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ID1207700400

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    Plenarprotokoll 12/77 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 77. Sitzung Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 Inhalt: Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz-Günter Bargfrede, Dr. Wolf Bauer, Richard Bayha, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rüstungskontrolle und Abrüstung nach Ende des Ost-West-Konflikts (Drucksache 12/2076) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Fortsetzung der Abrüstungspolitik nach der Auflösung der UdSSR (Drucksache 12/2067) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Fuchs (Verl), Edelgard Bulmahn, Karsten D. Voigt (Frankfurt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Hilfen für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bei der Rüstungskonversion und der Stärkung des Non-Proliferationsregimes (Drucksache 12/2068) Peter Kurt Würzbach CDU/CSU 6397B Dr. Hermann Scheer SPD 6399 D Dr. Olaf Feldmann FDP 6401 D Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste 6403 B Helmut Schäfer, Staatsminister AA 6404 B Karl Lamers CDU/CSU 6406 B Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 6407 D Günter Verheugen SPD 6408 B Ulrich Irmer FDP 6410 D Günter Verheugen SPD 6412 A Heinrich Lummer CDU/CSU 6412 B Dr. Hermann Scheer SPD 6413 A Edelgard Bulmahn SPD 6413 D Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU 6416 A Tagesordnungspunkt 12: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt — Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft" (Drucksachen 12/1290, 12/1951) Michael Müller (Düsseldorf) SPD 6417 C Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 6419 A Dr. Klaus Röhl FDP 6419 D Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 6420 C Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär BMU 6421 A Nächste Sitzung 6422 C II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 6423* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 12 (Antrag der SPD-Fraktion: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt — Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft") 6424* A Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 6424* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 6397 77. Sitzung Bonn, den 14. Februar 1992 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Austermann, Dietrich CDU/CSU 14. 02. 92 Baum, Gerhart Rudolf FDP 14. 02. 92 Bernrath, Hans Gottfried SPD 14. 02. 92 Dr. Böhme (Unna), Ulrich SPD 14. 02. 92 Börnsen (Ritterhude), SPD 14. 02. 92 Arne Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 14. 02. 92 Braband, Jutta PDS/LL 14. 02. 92 Doppmeier, Hubert CDU/CSU 14. 02. 92 Dr. Dregger, Alfred CDU/CSU 14. 02. 92 Gattermann, Hans H. FDP 14. 02. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 14. 02. 92 Grünbeck, Josef FDP 14. 02. 92 Haack (Extertal), SPD 14. 02. 92 Karl-Hermann Habermann, SPD 14.02.92 Frank-Michael Hämmerle, Gerlinde SPD 14. 02. 92 Hansen, Dirk FDP 14. 02. 92 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 14. 02. 92 Dr. Heuer, Uwe-Jens PDS/LL 14. 02. 92 Heyenn, Günther SPD 14. 02. 92 Hilsberg, Stephan SPD 14. 02. 92 Hollerith, Josef CDU/CSU 14. 02. 92 Horn, Erwin SPD 14. 02. 92 ** Dr. Hoyer, Werner FDP 14. 02. 92 Hübner, Heinz FDP 14. 02. 92 Ibrügger, Lothar SPD 14. 02. 92 ** Jung (Düsseldorf), Volker SPD 14. 02. 92 Jungmann (Wittmoldt), SPD 14. 02. 92 Horst Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 14. 02. 92 Kauder, Volker CDU/CSU 14. 02. 92 Klemmer, Sigrun SPD 14. 02. 92 Kohn, Roland FDP 14. 02. 92 Kolbe, Manfred CDU/CSU 14. 02. 92 Koppelin, Jürgen FDP 14. 02. 92 Koschnick, Hans SPD 14. 02. 92 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 14. 02. 92 Günther Kretkowski, Volkmar SPD 14. 02. 92 Kubicki, Wolfgang FDP 14. 02. 92 Leidinger, Robert SPD 14. 02. 92 Löwisch, Sigrun CDU/CSU 14. 02. 92 Marx, Dorle SPD 14. 02. 92 Meinl, Rudolf Horst CDU/CSU 14. 02. 92 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 14. 02. 92 Dorothea Michels, Meinolf CDU/CSU 14. 02. 92 Molnar, Thomas CDU/CSU 14. 02. 92 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Müller, Günther CDU/CSU 14. 02. 92 * Müller (Zittau), Christian SPD 14. 02. 92 Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 14. 02. 92 Neumann (Bramsche), SPD 14. 02. 92 Volker Dr. Olderog, Rolf CDU/CSU 14. 02. 92 Dr. Pfaff, Martin SPD 14. 02. 92 Pfeffermann, Gerhard O. CDU/CSU 14. 02. 92 Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 14. 02. 92 Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 14. 02. 92 Pofalla, Ronald CDU/CSU 14. 02. 92 Poppe, Gerd BÜNDNIS 14. 02. 92 90/GRÜNE Pützhofen, Dieter CDU/CSU 14. 02. 92 Raidel, Hans CDU/CSU 14. 02. 92 Rau, Rolf CDU/CSU 14. 02. 92 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 14. 02. 92 * Reichenbach, Klaus CDU/CSU 14. 02. 92 Rempe, Walter SPD 14. 02. 92 Rühe, Volker CDU/CSU 14. 02. 92 Sauer (Stuttgart), Roland CDU/CSU 14. 02. 92 Schmalz-Jacobsen, FDP 14. 02. 92 Cornelia Schmidt (Dresden), Arno FDP 14. 02. 92 Schmidt (Mülheim), CDU/CSU 14. 02. 92 Andreas von Schmude, Michael CDU/CSU 14. 02. 92 Schröter, Gisela SPD 14. 02. 92 Schütz, Dietmar SPD 14. 02. 92 Schulte (Hameln), SPD 14. 02. 92 ** Brigitte Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 14. 02. 92 Christian Skowron, Werner H. CDU/CSU 14. 02. 92 Dr. Soell, Hartmut SPD 14. 02. 92 * Dr. Sperling, Dietrich SPD 14. 02. 92 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 14. 02. 92 Dr. Stavenhagen, Lutz G. CDU/CSU 14. 02. 92 Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 14. 02. 92 Wolfgang Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 14. 02. 92 Thiele, Carl-Ludwig FDP 14. 02. 92 Vosen, Josef SPD 14. 02. 92 Welt, Jochen SPD 14. 02. 92 Wieczorek (Duisburg), SPD 14. 02. 92 Helmut Wissmann, Matthias CDU/CSU 14. 02. 92 Wollenberger, Vera BÜNDNIS 14. 02. 92 90/GRÜNE Zierer, Benno CDU/CSU 14. 02. 92 * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung 6424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Februar 1992 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 12 (Antrag der SPD-Fraktion: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt-Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft") Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Chemiepolitik wird neben der Energieproblematik das zweite große Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um eine lebenswerte Zukunft. Begrüßenswert ist, daß sich mittlerweile in der wissenschaftlichen und in der politischen Diskussion über Chemie ein umfassenderes Denken durchzusetzen scheint. Statt einer Einzelstoffbetrachtung wird übergegangen zu der Betrachtung von Stoffgruppen. Angestrebt werden geschlossene Stoffkreisläufe. Vorsorgender Umweltschutz spielt zunehmend eine Rolle. Die Produkte werden von ihrem Ende her und in ihrem Zusammenwirken mit anderen Produkten betrachtet — ein Denken, das das bisher praktizierte „end of the pipe" als vermeintlichen Umweltschutz ausschließt. Die Diskussion erhält eine größere Zeitperspektive, d. h. die Lebensdauer der Stoffe und Stoffgruppen werden ebenso in die Betrachtung einbezogen wie die Art und Auswirkungen ihrer Abbaubarkeit; als Beispiel können PVC und FCKW genannt werden, deren Lebensdauer unterschätzt wurde. Immer mehr wird versucht, sich am tatsächlichen Bedarf zu orientieren, und der Nutzen bestimmter Produkte wird kritisch hinterfragt. Zunehmend wird auf umweltneutrale, wiederverwertbare und reperaturfreundliche Produkte gesetzt. Naturnähe wird zum Qualitätsmerkmal. Die Ersetzung bestimmter als schädlich erkannter Produkte und Produktionsverfahren ist kein Tabu mehr, wie das Beispiel Chlorchemie zeigt. Wir scheinen uns also auf dem Weg in die von Ökologinnen und Ökologen seit langem geforderte Chemiewende zu befinden. Doch leider handelt es sich bei dem oben Gesagten erst um Ansätze, und größtenteils findet die Diskussion bisher ausschließlich im akademischen Bereich statt. Von daher kommen wir nicht umhin, bereits jetzt bestimmte Weichenstellungen vorzunehmen und Fehlentwicklungen abzustellen. In dem vorliegenden Antrag kommt der Herstellung der gesellschaftlichen Akzeptanz eine zentrale Rolle zu. So wichtig dies ist, beschreibt es die Herausforderungen der ökologischen Debatte aber nur unzureichend, nämlich da, wo offene Interessengegensätze der gesellschaftlichen Gruppen bestehen. Ich möchte einige kritische Bemerkungen machen. Was wir brauchen, ist eine gesellschaftliche Debatte über das Was, Wie und Wo der Produktion und ein kurz- und mittelfristig struktur- und ordnungspolitisches Handeln der Politik. Kurz: Wir brauchen eine Chemiepolitik, die die Entgiftung von Produkten und der Produktion als ihr oberstes Ziel definiert. Die Politik darf sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen. Der Ausstieg aus der Chlorchemie muß jetzt politisch gewollt und durchgesetzt werden. Gesundheitsschädliche Produkte und Produktionen müssen jetzt verboten werden. Die PDS/Linke Liste im Bundestag wird dem vorgelegten Antrag und der Einsetzung dieser EnqueteKommission zustimmen. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuß Drucksache 11/8543 Drucksache 12/247 Drucksache 12/1126 Drucksache 12/1247 Drucksache 12/1669 Finanzausschuß Drucksache 11/4492 Drucksache 12/249 Drucksache 12/367 Drucksache 12/942 Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 11/7565 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 12/584 EG-Ausschuß Drucksache 12/1201 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen, bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Auswärtiger Ausschuß Drucksache 12/1681 Nr. 3.1 Finanzausschuß Drucksache 12/210 Nrn. 74, 75 Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 12/1072 Nr. 22 Ausschuß für Post und Telekommunikation Drucksache 12/1681 Nr. 3.13 Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Drucksache 12/1339 Nr. 2.18
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    Rede von Dr. Hermann Scheer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU und der FDP ist vom Kollegen Würzbach als wegweisend bezeichnet worden. Die Frage ist, ob insgesamt die richtigen Wege gewiesen werden. Mit manchem, was Sie gesagt haben — mit vielem sogar —, sind wir einig. Aber die Probleme, die wir künftig in der Abrüstungspolitik haben, liegen eher in dem, was in Ihrem Antrag und von Ihnen noch nicht gesagt worden ist.
    Der Öffentlichkeit wird heute der Eindruck vermittelt, daß die westliche Abrüstungspolitik auf dem besten Wege sei; wenn es Probleme gäbe, dann lägen diese scheinbar ausschließlich andernorts: bei vagabundierenden ehemaligen sowjetischen Atomwaffen oder Atomwaffenexperten, bei den Verursachern gewaltsamer völkisch-nationalistischer Konflikte in Ost- und Südosteuropa, bei aggressiven Despoten „Mini-Hitlers" im arabischen Raum oder insgesamt beim islamischen Fundamentalismus, der in der westlichen Öffentlichkeit und Politik mehr und mehr zum



    Dr. Hermann Scheer
    neuen ideologischen Feindbild stilisiert wird, quasi als Ersatz zum zerbrochenen Feindbild des kommunistischen Totalitarismus.
    Eine solche Betrachtungsweise — der Westen sei gut und vernünftig, die Friedensgefährdung und -bedrohung komme prinzipiell von anderen — ist ein frömmelnder Selbstbetrug. Der Westen ist erneut dabei, von seinen eigenen Problemen und Widersprüchen der Sicherheitspolitik abzulenken, indem er mit dem Finger nur auf andere zeigt.

    (Karl Lamers [CDU/CSU]: Wer tut das denn?)

    Damit die eigenen Widersprüche möglichst gar nicht erst diskutiert werden, wird die Vokabel vom Konsens beschworen.
    Ich bin mit zwei Eckpfeilern der westlichen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik oder Sicherheitspolitik der Gegenwart nicht im Konsens.

    (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist ja erschütternd!)

    Es gibt zwei sehr relevante Bereiche, in denen der Westen sich beharrlich weigert, seine eigenen Probleme wahrzunehmen, und seine damit einhergehende Verantwortung verleugnet, erstens das Festhalten an der atomaren Abschreckung als Strategieelement der NATO, obwohl alle früheren Voraussetzungen atomarer Bewaffnung der NATO hinfällig geworden sind, und zweitens die mangelnde Bereitschaft, den Prozeß der konventionellen Abrüstung fortzusetzen und dabei auf die NATO selbst die Grundsätze anzuwenden, die früher gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt eingefordert wurden.
    Zum Problem der atomaren Abschreckung als einem Element der Strategie der NATO: Die atomaren Waffen des Westens und die NATO-Strategie der atomaren Abschreckung wurden in der Vergangenheit damit begründet, daß die Sowjetunion ein erhebliches atomares Potential hatte und dieses seit den 50er Jahren immer weiter ausbaute, so daß zum Schutz dagegen ein Gleichgewicht des Schreckens bestehen müsse, eine wechselseitige Möglichkeit zur atomaren Vernichtung, damit vor einem Einsatz abgeschreckt werden könne, und daß die Sowjetunion mitsamt dem Warschauer Pakt eine konventionelle Überlegenheit in Verbindung mit einer offensiven Angriffsdoktrin habe, so daß zur Sicherheit dagegen die Strategie der flexiblen Antwort notwendig sei, also auch taktische Atomwaffen gegenüber konventioneller Übermacht und der Anspruch auf einen westlichen Ersteinsatz von Atomwaffen.
    Diese Voraussetzungen sind jetzt hinfällig geworden. Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben den Anspruch aufgegeben, ein atomares Gleichgewicht zu den USA zu haben. Sie wollen Freunde des Westens, nicht mehr Feinde sein. Sie sind bereit — am deutlichsten bisher die Ukraine —, sich atomar vollständig zu entwaffnen. Auch die russische und die kasachstanische Führung haben sich mehrfach zu einem vollständigen Atomwaffenabbau bereit erklärt. Ihre Atomtests sind eingestellt.
    Von einer konventionellen Überlegenheit kann angesichts der Auflösung des Warschauer Pakts, der deutschen Einigung und des Zerfalls der Sowjetunion keine Rede mehr sein. Dennoch hält der Westen an der Strategie der atomaren Abschreckung fest. Zwar reduzieren die USA ihre atomaren Waffen in erheblichem Umfang, aber die britischen und französischen atomaren Neu- und Zusatzrüstungen gehen weiter. Es ist nicht nur unverständlich, warum an der NATO-Strategie festgehalten wird, auch wenn man sie künftig Strategie der atomaren Abhaltung nennen will

    (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Abratung!)

    — oder Abratung —, wie im Antrag der CDU/CSU und der FDP zu lesen ist.

    (Peter Kurt Würzbach [CDU/CSU]: Nanu, lesen konnte er bisher doch!)

    Dies ist unverantwortlich.

    (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das haben sie herausgenommen!)

    Als Begründung werden zunehmend mehr neue Bedrohungen aus dem Süden genannt, etwa eine eventuelle atomare Bedrohung durch arabisch-islamische Staaten. Diese neue Begründung ist sehr viel problematischer als die alten Gründe

    (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist wohl wahr!)

    Die Begründung und die darauf aufbauenden Entscheidungen werden — das sage ich voraus — ein Kernpunkt künftiger prinzipieller sicherheitspolitischer Auseinandersetzungen sein.
    Vielen ist der negative Qualitätssprung noch gar nicht aufgegangen: Die NATO will künftig Atomwaffen als Sicherheitsreserve vorhalten gegen Staaten, die in ihrer konventionellen Bewaffnung der NATO nicht überlegen, sondern haushoch unterlegen sind

    (Günter Verheugen [SPD]: So ist es!)

    und die selbst noch gar keine Atomwaffen haben.

    (Zuruf von der FDP: Wie lange noch?)

    — Ich komme darauf. Aus einer Gleichgewichtsabschreckung soll eine Überlegenheitsabschreckung werden.

    (Karl Lamers [CDU/CSU]: Ach du großer Gott!)

    Die Folgen dieses Ansatzes werden aller Voraussicht nach verheerend sein. Denn dadurch werden sich mehr und mehr Staaten legitimiert fühlen, ihre atomaren Anstrengungen fortzusetzen.

    (Günter Verheugen [SPD]: Natürlich!)

    Die NATO-Strategie führt deshalb mit innerer Zwangsläufigkeit dazu,

    (Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Man muß die Kontrolle verbessern!)

    daß sie durch ihr Festhalten an Atomwaffen die neue Bedrohung erst schafft, die sie vermeiden will.

    (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

    Der Widerspruch ist unüberbrückbar, Atomwaffen in eigener Hand als sicherheitsfördernd, in anderer Hand als teuflisch gefährlich zu betrachten. Dies ist



    Dr. Hermann Scheer
    — es tut mir leid — Ausdruck eines neuen internationalen Herrendenkens,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    eines atomaren Imperialismus, den andere gerade deshalb nicht akzeptieren werden.

    (Günter Verheugen [SPD]: Richtig!)

    Die Gefahren der atomaren Verbreitung, vor denen niemand in diesem Hause mehr und öfter gewarnt hat als die SPD-Fraktion, können nicht eingedämmt werden, wenn diese Einseitigkeit, wenn dieser Widerspruch bleibt.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Die einzige in sich stimmige Antwort liegt darin, daß die NATO zur Bereitschaft findet, auf die atomare Abschreckungsstrategie zu verzichten, und daß der Westen seine prinzipielle Bereitschaft zum Abbau aller eigenen atomaren Waffen erklärt

    (Ulrich Irmer [FDP]: Dann wird er erpreßbar!)

    — warten Sie erst einmal auf den Zusammenhang —, sich zum Ziel vollständiger kontrollierter atomarer Abrüstung bekennt und entsprechende internationale Initiativen einleitet.
    Niemand verlangt, daß der Westen alle seine Atomwaffen hergibt, solange andere Staaten solche Waffen haben.

    (Zuruf von der FDP: Jetzt widersprechen Sie sich aber!)

    Aber die politische Voraussetzung zur Verhinderung atomarer Weiterverbreitung ist die prinzipielle Bereitschaft auch zum eigenen Atomwaffenverzicht. Wenn der Westen sich dieser Konsequenz verweigert, ist er der eigentliche Verursacher der künftigen atomaren Gefahren, nicht ihr Verhinderer.
    Zu fordern sind vor allem eine Konferenz der Atomwaffenstaaten über den Abbau aller atomaren Waffenpotentiale, und zwar weltweit, und die Vereinbarung eines wirkungsvollen internationalen Regimes der Vereinten Nationen, mit dem alle weiteren Bemühungen von Staaten zu atomarer Rüstung unterbunden werden können. Das ist die neue qualitative Herausforderung, vor der wir stehen.
    Zur konventionellen Abrüstung will ich, da ich fast am Ende meiner Redezeit bin, nur auf folgendes hinweisen: Es war immer so, daß gesagt worden ist: „ Wer mehr hat, der muß mehr geben. " Das war unsere Forderung an den Osten, als dort eine ohne Zweifel vorhandene quantitative Überlegenheit gegeben war. Es wurde immer gesagt, man müsse die Fähigkeit zu Angriffshandlungen abbauen, um damit internationale Vertrauensbildung zu schaffen.
    Wie sieht die Lage heute aus? Unzweifelhaft besteht eine eindeutige konventionelle NATO-Überlegenheit gegenüber allen Nachbarn, nicht nur gegenüber den neuen Strukturen im Osten Europas. Eine Million Soldaten hat die NATO heute mehr als die früheren Staaten der Sowjetunion in Europa,

    (Karl Lamers [CDU/CSU]: Und niemand fühlt sich bedroht!)

    und fünfmal mehr gibt die NATO in Europa für Rüstung aus als alle Staaten des nordafrikanischarabischen Raumes, einschließlich Israels, zusammen. „Wer mehr hat, der muß mehr geben", das bedeutet angesichts der Überlegenheit auf dem maritimen Sektor, bei der Seerüstung, gleichzeitig, daß der Westen jetzt natürlich die Anforderung an sich selbst haben muß, einseitige konventionelle Rüstungsreduzierung in erheblichem Umfang einzuleiten, um damit den Prozeß der konventionellen Abrüstung weiterzuführen, der auf dem klassischen bilateralen Verhandlungssektor nicht mehr möglich ist.

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    — Da hat Deutschland eine besondere Verpflichtung, und es ist sie eingegangen. Wir reden hier aber insgesamt von westlicher Abrüstungspolitik.


Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Dr. Scheer, Ihre Redezeit ist zu Ende.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hermann Scheer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Ich bin auch gleich zu Ende. — An den Westen insgesamt ist die Forderung zu richten, hier die notwendigen einseitigen Abrüstungsmaßnahmen einzuleiten, um damit das Signal für internationale Vertrauensbildung zu geben, das notwendig ist, nämlich: Abrüstungsmaßnahmen in erheblichem Umfang.
    Vielen Dank.

    (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)