hat nach meiner Kenntnis z. B. bei Thailand die Ausfuhr eines Schiffes nicht genehmigt.
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Ich kenne zwar den Fall nicht, von dem Sie sprechen, aber ich bin ganz sicher, daß bei der Genehmigung für die Ausfuhr von Schiffen ganz andere Überlegungen im Vordergrund gestanden haben, nämlich die Frage Spannungsgebiet ja oder nein und andere außenpolitische Zusammenhänge.
Dann darf ich Sie, Herr Staatssekretär, fragen, was denn die Lander z. B. in Südostasien, die mit Piratenüberfällen zu tun haben, tun sollen und wie sie die Piratenüberfälle bekämpfen sollen.
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Der Sachverhalt, den Sie hier anschneiden, nämlich die der Wehrhaftigkeit dieser Staaten, kann jetzt nicht auf die spezielle Frage der Piratenüberfälle zugespitzt werden, sondern geht sehr viel weiter. Unser Kriegswaffenkontrollgesetz berücksichtigt derartige Überlegungen.
Herr Kollege Kraus, Sie haben sehr großzügig geantwortet. Herr Kollege Koppelin, diese Frage stand nicht mehr im Sachzusammenhang mit der Ausgangsfrage, sie wäre eine Frage an das Auswärtige Amt gewesen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren auf. Zur Beantwortung steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk zur Verfügung. Der Fragesteller der beiden Fragen 1 und 2 ist nicht im Raum. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. — Herzlichen Dank, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation auf. Zur Beantwortung ist Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Paul Laufs erschienen.
Ich rufe Frage 3 des Kollegen Horst Kubatschka auf:
Wird die Bundesregierung auf die Generaldirektion Deutsche Bundespost POSTDIENST dahin gehend einwirken, daß kleinere Gewerbetreibende mit einer Kundenkartei unter 1 000 Adressen schon vor Mai 1993 das neue Postleitzahlenbuch ausgehändigt bekommen?
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kubatschka, das neue Postleitzahlenbuch wird im Mai 1993 kostenlos an alle Haushaltungen verteilt. Unabhängig davon besteht die Möglichkeit, bereits ab Ende März 1993 bei allen Postschaltern ein Exemplar gegen ein Entgelt von 10 DM zu erwerben.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Das würde erhöhte Kosten für die kleinen Gewerbetreibenden bedeuten, die ich angesprochen habe; Sie sind auf diesen Personenkreis überhaupt nicht eingegangen. Ich frage speziell: Besteht die Möglichkeit, dieses Buch für kleine Gewerbetreibende vorzeitig auszuliefern, damit die keine Beeinträchtigung ihrer Geschäfte erfahren?
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12022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, die Herausgabe der Postleitzahlenbücher ist in erster Linie ein drucktechnisches Problem. Daher stehen im März erst begrenzte Mengen zur Verfügung. Diese sind vorrangig für kleine Gewerbetreibende vorgesehen. Damit diese auch wirklich in den Besitz der Verzeichnisse kommen, ist diese gewisse Schutzgebühr in Höhe von 10 DM vorgesehen. Ich darf Sie aber auch noch darauf hinweisen, daß für die Umstellung von Adreßbeständen auf neue Postleitzahlen auf dem Markt Leitdateien und Hilfsprogramme angeboten werden.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, befürchten Sie da keine Benachteiligung der kleinen Gewerbetreibenden gegenüber Ihren Großkunden?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Ich kann das nicht sehen, Herr Kollege Kubatschka, wenn die Postleitzahlenbücher Ende März, also schon in wenigen Wochen, zur Verfügung stehen. Im übrigen darf ich noch einmal betonen: Eine ganze Reihe anderer Hilfsmittel werden bereits jetzt am Markt angeboten.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Jäger.
Herr Staatssekretär, wird es der Bundespost angesichts massiver Korrekturwünsche gegenüber dieser Liste, die in einigen Punkten auch echt korrekturbedürftig ist, überhaupt möglich sein, die eben von Ihnen genannten Termine einzuhalten?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, es gibt für die Einführung des neuen Postleitzahlensystems eine ganze Reihe von zwingenden sachlichen Gründen; daneben hat diese Einführung auch große politische Dimensionen. Deshalb sind Gespräche zwischen dem Bundesminister für Post und Telekommunikation und dem Vorstand der Deutschen Bundespost Postdienst geführt worden, in denen diese Fragen im einzelnen erörtert worden sind. Das Ergebnis dieser Gespräche ist, daß der Einführungstermin 1. Juli 1993 nicht in Frage gestellt wird. Dieser Termin bleibt. Das neue Postleitzahlensystem wird zum 1. Juli 1993 eingeführt.
Weitere Zusatzfragen werden dazu nicht gestellt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Die Fragen, die im Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie gestellt wurden, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Peter Repnik steht uns für die Antworten zur Verfügung. Ich rufe Frage 6, gestellt vom Kollegen Rudolf Bindig, auf:
Inwieweit treffen Berichte zu , daß die 1987 von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zugesagte Sanierung der Lederfabrik in Lhasa/Tibet noch nicht wirksam eingeleitet
worden ist und weiterhin Belastungen von Menschen und Umwelt — auch in der weiteren Umgebung — durch hochgiftige Produktionsabfälle, insbesondere durch hochgiftige Chromsalze, auftreten?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Die genannten Berichte sind unzutreffend. Als Folge des deutschen Engagements an der Lederfabrik Lhasa wurden bereits jetzt die Schadstoffe wesentlich reduziert, z. B. bei den Gerbereiabwässern um 40 %. Nach unseren, ich möchte sagen: gesicherten Erkenntnissen sind auch Krankheiten, die auf Umwelteinflüsse der Fabrik zurückgehen, weder im Lhasa-Hospital noch in der Krankenstation der Fabrik festgestellt worden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Bindig.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, die Schadstoffe sind um 40 % reduziert worden, dann bestätigen Sie damit, daß immerhin noch 60 % da sind. Trifft es zu, daß insbesondere noch keine Vorkehrungen getroffen worden sind, das hochgiftige Chrom(VI) in einer speziellen Anlage sinnvoll umzuwandeln?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie gestatten, Herr Kollege Bindig, würde ich die Beantwortung dieser Zusatzfrage gleich im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage 7 vornehmen, weil sie in diesen Gesamtkomplex gehört.
Ich wäre damit einverstanden, aber wenn man die Fragen jetzt nachträglich zusammenfaßt, dann habe ich noch drei Zusatzfragen.
Bitte sehr. Dann rufe ich zusätzlich Frage 7 des Kollegen Rudolf Bindig auf:Welche einzelnen Maßnahmen hat die Bundesregierung seit 1987 ergriffen, um die Sanierung vorzunehmen, Umweltbelastungen und -schädigungen zu verhindern, die Gesundheit der dort arbeitenden und lebenden Menschen zu schützen und zu bessern, die Finanzierung solcher Maßnahmen zu sichern und vor Ort auftretende Schwierigkeiten und Verzögerungen schnellstmöglich zu beseitigen?Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, es ist in diesem Zusammenhang zwischen kurzfristigen und längerfristigen Maßnahmen zu unterscheiden. Kurzfristig ging es zu Beginn des deutschen Engagements ab Ende 1989 darum, die Umweltsituation durch Ad-hoc-Maßnahmen zu verbessern, z. B. durch Rehabilitierung von Betonböden, um Versickerungen zu vermeiden — ein ganz schwieriges Problem —, durch den Bau einer Vorklärstufe, damit sich ein Teil der Schadstoffe absetzen kann, durch trockene Lagerung der Feststoffe, um Auswaschungen bei Regen in den Boden zu vermeiden, und durch Änderung der Gerbereirezepturen zur Verringerung der Schadstoffe. Soweit zu den Ad-hoc-Maßnahmen, die eingeleitet und umgesetzt werden konnten.Längerfristig — dies bezieht sich jetzt auf die von Ihnen gestellte Zusatzfrage — ist es das Ziel, durch die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12023
Parl. Staatssekretär Hans-Peter RepnikFinanzierung einer Chrom-Recycling-Anlage und einer Abwasserkläranlage eine dauerhafte Sanierung der Fabrik im Umweltbereich zu erreichen. Diese Anlagen werden nach einer witterungsbedingten Verzögerung jetzt im Frühjahr 1993 in Betrieb gehen. Sie entsprechen europäischen Normen und haben bereits die ersten erfolgreichen Probeläufe absolviert.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, dieses Problem steht seit 1987 an, und Sie haben einzelne Maßnahmen geschildert, die eingeleitet worden sind. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Antwort, die Sie eben gegeben haben, mit anderen Worten heißt, daß von 1987 bis jetzt und auch noch jetzt andauernd in einem Projekt, in dem wir uns mit unserer Entwicklungszusammenarbeit engagieren, hochgiftiges Material leichtfertig gelagert wird?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, es ist nicht so, daß es in diesem Sinn unser Projekt ist, vielmehr versuchen wir, ein vorhandenes Projekt umweltfreundlich zu gestalten. Dies können wir nicht par ordre du mufti befehlen, sondern wir können dies nur mit unseren Projektpartnern gemeinsam vereinbaren. Dort wo wir sehr schnell zu einem Projekterfolg kommen konnten — bei den von mir genannten Ad-hoc-Maßnahmen —, ist dies gelungen, in anderen Fällen, bei zum Teil relativ komplizierten technischen Verfahren, mußten wir die Zeit nutzen. Richtig ist Ihre Feststellung, daß man einige Jahre gebraucht hat, um diese Maßnahme schlußendlich zu einem Erfolg zu bringen.
Dritte Zusatzfrage.
Nach meinen Informationen ist die Toxizität dieses Chromsalzes so hoch, daß Leute, die damit umgehen, praktisch — wie es heißt — das Todesurteil in der Tasche haben. So stand es ja auch im „Spiegel"; darauf baut meine Frage auf. Ist es bisher nicht gelungen, diese hohe Toxizität von den Arbeitern fernzuhalten?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Es ist uns nicht gelungen, dies schneller zu erreichen. Es wird jetzt gelingen, wenn die Anlage in Betrieb genommen wird. Wir teilen exakt die Bedenken im Hinblick auf die Arbeitnehmer, die auch Sie haben. Deshalb wollten wir dieses Projekt ja umsetzen. Wir haben es nach besten Kräften getan. Es wäre bereits in Betrieb, wenn nicht Witterungsbedingungen zu einer Verzögerung geführt hätten.
Im Hinblick auf Ihre Aussage in bezug auf die Krankheitsbilder möchte ich noch einmal sagen: Wir haben uns sehr sorgfältig vor Ort umgehört. Wir haben deutsche Experten befragt. Wir haben nach den Krankheitsbildern geforscht. Nach unseren Informationen gibt es weder im Krankenhaus in Lhasa noch in der Projektkrankenstation entsprechende Erkenntnisse über eine Vergiftung der dort beschäftigten Menschen.
Vierte Zusatzfrage.
Da wir ja kaum die Möglichkeit haben, uns vor Ort zu informieren, muß man natürlich Berichte auswerten. Sind Sie wirklich sicher, daß das nur an der Witterung liegt und daß nicht vielmehr im Vollzug auch noch ganz erhebliche Probleme und Pannen aufgetreten sind, so z. B., daß Experten ihre Arbeit aufgenommen, dann niedergelegt haben, daß sie große Pausen eingelegt haben, so daß man es also doch nicht auf das Wetter schieben kann, sondern auch erhebliches schuldhaftes Verhalten der dort beteiligten Deutschen zu beobachten ist?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich habe nicht behauptet, daß ausschließlich das Wetter schuld war, sondern ich habe auf die Komplexität des Sachverhalts im Rahmen einer schwierigen Materie aufmerksam gemacht. Daß das eine oder andere möglicherweise flotter hätte vonstatten gehen können, will ich durchaus einräumen.
Weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Die Fragen wird der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald beantworten. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bei den Fragen 8, 9 und 10 wird wegen der Abwesenheit der Fragesteller nach der Geschäftsordnung verfahren.
Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Grüner auf:
Ist es richtig, daß ein in Spanien unter dem Markennamen „Ideales" eingeführtes Produkt, das einen mit Zigarettenpapier umhüllten vorportionierten Tabakstrang darstellt, der nach Anfeuchten des Zigarettenpapiers zu einem rauchbaren — einer Strangzigarette entsprechenden — Produkt wird, von der Ratsprotokollerklärung vom 15. Oktober 1992: „Der Rat und die Kommission erklären, daß auf ein oder mehrere Papiere aufgebrachte Tabakwaren, die erst geraucht werden können, wenn der Verbraucher den Tabak preßt und das Papier rollt und klebt, nicht als ,Zigaretten' angesehen werden", umfaßt ist?
Ich bitte Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Schönen Dank, Herr Präsident! Herr Kollege Grüner, Feinschnittrollen gelten nach Art. 3 Abs. i Buchstabe b der Richtlinie 79/32 EWG als Zigaretten. Das Produkt „Ideales" ist nach Auffassung der Bundesregierung nach Buchstabe a der gleichen Vorschrift als Zigarette zu besteuern, weil es auf Grund seines Fertigungsgrades unmittelbar zum Rauchen geeignet ist.Erlauben Sie mir bitte noch eine Anmerkung zur Besteuerung der Steckzigaretten in Deutschland. Der nach langwierigen und ausführlichen Erörterungen im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages eingeführte Zwischensteuersatz hat auch bei der betroffenen Industrie ein überwiegend positives Echo ausgelöst. Dies hat u. a. die deutliche Distanzierung aller anderen Zigarettenhersteller von der gegen die Kompromißlösung gerichteten Werbekampagne der Firma Rothändle gezeigt. Nach derzeitigem Sachstand kann im übrigen davon ausgegangen werden, daß die jetzt für Steckzigaretten geltende Besteuerung nicht, wie
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12024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldteilweise behauptet wurde, zur Erdrosselung dieses Produkts führen wird.Eine gegen die Besteuerung der Steckzigaretten eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde gemäß Beschluß des Verfassungsgerichts vom 19. Januar 1993 nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte. Das Verfassungsgericht hat in Übereinstimmung mit der Bundesregierung dabei auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz und das Gebot der steuerlichen Belastungsgleichheit abgehoben.
Zusatzfrage.
Herr Kollege Dr. Grünewald, habe ich Sie recht verstanden, daß Sie dieses spanische Produkt „Ideales" als eine Fertigzigarette bezeichnen und damit als Fertigzigarette zu besteuern gedenken, obwohl gerade dieses Produkt durch Ratsprotokollerklärung — ich verweise auf meine Anfrage in einer der früheren Fragestunden — zum Feinschnitt erklärt worden ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie gestatten, Herr Präsident und Herr Kollege Grüner, dann möchte ich jetzt Ihre zweite Frage einbeziehen, die ja gerade auf dieses Problem hindeutet.
Dann rufe ich auch noch die Frage 12 des Abgeordneten Grüner auf:
Wodurch unterscheidet sich dieses Produkt in tabaksteuerrechtlich relevanter Weise von den hiesigen Feinschnittrollen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das in Spanien hergestellte und dort vertriebene Produkt „Ideales" wird nach Auffassung der Bundesregierung nicht von der Protokollerklärung des Rates vom 15. Oktober 1992 erfaßt.
Dann möchte ich nicht fragen, sondern mich bedanken und Ihnen bestätigen, daß das auch meine Auffassung ist. Ich bitte die Bundesregierung, darauf zu drängen, daß das im Rat und in der Kommission nicht anders gesehen wird.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wenn dieses Produkt in Deutschland eingeführt werden würde, was wir wegen der anderen Verbrauchergewohnheiten nicht erwarten, würde es als Zigarette besteuert werden. Wenn wir Erkenntnisse haben, daß man sich in Spanien anders verhält, dann werden wir bei der Kommission vorstellig werden.
Sie sehen, Herr Kollege Grüner, auch wenn Sie keine Frage stellen, sondern sich nur bedanken, der Herr Parlamentarische Staatssekretär antwortet auf jeden Fall.
Ich bin jetzt in einer geschäftsordnungsmäßigen Gewissensnot, die allerdings nicht sehr groß ist. Der Kollege Stiegler, der auf einer anderen Veranstaltung war, ist jetzt doch noch gekommen. Da wir noch über diesen Geschäftsbereich reden — das sei an die Adresse des Protokolls gesagt —, rufe ich jetzt die Frage 10 des Abgeordneten Stiegler, von der ich eben gesagt habe, daß sie nach der Geschäftsordnung behandelt wird, doch noch auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Verkehrssituation an den Hauptgrenzübergängen zur Tschechischen Republik, insbesondere auch Grenzübergang Waidhaus, und was wird sie unternehmen, um in Zusammenarbeit mit der tschechischen Regierung auch bei schwierigen Witterungsverhältnissen eine schnellere und reibungslosere Grenzabfertigung zu erreichen?
Herr Parlamentarische Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, die Verkehrs- und Abfertigungsverhältnisse an den Hauptübergängen der deutschtschechischen Grenze sind nach wie vor schwierig. Ursache dafür ist die unzureichende Infrastruktur, die dem sprunghaften Anstieg des Verkehrsaufkommens nicht gewachsen ist. Das gilt insbesondere für den Grenzübergang Waidhaus . Demgegenüber sind die Witterungsbedingungen für die Grenzabfertigung von untergeordneter Bedeutung. Zufriedenstellende Verkehrs- und Abfertigungsverhältnisse werden voraussichtlich 1997 eintreten, wenn die Grenzabfertigungsanlage am Grenzübergang der Autobahn Nürnberg-Prag fertiggestellt sein wird.
Im übrigen sind die deutschen und tschechischen Grenzabfertigungsdienste in regelmäßiger enger Zusammenarbeit bemüht, unter den gegebenen Bedingungen durch Ausschöpfung aller möglichen organisatorischen Maßnahmen eine schnelle und reibungslose Abfertigung sicherzustellen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, daß ich die Lage vor Ort kenne, können Sie unterstellen. Ich wollte eigentlich wissen, was Sie unternehmen, damit man die Menschen nicht bis 1997 vertrösten muß. Ich empfehle Ihnen, sich einmal dort in die Schlange einzureihen, und frage Sie: Was kann man denn tun, um die Fertigstellung des Grenzübergangs vorzuziehen, und zwar auch im Hinblick darauf, daß die Tschechische Republik in absehbarer Zeit Mitglied der Gemeinschaft sein wird, so daß ich es für abwegig halte, jetzt einen Riesengrenzübergang zu bauen, der dann am Tage der Einweihung schon seiner Außerdienststellung entgegensehen wird? Was können Sie tun, um rasch Abhilfe zu schaffen?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Verhältnisse, Herr Kollege Stiegler, sind uns sehr wohl bekannt.
Wir versuchen zusammen mit einer Arbeitsgruppe deutsch-tschechischer Provenienz und auf dem kleinen Dienstwege, Erleichterungen zu erwirken. Die besonderen Schwierigkeiten bestehen darin — wir sind ja in der Verhandlung des Abkommens über den Eisenbahn-, Straßen- und Schiffsverkehr —, daß wir wegen der Verhältnisse im Nachbarland zumindest auf Zeit — ich formuliere behutsam — den Vertragspartner verloren haben. Wir hoffen, daß wir unmittelbar nach der Ratifizierung des Abkommens wesentliche Erleichterungen werden schaffen können. Im Bau befindlich ist allerdings ganz konkret ein Provisorium — Provisorium deshalb, weil die endgültige Lösung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12025
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewalddemnächst an der Autobahn Nürnberg-Prag sein wird —, das für ausreisende Lkws mit den entsprechenden Abfertigungseinrichtungen errichtet werden soll.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie denn eine Möglichkeit, schon vorweg mit der tschechischen Seite zu vereinbaren, daß man gemeinsame Abfertigungen errichtet, um diese Doppelprüfungen und die damit verbundenen Staus zu vermeiden, womit man vielleicht auch der tschechischen Seite helfen könnte, Qualifikationsprobleme, die dort auftreten, zu überwinden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das ist in der Tat der Kern des Problems. In der Arbeitsgruppe sind nicht nur unsere deutschen Zöllner, sondern auch die tschechischen Zöllner sowie die betroffenen Speditionen beteiligt. Wir überlegen nun gemeinsam, wie man Besserungen schaffen kann. Das Hauptproblem liegt in der mangelhaften Personalausstattung auf der anderen Seite.
Die Frage 13, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 14 auf, die der Kollege Claus Jäger gestellt hat:
Auf welchen Betrag beziffert die Bundesregierung den Wert des derzeitigen industriellen Beteiligungsvermögens des Bundes einschließlich seiner Beteiligungen an Banken, Versicherungen und ähnlichen Dienstleistungsunternehmen, und wie hoch schätzt die Bundesregierung den Wert des dem Bund derzeit gehörenden Grundvermögens ohne Bahn-, Post- und Bundeswehrgrundstücke?
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, Verkehrswerte für den Beteiligungsbesitz des Bundes liegen nicht vor. Der Anteil des Bundes am buchmäßigen Eigenvermögen, also Nennkapital zuzüglich offener Rücklagen und nicht ausgeschütteter Gewinne, beträgt ohne Sondervermögen und ohne Treuhandanstalt 7,5 Milliarden DM.
Davon entfallen auf das in großem Umfang privatisierte industrielle Bundesvermögen 0,5 Milliarden DM, Bankbeteiligungen 3,7 Milliarden DM, sonstige Bundesbeteiligungen 3,3 Milliarden DM. Der Bund hält keine Beteiligung im Versicherungsbereich.
Der Wert des dem Bund derzeit gehörenden Grundvermögens — wieder ohne Sondervermögen Bundesbahn und Bundespost sowie ohne Verwaltungsvermögen der Ressorts — beträgt nach ganz groben Schätzungen etwa 60 Milliarden DM.
Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, ob sich unter den im Buchwert von Ihnen angegebenen Beteiligungen des Bundes auch Beteiligungen an Unternehmen befinden, die nicht oder nur schwer veräußerlich sind, und zwar wegen
Überschuldung oder wegen einer dauerhaft schlechten Ertragslage?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das kann ich mit letzter Sicherheit zwar jetzt nicht beantworten, aber, Herr Kollege Jäger, sehr wohl vermuten; denn wir haben ja mit großem Erfolg unsere Privatisierungspolitik vorangetrieben und werden sie nach dem Kabinettsbeschluß aus dem vergangenen Jahr auch weiter fortsetzen. Aber dabei muß man natürlich auch immer die richtige Situation am Markt erwischen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, welchen Anteil — ungefähr, notfalls geschätzt — an dem von Ihnen bezifferten Grundvermögen in Höhe von 6 Milliarden DM das forstwirtschaftliche Vermögen hat?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das kann ich nicht sagen. Aber, Herr Kollege Jäger, ich darf Sie berichtigen: Das Grundvermögen macht grob geschätzt 60 Milliarden DM aus. Wie sich das nach landwirtschaftlicher Nutzfläche oder forstwirtschaftlicher Nutzfläche oder sonstigen Verwendungszwekken differenziert, vermag ich nicht zu sagen.
Können Sie mir das nachliefern?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich will es versuchen, ohne es fest zu versprechen, weil mir nicht bekannt ist, ob das statistisch so aufbereitet ist.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion, nicht weniger barmherzig zu sein als der Präsident. Ich rufe die Frage 8 auf, die die Kollegin Margitta Terborg gestellt hat:
Kann sich die Bundesregierung Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft zu eigen machen, die von einem jährlichen Schaden in Höhe von 100 Mrd. DM durch Steuerhinterziehung ausgehen, und was will sie gegen diesen besonders skandalösen Mißbrauch unternehmen?
Herzlichen Dank, Herr Präsident.Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Terborg, die Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft lassen sich auch mit statistischen Mitteln nicht belegen und sind daher nicht nachvollziehbar. Die Bundesregierung — übrigens ebenso wie die Finanzbehörden — kann keine seriösen Zahlen nennen.Es macht das Wesen einer Schattenwirtschaft aus, daß über ihre tatsächliche Größenordnung Unklarheit besteht. Die Bundesregierung mißt der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und der Bekämpfung der Steuerhinterziehung einen hohen Stellenwert zu. Gemeinsam mit den Ländern, denen die Verwaltung der Steuern obliegt, ist sie bemüht, die Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Allerdings muß sie dabei die Grenzen beachten, die ihr durch den föderativen Aufbau des Staates vorgegeben sind.
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12026 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldDer Bundesregierung ist bekannt, daß sich die Arbeits- und Personallage in den Steuerverwaltungen der alten Länder besonders in den letzten Jahren sehr ungünstig entwickelt hat. Ich habe dazu vor kurzem auf eine schriftliche Anfrage des Kollegen Schuster ausführlich Stellung genommen und darf darauf Bezug nehmen.Die für die Organisation der Steuerverwaltung zuständigen Abteilungsleiter der Länder werden der Finanzministerkonferenz voraussichtlich in Kürze die Ergebnisse einer Bestandsaufnahme zur Arbeits- und Personallage in der Steuerverwaltung der alten Länder und verschiedene Verbesserungsvorschläge vorlegen, die gemeinsam mit unserem Hause, dem BMF, erarbeitet worden sind.Sie haben bitte mit Sicht auf die Zuständigkeitslage Verständnis dafür, daß ich diesem Beratungsprozeß in der Finanzministerkonferenz hier nicht vorgreifen möchte.Die Personalausstattung der Finanzämter in den neuen Ländern entspricht nach den Erkenntnissen der Bundesregierung — —
Verzeihung, sind Sie damit schon bei der Beantwortung der nächsten Frage?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, das ist der Gesamtzusammenhang. Es ist so umfassend gefragt worden, Herr Präsident.
Ich fragte dies, weil sich die nächste Frage auf die Personalaufstockung bezieht.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ja, aber darauf komme ich noch gesondert zu sprechen, wenn Sie gestatten, Herr Präsident.
In den neuen Ländern entspricht die Personalausstattung nach den Erkentnissen der Bundesregierung weitgehend dem der dortigen Aufgabenstruktur entsprechenden Bedarf. Es gibt allerdings vielfältige Schwierigkeiten — insbesondere bei der Unterbringung der Dienststellen. Es wird auch einige Zeit in Anspruch nehmen, einem großen Teil der Verwaltungsangehörigen die notwendigen beruflichen Qualifikationen zu vermitteln. Das gilt insbesondere für die Bereiche Betriebsprüfung und Steuerfahndung.
Unabhängig hiervon wird die Bundesregierung demnächst Vorschläge unterbreiten, wie Mißbrauchstatbestände im Steuersystem wirksam eingedämmt werden können. Anders als behauptet beschränkt sich die Suche nach Mißbrauchstatbeständen nicht auf den Bereich der sozialen Transferleistungen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung nicht bestätigten kann oder will, daß sich der Schaden durch Steuerverkürzung auf 100 Milliarden DM belaufen dürfte, könnten Sie dann meinen Eindruck teilen, daß durch diesen Mißbrauch die eingetretenen Schäden um ein Vielfaches höher liegen als die Schäden durch mißbräuchlichen Bezug von Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, das kann ich nicht bestätigen. Ich durfte schon sagen, daß die Zahl der Deutschen Steuergewerkschaft— die sich übrigens für 1991 nach meiner Erinnerung sogar auf 146 Milliarden DM belief; das war schon einmal Gegenstand einer Anfrage hier — schlechterdings nicht nachvollziehbar und belegbar ist und mir deshalb ein Vergleich mit mißbräuchlichen Ausnutzungen im Sozialbereich unmöglich ist.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mich für voreingenommen halten, wenn ich feststelle, daß Ihre Aussage zum zweiten Teil meiner Frage sehr dürftig war? Sehen Sie sich in der Lage, etwas präziser zu beschreiben, was denn nun wirklich zusätzlich gegen den nicht enden wollenden Skandal der Steuerhinterziehung unternommen wird?
Verzeihung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich muß immer wieder einmal an die Regeln für die Fragestunde erinnern. Frau Terborg, Sie können natürlich den Herr Staatssekretär fragen, wofür er Sie hält. Aber Wertungen der Antworten sind nach der Geschäftsordnung eigentlich nicht zulässig.
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich werde mich jedweder Wertung enthalten, wie sie in der Fragestellung lag. Selbstverständlich, Frau Terborg, bemühen wir uns, wie gesagt, diesen Mißbrauchstatbeständen entgegenzuwirken. Man wird auch darüber verhandeln müssen — so schwierig das mit Blick auf die Personallage ist —, die Betriebsprüfung und die Steuerfahndung zu verstärken.
Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie mit Recht ausgeführt haben, daß die Steuerverwaltung Aufgabe der Länder ist, jedenfalls für die hier nachgefragten Steuern, und daß insofern auch die Verantwortung für Ausfälle dieser Art bei den Ländern liegt, möchte ich Sie fragen, ob der Bundesregierung bekannt ist, daß es Länder gibt, z. B. sozialdemokratisch regierte, in denen es solche Ausfälle nicht gibt, sondern in denen alle Steuern hinterziehungsfrei eingezogen werden.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich kann diese Frage in dieser Form nicht beantworten. Natürlich stellen wir einen Vergleich hinsichtlich der Erhebungsvoraussetzungen und der Erfüllung der Erhebung der unterschiedlichen Steuerarten im Ländervergleich an.
Herr Kollege Klejdzinski, nach der Geschäftsordnung kann ich die Zahl der Zusatzfragen begrenzen. Das könnte ich jetzt tun. Aber ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen: Wenn jetzt noch viele Zusatzfragen zu dieser Frage gestellt
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Vizepräsident Hans Kleinwerden, dann hat Ihre Frage, die als übernächste dran ist, keine Chance mehr. Aber, bitte sehr.
Herr Präsident, Sie haben recht: Wenn Sie nach der Geschäftsordnung verfahren wären, hätten Sie die anderen gar nicht zulassen dürfen. Ich wäre dann in jedem Falle drangekommen.
Entschuldigung, die Bewertung wollen Sie sich bitte sparen, ob ich hätte dürfen oder nicht dürfen. Es ist falsch, wie Sie das bewerten.
Okay, einverstanden.
Dann frage ich trotzdem in diesem Zusammenhang: Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß es ein bedeutend ergiebigeres Feld wäre, auf dem Gebiet der Steuerfahndung tätig zu werden, um Fälle von Steuerhinterziehung aufzuklären, als beispielsweise die Bergmannsprämie der Steuerpflicht zu unterziehen mit dem Hinweis, daß Gleichbehandlung erfolgen muß?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich sehe keinen Sachzusammenhang zwischen diesen beiden Gebieten. Ich kann Ihnen nur sagen: In der Betriebsprüfung waren 1991 rund 9 000 Steuerbeamte und in der Steuerfahndung weit über 1 000 tätig.
Kollege Stiegler.
Herr Staatssekretär, haben Sie sich denn einmal mit der Steuergewerkschaft zusammengesetzt und sich deren Berechnungsgrundlagen erläutern lassen, oder liegen Ihnen deren Berechnungsgrundlagen vor?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich habe selbstverständlich wiederholte Male in Gesprächen mit der Steuergewerkschaft auf diese leider immer wieder aufgestellte Behauptung hingewiesen und habe gesagt, daß sie statistisch nicht belegbar ist. Die Steuergewerkschaft geht den nicht nachvollziehbaren Weg einer Hochrechnung der zugrunde liegenden Wertschöpfung des Bruttosozialprodukts. Das kann man so einfach nicht machen.
Wir kommen zur Frage 9 der Abgeordneten Terborg:
In welchem Umfang werden Steuerprüfung und Steuerfahndung personell aufgestockt, um zu einer wirksameren Bekämpfung der Steuerhinterziehung zu kommen, oder sind diese Bereiche ebenfalls von der beabsichtigten Personalkürzung betroffen, und in welchen Zeitabständen werden Klein-, Mittel-und Großunternehmen derzeit steuerlich überprüft?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die allgemeine Situationsbeschreibung bezieht auch die Prüfungsdienste der Steuerverwaltung ein. Personalaufstockungen der Länder sind, besonders angesichts der schwierigen Haushaltslage, finanzielle Grenzen gesetzt. Das gilt auch für eine grundsätzlich überlegenswerte Verstärkung der Betriebsprüfungs- und Steuerfahndungsdienste. Der Bundesregierung liegen im übrigen keine konkreten Informationen über beabsichtigte Personalkürzungen in diesem oder anderen Bereichen der Steuerverwaltung vor.
Der durchschnittliche Zeitabstand der im Jahre 1991 durchgeführten Prüfungen beträgt für Großbetriebe 4,3 Jahre, Mittelbetriebe 10,5 Jahre und für Kleinbetriebe 19,8 Jahre.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, da Sie sich im ständigen Gespräch mit den Ländern befinden, könnten Sie mir dann wenigstens sagen, ob Sie bei den Ländern darauf drängen werden, personell und technisch die Steuerprüfung und die Steuerfahndung zu verstärken?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ja, darum werden wir uns mit Sicherheit bemühen. Wir haben im Bereich der Betriebsprüfung auch eine bundeseigene Betriebsprüfung mit rund 70 Mitarbeitern. Sie rekrutiert sich allerdings auch aus den durch die Länder ausgebildeten Steuerbeamten. Wir haben deshalb ein Nachwuchsprogramm, in dessen Rahmen die Länder bereit sind, speziell für unsere Zwecke auszubilden; denn gerade in dieser finanziellen Situation haben Bund und Länder ein gemeinsames Interesse, die Steuern soweit wie nur eben möglich tatsächlich einzutreiben.
Zweite Zusatzfrage.
Ist es richtig, wenn ich aus Ihrer Antwort schließe, daß man als Besitzer eines kleinen oder mittleren Unternehmens kaum dem Risiko einer Steuerprüfung ausgesetzt ist, und wie verträgt sich das eigentlich mit der schon recht wasserdichten Prüfung bei den Einkommen über Löhne und Gehälter?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Im Kern ist das richtig. Bei der personellen Ausstattung, der natürlich finanzielle Grenzen gesetzt sind, muß sich die Steuerverwaltung auf das konzentrieren, wo die größten Probleme sind und wo sie die meisten Aussichten hat, Geld einzutreiben. Das sind nun einmal die Großbetriebe.
Aber das bedeutet bei den Mittelbetrieben nicht — ich habe nur von Mittelwerten gesprochen —, daß alle in einem Abstand von nur 10,5 Jahren geprüft würden. Auch diese Betriebe müssen wir prüfen, ebenso wie die Kleinbetriebe. Die Prüfungen müssen aber nach dem Grundsatz der Prioritätennotwendigkeit erfolgen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich rufe die Frage 15 des Kollegen Dr. Klejdzinski auf:Unterliegen die Treuhandunternehmen ausschließlich dem Treuhandgesetz oder auch dem Aktiengesetz, wenn ja, welches Gesetz hat Priorität?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Treuhandanstalt, Herr Kollege Klejdzinski, ist auf Grund des Treuhandgesetzes Inhaberin der Anteile der dort näher beschriebenen Kapitalgesellschaften geworden, die aus dem ehemals volkseigenen Vermö-
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12028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldgen hervorgegangen sind. Das Treuhandgesetz beauftragt die Treuhandanstalt u. a. damit, das ehemalige volkseigene Vermögen zu privatisieren und zu reorganisieren. Der Regelungsbereich des Treuhandgesetzes ist mithin öffentlich-rechtlicher Natur. Das Aktiengesetz und das GmbH-Gesetz regeln hingegen die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse der Kapitalgesellschaften. Wegen dieser unterschiedlichen Regelungsbereiche besteht zwischen den genannten Vorschriften kein Über- und kein Unterordnungsverhältnis.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn es stimmt, daß es kein über- und kein untergeordnetes Verhältnis gibt, dann kann ich doch davon ausgehen, daß in den Fällen, in denen nach dem Aktiengesetz ein Aufsichtsrat zu bestellen ist, die Treuhand, wenn es um vorzeitige Vertragsauflösung für ostdeutsche Manager geht, dies nicht alleine machen kann, sondern sich zumindest ins Benehmen mit dem Aufsichtsrat setzen oder eine Abstimmung mit ihm herbeiführen müßte? Ist das so richtig?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Klejdzinski, das leitet nun unmittelbar zu der Frage 16 über. Darf ich diese beantworten?
Nein. Ich möchte das erst einmal allgemein beantwortet haben, ohne daß das auf die Frage 16 bezogen ist.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Allgemein gilt folgendes: Das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 hat die für die Bestellung eines Aufsichtsrates relevante Unternehmensgröße bei 500 Mitarbeitern angesiedelt. Wenn diese Unternehmensgröße unterschritten wird, braucht man nicht zwingend einen Aufsichtsrat. Die Gesellschafter haben es nach eigenem Ermessen in der Hand, einen Aufsichtsrat, einen Beirat oder ein sonstiges beratendes Gremium zu berufen und mit ihm zusammenzuarbeiten.
Kann ich also davon ausgehen — wenn das so ist, wie Sie gerade gesagt haben —, daß das beinhaltet, daß, wenn ein Aufsichtsrat bestellt ist, dies, zumindest um neue Beschlüsse herbeizuführen, durch eine Gesellschafterversammlung gemacht werden muß und es nicht allein im Belieben eines einzelnen Referatsleiters steht, dies zu erklären?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein. Die Treuhandanstalt hat auf Befragen mitgeteilt, daß sie dann, wenn die eben umschriebene Größenordnung des Unternehmens unterschritten wird, den amtierenden Aufsichtsrat in Einzelgesprächen um eine Mandatsniederlegung bittet. Wenn die Mandatsniederlegung erfolgt, dann ist die Sache erledigt. Es liegt also — ich darf das noch einmal betonen — im Ermessen des Gesellschafters, ob er bei unter 500 Mitarbeitern einen Aufsichtsrat behält oder nicht.
Weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 16, die ebenfalls der Kollege Dr. Klejdzinski gestellt hat, auf:
Welche Gründe haben die Treuhandanstalt bewogen, die Aufsichtsratsmitglieder der Firma PKM Anlagenbau GmbH, Leipzig aufzufordern, ihr Mandat niederzulegen?
Er hat mir die Antwort in seiner Antwort auf meine Zusatzfrage zwar schon gegeben, aber ich höre sie mir jetzt einmal an.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Jetzt wird es sehr konkret: Die Treuhandanstalt hat bei der PKM Anlagenbau GmbH den Wunsch nach Auflösung des Aufsichtsrates durch Mandatsniederlegung geäußert, da der Personalbestand dieses Unternehmens die vom Betriebsverfassungsgesetz festgelegte Größenordnung von 500 Beschäftigten inzwischen deutlich unterschreitet —1. Januar 1993: 417 Beschäftigte. Auskunftsgemäß verfährt die Treuhandanstalt immer so in vergleichbaren Fällen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, das, was Sie mir zuletzt in Ihrer Antwort geschildert haben, betrifft sicherlich den jetzigen Zustand. Aber das Handeln lag vor dem Zeitpunkt, zu dem die Zahl der Mitarbeiter auf unter 500 reduziert wurde; vorher traf das Ganze also nicht zu — das nur zu Ihrer Information. Deshalb frage ich Sie, ob es in bezug auf Steuergelder sinnvoll ist, daß die Treuhand beispielsweise die Alpha Consult einsetzt, daß sie einen ostdeutschen Manager, der im Monat 2 500 DM kostet, ablöst und dafür einen Zeitmanager, der täglich 2 500 DM kostet, einstellt und daß sie, ohne mit dem Aufsichtsrat darüber zu reden, eine solche Umordnung einfach vornimmt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Aus der Distanz kann ich zu dem Sachproblem nur sagen: Diese Ermessensentscheidungen hat die Treuhandanstalt als Gesellschafter in eigener Verantwortung zu treffen. Ich unterstelle, daß sie — man hätte sich ja auch anders entscheiden und den Aufsichtsrat beibehalten können — nach gewissenhafter Prüfung zu dem Ergebnis gekommen ist, daß sie des Aufsichtsrats nicht mehr bedürfe.
Die Tatsache, daß noch Beschlüsse aus der Zeit vor dem 1. Januar, als die Mitarbeiterzahl noch über 500 lag, im Vollzug waren, ist nicht entscheidend, sondern entscheidend ist nach dem Betriebsverfassungsgesetz die Zahl der Mitarbeiter.
Eine zweite Zusatzfrage.
Stimmen Sie mir zumindest darin zu, daß, wenn ein Aufsichtsrat überhaupt bestellt ist, dieser für eine bestimmte Zeit gewählt ist?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein. Es steht ja meistens in der Satzung, auf wie viele Jahre der Aufsichtsrat zu wählen ist. Wenn die Notwendigkeit des Bestehens eines Aufsichtsrats ganz generell
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldentfällt, gilt diese Wahlzeit natürlich nicht mehr, sondern dann kann der Gesellschafter nach freiem Ermessen abberufen.
Weitere Zusatzfrage unseres Kollegen Jürgen Koppelin.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß diese Fragen dadurch von Bedeutung sind, daß der fragende Kollege stellvertretender Vorsitzender des PKM-Aufsichtsrats ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie werden die Liebenswürdigkeit haben, mir eine Antwort auf diese Frage nachzulassen. — Ich danke Ihnen sehr.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 17 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert auf:
Was tat und tut die Bundesregierung, um den Interessenkonflikt um das Grundstück 39-40 in der Palisadenstraße in Berlin-Friedrichshain zwischen dem Bezirk, welcher an dieser Stelle senioren- und behindertengerechte Wohnungen bauen möchte, und der Oberfinanzdirektion, welche dieses Grundstück der Deutschen Schallplatten GmbH im Austausch für ihr bisheriges Domizil im ehemaligen Reichstagspräsidentenpalais verkauft hat, einvernehmlich zu lösen?
Bitte, Herr Paralmentarischer Staatssekretär, zur Beantwortung.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Seifert, die Liegenschaft in Berlin-Friedrichshain, Palisadenstraße 39 ist der Deutschen Schallplatten GmbH Berlin mit Kaufvertrag vom 16. Oktober 1991 — als Ersatz für das Reichstagspräsidentenpalais — verkauft worden. Im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses waren dem Bund Gründe, die der Nutzung des Grundstücks durch die DSB entgegenstanden, nicht bekannt.
Ein Interessenkonflikt ist dadurch entstanden, daß der Bezirk für den Bereich Palisadenstraße 38 bis 40 u. a. die Aufstellung eines Bebauungsplanes beschlossen hat mit dem Ziel, den Standort planungsrechtlich zur Errichtung von Wohngebäuden für Senioren zu sichern. Dieser Beschluß wurde dem Bund erst nach Vertragsabschluß bekannt. Da dem Bund andere geeignete Ersatzobjekte für die Schallplattenfirma nicht zur Verfügung stehen, hat er dem Bezirk vorgeschlagen, die Seniorenwohnungen auf Flächen in der Nähe der Palisadenstraße zu errichten, die sämtlich Eigentum des Landes Berlin sind. Der Bezirk hat dazu erwidert, einen Teil dieser Flächen für andere Zwecke vorgesehen zu haben.
Das Land Berlin hat inzwischen den Bezirk Friedrichshain angewiesen, die Bauvoranfrage der Firma für das Grundstück Palisadenstraße positiv zu bescheiden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, offensichtlich ergibt sich jetzt ein Mißverständnis. Sie sagten, der Kaufvertrag sei im Oktober 1991 abgeschlossen worden. Meiner Information nach liegen die Genehmigung der Senatsbauverwaltung und die Zusage der Oberfinanzdirektion für das Vorhaben in der Palisadenstraße seit September 1991 vor. Es gibt also eine zeitliche Differenz.
Aus diesem Grunde frage ich Sie, ob die Bundesregierung nicht dem Wohnungsbau, noch dazu dem Bau von behinderten- und altengerechten Wohnungen, Vorrang einräumen sollte. Könnte nicht der Bund der Schallplatten GmbH bzw. dem Medienzentrum ein Ersatzgrundstück anbieten?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Seifert, für uns kann natürlich nur der notarielle Vertragsabschluß zum Datum 16. Oktober 1991 maßgeblich sein, um so mehr, als es sich um ein Geschäft Zug um Zug handelte. Der Bund hatte uns ja schon Anfang 1991 beauftragt, das Reichstagspräsidentenpalais zu erwerben. Im Gegenzug wurde dieses streitige Grundstück in der Palisadenstraße an die Schallplattenfirma veräußert.
Ich muß bestreiten, daß schon im September etwas Derartiges bekannt gewesen sein soll. Ich habe die Auskunft erhalten, daß zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, also im Oktober, bei den vertragschließenden Parteien keine Kenntnis über die planungsrechtlichen Änderungen im Bezirk bestanden.
Zweite Zusatzfrage.
Diesen Dissens müssen wir jetzt einfach offen lassen. Trotzdem, Herr Staatssekretär, darf ich die Frage stellen, ob die Bundesregierung im Abwägungsfall nicht dem Bau von Wohnungen Vorrang geben sollte, zumal wir ja seit Wochen fast nichts anderes tun, als das Wohnbaulandgesetz mit großer Geschwindigkeit durchs Parlament zu ziehen. Es geht doch gerade darum, für alte und behinderte Menschen Wohnraum zu schaffen.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Seifert, der Bund hat sich wirklich alle erdenkliche Mühe gegeben. Er hat fünf Ersatzgrundstücke benannt, davon zwei in unmittelbarer Nähe der Palisadenstraße. Aber das Angebot ist nicht angenommen worden. Der Bund hat also den Abwägungsprozeß sehr wohl durchgeführt. Aber weitere geeignete Grundstücke hatte und hat der Bund leider nicht.
Weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 18 des Abgeordneten Dr. Seifert auf:
Welche Standorte alternativ zur Palisadenstraße für die Deutsche Schallplatten GmbH hat der Bund geprüft bzw. angeboten?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich habe schon darauf hingewiesen, daß dem Bund geeignete Ersatzgrundstücke leider nicht zur Verfügung stehen. Nachdem die Oberfinanzdirektion Berlin dem Bezirk Friedrichshain für seine Zwecke geeignet erscheinende Grundstücke des Landes Berlin benannt hat, stellt sich aus der Sicht des Bundes diese Frage leider nicht mehr.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir einige nähere Erläuterungen
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12030 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Dr. Ilja Seifertdazu geben, mit welcher Begründung der Stadtbezirk die Ersatzgrundstücke, von denen Sie gerade sprachen, abgelehnt hat?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Für die Grundstücke in der Nachbarschaft der Palisadenstraße ist mir das bekannt: Hier waren aus der Sicht des Bezirks bereits andere Verwendungen vorgesehen.
Welcher Art?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das kann ich nicht sagen. Bei den drei anderen Ersatzgrundstücken werde ich mich um Aufklärung bemühen und Ihnen das Ergebnis mitteilen.
Weitere Zusatzfrage?
Ich glaube, es erübrigt sich jetzt erst einmal. Ich werde auf die Auskünfte des Herrn Staatssekretärs warten.
Wünscht sonst jemand, zu dieser Frage noch eine Zusatzfrage zu stellen? — Das ist nicht der Fall.
Dann, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, schließe ich die Fragestunde. Ich bedanke mich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ohne die Unterhaltung unterbrechen zu wollen, für Ihre Auskünfte.
Ich rufe auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Lage in der Stahlindustrie und ihren regionalen Auswirkungen
Die SPD-Fraktion hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Uwe Jens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die aktuelle Krise in der Stahlindustrie beruht nach meiner Ansicht nicht auf Marktversagen, sondern vor allem auf Politikversagen. Für die Bewältigung dieser Krise in einem Wirtschaftszweig ist nicht ein einzelnes Bundesland, sondern ganz eindeutig die Bundesregierung zuständig.
Die Stimmung der Arbeitnehmer in der Stahlindustrie ist mehr als gereizt. Ich erinnere an die Zukunftsangst in der Maxhütte, an die Probleme im Saarland, an die Standortsorgen von Siegen über Dortmund bis nach Rheinhausen. Keiner weiß heute, wie der Vergleich der Klöckner-Werke AG ausgehen wird und wie die Zukunftschancen der Georgsmarienhütte in Osnabrück oder der Klöckner-Werke in Bremen sind. Ich sage auch: In Eisenhüttenstadt in Brandenburg wurden bereits 3 Millionen Jahrestonnen Stahlkapazität abgebaut. Die verbleibende Kapazität von 1 Million Tonnen muß aus meiner Sicht dringend erhalten bleiben. Die Bundesregierung muß sich also hüten: Wenn sie nichts Entscheidendes unternimmt, wird sie überall viele Fälle wie damals in Rheinhausen schaff en.
Die Bundesregierung und die EG-Kommission, beide zusammen, sind gefordert. Insbesondere Bundeswirtschaftsminister Rexrodt wird sich an dieser Frage bewähren müssen. Es ist unakzeptabel und unverständlich, wenn dieser junge Wirtschaftsminister eine nationale Stahlkonferenz ablehnt.
Schonfristen gibt es für den dritten Bundeswirtschaftsminister nach der Vereinigung Deutschlands nicht mehr. Schönreden — wie unter Herrn Möllemann gehabt — hilft ebenfalls nicht weiter. Jetzt, meine Damen und Herren, muß gehandelt und nicht geredet werden.
Die Ursachen der Krise sind politischer Art: Die Bundesregierung und die EG haben es versäumt, den Unsinn der ständigen Subventionszahlungen in Italien, Spanien und England ein für allemal abzuschaffen.
Gegen diese Subventionszahlungen können die privatwirtschaftlich organisierten deutschen Stahlunternehmen nicht ankonkurrieren.
Die von den Vereinigten Staaten erhobenen Sonderzölle auf Stahlprodukte sind aus meiner Sicht GATT-widrig. Und ich füge hinzu: Einige Importe aus Osteuropa haben den Charakter von Dumping-Lieferungen.
Damit schadet sich der Lieferer im allgemeinen mehr als der Belieferte.
Deshalb ist die deutsche Wirtschaftspolitik gefordert.
Notwendig ist erstens eine nationale Stahlkonferenz, um eine einheitliche Haltung der Bundesregierung und der deutschen Stahlunternehmen zu diesen Fragen zu formulieren.
Stahlgespräche in guten Eßlokalen, wie Herr Bangemann das praktiziert, helfen wirklich nicht weiter.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12031
Dr. Uwe JensVielmehr müssen alle an einen Tisch, um eine einheitliche Haltung für die Bundesrepublik Deutschland im Stahlbereich zu formulieren.
Zweitens. Erforderlich ist auch ein Strukturkrisenkartell auf EG-Ebene, um Stillegungen vor allem geordnet vorzunehmen, und zwar nicht etwa nur in Deutschland. Der Kapazitätsabbau auf europäischer Ebene ist scharf zu kontrollieren.Drittens müssen wir — damit verbunden — Hilfen für die soziale Abfederung des Anpassungsprozesses, und zwar vor allem aus EG-Mitteln, einklagen. Die Schatzkassen auf EG-Ebene sind voll und ganz für diese Zwecke einzusetzen.Viertens benötigen wir ein regionales Hilfsprogramm wie etwa das RESIDER-Programm, um in den betroffenen Orten Ersatzarbeitsplätze zu schaffen.Wir fordern aber auch von den verantwortlichen Managern in den großen Stahlunternehmen, daß sie sich verstärkt um Ersatzarbeitsplätze kümmern und daß sie vor allem freie Flächen sofort zur Verfügung stellen.
Ich befürchte, meine Damen und Herren, die Krise wird sehr ernst. Denn auch die Bergleute sind nahe daran, scharf Protest einzulegen, weil die Gefahr besteht, daß der Hüttenvertrag auf Grund der Stahlkrise ins Wanken gerät, weil die Bergmannsprämie im Rahmen des Solidarpakts gekürzt werden soll und weil außerdem noch zusätzliche Zechenstillegungen möglicherweise bevorstehen.Ich kann der Bundesregierung deshalb nur raten, sofort zu handeln. Der Unmut, ja die Verzweiflung der Arbeitnehmer bei Stahl und Kohle ist gewaltig. Der Krug geht bekanntlich so lange zum Wasser, bis er bricht. Die geballte Wut der Arbeitnehmer an der Ruhr veranlaßte schon einmal eine Regierung zum Rücktritt. Es brodelt an allen Ecken und Kanten. Passen Sie auf, meine Damen und Herren von der Regierung, daß diese Republik nicht im Chaos versinkt!
Meine Damen und Herren, ich mache darauf aufmerksam, daß die Redezeit in der Aktuellen Stunde bis zu 5 Minuten beträgt.
Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Friedhelm Ost das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns vor knapp vier Wochen hier im Plenum mit den Ursachen für die katastrophale Entwicklung in der Stahlindustrie beschäftigt: Einbruch der Nachfrage, Wegbrechen der Exportmärkte, Überflutung mit Stahleinfuhren aus Mittel- und Osteuropa, aber auch Fehldispositionen seitens des Managements einiger Stahlfirmen. Dies war damals sozusagen die Diagnose.Natürlich, lieber Kollege Jens, ist jedes Problem ein politisches Problem, aber sicherlich nicht das Problem der Bundesregierung, soweit es um die Stahlpolitik geht. Nachdem man schon versucht hat — jedenfalls habe ich davon gehört —, eine regionale Stahlkonferenz Nordrhein-Westfalen zustande zu bringen — allerdings ohne konkrete Ergebnisse —, ruft man jetzt sozusagen wieder nach dem Bund, nach einer nationalen Stahlkonferenz. Mich wundert das ein wenig; ich halte davon gar nichts.Die gesamte europäische Stahlindustrie befindet sich wahrlich in einer tiefen Krise. Wir haben Stahlüberkapazitäten von 20 oder gar 30 %. Das sind etwa 30 bis 40 Millionen Jahrestonnen.
— Auf europäischer Ebene. — Wer den Wirtschaftsteil der Zeitungen aufmerksam liest, stellt fest, daß es eben nicht ein Konjunktureinbruch ist, sondern eine tiefe Strukturkrise, die noch nicht zu Ende ist: Daimler-Benz überlegt, Autos in Südkorea zu bauen; VW steigt bei Skoda ein; Audi geht nach Ungarn; BMW baut ein Werk in den USA. Das sind einige wenige Meldungen, die uns auch mit Blick auf die Stahlindustrie nachdenklich machen müssen.Richtig ist, daß es in den letzten Jahren in Europa insgesamt nicht zu einem längst notwendigen Abbau von Überkapazitäten gekommen ist. Viele Milliarden Mark sind hier an Subventionen verpulvert worden, um „Grenzbetriebe" in der Stahlbranche — auch anderer Lander — am Leben zu erhalten. Ich gebe zu, die Bundesregierung hätte diese Praktiken vielleicht mit noch größerer Entschiedenheit anprangern sollen und müssen.
— Ich sage dies ganz offen. — Sie hat es immer wieder getan;
leider ohne den von uns allen gewünschten Erfolg.Ich glaube, wir müssen heute feststellen, daß kein Weg daran vorbeiführt, die Produktionskapazitäten in Europa auf ein wesentlich niedrigeres Niveau zu bringen. Am vergangenen Montag, beim Treffen der EG-Kommissare Bangemann und van Miert mit Vertretern der europäischen Stahlindustrie im belgischen Hasselt, wurden Mengenziele für eine Reduzierung genannt: beim Rohstahl 26 Millionen t, bei Warmwalzprodukten 18 Millionen t. Ich denke, dies stellt die Untergrenze für die dringend notwendige Marktbereinigung dar. Es ist meines Erachtens sehr zu begrüßen, daß die Unternehmen jetzt selbst einen Modus für den Abbau der Kapazitäten finden wollen. Jedenfalls halte ich das für besser als eine staatlich oder auch behördlich erzwungene oder diktierte Lösung.
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12032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Friedhelm OstDiese Einschnitte bedeuten wahrlich schmerzliche Operationen, und diese Operationen brauchen eine ganz strikte Außenflankierung. Sonst wäre der Erfolg dieser schmerzvollen Operationen von vornherein fraglich. Wenn der unfaire Wettbewerb nicht wirklich unterbunden wird, drohen weitere Notoperationen, auch in unserer Stahlindustrie — und dann mit tödlicher Folge.Die Bundesregierung hat bereits Abwehrmaßnahmen gegen eine weitere Stahlschwemme aus Mittel-und Osteuropa ergriffen. Ich denke, auch der jetzt anvisierte Abbau von europäischen Kapazitäten muß flankiert werden.Mit der notwendigen Reduzierung der Stahlkapazitäten werden viele Arbeitsplätze abgebaut werden müssen. Experten rechnen in Deutschland mit bis zu 30 000. Dies ist ein schmerzvoller Prozeß; denn es geht hier um das Schicksal von vielen tausend Stahlkochern und ihren Familien. Hier sollten wir alle gemeinsam überlegen, EG, Bund und vor allem Länder — regionale Strukturpolitik ist vor allem Ländersache —, wie wir diesen Prozeß gemeinsam flankieren und ihn auch abfedern können.Vielen herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Klaus Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Stahlindustrie steckt in der Krise, aber konjunkturelle Schwankungen sind ja ein altbekanntes Phänomen. Dies gilt insbesondere auch für die Stahlindustrie, die von konjunkturellen Schwankungen regelmäßiger, stärker betroffen ist als die Gesamtwirtschaft.Diese Tatsache ist allgemein bekannt, vor allen Dingen auch in den montanmitbestimmten Vorständen der Stahlunternehmen. Es darf also von dieser Stelle aus durchaus gefragt werden, ob in der Zeit des Stahlbooms in allen Fällen für die jetzige Flaute Vorsorge getroffen worden ist. Meine Damen und Herren, jetzt — wie Herr Kollege Professor Dr. Jens es getan hat — von Bremen bis zur Maxhütte, vom Ruhrgebiet bis Eisenhüttenstadt auf die Bundesregierung zu zeigen, beweist Heuchelei und Ignoranz.
Ist es denn nicht vielmehr so, daß Maßnahmen u. a. deswegen unterlassen wurden, weil sich die Stahlunternehmen jederzeit auf die Freigebigkeit der Banken verlassen konnten, die mit einer großzügigen Kreditpolitik den Wert ihrer eigenen Beteiligung an Stahlunternehmen erhalten wollten?Der Standort Bundesrepublik Deutschland, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat aber nur dann eine Zukunft, wenn wir uns in der internationalen Arbeitsteilung in der Spitzengruppe der industriell fortschrittlichen Länder behaupten können.Zu einer Zukunftssicherung in diesem Sinn könnte auch, wie es von Teilen der Stahlindustrie gefordert wird, ein vorübergehendes freiwilliges Strukturkrisenkartell beitragen. Ordnungspolitische Bedenken könnten, wenn das Ergebnis stimmt, zurückstehen, wenngleich sie — das will ich hier deutlich sagen — für mich schwer wiegen. Denn zwingend ergibt sich ja die Frage, was dann am Ende stehen wird.Alle Beteiligten müssen sich über folgendes im klaren sein. Ein solches Kartell darf nicht dazu dienen, mit Hilfe einer staatlich gebilligten Aussetzung des Markt-Preis-Mechanismus den Status quo zu sichern.
Ziel muß ein konsequenter Abbau vorhandener Überkapazitäten sein. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Stahlangebot insbesondere aus unseren östlichen Nachbarstaaten nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mittelfristig eher steigen als abnehmen wird.Beihilfen müssen, soweit sie gewährt werden sollen, erstens in ein EG-weites Konzept zur Lösung der Stahlprobleme eingebettet und zweitens an die Bedingung eines spürbaren Abbaus von Kapazitäten in der Stahlproduktion gebunden sein.Wenn aber die Rufe nach einem Produktionsquotensystem nach Art. 58 EGKS laut werden, kann nicht deutlich genug vor dem Ausrufen einer manifesten Krise gewarnt werden.
Ein Außerkraftsetzen des Markts im Stahlsektor ausgerechnet im Jahr Null des europäischen Binnenmarkts wäre nicht nur ein Rückschritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Dem Ziel der Schaffung einer wettbewerbsfähigen Struktur der Stahlindustrie in Europa wäre damit nach den Erfahrungen aus den Jahren 1980 bis 1988 nicht näherzukommen.
Zudem wären wir Deutschen diesmal die Petenten. Das würde unsere Verhandlungsposition in Vergleich zu der Regelung vor 13 Jahren ganz deutlich verschlechtern.
Als fatal müssen auch die möglichen Konsequenzen für den internationalen Wirtschaftsverkehr angesehen werden. Eine Quotierung müßte mit einer rigorosen Abschottung der Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft einhergehen. Bereits jetzt wird ja von einem „Stahlkrieg" mit den Vereinigten Staaten gesprochen. Im Vergleich mit den dann drohenden Auseinandersetzungen handelt es sich bei den jetzt vorhandenen Problemen um Scheingefechte.Vor diesem Hintergrund wäre auch an einen erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen in einem überschaubaren Zeitraum nicht zu denken.Nicht zuletzt müssen wir uns fragen lassen, was wir uns denn eigentlich dabei denken, wenn wir den Aufbau marktwirtschaftlich leistungsfähiger Systeme in den ehemaligen Ostblockstaaten in Sonntagsreden begrüßen und gleichzeitig den Import des aus vielen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12033
Klaus BeckmannGründen billigeren Stahls etwa aus der Tschechischen Republik oder aus Rußland mit sogenannten handelspolitischen Maßnahmen zu unterbinden suchen.Das Ausrufen einer manifesten Krise nach dem ohnehin im Jahr 2002 auslaufenden EGKS-Vertrag würde also nicht zu einer Lösung unserer Probleme beitragen und nicht die Krise der Stahlindustrie beseitigen, sondern insgesamt zu einer Verschlechterung unserer internationalen Wettbewerbsstellung führen.
Herr Kollege Beckmann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Danke. — Der letzte Satz: Als Konsequenz folgt daraus, daß die Politik die notwendigen Eigenanstrengungen der Stahlindustrie, die in einigen Unternehmen bereits ihre Früchte getragen haben, sinnvoll zu begleiten hat.
Meine Fraktion ist zu entsprechenden Gesprächen mit den Beteiligten und den Betroffenen gern bereit.
Vielen Dank.
Herr Kollege Schreiner, das war der Sinn meiner Eingangsbemerkung.
Jetzt hat Herr Kollege Bernd Henn das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Ost hat in der von uns beantragten Aktuellen Stunde am 15. Januar 1993 zu dem gleichen Thema geäußert, man müsse sich davor hüten, jedesmal, wenn 6 000 Arbeitplätze in mittleren oder kleineren Unternehmen oder jetzt in Ostdeutschland in Gefahr seien, hier große Diskussionen zu führen; dann wären wir Tag und Nacht beschäftigt.Herr Kollege Ost, Ihre Aussage qualifiziert einerseits zutreffend die Folgen der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung.
Andererseits ist sie falsch; denn solche Debatten zu führen ist unsere Pflicht, wenn für uns noch gilt, daß der Mensch im Mittelpunkt von Politik und Wirtschaft steht.
Heute geht es um 50 000 Arbeitsplätze EG-weit und um 25 000 Arbeitsplätze in Deutschland, die in kürzester Frist vernichtet sein könnten.Deshalb ist schnelles Handeln angesagt. Im Fall der Stahlindustrie kann sich die Bundesregierung nicht darauf zurückziehen, den allgemeinen Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft zu beschwören oder die Montanmitbestimmung zu attackieren, wie es die Kollegen Ost und Friedhoff am 15. Januar getan haben.Der EGKS-Vertrag enthält Besonderheiten für ein Krisenmanagement. Die PDS/Linke Liste fordert, wie es schon am 15. Januar 1993 von Gregor Gysi von diesem Pult aus geschehen ist, die Bundesregierung auf, sich bei der EG-Kommission und den Partnerländern in der EG nachhaltig für die Ausrufung einer manifesten Krise nach dem EGKS-Vertrag starkzumachen.Wir brauchen für einige Zeit Produktionsquoten und ein Preisreglement, das die Stahlstandorte überleben läßt, um damit, wie es neudeutsch formuliert wird, Zeit zu kaufen,
Zeit für eine sozialverträgliche Restrukturierung der Stahlindustrie, sozialverträglich für die unmittelbar Beschäftigten und ihre Familien und sozialverträglich für die betroffenen Krisenregionen.
Am 15. Januar 1993 hat der Kollege Vondran, immerhin der Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl, hier im Bundestag gesagt:Überall in Deutschland unterliegt die Stahlindustrie einem Substanzverzehr, schlimmer als in der schwärzesten Zeit der Stahlkrise Ende der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre. Die Chancen zu überleben sind dabei nicht gleichmäßig verteilt.Wir wollen aber, daß Chancengleichheit hergestellt wird. Dafür braucht es Zeit. Wenn gemäß der Aussage des Kollegen Vondran die Lage heute schlimmer ist als Anfang der 80er Jahre, wann, bitte schön, soll denn dann der Zustand der manifesten Krise erreicht sein, wenn nicht jetzt?Wer heute, rückschauend auf die 80er Jahre, die Krisenregelung der EG verteufelt, der unterschlägt, daß in diesem Zeitraum immerhin 25 Millionen t Rohstahlkapazität aus dem Markt genommen und 25 % der Arbeitsplätze vernichtet wurden. Aber das geschah immerhin ohne Massenentlassungen, und die Stahlstandorte blieben im Kern erhalten.Daß die stahlverbrauchende Wirtschaft kein Krisenkartell will, leuchtet mir ein, weil Preisstabilisierung in dem Fall natürlich höhere Einstandspreise für das Vorprodukt bedeutet.Aber wenn sich die Stahlindustriellen heute noch distanziert zu einer verbindlichen Regulierung von Mengen und Preisen verhalten, dann kann ich mir das nur so erklären, daß die Starken hoffen, daß einigen Schwächeren die Luft ausgeht.Der Opfertisch scheint mir schon gedeckt zu sein. Die ostdeutsche Stahlindustrie wird Verfügungsmasse für Kapazitätsstillegungen, z. B. das Walzwerk Eberswalde-Finow und insbesondere das Hüttenwerk in Eisenhüttenstadt. Denn hier ist die Hoffnung der Stahlkonzerne nicht unbegründet, daß eine lebensnotwendige Warmbreitbandstraße oder eine Dünnbrandgießanlage von der EG nicht genehmigt werden. Wenn sich die Politik dafür nicht ganz stark
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12034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Bernd Hennmacht, wird es so kommen. Auch das Management von Krupp und Hoesch scheint auf dieser Krise sein Süppchen kochen zu wollen und will einen Standort dichtmachen. Thyssen wird nach kräftigem Personalabbau als Konzern sowieso stärker als zuvor dastehen.Wir lehnen eine solche Kahlschlagpolitik ab und fordern:Erstens Erhaltung aller Stahlstandorte.Zweitens. Notwendige Kapazitätseinschränkungen werden möglichst gleichmäßig auf alle Standorte verteilt, wobei auch in Ostdeutschland Kapazitäten mindestens in der Größenordnung des Stahlverbrauchs in den neuen Bundesländern erhalten bleiben, und zwar eines Stahlverbrauchs, der für die Zeit nach einem versprochenen Aufschwung Ost prognostiziert wird.Drittens. Wir fordern eine nationale Stahlkonferenz, in der auch der Bundeswirtschaftsminister seinen Beitrag leistet, indem er eine mittel- und langfristige Perspektive für den Stahlverbrauch in Deutschland, in der EG und auf dem Weltmarkt darlegt.Irgendwo muß doch diese Bundesregierung noch Ansprüche an sich selbst haben, der Konjunktur wieder Dampf zu machen und damit den Stahlverbrauch und die Stahlproduktion auf höherem Niveau zu stabilisieren, als es heute der Fall ist.Das Internationale Eisen- und Stahlinstitut prognostiziert für die Stahlindustrie eine bessere Zukunft, als es der heute herrschende Pessimismus ausdrückt. Demnach soll der sichtbare Stahlverbrauch im EG-Inland ohne die frühere DDR 1995 115 Millionen t erreichen. Das ist das Niveau von 1990, und das sind 10 Millionen t über dem Niveau von 1992.Industrielle Kapazitäten vernichten geht schnell, wie man das am Beispiel Ostdeutschland unschwer erkennen kann. Aufbauen ist schwerer und teurer. Deshalb stellen Sie jetzt die Weichen gegen eine übermäßige Kapazitätsvernichtung und für eine sozial und regional verträgliche Strukturpolitik!
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In allen Industrieländern ist die Nachfrage nach Stahl stark rückläufig. Das hat konjunkturelle und strukturelle Gründe. Ich habe vorhin und in anderem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen, daß in Deutschland und auch in der Stahlindustrie Arbeit da wäre, wenn man die Arbeit produktiv organisieren könnte.Die Stahlindustrie hatte mindestens vier fette Jahre. Die Unternehmen haben Reserven bilden können. Einige Unternehmen haben dies genutzt, andere nicht.Dann drängten die Osteuropäer mit billigen Stählen und nicht schlechten Qualitäten des angebotenen Materials auf den Markt. Daraufhin hat man sich entschlossen, die, wie es so schön heißt, Außenflanke zu schützen. Trotz umfangreicher Maßnahmen gegenüber der CSFR, den GUS-Staaten, Polen, Ungarn und anderen mehr war der Rückgang in der deutschen Produktion nicht aufzuhalten.Nun stellt sich die Frage, ob die manifeste Krise ausgerufen werden soll, die darauf hinausläuft, daß, wie das hier und anderswo vereinzelt gefordert wird, Produktionsquoten festgesetzt werden und Preisregulierung stattfindet.Es kann nicht im Interesse der Stahlindstrie, es kann auch nicht im Interesse der Deutschen liegen, daß diese Quoten vereinbart werden. Wenn sie vereinbart werden, kommt die deutsche Stahlindustrie mit allen Konsequenzen für die Arbeitsplätze dabei schlecht weg,
sehr viel schlechter, als es ihrer Produktionskapazität entspräche.
Deshalb ist es gut, daß niemand ernsthaft die manifeste Krise möchte.Ein anderes Problem ist das Strukturkrisenkartell. Dieses soll nun in Absprache und in Kontakt mit Brüssel dergestalt stattfinden, daß eine Absprache mit Selbstverpflichtung der Stahlunternehmen Platz greift, die Produktionskapazitäten zurückzufahren.
Ich halte das für richtig. Ich halte das in der gegenwärtigen Situation für gut und angemessen. Denn wir haben Überkapazitäten. Wenn sie von denen, die dafür verantwortlich sind, und nicht von der Bundesregierung geordnet zurückgefahren werden, dann ist das allemal das beste.
Wir müssen allerdings auch im Zusammenhang mit Preisabsprachen aufpassen, daß die Dinge nicht aus dem Ruder laufen. — Das ist eine richtige Entwicklung.Das dritte, auf das ich zu sprechen kommen möchte, ist die Frage der Anpassungsmaßnahmen. Ich möchte zunächst einmal sagen, daß die Bundesregierung in den letzten Jahren jeweils 190 Millionen DM für Anpassungsmaßnahmen ausgegeben hat, wovon nur ein kleiner Teil, 15 %, von der EG erstattet worden ist.Die Kommission hat jetzt angekündigt, daß sie für ganz Europa 240 Millionen ECU zur Verfügung stellen will, um die Anpassungsmaßnahmen sozial verträglich zu machen. Das ist eine erfreuliche richtige Entwicklung.Wir, die Bundesregierung, werden weiter darauf achten — das sehen wir als einen wichtigen Beitrag an —, daß Subventionsdisziplin in Europa herrscht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12035
Bundesminister Dr. Günter RexrodtSubventionsdisziplin wird darauf hinauslaufen — dafür setzen wir uns ein —, daß bestimmte Anträge in Brüssel nicht eine Mehrheit finden können. Subventionsdisziplin ist wichtig, aber nicht Reglementierung, wie Sie sich das vorstellen.
Die Bundesregierung wird in Brüssel bei den Verhandlungen über die EG-Strukturfondsverordnung im übrigen darauf hinwirken, daß mehr Flexibilität eintritt. Dies kann und soll dazu führen, daß wichtige Stahlregionen in Deutschland mehr gefördert werden als bisher.Wir wollen keine Stahlkonferenz, weil eine Stahlkonferenz zunächst einmal nur ein spektakuläres Ereignis ist. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn es denn Erfolge zeitigen könnte.Wir halten sehr viel mehr davon, daß wir uns in der gegenwärtigen Phase im Kontakt mit Brüssel, im Kontakt mit der Industrie, im Kontakt mit den Gewerkschaften und im Kontakt mit den Menschen bemühen, daß die Auswirkungen dieser Stahlprobleme und Stahlkrise möglichst gering gehalten und abgefedert werden können.
Mein Vorgänger hat mit allen Seiten engen Kontakt gehabt; ich werde das fortsetzen. Die Termine mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmern und mit denen, die im öffentlichen Bereich mitsprechen müssen und werden, stehen fest.Gezielte, gut angelegte Arbeit im Detail bringt allemal mehr als ein spektakuläres Ereignis. Auf dieser Grundlage und Basis werden wir unsere Arbeit fortsetzen.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt der Minister des Landes Nordrhein-Westfalen für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie, Herr Günther Einert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn der Anlaß nicht so beinahe dramatisch wäre, würde ich sagen, ich freue mich, einmal wieder hier in diesem Hohen Hause reden zu dürfen. Da ich nicht mehr ständig hier in Bonn bin, genieße ich die Atmosphäre nicht mehr so wie in früheren Jahren.Ich habe vor einigen Wochen voll Aufmerksamkeit das Protokoll über die Bundestagsdebatte gelesen, als Sie sich innerhalb der Diskussion um den Standort Deutschland schon einmal mit der Problematik der Stahlpolitik in Deutschland und Europa beschäftigt haben.Mir steht es nicht an, Zensuren zu erteilen — betrachten Sie das also bitte nicht als Arroganz —, aber ich muß sagen: Wenn ich einmal die ritualmäßig vorgeschriebenen Hakeleien beiseite lasse, hat mich doch das außerordentlich hohe Maß an Sachargumenten stark beeindruckt.Vielleicht sollte man mitten in einer solchen Debatte auch darauf hinweisen, daß unabhängig von unterschiedlichen Standpunkten in vielen Fragen ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Beteiligten besteht.
— Sehr aufmerksam, sehr aufmerksam!Ich mache ein paar Bemerkungen zur Sache: Die Stahlsituation ist in unsere allgemeine wirtschaftliche Entwicklung eingebettet. Sie ist alles andere als besonders rosig. Ich füge allerdings hinzu: Hier hilft weder Panikmache noch Schönreden, sondern hier sind Nüchternheit und Mut zu besonnenem und in vielen Dingen auch gemeinsamem Handeln angesagt.Ich glaube, gegenüber denjenigen, die seit 1952 wirklich die Ecklinien der Stahlpolitik bestimmen, nämlich EGKS und Kommission, sollte es eigentlich die Erkenntnis geben: Wenn es irgendwo eine Notwendigkeit gibt, daß die Deutschen endlich mit einer Zunge reden, dann gibt es sie in dieser Frage. Wir sind fast die einzigen im europäischen Konzert, die das bisher nicht hinreichend tun.Die Alternative wird für uns im Stahlbereich lauten — ich formuliere das genauso brutal —: Jeder stirbt für sich allein.
Hier geht es nicht mehr um kleine taktische Spielchen — ein bißchen Standort hier, ein bißchen Standort da, ein bißchen Kapazitätsabbau, ein paar Arbeitsplätze da und dort reduzieren —, sondern hier geht es wirklich um das Überleben der Branche.
Ich will auch nicht spekulieren, wie groß der Verlustbetrag ist, den die deutsche Stahlindustrie zur Zeit monatlich einfährt. Es sind auf jeden Fall erkleckliche dreistellige Millionenbeträge — um das sehr vorsichtig zu formulieren. Das meinte ich, als ich sagte, daß man das nicht zu dramatisieren braucht. Die Dramatik ist längst da. Es ist eine internationale Krise.Ich füge hinzu: Wir wissen, daß wir ein Wirtschaftswachstum von etwa 2,5 bis 3,0 % brauchen, um den Stahlverbrauch überhaupt konstant zu halten. Erst bei Wachstumsraten oberhalb dieser Grenze werden wir eine steigende Nachfrage nach Stahl haben.Nun kann man lange darüber philosophieren, ob die Chefs der Stahlkonzerne das nicht eigentlich hätten sehen und frühzeitig umschalten müssen. Da sage ich mir: Vielleicht waren sie so leichtfertig und haben sich zu lange auf die Prognosen der Bundesregierung verlassen.
— Gucken Sie sich doch einmal die prognostiziertenZahlen an, die die Bundesregierung, die das Bundeswirtschaftsministerium mit vor Stolz geschwellter
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12036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Minister Günther Einert
Brust der Öffentlichkeit präsentiert haben. Wer darauf vertraut — —
— Wir reden hier über die von Ihnen prognostizierten Daten. Wir können auch über mich reden, Herr Kollege Ost, einverstanden. Nur, nageln wir die fest, die jeweils Entscheidungen zu treffen haben. Ich sage: Es ist etwas leichtfertig, jetzt in einer Retourkutsche den Vorwurf an die Stahlindustrie zurückzugeben, indem man sagt: Ätsch, ihr seid selber schuld; warum zieht ihr euch keine Handschuhe an, wenn es kalt wird? — Ich glaube, so einfach kann man es sich nicht machen; das wäre nicht ganz richtig.Daß wir neben konjunkturellen Entwicklungen auch struktuelle Probleme haben, zeigt sich ja bereits an einer einzigen Zahl: In den letzten 20 Jahren hat sich der Grad der Versorgung des Weltmarkts mit Erzeugnissen aus Europa dramatisch verändert. Noch vor 20 Jahren betrug der Anteil der EG an der Versorgung des Weltmarkts 22 %; er ist heute auf 16 % gefallen. Die Schwellenländer haben ihren Anteil von 11 auf 28 % gesteigert. Ich beklage das nicht. Zu diesem Verschiebungsprozeß haben wir ja nicht zuletzt mit unseren Exporten in bezug auf den Anlagen- und Maschinenbau selbst beigetragen. Das muß man zunächst einmal einfach so feststellen.Außerdem — das füge ich hinzu — wollten wir ja eigentlich auch, daß das ausschließliche Versenden von Glasperlen aufhört. Wir wollten vielmehr den Level qualitativ hochstehender Industrieländer erreichen. Das ist das erste Ergebnis der Politik, die wir alle gemeinsam betrieben haben. Im übrigen sind wir nicht so viel schlechter geworden, aber die anderen haben mit unserer Hilfe aufgeholt.Aber ich sage auch, daß wir, wenn wir diesen Prozeß noch einigermaßen steuern wollen, erkennen müssen: Ein großer Teil der Probleme ist nicht nur in der Möglichkeit begründet, ein marktwirtschaftliches Ordnungssystem zu beschwören, sondern liegt auch darin begründet, daß in diesem Bereich Marktsysteme nicht funktionieren, weil sie durch vielfältige Eingriffe außer Funktion gesetzt worden sind.Deshalb bin ich davon überzeugt: Wenn wir jetzt nur sagen, das müsse sich eben nach marktwirtschaftlichen Regeln vollziehen, dann gehört ja nicht viel Prophetie dazu, zu erkennen: Wir können schneiden und schneiden und schneiden, und wir sind eines Tages bei Null.Wir müssen uns auf eine gemeinsame Politik verständigen. Ob man sie nun Industriepolitik oder Außenwirtschaftspolitik oder wie auch immer nennt, ist mir — entschuldigen Sie bitte — schnurzpiepegal. Wenn wir es nicht schaffen, für einigermaßen faire Wettbewerbsbedingungen auf den internationalen Märkten zu sorgen — ich will keine neue Mauer bauen, nachdem die alte Gott sei Dank weg ist —, wenn wir es nicht schaffen, in bezug auf die Importrestriktionen oder -kontingente zu einer handhabbaren Politik zu gelangen, dann können wir uns hier in vierwöchigem Abstand über alle möglichen Dinge echauffieren und Ordnungssysteme beschwören, aber wir werden unsere Probleme damit nicht lösen können.
Das ist nur in fairer Partnerschaft möglich.Ich sage aus der Sicht eines Stahllandes — aber ich glaube, ich kann insoweit für alle Stahlländer in der Bundesrepublik sprechen —: Es geht nicht darum, eine Mauer zu bauen, sondern darum, Kontingente an Zuwachsraten zu koppeln. Aber dann muß auch in etwa garantiert sein, daß diese Spielregeln eingehalten werden, denn sonst funktioniert das Ganze nicht.Meine Damen und Herren, ich weiß, wovon ich rede. Deshalb füge ich vor dem Hintergrund dessen, daß mir bewußt ist, daß ich diesbezüglich im Umkehrschluß angreifbar bin, was das Stichwort Kohle angeht, zu der ich mich jedoch bekenne, hinzu: Ich weiß auch, daß insoweit in der Diskussion noch ein Problem in bezug auf den Stahl besteht. Wenn wir auf den Subventionskodex pochen, dann taucht das Problem sofort im europäischen Verbund auf. Allerdings werden dann häufig Äpfel und Birnen miteinander verglichen; aber das ist in der politischen Diskussion nun einmal so. Trotzdem bin ich davon überzeugt, daß wir uns in beiden Bereichen, die weitgehend außerhalb von Marktsystemen liegen, verständigen müssen.Ich mache nun eine Bemerkung zu der Frage, die in der gegenwärtigen Debatte häufig eine so große Rolle spielt: Was ist denn nun in dem Instrumentenkasten enthalten, den wir jetzt öffnen müssen? Ist es nun das freiwillige Krisenkartell? Ist es die Notbremse des Art. 58? Ich sage Ihnen: Es ist eine Notbremse. Ich bin auch gar kein Anhänger von Art. 58.Nur, ich füge, damit wir uns wenigstens intellektuell über die Reihenfolge verständigen können, hinzu: Die Wirtschaftsminister und -senatoren aller Länder — egal, wer wo in dieser Republik regiert — haben sich noch im Herbst vergangenen Jahres, am 8. Oktober einstimmig darauf verständigt, den Bundeswirtschaftsminister zu bitten, in einer solchen nationalen Stahlkonferenz — das Wort kann man vielleicht austauschen, aber mir fällt auch kein besseres ein — auf bestimmte Prinzipien hinzuwirken. Ein Echo ist bisher ausgeblieben. Herr Kollege Rexrodt, das ist nicht nur Ihr Problem; denn so lange sind Sie noch gar nicht im Amt.
Herr Minister, entschuldigen Sie hitte. — Ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Ihr Rederecht ist hier zwar unbestritten, aber es hat geschäftsordnungsmäßige Konsequenzen,
wenn Sie Ihre Redezeit von zehn Minuten überschreiten, und dabei sind Sie gerade. — Bitte.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12037
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde mich bemühen, nicht zu einer unnötigen Verlängerung der Debatte beizutragen.
Aber ich glaube schon, daß das Thema von außerordentlicher Bedeutung ist.Am 8. Oktober ist ein einstimmiger Beschluß aller Wirtschaftsminister und -senatoren der Länder in der Bundesrepublik gefaßt worden. Seit Herbst vergangenen Jahres existiert eine dringende Aufforderung der deutschen Stahlindustrie gegenüber der EG-Kommission, einem freiwilligen Krisenkartell zuzustimmen. Was ist — als Antwort darauf— passiert? Nichts! Es wurde der Herr Confessor durch die Gegend geschickt.
— Wer auch immer. Er ist ja ein ehrenwerter Mann, und er hat sich auch bemüht, Informationen zu sammeln. Aber von Entscheidungen ist man damit noch weit entfernt.Ich will nicht den Schwarzen Peter hin- und herschieben, aber wenn man heute beklagt, daß der Ruf nach Art. 58 erschallt — als eine Notbremse —, dann muß ich den Schwarzen Peter wirklich zurückgeben. Was bleibt den Rufern — ich gehöre dazu; ich bekenne mich dazu — wohl anderes übrig, als nach Art. 58 zu rufen,
nachdem alle anderen nachrangigen Instrumente nicht genutzt worden sind, nachdem alle Appelle, wenigstens den Versuch zu unternehmen, wie ich es vorhin gesagt habe, mit einer Zunge zu sprechen, fruchtlos blieben? Das ist nicht versucht worden.Ich gebe ja zu, daß das schwierig ist. Natürlich gibt es unterschiedliche Interessenpositionen zwischen den Stahlunternehmen, zwischen den Ländern — wer wollte das leugnen? —, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, aber wenn man noch nicht einmal den Versuch unternimmt, auszuloten, ob es in bestimmten Grundpositionen eine gemeinsame Auffassung gibt, die man dann gegenüber dem jeweiligen Partner in anderen Ländern vertritt, dann ist das sehr, sehr fahrlässig — um es vorsichtig zu formulieren.
Wir müssen uns schon mit den Konsequenzen auseinandersetzen. Ich wollte das aus Gründen der Klarheit noch einmal ganz deutlich sagen.Herr Kollege Rexrodt, vielleicht überlegen Sie sich doch noch einmal, ob es nicht auch einen Vorteil haben könnte, nicht nur in getrennten Gesprächen — die sind ja auch wichtig — zu Ergebnissen zu kommen, sondern angesichts der schwierigen Positionen, die Sie gegenüber Brüssel und anderen wahrlich haben, auch den Versuch zu unternehmen, wenigstens in dieser Frage eine gemeinsame Rückendeckung durch Stahlunternehmen, IG Metall und Bundesländer zu erreichen.
Sie wären doch schon ein Stück weiter, wenn Sie eine solche Rückendeckung hätten.Es gibt doch überwiegend positive Signale. Wir wissen aus unseren Diskussionen und Gesprächen, daß eine solche Übereinstimmung — trotz aller Interessengegensätze — in hohem Maße besteht.Es ist kein Vorwurf, sondern eine nüchterne Feststellung, wenn ich sage: Ich kann Sie nur noch einmal dringend auffordern, den Versuch zu wagen — obwohl das auch schwierig ist —, über Unternehmensgrenzen hinweg ein stärkeres Maß an freiwilliger Kooperation zwischen den deutschen Stahlunternehmen herbeizuführen.
Ich bin mir im klaren: Erfolg ist nicht garantiert. Ich sage Ihnen ausdrücklich: Es darf Sie keiner haftbar machen, wenn es nicht funktioniert. So fair müssen wir miteinander umgehen. Nur sollte man sich nicht entgehen lassen, den Versuch zu machen, etwas zu unternehmen.
Der Versuch von einigen, nach wie vor auf Zeit zu spielen, ist sträflich und unverantwortlich. Wir können das jeden Tag in den Nachrichten hören und in den Zeitungen lesen: Hochöfen und Walzwerke werden geschlossen, Arbeitnehmer in Kurzarbeit geschickt oder in Arbeitslosigkeit entlassen. Ich glaube, wir sind es den Menschen schuldig, daß wir, egal, wie die Chancen stehen, alles versuchen, um in dieser wichtigen Frage einen Gegentrend einzuleiten.Letzte Bemerkung. Das Land Nordrhein-Westfalen ist von der Stahlkrise überproportional betroffen. Alle Zahlen, die gehandelt werden, betreffen mindestens zu zwei Dritteln Nordrhein-Westfalen. Das muß jeder wissen und daher Verständnis dafür haben, daß ich das so deutlich formuliere. Wir wollen uns — ich habe vor wenigen Tagen dazu eine Regierungserklärung in Düsseldorf abgegeben — nicht aus unserer Verantwortung stehlen. Das haben wir bisher nicht getan und werden es auch in Zukunft nicht tun. Allerdings muß man auch wissen, wer in diesem ganzen politischen Drama welche Verantwortung hat. Es ist Brüssel, es ist der Bund, und es sind auch die Länder. In erster Linie sind für die regionale Strukturpolitik wir verantwortlich. Allerdings ist die Kehrseite der Medaille regionaler Strukturpolitik — das können Sie in der Verfassung nachlesen — die sektorale Strukturpolitik. Daß Stahl ein Ausfluß von sektoraler Strukturpolitik ist, ist unter kundigen Thebanern nicht zu bestreiten. Und wer ist für sektorale Strukturpolitik zuständig? Die Antwort brauche ich Bundestagsabgeordneten wohl nicht zu geben; das weiß jeder von Ihnen.
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12038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Minister Günther Einert
Wir bemühen uns, für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur Akzeptanz zu finden und Mittel zu mobilisieren. Wir werden uns — ich will das gar nicht weiter ausführen — mit der Bundesregierung, mit allen Ländern und auch mit der EG mit der Frage zu beschäftigen haben, ob das, was vor wenigen Wochen und Tagen noch galt, nämlich die weitere Reduzierung der Gebietskulisse bei der Gemeinschaftsaufgabe Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur, vor dem Hintergrund dieser Dramatik noch so gelten kann. Das ist die erste Frage.Die zweite Frage ist, ob wir nicht gemeinsam gegenüber der EG darauf drängen sollten, daß etwa ein Programm neu aufgelegt wird, das nach meiner Einschätzung vor einigen Jahren außerordentlich erfolgreich war, nämlich Resider. Dazu haben die EG-Kommission und die betroffenen Länder jeweils 50 % in den Pott geworfen. Es geht also nicht darum, von anderen Leuten Geld zu bekommen; man ist im gleichen Umfang selber beteiligt. Kommen Sie also bitte nicht mit dem Schwarze-Peter-Argument.Ich glaube, daß wir nur dann mittelfristig einen Handlungsrahmen haben, wenn wir die Frage Gebietskulisse bei der Gemeinschaftsaufgabe und im Verhältnis zur EG, etwa bei Neuauflage des Programms Resider — das erfolgreich war und wieder sein kann —, in Angriff nehmen. Dann werden die wohl unausweichlichen Kapazitätsschnitte so bewältigt werden können, daß die Menschen zumindest mittelfristig das Gefühl und die Einsicht haben: Hier wird nicht über ihre Köpfe hinweg geredet, sondern auch gehandelt.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Minister Einert hat die nach unserer Geschäftsordnung für Aktuelle Stunden vorgesehene Redezeit für Minister von zehn Minuten weit überschritten.
Ich nehme an, daß sich deswegen der Herr Kollege Uwe Küster zur Geschäftsordnung gemeldet hat. — Bitte sehr.
Herr Präsident! Ich schließe mich dieser Feststellung an. Namens meiner Fraktion fordere ich entsprechend unserer Regeln, § 44 Abs. 3, eine allgemeine Debatte über diese Ausführungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geschäftsordnung eröffnet diese Möglichkeit. Die Fraktion der SPD hat also nach den Richtlinien für die Aktuelle Stunde in Verbindung mit .544 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung verlangt, daß über die Ausführungen die Aussprache eröffnet wird.
Damit schließe ich die Aktuelle Stunde und eröffne die Aussprache. Als erster hat unser Kollege Erich G. Fritz das Wort.
Ich setze einen Preis aus, Herr Schwanhold. Wenn Sie das bis zum Ende der Legislaturperiode herausgefunden haben, kriegen Sie ihn.
— Es ist nur für Herrn Schwanhold.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Einert, Sie haben zusammen mit Ihren Kollegen — wenngleich Sie in einem wesentlich besseren Ton — Rezepte vorgetragen, die in der Vergangenheit alle schon mit mehr oder weniger Erfolg erprobt worden sind, meist mit weniger Erfolg. In den 70er und 80er Jahren hatten wir vergleichbare Situationen. Ich kann mich gut erinnern, wieviel weiße Salbe damals in der Politik verteilt worden ist.
— Aber mit welchen Konsequenzen, Herr Urbaniak?Die Situation in der deutschen und der europäischen Stahlindustrie, in der wir heute sind, kann man durch schnell gefundene staatliche Eingriffe nicht beheben. In einem gebe ich Ihnen recht, Herr Einert; das ist die Beurteilung der Ausgangsbasis. Sie kann nur darin bestehen, daß die Politik versuchen muß, gemeinsam Wege zu finden. Da Sie sich hier anders verhalten haben als viele SPD-Vertreter im Landtag von Nordrhein-Westfalen, gestehe ich Ihnen ausdrücklich zu, daß Sie sich bemühen. Ich glaube, daß die gemeinsame Entschließung von CDU und SPD im Landtag eine gute Basis dafür sein kann. Sie spricht die Kernstücke dessen, was geschehen muß, an. Um so verwunderlicher war für mich, hinterher zu sehen, wie schnell man sich nach dieser Entschließung in der Öffentlichkeit anders verhalten hat. Es gab nur noch ein Thema, nämlich Art. 58. Das kann eigentlich nicht der richtige Weg sein.Wenn EG-weit 45 000 Arbeitsplätze zur Disposition stehen — danach sieht es aus —, haben wir als erstes zu akzeptieren, daß davon die deutsche Stahlindustrie— damit auch die im Ruhrgebiet — nicht verschont bleiben wird. Die Besorgnis, die das in der Bevölkerung, bei den Beschäftigten, bei den Unternehmen und an den Stahlstandorten auslöst, teilen wir. Sie gibt Anlaß, darüber nachzudenken, auf welche Weise dieser Situation am besten zu begegnen ist.
— Sie dürfen jedoch den Leuten nicht vormachen irgendeine Landesregierung oder Bundesregierung könne durch eine spezielle Handlung das Problem lösen. Dazu neigen Sie sehr. Sie schüren damit eine
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12039
Erich G. FritzArt der Auseinandersetzung, die dem Thema nicht angemessen ist
und das auch nicht zu Lösungen führt, sondern nur zu einer stärkeren Zuspitzung der Situation.
— Wenn Sie so aufgeregt sind, können Sie sowieso keine klaren Gedanken fassen, die uns weiterbringen. Also beruhigen Sie sich!
Seit vielen Jahren wird in der deutschen Stahlindustrie wie in der Politik beklagt, daß die enormen Anstrengungen um Kapazitätsanpassung und Modernisierung der deutschen Stahlindustrie nicht dazu geführt haben, daß sich diese Betriebe in Europa in einem fairen Wettbewerb bewegen könnten, daß sie ihre Chancen, die sie auf Grund der Veränderungen in den 80er Jahren haben, am Markt tatsächlich ausnutzen und für zukunftssichere Standorte und Arbeitspätze einsetzen können. Es ist auch jetzt noch nicht erkennbar, daß die Hauptanstrengungen der Europäischen Gemeinschaft auf die Herstellung eines solchen fairen Wettbewerbs gerichtet sind. Deshalb muß die Bundesregierung alles nur Mögliche tun, Herr Wirtschaftsminister, um in Brüssel Entscheidungen herbeizuführen, daß die Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Stahlmarkt, die es immer noch gibt, endlich beseitigt werden. Herr Haussmann berichtet Ihnen, Herr Rexrodt, jetzt wahrscheinlich über seine Erfahrungen in der Auseinandersetzung. Vorgänger aus anderen Regierungen können auch etwas dazu beitragen. Wir wissen alle, daß das nicht einfach ist, weil der traditionelle Umgang mit der Stahlindustrie in den einzelnen Ländern höchst unterschiedlich ist.Ich glaube, für die deutsche Stahlindustrie ist es unerträglich, daß im Ausland mehr oder weniger unverhohlen Überkapazitäten nach wie vor subventioniert werden, während bei uns der Anpassungsprozeß in den letzten Jahren deutlich unter dem Druck des Marktes vorangeschritten ist. Deshalb gibt es für Subventionen in Europa, wenn überhaupt, nur noch eine Grundlage und ein Argument, nämlich den Abbau von Kapazitäten. Dazu müssen sich die anderen Länder bereit finden. Dazu muß auch die Kommission deutlicher als bisher handeln.Wenn wir das fordern, heißt es aber gleichzeitig, daß die Bundesregierung nicht von sich aus Krisenmaßnahmen treffen kann, die unsererseits erneut einen — wie auch immer gearteten — Subventionsreigen eröffnen würden.
Deshalb müssen als erstes die Unternehmen ihre eigenen Vorstellungen jetzt auf den Tisch legen. Deshalb ist die Haltung des Bundeswirtschaftsministers deutlich zu unterstützen, ein Strukturkrisenkartell zur freiwilligen Produktionsbegrenzung zu erreichen.Wir wissen, daß die Unternehmen auf einem guten Weg sind, dahin zu kommen. Dabei kann die Politik doch aber zunächst nichts anderes sein als Moderator, nichts anderes als jemand, der diesen Prozeß möglichst sinnvoll ablaufen läßt und zeigt, daß man bereit ist, das, was am Rande dessen gelöst werden muß, auf sich zu nehmen und sich dafür zu engagieren.Die Verhältnismäßigkeit beim Umgang mit strukturellen Problemen, wie sie jetzt vor uns liegen, ist deshalb anders als früher, auch wenn Sie das nicht gern hören. Denn auch in Deutschland selbst haben sich die Rahmenbedingungen wesentlich geändert. Wir haben heute eine Situation, in der man nicht mehr einfach bestimmte Bereiche der Politik strapazieren und finanzielle Lasten zusätzlich auf sich nehmen kann.Wir müssen auch auf eines achten: Wir können in diesem Deutschland mit den neuen Bundesländern nicht mehr so tun, als könnten wir die Stahlprobleme in den alten Bundesländern genauso händeln wie noch vor drei Jahren. Die Vergleichbarkeit der Probleme zwischen Ost und West verlangt vielmehr, daß wir vergleichbare Maßstäbe beim Umgang mit diesen Problemen in den alten und neuen Bundesländern ansetzen. Deshalb ist das, was in bezug auf die ostdeutsche Stahlindustrie vorhin angesprochen worden ist, natürlich gleichwertig in diese Diskussion einzubringen.Herr Minister, Sie haben die Gemeinschaftsaufgabe angesprochen. Wir haben heute morgen im Unterausschuß „Regionale Wirtschaftspolitik " über den 22. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe diskutiert. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Strukturdaten, die diesem neuen Rahmenplan zugrunde liegen, in einigen Wochen vielleicht schon nicht mehr gültig sein werden.
Ich habe vom Vertreter des Wirtschaftsministers die Zusicherung erhalten, daß dieses Instrument erstens flexibel genug ist und zweitens auch flexibel genug gehandhabt werden wird, um daraus einen Beitrag zur Lösung der anstehenden Probleme zu gewinnen. Ich bin sehr froh darüber, obwohl ich weiß, daß wir bei all diesen Dingen auch davon abhängig sind, daß Brüssel schließlich ja sagt und damit einverstanden ist. Daß dort die Kriterien manchmal ganz anders sind als bei uns, haben wir in den letzten Jahren ja oft genug erfahren. Es müßte jedoch in diesem Fall auch in der EG zu erreichen sein, da sie selbst die Notwendigkeit sieht, den Kapazitätsabbau sozialpolitisch zu flankieren und für Umschulung und soziale Absicherung etwa 1 Milliarde DM zur Verfügung stellen dürfte.Auch die Frage, ob denn die Reserve der Montanunion in Anspruch genommen werden kann, die sich ja schließlich aus Beiträgen der jetzt betroffenen Unternehmen speist, sollte bei dieser Diskussion kein Tabu sein.Eine Beteiligung der Bundesregierung an flankierenden Maßnahmen und an der Förderung des Strukturwandels setzt nach meiner Meinung allerdings voraus, daß die in den Gemeinden und Kreisen wie
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12040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Erich G. Fritzauch im Bundesland Nordrhein-Westfalen an manchen Stellen immer noch zu besichtigenden Blockaden aufgehoben werden. Das größte Hemmnis für den weiteren Strukturwandel im Ruhrgebiet und damit für das Angebot neuer Arbeitsplätze ist nach wie vor die Tatsache, daß nur ein geringer Teil der alten Industrie- und Bergbauflächen bisher für eine Wiederverwertung als Gewerbe- und Industrieflächen zur Verfügung steht. Dazu hat nicht nur eine lange Zeit auf diesen Montanbereich starr fixierte Politik beigetragen, sondern — das muß man genauso deutlich ansprechen — auch ein völlig unzeitgemäßes Verhalten der Unternehmen, die im Besitz dieser Flächen sind. Da hat man selbst in Zeiten, wo man wußte, daß man diese großen Flächen nicht mehr brauchen wird, nicht daran gedacht, sich davon zu trennen und sie für die allgemeine Wirtschaftsförderung zur Verfügung zu stellen. Diese Sünden rächen sich jetzt.Ich weiß aber auch um die Schwierigkeiten, die Kommunalpolitik und Regionalpolitik im Zusammenhang mit diesen Betrieben gehabt haben und noch haben. Wenn wir also möglichst schnell die Bereitstellung neuer Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen erreichen und Impulse in diesem Bereich auslösen wollen, dürfen wir nicht gegenseitige Schuldzuweisung betreiben — die findet öffentlich überhaupt keine Akzeptanz —, sondern dann geht es nur darum, möglichst breit, von allen Seiten her an der Beseitigung solcher Blockaden zu arbeiten.
— Das habt ihr ja selbst verursacht. Ihr habt ja von Anfang an geplant, aus der Aktuellen Stunde eine Debatte zu machen. Und jetzt nutzen wir natürlich auch die Gelegenheit, das zu sagen, was wir wollen.
— Ich mache einen konkreten Vorschlag; vielleicht denken Sie einmal darüber nach.Wenn wir davon ausgehen, daß wir vergleichbare Instrumente in Ost und West anwenden wollen, sollte bei dem jetzt bevorstehenden Abbau von Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet auch einmal überlegt werden, ob nicht Instrumente etwa im Arbeitsförderungsgesetz, die speziell für den Osten gedacht sind, in dieser Situation auf den Westen übertragen werden können.
— Bleiben Sie doch ganz gelassen, und hören Sie erst einmal zu. Wir reden über zwei verschiedene Dinge. Sie haben wieder diesen Pawlowschen Reflex: Sie hören einen Begriff und meinen gleich, das wäre es, und reagieren entsprechend.
Ich denke daran, daß wir die Bundesregierung darum bitten sollten zu prüfen, ob man nach § 249h des AFG Arbeitskräfte, die freigesetzt werden, im Umweltschutzbereich im weitesten Sinne einsetzen kann, wobei das Arbeitslosengeld als Zuschuß gewährt wird. Damit könnte man einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Altstandorte freizusetzen, aufzuräumen, von Altlasten zu befreien und dadurch schneller für die Wirtschaftsförderung, für neue Arbeitsplätze zu recyclen. Ich glaube, das wäre allemal sinnvoller, als die Leute einfach in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Ich bitte, dieses Argument zu berücksichtigen.Wir sollten in dieser Stunde nicht den Fehler machen, den Eindruck zu vermitteln, die Politik habe Patentrezepte zur Lösung anzubieten. Das glaubt übrigens auch niemand.
Die Politik kann aber dazu beitragen, daß in einer sinnvollen Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Belegschaften, Regionen — bis hin zur Europäischen Gemeinschaft — wesentliche Akzente für eine Verbesserung gesetzt werden.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen zunächst die — hoffentlich — erfreuliche Mitteilung machen, daß sich die Geschäftsführer — nicht zuletzt auf meine Anregung hin — darauf verständigt haben, zunächst Zehn-Minuten-Debattenbeiträge zu leisten, damit wir die Sache etwas strukturieren.
In diesem Sinne erteile ich nunmehr dem Abgeordneten Meißner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Rexrodt, in Ihrem Beitrag ist mir Ostdeutschland etwas zu kurz gekommen. Ich möchte speziell die ostdeutschen Probleme noch einmal ganz konkret anschneiden. Herr Kollege Fritz, ich bedanke mich, daß Sie Ostdeutschland in dieser anständigen Art und Weise erwähnt haben; denn Sie kommen ja aus NordrheinWestfalen, wo die Situation ebenso dramatisch ist.Mindestens 1988, 1989 hätte die Bundesregierung auf die Rezessionserscheinungen am Stahlmarkt schon aufmerksam werden müssen. Die USA und andere traditionelle Stahlerzeuger haben jedenfalls in dieser Zeit flankierende Maßnahmen gegen die Stahlkrise eingeleitet. Die Auswirkungen dieser Bemühungen treffen die deutsche und natürlich die EG-Stahlindustrie zu Beginn des Jahres 1993 mit besonderer Dramatik. Außerdem hat die Bundesregierung durch die vereinigungsbedingte wirtschaftliche Erholung seit 1989 jede Vorsorge auf konjunkturelle Einbrüche nur halbherzig angepackt.Die heutigen Auswirkungen auf die traditionellen Stahlstandorte und auf Deutschland haben jedenfalls krisenhaften Charakter. Die Zahl der bedrohten Arbeitsplätze in der Stahlindustrie ist mit Sicherheit noch nicht abschätzbar; denn wie in keiner anderen Branche gibt es hier eine große Zahl von Nachfolgeerscheinungen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12041
Herbert MeißnerDie Auswirkungen auf die ostdeutschen Stahlwerker haben, wie Sie in den letzten Moanten sehen konnten, eine Dramatik erlangt, wie sie schlimmer nicht sein kann. Die vorsichtigen Standortkonzeptionen an den Stahlstandorten sind schon jetzt neu zu überdenken. Alle Standorte der Stahlindustrie in den neuen Bundesländern gehören zu den strukturbestimmenden Industriegebieten, die der Bundeskanzler als „industrielle Kerne" bezeichnet und die im „FKP" besondere Berücksichtigung finden.
— Oder FKK; gibt es auch.
Für Brandenburg ist der Erhalt des Stahlstandortes der Stahl AG in Eisenhüttenstadt unverzichtbar. Die mühsam von der Treuhandanstalt abgerungenen Flankierungen zur Sanierung wurden durch das brandenburgische Wirtschaftsministerium mit gewaltigen Kraftanstrengungen erreicht. Die EKO Stahl hatte noch am 1. Juli 1990 über 12 000 Beschäftigte. 836 Auszubildende gehörten damals zu diesem Standort. Ende Januar 1993 waren nur noch 4 632 Beschäftigte, 727 Dauerkurzarbeiter, 498 Umschüler, 317 ABM-Kräfte und 318 Auszubildende vorhanden.Die wesentliche Bedeutung aber liegt in der Peripherie es Standortes Eisenhüttenstadt: von der DDR als Monomonster in den märkischen Sand gesetzt und eine Stadt herumgebaut, weit und breit keine weiteren industriellen Kerne. Bis Februar 1993 entstanden im ehemaligen EKO 36 Auslieferungsbetriebe mit über 1 500 Beschäftigten. Weitere 20 Gewerbetreibende mit etwa 400 Beschäftigten siedelten sich ebenfalls auf dem EKO-Gelände an. Wenn also die Stahl AG in Eisenhüttenstadt die Tore schließt, dann müssen die eben genannten 56 Betriebe, da sie alle in absoluter Abhängigkeit von der EKO existieren, ebenfalls schließen. Sollte dieser katastrophale Fall dennoch eintreten, dann wird in Eisenhüttenstadt und Umgebung eine Arbeitslosigkeit erreicht, die auf die 50 % und darüber hinaus geht.Die Bundesregierung müßte gemeinsam mit der Treuhandanstalt hierfür die Verantwortung übernehmen. Keine Rede mehr von Solidarität in einem Solidarpakt. Jeder stirbt für sich allein und der Osten zuerst. Das wäre die Folge, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Abgeordneter Meißner, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ganschow zu beantworten?
Ja, Kollege Ganschow, bitte schön.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß vorrangig der Ministerpräsident des Landes Brandenburg die weitestgehenden Versprechungen in bezug auf EKO gemacht hat?
Natürlich macht der Wirtschaftsminister des Landes Brandenburg bei der EKO — —
— Auch der Ministerpräsident unternimmt große Anstrengungen, um den Standort der EKO zu erhalten. Das ist doch richtig. Was ist daran falsch?
Sie können noch einmal nachfassen, Bitte schön.
Meine Frage war, ob Ihnen bekannt ist, daß er die größten Versprechungen macht, nicht die größten Anstrengungen. Genau diese Frage hätte ich gerne beantwortet: was er selber außer seinen Versprechungen bisher tatsächlich auf Landesebene gemacht hat.
Herr Ganschow, ich habe heute mit dem Betriebsrat und mit dem Personalrat in Eisenhüttenstadt gesprochen. Die dort vorbereiteten Bemühungen, um den Standort zu erhalten, sind sehr ordentlich. Sie werden nach meiner Auffassung von der Landesregierung, also vom Ministerpräsidenten und auch vom Wirtschaftsminister sinnvoll unterstützt; nicht nur durch Versprechungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mittlerweile sind die Vorleistungen der Ostdeutschen mit einer weit mehr als doppelt so hohen Arbeitslosigkeit gegenüber dem momentanen Stand in den alten Bundesländern erschöpft. Wenn man sich auf die Nettoarbeitslosigkeit bezieht und ABM und Fortbildung herausläßt, dann kommt man an bestimmten Standorten mit Sicherheit schon auf die dreifache Arbeitslosigkeit gegenüber den Standorten in den alten Bundesländern. Dies kann es nicht sein; denn dann würde Ostdeutschland wirklich zuerst sterben. Es ist an der Zeit, daß die Bundesregierung mit der Angleichung der Lebensbedingungen für die Deut-. schen in Ost und West jetzt beginnt.
Danke schön.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen!
— Wer häufiger bei Europadebatten anwesend ist, sieht mich ständig. Das ist mein neues Gebiet. Ich will auch etwas zur europäischen und internationalen Situation sagen; denn es macht ja keinen Sinn, wenn wir so tun, als wäre die Stahlproblematik eine Einzelproblematik.Ich komme aus einem Wahlkreis mit überwiegend Textil-, Bekleidungs- und Holzindustrie. Wir haben
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12042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993
Dr. Helmut Haussmanndas hinter uns, ohne nationale Stahlkonferenz, ohne Subventionen aus Brüssel.
Und wenn hier viele Landwirte zuhören, dann stellen sie natürlich auch die Frage, wie die Politik mit Strukturproblemen umgeht.
Der Minister ist leider schon weg. Die Arbeitsteilung kann nicht so sein: Die Landesminister sind für die regionale Strukturpolitik zuständig, und die Bundesminister müssen die Struktur-, die sektorale, die Industriepolitik machen.
Insofern, glaube ich, führt der Weg an einigen bitteren Wahrheiten nicht vorbei. Früher sprach man von den „Stahlbaronen". Wenn die mobil machen, dann geht die Politik schon in die Knie, dann werden Subventionen erteilt, während Hunderttausende von Arbeitnehmern in kleinen und mittleren Betrieben sang- und klanglos den Bach hinuntergehen. Das kann nicht die Arbeitsteilung sein.
Mein größeres Verständnis gilt denjenigen in den neuen Bundesländern; denn dort ist die Situation wirklich hart. In Nordrhein-Westfalen weiß man seit vielen Jahren, daß ein unerbittlicher Strukturwandel bevorsteht. Ich will Herrn Einert auch sagen: Es kann nicht unternehmerische Aufgabe sein, einer bestimmten Branche zu sagen, die Bundesregierung sagt 2 % Wirtschaftswachstum voraus, damit habe ich in jeder Wirtschaftsbranche 2 % Wachstum. Es sind natürlich Strukturprobleme. Wer den Automobilbau kennt, wer weiß, was aus Umweltschutzgründen gefordert wird, wer die Gewerkschaften und ihre Arbeitszeitpolitik kennt, wer weiß, daß wir die höchsten Umweltauflagen in Europa haben, dem ist schon lange klar, daß die Stahlbranche unter diesen Produktionskosten in Deutschland größere Schwierigkeiten hat als in anderen Ländern.Deshalb will ich aus meiner Sicht davor warnen, das Heil bei nationalen oder europäischen Maßnahmen zu suchen. Europäische Maßnahmen laufen nach dem Motto: Wir sind generell gegen Brüssel, wir haben überhaupt etwas gegen Europa, aber wenn wir eine Krise haben, dann muß Europa helfen mit Interventionen, mit Sanktionen, mit Subventionen, mit anderen Dingen.Meine Damen und Herren, wenn wir heute als Petent in Europa anklopfen — das hat Herr Beckmann zu Recht gesagt —, werden wir nicht mehr die Quoten erreichen, die wir ursprünglich hatten. Und die eigentlich Leidtragenden werden die ostdeutschen Stahlunternehmen sein, weil sie natürlich nicht die entscheidenden Referenzmengen auf den entscheidenden Märkten nachweisen können. Insofern bitte ich hier um große Vorsicht.
Herr Abgeordneter, ich sehe, Sie sind bereit zu antworten.
Wenn mich ein Professor etwas fragen will, bin ich gerne bereit zu antworten.
Bitte schön.
Herr Haussmann, können Sie denn nicht erkennen, daß auf dem europäischen Markt etwa 120 Milliarden DM an Subventionen geflossen sind und die Deutschen davon vielleicht 5 Milliarden DM bekommen haben, daß diese Subventionszahlungen eine Hauptursache dafür sind, daß wir diese eklatanten Wettbewerbsverzerrungen haben und die deutschen privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen nicht dagegen ankommen können?
Ich nehme an, daß der Abgeordnete Haussmann nicht nur bereit ist, professorale Fragen zu beantworten, sondern auch bereit ist, eine Frage des Kollege Urbaniak zu beantworten. — Bitte schön.
Herr Kollege Haussmann, ich stelle normale Fragen. — Ist es nicht so, daß wir gemeinsam um den Erhalt der Stahlstandorte kämpfen? Können Sie sich daran erinnern, daß Mittel, die aus dem damaligen Stahlprogramm für Modernisierungs- und Investitionszwecke gezahlt worden sind, an die Bundesregierung bereits komplett oder bis auf Restbestände zurückgezahlt worden sind, und ist es nicht schändlich, wenn man in dieser Debatte den Eindruck gewinnen muß, daß Sie Ost gegen West ausspielen wollen?
Antwort eins: Der wichtigste Beitrag, den jede Bundesregierung leisten kann, ist — darauf hat Herr Rexrodt zu Recht hingewiesen —, ihren Einfluß geltend zu machen mit dem Ziel, daß es zu einer schärferen Subventionskontrolle kommt. Nur, wer wie ich damals im Stahlbereich mit italienischen Ministern zu tun hat, der weiß, daß das schnell gesagt ist, daß es aber in der rauhen europäischen Wirklichkeit nur sehr schwer zu erreichen ist.Zweitens möchte ich mich wirklich gegen Ihre Unterstellung verwahren. Ich habe ganz im Gegenteil nicht die ostdeutschen gegen die westdeutschen Betriebe ausgespielt, sondern ich habe gesagt: In Nordrhein-Westfalen ist die Problematik bekannt.
Mir liegt eigentlich mehr daran, daß wir auf diebesondere Situation der Stahlindustrie in den neuenBundesländern mehr Rücksicht nehmen. Wenn schon
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1993 12043
Dr. Helmut Haussmanndie alten Bundesländer mit ihren vielen Möglichkeiten, mit ihren Alternativen das nicht schaffen, wie sollen es dann die neuen Bundesländer schaffen?Ich will darauf hinweisen, daß nicht nur die Regierung eine Verantwortung hat, sondern natürlich auch die Unternehmen eine Verantwortung haben. Nach vier satten Jahren war vorauszusehen, daß es nicht nur zu konjunkturellen, sondern auch zu strukturellen Problemen kommt. Die müssen in der Marktwirtschaft von den Unternehmen gelöst werden. Das kann nicht nachträglich Brüssel oder Bonn übernehmen.
Mir liegt aber auch daran, den Regionen und den Menschen Mut zu machen und darauf hinzuweisen, wie die Alternativen aussehen und wie das in Hattingen lief. Wir erinnern uns — ich habe das ja selbst erlebt 1987 —: Als Thyssen-Stahl die Aufgabe der Roheisen- und Stahlerzeugung bekanntgegeben hat, war das ein Fanal, auch Richtung Ausland. Es gab Demonstrationen.Ich darf nun aus dem zitieren, was drei Jahre später der Wirtschaftsförderer der Stadt Hattingen sagte:In erstaunlich kurzer Zeit von gut drei Jahren zeichnet sich ab, daß die historisch gewachsene Stahlmonostruktur überwunden werden kann und sichere, moderne Arbeitsplätze mit einem breitgefächerten Produktionsangebot in einem zukunftsorientierten Branchenmix geschaffen werden können. Die Weichen für eine neue Unternehmensstruktur sind gestellt. Bei der Besiedlung der neuen Gewerbegebiete werden kleine und mittelständische Unternehmen bevorzugt. Den Arbeitsplätzen für Frauen wird Bedeutung beigemessen.
Mit diesen neuen Unternehmensgrößen ist Hattingen künftig unanfälliger gegen Strukturkrisen.Auch das gibt es in Deutschland, meine Damen und Herren.Insofern müssen wir einfach auch den Regionen, den Standorten Mut machen, in Alternativen zu denken; denn es gibt keine Bundesregierung, es gibt keine EG-Kommission, die diesen weltweiten Strukturwandel aufhalten kann. Wir sollten ihn sozial begleiten. Wir sollten von den Unternehmen ihre Produktionsplanung fordern. Die Bundesregierung sollte in einer schweren finanziellen Situation aber nicht Hoffnungen wecken, die sie wirklich nicht erfüllen kann.
Meine Damen und Herren, auch das Beispiel Maxhütte in Bayern zeigt, daß auf Dauer gegen den Markt nichts zu machen ist.
— Entschuldigung! Es war bester Wille vorhanden.
— Ich rede die Maxhütte nicht tot. Jedermann weiß vielmehr, daß es dort zu weiteren schweren Strukturanpassungen kommt,
daß sich die industriellen Miteigentümer zurückziehen werden und daß deshalb für den Staat letztlich die Frage ist, inwieweit er sich mit Steuergeld und zu Lasten von alternativen Arbeitsplätzen dort engagiert. Das ist nämlich das Ende von staatlichem Einfluß. Deshalb kann ich nur davor warnen.Wir können einen weltweiten Strukturwandel mit Steuergeld nicht künstlich aufhalten. Wir sollten in Alternativen investieren, wir sollten in Sozialpolitik und in neue Ausbildung investieren, aber nicht in die Erhaltung überkommener Strukturen.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Peter Reuschenbach das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland geht ins Jahr 1993 mit der seit vielen Jahren höchsten Arbeitslosigkeit und den düstersten Erwartungen, wie man sie selbst in dem reichlich geschönten Jahreswirtschaftsbericht dann wiederfinden wird. Man sollte eigentlich annehmen, daß die Bundesregierung vor diesem Hintergrund wirklich alles Menschenmögliche schnellstens unternimmt, um zu retten, was zu retten ist.Ich muß Ihnen offen gestehen, daß der Verlauf dieser Diskussion heute nachmittag — angefangen von den Äußerungen des Ministers bis hin zu einigen Äußerungen von Kollegen aus den Koalitionsfraktionen; ich beziehe auch die Wirtschaftsausschußsitzung von heute morgen ein — bei mir nicht den Eindruck vermittelt, daß schnellstmöglich, zügigst, detailgetreu und, soweit nur irgend möglich, in Gemeinsamkeit — nicht Entscheidungen nach dem Motto „Druck auf den Knopf, und alles steht" getroffen werden; darum geht es nicht — an der Formulierung, an der Präzisierung, an der Festlegung der Position gearbeitet wird, mit der man in dem einen Fall nach Brüssel geht und in dem anderen Fall, über den ich noch reden werde, im eigenen Hause Klarheit schafft.Das Ganze macht bei mir nach wie vor den gleichen Eindruck — er ist schon seit langem da — wie alles, was in wirtschaftspolitischer Hinsicht in den letzten Jahren geschieht: Es geschieht meist zu spät und zuwendig. Das ist bei dem seit einem halben Jahr andauernden Gerede über den sogenannten Solidarpakt ganz augenfällig. Wenn nun Anfang März das Kabinett seine vorläufige, vielleicht schließlich endgültige Entscheidung trifft, dann werden acht Monate vergangen sein, in denen man das Wort als Überschrift vor sich hergetragen hat,
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Peter W. Reuschenbachbis zu dem Zeitpunkt eben, zu dem man dann schließlich sagt, was man denn damit meint, und Entscheidungen in die parlamentarische Prozedur bringt.
— Nein, was die Opposition dazu sagt, ist nicht Sache der Regierung; das ist eine ganz andere Sache.Wer regieren will, der muß das auf diesem Feld und auf anderen auch tun.Wer über die Stahlkrise und ihre Konsequenzen nachdenkt, redet, berät, der kann das Stichwort Bergbau nicht vor der Tür lassen; denn beides zusammen— auch unter Einschluß der Zulieferer — ist die wirkliche Dimension dessen, über das im Augenblick zu reden ist, dem, so gut man kann, zu begegnen ist, demgegenüber Vorkehrungen zu treffen sind, zu dem auch Entscheidungen zu treffen sind.
Ein Teil ist Brüssel, ein Teil ist Bonn. Ich sehe nicht, daß die Schularbeiten gemacht worden sind.Die inzwischen eingetretene Stahlkrise beschert nicht nur zahlreichen Stahlstandorten und -regionen dramatische Arbeitsplatzverluste, sondern sie wird auch den Steinkohlenbergbau auf der ohnehin schon schiefen Ebene noch weiter nach unten reißen. Daran führt offensichtlich kein Weg vorbei, wenn es nicht schnell notwendige und auch mögliche Gegenmaßnahmen gibt. Alles spricht dafür, daß die Stahlkrise in diesem Jahr den Steinkohlenbergbau hohe Koksabsatzverluste und 3 500, vielleicht auch 4 000 Arbeitsplätze und im nächsten Jahr noch einmal 4 000 bis 6 000 Arbeitsplätze kosten wird. Angesichts dessen muß ich schon ganz offen sagen: Zu lesen, daß der Wirtschaftsminister in Potsdam vor zwei oder drei Tagen erklärt hat, die Wirtschaftslage und die Arbeitsmarktlage in der Bundesrepublik Deutschland sei nicht katastrophal, das haut einen schon vom Stuhl.
Das von dem für Wirtschaftspolitik, also für Arbeit zuständigen Minister zu hören — mit anderen Worten: Habt euch mal nicht so; das ist alles nicht so schlimm; das lassen wir unter Schönreden oder Herunterreden der Probleme am besten seinen marktwirtschaftlichen Weg gehen —, ist bitter. Es verbittert — so muß ich ganz offen sagen —, wenn man nicht das Gefühl hat, daß eine Sache und daß seine Aufgabe von ihm ernst genommen wird.
Wenn ich von den Arbeitsplatzverlusten im Bergbau spreche, die sich aus der Stahlkrise und aus der Einbuße beim Koksabsatz ergeben, dann geht es, wohlgemerkt, um 9 000 oder 10 000 über die 25 000 Arbeitsplätze hinaus, die nach den Ergebnissen der Kohlerunde von 1991 bis in die zweite Hälfte dieses Jahrzehnts vernichtet werden.Für einen beträchtlichen Teil der Kumpel bedeutet der zusätzliche Arbeitsplatzabbau den Fall ins Bergfreie, das wissen Sie; denn nach all den Jahren der Rationalisierung und des Arbeitsplatzabbaus ist jetzt wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem weitere Freistellungen nicht mehr mit den bewährten Mitteln der Anpassung sozial aufgefangen werden können. Jetzt drohen Kumpel an der Ruhr und an der Saar arbeitslos zu werden.Sie wissen, daß sich an manchen Plätzen das, was sich aus der Stahlkrise ergibt, und das, was in der Folge für den Bergbau durchschlägt, zu zum Teil dramatischen Größenordnungen kumuliert. Wenn man außerdem weiß, daß an einem Arbeitsplatz im Bergbau zugleich ein Arbeitsplatz außerhalb des Bergbaus hängt — aber das gilt für die Stahlindustrie auch vielleicht in noch größerem Umfange —, dann weiß man auch, daß allein der Absturz des Steinkohlenbergbaus in den nächsten Jahren insgesamt mehr als 50 000 Arbeitsplätze kostet. Wenn man das, was für den Stahl prognostiziert wird, dazunimmt, dann kommt man auf noch einmal zwischen 55 000 und 60 000 Arbeitsplätzen. Das heißt, hier wird über 100 000 Arbeitsplätze geredet, und das in einer Art und Weise, als ob sich die Opposition völlig grundlos aufrege und die Betriebsräte nicht solchen Krawall schlagen müßten, weil das ja alles gar nicht in die Zuständigkeit von Bonn falle, weil man eh nicht viel machen könne und in Brüssel auch nur schwer etwas zu erreichen sei. Der Eindruck, daß sich Politik engagiert, sich darum kümmert, ist nicht vorhanden.
Man sollte eigentlich meinen, daß eine der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtete Bundesregierung inzwischen Vorkehrungen gegen solche Konsequenzen getroffen hätte oder zumindest Vorstellungen über die Abfederung und Flankierung entwickelt hätte. Was den Bergbau angeht, muß ich Ihnen aber sagen: Beinahe das genaue Gegenteil ist der Fall. Noch jüngst ist der Bergbau gezwungen worden, die nationale Kohlereserve zurückzukaufen. Das war eine harte Zumutung, die unter Haushaltsgesichtspunkten der Bundesregierung angemessen erschien; aber sie bedeutet natürlich, daß vor dem Hintergrund der jetzigen Entwicklung seine Fähigkeit, aus eigener Kraft gegenzusteuern, noch geschwächt wird.In diesem SKP ist wie zum Hohn — sozusagen mitten in den Steilflug des Bergbaus hinein — die Kürzung des Anpassungsgeldes, des Revierausgleichs und der Zuschüsse für niederflüchtige Kohle in einer Gesamthöhe von zunächst beinahe 300 Millionen DM angekündigt worden. Das ist keine Vorsorge für das Umgehen mit einem ohnehin und zusätzlich durch die Stahlkrise ins Gedränge geratenen Sektor.Bis zur Stunde hat die Bundesregierung nicht zu erkennen gegeben, wie sie für den Rest der Laufzeit der Verstromungsregelungen den Kohlepfennig gestalten will, um den Rechtsansprüchen der Kohleverstromer endlich in vollem Umfange gerecht zu werden und tatsächlich die Verstromung der vereinbarten Menge zu gewährleisten.Die Bundesregierung, die das alles nicht tut, die sich darauf nicht vorbereitet, die in diesem Jahr nicht einmal vorbereitend zu erkennen gibt, wie sie die zwangsläufige Folgeregelung im Zusammenhang mit der Verstromung zu gestalten gedenkt, macht nicht den Eindruck, besonders engagiert zu sein.
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Peter W. ReuschenbachDas Allergefährlichste: Nachdem die Mikat-Kommission 1991 empfohlen hatte, für die Zeit nach 1995 den Kohlepfennig durch ein anderes Finanzierungsinstrument zu ersetzen, und die Bundesregierung sich dieser Tendenz ausdrücklich angeschlossen hat, gibt es bis heute auch nicht die Spur von Vorbereitungen für eine längerfristige finanzielle Neuregelung für die in der Kohlerunde 1991 vereinbarten Verstromungsmengen.Solche Vorausschau ist nicht zu erkennen, Vorarbeiten sind nicht zu erkennen, und dann wird so getan, als ob das, was an Problemen auf dem Tisch liegt, nicht den Namen Katastrophe verdiene. Wenn der deutsche Steinkohlenbergbau und die Kraftwirtschaft auch in diesem Punkt — ich meine: mit der Anschlußfinanzierung — noch eine Weile hängengelassen werden, dann wird sich die Kreditwirtschaft wohl bald überlegen, ob sie den Steinkohlenbergbau noch als kreditwürdig betrachten kann; denn auf so schwankendem Fundament sind unerläßliche langfristige Unternehmensplanungen im Bergbau nicht möglich.Zusammengefaßt: Auf der ganzen Breite der Wirtschaftspolitik, aber besonders bei Stahl und Kohle, um die es heute geht, herrschen nach meiner Überzeugung eine sträfliche Gleichgültigkeit und ein hohes Maß an Mangel an Detailtreue und Empfinden, zuständig zu sein, vor. Minister Rexrodt hat jüngst noch einmal ausdrücklich versichert, daß er dem Austoben der Marktkräfte, dem Prinzip „Laissez faire, laissez aller" auf jeden Fall Vorrang einräume. So betrachtet ist das sehr konsequent, was hier von mir beklagt wird. Neue Orientierung brauche das Land, so hörte man bei vielen Gelegenheiten. Das ist wohl wahr, aber jedenfalls seitens der Regierung ist nichts in Sicht.Der stärkste Unsicherheitsfaktor für die derzeitige und künftige Wirtschaftspolitik, insbesondere in den beiden Branchen, ist ganz offenkundig diese Bundesregierung selbst, und das haben die Menschen in Ostdeutschland, in der Stahlindustrie und im Bergbau eigentlich und wahrlich nicht verdient.
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Dr. Ruprecht Vondran das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier ist sehr Wichtiges zur Therapie und vorweg zur Diagnose gesagt worden. Ich möchte mich eigentlich auf einen Punkt konzentrieren: Was erwarten wir von der europäischen Wirtschafts- und Stahlpolitik? Wenn nicht alles täuscht, zeichnet sich in Brüssel derzeit eine Richtungsentscheidung ab, und wir könnten damit zufrieden sein. Das, was wir in unseren Diskussionen insbesondere im Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages, als Lösung skizziert haben, soll auch, so höre ich, nun europäisch eine Chance bekommen. Die Unternehmen sollen die Möglichkeit haben, in Kooperation miteinander, aber auch in Arbeitsteilung mit der Politik die Stahlkrise zu bewältigen.Die EG-Kommission entschließt sich spät, vielleicht sogar zu spät — oder sicher sogar zu spät — zu handeln. Im Ministerrat am 25. Februar sollte die Bundesregierung sie in dieser Absicht, nun endlich zu handeln, nach Kräften unterstützen.
— Insbesondere gegenüber Spanien. Ich meine, wir sollten auch hier noch einmal bekräftigen, daß es keine Lösung für ein individuelles Subventionsproblem in einem Land geben kann. Es kann nur Lösungen geben, die gleichzeitig flächendeckend die Interessen aller EG-Stahlländer berücksichtigen.Aber, meine Damen und Herren, es wäre, wenn ich nach Brüssel schaue, falsch — jednfalls am heutigen Tag —, den Tag vor dem Abend zu loben. Entscheidend kommt es nun auf die Ausgestaltung an, und dazu möchte ich ganz knapp das Wichtigste in sechs Punkten sagen.Erstens. Ein Konzept, wie immer es aussieht, darf nicht allein darauf zielen, den Erlösverfall zu stoppen. Die Aufgabe besteht vor allem darin, die Marktstruktur zu bereinigen. Das ist hier verschiedentlich betont worden, und ich möchte mich dem in aller Deutlichkeit anschließen. Bei allem, was geschieht, muß diese Doppelaufgabe — Lösung der konkreten Probleme im Markt beim Erlösverfall sowie Lösung des Strukturproblems — vor Augen bleiben.Zweitens. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Strukturen zu straffen bedarf großer Gestaltungskraft, und daran wird es den Unternehmen fehlen, wenn sie noch länger an Substanz verlieren. Rechtzeitig zum zweiten Quartal muß die Politik die Voraussetzungen für eine Wende zum Besseren schaffen.Drittens. Viel spricht für pragmatische Lösungen, für kollektive Vernunft. Aber in ein „clair-obscur", in ein juristisches Dämmerlicht, dürfen die Unternehmen deswegen nicht gestellt werden. Wenn die Politik von Ihnen erwartet, gemeinsam Wege aus der Krise zu finden,
darf sie ihnen kein Rechtsrisiko aufbürden. Vor allem nach den harten Abmahnungen, die es in letzter Zeit aus der Wettbewerbsabteilung der Europäischen Kommission gegeben hat, ist nun Rechtssicherheit in Zukunft unverzichtbar.Viertens. Subventionen haben in Europa einen Anpassungsstau bewirkt. Ihn heute aufzulösen ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch teuer. Nur zu einem Teil, wie wir wissen, kann die öffentliche Hand das leisten. Die Selbstheilungskräfte der Branche sind gefordert. In einem solchen Prozeß müssen Leistung und Gegenleistung einander entsprechen.Wer seinem Konkurrenten gegen alle übliche Lebenserfahrung, meine Damen und Herren, helfen soll, überständige Kapazitäten zu schließen, Sozialpläne zu finanzieren, die notwendigen Abschreibungen vorzunehmen oder sogar Ersatzarbeitsplätze zu schaffen, muß die Gewißheit haben, daß er einen sicheren Gegenwert in Form einer höheren Auslastung dafür erhält. Die Politik muß dafür sorgen, daß
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Dr. Ruprecht Vondranein solcher unternehmerischer Leistungsaustausch ein echte Chance bekommt.Fünftens. Ohne wirksame, wenn auch zeitlich begrenzte Außenflankierung geht das nicht. Wenn osteuropäische Billigimporte hereinschwappen, durch amerikanischen Protektionismus verdrängte Lieferungen bei uns einen Markt suchen, alle Ausländer beliebig die Lücken füllen können, die heimische Produzenten zur Marktbereinigung schaffen, so ist ein Scheitern unserer Bemühungen heute schon abzusehen. Wer zahlt schon einem Konkurrenten Ausgleichsbeträge in Millionenhöhe, wenn ein Dritter leistungsfrei alle Vorteile einer Angebotsverringerung abzuschöpfen vermag?An dieser Stelle, meine Damen und Herren, entscheidet sich, ob Brüssel, aber auch ob die Bundesregierung es ernst meinen mit der Restrukturierung der Stahlindustrie.
Schließlich sechstens. Vor Kurzatmigkeit sei gewarnt. Sechs Monate oder ein Jahr mögen genügen, um die Bereitschaft zur Kapazitätsbereinigung nach allen Seiten hin auszuloten. Um die in diesem Zeitraum zu schließenden Kooperationsvereinbarungen umzusetzen, sind jedoch mehrere Jahre notwendig. 30 Millionen Tonnen Stahlkapazitäten zu räumen und für die dort Beschäftigten Lösungen zu finden, das ist wahrhaft keine kleine Aufgabe. Nur wenn die Branche über mehrere Jahre verläßliche Rahmenbedingungen bekommt, kann sie die großen Mittel mobilisieren, die zur Strukturverbesserung notwendig sind.Meine Damen und Herren, die Aufgabe ist schwierig. Sie ist lösbar. Aber ohne strikte Subventionsdisziplin — das hat fast jeder meiner Vorredner hier betont — geht es in keinem Fall. Woher soll der Anreiz kommen, freiwillig Anlagen stillzulegen, wenn die öffentlichen Kassen den defizitären Betrieb bezahlen? Halbherzige Entscheidungen helfen hier wie auch sonst nicht weiter. Sonst schaffen wir mit dem, was in Brüssel im Augenblick vorgeht, nur eine Vorstufe zur Anwendung von Art. 58 des Montanvertrages. Dann kommen wir, ob wir es wollen oder nicht, auf diese Rutsche; da bin ich sogar mit den Sprechern der Opposition ganz, einig. Am bitteren Ende wird dann doch die „manifeste Krise" ausgerufen. Die große Mehrheit hier im Haus — und ich schließe mich da mit ein — hält nicht viel davon. Völlig zu Recht! Denn ein solches Stück Planwirtschaft würde im wesentlichen nur eine Verteilung des Mangels bedeuten.Dem Versuch, mit einem unternehmerischen Konzept den Anpassungsstau aufzulösen, würde dann, wenn das schiefgeht, was wir uns in Brüssel vornehmen, der Makel des Scheiterns aufgebrannt. Er würde ihn lange Zeit behalten. Ich möchte mich an dieser Übung jedenfalls nicht beteiligen.Ich bedanke mich herzlich.
Ich erteile nunmehr dem Herrn Abgeordneten Eberhard Urbaniak das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Wirtschaftsminister Einert war eben raus, jetzt ist er wieder da. Der Wirtschaftsminister Rexrodt ist raus und ist weg. Ich wollte nur sagen, weil Herr Haussmann gesagt hat,
Herr Kollege Einert sei weg: Er hat wohl ein Gespräch mit dem Bundeswirtschaftsminister geführt. Das nur zur Klarstellung dieser Situation.Ich hätte Herrn Rexrodt gern gesagt — wir waren heute morgen auf einer großen Veranstaltung der IG Metall in Dortmund bei der Hoesch AG —, daß wir mit den Menschen reden. Ich weiß auch, daß der Kollege Lambsdorff damals zu den Belegschaften gegangen ist und sich mit ihnen auseinandergesetzt hat.Also, Herr Rexrodt hat hier ein breites Operationsfeld, wenn er ankündigt, sich auch den Belegschaften zu stellen und, wenn es denn da sein sollte, ein Konzept vorzutragen, das den Menschen draußen in den Betrieben und Unternehmungen Hoffnung gibt. Wir brauchen Hoffnung und Mut in den Montanregionen. Das ist ganz besonders wichtig.
Ein weiterer Punkt, der genannt worden ist: Die Unternehmensvorstände hätten selbst zu entscheiden; in guten Konjunkturjahren dürfe man für die Zukunft nicht blind werden. Es verbaut aber auch nichts, wenn die Bundesregierung in ihrem jährlichen Jahreswirtschaftsbericht auf solche Situation aufmerksam macht, auch für Branchen, die anfällig sind und sich in einer konjunkturell guten Situation befinden. Das ist durchaus möglich und erweckt nicht den Eindruck, in einem solchen Bericht würde alles nur so positiv dargestellt. Ein mahnendes Wort ist hier wohl erlaubt.Meine Damen und Herren, 45 000 Arbeitnehmer werden wohl, wie wir aus den Prognosen der Europäischen Gemeinschaft hören, „über die Klinge springen". Das muß einen natürlich aufregen. Denn alle Stahlstandorte in der Bundesrepublik — egal, welchen wir nennen — werden davon sehr hart betroffen sein.Damals haben wir beim Stahlprogramm den Art. 58 des Montanvertrags zur Anwendung gebracht. Da hat er funktioniert. Und das Stahlprogramm, das wir gemacht haben, hat funktioniert und sozusagen für 15 Jahre gehalten. Das ist schon eine langfristige Perspektive. Subventionen werden bei uns alle zurückgezahlt. Dieser Prozeß läuft unablässig.Also sage ich: Hätten Sie sich auf das gestützt, was wir Ende der 70er Jahre gemacht haben, dann hätten Sie schon eine Konzeption, mit der man vorankommen könnte.Nun soll der Art. 58 nicht angewendet werden, aber der Art. 56, der ja jetzt noch funktioniert. Der muß aber mit all den Möglichkeiten und den Auswirkungen angewandt werden, die sich daraus ergeben. Denn es sollte das Ziel unserer Politik sein — und das ist ein gutes Ziel —, betriebsbedingte Kündigungen der Kollegen in den Stahlunternehmen und im Bergbau zu
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Hans-Eberhard Urbaniakvermeiden. Der Art. 56 gibt dazu Möglichkeiten her. Wir werden uns dafür besonders einsetzen.
Wenn ich dies erwähne, meine sehr verehrten Damen und Herren, dann sage ich: Dieses ist eine Forderung der SPD-Bundestagsfraktion. Die angekündigten Mittel, die Herr Bangemann wohl in die Presse hineingebracht hat und von denen heute zu lesen ist, mit der einen Millliarde, die dies flankieren soll, müssen voll ausgeschöpft werden. Hier haben wir einen Titel, den wir auch im Haushalt national begleiten müssen.Aber Sie müssen auch sagen, was für Ersatzarbeitsplätze gemacht wird, welche Vorstellungen Sie haben, wie man in diesen Bereichen Perspektiven schafft, Arbeit gibt, moderne Technologie zur Anwendung bringt. Davon haben wir heute zunächst einmal gar nichts gehört.
Seinerzeit hatten wir das Stahlprogramm mit den Instrumentarien versehen; Peter Reuschenbach aus dem Bereich der Wirtschaftspolitiker der SPD hat dies gerade vorangebracht. Das hat ganz gut funktioniert. Also sollte sich der Herr Rexrodt diese Unterlagen — er lernt ja noch — gründlich ansehen; dann kommen wir schon einen Schritt weiter.In diesem Zusammenhang ist für uns wichtig — und darin liegt, Kollege Haussmann, der Unterschied, wenn die Bedingungen jetzt auch anders sind —: Was wir an Erfahrungen gesammelt und damals politisch erreicht haben, war die Sicherung von Stahlstandorten. Dies ist jetzt aber in so großer Gefahr, daß ganze Regionen, wie wir mit unseren Kumpels zu sagen pflegen, geschliffen, plattgemacht werden, ohne das erkennbar ist, wie es mit der Beschäftigung weitergeht.Darum sage ich hier: Wenn die sozialdemokratische Bundestagsfraktion fordert, den Art. 56 des Montanvertrages voll auszuschöpfen, dann sollte die Bundesregierung alles tun, uns dabei zu unterstützen. Denn es muß sichergestellt werden, daß die anvisierten zusätzlichen EG-Mittel nicht nur zur Refinanzierung des Bundeshaushalts verwandt werden, sondern den Unternehmen bzw. den betroffenen Arbeitnehmern voll zur Verfügung stehen.Darum sage ich Ihnen konkret, was wir für die soziale Flankierung zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen verlangen. Wir müssen die 13. Richtlinie, die sich auf Abfindungen konzentriert, im wesentlichen ausweiten. Wir müssen die Übergangsbeihilfen, die sich aus der 14. Richtlinie ergeben, im Beihilfesatz erheblich nach oben bringen. Hier werden wir von der Europäischen Gemeinschaft Unterstützung erfahren. Wir müssen auch durch das Absenken des relativen Austrittsalters, das heute durch Sozialpläne gesichert ist, von 55 auf 52 Jahre die Möglichkeit schaffen, die Jüngeren zu halten. Wir müssen ebenfalls das Wartegeld ausbauen und erhebliche Prozentpunkte dazulegen.Es ist notwendig, daß Beihilfen zur Qualifizierung, die in solch einem Konzern, der Stahlbetriebe hat, gegeben werden können, nach Art. 56 Abs. 2 vorangetrieben werden, damit wir diese erfahrenen Arbeitskräfte nicht verlieren. Und wir müssen die Anwendung des Stellvertreterprinzips hier selbstverständlich durchsetzen in Verbindung mit §§ 128 und 242 AFG. Das ist besonders wichtig. Ich glaube, dann kommen wir in dieser Frage der sozialen Flankierung einen Schritt weiter.Heute morgen ist in der großen Veranstaltung der Betriebsräte und Vertrauensleute der IG-Metall — das hat mich besonders betrübt — eine Persönlichkeit besonders lautstark begrüßt worden: der Arbeitsamtsdirektor.
Und wissen Sie, was die Kumpels gerufen haben? „Das wird unser neuer Chef!"Das ist keine gute Aussicht. Unsere Leute bei Kohle und Stahl haben dies nicht verdient.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Peter Ramsauer.
Herr Kollege Schreiner, heute hätte ich Ihnen einen besseren Einfall vergönnt als immer wieder die gleichen Kalauer und Varianten davon.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Der Stahl wird zur Qual", so schrieb heute eine bekannte süddeutsche Zeitung in ihrem Kommentar zum Thema des Tages. Und ich muß sagen: recht hat sie. Denn wie auf vielen anderen politischen Feldern muß man leider auch in der Stahlpolitik feststellen: Es rächen sich viele Sünden der Vergangenheit. Der Glaube, man könne Probleme des Arbeitsmarkts und einer prestigeträchtigen Branche lösen, indem man das Rad des Strukturwandels bremst und überkommene Strukturen konserviert, hat getrogen.Als junger Politiker betrachte ich die Dinge heute sehr unbefangen und habe im Grundsatz dieselben Strukturprobleme, wie wir sie heute in der Stahlbranche erleben, auch in der Branche schon kennengelernt, aus der ich stamme, gekennzeichnet durch Überkapazitäten bei einem homogenen Massenprodukt, mit der Charakteristik, daß das Überangebot wegen einer hohen Preis-Nachfrage-Elastizität unmittelbar auf den Preis durchschlägt. Dies zeigt sich auch daran, daß der Stahlpreis seit 1990 um rund 10 % gesunken ist.Ich komme aus der Mühlenwirtschaft. Diese Branche, Herr Kollege Haussmann, ist ein weiteres Beispiel dafür, was Sie angesprochen haben, nämlich ein Beispiel für die vielen Wirtschaftszweige, die einen verheerenden Strukturwandel durchmachen mußten, denen ein verheerender Strukturwandel zugemutet wurde, ohne daß sie von einer öffentlichen Hand auch
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Dr. Peter Ramsauernur eine einzige Mark an Strukturhilfe bekommen hätten.
Mit einem einzigen Unterschied — ich nenne nur einen, und zwar den politisch entscheidenden Unterschied —, daß es sich in der Mühlenwirtschaft beispielsweise nur um wenige tausend Arbeitsplätze — größenordnungsmäßig 5 000 bis 10 000, früher vielleicht 20 000 — gedreht hat, im Gegensatz zu den Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, die natürlich auch ein ganz anderes politisches Potential ausmachen.Ich halte es deshalb für wenig hilfreich, meine Damen und Herren, heute nur das große Klagelied zu singen. Denn man hätte schon längst merken oder von seiten des verantwortlichen Managements in der Stahlindustrie zugeben müssen, daß manch noch glänzende Fassade nur an morschem Gebälk hängt.
Ich wehre mich auch dagegen, hier die Schuld allein auf die Politik schieben zu wollen, Herr Kollege Jens. Ich wehre mich deshalb auch gegen diesen pauschalen Vorwurf, gegen diese pauschale Schuldzuweisung an die Politik schlechthin.Wie auch immer, in einer solchen Aktuellen Stunde der Wahrheit müssen auch unbequeme Schlußfolgerungen gezogen werden. Sie lauten:Erstens. Weitere Subventionen und der internationale Subventionswettlauf lösen die Strukturprobleme der Stahlbranche nicht, sondern vertagen und verschärfen sie nur. Politiker haben zwar mit Subventionen immer wieder scheinbare Rettungsdienste geleistet, sich aber dadurch an der heutigen Lage natürlich etwas mitschuldig gemacht.Herr Jens, jetzt fällt mir noch ein ganz besonders prominenter Landespolitiker, ein Ministerpräsident von Ihnen, ein, bei dem eine Hauptbeschäftigung darin besteht, Milliarden in Bonn abzuholen, um sie zu Hause in die verkrusteten Strukturen hineinzustekken.
Diese Vorwürfe, die Sie erheben, betreffen also auch diesen Genossen.
Wer auf Dauer rote Zahlen schreibt — hören Sie zu, jetzt kommt wieder ein Satz, den Sie bestimmt kritisieren wollen —,
der muß die Segel streichen und darf nicht die Strukturen auf Gedeih und Verderb zementieren und alle Standorte bewahren, wie Sie es gefordert haben, Herr Kollege Henn. Es gibt nämlich auch Erfolgsstorys in der deutschen Stahlindustrie. Man würde genau diesen nicht gerecht werden, wenn gleichzeitig das Versagen andernorts mit Subventionen honoriert würde.
Drittens. Allein eine — wenn auch für alle Beteiligten schmerzhafte — EG-weite Strukturanpassung mit Arbeitsplatz- und Überkapazitätsabbau beseitigt die Ursachen des Übels. Ich betone: EG-weit und unter gleichen Bedingungen. Ich würde es verurteilen, wenn etwa in Spanien im Rahmen der Restrukturierung der dortigen Wirtschaft auch die dortige Stahlindustrie aus EG-Fonds — hier fällt mir der unselige Kohäsionsfonds ein — subventioniert würde, während wir in Deutschland die Stahlindustrie im Regen stehen ließen.Viertens. Ich begrüße und unterstütze dabei die beim kürzlichen Maastrichter Krisentreffen bekundete Absicht der Stahlindustrie, selbst die Initiative zu ergreifen und Kapazitäten zurückzufahren. Es darf nicht mehr den ewigen Ruf nach dem Staat geben, sondern Eigeninitiative ist gefordert.Fünftens. Wir sollten dort Hilfestellungen geben, wo Unternehmen in der Krise mit Eigeninitiative neue unternehmerische Wege aus der Krise suchen. Ich begrüße deshalb den hoffentlich erfolgreichen Versuch der bayerischen Maxhütte, im Bereich des Autorecyclings einen neuen Weg zu finden.
— Nicht ewig nach dem Staat rufen, sondern nach neuen Wegen suchen, das ist genau das, was wir auch der Landwirtschaft zumuten. Auch sie ist vom Kollegen Haussmann angesprochen worden.
Wir sagen der Landwirtschaft ja auch dauernd: Wir können euch keine Bestandsgarantie geben. Sucht nach neuen Wegen. Verhaltet euch unternehmerisch, verhaltet euch marktorientiert.
Das ist der Punkt. Heraus aus der Staatswirtschaft, weg von dem ständigen Ruf nach der Politik und statt dessen Entwicklung der eigenen Initiative. Ich glaube, daß dieser Weg in Sulzbach-Rosenberg erfolgreich beschritten wird.
Dennoch möchte ich die Politik nicht ganz aus der Verantwortung entlassen. Wesentliche Ursachen, an denen politische Entscheidungen zumindest nicht ganz unbeteiligt waren, haben nämlich den heutigen Existenzkampf der deutschen Stahlindustrie maßgeblich mitbewirkt. Dazu zwei gravierende Beispiele:Beispiel 1: Die hohen Energiekosten für Strom und Kohle. Kohle aus osteuropäischen Ländern ist beispielsweise frei Anschlußgleis Bayern um ca. 100 DM pro Tonne günstiger als die gleiche Menge Kohle aus dem Ruhrgebiet. Hinzu kommt auch noch, daß die tschechische Kohle wegen ihres geringeren Schwefelanteils besser als die heimische ist.Beispiel 2: Die hohen Personalkosten. Hier sind die Tarifpartner gefragt. Während in der deutschen Stahlindustrie die Personalkosten bereits auf 22 % der gesamten Produktionskosten gestiegen sind, liegen sie in den osteuropäischen Ländern unter Berücksich-
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Dr. Peter Ramsauertigung der dortigen geringeren Produktivität bei ganzen 4,4 %.
— Man muß das schon im Vergleich sehen.
— Kollege Schmidt, man muß das schon so sehen. So sind nun einmal die ökonomischen Fakten.
Diese beiden Punkte, Personal sowie Energie, sind also allein schon ein ganz klarer Vorteil für osteuropäische Länder, weswegen man diesen Ländern insofern eigentlich auch keine Dumpingpreise vorwerfen kann.
Als Politiker müssen wir das Unsere dazu tun, um angesichts der international offenen Märkte die deutsche Stahlindustrie dort von solchen Fesseln zu befreien, wo dies möglich ist. Wir müssen der Stahlindustrie Reaktionsspielräume geben. Hier muß auch die deutsche Steinkohle ihren Beitrag leisten; denn auch das Kohledilemma läßt sich mit einem kranken Stahlesel nicht in alle Zukunft schleppen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungsvertreter und die Vertreter der Regierungsparteien erinnern mich an die Feuerwehrleute, die an den Brandherd kommen und sagen: Oh Gott, da kann man nichts mehr machen. Man kann nur noch kontrolliert abbrennen lassen. — Das scheint mir die Botschaft zu sein, die Sie den Menschen geben wollen. Sie vertreten die Belange der Standorte und der Menschen so, wie sich andere die Beine vertreten.
Das ist eine Dynamik, als wenn Sie Barbitursäure getrunken hätten.Die Leute draußen bei Kohle und Stahl erleben jetzt seit zehn Jahren eine harte Anpassungskrise. Die Betriebsräte, die Vertrauensleute und die Belegschaften, die hier seit Jahren bangen, können ein bißchen mehr Dynamik verlangen, wenigstens soviel, wie sie sonst bei Fußballspielen oder anderem aufbringen. Ich glaube, es ist unerhört, wenn man von Ihnen erfährt, mit welcher Kälte und Gefühllosigkeit Sie die Belange der Menschen draußen im Lande vertreten.
Davon geht keine Botschaft aus. Man kann und muß von der Bundesregierung erwarten, daß sie den Menschen in diesen Monaten Solidarität vermittelt und nicht sagt: Ihr seid eh verloren. Was Sie hier singen,sind Requiemgesänge. Das sind im Grunde Abschiedsveranstaltungen, aber das ist keine Botschaft, daß es weitergeht, daß man mit den Menschen kämpft und etwas anderes macht.
Die Politik hat eine Mitverantwortung. Die heutigen Zustände sind auch durch Untätigkeit und durch Tätigkeit der Politik mit entstanden. Die unkontrollierte Öffnung der Grenzen hat auch den Verlust von Arbeitsplätzen zu Folge. Wenn man sich hier zu einer dosierten Entwicklung entschieden hätte, hätte man manches auf die Zeitschiene setzen können. Aber so haben Sie die Leute sozusagen in einer Welle, so als wenn eine Schleuse geöffnet wird oder ein Staudamm bricht, freigesetzt und der Entwicklung freien Lauf gelassen. Das ist nicht das, was die Menschen von der Politik in dem Bereich erwarten durften. Sie konnten einen kontrollierten Strukturwandel erwarten mit einem Begleitprogramm, mit alternativen Arbeitsplätzen. Wir wissen, weder an den alten Stahlstandorten noch an den jüngeren sind entsprechende Begleitarbeitsplätze entstanden. Ich komme nur auf das Thema Maxhütte zu sprechen. Herr Haussmann, ich finde es unverschämt, daß Sie sich hier hinstellen und sagen: Ich habe es euch ja schon immer gesagt. Da ist nichts zu retten.
Gehen Sie mit mir in die Maxhütte, und schauen Sie sich die Leistungsdaten an, dann wird Ihnen Ihre Aussage im Halse stecken bleiben.
Man kann sich nicht einfach hinstellen, alles kaputtreden und den Leuten sagen: Bitte schön, ihr seid schon verloren.
Da lobe ich mir den Kollegen Ramsauer. Wir sind wirklich mit der Staatsregierung dabei, eine Alternative zu finden.
Wir erwarten auch von der Bundesregierung Unterstützung, damit das Automobilrecyclingkonzept vorankommt. Aber auch da schläft die Regierung. Sie wartet und wartet. Seit Monaten könnte die Verordnung da sein. Aber was tun Sie hier? Sie schieben das immer wieder auf die Zeitachse, und es geschieht nichts, damit ein gewisser Druck auf die Automobilindustrie ausgeübt wird. Kommen Sie mit, wir gehen miteinander zur Maxhütte. Dann reden wir miteinander hinterher auf einer Pressekonferenz anders, damit die Menschen auch eine Botschaft haben. Sie haben kein Recht, die Leute um ihre Arbeitsplätze zu bringen und die Menschen totzureden.Meine Damen und Herren, wir erwarten, daß in der Auseinandersetzung auch innerhalb der EG nicht nur gesagt wird: Wir sind kleine Sünder, die anderen sind große Sünder. Wenn die anderen so große Sünder
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Ludwig Stieglersind, dann erwarte ich aber auch, daß hier die kleinen Sünder sozusagen ins Fegefeuer gehen und die anderen dorthin gehen, wo sie hin müssen. Es geht nicht an zu sagen: „Ob es gerecht oder ungerecht ist, bei beiden wird in gleicher Weise reduziert", und daß sich die Großen in Eurofer verständigen und die Kleinen dabei auf der Strecke bleiben. Hier hat die Politik eine gewisse Mitverantwortung. Hier wird vom Bundeswirtschaftsminister mehr erwartet, als immer nur kalte Reden zu halten und immer nur die unbeteiligte Leberwurst zu spielen.Meine Damen und Herren, wir erwarten, daß flankierend etwas unternommen wird, daß z. B. das Stahlstandorteprogramm wieder aufgelegt wird, das ja Ende dieses Jahres ausläuft, damit wirklich Alternativen geschaffen werden.Wir haben heute im Unterausschuß für Regionalpolitik vernommen, daß wir im Grunde, was die Wirtschaftsförderung im regionalen Bereich anbetrifft, fast alle Hoffnungen fallenlassen können. Jedenfalls sind keine Instrumente da. Wenigstens da könnte man von Ihnen erwarten, daß Sie ein bißchen mehr Dynamik entwickeln.Wir brauchen Zeit und zwar in vielen Bereichen. Wir brauchen Zeit, bis sich auch in Osteuropa, wo die Lieferungen jetzt zu unvertretbaren Preisen ankommen, Märkte entwickeln. Es gibt keine Rechtfertigung, jetzt in dieser Übergangsphase bestimmte Betriebe endgültig aus dem Feld zu schlagen, wenn sie sich denn entsprechend reorganisiert haben.Wenn ich mir das alles anschaue, dann hat sich die deutsche Stahlindustrie gewaltig modernisiert — im Gegensatz zu anderen. Die deutsche Stahlindustrie hat Riesenbelegschaftsopfer gebracht und weit über 100 000 Arbeitsplätze abgebaut. Die deutsche Stahlindustrie braucht jetzt von Ihnen hier keine weitere Begleitung auf dem Weg ins Aus, sondern sie braucht eine aktive Unterstützung auf dem Weg in eine Zukunft, bei der sie auch weiß, ihre Standorte bleiben erhalten. Sie muß auch wissen, daß ihr Opfer, das hier erbracht wird, nicht durch eine Außenwirtschaftspolitik unterlaufen wird, bei der die Außenminister weltweit zusammenkommen und schöne Versprechungen machen, mit jeder Versprechung aber, die sie unterschreiben, das Ende von Arbeitsplätzen beschlossen wird.Da muß in Zukunft nicht nur der Finanzminister gegenzeichnen, sondern bitte schön auch der Wirtschaftsminister. Die Menschen — auch bei uns — haben ein Recht auf den Schutz dieser Bundesregierung. Darauf mögen sich die Herrschaften wieder besinnen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Hans-Werner Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Stiegler! Es war schon eine Zumutung, hier zu hören, daß wir mit menschlicher Kälte diese Dinge, die wir jetzt hier verhandeln, angehen.
Hier sitzen so viele Kollegen, die seit Jahren dieses Thema behandeln. Die brauchen keinen Nachweis zu liefern, daß sie alles getan haben, um die schwierigen Arbeitsmarktprobleme einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Ich habe gehört, Sie sind Rechtsanwalt. Sie brauchen hier nicht in den Duktus von Gewerkschaftsversammlungen zu verfallen.
Mit diesen emotional geladenen Wahlkampfreden schaffen Sie keinen einzigen Arbeitsplatz in der Stahlindustrie.
Meine Damen und Herren, es hat sich beim Stahl immer wieder bewahrheitet,
daß alles möglich ist. „Prognosen gleichen dem berühmten Lesen im Kaffeesatz", so hat vor wenigen Tagen der angesehene Leitartikler der „Saarbrücker Zeitung", Joachim Penner, geschrieben, der ein ausgewiesener Sachkenner ist. Ich meine, das ist auch ein wenig das Fazit dieser Debatte.
Fest steht: Die Stahlindustrie steckt in einer tiefen Krise. Auf den unerwarteten Boom von 1988/89 folgte von 1990 an wieder der Abwärtstrend — eine Folge der schwachen Konjunktur sowie des Preisdrucks durch Anbieter aus Osteuropa. Das ist hier wiederholt dargestellt worden.
„Die Manager der Stahlindustrie werden von dem Niedergang ihrer Unternehmen offenbar wie von einem Erdbeben überrascht", so war dies in der Zeitung zu lesen.
Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?
Ja.
Bitte, Kollege Urbaniak.
Herr Kollege, was verstehen Sie denn unter „Duktus von Gewerkschaftsversammlungen" , und wie unterscheidet sich dieses von der Normalsprache, die fachlich sicher von Anwälten geprägt ist?
Ich will Ihnen jetzt hier kein Seminar — obwohl ich das könnte — über semantische Übungen ableisten. Nur die Art,
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Hans-Werner Müller
wie hier soeben mein Vorredner dieses Thema behandelt hat, ist der Frage völlig unangemessen, Herr Kollege.
Gestatten Sie noch eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?
Bitte schön.
Bitte, Kollege Urbaniak.
Wir haben das so empfunden, daß Sie die Gewerkschaftsversammlungen, die Gewerkschafter diskriminiert haben.
Das ist absolut nicht meine Absicht gewesen. Wenn ich z. B. an den konstruktiven Beitrag der Gewerkschaft in meinem Bundesland denke, und zwar bei der Bewältigung der bisherigen Krisen der Stahlindustrie, der sozusagen ein konstruktiver Bestandteil der Lösungen gewesen ist — allerdings war das nur bei der SPD-Regierung so; zu unserer Regierungszeit wären sie natürlich vehement dagegen gewesen —, dann kann ich nur mit voller Hochachtung von gewissen Teilen der Gewerkschaften sprechen, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, wie von einem Erdbeben überrascht werden einige von dieser Stahlindustrie. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß die Stahlindustrie gemessen an der übrigen Wirtschaft, wie z. B. im Saarland, einen überdurchschnittlich großen Anteil hat, und wenn dann auch noch der Bergbau hinzukommt, dann weiß man, was das für den Arbeitsmarkt bedeutet.
Herr Kollege Reuschenbach, ich habe gerade das Stichwort Bergbau angesprochen. Sie haben einen großen Teil Ihrer Rede auf die Probleme des Bergbaus verwandt.
— Es ist völlig klar, daß da ein Zusammenhang besteht. Ich will mich hier auch überhaupt nicht mit Ihrer Diagnose beschäftigen, weil sie in weiten Teilen richtig ist, so wie ich dies empfinde.
Wir wissen doch alle, daß der Kohleabsatzmarkt auf drei Säulen beruht. Zum einen ist dies der Wärmemarkt, den wir leider in diesem Zusammenhang vergessen können. Zum zweiten ist es die Kokskohle. Da werden wir die Schwierigkeiten bekommen, die Sie angesprochen haben. Zum dritten ist es die Verstromung. In diesem Zusammenhang haben Sie hier die Fortsetzung des Jahrhundertvertrages angemahnt. Selbstverständlich müssen wir alle miteinander darüber nachdenken, wie wir eine EG-konforme Lösung in dieser Sache schaffen.
Nur will ich Ihnen eines sagen: Je schneller es uns gelingt, den nationalen Energiekonsens hinzukriegen, je schneller uns das gemeinsam hier in diesem Hohen Hause gelingt — und es soll ja bis Ende dieses Jahres dazu der Versuch unternommen werden —, desto eher werden wir dieses Problem auch lösen. Da sind Sie aufgefordert, Ihren Beitrag zu leisten, Kollege Reuschenbach.
Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reuschenbach?
Bitte schön.
•
Bitte, Kollege Reuschenbach.
Verehrter Herr Kollege Müller, wollen Sie mir bitte einräumen, daß die Verabredung der Kohlerunde 1991 auch in dem Punkt einer Anschlußfinanzierung über 1995 hinaus von keiner Seite von einer Bedingung — Konsens in der Kernenergie — abhängig gemacht worden ist, sondern so für sich verabredet worden ist, daß eine Anschlußfinanzierung gemacht wird? Räumen Sie mir auch ein, daß diese Anschlußfinanzierung in diesem Jahr bis zur Sommerpause stehen muß, weil im Jahre 1994 eine Anschlußregelung — Wahlkampf und alles, was dazugehört — wahrscheinlich nicht mehr erreichbar sein wird?
Ich stimme dem zweiten Teil Ihrer Frage völlig zu. Je eher wir — frei von politischen Auseinandersetzungen — eine solche Regelung schaffen, desto besser ist dies für den Bergbau. Ich stimme Ihnen zu, daß das 1994 problematisch sein könnte.
Was den ersten Teil Ihrer Frage angeht, kann ich Ihnen leider, so wie ich das verstehe, nicht zustimmen. Es besteht schon ein Zusammenhang im Einsatz aller uns zur Verfügung stehenden Energiequellen, wenn wir dieses Problem lösen wollen. Dies ist meine Überzeugung.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Reuschenbach?
Ja. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Nur um der Genauigkeit willen: Sagen Sie, daß die Vereinbarungen der Kohlerunde 1991 insgesamt und in bezug auf die Anschlußfinanzierung mit der Vorbedingung verknüpft worden war, daß es zu einem Konsens, zu einer Vereinbarung, zu einer Verständigung auch in Sachen Kernenergie gekommen sei?
Um meine Meinung hier klar zu sagen: Sie mögen rein textlich, vom Wortlaut der Vereinbarung her, recht haben, aber der politische Zusammenhang — so wie ich soeben versucht habe, ihn darzustellen — ist
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Hans-Werner Müller
selbstverständlich aus meiner und aus unserer Sicht vorhanden, Kollege Reuschenbach.Meine Damen und Herren, ich darf mich jetzt noch einmal dem Thema zuwenden und sagen, daß wir von dieser Stelle hier aus schon sehr viele Stahldebatten geführt haben. Dabei haben wir immer wieder zum Ausdruck gebracht: Gegen die Macht der Staatskassen einzelner EG-Staaten, die ihre Stahlindustrie rechtswidrig subventionieren, kommt die deutsche Stahlindustrie nicht an. Sie kann dabei nicht mithalten.Wenn es stimmt, daß Italien und Spanien ihren Stahlfirmen vertragswidrig mit Milliardensubventionen unter die Arme greifen und damit die Wettbewerbsordnung sowie das geltende EG-Recht vor die Hunde gehen, dann zeigt das meiner Meinung nach, daß es zuwenig ist, wenn die EG ein umständliches Prüfungsverfahren in Gang setzt. Bis da die Ergebnisse vorliegen — und wir wissen ja leider, wie in Brüssel gearbeitet wird —, ist die Zeit für die deutschen Unternehmen zum Vorteil anderer davongelaufen.Wie man hört, soll sich der EG-Ministerrat am 25. Februar mit der Sache beschäftigen. Ich meine, hier wäre Tempo geboten. Wir haben in anderem Zusammenhang sehr viel in diesem Hause über die Europamüdigkeit und über die Europaverdrossenheit der Bürger gesprochen. Hier, in diesem Zusammenhang, hätte die EG einmal die Möglichkeit, die Chance, etwas von dieser Verdrossenheit in einer wichtigen Frage, auf einem wichtigen Sektor abzubauen.
Ich mache mir ausdrücklich die Forderung des Vorstandsvorsitzenden der Dillinger Hütte Saarstahl, Roland de Bonneville, einer anerkannten Persönlichkeit, zu eigen, der da sagt, daß der Stahlindustrie finanziell geholfen werden muß, wenn es beispielsweise um Sozialpläne oder den Ausgleich von Teilwertabschreibungen geht. Er sagt, Europamittel sollten nicht nur allein bewegt werden, wenn es um Kapazitätsstillegungen geht, sondern auch, wenn es um die Folgen der Rationalisierung geht. Ich meine, in diese Richtung müssen wir nachdenken.Der EGKS-Vertrag ist, wie wir wissen, 1952 für 50 Jahre unterschrieben worden. Er läuft also im Jahr 2002 aus. Noch hat die Stahlindustrie — das ist hier wiederholt gesagt worden — die Feststellung der manifesten Krise nach Art. 58 nicht beantragt. Die EG würde das wahrscheinlich auch nicht feststellen. Aber wenn es richtig ist, daß auch in Folge der Bestimmungen dieses Vertrages ein nicht unbeträchtliches Vermögen auf Grund der Montan-Abgabe angewachsen ist, dann kann man schon darüber nachdenken, wie man das einsetzt.Herr Kollege Dr. Vondran, Sie haben bemerkenswerte Aufsätze geschrieben, wie es mit der EGKS weitergehen könnte — Überlegungen, denen man in diesem Zusammenhang nachgehen sollte. Minister Einert hat auf Resider hingewiesen. Alles das sind Ansätze, die in diesem Zusammenhang angesprochen werden können.Ich möchte aber noch ein Wort zur Bundesregierung sagen. Die Bundesregierungen, insbesondere die jetzige, haben gerade der saarländischen Stahlindustrie durch vielfältige Entscheidungen und Hilfen ihre Unterstützung nicht versagt. Zuschüsse in Milliardenhöhe sind gegeben worden.
Strukturhilfen sind gezahlt worden. Niemand kann also sagen, der Bund habe bisher nicht seine Pflicht getan.Warum hat er das getan? Weil jeder Wirtschaftspolitiker einsieht: Das wirtschaftliche Wiedererstarken einer Region ist wesentlich teurer, wenn einmal die Stahlindustrie völlig kaputt wäre. Aber es geht jetzt auch darum, die Zusagen in der regionalwirtschaftlichen Flankierung hinsichtlich der Infrastruktur einzuhalten, deren Umsetzung wenn möglich noch etwas zu beschleunigen. Ich meine die weitere Anbindung an das internationale Autobahnnetz. Ich meine die Anbindung an den Schnellzug, den TGV, wie wir sagen, damit das Saarland wirtschaftspolitisch aus der Randlage herauskommt.Das sehen wir auch in der Nachbarregion Lothringen, die spiegelbildlich die gleiche Situation hat. Ein lothringischer Abgeordneter würde in der französischen Kammer in Paris in einer Debatte wie der unsrigen dieselbe Rede halten und dieselben Forderungen stellen.
Lassen Sie mich jetzt zum Schluß noch zur saarländischen Regierung kommen. In diesem Zusammenhang stelle ich in dieser Debatte zum wiederholten Male fest, daß bei einer so wichtigen Aussprache die Bundesratsbank durch Abwesenheit selbst eines saarländischen Beamten glänzt. Es sind weiß Gott genug vorhanden, und bei so einer Debatte sind sie nicht da. Insofern bin ich sehr dankbar und beglückwünsche Sie, Herr Minister, daß wenigstens Sie hier sind. Es würde dem Saarland in einer so schwierigen Frage schon gut anstehen, wenn wenigstens ein Beamter dieser Debatte folgen würde.
Lafontaine hat sich 1985 als der große Retter und Erneuerer der saarländischen Stahlindustrie aufgespielt. Jetzt in dieser Situation sind es natürlich die anderen, die alles schuld sind. Schon vor anderthalb Jahren hat die IHK Saarbrücken darauf hingewiesen, daß noch in diesem Jahrzehnt etwa 10 000 Arbeitsplätze bei Kohle und Stahl verlorengehen werden. Übrigens sind die Zahlen in Lothringen in einer bemerkenswerten Offenheit genauso diskutiert worden.Was ist denn von der saarländischen Landesregierung an Arbeitsmarktpolitik, an Ansiedlungspolitik und an regionaler Wirtschaftspolitik gemacht worden? Ich mache mir keine Illusionen über die Schwierigkeiten einer solchen Politik. Aber ein Mann der Wirtschaft hat mir dieser Tage gesagt: Der saarländische Ministerpräsident taucht mit allen möglichen Themen in der Presse auf: von Rotlicht bis zu Pensions-
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Hans-Werner Müller
affären. Aber eine Identifizierung mit den saarländischen Wirtschaftsproblemen? Absolute Fehlanzeige! Da legen sich aber andere Ministerpräsidenten, gleichgültig welcher Farbe, wesentlich anders ins Zeug. Wir wissen seit langem, daß sich der saarländische Ministerpräsident für die saarländische Wirtschaft nicht engagiert.Meine Damen und Herren, wir gehen einen schwierigen Weg. Wenn aber alle Akteure hier ihre Pflicht tim — die EG, die Bundesregierung, die Landesregierung, die Manager, die Gewerkschaften und die Parteien —, werden wir es schaffen, das Erdbeben, von dem ich sprach, zu vermeiden.Ich bedanke mich, daß Sie mir zugehört haben.
Unser Kollege Ottmar Schreiner ist der nächste Redner, bitte.
Herr Präsident! Lieber Kollege Müller, es ist, glaube ich, unter aller Sache, hier jetzt eine saarländische Amigo-Debatte zu führen.
— Er hat damit angefangen, hier eine Art saarländische Amgio-Debatte loszutreten, weil ihm in der Sache offenkundig nichts anderes eingefallen ist.
Deshalb sage ich Ihnen nochmals: Ich bin nicht bereit, auf diesem beschissenen Niveau mit dem Kollegen Müller zu diskutieren.
Zur Sache selbst. Die erste These des Kollegen Müller war, der Bund habe seine Pflichten in Sachen Montan-Hilfen für das Land getan. Ich will Sie, lieber Kollege Müller, in aller Ruhe daran erinnern, daß bereits der saarländische Ministerpräsident Dr. Röder 1962 im ersten Saar-Memorandum an die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Adenauer gemahnt hatte, daß sich das Saarland, wenn die Hilfen für die Saar im Montan-Bereich nicht deutlich besser ausgestaltet werden, in eine nicht mehr reparable Schuldenlage hineinentwickeln wird. Genau das ist über die Jahrzehnte eingetreten. Der Bund ist also nie in ausreichendem Maße seinen Verpflichtungen nachgekommen. Sie können nicht einfach sagen: Das ist alles paletti; das ist in dem Maße geschehen, wie es erforderlich gewesen wäre. Davon kann überhaupt keine Rede sein.Der zweite Punkt, an den ich Sie erinnern will: In den Jahren seit 1985, seit dem Regierungswechsel an der Saar, hat es einen Verlust von nahezu 20 000 Arbeitsplätzen im Stahlbereich und von Tausenden von Arbeitsplätzen im Bergbaubereich gegeben. Sie wissen genauso gut wie ich, daß gerade auf Grund der finanziellen Situation des Landes — ich habe eben versucht, die Hintergründe kurz auszuleuchten — die notwendige Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen vomLand allein überhaupt nicht bewältigbar gewesen ist und auch weiterhin nicht ist, sofern es nicht zu der von uns seit langem geforderten Teilentschuldung kommt.Mein Eindruck ist, daß die Bundesregierung nicht nur die aktuelle Stahlkrise, sondern die Beschäftigungskrise insgesamt verschlafen hat, daß ihr im ungünstigen Fall die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gleichgültig ist. Sie wissen von den Instituten, die prognostiziert haben, daß wir allein in 1993 einen Fehlbestand von über fünf Millionen regulären Arbeitsplätzen in Deutschland haben. Das Kieler Institut für Weltwirtschaftsforschung hat dazu geschrieben, dies sei mit einigem Abstand der höchste Fehlbestand an Arbeitsplätzen seit Ende der zwanziger Jahre, seit der Weltwirtschaftskrise damals. Das Institut hat auch an die Folgewirkungen in den dreißiger Jahren erinnert.Es gibt bis zur Stunde aber auch nicht einen einzigen Satz an beschäftigungspolitischen Überlegungen der Bundesregierung vor dem Hintergrund dieses Desasters. Sie haben keine beschäftigungspolitische Konzeption. Sie haben in den letzten Monaten das genaue Gegenteil betrieben: Angesichts massiv steigender Arbeitslosigkeit haben Sie gleichzeitig die vorhandenen Instrumente des Arbeitsmarktes drastisch gekürzt und somit Ihren Zusatzbeitrag geleistet, damit die Arbeitslosigkeit weiter ansteigt.
Sie haben also exakt das Gegenteil dessen gemacht, was von Ihnen in einer solchen Situation zu fordern wäre.
— Ich komme gleich darauf zurück, da der Herr mit dem Schnurrbart hinter Ihnen einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht hat. Ich komme gleich auf den Vorschlag zurück.
— Das war gar nicht beleidigend gemeint. Die hohe Kunst besteht darin, jemanden zu beleidigen, ohne ihn gleichzeitig zu verletzen, habe ich einmal von einem CDU-Kollegen gelernt. Das war nur der Versuch, ihn zu kennzeichnen, weil mir sein Name entfallen ist.
— „Fritz, wie der Alte" sagte er. „Fritz, wie der Alte" ist offenkundig ein Nachname.Auf Ihren Vorschlag werde ich gleich zurückkommen. Das war das einzige, was ich hier von der CDU/CSU und der F.D.P. in der gesamten Debatte dazu gehört habe, was man zu tun habe. Das ist der Vorschlag, der in eine arbeitsdienstähnliche Richtung geht. Ich werde Ihnen das nachher noch kurz belegen.
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Ottmar SchreinerIch will erstens festhalten: Angesichts einer dramatisch hohen Arbeitslosigkeit, angesichts der Prognosen im FKP-Papier, also in dem sogenannten Solidarpakt-Papier der Bundesregierung, wonach alleine in Westdeutschland 1993 die Zahl der Arbeitslosen um 450 000 steigen wird, angesichts dieser dramatischen Ausgangslage gibt es nicht den Hauch von beschäftigungspolitischen Überlegungen und Diskussionen in der Bundesregierung und in den Koalitionsfraktionen.
Das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Offenkundig sind die Liberalen mit ihrem liberalistischen Ökonomieverständnis vollständig über Sie hinweggerutscht und haben Ihnen den Verstand gleich mit plattgemacht. Es wird darüber nicht mehr nachgedacht.Zweiter Punkt. Ich habe gesagt: Sie haben die Entwicklung verschlafen, obwohl es im Stahlbereich spätestens seit dem Herbst vergangenen Jahres die Spatzen geradezu von den Dächern gepfiffen haben, daß damit gerechnet werden muß, daß 25 000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Das war just zu dem Zeitpunkt, als wir im Deutschen Bundestag die zehnte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz beraten haben. Sie wissen vielleicht, daß es gar nicht so einfach war, übrigens im Zusammenwirken mit den Kollegen der Koalitionsfraktionen, dafür zu sorgen, daß die Stahlindustrie — vorläufig befristet bis Ende 1995 — von der Pflicht zur Erstattung an die Bundesanstalt für Arbeit ausgenommen worden ist, bezogen auf das, was die Bundesanstalt für Arbeit für Frühverrentungsprogramme bei der Stahlindustrie einschießt. Das war die einzige Ausnahme.Ich sage Ihnen — das geht übrigens in beide Richtungen dieses Hauses —, daß viele Kolleginnen und Kollegen nicht ganz zu Unrecht gefragt haben: Wieso denn nur die Stahlindustrie? Bei uns zu Hause gibt es auch einen massiven Arbeitsplatzabbau, beispielsweise in der Automobilindustrie oder in der chemischen Industrie.Wir hatten nur zwei Argumente: Erstens ist der Abbau fast präzise voraussehbar, zweitens läßt die Erlöslage in der Stahlindustrie eine andere Lösung nicht zu. So sind wir dazu gekommen.Aber jenseits dieser gemeinsam vorgebrachten und im Bundestag durchgesetzten Perspektive hat es nicht eine einzige industriepolitische oder sozial flankierende Überlegung der Bundesregierung in Richtung Stahlindustrie gegeben, bis zur Stunde nicht.Drittens. Der Kollege Haussmann hat auf die Probleme in seinem Wahlkreis hingewiesen, daß dort auch gelegentlich Betriebe in Schwierigkeiten geraten. Herr Kollege Haussmann, der große Unterschied zu den Wahlkreisen und den Regionen, die hier betroffen sind, liegt darin, daß, wenn große Unternehmungen wie etwa ein Stahlunternehmen mit vielen tausend Beschäftigten in ihrer Existenz gefährdet sind, dies in der Regel bereits auf einem überproportional hohen Sockel an Arbeitslosigkeit in der entsprechenden Region geschieht. Das ist der Unterschied. Wenn in der Region, in der ich lebe, auf einer Basis von 10, 11 oder 12 % Arbeitslosigkeit ein Unternehmen mit 5 000 Beschäftigten nicht mehr lebensfähig ist — zu berücksichtigen sind ja auch die indirekten Beschäftigungsverluste —, springt die Arbeitslosigkeit auf 15 % und mehr. Damit wird sie im übrigen politisch nicht mehr kalkulierbar.
— Ich komme gleich darauf zurück. — Ich wollte zu dem Kollegen Haussmann nur sagen: Man kann das nicht so ganz vergleichen, weil die Probleme im Montanbereich mit großen Sorgen bezüglich der strukturellen Anpassung mit denen anderer Sektoren nicht vergleichbar sind. Die Probleme halten seit Jahren und Jahrzehnten an und haben in den jeweiligen Regionen zu einer überproportional hohen Dauerarbeitslosigkeit geführt. Die Regionen selbst können sich davon nicht mehr freimachen ohne vernünftige Hilfen des Bundes, die — jedenfalls bis zur Stunde — nicht in ausreichendem Maße gewährt wurden.Im übrigen ist der Bundesminister auch nicht anwesend. Herr Kollege Müller, Sie haben auf die Bundesratsbank geschielt. Sie hätten einmal die rechte Seite Ihrer Brille putzen sollen. Von der Bundesregierung sehe ich überhaupt niemanden mehr.
— Den einen Staatssekretär kann ich jetzt identifizieren; das ist derjenige, der da ganz hinten sitzt. Sehr verehrter Herr Staatssekretär, ich bitte um Nachsicht. Der andere Staatssekretär scheint hier im Gelände neu zu sein.
— Ist er auch nicht neu?
— Gut. Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß der Bundesminister für Wirtschaft auf dieser Bank bei einer wichtigen Debatte nicht mehr anwesend ist. Der Kollege Müller sollte seine polemischen Äußerungen in Richtung Bundesratsbank gefälligst einstellen.
— Regen Sie sich nicht so auf, sonst wird Ihre Lebenserwartung unterhalb der durchschnittlichen Lebenserwartung in Bayern liegen, und die ist relativ hoch. Machen Sie mal halblang.Der Bundesminister hat gesagt, eine Stahlkonferenz sei deshalb nicht sinnvoll — das war das zentrale Argument —, weil es ein spektakuläres Ereignis sei und im übrigen substantiell nichts bringe. Dazu kann ich nur sagen: Ein spektakuläres Ereignis kann es nur
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Ottmar Schreinerdann werden, wenn die Bundesregierung in eine solche Stahlkonferenz ohne den Hauch einer Konzeption geht. Das ist doch das Problem.
Ich habe in dieser mehrstündigen Debatte bis jetzt nichts Konzeptionelles gehört, was die Frage der Außenflankierung und die Frage der Innenflankierung der Stahlproblematik anbelangt, was von seiten der Bundesregierung zu erwarten ist.
Das ist der eigentliche Grund, warum die Bundesregierung eine Stahlkonferenz ablehnt, weil dort nämlich nichts herauskommen kann, da die Bundesregierung nichts einbringt. Das ist das Problem.
Ich komme zur Frage der Außenflankierung. Der Kollege Beckmann hat gesagt: Was nutzt es uns, wenn wir in Sonntagsreden davon sprechen, wir müßten beim Aufbau marktorientierter Wirtschaftssysteme im Osten Europas helfen, wenn wir gleichzeitig neue Handelsbarrieren errichten? Das ist aber nicht die Alternative. Unsere Kritik bezog sich im wesentlichen auf die Frage: Ist es nicht hohe Zeit, den Import von Waren zu unterbinden, die zu Dumpingpreisen, unter Gestehungskosten, in die Bundesrepublik einfluten? Das ist das Problem.
Das ist etwas völlig anderes, Herr Kollege Beckmann, als das, was Sie hier als Alternative dargestellt haben. Ich sage Ihnen: Da werden wir etwas tun müssen.Ich frage die Bundesregierung nochmals, was sie in dieser Beziehung zu tun gedenkt. Hier ist dazu nichts gesagt worden.Zum Abschluß einige wenige Sätze zur Innenflankierung. Der Herr Kollege mit dem Schnurrbart hat gesagt — das drückt im Grunde die ganze Hilflosigkeit der Koalitionsfraktionen aus —,
man könne ja überlegen, ob es nicht einen Sinn machen würde, das neue Instrument des § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes auch für Westdeutschland zu mobilisieren. Davor kann ich Sie nur warnen. Sie scheinen nicht ganz zu wissen, wovon Sie reden. Das Instrument des § 249h führt im Ergebnis zu arbeitsdienstähnlichen Verhältnissen. Ich will Ihnen das in zwei Sätzen belegen.Diejenigen, die § 249h unterliegen, müssen bereit sein, zu untertariflichen Löhnen zu arbeiten. Wenn sie dazu nicht bereit sind, werden sie mit Sperrfristen belegt. Das heißt im Klartext: Es sind arbeitsdienstähnliche Verhältnisse: untertarifliche Bezahlung, kombiniert mit Sperrfristen für den Fall, daß sie die Arbeit nicht annehmen.Das dritte Problem in Ostdeutschland ist, daß bis zur Stunde niemand sagen kann, in welchem Ausmaß dieses Instrument überhaupt angewandt wird, da dieFrage der Komplementärfinanzierung bis jetzt nicht gelöst ist.Die Bundesregierung hat in ihrer ganzen üblichen Not einen Brocken hingeschmissen nach dem Motto: Nun guckt mal, ob ihr damit etwas anfangen könnt. — Bis zur Stunde wissen wir nicht, ob das Instrument jenseits der Gründe, die ich eben vorgetragen habe, unter den Gesichtspunkten der Komplementärfinanzierung in Ostdeutschland in nennenswertem Umfang überhaupt zum Tragen kommen kann.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Aber seit zwei Minuten blinkt das rote Licht.
Sicher, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit angelangt. Wenn Sie die Frage zulassen, bitte.
Herr Kollege Schreiner, sagen Sie mir bitte, wann Sie Ihre Alternativvorschläge einbringen wollen. Haben Sie das so weit zurückgeschoben, daß Sie uns in einem Privatissimum die Möglichkeit geben, hinterfragen zu können, was Sie angekündigt, aber nicht getan haben?
Lieber Herr Kollege, da haben Sie mich auf dem richtigen Bein erwischt. Wir haben in den vergangenen Monaten, was die Frage der arbeitsmarktpolitischen Flankierungen anlangt, diesen Deutschen Bundestag in vielfältiger Weise mit, wie ich denke, abgestimmten und vernünftigen Programmvorschlägen konfrontiert. Es ist nahezu alles abgelehnt worden. Ich will Ihnen das letzte Instrument in Erinnerung rufen; es war ein sehr grundsätzlicher Antrag mit dem Titel „Arbeit fördern statt Arbeitslosigkeit finanzieren" . Das ist alles abgelehnt worden.Ich habe eben auf das Problem der Außenflankierung hingewiesen. Ich habe gefragt: Was hat die Bundesregierung bis zur Stunde getan, um zu unterbinden, daß möglicherweise in massenhafter Weise Güter zu Dumpingpreisen, unterhalb der Gestehungskosten, nach Deutschland fluten? Die Vorschläge liegen. seit Wochen und Monaten auf der Hand.Unser großes Problem als Opposition, Herr Kollege, ist nicht, daß wir zuwenig Vorschläge machen, sondern unser Problem ist, daß Sie viel zuwenig von unseren Vorschlägen annehmen. Das ist das eigentliche Problem der Opposition.
Allerletzter Satz, Herr Präsident: Ich wünsche mir, daß die wachsenden Probleme auch in westlichen Krisenregionen von der Bundesregierung ernster genommen werden. Bei allem Verständnis — ich bin hier ganz, ganz vorn mit dabei — dafür, daß wir angesichts der Problemlage die Hilfsmaßnahmen auf Ostdeutschland konzentrieren müssen: Es nutzt weder den Ost- noch den Westdeutschen, wenn wir in Westdeutschland Regionen mit einem Krisenpotential
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Ottmar Schreinerbekommen, das politisch nicht mehr kalkulierbar ist. Sie sind auf dem besten Weg in diese Richtung.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir einige kurze Bemerkungen: Zunächst einmal muß ich den Ausdruck des Kollegen Schreiner „beschissenes Niveau" zurückweisen; er ist unparlamentarisch.
Des weiteren sind hier in der Debatte auch noch andere Ausdrücke verwendet worden. Ich würde wirklich überlegen, ob es nötig ist, jemand anderem Heuchelei zu unterstellen. Man kann dafür vielleicht auch passendere Worte finden.
Dann möchte ich hier noch eine Bemerkung zu der Anwesenheit machen: Wir hatten ursprünglich eine Aktuelle Stunde vorgesehen.
Wir sind dann in eine allgemeine Aussprache eingetreten mit der Folge, daß der eine oder andere Kollege seinen Zeitplan nicht einhalten kann. Wir sollten uns jetzt deswegen — das gilt für alle Beteiligten — aber gegenseitig keine Vorwürfe machen.
Nun hat sich als nächster der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Heinrich Kolb, zu Wort gemeldet.
Herr Präsident, ich danke Ihnen zunächst für die Hinweise, die Sie hier schon zur Präsenz der Häuser gegeben haben.
Ich habe mich zu Wort gemeldet, um das, was Sie, Herr Schreiner, hier vorgetragen haben, ausdrücklich zurückzuweisen. Sowohl das Bundesministerium für Arbeit als auch der Bundesminister für Wirtschaft ist hier durch den jeweiligen Parlamentarischen Staatssekretär vertreten. Ich denke, daß diese Präsenz der hier anstehenden Diskussion durchaus gerecht wird.
Ich will Ihnen hier folgendes zu bedenken geben: Sie sollten sehr wohl Verständnis haben, daß der Bundeswirtschaftsminister, der erst seit drei Wochen im Amt ist, gerade in der derzeitigen Phase eine ganze Reihe von Gesprächen mit Vertretern der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen zu führen hat. Sie alle erwarten natürlich, daß der Minister persönlich zur Verfügung steht. Vor dem Hintergrund finde ich es wirklich unlauter, wenn Sie nach einer Aktuellen Stunde hier eine zweidreiviertelstündige Debatte vom Zaun brechen und erwarten, daß der Bundesminister für Wirtschaft hier immer noch anwesend ist. Ich denke, Sie würden sich auch beschweren, wenn der Bundesminister für Wirtschaft am 17. und 18. Februar, wenn die Gespräche mit den Arbeitgebern und Arbeitnehmern der Stahlindustrie anstehen,
urplötzlich nicht zu diesen Gesprächen erscheinen könnte, weil er hier in einer Debatte, die aus einer Aktuellen Stunde heraus entstanden ist, vertreten sein müßte.
Ich will noch eines sagen: Es scheint jetzt Schule zu machen — nach meiner Kenntnis ist es das zweite Mal innerhalb von vier Wochen -, daß die Opposition das Verfahren anwendet, aus der Aktuellen Stunde eine Debatte zu machen.
— Es entsteht hier der Eindruck, Herr Kollege Stiegler, daß hier vor allen Dingen Schaufensterreden gehalten werden.
Wenn Sie, Herr Kollege Stiegler, wirklich an einer ernsthaften Debatte über Lösungen interessiert sind, dann geben Sie bitte auch den anderen Parteien, also auch der CDU/CSU und der F.D.P., Gelegenheit, sich auf eine Debatte vorzubereiten. Beantragen Sie also eine solche Debatte ordnungsgemäß, und wenden Sie keine Verfahrenstricks an, um sich hier einseitig quasi aus dem Schaufenster heraus zu profilieren.
Im übrigen will ich die Debatte in der Sache nicht unnötig verlängern. Es ist hier wirklich zuviel Unnötiges gesagt worden. Es ist zuviel Analyse betrieben worden, Lösungsansätze dagegen sind zuwenig vorgetragen worden, insbesondere auch von Ihnen.
Eigentlich wäre ich damit am Ende, aber Herr Kollege Reuschenbach hat sich noch zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Sie gestatten also noch eine Zwischenfrage des Kollegen Reuschenbach? — Bitte sehr.
Bezug nehmend auf die Unterstellung, daß uns nicht an einer ernsthaften Debatte gelegen sei, möchte ich Sie folgendes fragen: Seit dem Sommer des vorigen Jahres zeichnete sich klar ab, was heute einem Höhepunkt zutreibt. Hätte die Bundesregierung nicht, wenn ihr an einer ernsthaften Debatte gelegen hätte, die verdammte Pflicht und Schuldigkeit gehabt, dem Parlament im Laufe dieser sechs Monate im Rahmen der Aussprache zu einer entsprechenden Regierungserklärung die Möglichkeit zu geben, eine breite Debatte zu führen? Statt dessen muß die Opposition im Ausschuß Gespräche
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Peter W. Reuschenbachund Informationen über die Lage der Stahlindustrie sozusagen erbitten oder erzwingen, wie das heute morgen der Fall war. Statt dessen sind wir gezwungen, zu versuchen, mit Hilfe des Instruments der Aktuellen Stunde vom Bundeswirtschaftsminister endlich Fakten und Hintergründe der gegenwärtigen Stahlkrise zu erfahren. Aber was wir hören, ist in keiner Weise zufriedenstellend.
Herr Kollege Reuschenbach, Sie wollen hier den Eindruck erwecken, als ob die Bundesregierung bisher untätig gewesen sei.
Daß Sie diesen Eindruck erwecken wollen, finde ich um so schlimmer, als Sie heute morgen in der Sitzung des Wirtschaftsausschusses anwesend waren und daher wissen, daß ich — ich glaube, auf Ihr Befragen hin — die ganze Reihe von dichtgedrängten Kontakten vorgetragen habe, die es seitens der Bundesregierung sowohl mit den Arbeitgebern im Stahlbereich als auch mit der IG Metall gegeben hat.
Dann können Sie hier heute doch nicht sagen: Die Bundesregierung tut nichts, die Bundesregierung sucht nicht den Dialog.
Das Gegenteil ist der Fall. Das, was heute hier gelaufen ist, hilft der Stahlindustrie auf keinen Fall.
Danke.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Wolfgang Weiermann das Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß aus eigener Anschauung, welche Sorgen draußen angesichts der dramatischen Situation herrschen, die noch dramatischer wird, als sie gegenwärtig feststellbar ist, die heute schon dramatischer ist als vor vier, fünf Wochen. Damals haben wir von einem Arbeitsplatzverlust in der Größenordnung von 15 000 bis 20 000 gesprochen. Heute sprechen wir schon von 30 000. Das kennzeichnet die dramatische Entwicklung. Deswegen wäre es schon angemessen, wenn sich der zuständige Wirtschaftsminister den Sorgen der Menschen draußen stellen würde, auch über die ursprünglich vorgesehene Zeit hinaus.Ich habe gehört, Herr Dr. Vondran, daß je Stahlbereich rund 1 Million DM kalendertäglich an Verlusten zu erwarten sind. Das führt dann zu diesen dreistelligen Millionenzahlen, die von Herrn Einert soeben genannt worden sind. Wir wissen auch, daß die Preise für Importe aus Osteuropa teilweise bei 10 % der Gestehungskosten liegen. Wenn das keine Probleme sind, auf die man Antworten zu geben hat, dann weiß ich in der Tat nicht, wie Probleme aussehen, die Politiker aufzurütteln haben.
Insofern sage ich: Wir dürfen über die Subventionsrekorde in der Europäischen Gemeinschaft nicht nur diskutieren, sondern müssen auch Vorschläge entwickeln, die der deutschen Stahlindustrie überhaupt die Chancen geben, in einem für alle gleichen Wettbewerb zu bestehen. Wie wir jetzt hören, stehen in der EG-Ministerratskonferenz 8 Milliarden DM zur Genehmigung allein für Spanien an. Hier unterstütze ich das, Herr Dr. Vondran, was Sie auch in der Sitzung des Wirtschaftsausschusses gesagt haben: Daß es darum gehen muß, ein Verfahren, eine Konzeption auf europäischer Ebene zu entwickeln, die der deutschen Stahlindustrie überhaupt eine Chance gibt, sozusagen mithalten zu können,
die den Menschen, die dort arbeiten, eine Chance gibt. Ich möchte nicht, daß auf dem Rücken dieser Menschen eine verfehlte europäische und deutsche Stahlpolitik ausgetragen wird.
Das darf nun wirklich nicht geschehen.Deswegen fordern wir eine unverzüglich einzuberufende nationale Stahlkonferenz unter Beteiligung von Vertretern aus Politik, Unternehmen und Gewerkschaft. Ich war auf zwei Veranstaltungen — auf einer Veranstaltung der betroffenen Menschen in Bochum, die dort im Stahlbereich arbeiten, und heute auf einer ähnlichen Konferenz in Dortmund; die nächste auf gesamtdeutscher Ebene wird seitens der IG Metall in Rheinhausen stattfinden. Ich kann Ihnen nur sagen, die Stahlarbeiter — ich habe heute morgen in Dortmund gesagt, ich übermittle das, wenn ich denn heute hier in der Debatte noch das Wort bekomme — sagen mit Recht: Das, was die Landwirte hier vor einigen wenigen Wochen eingefordert haben, werden Stahlarbeiter in Bonn letzten Endes auch einfordern. — Und ich sage: Richtig so, wenn es denn nicht anders geht.
Ich möchte für meine Fraktion noch folgende Schlußbemerkungen machen. Ich hoffe, daß ich die Redezeit nicht ganz auszunutzen brauche. Wir wollen, daß die Bundesregierung bei einer weiteren Verschlimmerung der Entwicklung, einer weiteren Dramatisierung der Situation im Stahlbereich in Brüssel darauf drängt, Art. 58 des EGKS-Vertrages — es geht dort um eine manifeste Krise — anzuwenden. Die Entwicklung ist dramatisch. Ich befürchte, daß sie noch dramatischer wird. Insofern wäre die Anwendung von Art. 58 ein Schritt in die richtige Richtung.Die bislang bei Kapazitätsstillegungen gezahlte EG-Sozialhilfe muß bei Strukturanpassungen wie etwa Rationalisierungsvorhaben durch Art. 56 EGKSVertrages flankiert werden. Wir wollen — das steht auch im Papier des Wirtschaftsausschusses, Herr
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Wolfgang WeiermannDr. Vondran — die Einrichtung einer europäischen Stahlstiftung mit Beibehaltung der Montanumlage. Der Überkapazität in der Europäischen Gemeinschaft kann nur regional und sozial ausgewogen begegnet werden.Ich sehe eine große Gefahr in der staatlich geführten Stahlindustrie in anderen Ländern, die mit Riesensubventionen gespickt worden ist. Italien — keiner weiß es besser als Sie — hat über die Jahre 40 Milliarden DM an Subventionen erhalten. Es geht weiter über Frankreich, Großbritannien usw., Länder, die alle zwischen 25 und 30 Milliarden DM als Subventionen bekommen haben. Selbst Belgien hat 15 Milliarden DM erhalten. Summa summarum sind es, wie Herr Reuschenbach schon gesagt hat, 124 Milliarden DM über eineinhalb Jahrzehnte.Ich befürchte, daß die privatwirtschaftliche deutsche Stahlindustrie diesen — ich wähle die Worte bewußt — Kampf, diesen Konkurrenzkampf mit der staatlich geführten Stahlindustrie in anderen Ländern, wenn wir nicht entsprechende Maßnahmen treffen, über längere Zeit nicht aushalten kann und dabei unterliegt. Das wollen wir nicht. Das sage ich für die SPD-Fraktion.
Darum ist die Schlußfolgerung klar. Im EGMinisterrat — auch das haben wir schon beraten —darf keinen weiteren Subventionen zugestimmt werden, wenn nicht zugleich ein Gesamtkonzept zur Stabilisierung des Stahlmarkts verabschiedet wird, das auch die deutschen Interessen genügend berücksichtigt. Das ist der richtige und logische Schritt, wenn es weitergehen soll. Darüber hinaus erinnere ich an die Frankfurter Vereinbarung, in der die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen verlangt wird, und vor allem an die Schaffung eines nationalen Stahlkonzepts im Rahmen einer europäischen Stahlpolitik, das diesen Namen verdient.Das ist unsere Aufgabe. Die Menschen erwarten von uns, daß wir diese Schritte vollziehen. Ich wünsche uns, daß wir den Mut haben, dies unverzüglich zu tun. Ich sage ein herzliches „Glück auf".
Als letzter Redner in dieser Debatte hat unser Kollege Bernd Henn das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte ein paar Bemerkungen zu der abgelaufenen Debatte machen.Die Vertreter der Regierungsfraktionen und der Bundesregierung haben sehr deutlich gesagt, daß sie Art. 58 des EGKS-Vertrages nicht zur Anwendung bringen und keinen entsprechenden Druck in Richtung Brüssel machen wollen, sondern auf das freiwillige Krisenkartell setzen.Mir persönlich wäre das im Prinzip egal, wenn dasselbe Ergebnis gewünscht ist. Ich bin freilich nicht ganz sicher, ob das der Fall ist. Es geht ja nicht nur um die reine Reduktion der Stahlkapazitäten, sondern es geht auch um die soziale und regionale Ausgewogenheit dieser Maßnahmen. Ich bin nicht so optimistisch, zu hoffen, daß diejenigen, die das freiwillige Krisenkartell betreiben, es mit derselben Intention tun, als wenn es im Rahmen z. B. einer nationalen Stahlkonferenz geschähe, wo solche Prinzipien zu verabreden wären. Daher ist es doch wohl richtig und konsequent, die Anwendung des Art. 58 zu fordern.Mir ist auch nicht ganz klar, was hinter der Ablehnung der nationalen Stahlkonferenz steckt. Zwei ganz wichtige politische Kräfte haben diese Konferenz gefordert. Alle 16 zuständigen Minister haben, wenn ich es richtig verstanden habe, diese Konferenz einstimmig verlangt. Das sind immerhin politische Vertreter, die an den Sorgen und Nöten der Menschen noch näher sind, als man es auf der Bundesebene ist. Auch die Gewerkschaften wollen diese nationale Stahlkonferenz.Natürlich könnten Sie ganz fest davon überzeugt sein, daß diese Konferenz nichts bringt. Dann wäre es ein Aufwand, der einmal betrieben wurde und den man abschreiben kann. Ich würde dieses Risiko eingehen, wenn so wichtige Institutionen wie die Fachminister und die Gewerkschaften es fordern.Zum zweiten könnten Sie die Sorge haben, daß Sie mit einer solchen Konferenz Erwartungen wecken. Dann steckt natürlich dahinter, daß Sie keine Erwartungen hinsichtlich einer sozial und regional verträglichen Lösung wecken wollen.Die dritte Möglichkeit ist, daß Sie Sorge haben, daß die Konferenz ein Forum der Anklage wird.Ich meine, verantwortliche Politik muß solche Risiken eingehen und darf davor keine Angst haben. Sie sollten wirklich darüber nachdenken, ob angesichts der Forderungen nach einer solchen Konferenz diese nicht doch konsequenterweise so bald wie möglich einberufen werden sollte.Ein weiteres Thema, über das ich sprechen will: Der Herr Wirtschaftsminister hat sich vorhin sehr engagiert geäußert.
— Er hat gesagt, daß der Subventionskodex eingehalten werden wird und daß man ganz massiv darauf achten werde, daß das geschieht.
Herr Kollege Weiermann hat in der vorigen Debatte und auch heute die Zahlen genannt: 40 Milliarden DM für Italien, 30 Milliarden DM für Großbritannien, 25 Milliarden DM für Frankreich, 15 Milliarden DM für Belgien und etwa 5 Milliarden DM für Deutschland. Diese Zahlen sind unwidersprochen. Das hat in der Vergangenheit schon zu einer massiven Wettbewerbsverzerrung geführt.
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Bernd HennIst denn überhaupt sicher, daß diese Wettbewerbsverzerrung noch revidierbar ist. Ist sie nicht irreversibel geworden?Wir haben früher immer davon gesprochen, daß die Stahlbetriebe in England und in Frankreich von relativ schlechter Qualität sind und ihre Produktivität niedrig ist. Dieser Zustand ist längst vorbei. Wir haben es auch dort mit hochmodernen Hüttenwerken zu tun.Ich bin deshalb nicht auf dem Weg, zu sagen, daß wir grundsätzlich jede Subvention ablehnen müssen. Es könnte der Fall eintreten, daß wir, um die deutsche Stahlindustrie überhaupt zu erhalten, auch nachholende Subventionen haben müßten. Insbesondere gilt das für Ostdeutschland.Für mich führt kein Weg daran vorbei: Wer verantwortlich Wirtschaftspolitik macht, muß im Fall Eisenhüttenstadt — das hat der Kollege Meißner noch einmal vorgetragen — eine nachholende Investition genehmigen. Die Stufe, die im Produktionsprozeß fehlt, muß integriert werden. Das ist ein Grundsatz, den man unbedingt einhalten muß.Die Vorstellung des Bundeswirtschaftsministers, hier stärker kontrollieren zu können, hat durch die Aussagen des Herrn Kollegen Haussmann wohl schon einen kleinen vorbeugenden Dämpfer bekommen. Er hat ja über seine Erfahrungen mit italienischen Wirtschaftsministern referiert. Die beiden sollten miteinander reden. Herr Haussmann schien mir sehr viel skeptischer zu sein, was die Durchsetzung dieses Wunsches des Herrn Bundeswirtschaftsministers angeht.Ein weiteres Thema. Herr Minister Einert hat hier gesagt, man brauche etwa 2 % Wachstum, um den Stahlverbrauch zu stabilisieren. Ich denke, ein Wachstum von etwa 2 % ist auch notwendig, um den Arbeitsmarkt zu stabilisieren.Wir haben zur Zeit 3,5 Millionen Arbeitslose; wenn man die versteckten dazurechnet, sind es 5 Millionen. Wieviel Wachstum ist denn nach Meinung der Bundesregierung dazu notwendig, um hier einen Schritt in die richtige Richtung zu tun, nämlich Arbeitslosigkeit abzubauen? Wenn man Arbeitslosigkeit abbauen will, muß man doch sehr viel größere Wachstumsraten anpeilen. Wenn man diese Wachstumsraten hätte, dann hätten sie einen entsprechenden Einfluß auch auf die Stahlproduktion und den Stahlmarkt. Auch aus dieser Überlegung kann man, wenn man Wirtschaftspolitik optimistisch betreiben will, an eine Stabilisierung der Stahlproduktion und des Stahlabsatzes denken.Es gibt neue Lösungsversuche, um der Krise beizukommen.Wie wir in diesen Tagen gehört haben, schlägt der Kanzler Arbeitszeitverlängerung vor. Das ist die alte neue Offensivwaffe für den Standort Deutschland. Ich will das nicht qualifizieren.
— Ja. Es ist ja nichts undenkbar. Vielleicht kommt noch der Vorschlag, die Anlagennutzung in der Stahlindustrie zu verlängern. Aber ich warne Neugierige: Über 168 Stunden in der Woche hinaus sollte man nicht denken; das ist kaum möglich.
Das sind keine Lösungen.Zum Schluß gehe ich auf die Ausführungen des Kollegen Ramsauer — er ist nicht mehr da — ein. Es wendet sich wohl niemand gegen notwendige Restrukturierungen. Das habe ich schon eingangs gesagt. Restrukturierungen müssen, wenn sie notwendig sind, vorgenommen werden. Aber wir können doch wohl verlangen, daß sie mit Augenmaß, zeitlich angemessen und regional ausgewogen in Deutschland, was die Verteilung zwischen Nord und Süd und zwischen Ost und West angeht, durchgeführt werden. Diese Grundforderungen kann man wohl stellen.Ich meine, das ist erreichbar. Ich bin optimistisch: Es wird am Ende so kommen — nicht, weil sich die Regierung freiwillig bewegt, aber vielleicht, weil sie etwas bewegt wird. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat sich bereit erklärt, zu den Stahlarbeitern zu gehen, und wird das sicher bald realisieren. Wenn er es nicht täte, kommen die Stahlarbeiter — davon bin ich überzeugt — gern zu ihm, und das nicht allein, sondern in größeren Menschenmassen.Schönen Dank fürs Zuhören.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 11. Februar 1993, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.