Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröf f-net.
Ich rufe unseren heutigen Hauptpunkt, die Zusatzpunkte 5 bis 7 der Tagesordnung, auf:
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz-Günter Bargfrede, Dr. Wolf Bauer, Richard Bayha, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rüstungskontrolle und Abrüstung nach Ende des Ost-West-Konflikts
— Drucksache 12/2076 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Fortsetzung der Abrüstungspolitik nach der Auflösung der UdSSR
— Drucksache 12/2067 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Fuchs , Edelgard Bulmahn, Karsten D. Voigt (Frankfurt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Hilfen für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bei der Rüstungskonversion und der Stärkung des Non-Proliferationsregimes
— Drucksache 12/2068 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Widerspruch dazu sehe ich nicht.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Würzbach.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Endedes Ost-West-Konflikts, das Ende der Konfrontation bringt die großartige Möglichkeit zu mehr Kooperation, zu Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Diese Zusammenarbeit ist nach unserer Überzeugung nicht nur möglich, sondern im Interesse aller auch dringend nötig. Diese neue Lage bringt aber auch eine Menge von Unwägbarkeiten, von Instabilitäten, von Gefährdungen und von Gefahren. Deshalb hat Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik folgenden Zielen zu dienen: die bestehenden Gefahren abzubauen, neue vermeiden zu helfen, unbefugten und unbedachten Umgang mit Waffen und mit dem Wissen um diese Waffen zu verhindern und alles an Kooperation und multinationaler Verifikation zu erreichen, um die Sicherheit in allen Staaten in und für Europa zu stärken und zu erhalten. Das gilt auch für die globale Sicherheit im Hinblick auf die Dritte Welt, auf Auswirkungen auf diese und Rückwirkungen von dort auf uns.Trotz aller bisherigen Fortschritte gibt es — das kann man vor der Haustür beginnen abzulesen — einen dringenden und teils überfälligen Handlungsbedarf auf diesem Feld. Dem entspricht unser Antrag, der von der Union erarbeitete Antrag. Es ist ein Antrag, der alle Felder, die der Kontrolle, der Kooperation, der Verteidigungsfähigkeit, der Verifikation und auch der erforderlichen Sanktionen, umfaßt, im nuklearen wie im konventionellen Bereich, ein Antrag, der eine klare Perspektive für etwa das kommende Jahrzehnt umfaßt, ein Antrag, der wegen mancher heutiger Instabilitäten und Unwägbarkeiten die erforderliche Flexibilität beinhaltet, der den Interessen der Bundesrepublik Deutschland entspricht, ein Antrag, der die internationalen Gremien auch durch eigene Beiträge — zu erbringende oder schon erbrachte — zu höherer Effektivität auffordert. Ich sage deshalb: Es ist ein grundlegender, ein wegweisender Antrag der Koalition von CDU/CSU und FDP.Ich freue mich, daß unter den Zuhörern auf der Tribüne eine große Zahl von Soldaten sind, wie ich vorhin gehört habe, aus dem Bundesland Thüringen. Ich erwähne das mit Dank für den Dienst der Soldaten. Wir brauchen unsere Bundeswehr auch bei erfolgreicher Abrüstung und Rüstungskontrolle weiterhin zu unserer eigenen Stabilität.
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6398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992
Peter Kurt WürzbachIch will deutlich machen, daß der Sicherheitsbegriff heute erheblich umfassender zu formulieren ist. Wir alle sind uns quer über die Parteigrenzen hinweg darin einig. Das gleiche gilt für die Aufgaben der Rüstungskontrolle und der Abrüstungspolitik. Hier geht es nicht mehr nur um weniger Waffen, sondern vielmehr immer auch um effektive Kontrolle der getroffenen Abkommen, um Nichtweitergabe von Waffen und dem Wissen um diese und endlich auch — hier gibt es große Defizite — um wirksamere Möglichkeiten von internationalen Sanktionen.Wir wollen den jungen Demokratien im Osten weitere Hilfe geben, dabei aber klar fordern, daß diese mit überprüfbaren Abrüstungsvereinbarungen und mit multinationaler Kontrolle einhergehen muß, und das besonders und sofort beim möglichen Transfer von Waffen und Wissen um diese.Wir begrüßen die Initiativen von Bush und Jelzin. Sie sind gut. Wir erwarten, daß sie schnell konkret vereinbart und möglichst rasch umgesetzt werden. Der Anschluß aller anderen Alliierten an diese Initiativen sollte dann angestrebt werden. Wir wollen weiter die volle Beseitigung aller landgestützten Kurzstreckenwaffen und der nuklearen Artillerie. Atomteststopps gehören auch in diese Verhandlungsrunden.Ich will noch einmal zu den Kurzstreckenwaffen und zu der nuklearen Artillerie zurückkehren und auf die Dimension aufmerksam machen, über die wir relativ leicht und einig politisch und militärisch reden: Allein in der GUS gibt es rund 10 000 solcher Gefechtsköpfe für landgestützte Waffen. Ich frage: Wie wollen wir nicht nur politisch erklären, daß sie weg müssen, sondern sie wirklich technisch vernichten? Die Amerikaner werden hier Geld geben. Das ist von allen Seiten des Hauses begrüßt worden. Dieses Geld wird nicht reichen, es bedarf sicher mehr davon. Aber es bedarf vor allen Dingen der technischen Einrichtungen, damit die ehemalige Sowjetunion diese Waffen wirklich zerlegen kann und das militärisch nur dafür geeignete Uran in ausschließlich zivile Nutzung umorganisiert. Dies könnten wir mit einer Anlage, wie wir sie auf hohem technologischem Stand beispielsweise in Hanau haben — wo dies nicht getan wird, aber technisch getan werden könnte. Daher rege ich an, daß wir dieses deutsche Wissen und technische Können multinational, u. a. auch mit vielen der sowjetischen Wissenschaftler, über die wir alle miteinander viel reden, die in der Planung, Entwicklung, Beaufsichtigung und Bearbeitung tätig werden können, sehr schnell einsetzen.
— Entschuldigung, jede Fraktion redet zu ihrem Antrag. Ich möchte dies, Kollege Voigt, gern im Zusammenhang tun. Sie reden nachher ja selbst.Der Atomwaffensperrvertrag bleibt nach wie vor ein ganz wichtiges Element unserer Abrüstungs- und Kontrollpolitik. Er dient der Eindämmung von Massenvernichtungswaffen. Wir müssen darauf drängen, daß er verlängert wird, wenn dies Mitte des Jahrzehnts ansteht. Wir müssen alle Nachfolgerepubliken der ehemaligen Sowjetunion, aber auch viele andere Länder in der Welt, auch solche, mit denen wir engverbunden und befreundet sind, auffordern, daß sie endlich auch den Weg zur Mitgliedschaft finden, was längst überfällig ist. Ich nenne hier Länder wie Indien, Israel, Brasilien und viele mehr.Ich will ein paar Bemerkungen zur Atomenergiebehörde IAEA machen. Hier ist dringend erforderlich, daß wir die Kontrollmechanismen dieser wichtigen Behörde, die lange ein bißchen im Abseits schlummerte, verschärfen,
daß wir auch bei Verdacht kontrollieren dürfen, daß wir von dem sogenannten Konsensprinzip abkommen. Es ist schizophren, daß ein Staat, der international in Verdacht geraten ist, in dieser Runde sitzt und mit darüber zu befinden hat, ob bei ihm kontrolliert wird oder nicht.
Hier müssen Verdachtskontrollen — und zwar unangemeldete — auch bei solchen Anlagen durchgeführt werden können, die eigentlich als solche offiziell nicht deklariert sind. Die Überprüfungen im Irak bis in den November 1990 hinein haben hier traurige Beispiele gegeben.Um die Darstellung der Ohnmacht dieser Institution noch ein bißchen abzurunden, weise ich darauf hin — fast will man es nicht glauben —: Ein Kontrolleur, der im Namen der Behörde in ein bestimmtes Land geht, um zu kontrollieren, der muß tatsächlich vorher in diesem Land ein Visum beantragen, um einreisen zu können. Ich wollte es wirklich kaum glauben!
Das zeigt, wie stumpf dieses Instrument ist. Das muß schnell geregelt werden.Neben mehr Rechten, die dort erforderlich sind, brauchen wir mehr Personal. Die heute nur rund 200 Personen sind dazu nicht in der Lage. Wir brauchen eher 2 000. Auch hier weise ich wieder auf die zur Verfügung stehenden Experten aus der ehemaligen Sowjetunion hin, die sehr schnell und unbürokratisch eingesetzt werden könnten.
— Kollege Voigt, ein Wort zu Ihrem Antrag bzw. zu den Anträgen der SPD; Sie haben zwei vorgelegt, und ich meine beide. Hier sind eine Menge guter Ansätze, über die wir uns freuen, über die wir Einigkeit haben, die wir konstruktiv und mit aller Energie national wie international weiter verfolgen sollten.
Eines aber will ich in diesem Zusammenhang — das wird Sie nicht überraschen — sagen, was mich sehr befremdet. Leider ist mein SPD-Kollege aus Schleswig-Holstein nicht da. Es befremdet mich, wenn Ihr außenpolitischer Sprecher jüngst den deutschen Vorschlag, ehemalige sowjetische Atomwissenschaftler durch eine Stiftung finanziell abzusichern, als — so
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Peter Kurt Würzbachwörtlich — naiv und heuchlerisch bezeichnet hat, weil es — wiederum wörtlich — das gut organisierte Deutschland doch nicht einmal geschafft habe, deutsche Wissenschaftler und deutsche Unternehmen davon abzuhalten, Hussein bei seinem atomaren Rüstungsprogramm zu helfen.
Hier muß ich Ihnen sagen, daß diese verallgemeinernde Gleichsetzung von kriminellen und abzuurteilenden Verfehlungen mancher Firmen mit den besorgten deutschen Vorschlägen auf internationaler Bühne überhaupt nicht statthaft, sondern unangemessen ist und daß ich sie als mehr als zynisch bezeichnen möchte.
Zurück zu unserem Antrag: Wir sind für folgende weitere wichtige Elemente: die Stärkung der Kontrollmechanismen bei der Verbreitung von Raketentechnologie, international wirksame Strafen für eigene Staatsbürger, die im Ausland bei der Herstellung oder Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln mitwirken, Verzicht auf A-, B- und C-Waffen. Wir wollen, daß alle Staaten zügig dem Übereinkommen zum Verbot biologischer Waffen beitreten, und auch auf diesem wichtigen Feld — auch dies in den letzten Jahren ein bißchen abseits der Aufmerksamkeit — sind dringend Verifikationen und Sanktionen erforderlich.All die Dinge, über die wir hier sprechen, dürfen am Geld nicht scheitern.
Ich sage dies noch einmal deutlich auch vor dem Hintergrund, daß ja bei manchen Planungen bestehen, 50 Milliarden Dollar und teilweise erheblich mehr in hochtechnologische Raketenabwehrsysteme zu investieren. Wer dies überlegt oder gar schon plant, der muß erst recht bereit sein, sich mit einzureihen, solche Dinge zu finanzieren, wo wir an der Wurzel des möglichen Entstehens von Gefährdungen diese verhindern, und er ist aufgerufen, sich materiell, personell und finanziell an der Verhinderung solcher Dinge zu beteiligen.Auf die Konversion mit den erheblichen Auswirkungen — schon bei uns in kleinerem Maßstab zu spüren, erst recht in der ehemaligen Sowjetunion — will ich hier nicht näher eingehen, sondern nur darauf hinweisen.Ich will aber etwas zu den konventionellen Waffen sagen; denn wenn wir über Rüstungskontrolle und Abrüstung reden, dann steht im Augenblick das Nukleare im Vordergrund. Wir dürfen die gewaltigen konventionellen Waffen und deren Möglichkeiten jedoch nicht übersehen.Wir sollten als Bundesrepublik, da der Ratifizierungsvorgang von Wien und Paris durch die Umorganisation in der ehemaligen Sowjetunion ins Stocken gekommen ist, recht bald, meine ich, demonstrativ, angemeldet, offen und international überwacht mit dem Verschrotten der Tausende von Großwaffensystemen beginnen. Dies wäre ein deutliches internationales Signal für den Ernst unserer Vorhaben aufdiesem Feld; es wäre ein psychologisch-politisch wichtiges Signal an die jungen Republiken in der ehemaligen Sowjetunion, die dabei sind, sich zu finden und zu überlegen, wie und in welchem Umfang sie ihre eigenen Armeen formieren. Ich meine, daß dies ein guter, angemessener Schritt ist. All diese Staaten sind, mit wenigen Ausnahmen, inzwischen in der KSZE, und auch sie sind nun aufgerufen, zügig verbindlich zu erklären, auf welches Maß sie ihre überdimensionierten Streitkräfte abrüsten. Wir als Deutsche haben dies ja als einzige bereits völkerrechtlich verbindlich getan.Es gibt viele zu lösende, wenngleich sehr komplizierte Probleme, und es gibt zunehmende Bedrohungen alter oder vermeintlich neuer Art. Vielleicht sind einige schon älter und nun nur ein bißchen deutlicher geworden. Sie bestanden schon, aber wir haben uns mit anderen Dingen beschäftigt. Ich bin überzeugt, daß eine kluge und feste Politik es leisten wird, daß sie die Chancen der neuen Kooperationsmöglichkeiten nutzen wird und daß wir gemeinsam mit unseren verläßlichen und erprobten Partnern aus dem Westen und den neuen im Osten aufmerksam, beweglich und zugleich wachsam die Gefährdungen vermeiden und die Stabilität und Berechenbarkeit zur Sicherheit ausbauen.Die zukünftigen Rüstungskontroll- und Abrüstungsbemühungen haben mehr zu bedeuten, als nur zu reduzieren, nämlich eben auch zu verifizieren und, wo erforderlich, unterhalb der Schwelle militärischer Einsätze zu sanktionieren. Hier muß die internationale Staatengemeinschaft dringend handeln. Ein Anfang kann nächste Woche bei der anstehenden Tagung der IAEA, der Atomenergiebehörde, gemacht werden.Zu all den angesprochenen Feldern und manchen mehr gibt unser Antrag, wie wir meinen, wichtigste Anstöße.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Hermann Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU und der FDP ist vom Kollegen Würzbach als wegweisend bezeichnet worden. Die Frage ist, ob insgesamt die richtigen Wege gewiesen werden. Mit manchem, was Sie gesagt haben — mit vielem sogar —, sind wir einig. Aber die Probleme, die wir künftig in der Abrüstungspolitik haben, liegen eher in dem, was in Ihrem Antrag und von Ihnen noch nicht gesagt worden ist.Der Öffentlichkeit wird heute der Eindruck vermittelt, daß die westliche Abrüstungspolitik auf dem besten Wege sei; wenn es Probleme gäbe, dann lägen diese scheinbar ausschließlich andernorts: bei vagabundierenden ehemaligen sowjetischen Atomwaffen oder Atomwaffenexperten, bei den Verursachern gewaltsamer völkisch-nationalistischer Konflikte in Ost- und Südosteuropa, bei aggressiven Despoten „Mini-Hitlers" im arabischen Raum oder insgesamt beim islamischen Fundamentalismus, der in der westlichen Öffentlichkeit und Politik mehr und mehr zum
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6400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992
Dr. Hermann Scheerneuen ideologischen Feindbild stilisiert wird, quasi als Ersatz zum zerbrochenen Feindbild des kommunistischen Totalitarismus.Eine solche Betrachtungsweise — der Westen sei gut und vernünftig, die Friedensgefährdung und -bedrohung komme prinzipiell von anderen — ist ein frömmelnder Selbstbetrug. Der Westen ist erneut dabei, von seinen eigenen Problemen und Widersprüchen der Sicherheitspolitik abzulenken, indem er mit dem Finger nur auf andere zeigt.
Damit die eigenen Widersprüche möglichst gar nicht erst diskutiert werden, wird die Vokabel vom Konsens beschworen.Ich bin mit zwei Eckpfeilern der westlichen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik oder Sicherheitspolitik der Gegenwart nicht im Konsens.
Es gibt zwei sehr relevante Bereiche, in denen der Westen sich beharrlich weigert, seine eigenen Probleme wahrzunehmen, und seine damit einhergehende Verantwortung verleugnet, erstens das Festhalten an der atomaren Abschreckung als Strategieelement der NATO, obwohl alle früheren Voraussetzungen atomarer Bewaffnung der NATO hinfällig geworden sind, und zweitens die mangelnde Bereitschaft, den Prozeß der konventionellen Abrüstung fortzusetzen und dabei auf die NATO selbst die Grundsätze anzuwenden, die früher gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt eingefordert wurden.Zum Problem der atomaren Abschreckung als einem Element der Strategie der NATO: Die atomaren Waffen des Westens und die NATO-Strategie der atomaren Abschreckung wurden in der Vergangenheit damit begründet, daß die Sowjetunion ein erhebliches atomares Potential hatte und dieses seit den 50er Jahren immer weiter ausbaute, so daß zum Schutz dagegen ein Gleichgewicht des Schreckens bestehen müsse, eine wechselseitige Möglichkeit zur atomaren Vernichtung, damit vor einem Einsatz abgeschreckt werden könne, und daß die Sowjetunion mitsamt dem Warschauer Pakt eine konventionelle Überlegenheit in Verbindung mit einer offensiven Angriffsdoktrin habe, so daß zur Sicherheit dagegen die Strategie der flexiblen Antwort notwendig sei, also auch taktische Atomwaffen gegenüber konventioneller Übermacht und der Anspruch auf einen westlichen Ersteinsatz von Atomwaffen.Diese Voraussetzungen sind jetzt hinfällig geworden. Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben den Anspruch aufgegeben, ein atomares Gleichgewicht zu den USA zu haben. Sie wollen Freunde des Westens, nicht mehr Feinde sein. Sie sind bereit — am deutlichsten bisher die Ukraine —, sich atomar vollständig zu entwaffnen. Auch die russische und die kasachstanische Führung haben sich mehrfach zu einem vollständigen Atomwaffenabbau bereit erklärt. Ihre Atomtests sind eingestellt.Von einer konventionellen Überlegenheit kann angesichts der Auflösung des Warschauer Pakts, der deutschen Einigung und des Zerfalls der Sowjetunion keine Rede mehr sein. Dennoch hält der Westen an der Strategie der atomaren Abschreckung fest. Zwar reduzieren die USA ihre atomaren Waffen in erheblichem Umfang, aber die britischen und französischen atomaren Neu- und Zusatzrüstungen gehen weiter. Es ist nicht nur unverständlich, warum an der NATO-Strategie festgehalten wird, auch wenn man sie künftig Strategie der atomaren Abhaltung nennen will
— oder Abratung —, wie im Antrag der CDU/CSU und der FDP zu lesen ist.
Dies ist unverantwortlich.
Als Begründung werden zunehmend mehr neue Bedrohungen aus dem Süden genannt, etwa eine eventuelle atomare Bedrohung durch arabisch-islamische Staaten. Diese neue Begründung ist sehr viel problematischer als die alten Gründe
Die Begründung und die darauf aufbauenden Entscheidungen werden — das sage ich voraus — ein Kernpunkt künftiger prinzipieller sicherheitspolitischer Auseinandersetzungen sein.Vielen ist der negative Qualitätssprung noch gar nicht aufgegangen: Die NATO will künftig Atomwaffen als Sicherheitsreserve vorhalten gegen Staaten, die in ihrer konventionellen Bewaffnung der NATO nicht überlegen, sondern haushoch unterlegen sind
und die selbst noch gar keine Atomwaffen haben.
— Ich komme darauf. Aus einer Gleichgewichtsabschreckung soll eine Überlegenheitsabschreckung werden.
Die Folgen dieses Ansatzes werden aller Voraussicht nach verheerend sein. Denn dadurch werden sich mehr und mehr Staaten legitimiert fühlen, ihre atomaren Anstrengungen fortzusetzen.
Die NATO-Strategie führt deshalb mit innerer Zwangsläufigkeit dazu,
daß sie durch ihr Festhalten an Atomwaffen die neue Bedrohung erst schafft, die sie vermeiden will.
Der Widerspruch ist unüberbrückbar, Atomwaffen in eigener Hand als sicherheitsfördernd, in anderer Hand als teuflisch gefährlich zu betrachten. Dies ist
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Dr. Hermann Scheer— es tut mir leid — Ausdruck eines neuen internationalen Herrendenkens,
eines atomaren Imperialismus, den andere gerade deshalb nicht akzeptieren werden.
Die Gefahren der atomaren Verbreitung, vor denen niemand in diesem Hause mehr und öfter gewarnt hat als die SPD-Fraktion, können nicht eingedämmt werden, wenn diese Einseitigkeit, wenn dieser Widerspruch bleibt.
Die einzige in sich stimmige Antwort liegt darin, daß die NATO zur Bereitschaft findet, auf die atomare Abschreckungsstrategie zu verzichten, und daß der Westen seine prinzipielle Bereitschaft zum Abbau aller eigenen atomaren Waffen erklärt
— warten Sie erst einmal auf den Zusammenhang —, sich zum Ziel vollständiger kontrollierter atomarer Abrüstung bekennt und entsprechende internationale Initiativen einleitet.Niemand verlangt, daß der Westen alle seine Atomwaffen hergibt, solange andere Staaten solche Waffen haben.
Aber die politische Voraussetzung zur Verhinderung atomarer Weiterverbreitung ist die prinzipielle Bereitschaft auch zum eigenen Atomwaffenverzicht. Wenn der Westen sich dieser Konsequenz verweigert, ist er der eigentliche Verursacher der künftigen atomaren Gefahren, nicht ihr Verhinderer.Zu fordern sind vor allem eine Konferenz der Atomwaffenstaaten über den Abbau aller atomaren Waffenpotentiale, und zwar weltweit, und die Vereinbarung eines wirkungsvollen internationalen Regimes der Vereinten Nationen, mit dem alle weiteren Bemühungen von Staaten zu atomarer Rüstung unterbunden werden können. Das ist die neue qualitative Herausforderung, vor der wir stehen.Zur konventionellen Abrüstung will ich, da ich fast am Ende meiner Redezeit bin, nur auf folgendes hinweisen: Es war immer so, daß gesagt worden ist: „ Wer mehr hat, der muß mehr geben. " Das war unsere Forderung an den Osten, als dort eine ohne Zweifel vorhandene quantitative Überlegenheit gegeben war. Es wurde immer gesagt, man müsse die Fähigkeit zu Angriffshandlungen abbauen, um damit internationale Vertrauensbildung zu schaffen.Wie sieht die Lage heute aus? Unzweifelhaft besteht eine eindeutige konventionelle NATO-Überlegenheit gegenüber allen Nachbarn, nicht nur gegenüber den neuen Strukturen im Osten Europas. Eine Million Soldaten hat die NATO heute mehr als die früheren Staaten der Sowjetunion in Europa,
und fünfmal mehr gibt die NATO in Europa für Rüstung aus als alle Staaten des nordafrikanischarabischen Raumes, einschließlich Israels, zusammen. „Wer mehr hat, der muß mehr geben", das bedeutet angesichts der Überlegenheit auf dem maritimen Sektor, bei der Seerüstung, gleichzeitig, daß der Westen jetzt natürlich die Anforderung an sich selbst haben muß, einseitige konventionelle Rüstungsreduzierung in erheblichem Umfang einzuleiten, um damit den Prozeß der konventionellen Abrüstung weiterzuführen, der auf dem klassischen bilateralen Verhandlungssektor nicht mehr möglich ist.
— Da hat Deutschland eine besondere Verpflichtung, und es ist sie eingegangen. Wir reden hier aber insgesamt von westlicher Abrüstungspolitik.
Herr Dr. Scheer, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich bin auch gleich zu Ende. — An den Westen insgesamt ist die Forderung zu richten, hier die notwendigen einseitigen Abrüstungsmaßnahmen einzuleiten, um damit das Signal für internationale Vertrauensbildung zu geben, das notwendig ist, nämlich: Abrüstungsmaßnahmen in erheblichem Umfang.
Vielen Dank.
Als nächster hat der Abgeordnete Olaf Feldmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Scheer, der Antrag der Koalition ist auf gutem Wege. Es ist ein guter, umfangreicher und ausführlicher Antrag, der eigentlich Ihre Unterstützung verdient.
Sie, lieber Herr Kollege Scheer, haben heute total überzogen. Sie haben sich hier in einer Schwarzmalerei ergangen, mit der Sie der Sache keinen guten Dienst tun.
Sie haben neue Feindbilder aufgebaut, Herr Kollege Scheer.
In Europa stehen die Zeichen endlich auf Abrüstung und Rüstungskontrolle, das haben wir gemeinsam erreicht, und darüber sollten wir uns freuen.
Für die FDP-Fraktion kann ich sogar mit Stolz feststellen, daß sich unser Kampf für die doppelte NullLösung und gegen die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckensysteme in Europa gelohnt hat.Sicher, Herr Kollege: Einige Dinge sind erst Absichtserklärungen, z. B. die Bush/Gorbatschowoder die Bush/Jelzin-Abrüstungsinitiative, und sicherlich sind einige Dinge noch nicht ratifiziert, etwa
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6402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992
Dr. Olaf Feldmanndie KSE-Verträge und die START-Verträge. Dies alles müssen wir in die Tat umsetzen, und dazu will unser Antrag einen konstruktiven Beitrag leisten.Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion ist auch die scheinbare Stabilität der Konfrontation dahin. Jetzt gilt es, dauerhaft Stabilität und Sicherheit in Europa auf einem neuen breiten stabilen Fundament aufzubauen. Das wollen wir doch alle, und das unterstelle ich auch Ihnen. Dieses Fundament muß in eine umfassende wirtschaftliche Kooperation eingebettet werden.Die sicherheitspolitischen Eckpfeiler sind Abrüstung, Rüstungskontrolle, Rüstungsexportkontrolle und militärische Kooperation. Hauptziele unserer sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit den GUS-Staaten sind die internationale Kontrolle und kontrollierte Abrüstung der Atomwaffenpotentiale in diesen Staaten.
Die taktischen Nuklearwaffen — Gefechtsköpfe, Atomminen und Atomgranaten — in diesen Staaten müssen schnellstens unter internationaler Aufsicht
— auf „Hades" komme ich später noch zu sprechen — zentral gelagert und kontrolliert vernichtet werden. Das ist das Gebot der Stunde.Es muß verhindert werden — oder wollen Sie das nicht, Herr Kollege Scheer? —, daß die GUS-Nuklearwaffen, insbesondere die nuklearen Kurzstreckenwaffen, in andere Krisenregionen der Welt gelangen; denn dort liegt die Gefahr.
Deshalb brauchen wir bessere Abrüstungsinstrumente und bessere internationale Kontrollmöglichkeiten.
Die UNO-Kontrollmöglichkeiten zur Einhaltung des Nichtverbreitungsvertrags sind unzureichend. Herr Kollege Würzbach hat darauf völlig zu Recht hingewiesen. Selbst bei schwerwiegendem Verdacht können sich NVV-Staaten bisher der UN-Kontrolle entziehen. Auch die UN-Kontrollschwerpunkte sind falsch, sind zumindest schief gesetzt. 70 % aller Inspektionen finden zur Zeit in Deutschland, in Japan, in Schweden und in Kanada statt, als ob von diesen Staaten Gefahr droht. Andere Staaten wie Indien, Pakistan, Israel und Syrien verweigern noch immer eine effektive internationale Kontrolle. Das ist so nicht länger hinnehmbar.UN-Nuklearinspektoren müssen in Zukunft schwerpunktmäßig in Krisenregionen und nuklearen Schwellenländern eingesetzt werden. Dafür reichen — wir kommen auf die gleichen Zahlen — die derzeit200 IAEO-Inspektoren bei weitem nicht aus. Das Zehnfache, 2 000 Inspektoren, ist notwendig.
— Damals stand die Angelegenheit unter einem völlig anderen Aspekt, Herr Kollege Verheugen. Das wissen Sie auch.Die FDP unterstützt Bundesaußenminister Genscher in seiner Forderung, einen Fonds zur Beschäftigung von GUS-Atomwissenschaftlern einzurichten. Die aus diesem Fonds finanzierten Atomexperten könnten für die IAEO die Kontrolle und Überwachung der Vernichtung der Nuklearwaffen in ihren Ländern als Inspektoren vornehmen.
— Das findet Ihre Zustimmung. Das freut mich. Noch wichtiger wäre allerdings, daß Staaten in Zukunft IAEO-Verdachtskontrollen nicht mehr verweigern können. Dafür braucht die UNO die Legitimation der Staatengemeinschaft und funktionsfähige Mechanismen.Meine Damen und Herren, Sicherheit in Europa braucht neue Strukturen. Die NATO hat sich bewährt, aber sie ist kein Instrument umfassender Kooperation. Das ist die KSZE.
Die KSZE hat schon immer Ost und West miteinander verbunden. Nach dem entscheidenden Durchbruch vom Konsens- zum Mehrheitsprinzip in Prag kann die KSZE zum zentralen Instrument einer umfassenden Kooperation in Europa heranwachsen. Natürlich ist der Weg zu einer wirksamen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung in Europa durch die KSZE noch weit. Hierfür müssen wir den KZSE-Prozeß konsequent vorantrieben. Die KSZE braucht Zähne. Die KSZE muß eine Art „Euro-UNO", mit Sicherheitsrat und ihr unterstellten Truppen, werden.
Uns allen ist klar, daß Sicherheit und Stabilität nicht mehr als Ergebnis der Anhäufung von Waffen zu erreichen ist. Im Gegenteil: Das Waffenerbe des Kalten Krieges ist zur Zeit die größte Bedrohung unserer Sicherheit. Wir müssen der Waffenproduktion insgesamt Zügel anlegen. Die Errichtung eines Waffenregisters bei den Vereinten Nationen ist ein erster wichtiger Schritt zur Transparenz. Ein weiterer Schritt wäre eine Offenlegung der Rüstungsproduktion in Europa.
— Da stimme ich zu. Ihr Zuruf war völlig zu Recht, Frau Fuchs. Die Forschung muß mit herein.Waffen dürfen kein Exportartikel sein. Effektive Waffenexportkontrolle muß zum Hauptziel einer gemeinsam en europäischen Außen- und Sicherheitspolitik werden. Unsere restriktive Rüstungsexportkontrollpolitik bringt wenig, wenn sie wie bisher
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 6403
Dr. Olaf Feldmanndurch multinationale Rüstungskooperation unterlaufen wird. Mit der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes muß auch ein einheitliches europäisches Rüstungsexportkontrollregime eingeführt werden.
Meine Damen und Herren, die Tage der taktischen Nuklearwaffen sind auch im europäischen Westen gezählt. Was wir vom östlichen Nachbarn fordern, darf auch im Westen nicht tabu sein. Die Hades-Raketen passen nicht mehr in unsere europäische sicherheitspolitische Landschaft.
Da sind wir uns alle einig. Das haben wir auch bei der Debatte des letzten Antrages festgestellt.
Ich möchte zum Schluß unseren Abrüstungsexperten im Auswärtigen Amt und den Rüstungskontrollsoldaten der Hardthöhe Anerkennung und Dank der FDP-Fraktion für ihre Pionierarbeit aussprechen. Ohne ihren Einsatz und ihre Arbeit wäre Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht möglich.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Hans Modrow.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vollzogenen Schritte zur Abrüstung und neue Initiativen zur Reduzierung der Kernwaffen, wie sie von Präsident Bush und Michail Gorbatschow ausgingen
und heute von den Nuklearmächten der GUS mitgetragen werden, finden allgemeine Zustimmung und wecken neue Hoffnung. Wir übersehen dabei auch Bemühungen der Bundesregierung nicht. Die Anträge der SPD sind jedoch zeitgemäß. Herr Scheer hat hier nur
die sich neu abzeichnenden Feindbilder benannt und sie keinesfalls erfunden.
Auch unsere Position zur Abrüstung geht weit über die von der Bundesregierung vertretene Auffassung hinaus. Der heute von der Fraktion der Regierungsparteien vorgelegte Antrag kann eine Sache nicht aus der Welt schaffen. Die Bundesregierung denkt nicht daran, den qualitativen Zuwachs militärischer Macht einzuschränken.
Im Gegenteil werden am Grundgesetz vorbei Einsätzeder Bundeswehr geplant und vorbereitet. Abgerüstetwird nur das, was veraltet ist. Landgestützte taktische Kernwaffen werden in den USA und in der NATO zwar beseitigt, die Entwicklung von neuen luftgestützten Raketen, von Raketenabwehrprogrammen, von ballistischen seegestützten Raketen wird jedoch fortgesetzt.Es bleibt bei der atomaren Abschreckung, auch wenn sie künftig mit der Charakterisierung „minimal" als weniger schrecklich ausgegeben wird. Es wird auch verborgen, daß die Bundesregierung keinen nennenswerten Aufrüstungsplan gestoppt hat, der zur Zeit eines intakten Warschauer Vertrages, des ungebrochenen Feindbildes einer hochrüstenden Sowjetunion beschlossen wurde. Das sind keine Behauptungen, sondern Fakten.Auch wir sind dafür, daß der jetzt eingeleitete Prozeß der nuklearen Abrüstung vertieft und beschleunigt werden muß, indem er durch energische Kontrollmaßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung begleitet wird. Alle Bemühungen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen werden aber letztlich erfolglos sein, solange nicht die Kernwaffenstaaten selbst auf einen dauerhaften Besitz dieser Waffen und ihrer Weiterentwicklung zu verzichten bereit sind. Hier kann und muß die Bundesrepublik als einer der bedeutendsten Nichtkernwaffenstaaten ihren Einfluß geltend machen.So muß doch gefragt werden, warum die erklärte Bereitschaft Rußlands, der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans zu einem totalen Kernwaffenverzicht nicht mit einer entsprechenden westlichen Initiative beantwortet wird. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, sich für die schnellstmögliche Einberufung einer Konferenz aller atomaren Mächte stark zu machen, die die Voraussetzungen und Schritte zu einer Welt ohne atomare Waffen mit strikter internationaler Kontrolle erarbeitet.Solche Wege, um die Gefahren der atomaren Weiterverbreitung einzudämmen, dürfen nicht ungenutzt bleiben. Die globalen Fragen unserer Erde werden wir auch nur dann lösen können, wenn sie nicht mehr mit Kernwaffen bestückt sein wird.Wir vermissen auch eine klare Haltung in einer anderen eminent wichtigen Frage, nämlich zum Verbot von Atomwaffentests. Wenn der Teufelskreis der atomaren Rüstung durchbrochen werden soll, dann muß hier begonnen werden; denn über sie werden diese schrecklichen Massenvernichtungswaffen immer wieder vervollkommnet. Die Bundesregierung aber schweigt, wenn die USA und andere NATO-Verbündete nicht einmal eine befristete Einstellung der Tests zulassen. Auch in den vorliegenden Anträgen fehlt eine solche Aussage.Gewiß stellt die Auflösung der UdSSR die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik vor neue Aufgaben. Das gilt insbesondere für die massenhafte Vernichtung beträchtlicher Waffenberge beziehungsweise deren gesicherte Lagerung. Vieles müssen hier die Nachfolgestaaten selbst verantwortungsbewußt lösen. Ebenso sicher ist, daß sie dabei die Hilfe der internationalen Gemeinschaft benötigen.Es ist aber ein untauglicher Ansatz, wenn weitere Hilfe für die politische und wirtschaftliche Umgestal-
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6404 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992
Dr. Hans Modrowtung und für den Aufbau einer Marktwirtschaft — wie es in dem Antrag der CDU/CSU und der FDP heißt — mit Abrüstungs- und Kontrollschritten zusammengebunden wird.
So wie die Dinge nun einmal liegen, reicht es nicht aus, diese Staaten zur weiteren Abrüstung zu drängen.
— Hören Sie doch erst einmal zu! — Was die Staaten brauchen, ist vor allem Hilfe, damit sie die bei der Umstellung der Rüstungsindustrie und der Verringerung von Waffen und Soldaten auftretenden sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten lösen können. Wenn sie dieses Problem nicht bewältigen, wenn ihnen hierbei, statt zu helfen, Bedingungen diktiert werden, kann die Entwicklung, die bisher weitgehend friedlich verlief, außer Kontrolle geraten, und zwar mit unkalkulierbaren Gefahren für Europa.Etwas ganz anderes kann noch eintreten: Mancher dieser Staaten könnte sich anderen zuwenden, die ihnen für die Zusammenarbeit keine Bedingungen diktieren; denn wir wissen doch, um welche Räume es sich insgesamt, in der Summe aller Staaten handelt.
Daß die GUS-Staaten Mitglied der KSZE geworden sind, schließt so etwas nicht aus. Wir sind deshalb dafür, diesen Staaten mit technischem Know-how, mit der Unterstützung von Konversionsmaßnahmen zielgerichtet zu helfen.Im übrigen gilt, was ich bereits eingangs sagte: Nur wenn der Grundsatz Schule macht, mit echten Abrüstungsvorleistungen andere zu gleichen Taten zu veranlassen, wird es in Zukunft wirkliche Abrüstung geben.
Gute Worte und einige Abstriche an ansonsten weiterlaufenden Rüstungsprogrammen machen die Welt nun einmal nicht sicherer. Das Rüstungsgeschäft in diesem Land gehört gleichfalls „abgewickelt", und wenn wir es so nicht schaffen, dann sollten wir es der Treuhand in Verantwortung übertragen. Die hat sich bekanntlich bei der Abwicklung von Industrien im letzten Jahr deutlich bewährt.
Als nächster Redner spricht der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rüstungskontrolle hat an der friedlichen Überwindung der Ost-West-Konfrontation in Europa einenwichtigen Anteil gehabt. In der Zeit des Kalten Krieges diente die Rüstungskontrolle vor allem dazu, der Gefahr militärischer Konfrontation vorzubeugen und trotz des zugrunde liegenden Systemgegensatzes auch im Bereich der militärischen Sicherheit die Zusammenarbeit zu fördern. Heute kommt es darauf an, Verhandlungen über militärische Aspekte der Sicherheit in einen größeren Zusammenhang zu stellen, der auch die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimensionen der Sicherheit im Auge behält. Eine zentrale Aufgabe wird dabei die Erarbeitung einer kooperativen Strategie der Konfliktverhütung sein.Als weitere neue Schwerpunkte der Rüstungskontrolle zeichnen sich ab: die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Einschränkung von Waffenexporten und die Konversion von Rüstungsproduktion.Der Zerfall der früheren Sowjetunion bereitet in diesem Zusammenhang besondere Sorge. Dies gilt in erster Linie für die taktischen Nuklearwaffen auf dem Territorium der früheren Sowjetunion — ein Sicherheitsproblem, das nicht nur die Nuklearmächte, sondern alle Bündnispartner betrifft.Wir haben daher am 9. Januar dieses Jahres eine Initiative im Bündnis eingeführt, die sicherstellen soll, daß die von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion übernommenen Verpflichtungen aus der Bush-Gorbatschow-Initiative vom vergangenen September erfüllt werden, das heißt, daß nukleare Kurzstreckenraketen und nukleare Artilleriemunition in den Beständen der amerikanischen und der früheren sowjetischen Armee weltweit vernichtet werden. Wir haben dazu konkrete Vorschläge entwickelt. Vor allem soll zwischen den Bündnispartnern und den Vertretern der sogenannten GUS-Mitglieder deren Bitte um Unterstützung bei der Eliminierung der Nuklearwaffen besprochen und eine eventuelle westliche Beteiligung koordiniert werden. Wir wirken mit Nachdruck darauf hin, diese Aufgabe umgehend anzupacken.Im Bereich der strategischen Nuklearwaffen sehen die Initiativen von Präsident Bush und Präsident Gorbatschow vom Vorjahr sowie die Ankündigung Präsident Bushs in seiner Rede zur Lage der Nation am 28. Januar 1992 und die umgehende Reaktion von Präsident Jelzin eine drastische Reduzierung der strategischen Nuklearpotentiale vor. Wir unterstützen die Grundidee, eine strategische Stabilität auf einem Niveau herzustellen, das noch bedeutend unter den Schwellen liegt, Herr Kollege Scheer, die im Vertrag über die Verminderung strategischer Waffen — im START-Vertrag — vereinbart wurden. Wir erwarten, daß diese Initiativen, soweit sie einseitige Entscheidungen enthalten, verläßlich umgesetzt werden und, soweit sie beide Seiten betreffen, bald in kooperative Abrüstungsmaßnahmen übergehen.Auch im Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle stehen wir vor drängenden Aufgaben. Die möglichst rasche Inkraftsetzung des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa ist für uns ein vordringliches Anliegen. Es muß sichergestellt werden, daß die KSZE-Vertragspflichten der ehemaligen UdSSR von den betroffenen neuen Republiken
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Staatsminister Helmut Schäferschnellstmöglich und in vollem Umfang übernommen werden. Wir erwarten daher die baldige Ratifizierung des Vertrages durch die neuen Republiken.Der Abschluß eines Abkommens zur Begrenzung der Truppenstärken ist für uns eine logische und konsequente Ergänzung des KSE-Vertrages. Die entsprechenden Verhandlungen über Personalreduzierungen werden auf der Grundlage eines von der deutschen Delegation eingeführten Abkommensentwurfes geführt. Im Hinblick auf die neu entstehenden Streitkräfte der Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sie zusätzliches Gewicht bekommen. Wir wirken darauf hin, diese Verhandlungen bis zum nächsten Gipfeltreffen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Juli in Helsinki abzuschließen. Darüber hinaus messen wir den Vorbereitungen für neue Rüstungskontrollverhandlungen nach dem Helsinki-Folgetreffen ebenfalls große Bedeutung bei.Die in Wien parallel dazu laufenden Verhandlungen über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sind auf gutem Weg. Ihr Ziel ist es, durch ein neues Paket von Maßnahmen die Transparenz der Aktivitäten und Strukturen der Streitkräfte in Europa weiter zu erhöhen. Wir erwarten auch, daß ein Abkommen über ein Maßnahmenpaket zur Schaffung der sogenannten „open skies" zu Beginn der KSZE-Folgekonferenz in Helsinki unterschrieben werden kann. Mit einem solchen Regime würde eine Maßnahme militärischer Transparenz und Vertrauensbildung erstmals auf den gesamten Raum von Vancouver bis Wladiwostok, vom Pazifischen Ozean bis zum Japanischen Meer ausgedehnt.Unter den künftigen Aufgaben der Rüstungskontrolle nimmt die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen einen herausragenden Platz ein. Die Bundesrepublik Deutschland hat als einziger Staat freiwillig auf atomare, biologische und chemische Waffen verzichtet. Abkommen wie der Vertrag über die Nichverbreitung von Kernwaffen, dessen Verlängerung ab 1995 sichergestellt werden muß, und das Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen, das noch verifizierbar gemacht werden muß, sind Modelle kooperativer Sicherheitspolitik auf weltweiter Ebene.Zur strikten Kontrolle von Massenvernichtungswaffen gehören neben den Nuklearwaffen, die aus gutem Grund heute im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, auch die chemischen Waffen. Die endgültige Ächtung dieser Waffen durch ein allgemeines, weltweites und zuverlässig verifizierbares Verbot in der Genfer Abrüstungskonferenz ist der einzige erfolgversprechende Weg hierfür. Wir erwarten, daß noch 1992, Frau Fuchs, eine Konvention zum weltweiten Verbot chemischer Waffen abgeschlossen wird.
— Ich mußte deshalb lachen, weil ich die SPD im Vorgriff auf ihr Verhalten — ich erinnere mich an frühere Reden — schon vor mir sah. Und genauso hat sie reagiert. Ich kann also nur sagen: Diesmal sieht es wesentlich besser aus, Frau Fuchs. Es lag aber sicher,wie Sie wissen, nicht an uns, daß es in Genf immer wieder Schwierigkeiten gegeben hat.
— Herr Kollege Voigt, es gibt ja auch enorm viele Voigt-Initiativen, die wir immer mit großem Interesse verfolgen; also nicht nur Genscher-Initiativen. Das gestehen wir Ihnen ja zu. Wir hoffen jedenfalls, in Genf weiterzukommen.Auch die bestehenden Arsenale müssen möglichst bald abgerüstet und vernichtet werden. Rußland, das nach den Worten von Präsident Jelzin alle Chemiewaffen der ehemaligen Sowjetunion auf seinem Territorium lagert, hat sich zu deren völliger Vernichtung verpflichtet.
Die Bundesregierung ist bereit, bei der Lösung der im Zusammenhang mit der Lagerung, Sicherung und Vernichtung chemischer Waffen anstehenden Probleme konstruktiv mitzuwirken.Die Bundesregierung setzt sich auch ein für die volle Implementierung des auf ihren Vorschlag bei den Vereinten Nationen einzurichtenden Registers für Waffentransfer, das allen Staaten eine Beteiligung von Anfang an ermöglichen soll. Sie begrüßt es, daß das Register darauf angelegt ist, fortgeschrieben und ausgebaut zu werden. In der Vorbereitung dafür soll die Genfer Abrüstungskonferenz die Folgen der Anhäufung von Waffen und weitere Transparenzmaßnahmen prüfen und dabei Massenvernichtungswaffen und den Transfer von Militärtechnologie berücksichtigen.Die Bundesregierung verfolgt die Proliferationsgefahren infolge des Zerfalls der ehemaligen Sowjetunion mit großer Sorge. Dies bezieht sich nicht nur auf die Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der dazu gehörigen Trägersysteme, sondern auch auf die Möglichkeit der Abwanderung ehemaliger sowjetischer Atomwaffenexperten und sonstiger Waffenexperten in Problemländer. Bundesaußenminister Genscher hat dieses Problem u. a. in seinen Gesprächen mit seinen westlichen Kollegen, aber auch mit dem russischen Außenminister, ferner mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen aufgegriffen und, wie Sie wissen, bereits konkrete Vorschläge unterbreitet.Die Bundesregierung hat sich erfolgreich bei ihren europäischen und atlantischen Partnern dafür eingesetzt, daß sich auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bei seinem Sondergipfel am 31. Januar dieses Jahres mit dieser Thematik befaßt hat. Auch die KSZE hat den Transfer von sensitivem Fachwissen auf unsere Anregung in der Prager Erklärung über Nichtverbreitung und Waffentransfer als Arbeitsprogramm für den Rüstungskontrollprozeß nach Helsinki vorgesehen.In enger Abstimmung mit den USA und Rußland wird derzeit an der Weiterentwicklung von Überlegungen gearbeitet, in Rußland eine internationale Auffangorganisation für die Beschäftigung von Wis-
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Staatsminister Helmut Schäfersenschaftlern aus sensitiven Bereichen aus den verschiedenen Republiken zu gründen.Eine Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten der Internationalen Atomenergieagentur auch das kam heute zur Sprache — dient vitalen Sicherheitsinteressen unseres Landes. Die Bundesregierung begrüßt die Bereitschaft der Koalitionsfraktionen des Bundestages, diese Organisation gegebenenfalls personell und materiell zu unterstützen, soweit dies zur Stärkung des Nichtverbreitungssystems von Massenvernichtungswaffen notwendig ist.
Die Bundesregierung wird sich weiterhin darum bemühen, daß sich Rußland und die anderen Mitglieder der GUS an diesen umfassenden Sicherheitsmaßnahmen beteiligen.Das betrifft auch das Trägertechnologie-Kontrollregime, an dem 18 Staaten teilnehmen.
Bei dem letzten Treffen dieser Staaten in Washington im November 1991 faßten sie auf Anregung der Bundesregierung und ihrer EG-Partner einen Grundsatzbeschluß, der die zukünftige Öffnung des Trägertechnologie-Kontrollregimes auch für biologische und chemische Sprengköpfe einleitet.Das ist, glaube ich, eine Bilanz, die sich sehen lassen kann, die eine ganze Fülle von Vorschlägen macht, in der neuen Situation unsererseits politische Maßnahmen anzuregen und durchzusetzen, die in unser aller Interesse liegen. Ich bedanke mich bei den Koalitionsfraktionen für ihren Antrag. Das, was heute von verschiedenen Kollegen zusätzlich angesprochen worden ist, wird natürlich in Zukunft auch noch unser Interesse finden, etwa die Fragen: Wie geht es mit den Tests weiter? Wie sieht es mit bestimmten Raketen in unseren unmittelbaren Nachbarstaaten aus?Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ob die NATO jemals ein Feindbild hatte und ob es ihr denn überhaupt abhanden kommen konnte, das lasse ich einmal dahingestellt.
Jedenfalls eines stelle ich fest: Nicht nur dem Kollegen Modrow, bei dem mich das nicht überrascht, sondern auch dem Kollegen Scheer ist das Feindbild nicht abhanden gekommen: Es ist der Westen.
Bei dem Kollegen Modrow braucht das niemanden weiter zu interessieren. Aber ob es die sozialdemokratische Fraktion nicht interessieren muß, wenn eines ihrer Mitglieder eine solche Vorstellung vom Westenhat, das will ich Ihnen doch einmal als Frage stellen.
Da wir Sicherheitspolitik neu definieren müssen, müssen wir auch den Stellenwert von Abrüstung und Rüstungskontrolle neu festlegen. Sicherheit war bislang ein Ost-West-Problem. Heute ist es vornehmlich ein Ost-Problem. Erst dessen Auswirkungen machen es zu einem Risiko für den Westen. Rüstung war bislang Ausdruck der Ost-West-Konfrontation
und in ihrem Übermaß zugleich deren Mitursache.Rüstung ist heute ein Problem zwischen den früheren Mitgliedern des ehemaligen Warschauer Paktes und für einige von ihnen ein Problem für ihre innere Stabilität. In der ehemaligen Sowjetunion und in dem, was sich heute Gemeinschaft Unabhängiger Staaten nennt, sind die Streitkräfte so etwas wie ein — man ist versucht zu sagen — freischwebender Faktor. Die politische Kontrolle über sie reicht nicht sehr weit, wie übrigens auch in anderen Gebieten.Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik des Westens hatte früher das Ziel, zu verhindern, daß sich Waffen des Ostens nach außen, d. h. gegen ihn, den Westen, richteten. Heute muß es das Ziel sein, zu verhindern, daß sie sich gegen eines der nunmehr von der sowjetischen Zwangsherrschaft befreiten Mitglieder richten, noch mehr, daß sie zwischen den GUS- Staaten angewandt werden, vor allem aber, daß sie im Innern dieser in noch jeder Hinsicht ungefestigten Staaten die innere Stabilität gefährden, womit auch wieder ein erstrangiges sicherheitspolitisches Problem für den Westen entstünde.So erscheinen die Aufgabe und das Problem nur auf den ersten Blick für den Westen nicht mehr so vorrangig wie früher. Doch bei näherem Hinsehen und in einer etwas weiteren, jedoch keineswegs längeren Perspektive stellt sich das Problem als auch für den Westen ungewöhnlich riskant und im Vergleich zu früher vielleicht noch schwieriger zu lösen dar. Denn der Kern des neuen Sicherheitsproblems sind eben die inneren Zustände in den ehemaligen Ostblockstaaten, vor allem in der ehemaligen Sowjetunion. Was aber, so frage ich uns, ist eigentlich schwieriger, als auf die inneren Verhältnisse anderer Länder einzuwirken? Wie schwierig ist das erst in einem solchen Land wie Rußland? Wie äußerst gering sind unsere Möglichkeiten, etwa auf Tadschikistan einzuwirken?Ich bin davon überzeugt, die erste und mit Abstand wichtigste Voraussetzung für die neue Sicherheitspolitik ist, die sehr engen Grenzen unserer Möglichkeiten einer Einwirkung auf den sicherheitspolitischen Problembereich Osten klar ins Auge zu fassen.In der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik werden uns die Schwierigkeiten jeden Tag deutlich vor Augen geführt. Sie alle liegen weniger begründet im guten Willen der Beteiligten gegenüber dem Westen als vielmehr in ihren mangelnden Fähigkei-
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Karl Lamersten. Die Ursachen für diese Unfähigkeit liegen in der desolaten, ja zum Teil chaotischen inneren Lage. Mangelnder guter Wille ist allerdings im Verhältnis untereinander zum Teil durchaus gegeben. Er ist begründet im wechselseitigen Mißtrauen vor allen Dingen gegenüber Rußland.Dennoch muß Rüstungskontrolle und Abrüstungspolitik zur präventiven Sicherheitspolitik werden. Sie muß die Beibehaltung der jetzigen riesigen Überrüstung in der GUS beenden oder gar einen wilden Aufwuchs verhindern. Sie muß durch ein umfassendes Netz von Verifikationen Vertrauen nicht in erster Linie zwischen Ost und West, sondern innerhalb des Ostens begründen. Mit anderen Worten: Sie muß versuchen, mit ihren Mitteln politisch zu stabilisieren.Die Schwierigkeiten der Abrüstungspolitik vervielfachen sich, wenn wir die Möglichkeiten der allgemeinen Sicherheitspolitik für die östliche Hälfte Europas ins Auge fassen. Die generelle Frage lautet: Wie kann die Sicherheit in diesem Raum gewährleistet werden, und welchen Beitrag kann und muß der Westen leisten? Kann er allen oder nur einigen Staaten Osteuropas und der GUS eine generelle Sicherheitsgarantie geben, oder sollten gar, wie Oskar Lafontaine es vorgeschlagen hat, alle in die NATO aufgenommen werden oder einige von ihnen ? Soll der Schutz einer solcher Art erweiterten Allianz nach außen wirken oder nach innen? Nach außen erscheint nicht sonderlich aktuell. Ein Angriff Chinas, von dem Oskar Lafontaine sprach, ist nicht gerade eine besonders akute Annahme.
Ah ja.— Das Sicherheitsproblem besteht eben innerhalb des Raumes. Wie aber soll die NATO in Nagorny-Karabach oder gar bei einem Konflikt zwischen Rußland und einem anderen GUS-Mitglied eingreifen?
Natürlich läßt sich einwenden, im Falle einer Mitgliedschaft aller in der NATO komme es erst gar nicht zu solchen Konflikten. Doch diese Hoffnung ist sicher allzu kühn, das Risiko entschieden zu groß. Deshalb glaube ich — nebenher gesagt —, daß Oskar Lafontaine mit seinem Vorschlag etwas ganz anderes bezweckte und, Kollege Verheugen, gar nicht so verrückt war, wie Sie es gemeint haben. Oskar Lafontaine wollte offensichtlich seine eigene Partei auf die unsinnige Begrenztheit Ihrer Diskussion über Blauhelme hinweisen; denn bei einer Erweiterung der Allianz käme sofort die Frage auf, wieso denn in einem solchen Fall deutsche Streitkräfte plötzlich auf Grund eines mit einfacher Mehrheit zu beschließenden Ratifikationsgesetzes bis nach Wladiwostock sollten eingesetzt werden können, jedoch bei wesentlich unproblematischeren Einsätzen etwa im Rahmen der Vereinten Nationen nicht; dies sollte nur mit Hilfe einer Zweidrittelmehrheit möglich sein.
— Das ist genau die Konsequenz des Vorschlags von Oskar Lafontaine.Also, eine Erweiterung der NATO auf alle Staaten im anderen Teil Europas kann es in absehbarer Zeit nicht geben. Kann es sie für einige geben? Das würde bei dem wichtigsten der Ausgeschlossenen, nämlich Rußland, sofort die Reaktion auslösen, daß sich die Allianz dann gegen es, Rußland, richte, was übrigens dem Bedrohungsbild der dann Aufgenommenen auch entspricht.Aber wir dürfen bei Rußland keinesfalls den Eindruck aufkommen lassen, es solle aus europäischen Regelungen ausgeschlossen werden. Ein selektives Vorgehen ist daher zur Zeit jedenfalls ebensowenig ratsam. Aber unsere längerfristige Perspektive muß schon differenziert sein.Das wird vor allem bei den Ländern deutlich, die der Europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Politischen Union beitreten wollen und nach unserem Willen auch sollen: Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei. Sie müssen dann den gleichen sicherheitspolitischen Status wie alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft haben. Ihre Mitgliedschaft in der NATO über die EPU/WEU als deren europöischen Pfeiler kann das eben beschriebene Problem lösen helfen.Bis dahin aber müssen wir zumindest die Umrisse eines ganz Europa, d. h. vor allem auch Rußland und die anderen Mitglieder der GUS umschließenden Sicherheitssystems entwickelt haben. Dieses System sollte, Kollege Feldmann, in der Tat NATO heißen, und es wird nach meiner Überzeugung auch so heißen. Diese Perspektive läßt sich jedoch nur verwirklichen, wenn sich die innenpolitische Lage vor allem in Rußland und in den anderen beitrittswilligen Ländern der GUS stabilisiert hat und sich grundlegend von der heutigen unterscheidet.
— Ja, bitte,
Herr Lamers, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie, wenn sich die innenpolitische Lage in Rußland und in anderen Staaten der GUS stabilisiert hat, dafür sind, daß diese Staaten auch der NATO beitreten können?
Ich wollte gerade begründen, wieso ich das durchaus für eine langfristige Perspektive halte.
— Nein, überhaupt nicht. — Es kommt entscheidend darauf an, daß sich die politischen Verhältnisse stabilisieren, d. h. daß sie sich grundlegend verändern. Oskar Lafontaine sprach demgegenüber von einem auf heute bezogenen Vorschlag.
Die NATO — Herr Kollege Voigt, ich komme darauf zusprechen — hätte dann sicherlich auch nach außen hinFunktionen zu erfüllen, aber sie wäre im wesentlichen
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Karl Lamersein echtes kollektives Sicherheitssystem, d. h. ein System, dessen Mitglieder ihre Sicherheit gegenseitig garantieren. In diesem System gäbe es gewissermaßen drei politische Gravitationsfelder: einerseits die USA, andererseits die Europäische Politische Union und schließlich Rußland und die GUS oder was immer sich daraus entwickeln mag.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Abgeordneten Karsten Voigt?
Bitte sehr.
Herr Lamers, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Oskar Lafontaine in dieser Frage intern noch differenzierter und weitschauender gedacht hat, als Sie es jetzt nachzuvollziehen überhaupt bereit sind? Denn Ihr Konzept ist eigentlich nicht so detailliert und so differenziert wie das, was Oskar Lafontaine ausgearbeitet hat. Deshalb haben Sie in Wirklichkeit nur Schwierigkeiten mit der Pro-NATO-Orientierung der SPD.
Kollege Voigt, ich bin sehr gespannt, diese internen Überlegungen des Kollegen Oskar Lafontaine kennenzulernen.
Ich sehe, andere Kollegen aus Ihrer Fraktion auch. Wir haben heute etwas Interessantes erfahren.
— Gut, dann wird es ja nicht lange dauern, bis es das Licht der Öffentlichkeit erblickt.
Im übrigen, Kollege Voigt, sind wir uns vielleicht darin einig, daß der Nordatlantische Kooperationsrat und auch die KSZE gleichgerichtete Ansätze auf dem Weg hin zu diesem Ziel haben. Bis wir das erreicht haben, müssen wir, glaube ich, vor allen Dingen die Strukturen des Westens stabil erhalten, was jedoch nur möglich ist, wenn wir sie gleichzeitig umbauen. Wir müssen uns auch vor Illusionen hüten. Hoffnungen, ja sogar Visionen sollten wir haben, aber keine Illusionen.
Als nächster nimmt der Abgeordnete Günter Verheugen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich widerstehe der Versuchung, Kollege Lamers, die wirklich interessante Diskussion über die These von Oskar Lafontaine jetzt weiterzuführen,
obwohl es mich wirklich reizen würde. Aber Gegenstand unserer Debatte sind Vorlagen der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, der FDP und meiner eigenen Fraktion.
Wenn heute von Gefahren für die Sicherheit gesprochen wird — so war es auch heute morgen —, dann sind die Beschreibungen der Risiken merkwürdig vage. Ich stelle aber in der Diskussion — auch in der Diskussion in unserem Lande — eine Tendenz fest, die einfach unterstellt, daß die unbestreitbaren Risiken, die sich aus Überbevölkerung, massenhafter Verelendung, Unterentwicklung, Menschenrechtsverletzungen, ethnischen und religiösen Spannungen und Umweltzerstörungen ergeben, einer militärischen Antwort bedürfen. Anders ist auch gar nicht zu verstehen, warum sich der Bundesverteidigungsminister z. B. Gedanken über die künftige Rolle der Bundeswehr im Zusammenhang mit Krisen in der Dritten Welt und mit dem Zugang zu Energie und strategischen Rohstoffen macht.
Ich sage in allem Ernst: Es ist eine Illusion zu glauben, man könne die großen globalen Konflikte, die sich auch in gewaltigen Wanderungsbewegungen äußern werden, mit militärischen Mitteln lösen.
Wir haben in Europa eine Erfahrung gemacht, die uns ermutigen sollte, den Weg des Gesprächs, der Vertrauensbildung und schließlich der sicherheitspolitischen Kooperation auch weltweit zu gehen. Abrüstungserfolge des letzten Jahrzehnts zeigen ja gerade, daß es einen Weg aus der Sackgasse immer weiterer Hochrüstung gibt. Die politische Konfliktlösung durch eine vorausschauende und vorbeugende Krisenbekämpfung muß in jedem Fall den Vorrang vor militärischen Erwägungen haben.
Zu den potentiellen Gefahren, die derzeit diskutiert werden, gehört die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, besonders von Atomwaffen. Das ist wirklich kein neues Thema. Es ist auch keine neue Gefahr. Sie ist nicht erst durch die Auflösung der Sowjetunion entstanden.
Das Sicherheitsrisiko der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist eine Folge von Versäumnissen der letzten Jahrzehnte, in denen es nicht gelungen ist, den Export von nuklearwaffenfähigem Material und der Technologie für den Bau von Raketen und nuklearen Sprengköpfen zu unterbinden.
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Günter VerheugenEs war nicht die Sowjetunion, die den Irak in die Lage versetzt hat, kurz vor der Atomwaffe zu stehen. Es sind westliche Industriestaaten gewesen.
An diesen Exporten war auch die Bundesrepublik beteiligt. Im Gegensatz zur Situation in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion war es bei uns nicht so, daß die hier vorhandenen Technologiesöldner am Hungertuch genagt hätten oder daß die Firmen, die diese Technologien exportiert haben, vor dem Ruin gestanden hätten. Es war nackte Profitgier, die dazu geführt hat.
Die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls ist nicht in einer Position, auf andere mit dem Finger zeigen zu können. Manche Aktivitäten der letzten Wochen, die von der Bundesregierung ausgehen, lassen den Verdacht aufkommen, daß hier ein willkommenes Feld gesucht und gefunden wurde, um von eigenen Versäumnissen abzulenken, deren Folgen noch keinesfalls überwunden sind.
Ich will gar nicht nachkarten. Aber eines kann ich Ihnen nicht ersparen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion: Wir haben die ganzen 80er Jahre hindurch immer wieder die Gefahren der Proliferation von Massenvernichtungswaffen dargestellt und weitreichende effektive Kontrollsysteme verlangt. Vor allen Dingen aber haben wir zahllose Initiativen vorgestellt, mit denen nukleare Abrüstung gefordert wurde. Die Mehrheit dieses Bundestages hat das immer wieder abgelehnt. Ich erspare Ihnen heute lieber die Zitate aus den Reden, die hier z. B. im Jahre 1986 in einer Debatte über Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen gehalten worden sind. Aber ich empfehle Ihnen als eine kleine Bußübung, Kollege Lamers, einmal nachzulesen, was uns Ihre Kollegen damals gesagt haben. Sie haben damals allerdings nicht Abrüstungspolitiker sprechen lassen, sondern Kernenergielobbyisten.Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen hat eine Menge mit der mangelnden Bereitschaft der offiziellen Atomwaffenstaaten, also der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder, zu tun, auf ihr Atomwaffenprivileg zu verzichten und ihre Arsenale drastisch zu verkleinern. Auf diese Weise sind die nuklearen Schwellenmächte entstanden, die uns jetzt Sorgen machen, Länder, die nicht einsehen wollen, warum sie auf Dauer nukleare Habenichtse sein sollen. Auch die Verbreitung der Technologie chemischer Waffen — Kollege Schäfer hat mit Recht darauf hingewiesen — hat unter dem Stichwort „Die Atomwaffe des kleinen Mannes" genau mit dieser Haltung zu tun.Der Nichtweiterverbreitungsvertrag und das Kontrollregime der Wiener Behörde haben die Proliferationsprozesse nur verlangsamen, aber nicht aufhalten können. Es sind die Schwellenmächte, die sich heute für das atomare Material und das Know-how der früheren Sowjetunion interessieren. Aber nach dem gegenwärtigen Stand unserer Erkenntnis waren sie bei dem Versuch, Atomwaffen oder atomwaffenfähiges Material aus der früheren Sowjetunion zu beziehen, noch nicht in nennenswerter Weise erfolgreich.Wir verdanken es dem intensiven amerikanischsowjetischen Austausch in Fragen der Sicherung von Kernwaffen, daß — bis zum heutigen Tag jedenfalls — die Führung der Streitkräfte und der russischen Regierung ihre Atomwaffen unter Kontrolle haben. Amerikanische Verantwortliche erklären uns, daß zur Zeit nichts darauf hinweist, daß es, wie unser Außenminister seit einem halben Jahr nicht müde wird zu behaupten, herumvagabundierende taktische Atomwaffen auf dem Territorium der früheren Sowjetunion gebe. Noch niemand hat eine solche herumvagabundierende Waffe gesehen.
Ich bestreite die potentiellen Gefahren nicht. Aber ich finde es unverantwortlich,
immer wieder neue Schreckensgemälde zu entwerfen und den Menschen Angst vor künftigen Gefahren zu machen, die durch eine rationale Politik heute noch verhindert werden können.
Das Ergebnis solcher Kastastrophenvorstellungen sind Zeitungsmeldungen, man habe irgendwo in der früheren Sowjetunion angereichertes Uran gefunden, das habe die IAEO festgestellt. Wenige Tage später dementiert die IAEO, es sei kein angereichertes Uran gewesen, sondern Uran. Aber das druckt dann keiner mehr, und keiner nimmt es zur Kenntnis.Man fragt sich ja, ob die neuerdings fast hysterische Behandlung der Proliferationsgefahr, nachdem man sie jahrelang vertuscht und verharmlost hat, möglicherweise politisch gewollt ist. Der Ruf nach Abwehrwaffen gegen mögliche Atomwaffenangriffe aus Staaten der sogenannten Dritten Welt wird immer lauter. Es gibt auch schon einen Namen für ein amerikanisches Waffensystem, das uns alle Sorgen vor der Weiterverbreitung von Atomwaffen nehmen soll: GPALS — global protection against limited strikes. Um dieses teure System entwickeln und an die NATO-Staaten verkaufen zu können, müssen nukleare Bedrohungen groß, realistisch und akut erscheinen, und es müssen die politischen Mittel zur Verrringerung dieser Gefahr entweder als ausgeschöpft oder als weich, unsicher und ineffektiv dargestellt werden.Wie kommen wir denn eigentlich dazu? Ich erinnere daran, daß zur Zeit noch keines der islamischen Länder, denen bei uns unbesehen — unbesehen! — eine Bereitschaft zum Einsatz von Atomwaffen zugetraut wird, über eine einzige dieser Waffen verfügt. Es ist also noch Zeit, um mit den Schwellenländern über die Motive ihres nuklearen Ehrgeizes zu sprechen. Was wir jetzt brauchen, ist nicht eine neue Aufrü-
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Günter Verheugenstungsrunde, sondern einen sicherheitspolitischen Dialog mit den Staaten im Krisengürtel dieser Welt.
Das wird nicht leicht zu beginnen sein, aber auch die KSZE hatte einen schweren Start. Warum soll für den Dialog mit der islamischen Welt nicht taugen, was für den Dialog zwischen Ost und West letztlich doch getaugt hat?
Vielleicht fragen Sie sich einmal, wie die sicherheitspolitische Diskussion, die zur Zeit im Westen geführt wird, in den Ländern des Südens aufgenommen und verstanden werden muß. Müssen diese Länder nicht annehmen, daß es uns letztlich nur darum geht, in dem weltweiten Verteilungskampf um knapper werdende Güter unsere privilegierte Position mit militärischer Macht zu verteidigen? Hüten wir uns vor der Entwicklung eines neuen Feindbildes.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer ?
Nein, ich möchte gern zum Ende kommen.
Wenn die Rüstungslobby im Westen zur Legitimation neuer Hochrüstung einen neuen Feind sucht, dann ist es unsere Aufgabe, nein zu sagen. Es ist nämlich sicherer und billiger, wenn wir Gefahren aus dem Süden mit Armutsbekämpfung und mit einer gerechten Weltwirtschaftsordnung begegnen und nicht knapper werdende Mittel vergeuden, um die Reste des SDI-Programms doch noch zu verwerten.
Ein weltweiter sicherheitspolitischer Dialog wird nicht einfach sein, vor allem dann nicht, wenn die Schwellenländer ihren atomaren Ehrgeiz mit denselben sicherheitspolitischen Argumenten begründen sollten, wie die Atomwaffenstaaten das tun. Gerade deswegen ist es so wichtig, daß die offiziellen Atommächte ihre Arsenale noch viel drastischer als angekündigt herunterrüsten. Vertrauensbildende Maßnahmen, politischer Dialog, Rüstungskontrolle und Abrüstung sind vielleicht der mühevollere Weg, aber er führt zu mehr Sicherheit und Stabilität.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben vielleicht noch die Wahl, ob wir auf die Proliferationsgefahr mit Drohungen und Sanktionen oder mit Integration und Dialog reagieren wollen.
Wenn der Bundesaußenminister erklärt, man müsse Länder, die sich um den Bau von Massenvernichtungswaffen bemühen, mit allen denkbaren Sanktionen belegen, dann muß ich sagen: Das hat im Fall Irak funktioniert. Aber hätte es auch funktioniert, wenn der Irak vor der Fertigstellung seiner Atomwaffe Kuwait nicht überfallen hätte? War nicht seit den 70er
Jahren bekannt, daß der Irak die arabische Bombe wollte? Und wer hat die Technologie geliefert?
Alle denkbaren Sanktionen — das heißt im Ernstfall Krieg. Wäre es nicht besser, sich intensiv darum zu bemühen, die Ursachen zu bekämpfen, die den Krisen in der Dritten Welt zugrunde liegen, und dafür eine starke und handlungsfähige UNO zu schaffen?
Es kann ja sein, daß die internationale Gemeinschaft ein allerletztes Mittel gegen verantwortungslose Staatsführungen braucht, die sich Arsenale von Massenvernichtungswaffen zulegen.
Das setzt aber voraus, daß die Vereinten Nationen den Erwerb und den Besitz solcher Waffen als Gefährdung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit einstufen. Das führt wieder zu dem Punkt, daß atomare Abrüstung der Atomwaffenstaaten unverzichtbar ist. Wie wollen Sie denn internationale Kontrolle der Atomwaffen in der GUS z. B. durchsetzen, wenn das für die anderen nicht gelten soll?
Herr Verheugen, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß.
Der Westen, meine Damen und Herren, darf die Staaten aus dem islamischen Kulturkreis den zu verstehen wir uns übrigens erschreckend wenig Mühe geben — nicht aus dem Dialog über Sicherheit und Zusammenarbeit ausschließen. Wer sich vertragen will, muß Verträge schließen, muß gerade mit potentiellen Gegnern einen Ausgleich auf der Basis gemeinsamer Interessen suchen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Frau Päsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte ist schon außerordentlich aufschlußreich. Da stellt sich der Kollege Verheugen hier hin, ereifert sich, wird ganz leidenschaftlich, was sonst nicht seine Art ist,
und attackiert einen angeblichen Gegner, der zumindest hier im Saal gar nicht anzutreffen ist.
Herr Verheugen, Sie haben Gemeinplätze vorgetragen. Alle sind einverstanden. Natürlich kann man die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 6411
Ulrich IrmerProbleme der Welt nicht mit militärischen Mitteln lösen. Natürlich muß man Verträge schließen. Natürlich gelten die Prinzipien der Vertrauensbildung, der Abrüstung, der Vertragspolitik, wie wir sie gegenüber dem Osten erfolgreich eingesetzt haben, auch gegenüber dem Rest der Welt.Ich verstehe allerdings nicht ganz, weshalb Sie hier immer nur von der islamischen Welt reden. Meines Wissens hat Indien einen islamischen Bevölkerungsanteil von vielleicht 10 %, aber ein umfangreiches Nuklearprogramm. Meines Wissens hat auch Israel ein umfangreiches Nuklearprogramm, und dort hält sich der islamische Bevölkerungsanteil auch in Grenzen. Es sind doch allgemeine Probleme, mit denen wir es zu tun haben.Früher ging es bei der Abrüstung im Grunde immer um zwei Fragen. Erstens: Kommt es überhaupt zu Vereinbarungen? Zweitens, in unmittelbarem Zusammenhang damit: Wie kann man dann die Durchführung dieser Vereinbarungen verifizieren? Es war ja in der Regel so, daß es überhaupt erst dann, wenn Verifikationsmaßnahmen verbindlich und auch technisch machbar vereinbart waren, zum Abschluß von Abrüstungsvereinbarungen kam.Heute ist es gar nicht mehr sosehr das Problem, daß es nicht zu Abrüstungsverträgen käme. Es ist doch eine Initiative vom amerikanischen Präsidenten Bush ausgegangen und seinerzeit von Präsident Gorbatschow, jetzt vom russischen Präsidenten Jelzin wohlwollend, positiv aufgenommen worden. Es geschieht doch das, was Sie verlangt haben, Herr Verheugen, daß auch im atomaren Bereich ganz massiv abgerüstet wird. Noch nicht genug.
Die Verträge, die geschlossen worden sind, der START-Vertrag, müssen ratifiziert werden. Aber niemand bestreitet doch, daß auf diesem Weg weitergegangen werden muß. Wir sind ja alle dieser Meinung.Die Gefahr von vagabundierenden Atomwaffen oder anderen Waffen, die Sie eben geleugnet haben, kann man doch gar nicht hoch genug einschätzen.
Herr Verheugen, es wäre doch leichtfertig, diese Gefahr zu übersehen und etwa so zu tun, als ob hier keine Gefahren lauern würden.
— Herr Verheugen hat doch gerade gesagt, es sei unverantwortlich vom Bundesaußenminister, wenn er diese Gefahr beschwöre.
— Keine falschen Konsequenzen. Die Konsequenzen müssen vielmehr die sein, daß man den Versuch macht, dieser Gefahr zu begegnen und das Vagabundieren von Waffen und von Know-how nicht zuzulassen.Das eigentliche Problem heute liegt doch darin, daß die Waffen, die abgerüstet werden sollen, nicht restlos vernichtet werden können. Das ist ein technisches, aber auch ein erhebliches materielles Problem. Was geschieht denn mit den Waffen, die jetzt nach den Verträgen, die wir abgeschlossen haben und die noch abgeschlossen werden, abzubauen sind? Können denn die Staaten, die Nachfolger der Sowjetunion sind, dieses Problem technisch überhaupt bewältigen? Es wird ja mit Recht gefordert, daß der Westen ihnen dabei hilft. Aber wer sagt denn, daß da nicht auch die Gefahr besteht, daß sie verkauft werden? Interessenten gibt es ja genug.Es ist ja geradezu absurd, Herr Scheer, was Sie in Ihrem Antrag schreiben: daß es einen Anreiz für nukleare Möchtegerne bedeute, wenn die NATO nicht völlig auf Atomwaffen verzichte. Es ist doch eine im Grunde leichtfertige Vorstellung zu sagen:
Wir rüsten auch eine nukleare Restabschreckung ab, um uns dann erpreßbar zu machen gegenüber wild gewordenen Diktatoren vom Schlage eines Saddam Hussein. Und dieser Name steht ja nur als ein Beispiel für mögliche andere.Meine Damen und Herren, Abrüstung ist eine weltweite Aufgabe. Es ist heute noch nicht ausreichend davon die Rede gewesen, daß die Abrüstungsbemühungen natürlich auch sämtliche Staaten der Dritten Welt ergreifen müssen. Es ist vernünftig, daß die Bundesregierung erklärt hat, sie werde ihre Entwicklungszusammenarbeit auch an dem Kriterium ausrichten, wie hoch die Rüstungsetats und die Rüstungsaufwendungen der Partnerländer sind. Es ist nicht einzusehen, daß man nicht den Ländern auf die Finger klopft, die mehr für Rüstung ausgeben als etwa für Bildung oder das Gesundheitswesen.Herr Verheugen, Sie haben völlig zu Recht gesagt: Die Probleme der Welt können nicht mit militärischen Mitteln bekämpft werden. Hier bedarf es politischer und wirtschaftlicher Mittel. Aber der Schluß daraus, daß man deshalb nun auf die Bereitschaft zur Verteidigung und auf die militärische Präsenz verzichten könnte,
ist absurd. Das ist doch einfach ein Fehlschluß.Wir haben früher zu Zeiten des Kalten Krieges eine vernünftige Politik nach dem Harmel-Bericht gemacht, die besagte: Bereitschaft zur Entspannung, Bereitschaft zur Abrüstung, Bereitschaft zur Vertrauensbildung, dies alles aber vor dem Hintergrund der Bereitschaft, im Notfall auch militärisch vorbereitet zu sein.Was damals richtig war, ist auch heute noch richtig.
Es wäre ganz falsch, sich jetzt der Illusion hinzugeben,als ob es keine Bedrohungen mehr gäbe. Der OstWest-Konflikt ist entfallen. Es gibt aber bei ganz
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6412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992
Ulrich Irmernüchterner, vernünftiger Einschätzung genügend Gefahren, auf die man vorbereitet sein sollte.
— Zum Beispiel die Situation in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, z. B. die Lage im südöstlichen Europa, z. B. die Lage südlich des Mittelmeeres — ich brauche das gar nicht auszuführen —, Naher Osten. Es wäre unverantwortlich, wenn man heute den Wegfall des Ost-West-Konfliktes zum Vorwand nähme, von der Bereitschaft und der Fähigkeit abzusehen, sich notfalls als letztes Mittel auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Wenn man davon abgehen würde, wäre das eine Politik, die wir auch den Nachfolgegenerationen nicht zumuten können.
Herr Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Verheugen?
Gerne.
Herr Kollege Irmer, Sie haben gerade gesagt, daß man notfalls auch bereit sein müsse, sich gegen die von Ihnen eben beschriebenen Gefahren zu verteidigen. Darf ich das so verstehen, daß Sie aus den Gebieten, die Sie beschrieben haben, Angriffe auf die NATO oder die Bundesrepublik Deutschland erwarten?
Nicht Angriffe im traditionellen Sinne.
Aber ich sage, es bestehen Gefahren, es bestehen Risiken.
So wie wir früher bereit waren, uns mit angemessenen Mitteln gegen die Bedrohung zu verteidigen, so dürfen wir heute nicht vergessen, daß sich Gefahren verwirklichen könnten. Ich sage noch einmal: Wer nicht dazu bereit ist, auch dieses Opfer zu bringen, das darin liegt, und das Opfer auch denen, die es zu erbringen haben — nämlich unsere Soldaten —, zuzumuten, der handelt unverantwortlich, weil er sich diesen Gefahren schutzlos preisgibt.
Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Heinrich Lummer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war lange genug in der Opposition und weiß ziemlich genau, daß die Opposition immer ihre Feindbilder braucht.
Ein Stück der Aufgeregtheiten, die heute zum Ausdruck kamen, sind wirklich Oberfläche und überdekken gar nicht die große Übereinstimmung, die letztendlich vorhanden ist. Wir werden das im einzelnen auch nachweisen können.
Ich erinnere mich an die großen Debatten über Abrüstungsfragen vor drei, vier, fünf Jahren. Mein
Gott, war da eine Dramatik drin, auch großartige Gegensätze vielleicht. In Wahrheit sehen wir das heute alles sehr viel gelassener. Warum sehen wir das heute gelassener, obwohl doch die Welt, in der wir leben, gar nicht so viele Waffen verloren hat? Die meisten sind ja noch da. Womöglich sind es immer noch genug, um overkill zu praktizieren. Trotzdem ist die Welt anders geworden.
Ich meine, das liegt an der zentralen Erkenntnis, daß sich die These bestätigt hat, die wir immer vertreten haben: Es hängt davon ab, wie die Beziehungen der Menschen und der Staaten untereinander sind, wie es mit Freundschaften, wie es letztendlich mit Vertrauen aussieht. Dieses Vertrauen ist heute größer als es früher war. Darum sind die Gefährdungen unbeschadet der Zahl der Waffen nicht mehr so groß; denn es kommt nicht in erster Linie auf die Zahl, nicht auf die Qualität der Waffen an, sondern auf die Beziehungen der Staaten untereinander. Das ist eine wichtige Erkenntnis.
Deshalb, Herr Kollege Verheugen, stehen in unserem Antrag bei der Beschreibung der Handlungsfelder der Politik an erster Stelle nicht Fragen der militärischen Rüstung oder Abrüstung, sondern der Vertrauensbildung, des Dialogs. Sie haben auf der einen Seite unseren Antrag zitiert — in voller Übereinstimmung —, und dann gucken Sie uns böse an und beschimpfen uns. Das verstehe ich überhaupt gar nicht.
Wir sind uns doch einig an dieser Stelle, daß der Dialog an die erste Stelle kommt.
Lassen Sie mich dazu noch folgendes sagen. Wir können uns schnell darauf einigen zu sagen, wir sind prinzipiell bereit, auf Atomwaffen zu verzichten. Normalerweise ist es ja so, man ist im Prinzipiellen einig, aber im Konkreten nicht. Hier ist es umgekehrt: Im Konkreten sind wir einig. Denn auch Sie haben ja gesagt, hier und heute geht das nicht, vielleicht irgendwann in der Zukunft; da mögen die Menschen wieder anders sein.
Ich glaube nicht daran. Deshalb nicht, weil ich ein skeptisches Menschenbild habe.
Ich sehe in absehbarer Zeit keine Situation, in der wir diese Waffen, diese Kräfte aus der Welt verbannen können. Der Geist geht nicht wieder in die Flasche zurück. Es gibt vielmehr zur ethischen Bewältigung der Atomkraft keine Alternative. Das ist das, was wir leisten müssen.
Wir können sehr wohl der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten und anderen bescheinigen, daß sie in der Vergangenheit verantwortungsvoll mit dieser Kraft umgegangen sind. Ob auch künftige potentielle Besitzer solcher Waffen das tun werden, das weiß ich nicht.
Herr Abgeordneter Lummer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scheer?
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Ja, bitte schön.
Herr Kollege Lummer, das, was Sie eben zur prinzipiellen Bereitschaft des Verzichts auf Atomwaffen gesagt haben, haben Sie vorher mit einem „wir" eingeleitet. Ich weiß nicht, welches „wir" Sie dabei meinen.
Jedenfalls nicht den Pluralis majestatis.
Das habe ich auch nicht unterstellt.
Können Sie bestätigen, daß es bisher nicht eine einzige Erklärung der verantwortlichen Gremien, Räte usw. der NATO gibt, die auch nur den Hinweis darauf gestatten, daß eine prinzipielle Bereitschaft zum eigenen Verzicht auf Atomwaffen und auf die Abschreckungsstrategie gegeben wäre? Das ist das Ziel meiner Kritik.
Herr Kollege Scheer, wir und die NATO, zu der wir gehören, beschäftigen uns mit den Gefahren und Risiken der Gegenwart. Und in dieser Gegenwart gibt es keine Veranlassung, einen solchen Verzicht auszusprechen. Damit sollten wir uns hier und heute beschäftigen und nicht mit dem, was möglicherweise in 50 oder 100 Jahren sein wird. Wenn die Welt so sein wird, wie ich sie mir wünsche — bereit zu einer neuen Ethik, die die Menschenrechte akzeptiert, die Minderheitenrechte, die den Gewaltverzicht praktiziert —, dann sieht die Welt anders aus. Dann kann man über diese Fragen auch anders reden. Hier und heute geht das nicht.
Ich will es noch deutlicher sagen, warum das nicht geht.
Feindbilder sind weg. Die Kriegsszenarien der Vergangenheit sind weg. Alte Bedrohungen sind weg. Aber es ist auch weg eine gewisse Stabilität, die durch die Unterdrückung einer Diktatur entstand.
Es gibt neue Risiken. Die NATO spricht in diesem Zusammenhang zu Recht jetzt von Risiken. Sie haben gefragt, welche das sind. Das ist natürlich zum einen das, was an Gefahren aus einem neuen Nationalismus hervorgeht. Das ist zum anderen das, was aus einem Fundamentalismus hervorgeht, der totalitäre Ansätze hat, weil er glaubt, die Wahrheit in seinem Besitz zu haben. Das sind möglicherweise neue und mehr Staaten im Besitz von ABC-Waffen. Das ist auch die Instabilität, die auf dem Wege zur Demokratie entsteht, wo neue Staaten durch ein Tal der Tränen mit vielen Opfern müssen. Ob diese Staaten die Fähigkeit zur Demokratie bewahren, wenn die wirtschaftliche Not sie bedrängt, weiß ich alles gar nicht.
Deshalb gilt: Auf diese Risiken muß ich gewappnet sein mit der NATO, mit der Bundeswehr, auch mit der Präsenz der Amerikaner in Europa,
wie Minister Cheney neulich ja noch einmal unterstrichen hat.
Daher ist der alte Satz immer noch richtig, daß Wachsamkeit der Preis der Freiheit ist, so banal und abgegriffen er auch sein mag.
Meine Damen und Herren, ich bin ja aus Berlin, und ich habe einiges gegen die Strategie der Abschrekkung gehört. Hat sie denn letztendlich nicht wirklich Großartiges bewirkt? Ich bin sicher, ein freies WestBerlin ohne eine solche Strategie hätte es in diesen Jahrzehnten nicht gegeben.
Man kann auch darüber reden, das zu verändern. Herr Kollege Lamers hat das ja verdienstvollerweise getan. Da wird sich etwas ändern, auch in der Art und Weise. Man kann auch die Begriffe dann auswechseln. Aber es ist doch die Erfahrung gewesen, daß Abschreckung Krieg verhindert hat.
Ich stelle noch einmal die Frage: Wie kam es denn letztlich zu Abrüstungsschritten, zur Rüstungskontrolle, wie wir sie heute positiv feststellen können? Doch nicht dadurch, daß irgendwann durch Vernunft eine besondere Einsicht gewachsen wäre, sondern durch die harte Welt der Tatsachen. Man hat irgendwann — auch der Abschreckung wegen — abgerüstet, weil man wußte: Wir können militärisch nicht siegen. Man hat irgendwann die Bereitschaft zur Abrüstung gehabt, weil man wußte: Wir wollen uns nicht totrüsten, weil das nichts bringt.
Insofern hat diese Strategie in der Vergangenheit ihre durchaus positive Wirkung gehabt, und das sollte man nicht vergessen. Modifiziert, so vermute ich, wird diese Strategie, bezogen auf die Welt, so wie sie ist, auch fürderhin ihre Berechtigung haben.
Jetzt spricht die Abgeordnete Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrte Damen und Herren! Politik sollte meines Erachtens nicht einäugig Geschichte betrachten, Herr Lummer. Die Strategie der Abschreckung hat dazu beigetragen, daß es keinen Krieg gegeben hat, zumindest nicht hier in Mitteleuropa,
aber die Strategie der Abschreckung hat auch dazu geführt, daß es heute viele Länder gibt, die über Massenvernichtungsmittel verfügen, und daß wir heute über die Gefahr der Proliferation debattieren. Man sollte immer beide Seiten einer Medaille betrachten.
Die sicherheitspolitische Situation, in der wir uns heute befinden, ist paradox. Die unsere Nachkriegsgeschichte bestimmende Blockkonfrontation ist überwunden und durch eine vielfältige Zusammenarbeit der ehemaligen Gegner abgelöst worden. Gleichwohl hat das Massen- und Atomvernichtungspotential der untergegangenen UdSSR nur wenig von seinem Schrecken verloren. Statt der Gefahr eines globalen nuklearen Holocaust wird nun von vielen die Gefahr heraufbeschworen, daß die Atomwaffenarsenale der ehemaligen UdSSR außer Kontrolle und in die Hände von Terroristen und Diktatoren gelangen.Damit kein Mißverständnis entsteht: Wir schätzen die Gefahr der Verletzung des Verbots der Proliferation nicht als gering ein, wir schätzen die Gefahr sehr
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Edelgard Bulmahnhoch ein, aber wir sind der Meinung, daß Panikmache, die Schaffung neuer Feindbilder
und neue Waffensysteme wie die Neuauflage eines — abgespeckten — SDI die falschen Antworten sind.Die Ursachen für die wachsende Proliferationsgefahr sind — das möchte ich doch noch einmal deutlich herausstellen — nicht allein im Zerfall der Sowjetunion zu suchen, nicht allein in der Devisennot der Nachfolgestaaten und der Arbeitslosigkeit von Rüstungsexperten. Insbesondere die Weiterverbreitung von Atomwaffen wird dadurch begünstigt, daß westliche Nuklearstaaten an dem Besitz festhalten. Die Verfügungsgewalt über eigene Atomwaffen — das müßten Sie einmal zur Kenntnis nehmen — erscheint so als etwas, das Macht und Ansehen garantiert, als etwas, mit dem man eigene Ansprüche besser durchsetzen kann. Deshalb halte ich es für fatal, wenn man so einäugig argumentiert, wie Sie es teilweise in dieser Debatte getan haben.Die Proliferationsgefahr läßt sich im übrigen auch nur dann nachhaltig bekämpfen, meine Herren und Damen, wenn es den westlichen Industriestaaten gelingt, die eigenen Schlupflöcher wirkungsvoll zu stopfen. Die Aufrüstung des Irak wäre und ist ohne Export und ohne Technologie- und Know-how-Transfer aus den westlichen Ländern schließlich nicht möglich gewesen. Dies, meine Damen und Herren, sollten wir immer bedenken, wenn wir über die neuen Proliferationsgefahren aus den Staaten der GUS debattieren und nach Lösungen suchen.Deshalb ist es auch wichtig, nicht nur über Konversion in den GUS-Staaten zu diskutieren und hierfür Programme zu entwickeln, sondern auch Rüstungskonversion und Abrüstung in den westlichen Staaten durchzuführen.
Wenn sich sowohl die von meiner Fraktion vorgelegten Anträge als auch der Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP übereinstimmend für westliche Hilfen bei der Konversion der Rüstungsforschung und -industrie in den Ländern der GUS einsetzen, dann sind wir damit meines Erachtens auf dem richtigen Weg. Maßnahmen und Programme des Westens zur Unterstützung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bei der Umstellung des Rüstungssektors auf zivile Zwecke sind in doppelter Hinsicht von Bedeutung: Sie leisten einmal einen erheblichen Beitrag zur Begrenzung der Proliferationsgefahr, und sie sind zum anderen unerläßlich für die wirtschaftliche Erneuerung in den Staaten der GUS. Immerhin sollen rund 70 % des FuE-Personals und rund 33 % aller Industriebeschäftigten in der früheren Sowjetunion in der Rüstungsforschung bzw. in der Rüstungsproduktion beschäftigt gewesen sein.Entscheidend ist, meine Herren und Damen, dabei allerdings, daß wir jetzt handeln und nicht erst dann, wenn wir mit deutscher Gründlichkeit Programme und Verfahren ohne Haken und Ösen gefunden haben. Wenn wir durch Hilfen zur Umstellung vonRüstungsforschung und -produktion der Proliferation vorbeugen wollen, dann benötigen die in Atomwaffenprogrammen und -produktionen der früheren UdSSR tätigen Experten sofort und nicht erst morgen oder übermorgen Unterstützung. Sie müssen jetzt am eigenen Leibe erfahren, daß der Westen den Reformprozeß unterstützt. Sie brauchen sichtbare Erfolge, damit sie Hoffnung und Zuversicht schöpfen können, daß sie in ihrem eigenen Land eine Perspektive für sich selbst und ihre Familien haben.Aber auch diejenigen, die weiterhin ein Gehalt beziehen, stehen letztendlich vor dem Nichts. Was, meine Damen und Herren, würden Sie in einer Zeit explosionsartig steigender Preise mit einem durchschnittlichen Monatsgehalt anfangen, das etwa dem Gegenwert von 23 DM entspricht?Noch etwas dürfen wir nicht außer acht lassen: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben keine Aufgabe mehr. Sie spüren, daß sie nicht mehr länger benötigt werden, daß ihre Kenntnisse und Fähigkeiten im eigenen Land nichts mehr gelten. Deshalb reicht es nicht aus — wie es in dem Antrag von seiten der Regierungsfraktionen anklingt —, sich nur der arbeitslosen Waffenexperten anzunehmen.An entsprechenden Ideen für Konversionsmaßnahmen fehlt es nicht. Die Ressourcen der Rüstungsforschung lassen sich durchaus auch für andere Zwecke als die Entwicklung von neuen Massenvernichtungsmitteln nutzen. Am naheliegendsten ist es dabei sicherlich, das Know-how der früheren sowjetischen Experten für die Demontage der Kernsprengköpfe, die Beseitigung der Waffenfähigkeit des radioaktiven Materials und die Bearbeitung von Problemen der Endlagerung des atomaren Bombenmaterials sowie die Beseitigung von Umweltschäden, die 40 Jahre nuklearer Waffenproduktion verursacht haben, zu nutzen. Die enge Kooperation zwischen Experten der GUS und der westlichen Atomwaffenstaaten würde zudem die Entwicklung der nötigen Verfahren und Technologien wesentlich voranbringen. Sie würde aber zugleich das Vertrauen in die Abrüstungsmaßnahmen der jeweils anderen Seite stärken und damit die Proliferationsgefahr mindern und einem Teil der Experten aus den sowjetischen Atomwaffenprogrammen neue Arbeitsmöglichkeiten verschaffen.Da eine Beteiligung der Bundesrepublik und deutscher Experten an der Demontage der Kernsprengköpfe und an der Beseitigung der Waffenfähigkeit des radioaktiven Materials nicht in Frage kommt, sollte die Bundesrepublik die deutschen Hilfsmaßnahmen schwerpunktmäßig auf die Nutzung der wissenschaftlich-technischen Ressourcen der Rüstungs- und Raketenforschung in den Staaten der GUS für die wirtschaftliche Erneuerung, die Verbesserung der Umweltbedingungen und den Ausbau der Sicherheitsforschung sowie die Erhöhung der Sicherheitsstandards im Bereich der zivilen Kernkraftnutzung konzentrieren. Hilfen der Bundesregierung sollten darauf abzielen, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern neue Arbeitsmöglichkeiten in ihren Heimatländern zu erschließen, nicht aber darauf, sie für eigene Forschungsprogramme abzuwerben oder die Abwanderung in andere westliche Industriestaaten zu fördern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 6415
Edelgard BulmahnWir sollten statt dessen die wissenschaftlich-technischen Beziehungen mit den Staaten der GUS ausbauen, gemeinsame Projekte vereinbaren und den Wissenschaftlerinnen- und Wissenschaftleraustausch intensivieren.
Angesichts der Tatsache, daß die Sowjetunion im zivilen Bereich eine nahezu high-tech-lose Nation war, könnte die Konversion der Rüstungsforschung die Länder der GUS auf wichtigen Gebieten wie z. B. der Umweltforschung, der Materialforschung, der Informationstechniken, der Laserforschung, der medizinischen Forschung und der Biotechnologie erheblich voranbringen. Erhebliche Bedeutung kommt dem schnellen Ausbau der Telekommunikation in der GUS zu. Dies ist für den wirtschaftlichen Erneuerungsprozeß, wie wir gerade sehr deutlich erfahren haben, unverzichtbar. Verstärken sollten wir auch die internationale Zusammenarbeit in der Raumfahrt, allerdings für sinnvolle Projekte wie z. B. den Ausbau der Telekommunikation.Hilfsmaßnahmen sind, meine Herren und Damen, auf diesem Gebiet nicht zum Nulltarif zu haben. Ohne deutliche finanzielle Hilfe seitens der westlichen Industrieländer haben die von mir gerade skizzierten Überlegungen zur Konversion keine Chance. Meine Fraktion unterstützt deshalb die Bildung eines internationalen Fonds. Überlegungen, die darauf hinauslaufen, man könne die bisher in der Rüstungsforschung tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wenn auch nur die in der ABC-Waffen- und Raketenforschung Tätigen, ohne weiteres aus den Mitteln eines internationalen Fonds bezahlen, sind meines Erachtens allerdings Schlichtweg naiv,
wenn man sich den Umfang der Rüstungs- oder der Atomwaffenforschung einmal vor Augen hält. Nach Expertenschätzungen arbeiten in der ehemaligen UdSSR insgesamt 4,2 Millionen Menschen im Bereich der Rüstungsforschung, davon allein 1,5 Millionen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Nach einem CIA-Bericht sollen allein in den Atomwaffenprogrammen der ehemaligen UdSSR ungefähr 900 000 Menschen beschäftigt sein.
Wir haben es mit einer erheblichen Anzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu tun.
— Nein, ich rede von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Da sollten Sie sich wirklich etwas besser informieren.
— Die Zahl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Kenntnisse auch zum Bau von Atomwaffen haben,
bewegt sich nach den Schätzungen im Rahmen von ungefähr 4 000 Personen.
Im übrigen bin ich der Meinung, daß auch die Putzfrauen einen vernünftigen Arbeitsplatz haben sollen und eine Existenzgrundlage benötigen.
Herr Feldmann, entweder stellen Sie eine Frage oder — —
Von daher sollten wir also nicht so abfällig darüber reden.
Ich möchte noch einmal deutlich machen, daß es uns angesichts der Größenordnung, über die wir hier reden, realistisch und sinnvoll erscheint, aus den Mitteln eines internationalen Fonds nur einen Teil der Lohnkosten ehemaliger Rüstungsexperten zu übernehmen, diesen dann aber in konvertierbarer westlicher Währung zu zahlen, weil es sich einfach gezeigt hat, daß dies ein wichtiger Punkt ist. Aus den Mitteln dieses Fonds sollten aber auch internationale Austauschprogramme finanziert und dringend benötigte Ausrüstungsgegenstände aus dem Westen beschafft werden. Ein Zusatzgehalt von 200 DM bis 300 DM in konvertierbarer westlicher Währung könnte hierbei ein attraktives Mittel für die in die Konversionsprogramme einbezogenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Technikerinnen und Techniker darstellen.
Die Finanzierung des Konversionsprogramms sollte Teil einer umfassenden wirtschaftlichen Unterstützung sein. Es kann nicht darum gehen, ehemaligen Rüstungsforscherinnen und Rüstungsforschern neue Privilegien zu verschaffen und die Putzfrau oder die Kinder im Stich lassen.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir sollten die Chancen nutzen, die sich aus der Umstrukturierung des früheren sowjetischen Rüstungssektors ergeben. Herr Lamers, ich finde, einigen Herren stünde es gut an, wenn sie diese Arbeiten einmal selber durchführten. Dann würden sie vielleicht nicht mehr so abfällig darüber reden.
Lassen Sie uns deshalb zu einer Entscheidung kommen. Lassen Sie uns nicht noch monatelang darüber debattieren, sondern lassen Sie uns zu einer Entscheidung kommen und tatsächlich konkrete Hilfsprogramme auflegen und durchführen.
Als letzter in dieser Debatte spricht Herr Dr. Friedbert Pflüger.
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6416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja ganz richtig, was der Kollege Verheugen gesagt hat, nämlich daß die Proliferationsgefahr nicht erst seit kurzem besteht, sondern daß sie immer schon ein großes Thema gewesen ist und auch ein Thema, das wir manchmal unterschätzt haben. Es kann doch aber auch kein Zweifel darüber bestehen, daß dieses Problem durch die Auflösung der Sowjetunion eine ganz dramatische Wendung und Zuspitzung erfahren hat. Wenn wir sehen, daß es in Zukunft Soldaten ohne Sold gibt, die Atomwaffen verhökern, wenn wir sehen, daß sich Nuklearwaffenwissenschaftler ohne Arbeit an Diktatoren verdingen, dann handelt es sich nicht um Phantasiegemälde und auch nicht um Krisenszenarios, die aufgebaut werden, um damit Gegenrüstung zu legitimieren. Angesichts einer zerfallenden Sowjetunion sind das vielmehr ganz reale Probleme. Das zu benennen ist verantwortliche Politik und nicht Angstmacherei, Herr Kollege Verheugen.Es ist wirklich wichtig, daß wir die Proliferationsthematik mit dem großen Ernst angehen. Er ist notwendig, wenn wir dieser Welt den Frieden bewahren wollen. Ich möchte auf der Grundlage dessen, was der Kollege Würzbach heute hier gesagt hat, einige konkrete Vorschläge dazu machen.Erstens. Ich finde, daß die Rüstungstechniker der GUS zu Experten für Reaktorsicherheit werden sollten, die man bei Programmen zur Erhöhung der Sicherheit osteuropäischer Kernkraftwerke einsetzt. Man könnte sich z. B. auch überlegen, ob man nicht nukleare Endlager in Sibirien schafft und damit die Möglichkeit für die Sowjetunion, Devisen zu bekommen, mit dem sicherheitspolitischen Interesse verbindet, Wissenschaftler in zivilen Bereichen einzusetzen.Zweitens. Die Internationale Atomenergie-Organisation — das ist schon gesagt worden — muß gestärkt werden. Man sollte überlegen, ob wir die IAEO nicht auch in die Krisenregionen hineinbringen. Bisher haben wir die Wiener Zentrale mit ca. 200 Inspektoren. Warum versuchen wir nicht, Regionalbüros der IAEO aufzubauen, in denen paritätisch Wissenschaftler aus den beteiligten Ländern und Wissenschaftler aus Wien sitzen? Das könnten auch sowjetische Wissenschaftler sein. Dann würde man nämlich die Möglichkeit haben, mit solchen UNO-Institutionen vertrauensbildend zu wirken. Man würde die ganze Nichtverbreitungsthematik von der zentralen Ebene herunterholen und sie in den Regionen stärker verankern.Drittens. Das Kontrollregime der IAEO muß verstärkt werden. Das ist bereits gesagt worden; ich will es nicht weiter ausführen. Die Möglichkeit von Verdachtskontrollen ist jedenfalls von entscheidender Bedeutung für eine vernünftige Verhinderung der Weiterverbreitung.Viertens. Die IAEO kann nur prüfen, nicht aber eingreifen. Ohne die sichere Erwartung von Sanktionen aber bleiben Verifikation und Exportkontrollen stumpfe Waffen. Ein möglicher Proliferator muß wissen, daß die Völkergemeinschaft sein Tun nicht dulden wird. Wir müssen darauf hinwirken, daß der Erwerb von Massenvernichtungswaffen stets als „Bedrohung von Frieden" im Sinne von Kapitel VII der UN-Charta verstanden wird.Fünftens. Wir sollten uns entschieden für die Verlängerung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen einsetzen. Dabei können wir die Staaten der Dritten Welt — hier stimme ich manchem zu, was von der SPD heute gesagt worden ist — nicht länger nötigen, einseitig und praktisch ohne Gegenleistung auf das Machtmittel schlechthin zu verzichten. Es geht nicht um die Stabilisierung einer atomaren Zweiklassengesellschaft, eines Kartells der Nuklearwaffenbesitzer gegen die Habenichtse, sondern es geht um Sicherheit durch Partnerschaft. Deshalb z. B. dieser regionale IAEO-Ansatz.In diesem Zusammenhang ist sechstens die Forderung der Nichtbesitzerstaaten nach einer Nichtangriffsgarantie der Kernwaffenmächte von großer Bedeutung, genauso übrigens wie die Forderung nach einem umfassenden nuklearen Teststopp.
Siebentens. Das Missile Technology Control Regime muß völkerrechtlich verbindlich werden, und es muß alle Exporteure einschließen.Achtens. Ein wirkungsvolles Instrument gegen die Verbreitung bestimmter Technologien im Kalten Krieg waren die COCOM-Listen. Eine aktualisierte COCOM-Liste könnte nun zu einem Instrument gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen werden.Neuntens. Die Wahrnehmung der Schrecken des modernen Krieges muß weltweit geschärft werden. In West- und Osteuropa sind wir mit der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und den Bildern von Hiroshima aufgewachsen. Unsere Eliten sind mit einem Kontrollregime und dem entsprechenden Problembewußtsein großgeworden. Für manchen Führer der Dritten Welt — und das hat nichts mit Herrendenken zu tun — ist die Atombombe, eben weil diese Erfahrung fehlt, kaum etwas anderes als eine Zauberwaffe, mit der man sich Überlegenheit verschafft. Deshalb brauchen wir internationale Öffentlichkeitsarbeit gegen den nuklearen Holocaust.Aber wir brauchen auch eine Vision. Wir brauchen einen Zeitplan, an dessen Ende in der Tat die Vernichtung aller Massenvernichtungswaffen steht, zusammen mit dem Verbot weiterer Produktion. Nur aus Gründen der Abschreckung sollte ein kleiner Rest nuklearen Potentials in den Händen der Vereinten Nationen verbleiben, damit nicht eine einzige Bombe in den Händen eines Verbrechers zur Erpressung der gesamten Völkergemeinschaft mißbraucht werden kann. Der Amerikaner Bernard Baruch hat bereits im Jahre 1946 der UNO vorgeschlagen, jede Form des Umgangs mit Kernenergie vom Uranbergbau bis zur Endlagerung der Kontrolle einer internationalen Agentur der UNO zu unterstellen. Der Vorschlag scheiterte damals am Nein der Sowjetunion. Nun gibt es die Sowjetunion nicht mehr. Sind die Chancen für diesen Vorschlag vielleicht besser?Ich komme zum Schluß. Es ist so, daß wir diese Vision brauchen; aber bis diese Vision Realität wer-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 6417
Dr. Friedbert Pflügerden kann — da gebe ich dem Kollegen Lummer völlig recht — sollten wir lieber ein bißchen skeptisch sein und uns darauf vorbereiten, daß sich nicht jeder unbedingt rational verhält. Deshalb brauchen wir in der Allianz auf absehbare Zeit, nämlich solange es Nuklearwaffen in der Welt gibt, auch eine nukleare Option. Wir können leider nicht völlig auf sie verzichten. Es ist notwendig, beides zu vereinbaren: die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt und die Verteidigung gegen mögliche Ausbrecher aus dem international vereinbarten Regime und Zeitplan.Wir werden jedenfalls unsere Bundeswehr, die Allianz und die WEU auf absehbare Zeit weiter benötigen, und das hätte ich gern einmal heute von Ihnen gehört: ein klares und deutliches Bekenntnis. Wir von der Union werden jedenfalls auch in Zukunft die Soldaten der Bundesrepublik verteidigen und in Schutz nehmen, wenn sie von einzelnen als „potentielle Mörder" bezeichnet werden.
Die Soldaten der Bundeswehr tun einen sehr wichtigen Dienst, auf den wir nicht verzichten können. Sie haben ein Recht darauf, daß wir, die Politiker, uns Gedanken machen,
wie wir einer Welt ohne Massenvernichtungswaffen ein wenig näherkommen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2076, 12/2067 und 12/2068 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Einsetzung einer Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der UmweltBewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft"
— Drucksachen 12/1290, 12/1951 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Michael Müller
Dr. Jürgen Starnick
Dr. Klaus-Dieter Feige
Sind Sie damit einverstanden, daß abweichend von der Geschäftsordnung Reden zu Protokoll gegeben werden? — Wenn sich kein Widerspruch erhebt, ist dies so beschlossen.
Nach der Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Als erstem erteile ich dem Abgeordneten Michael Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat durch die Aufarbeitung umfassender ökologischer Themen und Probleme mit der Klima-Enquete eine, wie ich finde, sehr gute, ja vorbildliche Leistung erbracht.Bei der heutigen Beschlußvorlage haben wir es mit einem ähnlich weitreichenden Thema zu tun. Daher halten wir es für sinnvoll — wir haben das einvernehmlich begrüßt und unterstützt —, auch dieses Problem in einer Enquete-Kommission aufzuarbeiten.Dadurch besteht die Chance, das sehr schwierige Problem der Erfassung von Chancen und Risiken von Stoffströmen, der Folgen menschenbedingter Eingriffe in die Naturhaushalte und der damit verbundenen zahlreichen Wechselwirkungen in und zwischen den Ökosystemen mit der diesem Thema angemessenen Sorgfalt zu behandeln.Ich glaube, es geht vor allem um drei zentrale Felder.Erstens geht es darum, wie durch die anthropogenen, also menschenbedingten Eingriffe in die Stoffkreisläufe sonst überwiegend immobile Stoffe mobilisiert werden und dadurch Schaden angerichtet wird. Ein Beispiel sind die Schwermetalle.Zweitens geht es um die Eingriffe in globale Zyklen, beispielsweise in den Kohlenstoffkreislauf. Auch der Kohlenstoffkreislauf ist nicht mehr mit einzelstofflichen Betrachtungen, sondern nur Systemar zu bewerten, beispielsweise in den Auswirkungen auf die atmosphärischen, die terrestrischen oder die ozeanischen Systeme.Das dritte zentrale Feld ist die Bewertung von weithin evolutionsunerprobten, also synthetischen Stoffen und ihrer Wirkung auf die Natur. Insofern muß man sehen, daß die Enquete-Kommission ein sehr viel größeres Systemgebiet als die synthetischen Stoffe behandeln soll. Es geht auch um die Wechselwirkung mit den natürlichen Stoffen, also dem Naturhaushalt.Mit dieser Enquete-Kommission wollen wir also einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung komplizierter wissenschaftlicher Sachverhalte leisten. Damit wollen wir — das ist wohl das Wichtigste — den Anspruch ernst nehmen, zu einer vorsorgenden, integrierten Umweltpolitik zu gelangen. Wir wissen, daß unsere heutigen umweltpolitischen Ansätze den aufgetretenen Schäden gewissermaßen nachhinken. Wer die vorsorgende Bewahrung der ökologischen Kreisläufe wirklich ernst nimmt, muß zu einer unmittelbaren Bewertung von Stoffkreisläufen und der Eingriffe in die Stoffkreisläufe kommen.
Wir haben das in der Klima-Enquete angefangen. Wir werden das jetzt auf einer anderen Ebene erweitern.Ich finde, daß der Bundestag hier eine sehr wichtige Vorreiterrolle übernimmt. Lassen Sie mich das auch
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6418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992
Michael Müller
vor diesem Hintergrund sagen: In einer Zeit von Unsicherheiten und Umbrüchen, in der wir heute sind, besteht die Gefahr, die Politik sozusagen zu überfrachten und alle Probleme, die nicht gelöst werden können, im Grund auf die Politik und die Politiker zu überwälzen. Daran ist sicher etwas Wahres.Aber ich möchte auch sagen, daß umgekehrt beispielsweise in zentralen ökologischen Fragen wichtige Impulse von der Politik ausgegangen sind. Beispielsweise war die Klima-Enquete ein Impuls, der sehr viel stärker von der Politik ausgegangen ist, als er sich sozusagen neben dem politischen Bereich entwickelt hat. Ich akzeptiere zwar die vielfache Kritik, die der Politik vorwirft, sie reagiere nur, aber generell trifft sie sicher nicht zu. Wir glauben, daß wir mit dieser Stoff-Enquete einen Beitrag zu einer gestaltenden vorsorgenden Politik leisten können.Dies ist auch deshalb wichtig, weil in den letzten Jahren vor allem drei Fakten immer deutlicher geworden sind. Der erste Fakt ist, daß die biochemischen Kreisläufe bereits bedenklich ins Rutschen geraten sind; Belastungsgrenzen im Erd-Ökosystem werden immer deutlicher.Das macht den Handlungsbedarf groß. Aber das Wichtigste überhaupt ist die Erkenntnis, daß wir schon heute einen großen Teil unserer Zukunft programmiert haben. Das unglaubliche Problem einer Mediengesellschaft, die eigentlich nur auf aktuelle Ereignisse reagiert, steht in einem fundamentalen Widerspruch zu dem, was tatsächlich abläuft, daß wir nämlich in der Gegenwart Zukunft zementieren. Alexander Kluge nennt das den alltäglichen Angriff auf die Zukunft, den wir aber erst in der Zukunft merken.Dieses Grundproblem stellt sich um so deutlicher in der Ökologie. Alle zentralen ökologischen Probleme haben einen Vorlauf von einem Jahrzehnt oder mehr. Insofern ist ganz wichtig zu begreifen: Eine Stoffpolitik ist ein Teil, mit dieser Problemstellung, also der Zeitverzögerung zwischen Verursachung und Wirkung, fertig zu werden.Zweiter zentraler Fakt, der in den letzten Jahren immer deutlicher geworden ist: Wir erkennen immer klarer die Grenzen einer Politik der nachträglichen Schadstoffkontrolle. Wir wissen, daß ein Aktionismus, der sich nur auf die Schadstoffkontrolle ausrichtet, mit dem Problem nicht fertig werden kann, sondern im Gegenteil sogar immer weiter den Problemstellungen hinterherläuft. Deshalb ist es ganz entscheidend, daß wir von der Philosophie der Endof-Pipe-Technologien wegkommen und zu dem hinkommen, was ökologisch geboten ist, nämlich eine vorsorgende Politik.Den dritten Fakt muß man aus meiner Sicht ganz klar herausstellen: Die Naturzerstörung erfolgt zwar mit der Objektivität der Naturgesetze, aber sie kommt nicht naturgesetzlich. Sie ist vielmehr das Ergebnis der ständigen Mißachtung der Naturgesetze in der Organisation von Gesellschaft. Deshalb müssen wir begreifen, daß Umweltpolitik nicht bedeuten kann, sie als Fachdisziplin immer mehr neben anderen Fachdisziplinen zu stärken. Viel entscheidender ist, in der Gesellschaft in allen Entscheidungen das ökologisch Notwendige zu verankern. Das ist ein anderer Ansatz als der, der heute noch vorherrscht, bei dem wir nämlich Fachdisziplinen stärken.Ökologisches Denken ist ein übergeordnetes Denken, was sozusagen die Bewahrung der Biosphäre zum obersten Ziel aller Entscheidungen macht, ähnlich wie es in anderen Bereichen bei der Bewahrung der Demokratie und der Bewahrung der Sozialstaatlichkeit der Fall ist.
Die Enquete-Kommission wird sich ganz zweifellos mit allen diesen Grundfragen nicht in extenso beschäftigen können; das ist klar. Aber wir müssen uns exemplarisch Felder aussuchen, wo wir diese Zusammenhänge auch deutlich machen können und von denen aus wir wiederum verallgemeinern können. Es wird die entscheidende Aufgabe der ersten Zeit sein, solche Schlüsselfragen auszusuchen.Von zentraler Bedeutung wird es hierbei sein, zu Systembetrachtungen zu kommen, also weg von isolierten Betrachtungen hin zu Systembetrachtungen einschließlich der ökologischen Wechselwirkungen und natürlich auch der ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen.Dafür müssen wir uns aus meiner Sicht an Leitbildern orientieren. Die Arbeit in der Kommission muß sich sozusagen aus dem Verständnis „Was wollen wir in der Zukunft erreichen, und wie können wir es erreichen?" entwickeln.Dabei müssen für uns drei zentrale Leitbilder eine große Rolle spielen: erstens die Idee der nachhaltigen Entwicklung, also alles das, was von den Vereinten Nationen, von der Brundtland-Kommission, als Stichwort, aber leider bisher wenig ausgefüllt, in die Diskussion gebracht wurde. Es geht dabei um die Dauerhaftigkeit menschenwürdiger Lebensbedingungen.Zweitens. Wir müssen auch zu einer Hinterfragung des Bedarfs kommen. Ich halte es für eine der entscheidenden Zukunftsfragen zu erkennen, daß die Bewahrung von Freiheit auch Selbstbegrenzung bedeutet, besser gesagt: daß die Freiheit in einer immer komplexeren Gesellschaft mit immer höheren Ansprüchen auch bedeutet, im Interesse der Freiheit zu Selbstbegrenzungen zu kommen, also zu Begrenzungen, die aus Einsicht erfolgen.Drittens müssen wir analysieren, wieweit wir solche Ideen wie „geschlossene Kreisläufe" umsetzen können und wieweit wir dabei insbesondere Kaskaden für die Wiederverwertung aufbauen können.Meine Damen und Herren, die SPD versteht diese Enquete-Kommission als eine Chance, die stofflichen Zusammenhänge einer komplexen Industriezivilisation systematisch, rational und in gesellschaftlichem Diskurs aufzuarbeiten. Ich glaube, daß alle komplexen zukunftsorientierten Themen heute nur noch nach dem Prinzip der Wahrheitsfindung durch den gesellschaftlichen Dialog umsetzbar und akzeptanzfähig gemacht werden können. Das Habermassche Prinzip, Wahrheitsfindung durch Diskurs, ist aus meiner Sicht das einzig wirklich tragfähige Prinzip in
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einer entwickelten Demokratie. Daran muß man sich auch orientieren. Das heißt, man muß vorurteilsfrei, offen und lernfähig in solche Diskussionen gehen.Das bedeutet, wir müssen versuchen, vorsorgend statt reaktiv Politik zu machen, wir müssen das Thema systematisch statt zufällig behalten, und wir müssen es vor allem unter Einbeziehung wichtiger gesellschaftlicher Gruppen statt in internen Zirkeln organisieren.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster nimmt das Wort der Abgeordnete Dr. Norbert Rieder.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stimmen der Einrichtung dieser Enquete-Kommission ausdrücklich zu. Bei dieser Einrichtung einer Enquete-Kommission muß man sich natürlich ein paar Gedanken machen, und es gibt einige Erwartungen. Was ist dazu zu sagen?
Wir möchten erreichen, daß die ökologische und soziale Marktwirtschaft deutlich verbessert wird. Wir wollen erreichen, daß die Umwelt als wichtiger Produktionsfaktor in unsere Marktwirtschaft internalisiert wird. Dazu brauchen wir die Gleichwertigkeit der wichtigsten Faktoren einer modernen Marktwirtschaft. Diese Faktoren sind bekanntlich die Arbeitskraft der Menschen, die unternehmerische Leistung, die wissenschaftliche Leistung derer, die die Produkte entwickeln, das Kapital und, nicht zu vergessen, die soziale Komponente, die soziale Absicherung und die Umwelt.
Am schwierigsten ist dabei die Umwelt, die Veränderung der Umwelt zu bewerten, da die Daten nur sehr schwer zu erfassen sind. Die Komplexität von Ökosystemen, die ja der wissenschaftlichen Ökologie große Probleme bereitet, macht es äußerst schwierig, diese Faktoren richtig einzukalkulieren. Der Zustand unserer Umwelt erfordert das aber dringend; denn sonst werden wir die Zukunft nicht gewinnen.
Dazu, glaube ich, kann die zu gründende Kommission einen wichtigen Beitrag leisten. Aber wir müssen nach meiner Meinung drei Punkte beachten. Wir müssen als erstes fragen: Was muß diese Kommission leisten?, zweitens: Was sollte sie leisten? und drittens: Was darf sie nicht betreiben?
Zum ersten: Was muß sie leisten? Es müssen ein Einstieg und die Standardisierung von Ökobilanzen ausgewählter Stoffe erreicht werden. Wir sollten diese Aufgabe nicht unterschätzen. Das Beispiel vieler Ökobilanzen, die angedacht sind, die begonnen worden sind und die alle nicht ganz ideal sind, zeigt, daß dieses Thema wirklich sehr schwer zu behandeln ist.
Es ist darüber hinaus ein Vergleich zu machen; denn allein eine Ökobilanz eines Stoffes oder eines Stoffsystems bringt uns nicht weiter. Wir müssen selbstverständlich auch die Alternativen untersuchen. Wir müssen untersuchen, was passiert, wenn wir einen bestimmten Stoff, der als gefährlich erkannt ist, aus
dem System herausnehmen. Ist möglicherweise das, was wir dann erreichen, für die Gesamtbilanz schädlicher, als wenn wir diesen möglicherweise unangenehmen Stoff beibehalten, wenn auch in Maßen?
Zweitens: Was sollte erreicht werden? Es sollte erreicht werden, daß nicht nur ein einzelner Stoff oder einzelne Stoffe behandelt werden, sondern die gesamte Kette eines Stoffes von der Rohstoffgewinnung über die Produktion bis zum fertigen Produkt und dann natürlich bis zur Wiederverwertung bzw. Entsorgung. Wenn wir das nicht schaffen, wird das Ganze nur isoliert sein, und wir werden damit das, was wir eigentlich haben wollen, nicht erreichen können.
Durch solche Daten wollen und müssen wir aber auch einen Hinweis für bessere Produkte erreichen. Wir müssen darüber hinaus die technische Innovation stärken und — auch das ist, glaube ich, ein wichtiger Gesichtspunkt — eine bessere Akzeptanz bekommen. Durch offene Daten — das ist ein ganz entscheidender Punkt — können wir eine bessere Akzeptanz in weiten Kreisen der Bevölkerung und in der Politik erreichen.
Jetzt komme ich zum letzten Punkt, was nicht sein darf; ich glaube, das müssen wir als ganz wichtigen Punkt betrachten. Es darf nicht sein — dafür werden wir uns massiv einsetzen —, daß ideologische, wissenschaftlich nicht haltbare Behauptungen in den Raum gestellt werden, daß oberflächliche Betrachtungen die Atmosphäre vergiften und daß Ergebnisse herauskommen, die letzten Endes nur zum Lachen reizen. Sie wissen, daß es in der politischen Diskussion der Vergangenheit leider Gottes häufig Dinge gegeben hat, über die wir wirklich nur lachen konnten. Deswegen, glaube ich, müssen wir das Ganze auf eine rationale, wissenschaftliche Basis stellen.
Wir, die CDU/CSU, sind jedenfalls der Ansicht, daß unsere Zukunft nur in intelligenten Produkten und in intelligenter Produktion — zu intelligenten Produkten und zu einer intelligenten Produktion gehört auch die Einbeziehung der Umweltfaktoren — liegen kann. Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten.
Vielen Dank.
Als nächster hat der Kollege Dr. Klaus Röhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der federführende Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und die mitberatenden Ausschüsse empfehlen einheitlich die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt — Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft".Die FDP-Fraktion stimmt der Empfehlung zur Einsetzung eines solchen Ausschusses wegen dessen großer Bedeutung voll zu, auch wenn die Beschlußempfehlung selbst nach unserer Ansicht sehr blumig und weitschweifig gehalten ist und einige äußerst unklare und auch sehr verschwommene Bezeichnungen und Formulierungen enthält.
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Dr. Klaus RöhlAber es gehört ja auch zur Aufgabenstellung dieser Enquete-Kommission, Begriffsanalysen und Begriffsbestimmungen zu diesem Problembereich vorzunehmen, so daß wir in dieser Hinsicht sehr hoffnungsvoll sind. Ebenso setzen wir sehr darauf, daß durch die Arbeit dieser Enquete-Kommission die Diskussion zu diesem Thema aus dem Dunstkreis der emotionalen und spekulativen Behandlung herausgenommen und in sachgerechte, wissenschaftlich-technisch gesicherte Bahnen gelenkt wird.Stoffkreisläufe und Veränderungen in der belebten und unbelebten Natur auf dieser Erde gibt es, solange diese Erde besteht. Schon die Lebenswelt der vorzeitlichen Nomaden hatte Stoffkreisläufe im Gefolge. Mit fortschreitender Entwicklung der Menschheit wurde jedoch der Einfluß dieser unterschiedlichsten Stoffkreisläufe auf die Umwelt immer größer.In unserer Zeit nehmen diese Einflüsse immer umfassendere und schwerwiegendere Formen und Ausmaße an, obwohl erwähnt werden muß, daß auch in früheren Zeiten, meist unbewußt, in dieser Sache stark gesündigt wurde. Denken Sie dabei z. B. an die heute noch spürbaren Folgen des Erzbergbaus und der Metallgewinnung des Mittelalters.Wir begrüßen deshalb einerseits die sehr weit gefaßte Aufgabenstellung für diese Enquete-Kommission, während wir andererseits davor warnen müssen, ihren Auftrag zu zerfasern und ins Unendliche abgleiten zu lassen. In absehbarer Zeit soll ein faßbares, ein verwertbares Ergebnis vorgelegt werden. Es muß also nach zügiger Klärung unklarer und umstrittener Begriffe — wie z. B. „stoffökologische Innovationen", „Sozialverträglichkeit" , „Friedensverträglichkeit", „sozialer Nettonutzen" — an ausgewählten exemplarischen Beispielen die Umweltverträglichkeit des Stoffkreislaufs, der Schutz der Menschen untersucht werden.Die Ergebnisse dieser Beispieluntersuchungen müssen Analogieschlüsse zu anderen Systemen zulassen und Anregungen für die weitere Verfahrensweise geben, damit nach Abschluß der Arbeit dieser Enquete-Kommission diese Aufgaben an andere geeignete Institutionen übergeben werden können. Vor allem aber sollten durch die Arbeit dieser Kommission unter Hinzuziehen beteiligter oder betroffener Partner aus Öffentlichkeit, Wissenschaft, Industrie und weiterer Teile unserer Gesellschaft klar definierte Begriffe und quantifizierbare Kriterien für Umweltverträglichkeit und Ökobilanzen einschließlich der Sicherheit der anzuwendenden Methoden erarbeitet werden.Wir stehen vor der Kernaufgabe, die schwerwiegende Thematik dieser Enquete-Kommission aus dem Nebelkreis der Vermutungen und Spekulationen herauszulösen und die in ihr enthaltenen Probleme frei von falschen und unbegründeten Emotionen einer sachgerechten, die Umwelt und die Menschen schützenden Lösung zuzuführen. Ich erinnere auch daran: Erkenntnisprozesse sind oft von langer Dauer und laufen nicht ohne Voreingenommenheiten und Irrwege ab. Auch das müssen wir überwinden.Die FDP-Fraktion stimmt der Einsetzung einer Enquete-Kommission entsprechend Drucksache12/1951 zu. Wir wünschen dieser Enquete-Kommission vollen Erfolg.
Nun hat der Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, das ist ein so wichtiges Thema, daß die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland größer sein sollte als heute hier bei uns im Kollegenkreis. In der Zukunft sollte jeder mitbekommen, daß es tatsächlich um sein eigenes Leben, um seinen Alltag geht.Die Medien haben sich schon viel länger und intensiver für dieses Thema interessiert als wir es bei uns im Kollegenkreis beraten haben. Erlauben Sie, daß ich ein bißchen persönlicher darüber nachdenke, weil ich noch nicht so lange in der Bundesrepublik lebe. Wenn ich früher in der DDR manchmal durch den Spalt des Mediums Fernsehen in die Bundesrepublik geschaut habe — es war nur ein kleiner Spalt —, haben mich Tag für Tag wirklich bemerkenswerte Mitteilungen erreicht. Da war von Umweltkatastrophen am Rhein die Rede. Später ist sogar ein Minister durchgeschwommen, was die Rede von einer Katastrophe dort außerordentlich unterstützt. Um ernst zu bleiben: Das Problem ist so. Später hat die chemische Industrie sogar teure Werbezeit eingesetzt — das will etwas bedeuten —, um ihren Ruf gerade in solchen Dingen aufzubessern.Man könnte eigentlich entsetzt sein, und ich hätte es aus DDR-Sicht auch sein können. Bei uns im DDR-Fernsehen gab es einen Werbespot: Chemie schafft Schönheit, Charme und Schick. Wir hatten sehr viel Chemie. Ich nenne nur das Stichwort Bitterfeld. Sie wissen selbst, wie das mit der Schönheit war. Also kann es mit der Chemie so toll nicht sein.Ich glaube, es gibt in diesem Bereich erhebliche Probleme und auch eine ganze Menge Vorurteile. Professor Rieder hat eben etwas zu dieser Sachlichkeit oder zum Umgehen mit einer solchen Thematik gesagt. Herr Lippold hat mich noch angesprochen, heute endlich einmal sachlich zu sein.
— Herr Klinkert, ich bitte Sie! Ich denke an Ihre Beiträge. — Ich glaube, das ist ein so ernstes Thema, daß die Sachlichkeit durch das tägliche Erleben ganz konkret nachvollzogen werden kann.Wenn heute die Kollegen bei einem so ernsten Thema fraktionsübergreifend Beifall zollen, so halte ich das für außerordentlich wichtig und dem Ernst der Situation angemessen. Bei meinen 180 Sekunden Redezeit verzichte ich auf die Darstellung all der Fragen, die in Zukunft eine Rolle spielen und die wir gemeinsam beraten wollen.Wir haben eine gute Chance, daß diese EnqueteKommission neben der Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre ein weiteres Kapitel großer parlamentarischer Arbeit im Umweltbereich gestalten wird. Das setzt weiterhin voraus, daß wir uns um einen Konsens bemühen. Er darf nicht am Proporz der
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Dr. Klaus-Dieter FeigeParteien scheitern, sondern er muß über diese Grenzen hinausgehen, wie es auch in der EnqueteKommission zum Schutz der Erdatmosphäre der Fall ist. Aber dafür müssen alle in etwa die gleichen Arbeitsbedingungen haben. Wir unterstützen den Antrag voll, auch das, was zunächst provisorisch über die Mitwirkung der beiden Gruppen in dieser Enquete-Kommission gesagt wurde. Aber angesichts dieser Übereinstimmung ist es notwendig, daß wir gleiche Arbeitsbedingungen bekommen. Ich bitte die Parteien der Koalition, in dieser Hinsicht vielleicht über ihren Schatten zu springen. Was physikalisch nicht möglich ist, ist in der Politik durchaus denkbar. Geben Sie uns in diesem Sinne die Möglichkeit einer vollwertigen Mitarbeit in den beiden Enquete-Kommissionen! Ich weiß, daß ich es alleine, ohne Zusammenarbeit mit einem Wissenschaftler, nicht schaffen kann. Dafür ist die Thematik viel zu komplex.Ich denke, daß wir nach dem guten Start des Aufeinander-Zugehens heute die gemeinsame Arbeit unter gemeinsamen Bedingung en fortsetzen können.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Paul Laufs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die Einrichtung der Enquete-Kommission „Stoffkreisläufe" und wird sie bei ihrer Arbeit unterstützen.Die besorgniserregenden Ergebnisse der jüngsten Messungen zur Ozonschicht über der nördlichen Erdhalbkugel haben die grundlegende Bedeutung der Stoffthematik wohl auch dem letzten Skeptiker bewußt gemacht. Hier wird wie in einem Brennglas deutlich, warum es aller Anstrengungen bedarf, in den Grundfragen einer dauerhaften, umweltverträglichen Fortentwicklung unserer Industriegesellschaft voranzukommen. Der Fall der ozonschichtabbauenden und die Erdatmosphäre verändernden Stoffe, aber auch andere Fälle — ich denke etwa an Asbest — machen deutlich: Es geht nicht an, daß wir immer erst hinterher klüger sind. Die mögliche Dramatik neuer Probleme verpflichtet uns, von Anfang an klug zu sein. So banal diese Erkenntnis ist, so schwierig erweist es sich, sie in wirtschaftliches und gesellschaftliches Verhalten umzusetzen. Wir befinden uns hier nach wir vor in einem Lernprozeß. Die vorgesehene EnqueteKommission ist aus meiner Sicht ein richtiger und wichtiger Beitrag des Bundestages, um diesen Prozeß voranzubringen.Lernprozesse setzen gemeinsamen Lernwillen voraus. Sie eignen sich nicht für die tages- und parteipolitische Vorteilssuche. Der Bundesumweltminister begrüßt es daher besonders, daß es bei den Ausschußberatungen gelungen ist, sich auf eine gemeinsame Beschlußempfehlung zu einigen. Ich unterstreiche, was der Kollege Feige gerade hier dazu gesagt hat. Damit ist der Grundstein für eine konstruktive Zusammenarbeit auch im Rahmen der Kommission gelegt. In demselben Sinne ist auch das Interesse der beteiligten Kreise an einer aktiven Begleitung der Kommissionsarbeit zu begrüßen. Ich nenne insbesondere die Industrie, die Gewerkschaften, die Wissenschaft und die Umweltverbände.Die von den Ausschüssen vorgelegte Beschlußempfehlung läßt der Enquete-Kommission gegenüber dem ursprünglichen Antrag in einer Reihe von Punkten etwas mehr Spielraum bei der Definition ihrer Aufgabe. Ich meine, daß auch dies die Start- und Erfolgschancen der Kommission verbessert. Dem Bundesumweltminister ist besonders daran gelegen, daß die Enquete-Kommission Ergebnisse erarbeitet, die einer praktischen Verwertung und Umsetzung unmittelbar zugänglich sind. Die jetzige Beschlußfassung erlaubt es der Kommission, unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Zeit die erforderlichen Abgrenzungen und Strukturierungen der Arbeit im Diskussionsprozeß selbst noch vorzunehmen. Daß hier mit eigenen Vorstellungen und einer gewissen Eigendynamik zu rechnen sein wird, haben die bisherigen Enquete-Kommissionen gezeigt. Dies ist auch richtig so.Das Arbeitsprogramm der Enquete-Kommission wird sich tendenziell als sehr umfangreich und entsprechend schwierig erweisen. Die Mitglieder des Umweltausschusses haben sich hiervon erst kürzlich bei einer speziell zum Thema „Ökobilanzen" im Umweltbundesamt abgehaltenen Sitzung überzeugen können. Die Aussage, daß wir Ökobilanzen brauchen, daß wir insbesondere den ihnen zugrundeliegenden ganzheitlichen Ansatz bei der Betrachtung und Bewertung von Umweltauswirkungen benötigen, ist leicht getan. Geht man jedoch in die Details, wird eine Fülle methodischer Probleme deutlich, die die Verwertbarkeit derartiger Untersuchungen zur Zeit noch grundsätzlich in Frage stellen.Ich nenne etwa die Frage nach der sachgerechten Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes; die Datenauswahl und -verfügbarkeit; die Berücksichtigung von Kriterien, die nicht oder in absehbarer Zeit nicht quantifizierbar sind, oder die Frage, ob es objektive Kriterien zur vergleichenden Bewertung sehr unterschiedlicher Umweltauswirkungen geben kann, und wenn nicht, wie man die Subjektivität einzelner Maßstäbe deutlich machen kann.Diese Probleme treten schon im bescheidensten Fall, dem Vergleich zweier Produkte auf. Sie potenzieren sich, wenn es um den Versuch der Bewertung ganzer Stoffkreisläufe geht. Entscheidend wird sein, ob es uns gelingt, eine Art „methodische Konvention" für derartige Untersuchungen zu entwickeln, damit diese bestimmten Mindestanforderungen, insbesondere an Transparenz und Nachvollziehbarkeit, genügen. In dem weitgespannten Untersuchungsfeld der Enquete-Kommission wird diese Fragestellung nur ein Teilbereich sein. Es wäre jedoch bereits ein wesentlicher Schritt getan, wenn es im Rahmen der Enquete-Kommission gelänge, hier tragfähige Grundlagen zu entwickeln. Wir werden dies zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten — ich denke z. B. an die Umsetzung eines EG-weiten Umweltzeichens — brauchen.
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Parl. Staatssekretär Dr. Paul LaufsIch wünsche der Kommission breite Unterstützung und den Mut zu neuen Ideen. Ihrem Vorsitzenden wünsche ich für seine anspruchsvolle Aufgabe eine glückliche Hand.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig so angenommen.
Ich stelle fest, daß die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt — Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft" damit eingesetzt ist.
Wir sind damit bereits am Schluß unserer Tagesordnung angekommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 19. Februar 1992, 13 Uhr ein.
Ich wünsche ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist damit geschlossen.