Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Erstens. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Zusatzpunkte Zweite und Dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ergänzungsabgabengesetzes, Drucksachen 10/2460, 10/2619, 10/2620, sowie Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN, Giftgaskatastrophe in Bhopal und mögliche Konsequenzen für die chemische Produktion in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 10/2612, erweitert werden.
Ich gehe davon aus, daß mit der Aufsetzung des Entwurfs eines Ergänzungsabgabengesetzes gleichzeitig von der Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen wird. — Ich sehe, daß das Haus damit einverstanden ist. Es wird so verfahren.
Zweitens. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat ihren Antrag Formaldehyd-Bericht, Punkt 19 der Tagesordnung, zurückgezogen.
Drittens. Die Fraktion der CDU/CSU benennt als Nachfolger für den aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes ausgeschiedenen Abgeordneten Straßmeir als stellvertretendes Mitglied den Abgeordneten Seiters. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Damit ist der Abgeordnete Seiters als stellvertretendes Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses gewählt.
Vor Eintritt in die Tagesordnung: Die Fraktion der CDU/CSU hat beantragt, die heutige Tagesordnung um den Punkt Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt — Mikrozensus —, Drucksache 10/2600, zu erweitern. Der Antrag ist rechtzeitig eingegangen. Wird zu diesem Antrag das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der CDU/CSU-Fraktion beantrage ich, den vom Herrn Präsidenten bereits zitierten Gesetzentwurf auf die heutige Tagesordnung zu setzen. Ich beantrage gleichzeitig, ihn ohne
Aussprache federführend an den Innenausschuß und — mitberatend — an den Wirtschaftsausschuß, an den Verkehrsausschuß, den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie an den Haushaltsausschuß zu überweisen.
Zur Begründung darf ich daran erinnern, daß Erhebungen über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland auf Stichprobenbasis bereits seit 1957 durchgeführt werden. Das geltende Mikrozensusgesetz sah die Fortführung dieser Erhebungen auch in den Jahren 1983 bis 1990 vor. Mit Blick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 sind diese Erhebungen in den vergangenen zwei Jahren allerdings nicht durchgeführt worden.
Nunmehr liegt der Entwurf für ein neues Mikrozensusgesetz vor, das statistische Erhebungen auf das unumgänglich notwendige Maß beschränkt und sämtliche Anforderungen aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts erfüllt. Zirka 600 000 Bürger, also 1 Prozent der Bevölkerung, sollen für eine amtliche Statistik befragt werden, die wichtige Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Familien, zum Arbeitsmarkt und zu den Wohnverhältnissen liefert. Bund, Länder, Gemeinden, die Bundesanstalt für Arbeit, die Industrie und der Handel sind gleichermaßen dringend an diesen Ergebnissen interessiert, für die eine Fülle datenschutzrechtlicher Absicherungen besteht. Die Erhebungen sollen im Frühjahr, spätestens aber im Frühsommer durchgeführt werden. Im Blick auf die parlamentarischen Beratungen im Bundestag und im Bundesrat und mögliche Sachverständigenanhörungen ist die Aufsetzung dieses Gesetzentwurfes eilbedürftig.
Ich bedanke mich bei der sozialdemokratischen Fraktion, daß sie der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes zugestimmt hat.
An die Adresse der Fraktion der GRÜNEN, die der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes widersprechen,
möchte ich sagen, daß ich Ihre Haltung in diesem
Punkte überhaupt nicht verstehen kann. Sie wer-
8246 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Seiters
den umfassend Gelegenheit haben, sowohl im Ausschuß wie bei der Sachverständigenanhörung wie auch im Plenum, Ihre Meinung zu diesem Gesetzentwurf kundzutun. Es ist für mich ein doch etwas merkwürdiges Verfahren, allein schon die Beratung und die Debatte über ein solches Thema verhindern zu wollen. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen haben wir unseren heutigen Antrag gestellt.
Ich bitte Sie, unserem Anliegen zu entsprechen und die Möglichkeit zur Beratung dieses Gesetzentwurfes in den Ausschüssen und im Plenum des Deutschen Bundestages zu geben.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Dr. Wernitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde eben schon gesagt, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stimmt der Aufsetzung des Mikrozensusgesetzentwurfs auf die Tagesordnung und damit der Überweisung an den Innenausschuß und an andere Ausschüsse zur Mitberatung zu.
Es ist richtig, der Mikrozensus wurde im Zusammenhang mit der Aussetzung der Volkszählung 1983 und mit dem Volkszählungsurteil 1983 und 1984 nicht mehr durchgeführt. Diese Aussetzung hat zu einem Minus an wichtigem Datenbestand geführt. Wir bewerten das Volkszählungsurteil — das sei hier zur Begründung, weshalb wir zustimmen, deutlich gesagt — nach den zwei Aspekten, die man einbeziehen muß. Die Statistik wird in dem Volkszählungsurteil eindeutig als wichtiges Instrument für das staatliche Planungshandeln untermauert und gestützt. Das muß man sehen. Das bedeutet, daß am Sozialstaatsprinzip orientiertes Handeln ohne aktuelle Daten nicht möglich ist. Das ist aber nur der eine Aspekt. Der zweite Aspekt besteht darin, daß wir darauf achten müssen, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren. Der Mikrozensus 1985 soll im zweiten Quartal 1985 laufen. Wenn wir mit beiden hier stichwortartig genannten Vorgaben konstruktiv und kritisch im Einklang bleiben wollen, dann müssen wir die verbleibende Zeit nutzen.
Sozialdemokraten werden einem Mikrozensus mit heißer Nadel gestrickt nicht zustimmen. Aber weil wir die Vorgaben des Karlsruher Urteils ernst nehmen, wollen wir den Zeitrahmen optimal nutzen.
In einem Vorgespräch habe ich mich mit den Obleuten darauf verständigt, daß wir eine öffentliche Anhörung zum Mikrozensusgesetzentwurf am 25. Februar haben wollen. Dazu brauchen wir hinreichend Vorbereitungszeit. Wir werden selbstverständlich auch hier im Haus und nicht nur im Rahmen der öffentlichen Anhörung alle Aspekte gründlich prüfen hinsichtlich des Umfangs der Datenerhebung, hinsichtlich der Sicherungsmaßnahmen des Verfahrens. Nichts fällt unter den Tisch. Alles muß auf den Tisch kommen. In diesem Sinne werden wir an die Arbeit gehen.
Ich bitte alle, auch die GRÜNEN, diesem Verfahren zuzustimmen, weil wir auf diese Weise eine optimale Beratung des Mikrozensusgesetzes in diesem Hause und eine gute Information der Öffentlichkeit erreichen können. Wir stimmen der Aufsetzung und der Überweisung auf die Tagesordnung zu.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im Frühjahr des nächsten Jahres auf Grund einer EG-Verordnung eine Stichprobenerhebung zur Frage „Arbeitskräfte in der Europäischen Gemeinschaft". Diese Frage ist bei uns nicht zu behandeln, wenn wir nicht die gesetzliche Grundlage dafür gelegt haben, nämlich eben durch dieses Gesetz, um das es im Augenblick geht. Es sind also nicht nur die Fragen, daß wir seit zwei Jahren keine verläßlichen stichprobenartig ermittelten Daten haben, sondern es geht um ein EG-Gesetz, das wir nicht vollziehen können, dem wir nicht nachkommen können.
Im übrigen stellt sich die Frage an die GRÜNEN, wenn Sie hier eine Fülle von Anfragen stellen,
deren Beantwortung nur mit entsprechend gesicherten statistischen Daten möglich ist, z. B. „gesellschaftliche Kosten des Automobilverkehrs" oder ähnliches, dann können Sie sich logischerweise der Ermittlung solcher Daten nicht entziehen,
es sei denn, Sie wollen vorsätzlich oder absichtlich verhindern, daß solche Daten ermittelt werden, damit Ihre Anfragen auf der Basis alter ungesicherter Daten beantwortet werden. Das können Sie ja gleich hier vortragen, wie Sie das halten wollen.
Im übrigen ist die Ermittlung von Daten, von statistischem Material nicht ganz neu. Vor 1984 Jahren haben wir das schon einmal erlebt, zu einer Zeit, als Quirinius Landpfleger in Syrien war, hat Kaiser Augustus ein Gebot ausgehen lassen, „daß alle Welt sich schätzen lasse; und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt". Die weitere Entwicklung ist bekannt.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach Art. 76 Grundgesetz werden Gesetzesvorlagen beim Bundestag „durch die Bundesregierung" oder „aus der Mitte des Bundestages" eingebracht.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8247
Frau Nickels
Vorlagen der Bundesregierung sind zunächst dem Bundesrate zuzuleiten. Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen.
— Sechs Wochen: Diese Frist ist uns wichtig!
Die Bundesregierung kann eine Vorlage, die sie ... als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, nach drei Wochen dem Bundestage zuleiten, auch wenn die Stellungnahme des Bundesrates noch nicht bei ihr eingegangen ist.
So weit zu Art. 76.
Man kann daraus folgendes schließen, und das ist auch der Grund, warum wir der Aufsetzung nicht zustimmen, Herr Seiters:
Die Bundesregierung bringt ihre Gesetze in aller Regel über den Bundesrat ein. Sinn der Sache ist, daß die Länder vor Einbringung des Gesetzentwurfes in den Bundestag hierzu ihre Stellungnahme abgeben. Das bedeutet, daß jedes einzelne Land den Gesetzentwurf zur Stellungnahme bekommt, also auch die von der Opposition regierten Bundesländer. Für dieses uns vorliegende Gesetz bedeutet das, weil es sich um den Mikrozensus handelt, also auch um Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit, daß die Länder ihre Landesdatenschutzbeauftragten zwecks Stellungnahme automatisch eingeschaltet hätten. Wenn nun die Bundesregierung den ungewöhnlichen Weg beschreitet, nicht als Bundesregierung, sondern als CDU/CSU- und FDP-Fraktionen den Gesetzentwurf aus der Mitte des Bundestages, nämlich als Fraktionsgesetzentwurf einzubringen,
so kürzt sie das Verfahren damit nicht nur gewaltig ab, sondern hindert auch die Länderdatenschutzbeauftragten daran, in dem üblicherweise vorgeschalteten Verfahren der Stellungnahme des Bundesrates ihre Gegenargumente vorzutragen.
Unglaublich ist dies für uns vor allen Dingen deshalb, weil der Bundesregierung bekannt ist, daß die Länderdatenschutzbeauftragten schwerwiegende Argumente gegen den Gesetzentwurf haben.
So hat sich der Landesdatenschutzbeauftragte des Landes Hessen, Simitis, schon am Dienstag vehement gegen das Mikrozensus-Gesetz ausgesprochen. Darum müssen diese Datenschutzbeauftragten gehört werden, da nach § 7 des Gesetzentwurfes über den Mikrozensus die Statistischen Ämter der Länder als Erhebungsstellen für den Mikrozensus gelten. Die Länder sind also unmittelbar berührt.
Durch die jetzt gewählte Einbringungsform aus der Mitte des Bundestages beschränkt sich das Recht des Bundesrates darauf, nach Art. 77 nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens dem Bundestag seine Zustimmung zu erteilen. Da im Bundestag die Regierungsparteien bekanntlich die Mehrheit haben, wird der Bundesrat dem wohl auch zustimmen. Eine Stellungnahme zu dem bereits beschlossenen Gesetz kann der Bundesrat nicht mehr abgeben, es sei denn, er ruft den Vermittlungsausschuß an, was aber wegen der bekannten Mehrheiten auch sehr unwahrscheinlich ist.
Es handelt sich hierbei also in Wirklichkeit um einen verkappten Regierungsentwurf. Dieser Regierungsentwurf ist vom Innenministerium ausgearbeitet worden und wurde vom Innenministerium nach nochmaliger Überarbeitung des Vorentwurfes des Innenministeriums in die endgültige Fassung gebracht.
Hinzu kommt, daß er entgegen den parlamentarischen Fristen über den Kopf der Opposition hinweg auf die Tagesordnung gesetzt wird. Dies alles ist auch noch auf dem Hintergrund zu sehen, daß es sich praktisch um die Volkszählung — wenn auch in verkleinerter Form — handelt, mit der ganzen parlamentarischen, außerparlamentarischen und gerichtlichen jüngeren Geschichte, die daran hängt.
Herr Wolfgramm, zu Ihren Argumenten möchte ich bemerken, daß die meisten EG-Länder und außerdem auch Schweden bisher alle ihre wirklich benötigten statistischen Daten per freiwilliger Befragung mit den besten Erfolgen und ohne Fehlerquote erhoben haben.
Zum Schluß ist mir noch wichtig, daß die Bundesregierung mit dieser schnellen Einbringung ihre ursprüngliche Argumentationslinie verlassen hat. Die Bundesregierung hat sich bisher bei dem Versuch, die Volkszählung durch Totalerhebung durchzusetzen, immer darauf berufen, daß diese unbedingt notwendig sei, um die Ergebnisse des Mikrozensus hochrechnen zu können. Eine Totalerhebung sei praktisch die Voraussetzung für die Brauchbarkeit des Mikrozensus. Danach ist es unverständlich, daß der Mikrozensus jetzt der Volkszählung vorausgeschickt wird. Nach der eigenen Logik der Bundesregierung wäre es sinnvoller, den Mikrozensus mit dem Volkszählungsgesetz zusammen in einem Paket zu beraten und in Kraft zu setzen. Die jetzt gewählte Verfahrensweise hat noch nicht einmal sachliche Gründe, wenn man einmal die Argumentation der Bundesregierung unterstellt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag der Fraktion der CDU/CSU. Wer der Aufsetzung auf die Tagesordnung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Anzahl von Enthaltungen mit großer Mehrheit auf die Tagesordnung gesetzt.
Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt — Mikrozensus —— Drucksache 2600 —
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Vizepräsident Stücklen
Wird das Wort dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/2600 an den Innenausschuß — zur federführenden Beratung —, den Haushaltsausschuß, den Wirtschaftsausschuß, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, den Verkehrsausschuß und den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und -Städtebau — zur Mitberatung — zu überweisen. Gibt es noch weitere Vorschläge zur Mitberatung? — Das ist nicht der Fall. Da ich keine gegenteilige Meinung höre, ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer
— Drucksache 10/2460 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 10/2619 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Jung Dr. Spöri
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/2620 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Carstens Hoppe
Wieczorek
Verheyen
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Porzner das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich beantrage nach § 42 unserer Geschäftsordnung die Herbeirufung des Herrn Bundeskanzlers, des Bundesfinanzministers, des Sozialministers und des Familienministers.
Es ist unmöglich, daß wir diesen Tagesordnungspunkt — nach der Vorgeschichte über Monate — diskutieren, ohne daß die von mir soeben genannten Mitglieder der Bundesregierung und der Bundeskanzler anwesend sind.
Falls es Mißverständnisse gegeben haben sollte, wann dieser Tagesordnungspunkt beraten werden soll, kann ich nur sagen: Seit dem gestrigen frühen Nachmittag ist unter den Fraktionen vereinbart, daß dieser Tagesordnungspunkt jetzt um 8.15 Uhr
oder 8.20 Uhr beraten wird. Es kann also bei den Beteiligten gar kein Mißverständnis aufgekommen sein.
Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Herr Abgeordnete Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU widerspricht diesem Antrag, nicht deswegen, weil wir der Meinung wären, der Bundeskanzler wolle oder solle an dieser Debatte nicht teilnehmen. Der Bundeskanzler wird an dieser Debatte teilnehmen. Aber Sie wissen selber ganz genau, Herr Kollege Porzner, wenn Sie sich an die letzten Tage und auch an die Stunden des gestrigen Tages erinnern — —
— Nun hören Sie mir doch bitte einmal zu. Wir sind nun wirklich gestern nachmittag nach unserer Fraktionssitzung in Übereinstimmung verblieben, daß dieser Punkt Ergänzungsabgabe auf Wunsch der sozialdemokratischen Fraktion auf die Tagesordnung — —
— Das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Wir haben zugestimmt, daß dieser Gesetzentwurf auf die Tagesordnung kommt, daß er Ihrem Wunsch entsprechend heute morgen verhandelt wird und daß wir in einer Debattenrunde darüber sprechen. Und ich entnehme aus dem Nicken des Kollegen Porzner, daß dieses alles bisher einvernehmlich geschehen ist. Aber Sie wissen auch, daß noch bis zum gestrigen Nachmittag, bis in die Abendstunden praktisch die Frage der Aktuellen Stunde, wann sie aufgesetzt werden sollte usw., mit gewissen Fragezeichen versehen war. Das erklärt, warum um diese Minute der Bundeskanzler noch nicht da ist. Er wird aber gleich kommen. Und da das der Fall ist, widersprechen wir Ihrem Antrag und bitten, ihn abzulehnen.
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Ich lasse über den Antrag der SPD zur Geschäftsordnung nach § 42, Herbeirufung von Mitgliedern der Bundesregierung, abstimmen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke. Gegenprobe! — Danke. Enthaltungen? — Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß ein Abstimmungsergebnis nur bekanntgegeben werden kann, wenn hier im Sitzungspräsidium Übereinstimmung besteht. Dies ist nicht der Fall.
Ich versuche die einfachere Feststellung von Mehrheiten mit dem Aufstehen. Dann kommt der Hammelsprung. Darf ich bitten, wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, sich vom Platz zu erheben.
— Danke. Gegenprobe! — Danke. Enthaltungen? — Keine. Wie sieht es jetzt aus? — Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf zur Auszählung bitten.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8249
Vizepräsident Stücklen
Wir treten in den Hammelsprung ein.
— Meine Damen und Herren, es ist nicht geklingelt worden. Es wird geklingelt. Ich darf alle Abgeordneten, die sich an der Abstimmung beteiligen wollen, bitten, den Plenarsaal zu verlassen. — Ich bitte die Schriftführer, ihre Plätze an den drei Türen einzunehmen — und zwar jeweils einen von der Koalition und einen von der Opposition.
— Mir wird mitgeteilt, daß nicht zum Hammelsprung geklingelt worden ist. Ich bitte deshalb um Verständnis, wenn eine Verzögerung eintritt. Ich bitte, unverzüglich das Signal zum Hammelsprung zu geben. —
— Herr Abgeordneter Seiters, ist an jeder Tür ein Schriftführer aus den Reihen der CDU/CSU und der FDP? — Ich bitte, mir Abgeordnete zu benennen, die ich ad hoc zu Schriftführern ernennen kann. Das gleiche gilt auch für die SPD und die GRÜNEN. — Die von mir aus gesehen linke Tür ist korrekt besetzt. Die mittlere Tür ist korrekt besetzt. Was ist mit der rechten Tür? — Nein, nein, so geht es nicht, wir brauchen noch einen Schriftführer von der anderen Farbe. Frau Abgeordnete Geiger, bitte an die rechte Tür. —
Ich bitte, die Türen zu schließen und auf das Zeichen hin wieder zu öffnen, damit die Abstimmung korrekt beginnen kann. — Ich bitte, die Türen zu schließen; das ist in der Geschäftsordnung so vorgesehen. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. —
Meine Damen und Herren, ich darf bei den Schriftführern anfragen, ob sie den Eindruck haben, daß sich noch weitere Abgeordnete an der Abstimmung durch Hammelsprung beteiligen wollen. Wenn dies nicht der Fall ist, bitte ich darum, die Türen zu schließen. Oder besteht doch noch Bedarf?
— Bitte sehr.
Meine Damen und Herren, ich bitte, die Türen zu schließen. Die Abstimmung mittels Hammelsprung ist damit abgeschlossen. Ich bitte die Schriftführer, mir die Zählergebnisse mitzuteilen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen. — Über den Geschäftsordnungsantrag nach § 42 der Geschäftsordnung wurde mittels Hammelsprung abgestimmt. Das Ergebnis lautet: Ja: 137; Nein: 203; Enthaltungen: keine. Damit ist der Antrag abgelehnt. Im übrigen hat er sich, wie ich mit meinem ungetrübten Auge feststellen kann, zwischenzeitlich auch erledigt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spöri. — Ich bitte, sich jetzt ganz auf die Aussprache zu konzentrieren. Vielen Dank.
— Herr Abgeordneter Spöri, einen Augenblick noch, bitte. Ich darf bitten, daß alle Abgeordneten, die sich an der Aussprache beteiligen wollen — das gilt sowohl für die rechte als auch für die linke Seite
—, ihre Plätze einnehmen. — Herr Abgeordneter Spöri, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen, Herr Bundeskanzler!
Mit Entzücken haben wir festgestellt, daß Sie soeben beim Hammelsprung durch die Nein-Tür gelaufen sind und somit gegen Ihre eigene Anwesenheit bei diesem wichtigen Thema gestimmt haben.
Aber, meine Damen und Herren, das nimmt mich überhaupt nicht wunder: Das Null-Ergebnis der gestrigen zweiten Koalitionsrunde in Sachen Solidarbeitrag Besserverdienender ist ein einmaliges Armutszeugnis der Führungskraft eines Bundeskanzlers.
Die Bundesregierung gibt heute ihr Versprechen preis, zumindest mit einem Ersatz für die Zwangsanleihe auch nur annähernd für soziale Symmetrie in ihrer Finanzpolitik zu sorgen. Damit bricht der Bundeskanzler sein vollmundiges Versprechen, für einen anderen Solidarbeitrag als die Zwangsanleihe zu sorgen, deren Scheitern er von vornherein riskiert, wenn nicht gar erwartet hat.
Lassen Sie mich zunächst einmal etwas zum Begriff der sozialen Symmetrie sagen, gerade weil er von einem Teil der Koalition in den letzten Wochen mit einer Aggressivität, j a mit Hohn und mit einer geschauspielerten Empörung z. B. vom Außenminister angegangen worden ist,
daß eigentlich auch einige in den Unionsreihen über diesen Stil betroffen sein müßten. Das war eine Kampagne, die mit Kampfparolen wie „Neidsteuer" gespickt war, die unter totaler Verzerrung der Ausgangslage der Öffentlichkeit vorgaukeln wollte, es gehe darum, finanzpolitische Gehässigkeit gegen höher Einkommensschichten mit einer Strafabgabe auszutoben. Diejenigen Herren, die aus der FDP — wie zunächst ein Herr Grünbeck, der neue Bauchredner von Herrn Genscher, und dann mit großem Lustgefühl Herr Genscher selbst — diese Kampfparolen von der Neidsteuer ausgaben, haben nicht nur vergessen machen wollen, daß es sich hier um einen finanzpolitischen Solidarbeitrag handelt, den untere und mittlere Einkommens-
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Dr. Spöri
schichten schon längst in viel stärkerem Umfang erbracht haben; nein, viel schlimmer ist eigentlich die Tatsache, daß es hier bei diesen „Beschützern" der deutschen Leistungsträger keinerlei Gespür dafür gibt, daß finanzpolitische Opferparolen, die Rentnern, Behinderten und Arbeitnehmerfamilien schmerzhafte Milliardenverzichte abverlangt haben — 70 Milliarden mindestens in der mittelfristigen Finanzplanung —, völlig unglaubwürdig werden müssen, wenn ausgerechnet gehobene Einkommensschichten nicht entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit belastet werden.
Wer so jeden ernsthaften Versuch der Annäherung an ein sicher nicht präzise quantifizierbares Gerechtigkeitsziel in der Finanzpolitik als Strafaktion gegen die Leistungsträger in dieser Gesellschaft umfälscht, treibt in Wahrheit ein ganz durchtriebenes, gerissenes Privilegienspiel in seiner Finanzpolitik.
Ich muß Ihnen dazu sagen: Ich kann Herrn Geißler in diesem Punkt nur zustimmen — das passiert nicht oft —, wenn er noch am Wochenende diese Phrasen als dummes Gerede der FDP über die Neidsteuer bezeichnet hat — zitiert aus der „Welt" vom letzten Montag —.
Man kann die ganze Fragwürdigkeit der Argumente gegen einen wirklichen Solidarbeitrag Besserverdienender eigentlich nicht besser formulieren, als Heribert Scharrenbroich, der Hauptgeschäftsführer der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, es getan hat. Ich zitiere wörtlich aus einer Sendung des Südwestfunks am 26. November 1984. Scharrenbroich sagt:
Ich meine auch, man sollte die Kirche im Dorf lassen. Wenn jemand 140 000 DM Jahreseinkommensteuer zahlt, wird dessen Leistungswille dadurch, daß er jetzt im Jahr 7 000 DM weniger Steuern zahlen muß, keineswegs gefährdet.
Um diesen Grundgedanken handelt es sich bei der Ergänzungsabgabe. Mit diesem von 1985 bis 1987 befristeten Solidarbeitrag von 5 % der Lohn- und Einkommensteuer wird persönliche Leistung nicht ernsthaft beeinträchtigt, sondern notwendiger finanzieller Spielraum für dringende zusätzliche Anstrengungen im Bereich privater und öffentlicher Investitionen in Richtung auf mehr Umweltschutz geschaffen. •
Was die Behauptung anlangt, durch die Ergänzungsabgabe als Belastung würden auf der Aufkommenseite private Investitionen abgewürgt, so möchte ich hier die Gegenthese formulieren: Eine zeitlich auf drei Jahre eindeutig befristete Ergänzungsabgabe wird in der Tendenz eher zu zusätzlichen Investitionen führen, die vorgezogen werden, um über höhere degressive Abschreibungen jetzt diese Abgabe in den Unternehmen finanziell aufzufangen, zumal ab 1988 anschließend ein niedrigerer Steuertarif gilt. Da werden die Unternehmen ihre zeitliche Gestaltungsmöglichkeit bei der Einkommensgestaltung nutzen.
Meine Damen und Herren — zumindest von der Union, von der CDU —, warum sollte in diesem Haus ein gemeinsamer Beschluß über eine Ergänzungsabgabe nicht möglich sein, wenn nicht nur die Sozialausschüsse, sondern auch der Chef des zweitstärksten CDU-Landesverbandes — Kurt Biedenkopf — zur Finanzierung der Altlasten in der Umwelt genau unseren Vorschlag einer Ergänzungsabgabe unterstützt und erst letzte Woche in einem Papier bekräftigt hat? Aber wir wissen ja, warum diesem einfachen, verfassungsrechtlich unproblematischen und wirtschaftspolitisch effektivsten Weg eines Solidarbeitrags Besserverdienender bei der Union nicht zugestimmt werden darf. Ich zitiere dazu wörtlich ein nettes Bonbon aus der Bild-Zeitung vom 26. November über die Sympathisantenszene in der CDU zur Ergänzungsabgabe:
Es ist eine Zumutung für die FDP, wenn jetzt einige schwarze Marxisten
— nicht etwa aus Afrika, sondern anscheinend in Ihren Reihen —
in der CDU glauben uns eine Neidhammelrepublik bescheren zu können.
Natürlich glauben Herr Genscher und sein neuer Bauchredner, Herr Grünbeck, der über die sozialistische Wende tönt, nicht im Ernst daran, daß die Ergänzungsabgabe wirtschaftspolitisch gefährlich ist. Nein, 'diese Kampagne gegen eine ernsthafte Alternative zur Zwangsanleihe war für Herrn Genscher nur eine wunderbare Spielwiese, um das innerhalb der Koalition fehlende wirtschaftspolitische Profil der FDP in Abgrenzung zu CDU und insbesondere auf Kosten von Finanzminister Stoltenberg wieder etwas herauszuarbeiten. Und wenn diese Aktion dann noch unter bayerischem Flankenschutz gelaufen ist, dann hatte das bei dieser wechselhaften Männerfreundschaft zwischen Kanzleramt und München sicherlich nicht nur fachpolitische Gründe.
Meine Damen und Herren, was hier abläuft, ist eine Kampagne, die sich an die Einkommenselite unserer Gesellschaft richtet. Nichts gegen leistungsorientierte Spitzeneinkommen, meine Damen und Herren! Aber diese Kampagne soll doch nur zeigen, wer in Geldfragen innerhalb der Koalition einseitige Lobbyarbeit für Besserverdiener am besten macht. Hier soll eine Luxus-FDP als Garant dafür propagiert werden, daß sich „Leistung wieder lohnt", wie es so schön ideologisch verbrämt wird.
Das Interessante und Entlarvende daran ist nur, daß die finanzpolitische Pflege des Leistungswillens erst bei über 50 000 bzw. 100 000 DM Jahreseinkommen anfängt
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Dr. Spöri
und die übrigen 90 % der Gesellschaft problemlos bei den Sparoperationen belastet werden können.
Die Facharbeiter bei Daimler oder VW sind anscheinend keine Leistungsträger nach diesem Begriffsschema, in dieser Vorstellungswelt der FDP.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach all diesen Täuschungsmanövern mit der Zwangsanleihe — zunächst nicht rückzahlbar, dann rückzahlbar, dann überhaupt nichts mehr — beantrage ich in der Frage eines Solidarbeitrags Besserverdienender im Zusammenhang mit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf im Namen meiner Fraktion namentliche Abstimmung. Niemand, der vielleicht den Sozialausschüssen in der Union nahesteht, soll sich mit der Ausrede an unbequemen Fragen im Wahlkreis vorbeidrücken können, er habe keine Chance gehabt, hier parlamentarisch für einen Solidarbeitrag zu stimmen.
Unser Angebot steht: Wer in der Koalition die Lasten in der Finanzpolitik wirklich gerechter verteilen will, hat heute die letzte Gelegenheit, die Fehler in dieser Frage auszubügeln, indem er unserem Gesetzentwurf doch noch zustimmt. Er ist der beste Weg, Konsolidierung, soziale Symmetrie und Beschäftigungspolitik in Einklang zu bringen.
Meine Damen und Herren von der Union, wenn Sie diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, beteiligen Sie sich an einer in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Kohl-Lüge.
Ich fordere den Bundeskanzler auf, hierzu Stellung zu nehmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst, Herr Dr. Spöri, möchte ich Sie freundlichst bitten, auch dann, wenn Sie einen humorvollen Beitrag bringen, Ihr logisches Denken nicht auszuschalten. Der Herr Bundeskanzler hat vorhin beim Hammelsprung nicht gegen seine Anwesenheit gestimmt — sonst hätte er gar nicht zu kommen brauchen —, sondern er hat dagegen gestimmt, daß Sie ihn völlig unnötigerweise zitieren, da er schon da war.
Im übrigen, meine Damen und Herren: Wir, die Koalition der Mitte,
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, lassen uns von niemandem ein schlechtes Gewissen einreden,
weil wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Steuererhöhung als schädlich betrachten.
Dafür gibt es einige sehr beachtenswerte Gründe. Sie liegen erstens im rechtspolitischen Bereich, zweitens aber auch und sehr wesentlich im konjunkturpolitischen und sozialen Bereich.
Ich komme zunächst zur rechtspolitischen Seite. Meine Damen und Herren, ich glaube, auch der einfachste Bürger hat begriffen, daß nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und nach dessen Begründung eine Ergänzungsabgabe zum jetzigen Zeitpunkt ohne eine dringende Notwendigkeit ein Spiel mit dem Feuer wäre.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn?
Herr Präsident, ich verneine. Das gilt für meine ganze Rede.
Dies gilt für die ganze Zeit der Ausführungen des Herrn Abgeordneten Jung.
Eine Ergänzungsabgabe zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein Spiel mit dem Feuer. Ich habe den Eindruck, als habe die SPD eine insgeheime Leidenschaft dafür, wieder einmal eine verfassungsmäßige Bauchlandung zu machen, wie das oft während ihrer Regierungszeit geschehen ist.
Herr Abgeordneter Jung, einen Augenblick. Darf ich um Ruhe bitten. Wir haben nur Kurzbeiträge von zehn Minuten.
Der wichtigste Grund unserer Ablehnung liegt im konjunkturpolitischen und sozialpolitischen Bereich. Es ist gar keine Frage: Eine Ergänzungsabgabe hat dieselbe Wirkung wie eine Erhöhung der Einkommen- und der Lohnsteuer.
Das, meine Damen und Herren, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt für breite Schichten unserer arbeitenden Bevölkerung unzumutbar.
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Jung
Es sind immerhin die wirtschaftswissenschaftlichen Institute der Bundesrepublik, die uns immer wieder vorrechnen, daß ein bundesdeutscher Arbeiter von jeder zusätzlich verdienten Mark nicht einmal mehr 40 Pfennig auf die Hand bekommt. Mehr als 60 Pfennig gehen weg für Steuern und Sozialabgaben. Dies ist ein unsozialer Zustand.
Auf der anderen Seite unserer sozialen Partnerschaft ist festzustellen, daß die Kapitaldecke der bundesdeutschen Wirtschaft von Jahr zu Jahr dünner geworden ist. Vor zehn oder zwölf Jahren hatten wir noch eine Eigenkapitaldecke von 50 % zu verzeichnen. Sie ist heute auf unter 20 % zusammengeschmolzen.
Das ist ein wirtschaftlich schädlicher Zustand. So kann und darf es nicht weitergehen.
Wir müssen dem Bürger das Geld in der Tasche lassen und dürfen ihn nicht durch Steuererhöhungen noch mehr schröpfen wollen.
Vor sieben Jahren — Herr Dr. Spöri, hören Sie einmal zu —, im Jahre 1977, waren es 39 % der Steuerzahler, die von der sogenannten Steuerprogression erfaßt wurden.
Sie haben damals schon 76 % des Gesamtaufkommens an der Lohn- und Einkommensteuer gezahlt. Im Jahre 1979 war es die Hälfte der Steuerzahler; sie haben damals 83 % des Steueraufkommens gezahlt. Und heute zahlen 57 % der Steuerzahler in der Progressionszone 92 % des gesamten Aufkommens.
Ich betone noch einmal: Das ist ein unsozialer Zustand.
Wir werden diesen heimlichen Steuererhöhungen in Milliardenhöhe pro Jahr den Kampf ansagen. Das geht eben nicht mit Steuererhöhungen, sondern nur mit Steuersenkungen.
Die Bezieher der höheren Einkommen werden jetzt schon überproportional belastet. Bereits ab 60 000 DM bzw. 120 000 DM Einkommen ist nach dem jetzt geltenden Steuertarif jede zusätzlich verdiente Mark mit mindestens 50 Pfennig Einkommensteuer belastet. Rechnen Sie noch die Sozialabgaben dazu; dann können Sie selber ausrechnen, was von einer zusätzlich verdienten Mark noch übrigbleibt.
In der unteren Proportionalzone, bis 18 000 DM bzw. 36 000 DM Einkommen, ist eine zusätzlich verdiente Mark nur mit 22 Pfennig Lohnsteuer belastet. Unser progressiver Einkommensteuertarif beinhaltet also bereits seit Jahren einen beachtlichen sozialen Ausgleich. Es ist einfach unrichtig zu behaupten, die sogenannten Besserverdienenden trügen nichts zur Sanierung der Staatskasse bei.
Ich wollte einmal sehen, wie unsere Kassenlage aussähe, wenn es diese heimlichen Steuererhöhungen in Milliardenhöhe nicht gäbe.
Ich sage es noch einmal: Eine steuerliche Entlastung ist überfällig, und in der geplanten Steuertarifreform werden wir ab 1986 vorrangig die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und die Familien mit Kindern entlasten. Wir werden mit unserer Steuertarifreform im Jahre 1986 mit einem Gesamtvolumen von 10,8 Milliarden DM in einer ersten Stufe zunächst folgendes erreichen.
Rund 80 % — das sind 8,6 Milliarden DM — gelten der Entlastung von Steuerpflichtigen mit einem zu versteuernden Einkommen von 50 000 bis 100 000 DM.
Rund 70 % — das sind 7,6 Milliarden DM — entfallen auf Familien mit Kindern — und das sind lediglich 39 % der Steuerzahler.
In der ersten Stufe, 1986, werden wir konkret folgendes verwirklichen: erstens eine Verbesserung der steuerlichen Kinderentlastung mit der Anhebung des Kinderfreibetrages von 432 DM auf 2 484 DM unter Wegfall der Kinderadditive bei den Versorgungsaufwendungen. Dieser spezielle Familienentlastungsteil hat ein Volumen von 5 Milliarden DM.
Zweitens wird es eine Anhebung des Grundfreibetrages von 4 212 DM bzw. 8 424 DM für Ledige und Verheiratete auf 4 536 DM bzw. 9 072 DM mit einem Entlastungsvolumen von 2,1 Milliarden DM geben. Drittens wird es einen Abschlag auf die Senkung der Progression des Einkommensteuertarifs um zusätzlich 9,2 Milliarden DM geben.
Mit diesem neuen Einkommensteuertarif wird eine deutliche und nachhaltige Abflachung des lei-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8253
Jung
stungshemmenden Anstiegs der Grenzbelastung in der Progressionszone erreicht. Damit verpassen wir — das geben wir zu — dem Staat eine Abmagerungskur. Der Staat muß sich wieder in seine viel zu eng gewordene finanzpolitische Hose hineinhungern.
Der Mittelstandsbauch im Steuertarif wird abgemagert, und damit wird wiederum vornehmlich die Familie mit Kindern entlastet.
Auch der qualifizierte Mitarbeiter, auch der Facharbeiter, natürlich auch der Handwerksmeister und der Mittelständler sollen eine steuerliche Entlastung erfahren.
Mit dieser Politik, meine Damen und Herren, bekämpfen wir wirkungsvoll die Arbeitslosigkeit.
Wir sind davon überzeugt: Jede Mark, die wir im Geldbeutel des Bürgers belassen,
bleibt frei für private und geschäftliche Investitionen, und sie allein sind der Schlüssel für den wirtschaftlichen Aufschwung,
für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, für Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle.
Ich bin auch der Meinung, unsere Politik ist auch für den einfachsten Bürger verständlich.
Sie ist nach dem Einmaleins sogar auf Heller und Pfennig nachzurechnen. Ich habe den Eindruck, daß die SPD volkswirtschaftliche Milchmädchenrechnungen nach der Mengenlehre macht.
Das sieht dann etwa so aus, Herr Dr. Spöri: Wenn drei in einem Raum sind und vier hinausgehen, dann muß einer wieder hinein, damit keiner mehr drin ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Krizsan.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Affentanz um den Ersatz für die Investitionsabgabe ist nun vorbei. Herr Jung, das war kein Spiel mit dem Feuer, das war sehr schlecht inszeniertes Theater.
Am wildesten führte sich bei diesem Affentanz die FDP auf. Sie schnitt besonders häßliche Grimassen, um all die Menschen, die von geringen und geringsten Einkommen leben müssen, zu verhöhnen. Sie haben da merkwürdigerweise den Begriff der „Neidsteuer" erfunden, und selbst der „Rheinische Merkur" spricht abfällig von einem Wählerpotential — ich zitiere —, „das auf die giftige Vokabel ,Neidsteuer` zustimmend reagiert". Diese Zeitung bemerkt dazu weiter, daß sich Ihre Partei nun wohl ganz auf eine Bevölkerungsschicht konzentriert, bei der sich Ihre Haltung auch auszahlt. Die Betonung liegt auf „auszahlen".
Sehr engagiert war bei diesem Theater auch die CSU. Um hohe Einkommen zu verschonen, verfiel sie schnell auf die Idee, statt dessen eine Entlastung unterer Einkommen vorzuschlagen, weil ja klar ist, daß dies aus haushaltspolitischen Gründen nicht mehrheitsfähig wird und in der Tat mit einer Konsolidierungspolitik und der Verteilung zu Lasten dieser Konsolidierung, um die es hier geht, nichts zu tun hat. Der CSU ging es also nur darum, die Nichtbelastung von höheren Einkommen irgendwie zu legitimieren und insbesondere aus dem Zentrum der Diskussion herauszuhalten.
Am schwersten machte es sich die CDU, und zwar deshalb weil sie auf der Suche nach einer Scheinlösung war. Pro forma, nur pro forma, sollte eine Mehrbelastung von Einkommen beschlossen werden, de facto aber sollte ihre Wirtschaftsklientel eher ent- als belastet werden.
— Zur Haltung der GRÜNEN komme ich gleich noch, Herr Kollege. Ganz ruhig bleiben! — Also wurde überlegt, wie über Sonderabschreibungen Hintertüren geöffnet werden könnten. Bei dieser Hintertürsuche mußte die CDU natürlich aufpassen, daß das Ganze nicht wieder vor dem Verfassungsgericht landet, weil der Gleichheitsgrundsatz durchbrochen wird. Die CDU nimmt bei diesem Theater also die Rolle des großen Gauklers ein, des Vorgauklers von Maßnahmen für soziale Symmetrie.
Herr Jung, Sie haben gesagt, man müsse sich in eine eng gewordene Kleidung hineinhungern.
Ich möchte darauf hinweisen, wer hier wohl hungern muß. In der „Frankfurter Rundschau" von heute habe ich einen Satz dazu gefunden, den ich Ihnen, Herr Jung, gerne mal zitieren möchte:
Über 170 Milliarden Mark sind nach bisher
nicht widerlegten wissenschaftlichen Berechnungen den ohnehin schlechtergestellten Be-
8254 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Krizsan
völkerungsgruppen im Lande — Arbeitnehmern, Kranken, Rentnern und Behinderten — seit 1982 abgenommen worden. Der unternehmerischen Wirtschaft wurden in der gleichen Zeit etwa 35 Milliarden Mark zugeschoben. Und da sollen die spärlichen 150 Millionen Mark, die nun Stoltenberg als Folge der zurückgezahlten Zwangsanleihe zusätzlich ... ausgeben muß, ein „Solidaropfer" der Abgabepflichtigen in den oberen Einkommensklassen sein?
— Das wurde hier zitiert, Herr Kollege.
Ich meine, wir werden uns demnächst an Situationen gewöhnen müssen, die Herr Blüm skizziert hat, daß nämlich am Schalter auf der einen Seite der Rentner steht, der sich seine mickrigen 1,07 % Rentenerhöhung abholt, und auf der anderen Seite der Besserverdienende, der sich seine Rückzahlung der Investitionshilfeabgabe holt.
— Klatschen Sie nicht zu früh, Herr Roth. — Vielleicht steht daneben auch der Abgeordnete, der sich seine 3 %ige Diätenerhöhung abholt. So sehen die Realitäten aus.
Meine Fraktion, meine Damen und Herren — jetzt komme ich zu unserem Vorschlag —, hält eine Mehrbelastung von höheren Einkommen aus verteilungspolitischen Gründen für unumgänglich und auch haushaltspolitisch angezeigt. Wir haben vor zwei Wochen hierzu den Vorschlag einer Tarifänderung eingebracht, der die gleiche Belastungswirkung wie der SPD-Vorschlag beinhaltete. Die Tarifänderung hätte außer dem Vorteil, daß sie in allen Punkten unserem Verfassungsrecht entspricht, insbesondere auch den großen Vorteil gehabt, daß das erhöhte Aufkommen nicht nur dem Bund — wie bei der Ergänzungsabgabe —, sondern auch den Ländern und anteilig auch den Gemeinden zugute gekommen wäre. Natürlich fand auch dieser Vorschlag der GRÜNEN keine Mehrheit.
Zu dem Vorschlag der SPD möchte ich sagen: Wir halten daran zwei Punkte für mangelhaft. Die Grenze der Abgabepflicht soll nur für Verheiratete gegenüber Ledigen verdoppelt werden. Wir halten es dagegen für erforderlich, auch für Zwei- oder Mehrpersonenhaushalte von Alleinstehenden mit Kindern die verdoppelte Grenze anzusetzen. Herr Spöri hat gestern im Finanzausschuß darauf überhaupt nicht reagiert.
— Dieser Paragraph in Ihrem Antrag bezieht sich nicht darauf, Herr Spöri. — Der zweite Punkt, den ich eben schon ansprach, ist der, daß eine Tariferhöhung auch Ländern und Gemeinden zugute kommt und nicht nur dem Bund, der dieses Geld wieder zentralistisch verwalten wird.
Trotz dieses schwerwiegenden Defizits stimmen wir dem Gesetzentwurf der SPD zu einer Ergänzungsabgabe zu, weil diese wenigstens einen kleinen Schritt weg von der unsozialen Politik bedeutet.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
— So ist es, Herr Professor.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Spöri, Sie haben einen zweiten Kollegen von mir als Bauchredner meines Parteivorsitzenden bezeichnet. Das ist sprachlich übrigens nicht sehr einfallsreich.
Ich glaube, es ist notwendig, daß ich Ihnen die drei Grundsätze der Arbeit der FDP-Fraktion verdeutliche.
Sie lauten: Erstens. Jeder redet für sich selbst. Zweitens. Jeder hat seine eigene Meinung. Drittens. Diese Meinung wird nicht immer von allen geteilt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe in der bisherigen Debatte noch relativ wenig über den vorliegenden Gesetzentwurf gehört, über den wir abstimmen sollen. Ich will versuchen, das nachzuholen. Wir werden diesen Gesetzentwurf schon deshalb ablehnen müssen — obwohl das nicht der tragende Grund ist —, weil er in Karlsruhe genauso auflaufen würde, wie es das Investitionshilfegesetz getan hat.
Ich will das nur ganz kurz erläutern. Nach der fortentwickelten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann eine Ergänzungsabgabe, deren Aufkommen bekanntlich allein dem Bund zufließt, nur dann erhoben werden, wenn eine nicht vorhersehbare Bundesaufgabe zwingend erfüllt werden muß, die anderweitig nicht finanziert werden kann. Die Herstellung der sozialen Symmetrie, was immer das sein mag — vielleicht fragen wir Herrn Professor Schiller einmal, der diesen schillernden Begriff erfunden hat —,
oder die Abführung eines Solidarbeitrages zur Sanierung des Bundeshaushalts oder auch die Schaffung eines Bundesvermögens, unter welchem schönen Titel auch immer, gehört nicht zu den Fallgestaltungen, bei denen die Erhebung einer Ergänzungsabgabe verfassungsrechtlich zulässig ist.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8255
Gattermann
Meine Damen und Herren, wenn das so ist und man in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes vermißt, daß sie wenigstens den Versuch machen, eine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung zu liefern,
dann kann es sich ja wohl nur um einen der üblichen Schauanträge handeln, zu keinem anderen Zwecke erfunden, als die Koalition vorzuführen, weil sie ja angeblich so zerstritten ist. Meine Damen und Herren, auf das Spiel lassen wir uns nicht ein.
Meine Damen und Herren, wir lehnen diesen Gesetzentwurf aber insbesondere aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen ab.
Die Strukturprobleme unserer Wirtschaft und die Probleme des Arbeitsmarktes werden wir nur mit dem Leistungswillen, der Leistungsbereitschaft und der Risikobereitschaft unserer Bürger, der Unternehmer und der Arbeitnehmer, lösen können.
Das Gebot der Stunde sind Steuersenkungen und nicht Steuererhöhungen.
Eine leistungsfördernde Steuersenkung in beachtlichem Umfang wird dieses Hohe Haus im Verlaufe des nächsten Jahres beschließen. Sie wird am 1. Januar 1986 und am 1. Januar 1988 in Kraft treten. Die Bundesregierung wird den Gesetzentwurf am 18. Dezember, also in wenigen Tagen, verabschieden.
Entscheidungen über Mehrbelastungen jener Männer und Frauen im Wirtschaftsprozeß — ich möchte jetzt das Wort „Leistungsträger" vermeiden, weil ich Ihnen zugebe, daß es Leistungsträger natürlich nicht nur in der Wirtschaft gibt, sondern daß es sie auch in allen übrigen Bereichen unseres staatlichen Lebens gibt;
ich will auch ungern diesen bürokratischen Begriff „Bezieher gehobener und höherer Einkommen", wie das so schön heißt, gebrauchen —
wären kontraproduktiv. Dabei spielt der Umfang der Belastung nicht einmal eine entscheidende Rolle. Ein großer Teil der Motivation zu Leistung und Risikobereitschaft ist Psychologie. Deshalb kann es
auch keine Kompromisse geben über etwas mehr Belastung und etwas Gegenrechnung.
Nun sagen Sie bitte nicht — und ich lege Wert darauf, daß ich dies hier für meine Fraktion deutlich sage — —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Westphal?
Danke. Bei der Kürze der Zeit, Herr Kollege, ist das leider nicht möglich.
Meine Damen und Herren, nun sagen Sie bitte nicht, diese meine Feststellungen seien ein Affront gegen unseren Koalitionspartner CDU.
Die Lösung, die die CDU gesucht hatte, zielte nicht auf eine zusätzliche Schröpfung der ohnehin bis an die Grenze des Erträglichen belasteten Bürger ab, sondern nur auf eine Verschiebung eines Teils der überfälligen Entlastung. Vor allen Dingen versuchte die CDU aber auch den Zielkonflikt zwischen einer Zusatzbesteuerung der Besserverdiener und einer Belastung des Investitionsklimas dadurch aufzulösen, daß die zusätzlichen Finanzmittel für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen eingesetzt werden sollten. Für diesen Vorschlag haben und hatten wir viel Verständnis. Es gibt gute Gründe dafür, und es gibt gute Gründe dagegen. Im Zuge des Abwägungsprozesses
haben wir diesen Vorschlag letztlich nicht für vertretbar gehalten, weil er einerseits diesen psychologischen Schaden verursacht hätte, von dem ich gesprochen habe, und weil er andererseits von Ihnen doch ohnehin nur als Alibi verketzert worden wäre.
Meine Damen und Herren, für Sozialisten gibt es diesen Zielkonflikt offenbar überhaupt nicht, wie Ihr Gesetzentwurf zeigt. Ihr Gesetzentwurf vom 5. Oktober 1982 unternahm wenigstens noch den Versuch, diesen Zielkonflikt aufzulösen. Aber inzwischen gilt das alles wohl nicht mehr.
Offenbar hat die nicht definierbare soziale Symmetrie für Sie einen höheren Stellenwert,
als Arbeitsplätze zu schaffen.
Es geht bei diesem Gesetzentwurf ja übrigens gar nicht nur um eine Mehrbelastung der Reichen. Wis-
8256 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Gattermann
sen Sie überhaupt, wer Besserverdiener im Sinne Ihrer Gesetzesdefinition ist?
Es ist, wenn er alleinstehend ist, der Facharbeiter in der Mineralölindustrie, es ist der Montagefacharbeiter im Ausland,
es ist der Angestellte in der Investitionsgüterindustrie, es ist der Fernfahrer,
der unter Hinnahme erheblicher persönlicher Opfer in die Türkei fährt.
Meine Damen und Herren, auch der Witwer mit zwei Kindern ist alleinstehend im Sinne dieser Gesetzesdefinition.
Im übrigen: Sie versuchen es immer wieder, aber meine Partei läßt sich das Etikett des Unsozialen nicht anheften.
Auch wir nehmen für uns ein soziales Gewissen in Anspruch.
Ich will Ihnen einmal etwas zu dem Kollegen Grünbeck sagen, der ja als besonderes Exemplar für diese unsoziale Haltung dargestellt wird. Erst vor wenigen Tagen hat er mit seinem Mittelständischen Unternehmen den Partnerschaftspreis für hervorragende Vermögensbeteiligungsmodelle bekommen.
Als ich soeben mit ihm darüber sprach, sagte er: Sag um Himmels willen nicht, ich hätte den Preis gekriegt, den haben nämlich meine Mitarbeiter und ich bekommen. — Das ist soziales Gewissen, wie wir es interpretieren und wie wir es verstehen.
Meine Damen und Herren, sozial heißt für uns in allererster Linie,
die Wirtschaft dauerhaft in Gang zu bringen, auf das wir Arbeitsplätze bekommen; denn die unsozialste Situation, die wir überhaupt in diesem Lande haben, ist die viel zu hohe Zahl der Arbeitslosen.
Wir tun nichts, was dieses Ziel gemäß unserer Konzeption beeinträchtigen könnte.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die Koalitionsfraktionen haben sich nunmehr darauf geeinigt, daß die Steuerentlastung 1986 und 1988 kommt. Wenn Sie sich das einmal anschauen, dann werden Sie feststellen, daß dieser Stufenplan ausgewogen wie kein anderer ist.
Das bedeutet nämlich, daß die Rückgabe heimlicher Steuererhöhungen an die Besserverdienenden, von denen Sie sprechen, erst nach sieben Jahren erfolgt. Erinnern Sie sich einmal an die Zeit, als wir noch zusammen regiert haben:
Seit der Steuerreform 1975 hat es nie länger als zwei bis drei Jahre gedauert, bis wir diesen Vorgang vollzogen haben. Wir haben insbesondere den Besserverdienenden ganz bewußt sieben Jahre zugemutet. Das ist ein milliardenschwerer Solidarbeitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen.
Meine Damen und Herren, glauben Sie nicht, daß wir unter Ihrer ständig erneuerten Kampagne von der Umverteilung von unten nach oben in die Defensive gehen würden! Wir wissen, daß wir eine erfolgreiche, eine gute, eine sozial ausgewogene Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik machen.
Wir werden diese Politik vertreten, wir werden sie offensiv vertreten. Glauben Sie ja nicht, daß die Bürger in unserem Lande dies nicht erkennen würden.
Meine Damen und Herren, ich bitte die Damen und Herren Abgeordneten im hinteren Teil des Saales, entweder Platz zu nehmen oder den Saal zu verlassen. — Ich bitte, dieser Anweisung zu folgen!
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Finanzen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Haushaltsberatungen vor zwei Wochen haben uns ausführlich Gelegenheit gegeben, auch über die Initiative der sozialdemokratischen Fraktion unter dem Stichwort Ergänzungsabgabe hier zu diskutieren. Ich habe dazu Stellung genommen und will nur deshalb, weil es einer guten parlamentarischen Tradition entspricht, daß die Regierung sich an jeder Debatte beteiligt, hier noch einmal unsere wesentlichen Gesichtspunkte bekräftigen.
Wir können dem Antrag der sozialdemokratischen Fraktion sowohl aus verfassungsrechtlichen
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8257
Bundesminister Dr. Stoltenberg
wie aus wirtschafts- und steuerpolitischen Gründen nicht zustimmen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts setzt neue Maßstäbe. Das gilt aber nicht nur für die Bundesregierung und die Mehrheit, es gilt auch für die Sozialdemokratische Partei. Dieses Urteil macht eindeutig klar, daß die Ergänzungsabgabe nur bei einer außergewöhnlichen finanziellen Notlage des Bundes in Betracht gezogen werden kann. Es stellt fest, daß soziale Gesichtspunkte — etwa der Gesichtspunkt der Verteilung von Lasten — nicht eine Rechtfertigung sein können, wenn der Bund sich sozusagen unabhängig von der Finanzsituation der Länder und Gemeinden eine solche zusätzliche Einnahme bewilligt. Leh kann, meine Damen und Herren, erneut mit großer Befriedigung feststellen, daß von einer außergewöhnlichen finanziellen Notsituation des Bundes nicht mehr die Rede sein kann.
Wir haben das Ziel der Konsolidierung noch nicht erreicht, wir brauchen noch Jahre, um die Staatsfinanzen wirklich zu sanieren. Aber wir haben ein gutes Zwischenergebnis erzielt. Da das auch von führenden — —
— Ich bin zur Zeit in einer verfassungsrechtlichen und finanzpolitischen Erörterung, Herr Kollege Conradi. Ich glaube nicht, daß durch die Art Ihrer Zwischenrufe die Klärung irgendwie gefördert wird. — Da auch führende Finanzpolitiker der Sozialdemokratischen Partei, etwa die sachkundigen Mitglieder des Bundesrates, dies feststellen, kann die SPD nicht ernsthaft jetzt noch von einer außergewöhnlichen finanziellen Notsituation sprechen.
Zum zweiten würde die Erhebung der Ergänzungsabgabe nach unserer Überzeugung den jetzt gebotenen wirtschafts-, arbeitsmarkt- und steuerpolitischen Notwendigkeiten nicht gerecht. Wir haben in der Koalition Auffassungsunterschiede feststellen müssen. Daß Sie das erfreut, ist psychologisch verständlich; so groß sind die Freuden einer Opposition und vor allem dieser Opposition nicht, meine Damen und Herren der SPD. Wir haben Auffassungsunterschiede feststellen müssen zu dem Thema möglicher Folgerungen aus dem Wegfall der Investitionshilfeabgabe, das ist wahr. Aber wir haben in den gestrigen Erörterungen auch unser Einvernehmen in zwei besonders wichtigen Punkten bekräftigen können.
Das eine ist die Absicht — Herr Kollege Gattermann hat das kurz erwähnt —, nunmehr mit den vereinbarten Grundelementen, Größenordnungen und Strukturen die Gesetzgebung zur Senkung der Einkommen- und Lohnsteuer einzuleiten und zügig zu verwirklichen. Mich erfüllt das mit besonderer Befriedigung. Es ist wichtig, daß die wesentlichen tragenden Punkte dieses Konzepts jetzt in der Öffentlichkeit eindeutig erkennbar werden, daß nunmehr Einvernehmen zwischen allen Partnern der Koalition besteht, daß diese Steuersenkung um über 20 Milliarden DM in zwei Stufen erfolgt und daß damit die andere vorrangige Aufgabe der Konsolidierung nicht in Frage gestellt wird. Ich begrüße es ausdrücklich, daß hier Klarheit besteht.
Wir haben uns zweitens darauf geeinigt, daß die Ergänzungsabgabe nicht dienlich ist und daß wir sie einvernehmlich ablehnen.
Ich will aber noch einmal als letztes zu Ihren verteilungspolitischen Argumenten, Herr Kollege Spöri, und zu Ihren Angriffen folgendes sagen. Nach diesem jetzt einvernehmlich ohne Vorbehalt vereinbarten Konzept der Koalition werden in der ersten Stufe 1986 insbesondere Familien mit Kindern und die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen entlastet. Von der Gesamtentlastung 1986 von 11 Milliarden DM entfallen rund 80 %, 8,8 Milliarden DM, auf Steuerpflichtige mit einem zu versteuernden Einkommen von bis zu 50 000/100 000 DM und rund 70 % — das ist zum Teil dieselbe Gruppe —, 7,7 Milliarden DM, auf Familien mit Kindern, die lediglich 39 % der Steuerzahler ausmachen. Diese nachhaltigere Berücksichtigung der Eltern mit Kindern im Steuerrecht ist einer der großen sozialen Fortschritte in dem, was wir wollen.
Das, meine Damen und Herren, ist für die Zukunft unserer Gesellschaft, unseres Volkes, für ein soziales und humanes Gesicht unserer Politik viel wichtiger als alles, was Sie hier für eine Ergänzungsabgabe angeführt haben.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Die Fraktion der SPD verlangt gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die Abstimmungskarte mit „Ja", wer dagegenstimmen oder sich der Stimme enthalten will, den bitte ich, die entsprechende Abstimmungskarte in eine der hier vorn aufgestellten Urnen zu legen. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. —
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Es haben alle Abgeordneten ihre Stimme abgegeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Platz zu nehmen. — Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs
8258 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Präsident Dr. Jenninger
eines Ergänzungsabgabengesetzes auf Drucksache 10/2460 bekannt.
Von den vollstimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 426 ihre Stimme abgegeben. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben 181, mit Nein haben 241 gestimmt; Enthaltungen: 4.
19 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben 8, mit Nein haben 11 gestimmt. Enthaltungen: keine.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 426 und 19 Berliner Abgeordnete; davon
ja: 181 und 8 Berliner Abgeordnete
nein: 241 und 11 Berliner Abgeordnete
enthalten: 4
Ja
SPD
Amling
Antretter Bachmaier Bahr
Bamberg
Becker Bernrath
Berschkeit Bindig
Frau Blunck Brandt
Brück
Buckpesch Büchler
Dr. von Bülow
Buschfort Catenhusen Collet
Conradi
Dr. Corterier Curdt
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Delorme
Dreßler
Duve
Dr. Ehmke
Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Dr. Enders Ewen
Fiebig
Fischer Franke (Hannover)
Frau Fuchs
Frau Fuchs Gansel
Gerstl
Gilges
Glombig
Grunenberg Dr. Haack Haar
Haase
Haehser
Hansen Frau Dr. Hartenstein Dr. Hauchler
Hauck
Heistermann
Herterich Hettling
Heyenn
Hoffmann Horn
Frau Huber Huonker
Immer Jahn (Marburg)
Jansen
Jaunich Dr. Jens
Jung Junghans Jungmann Kastning
Kiehm
Kirschner
Klein
Dr. Klejdzinski
Klose
Kolbow Kretkowski Dr. Kübler Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart
Frau Dr. Lepsius Liedtke
Lohmann
Lutz
Frau Dr. Martiny-Glotz Matthöfer
Meininghaus
Menzel
Müller Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Neumann Frau Odendahl Oostergetelo
Paterna Pauli
Dr. Penner Peter
Pfuhl
Porzner Poß
Rapp Rappe (Hildesheim) Reimann
Reschke Reuter
Rohde
Roth
Sander
Schäfer Schanz
Dr. Scheer Schlaga
Schluckebier
Dr. Schmidt Schmidt (München) Schmidt (Wattenscheid) Schmitt (Wiesbaden)
Dr. Schmude
Dr. Schöfberger Schreiner
Schröer Schulte (Unna)
Dr. Schwenk Sielaff
Sieler
Frau Simonis
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Dr. Sperling Dr. Spöri
Stahl
Steiner
Frau Steinhauer
Stiegler
Stockleben Dr. Struck Frau Terborg
Tietjen
Frau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe Urbaniak Verheugen Vogelsang
Voigt
Vosen
Waltemathe Walther
Weinhofer Dr. Wernitz Westphal Frau Weyel Dr. Wieczorek
Wiefel
von der Wiesche Wimmer Wischnewski
Dr. de With Würtz
Zander
Zeitler
Frau Zutt
Berliner Abgeordnete
Dr. Diederich Egert
Heimann Löffler
Dr. Mitzscherling
Dr. Vogel Wartenberg
DIE GRÜNEN
Frau Dr. Bard Burgmann
Drabiniok
Dr. Ehmke Frau Gottwald
Frau Dr. Hickel Horacek
Hoss
Dr. Jannsen Krizsan
Frau Nickels Frau Potthast Reents
Frau Reetz
Sauermilch
Schily
Schwenninger
Verheyen Frau Dr. Vollmer
Berliner Abgeordneter Schneider
Nein
CDU/CSU
Dr. Abelein
Dr. Althammer
Frau Augustin Austermann
Bayha
Dr. Becker Berger
Biehle
Dr. Blank Dr. Blüm Böhm
Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen Borchert Breuer
Broll
Brunner
Bühler
Dr. Bugl
Carstens Carstensen (Nordstrand) Clemens
Dr. Czaja Dr. Daniels
Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger Dr. Dollinger
Doss
Dr. Dregger
Echternach
Ehrbar
Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Fellner
Frau Fischer
Fischer
Dr. Friedmann
Ganz
Frau Geiger
Dr. Geißler
Dr. von Geldern
Dr. George
Gerlach Gerstein
Glos
Dr. Göhner
Götzer
Hanz
Haungs
Hauser Hauser (Krefeld) Hedrich
Freiherr Heereman
von Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig Helmrich
Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Hornung
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8259
Präsident Dr. Jenninger Frau Hürland
Dr. Hüsch
Dr. Hupka
Graf Huyn
Jäger Jagoda
Dr. Jahn
Dr. Jenninger Dr. Jobst
Jung Dr.-Ing. Kansy Frau Karwatzki Keller
Kiechle
Klein
Dr. Köhler Dr. Kohl
Kolb
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg
Dr. Kunz Lamers
Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Link Link (Frankfurt) Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold
Löher
Lohmann Louven
Lowack
Maaß
Frau Männle Magin
Marschewski Dr. Marx
Dr. Mertes Metz
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Mikat
Dr. Miltner
Milz
Dr. Möller
Dr. Müller
Müller Müller (Wadern) Frau Dr. Neumeister Niegel
Dr.-Ing. Oldenstädt
Dr. Olderog Petersen
Pfeffermann Pfeifer
Pohlmann
Dr. Pohlmeier Dr. Probst
Rawe
Reddemann Regenspurger Repnik
Dr. Riesenhuber Rode Frau Rönsch Frau Roitzsch
Dr. Rose
Rossmanith Roth Rühe
Ruf
Sauer
Sauer Saurin
Sauter Sauter (Ichenhausen)
Dr. Schäuble Schartz Schemken
Scheu
Schlottmann Schmidbauer Schmitz
von Schmude
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Dr. Schroeder (Freiburg) Schulhoff
Dr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Dr. Freiherr
Spies von Büllesheim Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stavenhagen Dr. Stercken Stockhausen
Dr. Stoltenberg Strube
Stücklen
Susset
Dr. Todenhöfer Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel
Dr. Voigt
Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke
Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg
Weiß
Werner
Frau Dr. Wex Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms Wilz
Wimmer Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann Wittmann Dr. Wörner
Würzbach
Dr. Wulff
Zierer
Zink
Berliner Abgeordnete
Frau Berger Boroffka
Buschbom
Feilcke
Dr. Hackel
Kalisch
Kittelmann
Dr. h. c. Lorenz
Schulze Straßmeir
FDP
Frau Dr. Adam-
Schwaetzer
Baum
Beckmann
Bredehorn
Cronenberg Eimer (Fürth)
Engelhard Ertl
Gallus
Gattermann Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Dr. Hirsch Hoffie
Kleinert Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Mischnick
Möllemann Neuhausen Paintner
Ronneburger
Dr. Rumpf
Schäfer
Dr. Solms Dr. Weng Wolfgramm
Berliner Abgeordneter Hoppe
fraktionslos
Voigt
Enthalten
CDU/CSU
Günther
Müller Schreiber
Stutzer
Meine Damen und Herren, damit ist das Gesetz in zweiter Beratung abgelehnt. Folglich unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Giftgaskatastrophe in Bhopal und mögliche Konsequenzen für die chemische Produktion in der Bundesrepublik Deutschland
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt Ereignisse, die sind wie eine Flammenschrift an der Wand. Von dieser Art ist die todbringende Giftgaswolke, die über der Firma Union Carbide Corporation lag und die mindestens 3 000 Tote, Zehntausende von erblindeten Menschen und 200 000 gesundheitsgeschädigte Menschen zurückgelassen hat.
Diese Ereignisse und diese Flammenschrift müssen aber nicht von Indien gedeutet werden. Sie haben uns etwas zu sagen.
Das Schlimmste bei diesen Ereignissen fand ich, daß die Menschen, wie man lesen konnte, als sie von diesem Gift geblendet waren, auf die Fabrik zugelaufen sein sollen in der Meinung, dort werde etwas Gesundheitbringendes, vielleicht Arznei, für sie zu finden sein.
Nichts kann, glaube ich, den ungeheueren Hochmut unserer westlichen Zivilisation deutlicher machen, mit dem wir meinen, den Ländern der Dritten Welt die grüne Revolution und damit die Bewältigung ihrer Hungerprobleme bringen zu können: Arbeit, Brot und Fortschritt.
8260 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Frau Dr. Vollmer
Die Firma Bayer war in diesen Unfall nicht direkt verwickelt. Aber sie ist doch darin verwickelt, denn sie ist der führende Pestizidhersteller der Welt.
Bhopal rückt immer näher. Die Geschichte der chemischen Industrie ist voll von Katastrophen und von fast eingetretenen Katastrophen. Wir hatten Unglücksfälle bei BASF und Bayer, wir hatten sie in Seveso, in Mexiko und zuletzt in Hamburg bei der Firma Boehringer.
Dasselbe Giftgas, das in Indien diese Toten verursacht hat, wird auch bei Bayer in Dormagen produziert. Es wird produziert, verwendet oder gelagert in folgenden Städten: Aachen, Bonn, Dortmund, Duisburg, Köln, Krefeld, Minden, Mönchengladbach, Recklinghausen, Soest und Wuppertal. Bhopal rückt uns wirklich sehr nahe.
Nehmen wir das Werk in Dormagen, in dem dieses Methylisocyanat produziert wird. Fast täglich fliegen Tiefflieger über dieses Werk und nehmen die Schornsteine als Ziel, um zwischen ihnen hindurchzufliegen. Alle 14 Tage geht ein PhosgenTransport von Leverkusen nach Wuppertal auf einem Tieflader über die Autobahn A 3 und die Autobahn A 46. Die A 46 ist die Autobahn mit der größten Unfallquote in der Bundesrepublik.
In dieser Situation haben wir eine Doppelstrategie. Die chemische Industrie kann von diesen Geschäften nicht lassen. Und wir versuchen gleichzeitig, uns vor den schlimmsten Folgen zu behüten.
Das gibt folgende Handlungsweisen: Für uns führt es zu zunehmend verstärkten Auflagen. Aber die Pestizid-Exporte in die Länder der Dritten Welt gehen ungehindert weiter. Dorthin werden auch Mittel exportiert, die bei uns verboten sind.
Bei uns gibt es einige technische Sicherheitsauflagen. Die Firma Bayer hatte ja gleich am nächsten Tag Gelegenheit, das in der Fernsehsendung darzustellen. Aber die Länder der Dritten Welt kriegen Technologieexporte, die gerade am Punkt der Sicherheit abgerüstet sind, um Kosten zu sparen. Und dann wird die Bevölkerung dort noch verhöhnt und es wird gesagt, sie habe nicht das Know-how, damit umzugehen, und nicht die deutsche Sorgfalt. Dabei ist das, was ihr fehlt, nicht Wissen, sondern wirtschaftliche Macht; und die haben wir.
Die Pestizidproduktion ist immer mit der Produktion von chemischen Kampfstoffen für militärische Zwecke verbunden gewesen. Pestizidsubstanzen sind ursprünglich als Form der chemischen Waffen entwickelt worden. Und umgekehrt sind diese für chemische Waffen entwickelten Substanzen immer als Pestizide eingesetzt worden. So ist es gar kein Wunder, daß jetzt C-Waffen-Experten nach Bhopal gefahren sind, um das Unglück dort zu untersuchen, und daß die Bevölkerung im Umkreis von 4 km evakuiert werden soll.
Unsere Forderungen sind: Es darf keinen Export von Agrargiften geben, die bei uns verboten sind.
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Es darf keinen Export von Technologien geben, die unter unserem Sicherheitsstandard liegen. Wir fordern die Bekanntgabe aller Standorte dieser Produktionsstätten in unserem Land. Wir fordern dieses Parlament auf, eine Parlamentarierdelegation nach Bhopal zu schicken, die sich vor Ort von der brutalen Realität dieses Unglücks überzeugt.
Frau Abgeordnete, ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte um Verständnis: Wir haben eine Debatte mit Fünf-Minuten-Beiträgen, und daran müssen sich alle halten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kroll-Schlüter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Trauer und Entsetzen waren die Reaktion aller Deutschen auf das, was sich in den vergangenen Tagen in der indischen Stadt Bhopal ereignet hat. Ein Grund für diese Aktuelle Stunde, die ich begrüße, ist, daß wir alle hier im Bundestag der indischen Bevölkerung zeigen wollen, daß wir eben nicht teilnahmslos an dem Tod und dem Leiden der indischen Bürger vorbeischauen. Ahnungslose Menschen wurden in der Unglücksnacht von einer Gaswolke heimgesucht. Sie alle können unserer Trauer, unserer Solidarität und auch unseres Mitgefühls sicher sein.
Das Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht ganz sichtbar. Es wird erst in einigen Wochen in vollem Umfang sichtbar werden. Was tatsächlich geschah, muß noch zuverlässig geklärt werden. Was wir dazu — ohne Anmaßung — beitragen können, soll gern und, wenn möglich, gemeinsam geschehen. Auch die indische Regierung ist bis jetzt nicht in der Lage, uns eine umfassende Auskunft zu geben.
Folgendes läßt sich jedoch schon sagen. Methylisocyanat, das als Zwischenprodukt für die Herstellung von Schädlingsbekämpfungsmitteln verwandt wird, ist in die Luft und damit in die Umgebung des Chemiewerks in Bhopal ausgetreten. Phosgen, als gefährlicher Kampfstoff aus dem Ersten Weltkrieg bekannt, war möglicherweise mit dabei. Alle Sicherheitsmaßnahmen, die in einer vorgesehenen Neutralisierung mit Atzsoda bestanden, haben kläglich versagt. Die todbringende Giftgaswolke wurde nicht aufgehalten.
So stellt sich uns in diesen Tagen in diesem Zusammenhang die Frage: Könnte ein solches Unglück auch in unserem Land geschehen? Wären ähnliche Folgen für das Leben und das Wohl unserer Bevölkerung denkbar?
Störfälle in der Industrie, ganz besonders in der chemischen Industrie sind nie zu hundert Prozent auszuschließen. Nach dem Erkenntnisstand von Wissenschaft und Technik ist ein solches, durch das Austreten von Methylisocyanat hervorgerufenes Unglück in der Bundesrepublik — es ist in den vergangenen Tagen sehr schwer gewesen, persönlich den Unfall im ganzen Umfang und in der ganzen Tiefe zu erkennen; aber darum haben wir uns sorgfältig bemüht; das möchte ich ausdrücklich, aber
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8261
Kroll-Schlüter
auch ehrlichen Gewissens sagen — fast gänzlich unmöglich. Die deutschen Störfallverordnungen stellen ganz andere Forderungen an die Sicherheit chemischer Anlagen, als es in Indien der Fall ist.
— Ich bitte Sie! Ich glaube, was Sie da geäußert haben, war etwas deplaziert, Frau Kollegin.
Bayer Leverkusen als der einzige Hersteller dieses Stoffes in der Bundesrepublik Deutschland benutzt zudem ein anderes Herstellungsverfahren, welches das Gefahrenpotential erheblich verringert. Aus der Phosgenkomponente in Bhopal wird irrtümlich darauf geschlossen, daß diese auch bei dem Bayer-Verfahren vorhanden sei. Das ist aber nicht der Fall. Denn das Bayer-Verfahren basiert auf den Komponenten Dimethyl-Harnstoff plus Diphenylkarbonat. Somit gibt es bei dem Bayer-Verfahren kein Phosgen und kein Chlorid. Auch die Lagerung des Stoffes kommt anders als in Indien ohne Druck aus. Sollte trotzdem einmal — Sie mögen erkennen, wie sehr wir uns damit befaßt haben — der unwahrscheinliche Fall auftreten, daß ein Lagerbehälter leck ist, so treten sofort und unmittelbar die unterschiedlichsten Sicherheitsvorkehrungen in Gang. Durch ein ausgefeiltes Überwachungssystem werden in Störfällen sofort und unmittelbar Gegenmaßnahmen eingeleitet.
Diese Sicherheitssysteme werden in regelmäßigen Abständen vom TÜV überprüft. Der TÜV hat in diesen Tagen erklärt, daß nach menschlichem Ermessen ein solches Unglück in der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich sei. Ich zitiere dies auch deshalb, weil der TÜV j a langjährige Erfahrungen hat und wir seinem Urteil Vertrauen schenken können.
Im übrigen habe ich gehört — ich weiß es nicht genau —, daß deutsche Firmen zum Aufbau dieser Anlage in Bhopal ein Angebot abgegeben haben sollen, aber nicht zum Zuge kamen wegen der höheren Sicherheitsbestimmungen und Auflagen. Auch das müßte noch einmal sozusagen im internationalen Zusammenhang geprüft werden.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, Ihre Rede zu beenden.
Deshalb meine ich, Sorgfalt ist am Platze; Mitverantwortung soweit es möglich ist; keine unnütze Kampagne von Haß, auch nicht gegen unsere amerikanischen Freunde. Wir werden mit ihnen gemeinsam mit dafür Sorge tragen, daß so etwas nicht wieder vorkommt.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine Bemerkung machen. Es ist für das Sitzungspräsidium immer sehr unerfreulich, Kolleginnen und Kollegen, wenn sie sprechen, an die vereinbarte oder festgelegte Redezeit zu erinnern. Wir haben ja aus diesem Grunde die Signale am Rednerpult angebracht.
Ich bitte alle, die jetzt in der Aktuellen Stunde sprechen, ihre Redezeit darauf einzurichten, daß sie die fünf Minuten einhalten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der vergangenen Woche haben wir über den Hunger und den Hungertod in Äthiopien diskutiert. Wir haben diskutiert über die schrecklichen Folgen einer Naturkatastrophe, verursacht durch das ausbleiben des Regens. Dabei ist auch gefragt worden — es waren Fragen des bohrenden Zweifels —, ob nicht nur Klimaveränderungen Ursache für die Naturkatastrophe in Äthiopien waren, sondern ob hier nicht auch falsches Handeln von Menschen eine Rolle gespielt hat. Wir haben uns gefragt, ob die äthiopische Regierung die richtige Politik betrieben hat, ob die Menschen dort nicht selbst ihre Umwelt zerstört, ja gar durch Übernutzung im wahrsten Sinne des Wortes verwüstet haben.
Heute diskutieren wir über eine Industriekatastrophe in Indien, über die größte Industriekatastrophe in der Geschichte. Heute gibt es keinen Zweifel, ob hier nicht falsches menschliches Handeln im Spiel war. Es ist so. Nicht die Natur hat schuld an dieser Katastrophe; Menschen tragen die Schuld.
Deshalb, so glaube ich, reicht es nicht, wenn wir hier nur Betroffenheit und Mitgefühl ausdrücken. Nein, wir müssen heute Fragen stellen, Fragen auch an uns. Die größte Industriekatastrophe der Geschichte hat sich nicht in einem Industrieland ereignet, sondern sie hat sich in einem Entwicklungsland ereignet. Schon gibt es Stimmen in der Öffentlichkeit, auch in der deutschen Presse, die sehr einfache Antworten auf die Fragen haben. Sie sagen: Die können das einfach nicht, also darf man solche Werke nicht in Entwicklungsländern errichten.
Eine solche Schlußfolgerung zu ziehen wäre ebenso falsch wie die Schlußfolgerung: Es ist Sache der Entwicklungsländer, darüber zu entscheiden, welche Investitionen sie haben wollen und welche Sicherheitsvorschriften bei ihnen gelten müssen.
Wir tragen hier Verantwortung. Wir sind verpflichtet, die Erfahrungen, die wir in unserer industriellen Entwicklung gemacht haben, weiterzugeben. Oder wollen wir, daß man uns, den Industrienationen, eines Tages vorwirft, wir hätten in Entwicklungsländern nicht nur deshalb investiert, weil es dort niedrigere Löhne, billigere Rohstoffe, schwache Gewerkschaften oder was immer gebe, sondern auch deshalb, weil wir das Risiko ausgelagert haben? Das wäre dann eine neue Spielart des Kolonialismus.
Ich habe nie die Auffassung vertreten, daß alles, was bei uns in den Industrieländern gut und teuer
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Brück
ist, auch für die Entwicklungsländer gut sei, weil es eben für sie oft zu teuer ist. Aber wir müssen auf der anderen Seite auch eindeutig sagen: Was in den Sicherheitsstandards zu schlecht für uns ist, ist auch zu schlecht für die Entwicklungsländer,
auch wenn es billig ist. Deshalb müssen überall dieselben Sicherheitsstandards gelten.
Deshalb müssen wir uns unser Außenwirtschaftsgesetz ansehen, ob wir es nicht ändern, ob wir nicht entsprechende Vorschriften machen müssen. Ich verstehe auch nicht, warum wir noch länger darüber diskutieren, ob es gestattet sein soll, Pestizide zu exportieren, die bei uns verboten sind.
Ich frage auch die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDP, ob sie nicht noch einmal darüber nachdenken wollen, unserem Antrag zuzustimmen — den wir gestellt hatten —, auch die Medikamente für den Export zu verbieten, die bei uns verboten sind;
denn die Frage, die wir uns stellen müssen, ist doch, ob da nicht eine neue Zeitbombe tickt, von deren Auswirkungen wir noch nichts wissen, so wie wir ja auch nicht wissen, was noch in Bhopal geschieht. Vielleicht werden noch viel mehr Menschen sterben, weil der Boden dort vergiftet ist. Das sollte uns alle warnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Laermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir dürfen einmütig feststellen, daß die Folgen des Unfalls im Chemiewerk Bhopal in Indien schrecklich sind, daß wir die Opfer in höchstem Maße bedauern, daß wir das beklagenswert finden, was dort geschehen ist. Das gilt um so mehr, als dieses Land auch immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht wird, die unzählige Opfer fordern. Ich möchte von hier aus unser Mitgefühl, unser Mitempfinden und unsere Trauer über die Unfallopfer dort zum Ausdruck bringen.
Eine Analyse und Bewertung dieses Unfalls von hier aus und jetzt, zu diesem Zeitpunkt, erscheint mir allerdings nicht möglich, da belastbare Ergebnisse der Untersuchung über Ursachen, Versäumnisse und Fehler nicht vorliegen.
So können in bezug auf die Katastrophe in Indien zunächst nur eine Reihe von Fragen gestellt werden: Welcher Art war das Produktionsverfahren, war die Konzeption der Anlage? Welche Sicherheitsmaßnahmen waren vorgesehen? Welcher Art und Qualität war die Überwachung? Wie wurden die Sicherheitsvorschriften — wenn welche vorhanden waren — eingehalten?
Wie zuverlässig, wie qualifiziert war das Personal? Waren sich auch die für Reparatur und Wartung eingesetzten Arbeitskräfte über das Risiko, über das Risikopotential im klaren? Waren sie darüber informiert, waren sie sich ihrer Verantwortung bewußt?
Inwieweit treffen z. B. Informationen zu, daß Sicherheitsvorkehrungen technischer und administrativer Art ebenso wie Katastrophenschutzmaßnahmen seitens der zuständigen Administration nicht für erforderlich gehalten wurden? Wurde das Ausmaß der Katastrophe auch dadurch so schrecklich, weil zugelassen wurde, daß sich die Slums, die Wohnviertel der Ärmsten um das Chemiewerk herum ausdehnen konnten?
Es gibt also viele Fragen, viele Unklarheiten.
— Sie sind ja immer im Besitz der höheren Weisheit, der höheren Erkenntnis. Ich möchte erst einmal wissen, was da geschehen ist, wie die Zusammenhänge eigentlich aussehen.
Für mich aber sind in dieser Aktuellen Stunde zwei Fragen entscheidend. Erstens. Sind solche Gefährdungspotentiale auch bei uns vorhanden? Ich muß sagen, daß nach meiner bisherigen Erkenntnis unsere Schutzvorschriften, unsere Schutzmaßnahmen, unsere Sicherheitsauflagen, unsere Transportbestimmungen, die Produktionsverfahren — ich denke an die Störfallverordnung — einen solchen Unfall hier nicht befürchten lassen.
Wir haben andere Produktionsverfahren: nur in seltenen Fällen noch Phosgen; in diesem Bereich überhaupt nicht. Und dort, wo es angewandt wird, handelt es sich um geschlossene Systeme, um kleinste Mengen, und dort gibt es nur kurze Zwischenlagerzeiten.
Frau Kollegin Vollmer, hier dürfen Sie natürlich nicht die Labors mitrechnen und sagen, überall dort werde dieses Zeug gelagert. Das ist natürlich auch eine unehrliche und eine demagogische Feststellung.
Die zweite Frage, die ich stellen muß: Welche Konsequenzen können oder müssen sich aus den jüngsten Ereignissen für die internationale Kooperation ergeben? Sind die Partner, sind die Empfängerländer bereit, unsere hohen Sicherheitsstandards und Sicherheitsanforderungen zu akzeptieren, sind sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, gegen ihre Beurteilungsmaßstäbe, unter Hintanstellung von Wirtschafts- und Prestigeaspekten stärker auf Sicherheit und Umweltschutz zu setzen?
Ich bin der Auffassung, daß sich beim Export von
Industrieanlagen und der Errichtung von techni-
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Dr.-Ing. Laermann
schen Anlagen insbesondere die Regierungen dieser Länder zur Übernahme und Einhaltung unserer hochentwickelten Sicherheitsstandards verpflichten müßten.
Das heißt aber andererseits, daß die Bemühungen um internationale Harmonisierung von Umweltschutz und Sicherheitsmaßnahmen intensiviert werden müssen. Ich füge hinzu: nicht auf niedrigstem, sondern auf höchstem Niveau.
Ich persönlich habe noch eine weitere Konsequenz hier anzumerken, die gezogen werden müßte, daß wir nämlich in unseren Bereichen, wo auch immer, in allen technischen Bereichen die Sicherheitsforschung, die Bestimmung von Risikobereichen, generell und am Arbeitsplatz, Risikoanalysen, Reduzierung des Gefahrenpotentials hier vorantreiben, weiter verstärken und intensivieren müssen.
Das sind für mich hier und heute die konkreten Schlußfolgerungen, die wir aus den bedauerlichen und beklagenswerten Vorgängen ziehen müssen.
Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Gottwald.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Giftgaskatastrophe in Bhopal, wie das entsetzliche Ereignis in Indien genannt wird, ist nicht nur trauriger Anlaß, um über Konsequenzen der chemischen Produktion bei uns zu reden, die Giftgaskatastrophe ist vielmehr Beispiel dafür, daß solche Unfälle ganz besonders in den Entwicklungsländern keinesfalls Katastrophen im Sinne von unvermeidlichen Naturereignissen oder Unfällen sind, die völlig unerwartet und überraschend eintreten. Bhopal ist die häufig unvermeidbare Konsequenz brutalster Unternehmensstrategien multinationaler Konzerne,
wo die Logik des Profits die Interessen der betroffenen Menschen völlig negiert.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß ähnliche Unfälle auch hier bei uns passieren; aber es ist kein Zufall, daß Unfälle in dem Ausmaß gerade die Bevölkerung in den Entwicklungsländern treffen. Konzerne wie Union Carbide arbeiten auf der Basis folgender Strategien: Aus Gift mach' Geld, wo es sich am meisten lohnt und wo mit dem geringsten Widerstand zu rechnen ist.
Es ist das kalkulierte Risiko, in Dollars ausgedrückt, das Tausende von Menschen in Bhopal das Leben gekostet hat, sie blind gemacht hat, sie für kommende Generationen vergiftet hat.
Bereits 1982 verfaßten Mitarbeiter des Konzerns eine Sicherheitsstudie mit dem Ergebnis, daß schwerwiegende Sicherheitsmängel zu verzeichnen seien. Was passierte? Nichts. Zwei Jahre später flog die Fabrik in die Luft. Kommentar des Vorstandsvorsitzenden Warren Anderson, persönlich fühle er sich nicht schuldig. Die Firma zahlt ein paar Milliönchen an die Hinterbliebenen, und die Sache ist erledigt. So wird es gemacht. Traurigerweise sind die Toten in der Dritten Welt auch noch billiger als bei uns.
Union Carbide ist ein Beispiel für die gängige Praxis internationaler Chemiekonzerne, die auf dem Rücket' der Armut der Dritten Welt ihre drekkigen Geschäfte machen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie nutzen die wirtschaftliche Schwäche der Entwicklungsländer, die ihrerseits alles tun, um ein günstiges Investitionsklima zu schaffen: keine Umweltauflagen, keine Sicherheitsbestimmungen, keine Sozialleistungen, keine gewerkschaftliche Organisierung usw. Dies ist der Grund für die lohnende Produktionsauslagerung in die Dritte Welt. Es ist die uneingeschränkte Entfaltungsmöglichkeit westlicher Kapitale auf der Basis brutalster Ausbeutungsverhältnisse, die nicht nur den arbeitenden Menschen das Blut aussaugt, sondern sie auch oft zu Tode befördert.
Ja, Arbeitsplätze stellen diese ausländischen Konzerne in Entwicklungsländern in der Tat. Dieses Argument ist ja wohl Ihr Steckenpferd. Nur muß man sich auch fragen, was für Arbeitsplätze das sind. Das Beispiel Bhopal dürfte die Frage beantworten.
Das Geschäft mit dem Gift ist etwas, was hier zu wenig kontrolliert wird, in den Entwicklungsländern fast gar nicht. Deswegen ist es dort auch besonders lukrativ. Westliche Konzerne verkaufen toxische Stoffe in die Dritte Welt, die hier verboten sind. Es gibt Pestizidwerbung auf Hochglanzbroschüren, die dem Bauer in Asien, Afrika und Lateinamerika vorgaukeln, mit diesem Wundermittel könne er seine Armut überwinden. Die Konsequenz ist, der Bauer verschuldet sich noch mehr, die Erde wird vergiftet, der Bauer wird vergiftet, die Konzerne werden fetter und fetter.
Die zweite Variante lautet: Chemiekonzerne produzieren die toxischen Stoffe in den Entwicklungsländern, da es billiger ist, da es in den Industrieländern oft verboten ist. Man spart den Transport und auch die Konsequenzen dieser gefährlichen Produktion für die Industrieländer. Damit spart man sich auch die politische Diskussion hier darüber. Union Carbide ist ein Beispiel für diese Agrargiftproduzenten. Bayer, Hoechst und Schering sind ein anderes. Die bundesdeutschen Chemieriesen exportieren jährlich rund 50 000 Tonnen Pestizide in die Dritte Welt. Eine ebenso große Menge wird von ihnen in den Entwicklungsländern produziert, unter ähnlichen Bedingungen wie jetzt in Indien.
Häufig handelt es sich um Gifte, deren Produktion und Vertrieb hier verboten sind.
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Frau Gottwald
Sie, meine Herren, sollten aufhören, ständig das Hohelied der freien Marktwirtschaft, das Hohelied des freien Unternehmertums zu singen. Sie sollen sich lieber um die Opfer dieses Liedes kümmern.
Wir fordern, daß der Export von hier verbotenen Stoffen verboten wird. Wir fordern, daß auch die Produktionsauslagerung von zu produzierenden Stoffen, die hier verboten sind, ebenfalls verboten wird. Wir fordern von der Bundesregierung, daß sie dahin gehend die notwendigen Schritte unternimmt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin erschüttert und auch angewidert von der Kaltschnäuzigkeit, mit der die GRÜNEN — das hat Frau Gottwald hier bewiesen — menschliches Leid und Tod zu ihren politischen Geschäften mißbrauchen wollen. Mißbrauch für ihre Ideologie ist das!
Weg von der sachlichen Beurteilung, nur auf die von Ihnen vorgegebenen ideologischen Vorurteile stellen Sie ab.
Ich glaube, Sie hätten Anlaß genug, nach einem derartigen Unfall die Dinge etwas sachlicher zu beurteilen.
Das, was wir hier gerade in der letzten Rede miterlebt haben, war unappetitlich und ideologisch und nicht zur Sache. Ich bedaure, daß das hier im Bundestag geschehen ist.
Nach Unfällen gibt es immer eine öffentliche Reaktion in drei Stufen:
zunächst Trauer und Erschütterung, dann Suche nach den Ursachen, dann Forderung nach einer Verschärfung der Vorschriften.
Ich glaube, es ist angebracht, auch bei uns zu fragen, inwieweit in Deutschland die Normen ausreichen, einen derartigen Unfall bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern.
Ich glaube, daß die GRÜNEN in ihrem Antrag eine
etwas schnelle Antwort gegeben haben. Sie sagten
nämlich, daß die Vorschriften nicht ausreichen, daß
weiter verschärft, verboten und reglementiert werden sollte.
— Gehören Sie zu den GRÜNEN, Frau Kollegin? Vielleicht schon fast.
Ich halte es dagegen für angebracht, daß in unserem Lande deutlichgemacht wird,
daß es eine tief gestaffelte Reihe von Gesetzen und Vorschriften bereits gibt,
die für einen derartigen Vorfall geschaffen sind:
Gewerbeordnung, Bundes-Immissionschutzgesetz, spezielle Vorschriften für genehmigungsbedürftige Anlagen,
Detailregelungen für überwachungsbedürftige Anlagen, Vorschriften der Berufsgenossenschaften, Gesetz über technische Arbeitsmittel, Arbeitsstättenverordnung, Druckbehälterverordnung, Störfallverordnung mit einer Reihe von Verwaltungsvorschriften usw.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten den Bürgern draußen auch einmal sagen, daß der Gesetzgeber in diesem Land weitgehend und detailliert für derartige Fälle vorgesorgt hat und daß wir eine gute Verwaltung haben, die derartige Dinge im Detail langfristig vorausgedacht und geregelt hat.
Wir haben uns in diesem Staat vielleicht ein bißchen zu sehr daran gewöhnt, die Unzufriedenheit mit allen bestehenden Zuständen zur Regel zu machen.
Ich glaube, daß dieser konkrete Fall zeigt, daß in unserem Land vorausschauend gehandelt wird. Wir haben keinen Grund zur Selbstzufriedenheit; da haben wir für die Dritte Welt weiß Gott zu viel Verantwortung. Aber es besteht kein Anlaß, Frau Vollmer und Frau Gottwald, die Bürger in diesem Land angesichts der bestehenden Vorschriften unnötig zu ängstigen. Das hielte ich für verantwortungslos.
Wir sollten den Bürgern aber auch sagen: Wenn man eine Perfektionierung der Sicherheit will, immer mehr, dann gibt es nun einmal mehr Vorschriften. Ich glaube, daß dieser Fall zeigt, daß der Preis
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8265
Dr. Faltlhauser
der Sicherheit auch mehr Bürokratie ist. Auch mit diesem Zwiespalt müssen wir leben.
Ich meine, zum einen haben wir ein Defizit im Katastrophenschutz. Das war immer eine Berührungsangst der SPD. Sie wollten die Katastrophenmedizin in diesem Hause nicht näher behandelt wissen. Es ist dankenswert, daß die Ärztekammer hierzu immer wieder Kurse durchgeführt hat.
Ich glaube, daß in der Fünften Approbationsordnung, die uns jetzt bevorsteht, sinnvollerweise festgelegt ist,
daß für Katastrophenfälle entsprechende Lehrplanvorgaben vorhanden sind.
Ich hoffe, daß diese Katastrophe auch zur Entkrampfung der Debatte über Katastrophenmedizin beitragen kann. Ich würde vorschlagen, daß vorrangig eine Medizinerdelegation nach Indien reist, damit wir unsere Erfahrungen dort vor Ort übermitteln können, und wir sollten die indische Regierung einladen, daß Opfer nach Deutschland kommen, damit sie entsprechend den positiven Erfahrungen bei giftgasverletzten iranischen Soldaten hier behandelt werden können.
Das ist eine konkretere, schnellere Handhabe, als wenn Parlamentarierdelegationen reisen, die vielleicht nur wiederum Wind auf ihre ideologische Mühlen brauchen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Faltlhauser, wir sollten Ihre ideologische Kaltschnäuzigkeit, die Sie hier an den Tag gelegt haben, möglichst schnell vergessen.
Die Giftgaskatastrophe in Indien hat schlaglichtartig oder, wenn Sie so wollen, explosionsartig die Problematik der Anwendung der modernen Chemie in den Ländern der Dritten Welt deutlich gemacht: Kriminell leichtfertiger Umgang bei der Produktion, fehlende Schutzvorschriften, ein noch nicht ausreichend entwickeltes Umweltbewußtsein haben fast zwangsläufig zu den entsetzlichen Ereignissen von Bhopal geführt. Erst mußten Tausende von Menschen sterben, Zigtausende von Menschen schwere und schwerste Verletzungen erleiden — die ökologischen Auswirkungen sind zur Zeit noch gar nicht abzuschätzen —, bis wir in den reichen Industrieländern uns Gedanken über die Verlagerung besonders risikoreicher Chemieanlagen in die Armenhäuser dieser Welt machen. Es geht nicht darum, die Entwicklungsländer vom technologischen Fortschritt auszugrenzen. Aber wenn wir schon gefährliche Produktionsanlagen exportieren und uns sehr wohl bekannt ist, daß dort nur schlecht ausgebildetes Personal zur Verfügung steht und auch sonst nur mangelhafte Kontrollmöglichkeiten bestehen, dann darf dies nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Erzielung eines möglichst hohen Profits geschehen.
Hier muß erst recht die Forderung nach besonders scharfen Sicherheitsvorkehrungen erhoben werden. Zumindest aber sollten diese den gleichen Standards entsprechen, die die exportierenden Unternehmen in ihren eigenen Ländern beachten müssen. Sicher, das ist auch eine Frage von Moral, aber wenn diese schon im tagtäglichen Wirtschaftsleben nicht oberste Richtschnur des Handelns ist, dann werden vielleicht die riesigen Schadensersatzforderungen, mit denen jetzt der amerikanische Konzern Union Carbide überzogen wird, die Herren in den Vorstandsetagen der einschlägigen Industrie zur Einsicht bringen, daß sich auch in den Ländern der Dritten Welt die Beachtung elementarer Schutzvorkehrungen sogar dann noch rechnet, wenn diese Schutzvorschriften in den entsprechenden Entwicklungsländern nicht obligatorisch sind.
Eine Katastrophe noch weit schlimmeren Ausmaßes als jetzt in Bhopal sehe ich langfristig durch den ungehemmten Export von Pflanzenschutzmitteln auf uns zukommen. Pflanzenschutzmittel — einige bei uns wegen ihrer erwiesenen Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt anwendungsbeschränkt, andere bei uns nicht zugelassen — werden förmlich in die Länder der Dritten Welt gepumpt, und die deutsche chemische Industrie liegt hierbei an der Spitze. Was unter dem Deckmantel der Sicherung von Nahrungsmittelproduktion an Tausenden von Tonnen von Pestiziden und Insektiziden auf Baumwoll- und Reisplantagen, über Bananen-, Tabak- und Obstpflanzungen ausgebracht wird, hat die Hungersnöte und die Fehl- und Mangelernährung nicht beseitigen können. Hierfür sind ganz andere Gründe vorhanden.
Es hat aber sehr wohl dazu beigetragen, daß gewachsene wirtschaftliche Strukturen zugunsten von Monokulturen zerstört und alternative Anbaumethoden, die ohne Agrargifte auskommen, bekämpft wurden. Es wäre nun unredlich, nur den Entwicklungsländern die Verantwortung für diese bedrohlichen Importe zuzuschieben. Sicherlich, manche Länder könnten hier etwas mehr Eigenständigkeit zeigen. Wichtiger dürfte aber wohl sein,
8266 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Frau Blunck
daß sich die eigentlichen Urheber, die Industriestaaten, zu ihrer Verantwortung bekennen.
Für uns heißt das ganz konkret, daß wir eine Exportverbot für alle in der Bundesrepublik nicht zugelassenen bzw. verbotenen Pflanzenbehandlungsmittel erlassen. Wenn denn Lehren aus den tragischen Ereignissen in Indien gezogen werden sollen, dann haben alle Parteien dieses Hauses bei der anstehenden Novellierung des Pflanzenbehandlungsgesetzes die Möglichkeit, dieses Exportverbot zu beschließen. Dazu lade ich alle ganz herzlich ein.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ertl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bitter, wenn mit einem so traurigen Ereignis ideologische Haßgesänge in einem anderen Parlament abgesandt werden. Ich sage das an die Adresse der GRÜNEN und auch an die Adresse von Frau Blunck. Ich habe nicht notiert, wie oft Profit verteufelt wurde. Sie, die Herren GRÜNEN, leben ja auch vom Profit. Sie existieren doch nur vom Profit.
Hier sind Bemerkungen zu multinationalen Unternehmen gemacht worden. Deshalb möchte ich schlichtweg der Wahrheit zuliebe einige Bemerkungen machen. Es ist Demagogie, es ist unwahr, wenn Union Carbide im selben Zusammenhang mit BASF, BAYER und Schering genannt wird. Ich weise das zurück,
und zwar auch angesichts unserer eigenen Sicherheitsbestimmungen in diesem Lande, die nicht nur für die Werke hier, sondern auch für die im Ausland gelten.
— Wer brüllt, zeigt, daß er es mehr im Hals als im Hirn hat.
Das gehört allerdings in die Kategorie der Zoologie, und dafür habe ich bei den GRÜNEN Verständnis.
— Herr Duve, es ist zwar Ihr gutes Recht, und es entspricht Ihrem Benimm, daß Sie hier ununterbrochen Werturteile abgeben, aber das steht Ihnen nicht zu, weder von Ihrer geistigen noch von Ihrer moralischen Qualität her.
Zweitens. Wer so, wie Sie das hier soeben getan haben, über die Anwendung von Pestiziden spricht, der muß den Menschen in der Dritten Welt — vor allem dort, wo tropische Früchte angebaut werden und wo es spezifische tropische Schädlinge gibt — auch eine Antwort geben, wie sie in Zukunft ernten sollen, z. B. Reis
— wissen Sie, ich bin ja sehr für Zwischenrufe, aber ich möchte Sie gern sachkundig machen, denn das würde Ihnen nicht schaden —,
der muß ihnen sagen, wie er mit der Tsetsefliege fertig wird,
der muß ihnen das sagen, oder er muß den Vietnamesen und so vielen, die vom Reis leben, sagen: Es müssen noch mehr sterben, als es jetzt leider schon der Fall ist.
Das heißt: Dieser Komplex ist viel zu vielschichtig, als daß man ihn in fünf Minuten behandeln könnte. Ich wollte deshalb nur diesen Punkt anschneiden.
Lassen Sie mich aber noch einen dritten Punkt nennen. Wir alle haben Lehren aus dieser Katastrophe zu ziehen. Aber manches, was wir gemacht haben, war richtig, z. B. integrierter Pflanzenschutz, z. B. Resistenzzüchtung und z. B. Entwicklung von Pestiziden, die unschädlich sind. Alles ist heute nicht nur entwickelt, sondern zum Teil auch schon auf dem Markt. Daraus gilt es, in internationaler Zusammenarbeit die Schlußfolgerungen zu ziehen.
Dies ist wesentlicher als Exportgebote und -verbote.
— Ich bedanke mich für die Qualifikation, Herr Brück. Das ist mir immer so sympathisch bei euch. Das ist so eure sozialistische Toleranz; die kenne ich.
— Nein, ich werde so sachlich, wie Sie es waren. Ich muß sagen, ich habe mich zutiefst geärgert, wie polemisch das war und wie Sie Geschäfte mit der „Habgier" gemacht haben, auch Frau Blunck. Das ist Ihr Stil.
Ich habe sehr aufmerksam zugehört.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8267
Ertl
— Ihnen nehme ich es nicht übel; Sie sind ja außenvor. Sie haben hier einen Freibrief dafür, daß Sie ständig unterbrechen.
Ich muß zum Ende kommen. Ich ziehe eine ganz andere Schlußfolgerung. Wir müssen nicht nur bezüglich der Produktion von Pestiziden international zusammenarbeiten, sondern wir müssen auch bezüglich der Menschen zusammenarbeiten. Wir müssen wirtschaftlich und agrarwirtschaftlich zusammenarbeiten und dabei unsere hohen Standards von Wissenschaft, Technik und Wissen in der Dritten Welt einsetzen.
— Und Alternativen, das bestreite ich gar nicht. Nur muß ich Ihnen sagen, Ihre Alternative, Frau Blunck, ist vollkommen falsch. Mit Exportverbot vermehren Sie den Hunger in der Welt.
— Dann lesen Sie doch das Protokoll nach. Dann muß ich ja keine Ohren gehabt haben. Es tut mir furchtbar leid, wenn Sie es nicht gesagt hätten, hätte ich nicht darauf geantwortet. Es ist schlimm, etwas zu behaupten und dann zu sagen, man habe es nicht gesagt.
— Ich antworte ja nur, verehrter Herr Vogel.
Ich lasse nicht zu, daß in dieser Form hier diskutiert wird, weil zur Politik immer noch die Sache gehört. Ich habe mal gelernt, Wissen ist Macht. Aber ich habe mich daran gewöhnt, daß es in diesem Hause Stil ist, daß Ignoranz es macht. Ich bin immer noch mehr für die Sache und das Wissen. Ich bedanke mich dafür, daß Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der tausendfache Tod, das unendliche Leid ungezählter Kinder, Frauen und Männer in der indischen Stadt Bhopal, deren Schicksal wir mit tiefer Anteilnahme und Erschütterung verfolgen, mahnt uns zur Selbstprüfung. Unser gemeinsames Ziel muß sein, solche Unglücke, solche Katastrophen vorbeugend zu vermeiden.
Wir wissen, daß es eine absolute Sicherheit nicht gibt. Dies verpflichtet uns dazu, in unserem Land Vorsorge zu treffen, aber nicht nur in unserem Land, sondern auch anderen Ländern zu helfen, daß sie Katastrophen in dieser Form nicht erleben müssen, daß solche Katastrophen vermieden werden. Wir müssen ihnen dazu die Hand reichen.
Wir müssen aber auch Verständnis dafür wecken, daß sie selbst dies tun wollen. Denn wir können ihnen dies nicht aufzwingen. Wir müssen dafür werben.
Wir müssen aber auch in anderer Hinsicht bedenken, daß wir mit Sicherheit hier im Pflanzenschutzmittelbereich produzieren müssen, um dem Hunger und dem Elend in der Dritten Welt abzuhelfen. Wir können die Dinge nicht einfach einseitig betrachten. Wir wissen, dal3 ohne diese Produktion viele Menschen verhungern würden. Wir können für unser Land heute davon sprechen, daß wir viel für die sicherheitstechnische Vorsorge getan haben. Wir sagen das ohne Selbstzufriedenheit, weil dies die Leistung aller Regierungen ist, auch der vorangegangenen. Wir sagen aber auch, daß dies geleistet wird durch die Bürger unseres Landes, durch Arbeiter und Angestellte in den Betrieben, in den Arbeitsschutzinstitutionen, in den Gesundheitsdiensten, im Gewerbeaufsichtsamt und im Technischen Überwachungsverein. Die können wir nicht in einem so schlechten Licht dastehen lassen, wie dies, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, durch Ihre Verlautbarungen hier offensichtlich der Fall ist.
Hier wird von einer Vielzahl von Menschen verantwortungsvolle Arbeit geleistet. Das sollten Sie nicht einfach in Abrede stellen.
Das sind die Leute, die das umsetzen, was wir hier politisch beschließen.
Wir können deshalb sagen, daß für unser Land kein Grund zur Panik, kein Grund zur Angst besteht. Wir alle sollten der Versuchung widerstehen, zur Panikmache Anlaß zu geben, um daraus politischen Profit, um daraus politisch Kapital zu schlagen. Ich muß ganz ehrlich sagen, ich verstehe nicht, wie man sich in dieser Form mit der Trauer, mit der Betroffenheit anderer hinstellen kann. Das geht insbesondere in Ihre Richtung, wo man ganz einfach mit niederen Instinkten politisch Kapital schlagen will.
Ich sage noch einmal ganz deutlich — und unterstreiche das, was der Kollege Faltlhauser gesagt hat —, wir haben eine Vielzahl von Vorschriften und haben mit der Störfallverordnung gerade für den Umgang mit gefährlichen Gütern Sicherheitsvorkehrungen geschaffen. Es muß dargelegt werden, was alles für den Umgang mit gefährlichen Gütern getan wird, wie mögliche Störfälle verhindert werden können. Dabei wird alles berücksichtigt, bis hin zu Katastrophen wie Erdbeben, Hochwasser usw.
Man muß ganz einfach sehen, daß dies mehr ist, als in jedem anderen Land der Welt getan wird. Auch für europäische Verhältnisse tun wir wesentlich mehr.
Die Gleichstellung der deutschen Unternehmen mit Unternehmen in der Dritten Welt ist einfach
8268 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Dr. Lippold
nicht haltbar. Sie können doch nicht mit vergleichbaren Vorfällen aus unserem Land argumentieren.
Das ist doch der Punkt. Wenn Sie trotzdem die Arbeiter und Angestellten unseres Landes mit anderen gleichsetzen, ist das nicht verantwortungsvoll.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich deutlich machen: Wir haben Vorschriften, die darauf abstellen, daß, selbst wenn ein Sicherungskreis in einem Unternehmen nicht standhält, andere Sicherheitsregelungen greifen. Darüber hinaus ist zusätzlich Vorsorge getroffen. Ich glaube, wir können sagen: Wir haben nicht erst auf Grund solcher Vorfälle, sondern schon seit Jahrzehnten sehr viel getan. Wir sollten dies allerdings nicht zum Anlaß nehmen, uns selbstzufrieden zurückzulehnen, sondern wir sollten gemeinsam daran arbeiten, diesen hohen Sicherheitsstandard nicht nur zu halten, sondern fortzuentwickeln. Und wir sollten, wie gesagt, daran arbeiten, daß dies in Zukunft auch für die Länder der Dritten Welt zutrifft, damit sich solche Unfälle nicht wiederholen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn diese Aktuelle Stunde einen Sinn haben soll, dann darf sie sich nicht in Klagen und Anklagen erschöpfen;
aber sie darf auch nicht zu Verniedlichungs- und Ablenkungsmanövern führen, Herr Kollege Faltlhauser,
und auch nicht zu parteipolitischem Hickhack.
Was Sie, Herr Kollege Ertl, hier vorgetragen haben, war, meine ich, liberalem Niveau nicht ganz adäquat.
Eine solche Behandlung der Problematik verbietet einfach das Leid von vielen Tausenden von Opfern. Wir müssen uns vielmehr fragen: Was kann geschehen und was muß geschehen, damit sich ein so entsetzliches Unglück nicht wiederholt?
Eine Bemerkung vorweg: Wenn es zutrifft, daß ein bereits vor zwei Jahren erstellter Bericht schwere Bedenken gegen das Werk Bhopal wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen erhoben hat, dann ist es doch ein ungeheuerlicher Skandal, daß weder die Werksleitung von Union Carbide noch die indischen Behörden sich veranlaßt gefühlt haben, schleunigst diese Mängel zu beheben.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, wirkt das Gerangel um die Entschädigungsmilliarden geradezu zynisch; denn keine Million Dollar, und auch keine Milliarde Dollar, bringt einem erblindeten Kind sein Augenlicht zurück — von den Toten ganz zu schweigen.
Was sind die Konsequenzen? Unsere Bürger stellen vor allem zwei Fragen: Erstens. Wie sicher sind die Anlagen in unserem Land? Zweitens. Müssen wir unbedingt mit solchem Teufelszeug umgehen?
Beide Fragen sind berechtigt. Auch in der Bundesrepublik wird, wie schon gesagt wurde, Phosgen produziert, verwendet, gelagert, transportiert. Weil wir das Gefahrenpotential kennen und weil wir wissen, daß die Bevölkerung ein Recht auf Schutz hat, hat die sozialliberale Bundesregierung 1980 eine Störfallverordnung erlassen, und zwar gegen den heftigsten Widerstand der Industrie. Das muß man hier einmal deutlich sagen. Darin wurden für Neuanlagen und für Altanlagen Sicherheitsanalysen gefordert. Es wurde eine Meldepflicht eingeführt. Es wurde eine ständige Überprüfung bei der Produktion von ca. 140 gefährlichen Stoffen vorgeschrieben, darunter Phosgen.
Heute müssen wir die Bundesregierung fragen: Sind die Sicherheitsanalysen überall durchgeführt worden? Wo gibt es Vollzugsdefizite? Ist die Überwachung gewährleistet? Sind die Gewerbeaufsichtsämter in der Lage, sowohl von ihrer personellen Ausstattung als auch von der Sachkunde her, ihren Kontrollpflichten nachzukommen?
Ist die Bevölkerung in der Umgebung solcher Anlagen hinreichend unterrichtet, auch über das nötige Verhalten in einem eventuellen Katastrophenfall?
Wir fordern die Bundesregierung auf, Herr Staatssekretär Spranger, umgehend einen Bericht darüber zu erstellen, ob und wieweit die Störfallverordnung verwirklicht wurde, und diesen Bericht den zuständigen Ausschüssen unverzüglich zuzuleiten.
Ein Letztes: Bhopal ist, ebenso wie Seveso, ein schreckliches Signal — nicht nur dafür, daß uns die Chemie überall einholt. An diesem Punkt zeigt sich auch wieder einmal, daß der Markt eben nicht alles richtet. Meine Damen und Herren, das „freie Spiel der Kräfte" kann zerstörerisch sein, gerade in diesem Bereich, aber nicht nur da. Deshalb muß man ihm Zügel anlegen, um so kürzere, je gefährlicher die Produkte sind, mit denen hantiert wird. Profitgier darf nicht die Oberhand behalten.
Ich hoffe, daß wir noch lernfähig genug sind, um endlich zu begreifen, daß wir nicht weiter gegen die Natur produzieren und handeln dürfen. Wir handeln damit auch gegen uns selber.
Eine vernünftige Politik muß dafür sorgen, daß immer weniger schädliche Produkte hergestellt und
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8269
Frau Dr. Hartenstein
verwendet werden und daß sie durch umweltfreundliche und gesundheitsschonende Produkte ersetzt werden. Schaffen wir doch die Rahmenbedingungen dafür, daß das stattfinden kann, was wir „die ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft" nennen; dann haben wir etwas aus Bhopal gelernt, und dann kommen wir auch dem Frieden mit der Natur näher.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Boroffka.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab, Frau Kollegin Hartenstein: Für den Vollzug der Störfallverordnung sind, wie Sie wissen, die Bundesländer zuständig, nicht die Bundesregierung. Die kann dort Informationen abfordern und dann den Bericht erstatten. Das sage ich nur, damit die Kompetenzen klar sind und damit hier auch auf diesem Gebiet nichts verwischt wird.
Meine Damen und Herren, Trauer und Mitgefühl mit den Opfern der Katastrophe in Bhopal sollten die Grundlage unserer Debatte sein.
Aber was hier an giftgrüner Polemik benutzt wurde,
um eigene ideologische Ziele voranzutreiben, ist von einer Unerträglichkeit,
bei der ich mich mühsam zurückhalten muß, nicht noch deutlicher zu werden.
Deshalb will ich in aller Ruhe auf einen anderen Aspekt dieser Katastrophe eingehen. Meine Damen und Herren, der jährliche Pro-Kopf-Energieverbrauch beträgt in Indien rund 315 kg Steinkohleneinheiten; das ist weniger als der Durchschnitt aller Entwicklungsländer. Dort, in Indien, leben zur Zeit 730 Millionen Menschen; um die Jahrtausendwende werden es über eine Milliarde sein.
Bei diesem Zuwachs der Bevölkerung wird sich — schon beim heutigen Standard des Pro-Kopf-Verbrauchs — der Gesamtenergiebedarf des Landes um 50 % erhöhen.
Zur Zeit werden in den knapp 600 000 Dörfern über 80 % des Energiebedarfs durch Holz und landwirtschaftliche Abfälle gedeckt.
Wenn die Bevölkerung — bei sich verringerndem Waldbestand, bei nicht mehr nachwachsendem Holz — so weiterwächst, hat dieses Land überhaupt keine andere Chance, als sich durch Industrie, durch Technik und Wissenschaft zu entwickeln, damit wenigstens die Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt werden können, damit Hunger und Elend langsam aufhören.
Meine Damen und Herren, dieses Land ist gerade durch Wissenschaft, durch Technik an die Grenze der Selbsterhaltung im Nahrungsmittelbereich gekommen, gerade an die Grenze, an der sich die Menschen mit Nahrungsmitteln selber erhalten können,
und dies durch Wissenschaft und Technik, etwa durch Hochleistungsreissorten.
Der Herr Kollege Ertl hat schon darauf hingewiesen, und ich wiederhole es: Mit diesen Reissorten gibt es zwei bis drei Ernten pro Jahr. Nur dadurch, daß Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt werden, ist dieser Ernteertrag überhaupt möglich. Weltweit würden wir übrigens 35 % des Ernteertrags vernichten lassen, wenn wir solche Mittel nicht einsetzen. Das wäre ein Schaden von 40 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, eines will ich noch hinzufügen: Wir haben 150 Jahre industrieller Entwicklung gebraucht, um unseren Sicherheitsstandard, den ich nicht noch einmal beschreiben will, weil andere Kollegen schon darauf eingegangen sind, zu erreichen. Ich gebe zu, daß aus diesem Standard die Verpflichtung erwächst, dies auch anderen Ländern nahezubringen. Nur, meine Damen und Herren, es gibt woanders ein anderes Lebensgefühl, andere Einstellungen zum Risiko; da gibt es Nationalbewußtsein, Prestigebewußtsein u. ä.
Dies können wir doch nicht einfach ignorieren.
8270 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Boroffka
Lassen Sie mich noch etwas hinzufügen: Bei uns hat sich der Sicherheitsstandard übrigens auch durch das demokratische System der Offenlegung entwickelt. Ich erinnere daran, daß beispielsweise in Mexiko eine Nachrichtensperre verhängt worden ist, daß in den sozialistischen Staaten bei ähnlichen Vorkommnissen überhaupt keine Meldung erscheint. Ich meine, wir sollten hier einmal darüber nachdenken, daß auch so etwas zu Schwierigkeiten führt, weil die Verhältnisse woanders eben anders sind.
Ich will mit einem Satz, mit einer persönlichen Bemerkung schließen: Als Chemiker verwahre ich mich im Namen aller Mitarbeiter der chemischen Industrie Deutschlands
gegen die unverschämten Anwürfe der GRÜNEN.
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist angebracht, die deutschen Chemiker vor Herrn Boroffka wieder einmal in Schutz zu nehmen,
der mit seiner Berufsrepräsentanz hier schon manches Unheilvolle gesagt hat.
Herr Boroffka und Herr Ertl, Sie beide haben — ganz sachlich jetzt — den Zielkonflikt, das Problem und die Widersprüche, die niemand von uns hier im Hause — weder die GRÜNEN noch wir, noch Sie — lösen kann, überhaupt nicht angesprochen. Sie haben gesagt, das Land müsse eben dann, wenn die Flora kaputt ist, immer weiter industrialisiert werden. In diesem Konflikt befindet sich Indien seit 100 Jahren. Indien ist das elftgrößte Industrieland der Welt. Die indischen Regierenden und Industriellen tragen hier eine Verantwortung, aber wir auch. Wir tragen sie auch mit,
und wir müssen uns dieser Verantwortung stellen. Bei keiner der großen Heimsuchungen in der Dritten Welt, die wir in den letzten Wochen und Monaten diskutiert haben, sind wir so direkt beteiligt wie hier.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Natürlich tragen die Manager von Union Carbide diese Verantwortung nicht allein.
Wir nennen ja Weltmarkt und erfolgreiche Weltfirmen, was sich in den letzten Jahren zu einem bedrohlichen Netz von lukrativen Ausflaggungen in Billiglohnländer, in Billigumweltländer, in Billigkontrolländer und in Billigstandardländer verknüpft hat.
Das steckt oft hinter dem Wort „weltweite Verknüpfung einer Firma", und es geht jetzt darum, zu fragen: Was können wir dagegen tun?
Ich bin der Meinung, daß wir in der OECD mit dem, was die OECD bisher an Chemikalienkontrolle versucht hat, eine Grundlage hätten, dies auf Ausrüstungen, Anlagen und vor allem auf Tochterfirmen auszuweiten. Ich bin der Auffassung, daß alle Chemiefirmen aus dem Bereich der OECD zunächst einmal zu einer Selbstverpflichtung, einem Verhaltenskodex kommen müssen, daß ihre Standards, die sie in der OECD haben, bei exportierten Anlagen in der Welt gelten.
90 % aller Eigentümer von chemischen Industrieanlagen befinden sich in OECD-Ländern. 90 % aller Produkte aus den 60 000 chemischen Stoffen werden von der Industrie in den OECD-Ländern produziert oder verantwortet. Insofern hat die OECD hier eine Verantwortung.
Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß die Inder das nicht wollen. Aber wer drückt denn die Standards in der Dritten Welt? Das sind die Exporteure von Anlagen, von Tochterfirmen, die manchmal ganz anders heißen als die Mutterfirma.
Aber das eigentliche Problem steckt doch hier. Wenn Sie sich den dicken Band Störfälle, den das Umweltbundesamt veröffentlicht hat, mit den Tausenden untersuchten Störfällen, chemischen Störfällen seit 1949 nehmen, dann werden Sie sehen, daß bei keinem einzigen Störfall eine Firma genannt ist. Das heißt: Auch wir sind hinsichtlich der Verflechtungen und der Verantwortlichkeiten ziemlich blind. Das muß offengelegt werden.
Ich will, weil ich nur noch eine Minute habe, zu einem letzten Punkt kommen. Die Angleichung der Standards und die Kontrolle dieser Standards sind ja doch nur — Frau Vollmer und andere haben hier darauf hingewiesen — ein Weg. Es geht nicht nur auf dem chemisch-industriellen Weg. Wenn wir hier bei uns sehr interessante Diskussionen über ökologische Landwirtschaft führen, Herr Ertl — heute wird hierüber j a noch diskutiert —, dann müssen wir auch in dieser Frage Diskussionspartner der Dritten Welt werden
und sagen: Da gibt es auch einen anderen Weg als den, den Herr Boroffka hier genannt hat, die tote Natur und den chemisch-industriellen Komplex, der die Menschen dann noch künstlich ernährt.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8271
Duve
Sie haben das zwar nicht gefordert, aber Sie haben das als einzige Aussicht dargestellt. Das ist nicht die einzige Aussicht!
Wir diskutieren bei uns über ökologische Alternativen, und das wäre — damit will ich schließen — auch in Indien sinnvoll.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Giftgaskatastrophe in Bhopal und mögliche Konsequenzen für die chemische Produktion in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 10/2612 —
Das Wort wird nicht gewünscht.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2612 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 bis 8 auf:
2. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Verschuldung in der Landwirtschaft
— Drucksachen 10/1206, 10/2041 —3. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Ökologischer Landbau und die Zukunft der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 10/1207, 10/2042 —4. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Sauter , Painter, Susset, Freiherr von Schorlemer, Eigen, Bredehorn, Austermann, Schartz (Trier), Rode (Wietzen), Michels, Hornung, Dr. Kunz (Weiden), Herkenrath, Fellner, Dr. Rumpf, Brunner, Bayha, Scheu, Borchert, Carstensen (Nordstrand), Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Dr. Meyer zu Bentrup, Schmitz (Baesweiler), Stutzer, Graf von Waldburg-Zeil, Ertl, Dr. Olderog, von Schmude, Tillmann, Frau Fischer, Dr. Freiherr Spiess von Büllesheim, Dr. Götz,
Dr. Jobst, Frau Geiger, Eylmann, Frau Roitzsch , Dr. Hornhues, Nelle, Krey, Repnik, Höffkes, Hedrich, Sauer (Stuttgart), Ganz (St. Wendel), Dr. Schwörer, Lenzer, Ruf, Bohl, Dr. Unland, Jagoda, Niegel, Biehle, Seesing, Seehofer, Jäger (Wangen), Dr. Laufs, Dr. George, Deres, Jung (Lörrach), Müller (Wadern), Weiß, Graf Huyn, Bühler (Bruchsal), Magin, Schemken, Frau Dempwolf, Berger, Dr. Müller, Lowack, Dr. Hüsch, Dr.-Ing. Kansy und der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Perspektiven für den bäuerlichen Familienbetrieb
— Drucksachen 10/1550 , 10/2043 —5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Förderung von Beratung im ökologischen Landbau in Form eines Modells „Bauern helfen Bauern" — Neue Formen eines Modells bäuerlicher Selbsthilfe
— Drucksache 10/1216 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Haushaltsausschuß
6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem
Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Beratung des Agrarberichts 1984 der Bundesregierung
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Beratung des Agrarberichts 1984 der Bundesregierung
— Drucksachen 10/1188, 10/1190, 10/2173 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Schmidt
7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einführung der offenen Deklaration
— Drucksachen 10/1053, 10/2205 —
Berichterstatter: Abgeordneter Eigen
8. Erste Beratung des von den Abgeordneten Susset, Sauter , Eigen, Freiherr von Schorlemer, Hornung, Brunner, Schartz (Trier), Frau Will-Feld, Stockhausen, Dr. Kunz (Weiden), Herkenrath, Jagoda, Michels, Rode (Wietzen), Scheu, Nelle, von Schmude, Doss, Hanz (Dahlen), Müller (Wadern), Berger, Dr. Hupka, Dr. Czaja, Schulze (Berlin) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Bredehorn, Dr.
8272 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Präsident Dr. Jenninger
Rumpf und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes
— Drucksache 10/2550 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 2 bis 8 und eine Aussprache von drei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung und zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauter .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen vor einer schwierigen Aufgabe. Wir haben ein großes Pensum — der Präsident hat es soeben genannt —: drei Große Anfragen, mehrere Entschließungsanträge und danach einen Gesetzentwurf. Es ist nicht möglich, im Rahmen einer kurzen Debatte auf all diese Probleme einzugehen.
Ich empfehle dem Hohen Haus vorab, den Beschlußempfehlungen des federführenden Ausschusses zuzustimmen. Gleichzeitig bitte ich herzlich, der Überweisung des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes zuzustimmen, damit dieser Gesetzentwurf im Interesse unserer Winzer rechtzeitig beraten werden kann.
Die Koalitionsfraktionen haben versucht, mit der Großen Anfrage eine Reihe wichtiger agrarpolitischer Themen in dieser kritischen Situation anzusprechen. Die Bundesregierung hat auf diese Fragen, wie ich finde, offen und ehrlich geantwortet und ist bei der Beantwortung auf dem Boden der Tatsachen geblieben. Wer Illusionen nachjagt oder Utopien verbreitet, kann vielleicht Stimmung in der Versammlung machen; aber den Bauern hilft er damit nicht.
— Moment, Herr Müller! Lassen Sie micht noch ein bißchen in Ruhe vortragen. Ich wollte gerade an Ihre Adresse sagen, daß es derzeit relativ einfach ist, Unruhe in den Versammlungen zu stiften. Aber auf den Vortrag realer Alternativen warten wir noch.
Nun hat es dieser Tage von einem renommierten Institut eine gegeben. Die ist uns auf den Tisch geflattert. Und da heißt es: Freie Preisbildung! Das ist die Empfehlung. Wir haben Ähnliches aus Ihrer Richtung schon gehört; ich denke an Apel und andere. Genau diese freie Preisbildung wäre es gewesen, die unsere bäuerlichen Familienbetriebe in Existenznot gebracht hätte. Perspektiven müssen sich an den Realitäten messen lassen.
Ich will nicht lange das Thema Erbschuld hier erörtern. Aber wir müssen uns kurz über die Hypotheken unterhalten, die hier abgetragen werden mußten.
— Moment einmal! Wir haben hier sehr wenig Zeit heute! — Weitere Verzögerungen in diesem Zusammenhang hätten verheerende Folgen für die Landwirtschaft gehabt und wären für die EG katastrophal gewesen.
Über eines können wir uns vielleicht einigen: Jeder Landwirtschaftsminister hätte in dieser Situation unpopuläre Entscheidungen treffen müssen. Unstrittig ist wohl auch, daß vor drei, vier Jahren die Entscheidungen weniger schmerzhaft gewesen wären. Aber ich füge hinzu: Die Europäische Gemeinschaft insgesamt hat damals weder den Mut noch die Kraft besessen, zu handeln. Die Kurskorrektur war unabwendbar, um die Überschüsse in den Griff zu bekommen und zu begrenzen, um damit das entscheidende Instrument der Marktordnung aufrechtzuerhalten, das in höchstem Maße gefährdet war.
Wir wissen, meine Damen und Herren, daß dies nicht nur ein Problem der Milch ist, sondern daß wir vor dieser schier unlösbaren Aufgabe bei allen Agrarprodukten stehen. Aber wer die Überproduktion nicht begrenzt, erhält keinen Spielraum für Preispolitik.
Die anderen Bereiche, für die die nationale Zuständigkeit gegeben ist — wie Marktstruktur-, Steuer- und Sozialpolitik —, werden, so sagt die Bundesregierung, noch stärker an dem bodenabhängigen bäuerlichen Familienbetrieb ausgerichtet.
Wir haben — lassen Sie mich dieses Thema ganz offen ansprechen — ausweislich des Agrarberichts schwierige Verhältnisse auch bei dem unteren Viertel der Einkommen. Die Betriebe im oberen Viertel werden eine kritische Situation meistern und über die Runden kommen. Die Steigerung des Agraretats um 7,8% für 1985 ist ein Zeichen für die Bemühungen der Bundesregierung, die Nachteile und die Belastungen gerade der unteren Betriebe auszugleichen.
Ich komme zurück zur EG-Agrarpolitik. Ich habe gesagt: Begrenzung der Überschüsse ist das wichtigste Thema. Zur Frage der Milchpolitik werde ich nachher noch eine Anmerkung machen.
Ich will aber auch diesmal in aller Ruhe festhalten: Die Förderung der Ausweitung der Kapazitäten ist eingestellt, die Förderschwelle ist abgeschafft. Schwerpunkt des neuen Agrarkreditprogramms ist nicht mehr die Produktionssteigerung, sondern sind Arbeitserleichterung, Kostensenkung und Rationalisierung. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, bei der Förderung der Schweineproduktion eine Korrektur nach unten vorzunehmen. Wir bedauern, daß wir gestern erfahren mußten, daß eine Korrektur der Strukturrichtlinie in diesen Tagen noch
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8273
Sauter
nicht möglich gewesen ist. Aber wir unterstützen nachdrücklich die Bundesregierung, die Richtlinie in Zukunft flexibler zu gestalten und stärker zu regionalisieren.
Ich möchte etwas zur Begrenzung der Milchproduktion sagen. Zur Frage des Abbaus des Währungsausgleichs werden andere Kollegen noch kurz Stellung nehmen. Hier haben sich j a die Leidenschaften am stärksten entzündet.
Die Garantiemengenregelung mit ihren Referenzmengen in Härtefällen ist eine leidenschaftliche Diskussion wert. Es war nicht einfach, in der Koalition darüber zu einem Einvernehmen zu kommen. Aber wenn man an die Alternativen denkt — Preissenkungen, die für uns nicht in Frage kommen, oder Mitverantwortungsabgabe —, dann muß man sagen, daß sie eine Schwachstelle haben. Sie haben nämlich nicht zu einer Reduktion der Milchproduktion geführt. Wir haben mit dieser umstrittenen Garantiemengenregelung erreicht, daß die Agrarfabriken, wie wir sie in Holland haben, gestoppt worden sind. Solches hat es bisher auf Grund keiner anderen Maßnahme gegeben.
Ich möchte, Herr Kollege Bredehorn, ganz kurz etwas zur Mitverantwortungsabgabe sagen, worüber wir auch gern diskutieren können. Wir gehören ja nicht zu den Leuten, die in diesem Zusammenhang irgendwelchen Glaubensfragen nachhängen. Aber bei der Mitverantwortungsabgabe wäre es nicht möglich gewesen, die kleinen und mittleren Betriebe zu schonen. Wir hätten zusätzlich 1 Milliarde DM erbringen müssen, d. h. wir hätten alle abgelieferte Milch mit 4 Pf belasten müssen. Wenn wir das nur bei den Betrieben über 30 Kühen gemacht hätten, dann hätte jeder Betrieb 13 Pf weniger für die Milch bekommen. Ich sage das, um einmal deutlich zu machen, daß die Mitverantwortungsabgabe die kleineren und mittleren Betriebe nicht geschont hätte.
Ich will etwas zum Thema Härtefälle sagen. Es wird draußen leidenschaftlich diskutiert. Ich möchte hier den Landwirtschaftsminister in Schutz nehmen. Es ist unseriös, ihn deshalb anzugreifen, weil es sich hier bei den geförderten Betrieben um einen einklagbaren Anspruch auf eine Quote handelt.
Ich gebe freimütig zu, daß wir auch bei den Härtefällen noch manche Änderung wünschen. Wir haben nicht den einfachen Weg der Engländer gewählt, pauschal eine Kürzung vorzunehmen, sondern wir haben uns bemüht, einen kleinen Solidaritätsbeitrag einzuführen und gleichzeitig einen Steigerungsbeitrag und einen Mengenbeitrag. Darüber kann man diskutieren und streiten. Aber eines kann man, glaube ich, nicht in Abrede stellen: diese Garantiemengenregelung hat erreicht, daß die Milchproduktion gesenkt worden ist. Wir werden in der Bundesrepublik Deutschland nach menschlichem Ermessen zum 1. April 1985 unser Ziel im wesentlichen erreichen. Durch unsere Maßnahmen ist es möglich geworden, den Milchpreis zu halten.
Ich will noch ein Wort sagen zu den Problembetrieben im unteren Viertel. Die Regierung hat auch zu diesem Thema einiges ausgeführt. Sie sagt in ihrer Antwort beispielsweise:
Gründlandbetriebe haben nur begrenzte Chancen, die Einkommensverluste auszugleichen. Deshalb muß diesen Betrieben national geholfen werden.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Dr. Vogel hat sich in jüngster Zeit zum Anwalt für diese Betriebe aufgeschwungen, die nach seiner Meinung zum Sterben verurteilt sind. Darüber, Herr Kollege Dr. Volgel, müssen wir einmal ein offenes Wort miteinander reden. Diesen Betrieben kann mit Sicherheit nicht allein durch die Preispolitik geholfen werden.
— Aber einen Preisrückgang um 15, 20 oder 25% hätten diese Betriebe, Kollege Dr. Vogel, natürlich nicht verkraften können. Sie haben diesen Betrieben zunächst einmal Preissenkungen verordnen wollen. In drei Jahren wollten Sie diesen Betrieben die Beiträge zur Berufsgenossenschaft streichen. Bei Ihnen standen diese Betriebe bei der staatlichen Förderungspolitik draußen vor der Tür. Sie haben die Gemeinschaftsaufgabe zusammengestrichen. — Die Erhöhung des Agraretats kommt schwerpunktmäßig gerade diesen Betrieben zu Hilfe.
Ich möchte gern ein Einzelbeispiel ausrechnen, um Ihnen deutlich zu machen, wie die Gewinnsituation bei der alten Regierung einerseits und unter den neuen Bedingungen andererseits ausgesehen hat. Angesichts der knappen Zeit komme ich leider nicht mehr dazu.
Abschließend füge ich zu diesem Kapitel hinzu: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich verändert, seit diese neue Regierung im Amt ist.
Ich halte es für die Landwirtschaft für von ganz entscheidender Bedeutung, Herr Kollege Immer, ob wir 7 % oder 2 % Inflationsrate haben, ob wir 10 % oder 7 % Zinsen haben. Dies kommt letzten Endes auch den Landwirten zugute.
Ich will noch ein offenes Wort zu einem Thema sagen, das wir hier schon früher erörtert haben und das auch in letzter Zeit wieder diskutiert wurde, nämlich zu den Problembetrieben im unteren Viertel. Wenn wir ganz kurz die Einkommenssituation betrachten, stellen wir fest, daß 1970 das Familienarbeitseinkommen im unteren Viertel 5 000 DM, im oberen Viertel 31000 DM betrug. 1982 lag es im unteren Viertel bei 2 800 DM, im oberen Viertel bei 57 000 DM. Hier ist ein großer Abstand entstanden. Ich will das überhaupt nicht bewerten, sondern nur feststellen, daß hier eine besorgniserregende Entwicklung zu verzeichnen ist. Wir wollen durch unsere Maßnahmen erreichen, daß die Betriebe im unteren Viertel in Zukunft bessergestellt werden, so daß der Abstand verringert wird.
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Sauter
Ich füge hinzu: Meine Damen und Herren, wir brauchen den kleinen und mittleren Betrieb auch in Zukunft zur Sicherung der Ernährung, aber auch um unserer Landschaft willen.
— Ich meine darüber hinaus, Frau Weyel, daß diese Aufgaben künftig stärker honoriert werden müssen. Aber wir brauchen auch — lassen Sie mich das in allem Freimut hinzufügen — Einkommensalternativen. Wir werden uns bei späterer Gelegenheit über die wirtschaftliche Entwicklung der ländlichen Räume noch zu unterhalten haben. Die industriell-technische Entwicklung — ich sehe den Kollegen Duve nicht mehr, der vorhin zu diesem Thema etwas gesagt hat — muß nicht mit Umweltzerstörung zu tun haben. Wir haben neue moderne Technologien, die umweltfreundlich sind und die durchaus auch in den ländlichen Räumen ihren Platz finden. Sie sorgen dort für qualifizierte Ausbildungs- und Arbeitsplätze.
Wer dies zu allgemein findet, den weise ich mit einem Stichwort auf die Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika hin, wo innerhalb von fünf, sechs Jahren 15 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen wurden, und zwar nicht bei der Großindustrie und nicht in den Ballungszentren. Hier war es möglich, über neue Technologien auch neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube, es ist lohnenswert, darüber nachzudenken.
In diesem Zusammenhang muß folgendes gesagt werden. Wir stehen vor einer schwierigen Situation: Wir haben volle Märkte und eine Bevölkerungsstagnation; auf der anderen Seite haben wir nur geringe Absatzchancen auf den Weltmärkten. Wir müssen uns doch darüber klar sein, daß Auswege schwierig sind, daß Einkommenssteigerungen nicht über Produktionserhöhungen möglich sind.
Ich möchte das alles abkürzen und nur noch hinzufügen, daß die Zu- und Nebenerwerbsbetriebe und die kleinen Vollerwerbsbetriebe bei dieser Agrarpolitik stärker als in der Vergangenheit im Mittelpunkt stehen. Wir betreiben keine Agrarpolitik, auf Grund deren es im Jahr 2 000 pro Dorf noch ein oder zwei Großbetriebe gibt.
Wir betreiben keine Agrarpolitik, welche die Strukturänderung staatlich fördert. Wachsen oder Weichen ist nicht unsere Maxime. Die einseitig wachstumsorientierte Landwirtschaft stößt an ihre Grenzen. Holland ist ein schlagender Beweis dafür. Die Natur und die Umwelt rebellieren zu Recht.
Eine Kurskorrektur in der Agrarpolitik ist angezeigt. Dazu brauchen wir Jahre. Nicht die Verteufelung der Vollerwerbsbetriebe ist unsere Absicht, sondern gezielte Hilfe für die, die benachteiligt sind. Wir brauchen selbstverständlich den leistungs- und konkurrenzfähigen Vollerwerbsbetrieb.
Lassen Sie mich noch ein abschließendes Wort sagen. Perspektiven für den bäuerlichen Betrieb — das ist die Überschrift unserer Großen Anfrage. Ich sage dazu: Vordringlich und notwendig ist die Begrenzung der Überschüsse. Notwendig sind die Gewinnung eines Spielraums für die Preispolitik, Verhinderung und Eindämmung der bodenunabhängigen Produktion, mehr Solidarität in der Landwirtschaft, Honorierung der Leistungen der Landwirtschaft für die Gesellschaft, Schaffung von qualifizierten außerlandwirtschaftlichen Arbeitsplätzen, Kurskorrektur bei der Beratung — sie war bislang einseitig auf Produktionssteigerung ausgerichtet —, Suche nach neuen Marktchancen, Vielfalt der Produktionspalette, Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen und stärkere Berücksichtigung von strukturschwachen Gebieten.
Ich möchte schließen mit einem Wort des Bundeslandwirtschaftsministers, das ich in einer Broschüre „Märkte ordnen, Einkommen sichern" gefunden habe, die uns heute zugegangen ist. Da heißt es: „Nach dem schwierigen Wirtschaftsjahr 1983/84 deutet alles darauf hin, daß wir wieder mit Mut und Zuversicht in die Zukunft blicken können."
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist kaum ein Jahr her, da passierte auf der Grünen Woche in Berlin ein unglaublicher Vorgang. Der amerikanische Landwirtschaftsminister Block war angereist und hielt dort eine Rede, die ich fast 40 Jahre nach Kriegsende und 30 Jahre nach den Römischen Verträgen nicht für möglich gehalten hätte. An Deutlichkeit ließ diese Rede damals nichts übrig. Ganz offen wurde damit gedroht: Wenn wir, wenn die EG es wirklich wagen sollten, den Import von Futtermitteln einzuschränken, hätte das ganz erhebliche wirtschaftspolitische Konsequenzen. Im Klartext hieß das: Wenn ihr anfangt, die Futtermittelimporte aus den USA in die EG einzuschränken, dann werden wir entsprechend bei euren Industrie- und Autoimporten in die USA reagieren.
Als ich diese Rede damals gehört habe, habe ich mich gefragt, in welchem Land ich eigentlich lebe, wenn hier ein amerikanischer Landwirtschaftsminister in dieser Weise eine solche Sprache reden kann.
Die Auswirkungen dieser Rede habe ich bis hinein
in die Ausschußberatungen über unseren Antrag
zur offenen Deklaration von Futtermitteln gespürt.
Dabei hatten wir mit diesem Antrag nur aufgegriffen, was von vielen Verbänden gefordert wird, z. B. von dem Bayerischen Bauernverband, von dem Baden-Württembergischen Bauernverband, in Schleswig-Holstein, von sämtlichen Landjugendverbänden.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8275
Frau Dr. Vollmer
Wir waren auch nicht zu weit gegangen. Wir hatten nicht etwa einen generellen Importstopp von Futtermitteln verlangt, obwohl wir ihn eigentlich für richtig und für nötig halten. Wir haben nur versucht, das hochzuhalten, was doch immer allseits so hoch gerühmt wird: die freie Entscheidung des einzelnen freien Unternehmers oder des einzelnen freien Bauern. Wenn schon dieser Staat zu schwach ist, wenn schon die EG zu schwach ist, um gegenüber den mächtigen amerikanischen Wirtschaftsinteressen einen Importstopp für Futtermittel zu verhängen, so wollten wir wenigstens — wenigstens! — dem einzelnen Bauern die Möglichkeit einräumen, kraft seiner eigenen Entscheidung Prioritäten zu setzen, welche Futtermittel er haben will: die, die auf unseren Flächen gewachsen sind, oder die importierten.
Nichts anderes bedeutet dieser Antrag auf offene Deklaration.
Wenn der einzelne Bauer auf seinem Futtersack die genaue prozentuale Aufschlüsselung der einzelnen Bestandteile feststellen kann, hätte man ja prüfen können, ob er eher die einheimischen Getreideoder die billigen Importfuttermittel bevorzugen würde,
zumal sich bei den Bauern inzwischen herumgesprochen hat, daß diese Importfuttermittel häufig genau von den Pestiziden belastet sind, über die wir heute morgen gesprochen haben, die in der Dritten Welt hergestellt werden und da auch in erheblichem Umfang eingesetzt werden. Die Früchte, die auf den mit diesen Pestiziden bearbeiteten Feldern wachsen, kommen dann im Futtersack zu uns.
Man hätte es ja abwarten können. Alle waren sich dermaßen sicher, daß die Bauern sowieso immer nur nach dem billigsten Futtersack greifen würden und daß sentimentale Rücksicht auf die einheimische Produktion längst von allen als ,,betriebswirtschaftlicher Unsinn" erkannt worden sei. Warum hat man es also nicht einmal versucht?
Erinnern wir uns: Im Jahre 1976 wurde auf Betreiben der Futtermittelindustrie die geschlossene Deklaration mit dem Hinweis eingeführt, so sei eine höhere Flexibilität in der Rohstoffbeschaffung und damit eine preisgünstigere Futtermischung möglich. Diese geschlossene Deklaration hat dann dazu geführt, daß der durchschnittliche Getreideanteil eines Mischfutters im Schnitt der letzten Jahre inzwischen auf unter 20 Prozent gesunken ist, obwohl er früher einmal 80 Prozent betragen hat.
Insbesondere in den küstennahen Standorten wird als Ergebnis immer mehr tierische Veredlung auf der Basis importierter Futtermittel betrieben, und damit werden auch die strukturellen Unterschiede
zwischen dem Süden und dem Norden erheblich verschärft. Die Futtermittelimportquoten stiegen dabei ständig an, aber der versprochene Preisnachlaß fand keinesfalls statt, womit eines der Hauptversprechen der Futtermittelindustrie, sie würden die Futtermittel billiger machen, nicht eingelöst worden ist.
Dafür gab es aber in den Betrieben zunehmend Probleme, teilweise mit den Mastergebnissen, mit der Fruchtbarkeit, teilweise aber auch mit der Schadstoffbelastung in den importierten Futtermitteln.
Gerade aus Niedersachsen ist dieses letztens bekanntgeworden.
Anhand der Ergebnisse der Erzeugerringe, der Kontrollverbände und der Versuchsinstitute läßt sich beweisen, daß getreidereiche Mischfutter gegenüber Mischungen mit hohen Anteilen an Substituten trotz gleicher Auslegung der Inhaltsstoffe eine wesentlich höhere Leistung und Vitalität erbringen. Dieses hat — das ist eingetreten — das Bewußtsein der Landwirte geschärft, und sie wollen heute in ihrer überwiegenden Mehrheit einheimische Futtermittel haben.
Gegen unseren Antrag ist die Futtermittelindustrie Sturm gelaufen. Ihre führende Zeitschrift hat sich sogar zu der unglaublichen Feststellung verstiegen — wir sind inzwischen einiges gewöhnt, aber diese will ich Ihnen vorlesen —: „Die GRÜNEN fragten heute die Bauern: Wollt ihr wirklich die total offene Deklaration, so wie einmal in diesem Land gefragt worden sei: Wollt ihr den totalen Krieg?".
Mehr an Argumenten hatten Sie aber nicht auf Ihrer Seite.
Da kam Ihnen der Bauernverband zu Hilfe. Sein Hauptargument war, die offene Deklaration sei ja nicht justitiabel. Im Zweifelsfall könne nicht juristisch nachgewiesen werden, daß die ausgewiesenen Gemengteile nicht im Futtermittel enthalten seien, und deswegen könnten die Bauern keine Prozesse führen.
Dieses Argument ist widerlegt, nicht einmal die landwirtschaftlichen Untersuchungs- und Forschungsanstalten halten es aufrecht. Wir sind mit dem Ausschuß da gewesen und haben uns vom Gegenteil überzeugen können. Die offene Deklaration ist in der Tat kontrollierbar, sie ist auch für die Futtermittelindustrie praktisch leicht durchführbar, da die erstellte Optimierung eines Mischfutters täglich per Knopfdruck als Sackanhänger neu ausgedruckt werden kann. Eine weitere und zusätzliche Kontrollmöglichkeit besteht über die Mischbücher.
Eine große Rolle in der Ausschußberatung spielte das Problem der Redlichkeit der Futtermittelher-
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Frau Dr. Vollmer
steiler. Dieses Problem der Redlichkeit ist auch noch in den Ausschußbericht über die Beratung eingegangen. Es wurde mir wiederholt gesagt, an dieser Redlichkeit dürfe wahrhaftig nicht gezweifelt werden; es sei überhaupt eine Unverschämtheit, daran zu zweifeln.
Wenn diese Futtermittelindustrie nun also so redlich mahlt und mischt und gar nicht mogelt, dann brauchte sie die offene Deklaration gar nicht zu fürchten. Dann würde auch das Problem der Beweislast in eventuellen Beschwerdeprozessen gar nicht auftauchen. Die Sache gibt doch nur umgekehrt einen Sinn, und dann einen sehr genauen: Gerade weil der Futtersack eine Wundertüte mit ungeahnten Überraschungen für den Landwirt bleiben soll,
gerade weil dabei ganz erstaunliche Mischungen experimentiert werden — lassen Sie sich einmal aufzählen, was in der Vergangenheit alles in den Futtersack hineingewandert ist —, gerade weil die Futtermittelindustrie unter Ausnutzung billigster Rohstoffe bei gleichbleibenden Verkaufspreisen ihre Gewinnchancen vergrößert, gerade deshalb darf in ihrem Interesse die offene Deklaration nicht eingeführt werden. Der Ausschuß hat sich damit sowohl dem Druck des amerikanischen Außenministers als auch dem wirtschaftlichen Druck der Futtermittelindustrie gebeugt.
Der Ausschuß hat sich für die halboffene Deklaration entschieden. Die SPD, die sich in dieser Frage sehr heftig engagiert hat — ich denke besonders an den Kollegen Oostergetelo —, hat der halboffenen Deklaration zugestimmt, was ich schlimm finde. Denn die halboffene Deklaration bietet überhaupt keinen Vorteil, höchstens den „Vorteil" der Täuschung der Bauern und der optischen Täuschung.
— Nein, es ist nicht besser. Die einzelnen Anteile der deklarierten Komponenten können bei der halboffenen Deklaration in einer so großen Schwankungsbreite eingemischt werden — etwa von 2 % bis 60 IN —, daß eine Qualitätsaussage überhaupt nicht möglich ist. Es besteht vor allem die Gefahr, daß einige Hersteller die hochwertigen Komponenten wie Getreide nur zu Geringstanteilen in die Mischung aufnehmen und damit eine optische Irreführung der Bauern herbeiführen.
Alles in allem: Mit der Ablehnung unseres Antrags hat der Ausschuß eine große Chance versäumt, dem Wunsch der meisten Bauern entgegenzukommen, endlich offene Karten bei Mischfutter zu haben.
Er hätte die Chance gehabt, in die Hand der Bauern die völlig freie Entscheidung zu legen, ob sie einheimische oder importierte Futtermittel haben wollen. Er hätte die Chance gehabt, damit den Bauern eine Möglichkeit zu eröffnen, unsere Überschußproblematik wirklich an ihrer Wurzel zu packen, nämlich wieder zu einer flächenabhängigen Produktion zurückzukommen.
Meine Damen und Herren, es bleibt mir nur wenig Zeit, um auf die vielen anderen Unterlagen einzugehen, die Grundlage dieser Debatte sind. Ich werde insbesondere auf die Problematik und unser Ziel der Stärkung des ökologischen Landbaus in einer anderen Debatte genauer eingehen.
Ich greife jetzt einen Punkt aus Ihren Papieren heraus, der mir besonders aufgefallen ist. In schöner Regelmäßigkeit finden wir nämlich in den Anträgen der Koalitionsparteien eine Aufforderung an die Bundesregierung — auf die Sie unbestritten einen erheblichen Einfluß haben —,
sie solle „Maßnahmen zum Schutz der bäuerlichen Familienbetriebe ergreifen". In Ihrem Entschließungsantrag zur Beratung des Agrarberichts 1984 heißt es:
Zum Schutz des bäuerlichen Familienbetriebes ist die Einführung von Bestandsobergrenzen anzustreben.
Das ist sehr schön. So hieß es auch schon im letzten Jahr. Wir warten schon lange darauf, daß Sie diese Bestandsobergrenzen jetzt endlich einmal konkret auf den Tisch des Hauses legen. Diese Forderung ist in den Verbänden — auch im Bauernverband — ebenso populär wie die Forderung nach offener Deklaration von Futtermitteln.
Was lese ich nun aber in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage über die Perspektiven für den bäuerlichen Familienbetrieb, gut versteckt? Die Antwort auf die Frage 19 lautet:
[Es] ist eine Einigung auf EG-Ebene über Höchstbestandsgrößen zur Zeit nicht vorstellbar und somit auch kein Mittel zur Erhaltung der Veredlungskapazitäten in den bäuerlichen Betrieben. Höchstbestandsgrenzen nur in der Bundesrepublik Deutschland würden für die deutschen Landwirte unzumutbare Wettbewerbsnachteile bedeuten. Darüber hinaus gibt es in der Bundesrepublik Deutschland auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einführung gesetzlicher Bestandsobergrenzen.
Das ist doch sehr deutlich. Ich komme zu dem Schluß, daß die Fraktionen entweder überhaupt keinen Einfluß auf die Regierungspolitik und auf die Politik des Ministeriums haben, oder es liegt hier offensichtlich eine Art von Arbeitsteilung vor. Die Fraktionen und die Parlamentarier tun in den öffentlichen Debatten und in den Versammlungen ständig so, als wären sie für die Bestandsobergrenzen und emsig dabei, diese herzustellen. Die Regie-
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Frau Dr. Vollmer
rung hat längst beschlossen, diese Frage ganz schlicht auf Eis zu legen.
Dann sollten aber auch Sie das den Bauern ehrlich sagen, sollten ihnen sagen, daß Sie diese Forderung, die von den Bauern sehr stark vertreten wird, genauso beiseite legen wie die Forderung nach offener Deklaration der Futtermittel. Geben Sie endlich einmal eine ehrliche öffentliche Auskunft darüber! Vielleicht kann das auch der Minister gleich tun.
Meine Damen und Herren, wenn ich sämtliche Antworten und Unterlagen durchprüfe, so stelle ich fest, die Futtermittelimporte wollen Sie nicht einschränken, weil Sie nicht dürfen oder weil Sie nicht können. Die Bestandsobergrenzen wollen Sie nicht festlegen, weil Sie nicht dürfen oder weil Sie nicht wollen. Die Verschuldung in der Landwirtschaft, die in allen Fachzeitungen dramatisch geschildert wird und die auch aus den Zahlen spricht, finden Sie in Ihrer Beurteilung nicht weiter bedeutend, weil Sie den Einfluß der Banken und Kreditinstitute nicht beschränken dürfen und nicht beschränken wollen. Dem ökologischen Landbau wollen Sie zwar eine Nische im landwirtschaftlichen Bereich zugestehen, aber keine zukunftweisende Bedeutung, weil Sie den Einfluß der chemischen Industrie nicht beschränken dürfen und nicht beschränken wollen. Wie aber, wenn Sie das alles nicht dürfen und nicht wollen, wie, frage ich Sie, wollen Sie dann das retten, für das Sie einmal angetreten sind, nämlich eine Zukunft für die bäuerlichen Familienbetriebe und eine Zukunft für die uns umgebende Natur?
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe das Gefühl, daß es beinahe eine gütige Fügung des Schicksals ist, daß die Beratung dieser sieben Tagesordnungspunkte in die Vorweihnachtszeit fällt, also in die Zeit der Besinnung und Hoffnung.
Beides, Herr Müller, Besinnung und Hoffnung, tut in der Agrarpolitik not. Besinnung, weil wir nun nach der großen eingeleiteten Reform der EGAgrarpolitik unseren Landwirten die Richtung andeuten können, wo die Reise hingeht.
Hoffnung und nicht Resignation brauchen wir sicher, um mit diesen Schwierigkeiten und mit diesen schwierigen Fragen fertig zu werden, und zwar zum Wohle aller Bürger in diesem Lande.
Wenn ich auf die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingehen darf, stelle ich fest, daß der von der FDP schon immer gewollte bäuerliche Familienbetrieb auch Leitlinie unserer Bundesregierung ist. Hier von dieser Stelle wiederhole ich — dies hat unser ehemaliger Landwirtschaftsminister Josef Ertl in vielen Jahren bewiesen und kein geringerer als unser Vizekanzler und Außenminister Hans-Dietrich Genscher von dieser Stelle aus gerade in letzter Zeit oft betont —, daß der bäuerliche Familienbetrieb im Mittelpunkt der agrar- und ernährungspolitischen Aufgaben in unserem Lande steht. Er erfüllt die Sicherung unserer Ernährung auch in Krisenzeiten, er ist in der Lage, die Pflege der Kulturlandschaft zu übernehmen sowie die Erholungserwartungen auf dem Lande zu sichern. Die Bedeutung einer bäuerlich strukturierten Landwirtschaft, die viele Arbeitsplätze und Verdienstmöglichkeiten sowie eine breite Eigentumsstreuung bietet, darf nicht übersehen werden. Die Bundesregierung redet uns, mit ihrer Antwort gerade vom Herzen, wenn sie sagt, der bäuerliche Familienbetrieb sei gerade dadurch gekennzeichnet, daß eine enge Bindung der Viehhaltung an den Boden bestehe und daß Fläche und Tierbestände im wesentlichen von Familienangehörigen bewirtschaftet werden. Der bäuerliche Familienbetrieb ist jedoch nicht nur ein Wirtschaftsunternehmen, sondern auch Grundlage für die Existenz mehrerer Generationen, die im Betrieb miteinander leben und arbeiten und die ein hohes Maß an gemeinsamer Verantwortung im Betrieb verbindet. Der bäuerliche Familienbetrieb ist somit Einkommensquelle und Lebensinhalt. Er soll der Familie, gegebenenfalls durch Nutzung außerbetrieblicher Einkommensmöglichkeiten, materielles und auch ideelles Dasein sichern. Die bäuerliche Landwirtschaft hat sich in ihrem Nebeneinander von Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrieben als überaus anpassungsfähig an die volkswirtschaftliche Entwicklung erwiesen.
Wenn Sie in diese Überlegungen noch die Tatsache einbeziehen, daß gerade der Verbraucher von Lebensmitteln mit dieser bäuerlichen Landwirtschaft gut gefahren ist, d. h. daß er billigst und ausreichend mit guten Nahrungsmitteln versorgt worden ist, dann muß die Frage erlaubt sein: Wie wird denn diese Landwirtschaft von dieser Gesellschaft noch eingestuft? Welchen Stellenwert hat sie? Welchen Stellenwert gibt diese Gesellschaft der bäuerlichen Landwirtschaft, die die Ernährungssicherung und die Erhaltung der Kulturlandschaft garantiert? Welchen Stellenwert hat der ganze ländliche Bereich? Welchen Stellenwert hat die Ökologie? Und: Wie sehen wir den Hunger in der Welt?
Wir, die FDP, waren uns immer einig, daß der gesamte ländliche Raum mit der Landwirtschaft eine bedeutende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Funktion erfüllt, daß die Ernährungssicherung und die Erhaltung der Kulturlandschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Daß Ökologie und Umwelt eine übergroße Bedeutung haben, können Sie bei der FDP schon längst und beinahe schon vor einem Jahrzehnt in den Kieler Thesen nachlesen.
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Diese in Besinnlichkeit gemachten Erkenntnisse können jedoch nicht praktische Politik ersetzen. Darum müssen wir politisch handeln, damit möglichst viele bäuerliche Familienbetriebe — ganz gleich, ob es sich um Voll-, Neben- oder Zuerwerbsbetriebe handelt — ein ausreichendes, mit anderen Berufsgruppen vergleichbares Einkommen erwirtschaften können.
Dies ist keine leichte Aufgabe. Hier kommt auf diese Bundesregierung sicherlich auch einiges zu. In diesem Zusammenhang wünsche ich unserem Bundeslandwirtschaftsminister, Ignaz Kiechle, in Zukunft eine glückliche Hand.
Voraussetzung dafür sind ausgeglichene Märkte in der EG. Dazu gehört dringend, jegliche investive Förderung in Überschußbereichen wie in die Produktion von Schweinen und Rindfleisch EG-weit einzustellen. Es macht keinen Sinn mehr, bei gesättigten Märkten mit staatlichen Investitionen die Preise und damit die Bauern kaputtzufinanzieren. Wer die Erhaltung der bäuerlichen Familienbetriebe will, der muß auch bereit sein, ihnen die Veredelungskapazität zu erhalten.
Deshalb war es richtig, gewerbliche Betriebe und Betriebe mit über 330 Vieheinheiten am 1. Juli nächsten Jahres nicht in den Genuß der fünfprozentigen Vorsteuerpauschale kommen zu lassen, eine Maßnahme, die von meiner Fraktion konsequent vertreten wurde. Ob diese Maßnahme ausreicht, bezweifeln wir. Wir fordern deshalb nach wie vor Höchstbestandsgrenzen im Veredelungsbereich. Die zusätzliche direkte Förderung auf die Fläche in den benachteiligten Gebieten ist richtig
und muß weiter verstärkt werden, wenn die Bauern dort eine Zukunftschance haben sollen.
Wir danken dem Finanzminister für die Bereitstellung von zusätzlichen 125 Millionen DM für 1985. Gleichzeitig bitte ich aber die Länder, die Verteilung der Mittel — differenziert nach der Betriebsgröße und unter Berücksichtigung der Extensität der Bewirtschaftung — vorzunehmen. Leider ist unsere Forderung nach Bereitstellung von 100 Millionen DM für die Herausnahme von Flächen für den Biotopschutz nicht verwirklicht worden. Wir erwarten, daß umgehend die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß es möglich wird, diese Maßnahmen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe als Teil der Strukturpolitik zu fördern.
Im sozialen Bereich ist es eine große Leistung, daß 1985 wieder 400 Millionen DM für die Berufsgenossenschaft zur Verfügung stehen. Bedauerlich war nur, was man aus den Verbänden gehört hat, nämlich daß sie den Schlüssel für die Verteilung '79 rückgängig machen wollten. Wenn die ertragsstarken Betriebe nicht bald lernen,
mehr Solidarität mit den Schwächeren zu üben, Herr Müller, dann wird es um die Einheit der bäuerlichen Landwirtschaft bald geschehen sein.
Im kommenden Jahr muß nach Auffassung der FDP-Fraktion die gesetzliche Voraussetzung für eine Differenzierung der Beitragsgestaltung der Altersklasse geschaffen werden. Was wir heute haben, ist sozial ungerecht. Wir hoffen, daß der Finanzminister dies erleichtert.
Wenn wir auf der einen Seite Überschüsse abbauen wollen, weil wir sie nicht mehr finanzieren wollen oder können, aber auf der anderen Seite viele bäuerliche Familienbetriebe erhalten wollen, werden wir nicht umhin kommen, Flächen, die bisher zur Produktion von Überschüssen dienten, zum Teil zum Anbau von Pflanzen für nachwachsende Rohstoffe zu nutzen, die wir in der Industrie und hauptsächlich in der chemischen Industrie oder zur Spritherstellung verwenden können. Mir wurde einmal auf eine Schriftliche Anfrage an die Bundesregierung mitgeteilt, daß bereits bei 5 % Beimischung von Äthanol etwa eine Fläche von 450 000 ha benötigt würde.
Zwei Hauptmotive standen am Anfang meiner Überlegung, sich dem Aufgabengebiet nachwachsende Rohstoffe zuzuwenden. Da wären zunächst die beiden Erdölpreisschocks von Anfang und Ende der 70er Jahre zu nennen. Sie haben zu einer Verzehnfachung des Erdölpreises geführt und nicht nur unsere Volkswirtschaft, sondern auch die anderer Staaten erschüttert. Angesichts jener drastischen Verteuerung wichtiger fossiler Rohstoffe, deren Endlichkeit absehbar ist, erhalten nachwachsende Rohstoffe nicht nur in Ländern wie Brasilien und USA, sondern auch bei uns eine zunehmende Bedeutung. Das zweite Hauptmotiv, Produktionsalternativen in meine Überlegungen einzubeziehen, waren und sind heute die ausufernden Agrarmärkte. Das Ziel einer sicheren Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln hat die Landwirtschaft mehr als erfüllt. Die Selbstversorgungsgrade in der EG belaufen sich zur Zeit bei Zucker auf 147 %, bei Getreide auf 120 %, bei Milch trotz Garantiemengenregelung auf 115 % und bei Wein auf 120 %.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einiges zum Erdölpreis als einem der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren für nachwachsende Rohstoffe sagen. Die Internationale Energie-Agentur warnt bereits davor, den kurzfristig nach unten gerichteten Erdölpreistrend als dauerhaft zu betrachten. Es gebe viele Anzeichen dafür, daß sich Anfang der 90er Jahre die Ölmärkte wieder zu Verkäufermärkten verwandeln könnten. Während die Nachfrage stetig zunehmen wird — denken Sie an den anhaltenden Verbraucherzuwachs der Entwicklungsländer —, muß mit einer absinkenden Ölförderung in der Nordsee und in Nordamerika gerechnet werden.
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Zumindest diese Perspektive unterstreicht die Notwendigkeit, den eingeschlagenen Weg der Vorsorgepolitik fortzusetzen.
Was das agrarpolitische Umfeld angeht, so wird angesichts der immer kostspieligeren Überschußproduktion auf den EG-Nahrungsmittelmärkten der Ruf nach Produktionsalternativen immer lauter, so daß ich der Meinung bin, daß hier schnelles Handeln angezeigt ist. Darum fordere ich — und bitte ich — die Bundesregierung erneut auf,
mit der in Frage kommenden Industrie Verbindung aufzunehmen und die nötigen Schritte zu unternehmen, um hier einen Anfang einzuleiten. Der Forschung muß hier noch ein größeres Augenmaß geschenkt werden.
Der Verlust der deutschen Landwirtschaft, der durch den Abbau des deutschen Währungsausgleichs entstanden ist, wurde mit jährlich 3 Milliarden DM von dieser Bundesregierung ausgeglichen. Hier fragen wir uns als FDP und als Koalitionspartner: Wie wäre dies denn mit einem Koalitionspartner SPD gegangen? In der Nahrungsmittelhilfe der Europäischen Gemeinschaft, in der rund 30 % von der Bundesrepublik Deutschland getragen werden, müßte man trotz dieser beachtlichen Leistung fragen, ob man nicht angesichts des Hungers in der Welt, allerdings kurzfristig, noch mehr von unseren Überschüssen abgeben könnte. Man sollte nicht dorthin mehr Nahrungsmittel geben, wo die Eigeninitiative gelähmt wird, wo neue Abhängigkeiten geschaffen würden, wo die Produktion von Nahrungsmitteln im Lande selber negativ beeinträchtigt würde, wo Verzehrsgewohnheiten geändert würden, sondern nur dorthin, wo Menschenleben dem Hungertod entrissen werden könnten.
Die Anträge der GRÜNEN zur Verschuldung der Landwirtschaft, zum ökologischen Landbau und zur Zukunft der Landwirtschaft halte ich für Schaufensteranträge; denn eine Gruppe, die auf der anderen Seite Enteignung von Grund und Boden fordert — hier sage ich nur: Siehe Pressemitteilung im „Handelsblatt" vom 10. September 1984 —, kann es mit der Landwirtschaft nicht gut meinen und daher mit solchen Anträgen nicht ernstgenommen werden.
Die Änderung des Weingesetzes wird von uns voll unterstützt, weil wir mit der Verlängerung der Übergangsfrist in § 63 Abs. 1 bis zum 30. Juni 1989 unbillige Härten und somit Wettbewerbsnachteile für unsere deutschen Winzer vermeiden wollen.
Abschließend möchte ich im Namen der FDPFraktion der Bundesregierung für die Beantwortung der Großen Anfrage herzlich danken. Diese Antwort ist geeignet, den Landwirten und ihren Familien deutlich zu machen: Besinnlichkeit ist richtig und angebracht, aber mit Vertrauen und Hoffnung in diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien werden wir gemeinsam die Zukunft meistern.
Die FDP-Fraktion wird nicht müde werden, wenn es um die Verteidigung des ländlichen Raumes und der Landwirtschaft geht.
Von dieser Stelle aus wünsche ich allen Bauern und Bäuerinnen sowie allen Bürgern in diesem Lande frohe Weihnachten und ein gutes 1985.
Ich denke, diesen Wünschen für alle Bäuerinnen und Bauern, alle Jungbäuerinnen und Jungbauern schließen sich alle Redner, die nach Herrn Paintner an die Reihe kommen, an,
damit wir noch einigermaßen mit der Zeit zurechtkommen. Im übrigen wird er auf diesem Wege mit dem Postminister einige Schwierigkeiten kriegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer sich mit den Problemen der Agrarpolitik und den gegenwärtigen Sorgen und Nöten der Landwirte beschäftigt, wird aus eigener Erfahrung bestätigen können, daß die Große Anfrage der Regierungsparteien die Existenzfragen der Landwirte schlechthin anspricht;
denn nicht wenige Landwirte machen sich heute große Sorgen um die Zukunft ihrer Höfe. Sie fragen sich, ob sie die Agrarpolitik dieser Regierung überstehen werden, ob sie ihren Nachfolgern die Höfe werden übergeben können.
Die Bundesregierung hatte die Chance, zu diesen Existenzfragen Stellung zu beziehen.
Leider wurde diese Chance nicht genutzt; denn vergebens sucht man in der Antwort nach Perspektiven für den bäuerlichen Familienbetrieb.
Zu erfahren ist, daß beim bäuerlichen Familienbetrieb in der Regel eine enge Bindung der Viehhaltung an den Boden bestehe.
Ich bin der Meinung, daß dies sicherlich ein Kriterium ist. Aber es trifft leider auch zu, daß durch
Ihre Politik, insbesondere durch die Quotenrege-
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Müller
lung, gerade solche Betriebe, auch dann, wenn sie mit Fleiß und Sparsamkeit ohne staatliche Hilfen investiert haben, besonders benachteiligt werden.
Herr Minister Kiechle sagte vor dem Bundesfachausschuß Agrarpolitik der CDU vor einigen Tagen: Auf dem Milchmarkt hat es eine zukunftsweisende Weichenstellung gegeben.
Sie haben recht, Herr Minister, aber in welche Richtung?
In Planwirtschaft, Rechtsunsicherheit und wirtschaftliche Not für viele kleine und mittelbäuerliche Betriebe.
Uns haben Sie, Herr Minister, immer vorgeworfen, eine Politik des Wachsens und Weichens zu betreiben.
Das war nie das Ziel unserer Politik.
Ich unterstelle Ihnen, Herr Minister, auch nicht, daß Sie eine solche Politik wollen, aber die Konsequenz Ihrer Politik, Ihrer Quoten, ist für viele Landwirte: Wachsen oder Weichen.
Ich räume Ihnen ja ein, daß es schwierig ist, den vielgenutzten Begriff „bäuerlicher Familienbetrieb" mit Leben zu erfüllen. Geht man vom Wortsinn aus, so wird ein Familienbetrieb mit der Arbeitskapazität einer Familie bewirtschaftet. Das mag vor einigen Jahrzehnten noch ein brauchbares Kriterium gewesen sein. Die moderne Technik jedoch ermöglicht es heute einer Familie, sehr umfangreiche Flächen und große Viehbestände zu betreuen.
Meine Damen und Herren, das ist eine Entwicklung, die nicht rückgängig gemacht werden kann und auch nicht rückgängig gemacht werden soll; denn der technische Fortschritt in der Landwirtschaft hat die Lebensqualität der Landwirte und ihrer Familienangehörigen rapide angehoben
und dem Lebensstandard der Gesamtbevölkerung angeglichen.
Nur wer nicht weiß, welche Plackerei die Arbeit auf dem Bauernhof früher war — und dabei schaue ich ganz besonders die GRÜNEN an, die kaum noch vertreten sind —,
nur der kann für die weitere Entwicklung in der Landwirtschaft den Rückschritt propagieren,
nur der kann die vermeintlich romantische Idylle des 19. Jahrhunderts wieder herbeiwünschen,
mit Rössern oder Ochsen vor dem Pflug und der Sense auf dem gebeugten Rücken des Bauern.
Für uns Sozialdemokraten kommt dagegen ein Verzicht auf moderne, sinnvoll eingesetzte Landtechnik schon aus Verantwortungsgefühl für die Gesundheit und die Lebensqualität der Menschen in der Landwirtschaft nicht in Betracht.
Es entspricht unserer Tradition, dafür einzutreten, den Menschen von harter und mühsamer Arbeit zu entlasten, auch durch den Einsatz von Maschinen.
Wenn man also bereit ist, den Einsatz moderner Arbeitstechnik zuzugestehen, zeigt sich, daß nahezu alle landwirtschaftlichen Betriebe in der Bundesrepublik von diesem Begriff umfaßt werden. Richtig gesehen, taugt der Begriff „bäuerlicher Familienbetrieb" lediglich dazu, die bäuerliche Landwirtschaft von der gewerblich betriebenen einigermaßen abzugrenzen, wobei sich auch diese Grenzen durch den technischen Fortschritt ständig verschieben.
Meine Damen und Herren, aus dieser Feststellung ergibt sich, daß das Verteilen von Staatshilfen und Subventionen an alle die landwirtschaftlichen Betriebe, die zu den „bäuerlichen Familienbetrieben" gezählt werden oder sich dazu zählen, noch lange nicht die Bezeichnung „sozial gerechte Agrarpolitik" verdient.
Wenn Sie, meine Damen und Herren, in Sonntagsreden verkünden „Alle bäuerlichen Familienbetriebe sollen überleben", warum machen Sie dann eine Politik, die — etwa mit der 5%igen Vorsteuerpauschale — ganz einseitig einen Teil dieser Betriebe,
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nämlich die umsatzstärksten, bevorzugt?
Vor dem Fachausschuß der CDU sagten Sie, Herr Kiechle:
Die Bundesregierung hat ein 21-Milliarden-Programm aufgelegt und damit eine umfassende Politikwende zugunsten der klein- und mittelbäuerlichen Betriebe eingeleitet.
Aber gerade die klein- und mittelbäuerlichen Betriebe sind es doch, die von diesem Programm keine Vorteile haben.
Genau das Gegenteil ist der Fall: Der großbäuerliche Familienbetrieb norddeutscher Prägung, meine Damen und Herren, ist der Gewinner.
— Herr Eigen, ich weiß ja, wofür Sie immer streiten. Wir sehen es j a auch bei der Unfallversicherung. Sagen Sie doch einmal deutlich, was Sie wollen.
Sie wollen den Kleinen doch überhaupt nicht helfen.
Gerade diese Kleinen, besonders im süddeutschen Raum, stehen auf der Verliererseite. Das ist Tatsache, und so sieht Ihre Politikwende auch aus.
Warum versuchen Sie immer wieder, den kleinen Vollerwerbsbetrieben in benachteiligten Regionen ohne Erwerbsalternativen einzureden, auch sie seien auf Dauer nur über die Preispolitik zu halten,
während Sie doch gerade diesen Betrieben gleichzeitig die Möglichkeit zur Aufstockung im Veredelungsbereich nehmen?
Man kann daraus nur schließen, meine Damen und
Herren, daß die CDU/CSU unter „bäuerlichem Familienbetrieb" nur den großen, umsatzstarken Betrieb versteht.
Die FDP, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, sieht das anders. Denn der Kollege Bredehorn von der FDP hat am 18. Oktober 1984 von dieser Stelle aus erklärt:
Die agrarpolitischen Entscheidungen wie die Milchkontingentierung, der Abbau des Grenzausgleichs und dadurch bedingt die undifferenzierte generelle ... Erhöhung der Mehrwertsteuer sind in dieser Form nach meiner Meinung Maßnahmen und Entscheidungen gegen den bäuerlichen Familienbetrieb.
So Herr Bredehorn. Wir teilen zwar diese Meinung, meine Damen und Herren, aber warum hat die FDP dann all dem zugestimmt? Das ist doch die Frage, die wir Ihnen stellen müssen.
— Ja, allzeit bereit zum Umfallen, das ist die Situation, nicht? Das kennen wir doch!
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hätte mit ihrer Antwort deutlich machen können, daß der Globalbegriff „bäuerlicher Familienbetrieb" für eine zukunftsorientierte und sozial ausgewogene Agrarpolitik wenig hergibt und sich Betriebe unterschiedlichster Größe und Struktur von dieser Bezeichnung angesprochen fühlen.
— Aber eine solche klare Aussage haben Sie gescheut, weil Sie Ihre Gießkannenpolitik bei der Verteilung staatlicher Zuschüsse, bei der es auf die Großen regnet und auf die Kleinen tröpfelt, sonst hätten einstellen und die einkommensschwachen Betriebe gezielt hätten unterstützen müssen.
Nur dann, Herr Minister und meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Sie dazu übergehen, Ihre Politik an konkreten Erfordernissen zu orientieren, werden diese kleinen bäuerlichen Familienbetriebe ihren Beitrag zur Sicherung der Ernährung, zur Pflege der Kulturlandschaft, zur Sicherung des Erholungs- und Erlebnis-
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Müller
wertes der Landschaft auch weiterhin leisten können.
Wir Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, treten jedenfalls für eine solche soziale Agrarpolitik, die auch den kleinen Betrieben einen Plätz läßt, ein.
— Herr Eigen, Sie sollten einmal die Reden nachlesen, die Sie damals gegen uns gehalten haben, wenn wir für die etwas tun wollten.
Jetzt wollen Sie davon nichts mehr wissen und reden nur von Erblast. Aber Ihre eigené Erblast — das ist Ihr eigentliches Problem — vergessen Sie dabei.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus?
Tut mir leid, Herr Gallus, ich habe nur noch einen Absatz. Im übrigen habe ich auch keine Zeit mehr. — Wir betonen immer wieder, daß das überhaupt nichts mit Klassenkampft zu tun hat,
sondern einzig und allein mit unserer sozialen Verantwortung — die wir Ihnen wünschen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kunz .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Müller, Sie beklagen mit bewegten Worten
die unvermeidbaren Maßnahmen der jetzigen Bundesregierung,
die ausschließlich das Ziel haben, das schlimme Ergebnis der von Ihnen maßgeblich bestimmten Politik einzugrenzen. Mit dieser Polemik haben Sie überhaupt keine Glaubwürdigkeit geerntet.
Wenn es um die Perspektiven des bäuerlichen Familienbetriebs geht, dürfen wir nicht bei der traditionellen Nahrungsmittelerzeugung verharren. Unsere bäuerliche Landwirtschaft hat das Ziel einer sicheren Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen Mitteln mehr als erreicht. Die Entwicklung des Nahrungsmittelverbrauchs und die durch den Fortschritt von Forschung und Technik jährlich wachsende Produktion erlauben es jetzt der Landwirtschaft, neue Aufgaben zu übernehmen, ohne die Eigenversorgung und die steigende Nahrungsmittelhilfe für die Dritte Welt zu gefährden.
Eine vorausschauende Vorsorgepolitik und die Notwendigkeit, die Umwelt zu entlasten, setzen neue Ziele in der Agrarpolitik. Denn die Produktion, Verarbeitung und Verwendung nachwachsender Rohstoffe entlasten die Umwelt. Auf Grund ihrer biologischen Kreisläufe wird die Atmosphäre nicht mit Kohlendioxid und die Biosphäre nicht mit Stickoxiden und Schwefeldioxid belastet. Auch könnten nachwachsende Rohstoffe die verengten Fruchtfolgen auflockern. Schließlich wird die Biotechnologie, eine Schlüsselindustrie der Zukunft, künftig vermehrt Naturstoffe einsetzen. Dafür gilt es jetzt die Weichen zu stellen.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt es deshalb außerordentlich, daß Bundesminister Kiechle auf dem Sektor nachwachsender Rohstoffe diese Vorsorgepolitik eingeleitet hat. Sie muß mit großem Nachdruck weitergeführt und ausgebaut werden. 35 Millionen DM in vier Jahren sind nach meinem Dafürhalten einfach zuwenig und können allenfalls als Einstieg gewertet werden, im Vergleich zu der staatlichen Förderung bei der Kohleveredelung in einer Höhe von nicht weniger als 2,4 Milliarden DM.
Nachwachsende Rohstoffe sind Pflanzen, Abfälle von Pflanzenproduktion und tierische Exkremente, aus denen Werkstoffe, chemische Grundstoffe, Spezialchemikalien und Energieträger gewonnen werden. So spielen schon eine Rolle Stärke aus Kartoffeln, Mais und Getreide, Pflanzenöle und Fette aus Raps und Rübsen, Sonnenblumen und Oliven; Bioäthanol aus Kartoffeln, Mais, Getreide und Rüben; Kaseine, Zucker, Zellulose, Hemi-Zellulose und Lignin, Methanol aus Holz; Biogas, Fasern aus Lein und Hanf; Arzneimittel und Kräutern und Pflanzen.
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Dr. Kunz
Die größte wirtschaftliche Bedeutung haben die ersten drei genannten Rohstoffe.
Sie werden bereits industriell genutzt; weitere Verwendungsbereiche zeichnen sich ab. Für Stärke gibt es in der Industrie schon heute eine große Palette von Verwendungsmöglichkeiten. Sie sind bei weitem noch nicht erschöpft und sollten konsequent ausgebaut werden. Bei Pflanzenölen und -fetten könnte durch Züchtung und Forschung der Verwendungsbereich wesentlich erweitert werden. Bioäthanol eignet sich nicht nur als Trinkbranntwein, sondern kommt zunehmend in Frage als chemischer Grundstoff, als Treibstoffzusatz und unter gewissen Umständen auch als Treibstoff. Für die übrigen Rohstoffe könnten mit Sicherheit die bestehenden Anwendungsbereiche wesentlich erweitert werden. Deshalb müssen Forschung und Technologie für diese Produkte weiter vorangetrieben werden.
Auf dem jüngsten Gipfel in Dublin wurde das Haupthindernis für den Beitritt Spaniens und Portugals beseitigt, indem die EG von den insgesamt eingelagerten 3,4 Millionen t Wein 2,4 Millionen t destilliert. Viele werden die Entscheidung kritisieren, doch haben die meist kleinen und mittelbäuerlichen Weinbauern angesichts der 20 Millionen Arbeitslosen in der EG zur Zeit kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz außerhalb der Landwirtschaft. Auch kann der Strukturwandel der Landwirtschaft im allgemeinen nicht so schnell und auch nicht in dem Umfange vorangetrieben werden, wie es aus rein ökonomischen Gesichtspunkten zur Sicherung höherer Einkommen notwendig wäre. Es ist auch zu bedenken, daß eine möglichst große Zahl bäuerlicher Existenzen eher zum Umweltschutz und zur Erhaltung der Kulturlandschaft beiträgt als landwirtschaftliche Großbetriebe mit ausgeräumten Fluren und Massentierhaltung.
Solche politischen Notwendigkeiten einerseits und die Tatsache, daß bei stagnierendem Verbrauch gleichzeitig die Agrarproduktion im Jahr um 2 wächst, andererseits bergen die Gefahr weiterer Überschüsse in sich.
In Frankreich, in Italien und in der EG-Kommission reifen deshalb neue Überlegungen heran. In Kreisen der EG denkt man im Zusammenhang mit der beschlossenen Weindestillation offenbar an eine Beimischung von Alkohol zum Vergasertreibstoff. Sinnvoller und wirtschaftlicher wäre es allerdings, die Überschüsse durch Anbau und Nutzung nachwachsender Rohstoffe gar nicht erst entstehen zu lassen.
Das Überschußproblem läßt sich kurzfristig nicht allein durch eine verstärkte Nutzung nachwachsender Rohstoffe lösen. Doch könnte schon mittelfristig eine spürbare Entlastung davon ausgehen.
Viele Fachleute befürchten, wie Kollege Paintner schon angeführt hat, bereits in wenigen Jahren eine erneute Verknappung von Ö1 und bis zum Jahr 2020 die Erschöpfung der heute bekannten Ölvorkommen.
Schon bald muß mit weiteren Verteuerungen der Energieversorgung gerechnet werden. Unter Berücksichtigung der bestehenden politischen Unsicherheiten für die meisten Ölfelder gewinnen deshalb die Appelle der Internationalen Energieagentur ein besonderes Gewicht, trotz der augenblicklichen Ölschwemme eine lebenswichtige Vorsorgepolitik nicht zu vernachlässigen.
Bei Biogas sollte die Technologie weiter vervollkommnet werden, auch wenn eine allgemeine Wirtschaftlichkeit wahrscheinlich nur für Betriebe mit größeren Viehbeständen und auch dann erst bei einem Heizölpreis von über 1 DM je Liter erreicht werden kann.
Einen spürbaren Beitrag zur Energieversorgung könnte schon in wenigen Jahren der Zusatz von Bioäthanol zum Vergasertreibstoff leisten, zumal die Energiebilanz bei Nutzung der Reststoffe mit 1 : 2 durchaus positiv ist. Eine Kalkulation von Professor Meinhold kommt zu dem Ergebnis, daß bereits Anfang der 90er Jahre Äthanol wettbewerbsfähig unter der Bedingung ist, daß eine heizwertgemäße Minderung der Mineralölsteuer auf Alkohol zugestanden wird, wie sie bereits in der dritten Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung angekündigt wurde. Außerdem müßte wegen der qualitätsverbessernden Wirkung des Äthanols ein Preis erzielt werden, der dem 1,2fachen des Superkraftstoffpreises ab Raffinerie entspricht. Beides scheint nicht unmöglich zu sein.
Um die Chancen voll nutzen zu können, muß die Politik rechtzeitig die zeitlichen und materiellen Ziele bestimmen.
Für die Übergangszeit bis zur eigenen Wirtschaftlichkeit könnte mit gutem Gewissen ein Teil der später entfallenden Marktordnungsausgaben verwendet werden, um Äthanol schon jetzt als Treibstoffzusatz wirtschaftlich einsetzen zu können. Dies wäre nach Meinhold auch erreichbar, wenn man sehr ertragreiche Hackfrüchte in Großanlagen verarbeitete und die zur Zeit noch vorhandene Erlösunterdeckung von 20 Pfennig je Liter Alkohol im Rahmen einer Mischkalkulation durch eine Erhöhung des Verbraucherpreises für Vergasertreibstoff um ca. 1 Pfennig, höchstens jedoch um 2 Pfennige je Liter ausgliche.
Es gibt sehr ernst zu nehmende Stimmen, die einer Nutzung der bereits vorhandenen, aber unzureichend genutzten landwirtschaftlichen Brennereien von über 4 000 hl jährlicher Brennkapazität wirtschaftlich den Vorzug gegenüber Großanlagen geben. Dies sollte möglichst rasch nachgeprüft werden.
Eine technisch vertretbare Beimischung von 5 % Äthanol zum Vergasertreibstoff würde allein in der Bundesrepublik Deutschland eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 200 000 ha der Überschußproduktion entziehen. Selbst wenn in der Übergangszeit die noch bestehende Kostenunterdeckung aus dem Fonds für Marktordnung finanziert würde, käme diese Lösung billiger.
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Dr. Kunz
Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen dieser veränderten Nutzung vorhandener agrarischer Produktionspotentiale wären nicht geringzuachten:
1. verringerte Abhängigkeit von Ölimporten und Deviseneinsparungen,
2. Entlastung der Umwelt,
3. günstige Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt.
Es stellt sich die Frage: Wie kommen wir weiter mit unserem wichtigen Anliegen einer verstärkten Nutzung nachwachsender Rohstoffe? Was ist notwendig? Notwendig sind:
1. Intensivierung und Koordinierung aller Forschungsaktivitäten der Bundesländer, des Bundes und der Europäischen Gemeinschaft mit dem Ziel einer Schwerpunktbildung der einzelnen Forschungsanstalten und um Doppelforschung zu vermeiden.
2. Laufender Erfahrungsaustausch und womöglich Institutionalisierung der Zusammenarbeit von Forschung, Landwirtschaft und Industrie. Selbst eine Kooperation mit Übersee sollte, soweit dort entsprechende Gebiete bearbeitet werden, nicht ausgeschlossen werden.
3. Politische Willensbildung über die Einführung der Äthanolbeimischung zum Vergasertreibstoff auf nationaler und europäischer Ebene sowie Herbeiführung der notwendigen Beschlüsse über den Zeitpunkt ihrer Einführung.
4. Schaffung der dafür erforderlichen gesetzlichen und organisatorischen Voraussetzungen.
Der verstärkte Einstieg in den Sektor der nachwachsenden Rohstoffe wird auch der bäuerlichen Landwirtschaft ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Davon werden direkt wahrscheinlich zuerst die besseren Agrarregionen profitieren; die Marktentlastungen werden aber auch auf ungünstigen Standorten spürbar werden.
Um so wichtiger ist es, daß die Bundesregierung gerade im Bereich der Agrarsozialpolitik jetzt neue Akzente gesetzt hat. Während die SPD die Zuschüsse zur Unfallversicherung für die Landwirtschaft bis 1987 völlig abbauen wollte,
haben wir im letzten Jahr die ursprünglichen Zuschüsse von 279 Millionen DM wieder hergestellt und werden sie ab 1985 auf 400 Millionen DM anheben.
Die Zuschüsse für die landwirtschaftliche Altersklasse wollen wir ab 1986 spürbar aufstocken, und für die benachteiligten Agrarzonen gibt es Ausgleichszahlungen für ca. 4 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. Das ist etwa ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der Bundesrepublik. Das macht einschließlich der Länderanteile von 40 % einen Gesamtbetrag von 316 Millionen DM aus.
Wegen weiterer Verbesserungen wird zur Zeit noch verhandelt. Das ist fürwahr eine gewaltige Leistung im Bereich der Agrarsozialpolitik, für die ich an dieser Stelle dem verantwortlichen Minister Ignaz Kiechle herzlich danke.
Lassen Sie mich kurz noch einige Anmerkungen zum alternativen Landbau machen. Wir begrüßen es außerordentlich, daß Bundesminister Kiechle so ausführlich und ausgewogen auf die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN „Ökologischer Landbau und die Zukunft der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland" eingegangen ist. Wir wollen keineswegs die positiven Ansätze der alternativen Bewirtschaftungsformen verkennen, nämlich das Denken in Stoffkreisläufen, das Bemühen um umweltfreundliche Produktionsweisen und um die Herstellung qualitativ hochwertiger Nahrungsgüter. In unserer freiheitlichen Demokratie muß es jedem im Rahmen der gesellschaftlichen und rechtlichen Regelungen offenstehen, seinen Neigungen und Überzeugungen entsprechend zu leben und zu wirtschaften. Wir verwahren uns aber nachdrücklich dagegen, daß die nach herkömmlichen Methoden auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und mit Hilfe moderner Produktionsmittel wirtschaftenden Betriebe — das sind nicht weniger als 99,8 % aller Landwirte — in die Ecke der Umweltzerstörer und der Produzenten minderwertiger Nahrungsgüter gerückt werden sollen.
Meine Damen und Herren, eine Agrarpolitik, wie sie die GRÜNEN fordern, ist nach unserer Auffassung nicht vertretbar, zumal sich weder aus ökologischer Sicht noch unter dem Gesichtspunkt einer Produktion qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel die Notwendigkeit zu einer solchen Umstellung ergibt.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Wir sind dafür, daß die Alternativen im Landbau ihren angemessenen Platz in unserer Gesellschaft und in unserer Agrarwirtschaft einnehmen, daß sie an allen Förderungsmaßnahmen für die Landwirtschaft in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht teilhaben und daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse über diese Wirtschaftsform weiter geklärt werden. Wir gehen aber mit der Bundesregierung einig, daß den Alternativen im Landbau kein besonderer Stellenwert innerhalb der Agrarpolitik zuerkannt werden kann.
Schließlich noch einige Anmerkungen zum Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Einführung der offenen Deklaration. Meine Fraktion unterstützt die Beschlußempfehlung der Koalition auf Drucksache
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Dr. Kunz
10/2205, in der die Bundesregierung ersucht wird, erstens im Rahmen der Futtermittelverordnung zusätzlich zu der bisher vorgeschriebenen Angabe der Inhaltsstoffe eine Deklaration der Gemengeanteile in der Reihenfolge ihrer Gewichtsanteile — die sogenannte halboffene Deklaration — vorzuschreiben; zweitens sich in den Gremien der EG dafür einzusetzen, daß die angestrebte Regelung auch für die Futtermittelimporte aus Ländern der Europäischen Gemeinschaft gilt: drittens dieselbe Rückstandschadstoffregelung für Einzelkomponenten, wie sie für Mischfutter vorgeschrieben ist, zu treffen.
Den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN lehnt meine Fraktion ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schröder .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Debatte war von Besinnlichkeit und Hoffnung die Rede. Beschworen wurde der bäuerliche Familienbetrieb. Ich habe mich gefragt: Wie muß das eigentlich auf denjenigen wirken, der auf einem Grünlandbetrieb in der Wesermarsch oder in Ostfriesland sitzt, der schwer um seine Existenz ringt — der Milchkontingentierung und ihrer Auswirkungen wegen —
und hier nun gesagt bekommt, er solle doch besinnlich und hoffnungsvoll sein? Auf den muß das wie Zynismus wirken, wie nichts anderes.
— Wahrscheinlich ist es das auch.
Ich bin dafür, daß wir uns darüber verständigen, was denn die Ursachen der Schwierigkeiten sind, in denen sich bäuerliche Familienbetriebe befinden. Es nutzt gar nichts, ihre Existenz zu beschwören, wenn man sich nicht wenigstens über diese Ursachen verständigt. Ich glaube, die Ursache liegt in der Krise, in der sich europäische Agrarpolitik befindet. Daß sie in der Krise ist, dürfte inzwischen für alle Betroffenen — seien sie nun Verbraucher, Umweltschützer oder eben auch Bauern — offenbar geworden sein. Und kritisiert wird diese Politik ja auch.
Aber diese Kritik — das ist festzustellen — geht sehr selten ins Grundsätzliche. Sie bezieht sich, wenn sie überhaupt geleistet wird, im wesentlichen auf die leeren Kassen der EG, die angeblich die Korrektur dieser Landwirtschaftspolitik erzwingen. Im Grunde aber wird mit der vorherrschenden Philosophie des Durchwurstelns weitergemacht. Statt einer Neuorientierung findet lediglich eine Umverteilung der Kosten von der EG-Ebene auf die nationale Ebene statt.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Quotenregelung auf dem Milchmarkt,
eine Regelung, gegen die sich Sozialdemokraten gewandt haben, weil sie in der nationalen Ausgestaltung weder gerecht noch auch nur praktikabel ist.
Schauen Sie sich einmal das Hickhack mit den Härtefallregelungen an. Dann werden Sie selber erkennen, worüber ich rede.
— Herr Eigen, ich werde keine Zwischenfragen zulassen, weil der Sinn der Fragen, die Sie stellen, ja nicht der ist, etwas herauszukriegen, sondern allenfalls der, zu stören.
Ich sage: Die auf nationaler Ebene getroffenen finanziellen Hilfen kommen eben nicht den betroffenen Bauern zugute,
sondern diese finanziellen Hilfen, ungerecht angesetzt, säen Zwietracht in die Dörfer. Das Risiko einer solchen Politik verbleibt weiter bei den Verbrauchern, verbleibt bei den Steuerzahlern und vor allen Dingen bei den kleinen und mittleren bäuerlichen Betrieben.
— Wenn ich dann höre, ich hätte keine Ahnung und sei kein Experte, werter Herr, dann will ich Ihnen nur einmal sagen: Die Bauern in Niedersachsen, in Ostfriesland, in der Wesermarsch, haben die Schnauze von Experten Ihrer Couleur gestrichen voll. Das will ich Ihnen einmal sagen.
Denn die Politik, die Sie vorschlagen, folgt weiter dem Leitbild der industrialisierten Landwirtschaft; ein Leitbild, das nach meiner Auffassung überholt ist.
Wir können feststellen, daß diesem Leitbild der Ertragssteigerungen um jeden Preis eine ganze Menge geopfert worden ist. Ich nenne den Rückgang der Arten- und Pflanzenvielfalt in den Äckern und Wäldern, wie man ihn aus dem dramatischen Anwachsen der sogenannten Roten Listen ersehen kann. Ich nenne die Vielfältigkeit der bäuerlichen Betriebsformen, der Produktionszweige, die zugun-
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sten von hochspezialisierten Tier- und Pflanzenproduktionsfabriken aufgegeben wurden.
Ich nenne die große Zahl der vernichteten Arbeitsplätze in der Landwirtschaft,
und ich nenne nicht zuletzt die Vielfältigkeit und die Selbständigkeit der Lebenszusammenhänge im ländlichen Raum.
Den Kritikern der hochspezialisierten landwirtschaftlichen Produktionsweise wird häufig vorgeworfen, sie hingen einer vorindustriellen Idylle an, die nie existiert habe. Sie wollten ein Zurück zur Natur und nähmen dafür in Kauf, den Hunger in der Welt weiter hinzunehmen, für dessen Beseitigung angeblich nur diese industrielle Produktionsweise bürgen könne. Abgesehen davon, daß die Überproduktion in der EG nicht zur Beseitigung des Hungers in der Welt beiträgt, kann es nach meiner Auffassung eben nicht darum gehen, Maschinenstürmer zu spielen. Das sind Sozialdemokraten nie gewesen, und sie werden es auch nicht werden.
Wir wissen, daß durch den Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen in weiten Bereichen die schwere körperliche Arbeit ersetzt wurde. Wir wissen auch, daß durch den Einsatz von Maschinen das Produktionsrisiko des Bauern, etwa die übergroße Abhängigkeit vom Wetter, vermindert wurde. Wir wissen, daß der Einsatz von elektronischen Geräten in Viehställen eben auch bedeutet, daß sich die bäuerliche Familie wenn schon nicht eine Fünf-, so doch eine Sechs-Tage-Woche gönnen kann. Dies alles wissen wir. Technikeinsatz in der Landwirtschaft heißt eben auch Verbesserung der bäuerlichen Lebensbedingungen,
bedeutet einen Gewinn an Unabhängigkeit von unterschiedlichen Bodenqualitäten, von natürlichen Risiken, wie Wetter, Schädlingsbefall und Seuchen. Die Verheißung der Aufklärung, daß der Mensch die Natur beherrsche und sie sich samt ihrer Gesetzmäßigkeiten dienstbar mache als eine Bedingung für die Möglichkeiten menschlicher Freiheit, diese Verheißung ist in ungeahntem Maße in der landwirtschaftlichen Produktion Wirklichkeit geworden. Diesen aufklärerischen und befreienden Aspekt des Einsatzes von Technik und Naturwissenschaft in der Landwirtschaft zu leugnen oder ihn auch nur zu verteufeln kann und wird weder das Anliegen von Sozialdemokraten noch mein Anliegen sein.
Besonders hierdurch unterscheiden sich Sozialdemokraten, Frau Vollmer, von den GRÜNEN. Es geht uns nicht nur darum, wie es mindestens in Teilen der Wählerschaft der GRÜNEN vertreten wird, die Natur um der Natur willen zu erhalten und den Menschen als Teil eines Ökosystems zu begreifen, nein, es geht uns um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, die sich nicht freiwillig einen asketischen Lebenswandel auferlegen wollen.
Wir lassen das Ziel der Nahrungssicherung nicht aus dem Auge, aber wir sehen auch die andere Seite der Medaille.
— Herr Baron, es wäre ganz sinnvoll, wenn Sie einmal zuhören würden, statt dazwischenzuschreien.
Es geht hier nämlich um ein Problem, das vielleicht nicht Sie betrifft, der Sie als Großgrundbesitzer rumrennen. Aber das betrifft sehr viele kleine und mittlere bäuerliche Familienbetriebe, deren Wohl und Wehe Sie angeblich immer im Munde führen.
Ich sagte, wir sehen auch die andere Seite der Medaille. Wir sehen die Sachzwänge, denen der einzelne Landwirt ausgeliefert ist, um in dem Wettbewerb mithalten zu können, dem er trotz der hohen öffentlichen Subventionen ausgesetzt ist.
Diesem Wettbewerb kann er sich mit dem Zwang zur Rationalisierung, zum Einsatz von Düngern, Pestiziden, Kraftfutter und wie die Produkte der pharmazeutischen und chemischen Industrie heißen mögen, kann er sich nicht entziehen, wenn er nicht die Existenz seines Hofes und damit seine und die Lebensgrundlagen seiner Familie aufs Spiel setzen will und der gleichwohl häufig genug aufgeben mußte.
Dabei erkennen wir natürlich auch, daß die Parole „Hin zum alternativen Betrieb mit naturnaher Anbauweise" nur für einen sehr geringen Teil der Betriebe möglich sein kann
und auch nur dann, wenn diese Bauern starke Einschränkungen in bezug auf ihren Lebensstandard und ihre Arbeitszeit hinnehmen. Für den gesamten Agrarsektor ist dies sicher keine Lösung, wenn es auch interessante Ansatzpunkte gibt, die dort durchaus gefördert werden sollten, wie die hessischen Sozialdemokraten
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— mit den GRÜNEN, selbstverständlich — dies vorhatten und durchführen werden.
Dies sind Ansätze, die Sie nicht verteufeln sollten, sondern bei deren Entwicklung Sie mithelfen sollten.
Ich will noch einen weiteren Aspekt aufgreifen: die Zerstörung der Sozialstrukturen im ländlichen Raum im Gefolge der Durchsetzung einer verfehlten Landwirtschaft, die nur industrielle Produktionsverfahren kennt. Das Dorf wird mehr und mehr entleert,
die jungen Leute in den Dörfern pendeln in die nächste Stadt oder zur nächsten Industrieansiedlung, die Eltern, zeitlebens selbständige Bauern, müssen in der Mitte ihres Lebens umsatteln, erhalten aber angesichts von Ihnen zu verantwortender Arbeitslosigkeit nur selten qualifizierte Jobs.
Der Verlust der Menschen wird greifbar, er wird öffentlich. Sie fangen durchaus an, sich zu wehren, sie merken das, und auch die Spitzen des Bauernverbandes merken dies. Darum sind Sie so nervös, daß Sie nicht einmal in Ruhe zuhören können oder wollen.
Ich wollte mit meinen Bemerkungen deutlich machen, daß es nicht darum gehen kann, über Einzelmaßnahmen wie die Kleinbauernförderung, über die Quotenregelung oder ähnliches nur zu reden, sondern daß es auch darum gehen muß, eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Agrarsektor zu erreichen. Wir müssen endlich von der Aus-der-Hand-in-den-Mund-Politik im Agrarbereich wegkommen, die stets nur Löcher stopft, um sie an anderer Stelle wieder aufzureißen.
Ich will Ihnen eines sagen: Ich stelle mich doch nicht hier hin und behaupte, daß das, was ich hier an verfehlter Agrarpolitik kritisiere, in Ansätzen nicht auch in der Vergangenheit von Sozialdemokraten gemacht worden wäre. Darum geht es doch überhaupt nicht.
Aber was nutzt es denn, das zu tun, was Sie hier ständig betreiben, nämlich eine Idylle zu beschwören,
sich aber der Notwendigkeit, die Fehler zu erkennen und Veränderungen mitzutragen, zu verschließen?
Dies ist doch überhaupt keine sinnvolle Politik.
Ich will das, was wir zu tun haben, mit einer Frage umreißen.
Was passiert in einer Landwirtschaft, die sich wesentlich über ihre Produktionsfunktion, über ihre Aufgabe, Nahrungsmittel und Rohstoffe zu verbraucherfeindlichen Preisen zu liefern,
definiert hat
und deren Selbstverständnis angesichts der Überproduktion leiden muß? Was soll jemand von seiner Arbeit halten, die in den Augen der Öffentlichkeit — darum geht es doch auch, was Bauern angeht —
lediglich dazu zu dienen scheint, Weinseen, Milchseen, Butterberge und Zuckerhalden zu produzieren? Es geht doch auch um das Selbstverständnis der Menschen in den Betrieben.
Es geht auch darum, hier nicht einen Konflikt zwischen denen, die im industriellen Sektor arbeiten, und denen, die in der Landwirtschaft arbeiten, entstehen zu lassen.
Sie werden diesen Konflikt aber mitproduzieren,
wenn Sie nicht darangehen, durch Agrarpolitik die Überproduktionskrise zu lösen. Das ist die eigentliche Aufgabe, vor der wir stehen.
Deswegen glaube ich, daß eine Agrarpolitik, die daran ausgerichtet bleibt,
Einkommen von Bauern allein über den Preis zuzuteilen, ihre Wirkungen niemals wird erreichen können.
Sie scheitert an den Finanzierungsmöglichkeiten nicht nur auf EG-, sondern auch auf nationaler Ebene, und sie beläßt die Bauern in einem dreifachen Zwang. Wenn Einkommen allein über den Preis zugeteilt werden soll, führt das dazu, daß derjenige, der Einkommenssteigerungen erzielen will — das müssen die bäuerlichen Familienbetriebe —, größer werden muß, immer intensiver wirtschaften muß
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und immer abhängiger von der Landmaschinenindustrie werden wird. Das sind die Folgen, wenn es so weitergeht wie bisher.
— Ich sage Ihnen jetzt etwas zur Alternative, und zwar jenseits dessen, was ich hier aufgeschrieben habe. Die Alternative besteht darin, daß wir endlich einmal anfangen müssen, uns zu überlegen, was ein Bauer tagtäglich tut.
Er produziert einerseits Lebensmittel.
— Auch Sie, Herr Waigel, sollten sich das einmal überlegen. — Für die Produktion von Lebensmitteln muß er am Markt einen Preis erzielen können. Die Gesellschaft, in der wir leben, muß nur wissen, daß dieser Preis niemals seine Einkommenserwartungen wird zufriedenstellen können.
Deshalb muß der Bauer von der Gesellschaft auch für jenen Teil seiner Arbeit entlohnt werden, die nicht Lebensmittelproduktion ist,
für den Teil, den ich einmal mit Landschaftspflege bezeichnen möchte.
Sie können bäuerliche Tätigkeit in zweifacher Weise bewerten, einmal als Lebensmittelproduktion und einmal als Landschaftspflege. Nur dann, wenn Sie bereit sind, mit uns zusammen der Gesellschaft zu sagen, daß die Gesellschaft auch für den Teil bezahlen muß, der Landschaftspflege ist, jedenfalls sein könnte,
und daß, was sie dafür bezahlen muß, nicht über den Preis allein bezahlt wird, werden Sie im Ansatz Veränderungen mitbewirken können. Sind Sie nicht bereit, eine solche Landwirtschaftspolitik mitzukonzipieren,
kommen Sie besser nicht mehr hierher und quatschen über die Existenz bäuerlicher Familienbetriebe.
Es besteht der mächtige Verdacht, daß Sie sie nicht nur nicht sichern können, sondern auch nicht sichern wollen, sondern daß Sie lediglich eine verquaste Ideologie verbreiten wollen,
die den Bauern Sand in die Augen streuen soll, ihnen aber weder helfen wird noch, wie ich vermute, helfen soll — mit Ausnahme vielleicht der paar, die hier im Deutschen Bundestag sitzen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schröder, zunächst einmal ganz kurz zu Ihnen als niedersächsischer Landsmann und zu Ihrer agrarpolitischen Jungfernrede, die sicherlich schon auf das abgestimmt ist, was in Niedersachsen 1986 bevorsteht.
Sie haben hier beklagt, die Tierfabriken, die industrielle Landwirtschaft habe unheimlich zugenommen. Ich muß nun doch wirklich fragen: Ist das allein das Problem dieser Regierung? Ist das allein das Problem der letzten zwei Jahre?
— Gut, wenn Sie das zugeben, müssen wir uns sicherlich Gedanken machen, wie wir diese Agrarfabriken eindämmen.
Herr Abgeordneter, einen Augenblick.
Herr Kollege Immer, Sie sind einer der nächsten Redner. Sie sollten sich das alte Sprichwort zu Gemüte führen: Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg auch keinem andern zu.
Herr Kollege, wir haben hier Vorschläge gemacht. Es bedarf hierzu konkreter politischer Entscheidungen. Polemik hilft uns dabei überhaupt nicht weiter.
Noch ein Wort möchte ich aufgreifen. Sie haben von verbraucherfeindlichen Preisen gesprochen. In welchem Lande leben Sie eigentlich?
Wissen Sie nicht, daß noch vor zehn Jahren 25 % des
Einkommens des Beamten, des Arbeiters für Nahrungsmittel ausgegeben wurden, daß wir aber heute
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bei knapp 18% sind? Diese Entwicklung können Sie doch nicht leugnen.
Sie sprachen davon, wir brauchten eine Neubestimmung. Ich bin gerne bereit, darüber ernsthaft zu diskutieren. Aber dann lassen Sie bitte die Polemik! Ich habe immer den Eindruck, Ihnen geht es darum, einen Keil in die Landwirtschaft zu treiben. Sie sprechen immer von Großen und Kleinen. Sie wollen innerhalb dieser Landwirtschaft umverteilen. Wir haben die Probleme. Das ist überhaupt nicht abzustreiten. Aber ich glaube, wir sollten diese Dinge ernsthaft miteinander diskutieren.
Nachdem mein Kollege Hans Paintner die Vorstellung der Freien Demokraten zur Weiterentwicklung des bäuerlichen Familienbetriebes in seiner Rede aufgezeigt hat, möchte ich ganz kurz zu unserem Antrag zur Änderung der Futtermittelverordnung Stellung nehmen. Es war ja die FDP, die zu Beginn dieser Legislaturperiode, nämlich im April 1983, diese Forderung erhoben hat. Ich erinnere hier an die Sitzung des Agrarausschusses vom 17. Oktober 1984, in der die CDU/CSU- und die FDPFraktion beantragt haben, im Rahmen der Futtermittelverordnung zusätzlich zu der bisher vorgeschriebenen Angabe der Inhaltsstoffe eine Deklaration der Gemenganteile zumindest in der Reihenfolge ihrer Gewichtsanteile, also die halboffene Deklaration, vorzuschreiben.
Ich bin allerdings sehr erstaunt gewesen, daß die Beamten des Bundeslandwirtschaftsministeriums dem Kabinett eine Vierte Änderungsverordnung zur Futtermittelverordnung zugeleitet haben, worin diese unsere Forderung überhaupt nicht berücksichtigt ist. Ich bin als Parlamentarier nicht bereit, es hinzunehmen, daß ganz konkret auf dem Tisch liegende Forderungen von der Ministerialbürokratie nicht berücksichtigt werden. Die immer wieder vorgebrachten Bedenken bezüglich der Nachprüfbarkeit der Anteile von Einzelkomponenten entbehren jeglicher Grundlage; denn schließlich ist über die Buchführungspflicht und die Aufzeichnung der Warenein- bzw. -ausgänge genau kontrollierbar, welche importierten Einzelfuttermittel die Hersteller von Futtermitteln jeweils verarbeiten. Auch neuere Untersuchungen in Bayern zeigen, daß der Getreideanteil mit geringen prozentualen Abweichungen eindeutig festgestellt werden kann.
Ich begrüße es daher außerordentlich, daß das Land Bayern im Bundesrat einen Vorstoß unternommen hat mit einem Antrag, der über unseren Beschluß im Agrarausschuß noch hinausgeht, nämlich die Gemenganteile im Mischfutter prozentual, also offen, anzugeben. Der Agrarausschuß des Bundesrates hat ja zugestimmt. Falls dieser Antrag am 20. Dezember im Bundesrat positiv entschieden wird, möchte ich schon jetzt das Bundesministerium auffordern, diesen Vorschlag zu übernehmen, damit wir im Rahmen der Vierten Änderungsverordnung endlich wieder zur offenen Futtermitteldeklaration kommen.
Meine Damen und Herren, in der Agrarpolitik der nächsten Jahre wird es entscheidend darauf ankommen, zielstrebig zu versuchen, mit unterschiedlichen Problemen fertig zu werden. Erstens müssen wir die Rahmenbedingungen für die Erwirtschaftung eines angemessenen bäuerlichen Einkommens günstig gestalten. Zweitens müssen wir volkswirtschaftlich nicht mehr zu verantwortende Überschüsse verhindern. Drittens müssen wir, gerade weil wir ein Industrieland sind, den ökologischen Belangen vermehrt Berücksichtigung schenken. Dabei muß es gelingen, sowohl dem Natur- und Umweltschutz Genüge zu tun als auch das Gleichgewicht auf den überlasteten Agrarmärkten langfristig wiederherzustellen.
Deshalb machen wir Liberalen den, wie ich meine, vernünftigen Vorschlag, zur Überschußverminderung Flächen aus der landwirtschaftlichen Nutzung herauszunehmen oder landwirtschaftlich nur noch extensiv zu nutzen.
Diese Flächen können dann für Natur- und Biotopschutzaufgaben verwendet werden oder als großflächige Wasserschutzgebiete ausgewiesen werden. Keinem Landwirt ist aber zuzumuten, größere Flächen für solche Zwecke völlig unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Dies würde die ohnehin schon strapazierte Sozialpflichtigkeit des Eigentums bei weitem überschreiten. Finanzielle Mittel, die jetzt noch für die Überschußbeseitigung zur Verfügung gestellt werden müssen, könnten für Entschädigungszahlungen an die Landwirte oder zum Ankauf von schützenswerten Flächen genutzt werden. Bei intakter Landwirtschaft ließe sich so die fortlaufende Bedrohung der Artenvielfalt eindämmen.
Die FDP fordert, daß mit diesen Maßnahmen unverzüglich begonnen wird. In diesem Sinne ist auch unser Antrag nach einer Umverteilung der finanziellen Mittel in der Gemeinschaftsaufgabe im Einzelplan 10 des Haushalts 1985 zu verstehen.
Zwei der hier zu behandelnden Drucksachen der GRÜNEN sind dem alternativen Landbau gewidmet. Lassen Sie mich dazu einen „alten Hut" in der Argumentation aufgreifen. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß der totale Verzicht auf Dünger und Pflanzenschutzmittel auf allen unseren Flächen ein Rückschritt in die vor-Liebigsche Zeit wäre und die Versorgung unserer Bevölkerung mit gesunden Nahrungsmitteln zu angemessenen Preisen in Frage stellen würde.
Gerade wenn wir über die westeuropäischen Grenzen hinausschauen, in die Entwicklungs-, aber auch die Staatshandelsländer, dann sehen wir, daß die totale Kehrtwende auf gar keinen Fall sinnvoll sein kann.
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In einer Untersuchung, die die Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie durchgeführt hat, werden die Ursachen für die Gefährdung der Artenvielfalt aufgelistet. Die Anwendung von Herbiziden rangiert bei den Gefahren für wildwachsende Pflanzen erst an achter Stelle und kommt noch nach dem mechanischen Einwirken durch Spaziergänger als Auswirkung des Tourismus. Ich halte dieses Ergebnis deshalb für interessant, weil die Agrarchemie, der ich keineswegs einen Freifahrtschein ausstellen möchte, hinsichtlich ihrer Gefahren für den Artenschutz oft zu Unrecht verteufelt wird. Agrarchemie ist ein abwertender Begriff für Düngung und Pflanzenschutz. Daneben steht heute eine völlig neue Wortkreation der GRÜNEN im Raum, nämlich die „Agrargifte". Ich kann nur davor warnen, neue Worte in eine Debatte zu werfen, die emotional aufgeladen ist.
— Damit, Frau Vollmer, tut man weder der Landwirtschaft noch einer sachlichen Diskussion über ihre Probleme einen Gefallen.
Das Gerede von Agrargiften verunglimpft auch in hohem Maße die modernen Landbaumethoden. Der alternative Landbau muß als eine Form der Landbewirtschaftung neben anderen gesehen werden. Er wird durch unsere Agrarpolitik genauso gefördert wie der konservative Landbau. Die Auswüchse überzüchteter Technikfeindlichkeit lassen sich sehr gut an dem medienwirksamen Ausspruch: „Unser täglich' Gift gib uns heute" darstellen. Bisher zeigt aber keine wissenschaftliche Untersuchung einen Unterschied zwischen der Qualität konventionell und alternativ erzeugter Nahrungsmittel. Es stellt sich keine Alternative zwischen konventionellem und sogenanntem alternativen Landbau. Dem letzten gingen Preisvorteile und Marktchancen sogar verloren, wenn Ihre Produktionsweise allgemein übernommen würde.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich möchte noch kurz auf die uns vorliegenden Entschließungsanträge der SPD und der CDU/CSU/FDP eingehen. Dabei berührt es mich eigenartig, daß wir die Entschließungsanträge, die wir hier im März 1984 gestellt haben, erst heute diskutieren.
Der Punkt 1 des Entschließungsantrages der SPD — um kurz darauf einzugehen —, wo es um die Quotenregelung geht, findet durchaus meine Sympathie. Wir müssen aber heute feststellen — das ist hier schon gesagt worden —, daß die CDU, die CSU, unser Bundeslandwirtschaftsminister und der Deutsche Bauernverband — sprich: das Präsidium des Deutschen Bauernverbandes — gegen den Widerstand der Freien Demokraten für die Milchkontingentierung eingetreten sind und daß der Ministerrat in Brüssel die Garantiemengenregelung für Milch beschlossen hat. Jetzt ist es, meine ich, unsere Pflicht, die negativen Auswirkungen dieser Kontingentierung auf unsere bäuerlichen Betriebe durch sinnvolle agrarpolitische Entscheidungen abzufedern.
Dazu kann ich nur sagen, daß z. B. die Milchrente — leider, muß ich sagen — von den Kollegen der SPD nicht mitgetragen wurde. Das war eine solche Maßnahme.
Und, Herr Sauter, weil Sie es gesagt haben, muß ich noch kurz darauf eingehen: Es darf nicht dazu kommen, Herr Sauter, wie es nach meinen Informationen in Kanada geschehen ist, daß nach der Einführung der Milchkontingentierung 40 % aller milchproduzierenden Betriebe ihre Existenz verlieren.
Außerdem sagen Sie hier heute — das habe ich allerdings noch nie gehört —, die Mitverantwortungsabgabe sei besonders nachteilig für den kleinen und mittleren Betrieb gewesen. Ich höre bisher immer — wir wissen alle, die Kontingentierung trifft die kleinen Betriebe besonders hart —: Aber ihr, FDP, trefft mit der Mitverantwortungsabgabe besonders die Großen. Das trifft natürlich auch nicht zu. — Das ist mir ganz neu, und ich möchte wirklich bitten, diese Diskussion in unserem wohlverstandenen Interesse zu beenden. Sie wissen, daß die Wissenschaft, z. B. Professor Wolfram, Überlegungen, Berechnungen angestellt hat, daß eine Kombination von Mitverantwortungs- und Nichtvermarktungsprämie sowohl aus landwirtschaftlicher wie gesamtwirtschaftlicher Sicht eine sehr viel effizientere Lösung dieser Probleme wäre. Das muß man doch auch einmal feststellen.
In den Punkten 2 und 3 des Antrages der SPD fordern Sie einen Ausgleich für die Einkommensverluste der deutschen Landwirtschaft als Folge des Abbaus des Grenzausgleichs. Hier haben wir allerdings gehandelt, muß ich sagen. Durch die Erhöhung der Vorsteuerpauschale um 5 % werden die für die deutsche Landwirtschaft auftretenden Nachteile durch den Abbau des Grenzausgleichs ausgeglichen. Als es allerdings bei der Entscheidung des Deutschen Bundestages darum ging, konkret zu helfen, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie leider die Erhöhung abgelehnt.
In Punkt 4 des SPD-Entschließungsantrages wird eine sozial gerechtere Staffelung der Zuschüsse zur landwirtschaftlichen Altershilfe gefordert. Auch hier haben die Koalitionsfraktionen in einem Entschließungsantrag im Ernährungsausschuß die Bundesregierung aufgefordert, ab 1986 zusätzliche Mittel bereitzustellen.
— Ich komme zum Schluß. — Hier wollen wir im Rahmen des Dritten agrarsozialen Ergänzungsgesetzes gezielt einkommensschwache Betriebe bei ihren Beiträgen entlasten. Leider haben die SPDKollegen im Ausschuß diesem Antrag nicht zugestimmt.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8291
Bredehorn
Meine Damen und Herren, die FDP ist bereit, ihren Anteil dazu beizutragen, daß unsere Landwirte und ihre Familien, die mit Fleiß und Können ihre Höfe bewirtschaften, auch in Zukunft eine Chance haben.
Danke.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einem Zitat beginnen: „Mit der EG-Agrarpolitik konnte es im alten Schlendrian nicht weitergehen; ständig steigende Überschüsse und Milliardenbeträge für ihre Beseitigung haben den Brüsseler Haushalt überfordert." Das ist der Nestor der Agrarpolitik der SPD gewesen, Herr Dr. Schmidt , vom März dieses Jahres. Wie wahr!
Meine Damen und Herren, die Debatte hat bis jetzt nichts Neues gebracht, sehr viel Polemik, was mich nach den Erfahrungen nicht verwundert; wir hatten j a in den letzten Wochen schon mehrere Agrardebatten. Ich bedaure das. Aber lassen Sie mich ein paar Dinge hier noch einmal zusammenfassend feststellen.
Ich will mich da zu erst einmal mit den Gedanken und den Vorstellungen der Opposition befassen, insbesondere mit denen der SPD. Da waren es Herr Müller und zu meiner Überraschung auch Herr Schröder aus Niedersachsen, die hier die Auffassungen der Fraktion vertreten haben.
Die SPD, meine Damen und Herren, will die Agrarpreise senken. Sie formuliert diese Aussage zwar vorsichtig, aber es ist ganz unstrittig.
Indem sie beispielsweise fordert, die Erhöhung der Mehrwertsteuerpauschale rückgängig zu machen, will sie zweifellos die Preise senken. Ich habe mich mal bemüht, ein bißchen in die Aussagen der SPD, soweit sie schriftlich festgehalten sind, zurückzugreifen. Bevor ich auf die aktuellen Aussagen von heute eingehe, möchte ich Ihnen diese hier kurz vortragen.
Im Apel-Papier steht zur Milchmarktpolitik:
Begrenzung der Absatzgarantie durch schrittweise Umwandlung der bisherigen Interventionspflicht bei Butter, Magermilchpulver, Käse in eine fakultative Regelung, bei Magermilchpulver eventuell auch völlige Einstellung der Intervention, Kürzung der Magermilchpulverbeihilfe, eventuell verstärkte Förderung der Verfütterung von Magermilch. Solange die vorgesehenen Maßnahmen nicht zu ausreichenden Kosteneinsparungen führen: gleichmäßige Anhebung der Mitverantwortungsabgabe für
alle angelieferte Milch, Prinzip kostenneutraler Überschußverwertung, keine neuen Prämien zur Verringerung des Milchkuhbestandes.
Herr Schröder, es wäre gut, wenn Sie einmal nachlesen würden, was eine Kommission Ihrer Partei zur künftigen Politik gesagt hat.
Dann haben Sie hier gesagt, in der Landwirtschaft sei die Vernichtung von Arbeitsplätzen zu beklagen, das Leitbild der industrialisierten Landwirtschaft sei überholt und einiges andere mehr,
— doch, ich habe es mitnotiert — wobei Sie dankenswerterweise gesagt haben, wir müßten endlich anfangen, darüber nachzudenken, was ein Bauer täglich tue. Das war das „Geistreichste", was ich heute gehört habe.
In demselben Apel-Papier auf Seite 17 sagen Sie aber:
Die vorgeschriebene Abschwächung der Absatz- und Preisgarantie macht es erforderlich, daß ein struktureller Anpassungsprozeß das wichtigste Element für die Einkommensverbesserung der in der Landwirtschaft Beschäftigten sein wird, und unter diesem Gesichtspunkt verbieten sich Maßnahmen, die den strukturellen Wandel unangemessen verlangsamen könnten.
Also, was ist nun? Es ist keine Diskussion möglich, wenn der eine so schreibt, der andere so sagt, wenn vor zwei Jahren schriftlich durch Kommissionen niedergelegte Aussagen heute nicht mehr gelten. Jedenfalls ist keine seriöse Diskussion möglich. Wenn ich mir die Entschließung der SPD-Fraktionen des Bundes und der Länder vom 22./23. November 1984 in Wiesbaden ansehe, kann ich diese Aussage nur noch bekräftigen. Es tut mir leid, aber Sie müssen sich schon einmal vorher darauf einigen, was denn nun tatsächlich gewollt ist. Und dann sollten Sie bitte auch noch begründen, warum Sie das alles in zehn Jahren nicht gemacht haben.
Wenn Sie erst jetzt darauf kommen, daß dieser forcierte Strukturwandel zu Lasten der mittleren und kleinen Betriebe ging, dann sollten Sie das hier wenigstens offen bekennen.
Meine Damen und Herren, unsere Politik, also die Politik der Bundesregierung Kohl, ist das, was Sie hier bis jetzt vorgetragen haben, nicht. Unsere Grundsätze sehen anders aus. Was wir wollen, ist folgendes: Wir wollen, um die unangemessen gestiegenen. Überschüsse zurückfahren zu können, die produzierten Mengen zurückfahren, aber die Preise für unsere Bauern halten, garantieren und im Rahmen dessen, was in einem solchen Konzept möglich sein wird, auch wieder der Kostenlage und der Inflationsentwicklung anpassen. Wenn ich von „Zurückfahren der Mengen" rede, meine ich: Sie müs-
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Bundesminister Kiechle
sen auch dort zurückgefahren werden, wo billiger erzeugt werden kann. Das können hafennahe Standorte sein, das kann dort sein, wo es wie in England hervorragende Betriebsstrukturen gibt, kurzum: Es muß EG-weit zurückgefahren werden. Daß wir dies erreichen, zeigt unser Konzept bei der Milchmengen- oder Garantiemengenregelung. Da mögen Sie noch so viel an Einzelheiten herumkritisieren. Die Schweizer haben fünf Jahre gebraucht, um dieses System einigermaßen wirksam zu machen. Die Österreicher haben auch nicht viel weniger lange gebraucht. Auch wir können das nicht in sieben Monaten perfekt regeln, was wir im übrigen in einer Art Reparatur dessen machen müssen, was unter Ihrer Regierung schiefgelaufen ist.
Wir wollen mit dieser Konzeption die Marktordnung erhalten.
Wenn Sie uns dabei nicht unterstützen können, sagen Sie es. Wenn Sie die Preise frei laufen lassen und dem Stärksten wie in einem Wolfsrudel die größte Überlebenschance lassen wollen, sagen Sie es doch deutlich.
Wir wollen das nicht, deshalb unsere Maßnahmen. Wir wollen die Marktordnungen dadurch erhalten, daß wir sie wieder kalkulierbar und finanzierbar machen. Dies bedeutet eben einen Mindestschutz bei den Preisen für unsere Bauern.
Daß das alles in größter Gefahr war, hat ja Dr. Martin Schmidt mit diesem Zitat, das den ersten Satz seiner Stellungnahme darstellt, ganz klar zum Ausdruck gebracht. Ich kann ihm darin nur zustimmen.
Meine Damen und Herren, nur bei begrenzten verkaufsfähigen Mengen kann es eine tatsächlich wirksame Preisgarantie und damit auch das Garantiemengensystem bei der Milch geben. Wir werden damit eben den Verdrängungswettbewerb zu Lasten der Schwachen begrenzen können, zumal dieses System EG-weit wirksam ist, und wir werden auch verhindern, daß ein gnadenloses Sich-PlatzVerschaffen auf dem Rücken der weniger starken und weniger begünstigten Regionen stattfindet.
Vor allem werden wir damit endlich auch wieder einmal mehr Spielraum für preispolitische Notwendigkeiten bekommen.
Daß man das alles mit Vernunft und Augenmaß tun muß, versteht sich von selbst. Daß wir dafür auch eine gewisse Zeit brauchen, kann jeder Einsichtige erkennen; er muß es dann nur einer Regierung, die sich einer so schwierigen Aufgabe stellt, die diese auch angeht und nicht nur darüber redet, auch zubilligen.
Bei dieser Maßnahme und bei dieser Korrektur der Agrarpolitik werden wir die Bauern auch nicht in die Ecke der sogenannten unberechtigten Subventionsempfänger oder gar in das anrüchige Milieu von Subventionsbetrügern stellen, wie der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Wolfang Roth es getan hat.
Meine Damen und Herren, der Mehrwertsteuerausgleich ist für diese Bundesregierung nicht — wie Sie es ja wohl gesehen haben — ein gesetzwidriger Milliardencoup, sondern ein berechtigter mehrjähriger Ausgleich an die deutschen Bauern für den Abbau des Grenzausgleichs. Dieser Ausgleich ist umsatzbezogen, weil auch der Abbau des Grenzausgleichs umsatzbezogen ist.
Wenn Sie schon immer darüber reden, seien Sie doch bitte wenigstens im Parlament so freundlich, Ihre eigenen Begründungen nachzulesen, die Begründungen, unterschrieben von Bundeskanzler Brandt, die Sie seinerzeit gegeben haben, als Sie hier einen umsatzbezogenen Ausgleich für die damalige Aufwertungsmaßnahme durchgesetzt und fast zehn Jahre lang auch gewährt haben. In diesen Begründungen steht all das drin, Sie brauchen es nur selber nachzulesen. Sie haben doch auch keine Unterschiede zwischen umsatzstarken und umsatzschwachen Betrieben gemacht. Wenn Sie heute so scharf kritisieren, fällt diese Kritik, die ich für unberechtigt halte, auf Sie zurück.
— Ja, die ersten drei Jahre! Hören Sie auf damit! Nach drei Jahren haben Sie ihn abgebaut. Wir kennen das System j a. Ich werde nachher auch noch etwas zu Ihren Vorschlägen zum Flächenausgleich sagen.
Aus Ihrer damaligen Begründung will ich nur einmal zwei Sätze vorlesen: Fast alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse sind von Marktorganisationen der EG erfaßt. Bei allen wesentlichen Erzeugnissen werden die Preise dabei — man höre — in irgendeiner Form geregelt.
Sie beziehen sich in der damaligen Bundestagsdrucksache ausdrücklich darauf, daß das ein umsatzbezogenes Geschehen ist. Heute aber tun Sie so, als ob wir Klassenkampf oder etwas Ähnliches betreiben wollten.
— Den gab es genau vier Jahre degressiv,
und dann war er weg. Ich kann mich nur fragen,
was eine solche Taktik soll. Das ist Klassenkampf,
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Bundesminister Kiechle
nicht soziales Gewissen, Klassenkampf und sonst gar nichts!
Hinzufügen muß ich noch: Gerade die Partei, die mit ihrer Förderungskonzeption über lange Zeit hinweg ein Zweiklassensystem praktiziert hat, die nämlich — meine Damen und Herren, das ist unter Ihren Kanzlern geschehen — in förderungswürdige und nicht förderungswürdige deutsche Bauern eingeteilt hat, will uns nun sagen, wir würden ungerecht vorgehen, nämlich die Großen besser und die Kleinen schlechter behandeln.
Die Vorschläge zu den direkten Einkommensübertragungen, die Sie machen, sind wieder einmal einige dieser beglückenden Vorschläge, die jetzt kommen, wo Sie auf den Oppositionsbänken sitzen. Das hätten Sie zehn Jahre lang machen können!
Ich glaube, daß der in Ihrer Regierung für die Agrarpolitik Verantwortliche froh gewesen wäre, wenn Sie ihn in diesen Punkten mehr unterstützt hätten.
Im übrigen zu den Haushaltsmitteln: Die SPD hat uns doch — und wir sehen das — vorexerziert, wie schnell man einen grundsoliden Haushalt zur Nichtfinanzierbarkeit herunterwirtschaften kann. Wie stünden unsere Bauern dann jetzt da? Die Preise kaputt und Zahlungen aus dem Bundeshaushalt nicht mehr möglich!
Vor einer solchen Entwicklung wollen wir sie schützen.
Sie, meine Damen und Herren, haben uns bei der Unfallversicherung und bei der Verschiebetaktik mit der Dieselölsteuerrückerstattung vorexerziert, wie das dann läuft! Nein, meine Damen und Herren, dieses Bundesregierung hält nichts von direkten Einkommensübertragungen als von einem globalen und die Preispolitik ersetzenden Einkommensinstrument.
Wir wissen allerdings sehr wohl, daß Einkommensübertragungen, wenn sie regional und sachlich begrenzt sind, durchaus ein hervorragendes Mittel der Ergänzung der Einkommenspolitik sind.
So werden wir es, und zwar speziell zugunsten kleinerer und mittlerer Betriebe, auch handhaben, danach werden wir auch handeln. Auch haben wir j a in schwieriger finanzieller Zeit bewiesen, daß wir darüber nicht nur reden. Denn immerhin — das ist heute schon mehrmals gesagt worden — haben wir die Mittel im Bereich des Flächenausgleichs von insgesamt 65 Millionen auf 190 Millionen DM allein beim Bund erhöht.
Auch bei der Unfallversicherung haben wir unsere Ankündigung gehalten: Es gibt hier jetzt wieder 400 Millionen DM Zuschuß an Stelle dessen, was Sie ja längst gestrichen hatten.
Natürlich kann man, meine Damen und Herren, in einer dynamischen Wirtschaft niemandem eine Besitzstandsgarantie geben,
weil es eben keine totale Sicherheit gibt. Die hat niemand, kaum jemand. Ich kenne eigentlich niemanden, der eine totale hat, nicht einmal die Beamten haben eine totale Besitzstandsgarantie. Wir wollen den Strukturwandel also nicht etwa total verhindern —
das ist nicht beabsichtigt, wäre auch nicht möglich —, aber wir werden alles tun — nicht nur mit Worten —, um den bäuerlichen Familienbetrieben weiterhin einen besonderen Schutz zu gewähren, damit sie ihre vielfältigen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Funktionen auch wahrnehmen können.
Ich würde nun gerne noch ein paar Sätze zu den GRÜNEN sagen.
Die Zeit drängt leider. Daher nur noch ein paar Bemerkungen dazu. Ich habe eigentlich Hemmungen, etwas dazu zu sagen,
und zwar aus folgendem Grund: Ich habe nämlich Zweifel, ob die GRÜNEN überhaupt wirklich und mit Nachdruck Sachpolitik wollen oder ob man hier nur ein trauriges, parteitaktisches Polittheater spielt. Denn solange die GRÜNEN nicht gewillt sind — das sage ich an Ihre Adresse wirklich aus meiner Überzeugung heraus —, für ihre Forderungen auch Verantwortung zu übernehmen, solange sie sich der Einbindung in Entscheidungen verweigern, ist vieles oder das meiste von dem, was sie sagen — außer Schaumschlagen — nichts.
Jedenfalls kann man der deutschen Landwirtschaft
nicht mit bloßen Bildern helfen. Mit 40 Hühnern,
zehn Gänsen, fünf Kühen, zwei Schafen und ihrer
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Bundesminister Kiechle
Latzhosenphilosophie kann man vielleicht Folklore, aber keine vernünftige Agrarpolitik betreiben.
Dies muß man von der Idee gestaffelter Preise genauso sagen wie von Ihrer Absicht, so etwas nicht nur für die deutschen Bauern, sondern auch EGweit durchsetzen zu wollen. Insofern leisten Sie für unsere Bauern — außer einem Bärendienst — nichts.
Wir wenden uns gegen alle Versuche, durch gedankenloses um nicht zu sagen: verantwortungsloses — Gerede oder auch aus ideologisch-parteipolitischen Gründen in der Bevölkerung eine Psychose entstehen zu lassen. Dies gilt ganz besonders auch für die Behauptung der GRÜNEN, die Lebensmittel seien nicht mehr gesund. Wir wissen, daß mehr als 99 % der traditionell wirtschaftenden Bauern weder Umweltzerstörer noch Menschheitsvergifter sind. Das Gegenteil ist der Fall! Alle seriösen Untersuchungen zeigen, daß Rückstände, wenn sie überhaupt vorhanden waren, in den letzten fünf Jahren zurückgegangen sind.
Wenn Sie nur mit sich selber, nicht aber mehr mit der Wissenschaft und nicht mehr mit anderen reden und andere Meinungen nicht mehr gelten lassen, dann ist das zwar Ihre Sache, aber es hat nichts mit einer seriösen und der Sache dienenden Auseinandersetzung zu tun.
Meine Damen und Herren, moralisierende Realitätsferne ersetzt nun wirklich kein Einkommen. Alternative Aktionsappelle füllen auch kein Portemonnaie. Ich kann nur empfehlen: etwas weniger Polemik und etwas mehr Nachdenken. Das hilft uns dann allen.
Ich danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Immer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich rede hier jetzt unmittelbar nach dem Herrn Bundesminister und möchte zunächst feststellen, daß das eine Rede nach dem Prinzip war: Angriff ist die beste Verteidigung; denn es war eine Verteidigungsrede. Er hat versucht, von den Problemen abzulenken, die er selbst verursacht hat.
Wenn er erklärte, die Debatte habe nichts Neues gebracht, dann muß man sich die Anfragen und die Antworten der Bundesregierung ansehen.
Denn die Antworten haben wahrhaftig nichts Neues gebracht, sondern eigentlich im Grund die Hilflosigkeit dieser Regierung bestätigt, angesichts der schwierigen Situation des sogenannten bäuerlichen Familienbetriebes
Ihnen ein Konzept vorzuschlagen, das gültig ist. Denn weder Sie, Herr Hornung, noch der Bauernverband noch der Herr Kiechle — vielleicht wird Herr Heereman eine aufhellende Definition bringen — haben erklärt, was denn ein bäuerlicher Familienbetrieb ist: ob der Betrieb mit 200 ha in Holstein oder der 10-ha-Betrieb im Bayerischen Wald als Familienbetrieb förderungswürdig ist.
Sehen Sie, Sie haben uns vorgeworfen, Herr Kiechle, wir hätten Konzepte entwickelt, die Agrarpreise zu senken und damit eine Sanierung insofern herbeizuführen, als dann die Überschüsse wegkämen.
Wenn Sie das alles zusammenfassen, was wir vorgeschlagen haben, dann haben Sie nicht nur eine vorsichtige Preispolitik lesen, sondern auch hören können, daß wir Ausgleichsabgaben vorgeschlagen haben.
— Herr Gallus, ich würde an Ihrer Stelle sehr vorsichtig mit Zwischenrufen sein, denn Herr Kiechle hat auch gegen Ihren Minister Ertl geredet. Denn die Erblast, falls es eine gibt, haben Sie mit zu verantworten. Nun tun Sie nicht so, als seien Sie da heraus.
— Entschuldigung, ich habe noch neun Minuten, Herr Gallus, Sie können von mir aus nachher reden und richtigstellen.
Sie haben aber de facto, Herr Kiechle, für viele Betriebe durch die Quotenregelung, die Aufgabe des Grenzausgleichs, des Währungsausgleichs, die Preise effektiv gesenkt oder senken lassen, und Sie haben selber erfahren müssen, daß Ihre Erhöhung der Vorsteuerpauschale durch die sinkenden Preise in allen Bereichen der Agrargüter aufgefressen worden ist.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8295
Immer
— Ja, es war nicht so gedacht. Nur, es ist erfolgt. Sie haben nicht mal die 5 % Verluste der Landwirtschaft aufheben können und haben durch einen ungerechten Verteilungsmechanismus erreicht, daß die, die eigentlich am notleidendsten sind, überhaupt nichts mehr kriegen.
Sie haben ein wenig vom Wein gesprochen, obwohl das in der Anfrage nicht stand. Sie wollten den Mosel-Winzern 10 Millionen DM versprechen, und haben mit Ach und Krach im Haushaltsausschuß 7 Millionen DM durchgebracht
— unter großen Bedenken aller Fraktionen — und haben dann noch 3 Millionen DM in Aussicht gestellt. Und in der Rhein-Zeitung von gestern stand, die Parlamentarier müßten jetzt dafür sorgen, daß die versprochenen 3 Millionen DM Kreditzuschüsse für die Mosel-Winzer durchgesetzt werden können, nachdem Stoltenberg sie abgelehnt habe, obwohl der Haushaltsausschuß das schon längst offenbar mit allen Stimmen abgelehnt hat.
Was gilt denn eigentlich noch in Brüssel? Ist die Quotenregelung überhaupt noch der neueste Stand der Dinge? Signalisiert nicht die Verschiebung der Zahlungen auf Ende März, obwohl einige schon gezahlt haben und um die Zinsen bangen — denn sie haben gezahlt, ohne ihre Zinsen zurückzubekommen — — — Gilt das eigentlich noch? Wird die Quotenregelung bleiben? Die Rechtsunsicherheit der Landwirte ist erheblich. Ich habe Ihnen geschrieben und Sie gebeten, die Anmeldefristen für Härteregelungen und Milchquotenregelungen vom Stichtag auf den 31. März zu verschieben. Ich habe nicht gehört, ob das geschehen ist. Die Bauern wissen überhaupt nicht, was los ist. Von Brüssel wird signalisiert: Da ist alles noch im Wackeln. Das ist bei der Weinregelung so, wo Sie übrigens — das haben Sie uns bei anderen Punkten um die Ohren geschlagen — einer restriktiven Preispolitik zugestimmt haben. Wie klingt das in unseren Ohren! Das muß ja dann wohl auch in anderen Bereichen so sein.
Sie haben davon gesprochen, wir inszenierten einen Klassenkampf. Aber, Herr Bundesminister Kiechle, Sie haben doch den Streit in die Dörfer gebracht. Die Härteregelung und die Abgrenzung der Ausgleichsabgabe teilen die Leute doch. Darüber haben wir im Ausschuß gesprochen.
Das führt doch dazu, daß an den Grenzen ein harter Kampf ausbricht. Wir kommen in den Genuß der Ausgleichsabgabe, während die anderen, die genauso schwer dran sind, diesen Vorteil nicht haben. Herr Bredehorn und ich haben das im Ausschuß zitiert; wir haben es woanders und im Ausschuß immer wieder vorgetragen. Was wird denn mit den Bauern, die 90 % Grünland haben, in den Gebieten, die nicht in die Ausgleichsabgabe kommen und dennoch in großen Schwierigkeiten sind? Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie die Gebiete ausweiten? Darauf möchten wir eine Antwort haben.
Wie wollen Sie denn einen Ausgleich bringen? Wollen Sie die anderen sterben lassen und allein den wenigen helfen, die in die Ausgleichsabgabe kommen? Sie bringen einen Klassenkampf völlig anderer Art, nicht von oben und unten, nicht von Großen und Kleinen, sondern dadurch, daß Sie den Streit in die Dörfer bringen.
— Wir heizen den Streit nicht an. Entschuldigen Sie, wenn Herr Kiechle die Rede, die er gerade gehalten hat, vor Bauern in Passau gehalten hätte, dann wären Ihnen noch mehr Parteibücher vor die Füße geworfen worden, als es schon geschehen ist; das ist doch eindeutig.
— Ich täusche mich überhaupt nicht. Ich will ja auch gar nicht sagen, daß die konservativen Bauern jetzt in großen Scharen auf unsere Seite springen. Das wissen wir doch:
Die Bauern schimpfen, gehen lieber kaputt, aber sie bleiben bei den Schwarzen.
Aber das ist j a nicht unser Problem. Wir richten unsere Politik nicht darauf, Bauernfängerei zu betreiben,
sondern darauf, daß den Bauern wirklich geholfen wird und ihre verfehlte Politik nicht auf dem Bukkel der Bauern ausgetragen wird. Das ist doch die Tatsache.
Meine Damen und Herren, ich will nicht Öl ins Feuer gießen. Aber gestatten Sie mir aus alter Tradition dennoch ein Zitat. Ich bitte den Herrn Präsidenten, mir keine Rüge zu erteilen; in dem Zitat ist das Wort „sie" kleingeschrieben. Das Zitat heißt:
Sie haben Mäuler und sagen nichts. Sie haben Augen und sehen nichts. Sie haben Ohren und hören nichts. Sie haben Hände und packen nichts an. Alle, die so handeln, sind ihnen gleich, und solche, die ihre Hoffnung auf sie setzen.
Das ist Psalm 115, Verse 5 bis 8. David war ein toller
Politiker der damaligen Zeit. Er hatte völlig recht.
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Immer
Er kannte nur noch nicht die CDU; sonst hätte er sie noch anders tituliert.
Das ist ein klarer Fall.
Noch eine Bemerkung, die ich mir in meinem Referat vorgenommen habe. Es handelt sich um des Herrn Ministers liebstes Kind, um das in der EG umstrittene und noch nicht ganz abgesegnete Agrarkreditprogramm. Wofür ist das eigentlich gut? Sie wollen keine Kapazitätsausweitung fördern. Sie wollen nur Rationalisierung fördern. Sie wollen also einem Bauern zumuten, daß er seine Oma und seinen Opa hinausrationalisiert; denn das ist ja ein Familienbetrieb.
Der andere kann eine Arbeitskraft hinausrationalisieren. Die Ergebnisse zeigen doch, daß bisher 70 bis 75 % dieses Agrarkreditprogramms genau in bestimmte Betriebe gewandert sind. Nichts gegen Herrn Eigen und sein Land! Schleswig-Holstein ist ein wunderbares Land. Dahin ist diese Hilfe gewandert. Sie ist in die Mechanisierung gewandert. Der größte Teil ist in die Übermechanisierung geflossen, die wir sowieso schon zu beklagen haben, die wir früher einmal Schlepperitis genannt haben. Diese völlige Übermechanisierung bedeutet eine totale Verschuldung der Landwirtschaft.
Herr Kiechle, Sie haben auch einige Antworten zum ländlichen Raum gegeben. Wie ich mir im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau habe sagen lassen, sind diese Antworten wohl kaum abgestimmt worden. Aber ich möchte Ihnen raten, endlich einmal Klarheit zu schaffen und innerhalb der Regierung, innerhalb des Kabinetts, unter den Ressorts eine Abstimmung zwischen Wirtschaftsministerium, Raumordnungsministerium und Agrarministerium zu erreichen. Es muß endlich einmal Klarheit darüber geschaffen werden, wohin die Entwicklung des ländlichen Raums in der Raumordnungspolitik gehen soll.
Ich möchte Ihnen ein Zitat vorlesen, das heute noch wie vor Jahren stimmt. Ich hoffe, daß ich es gleich finde.
— Entschuldigen Sie vielmals, ich pflege meine Reden frei zu halten und nicht abzulesen. Das haben Sie gemerkt. Da kann einem doch schon einmal eine Unterlage verlorengehen.
— Eine Minute habe ich noch. Ich möchte folgendes sagen. Die Regierung sollte endlich einen Kurswechsel vornehmen und sollte — Herr Kiechle, damit sind Sie doch sehr vertraut — die Meinung des Landwirtschaftsministeriums von Bayern und insbesondere die Meinung des hohen Vorsitzenden Strauß sich zu Herzen nehmen und sagen: Jawohl, der Strauß hat recht! Sie haben doch gerade auch bei der Ergänzungsabgabe Herrn Strauß recht gegeben und heute morgen gegen unseren Willen und gegen Ihre eigene Meinung abgestimmt.
Wenn Sie Herrn Strauß recht geben, werden Sie die Quotenregelung abschaffen. Dann werden Sie zu Ausgleichszahlungen kommen, und dann werden Sie zu einer gestaffelten Mitverantwortungsabgabe kommen. Sprechen Sie mit Herrn Nüssel. Herr Nüssel hat uns vor dem Agrarausschuß erklärt: Diese Politik ist verfehlt.
Deshalb, Herr Kiechle, halten Sie keine vollmundigen Reden, sondern handeln Sie endlich zugunsten der Bauern. Sonst werden sie vernichtet. Sie fördern den Ruin der bäuerlichen Landwirtschaft.
Das Wort hat Freiherr von Heereman.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist natürlich sehr beeindruckend, was heute an Alternativen zum bäuerlichen Familienbetrieb gerade von den Oppositionsparteien geboten worden ist. Man ergeht sich darin, hier Klassenkampf einzubringen, und sagt, man wolle es nicht.
Man spricht von einem 100- oder gar 200-ha-Betrieb in Schleswig-Holstein
und verheimlicht, daß die durchschnittliche Betriebsgröße in Schleswig-Holstein 32 ha beträgt, in Niedersachsen 27 ha und in Nordrhein-Westfalen 23 ha.
Diese Volksverdummung, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, muß doch einmal aufhören; denn mit diesem Groß und Klein bezeugen Sie doch nur, daß Sie über die Struktur in unseren Land überhaupt nicht informiert sind.
Herr Kollege Schröder, Sie haben gesagt, man müsse im Zusammenhang mit einem bäuerlichen Betrieb erst einmal nachdenken. Dann kamen Sie mit den Computern. Was meinen Sie denn, wie viele
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Freiherr Heereman von Zuydtwyck
der bäuerlichen Betriebe sich zur Zeit einen Computer kaufen können?
So einfach ist die Sache hier doch nicht zu lösen.
Sie müssen wissen, daß von allen landwirtschaftlichen Betrieben — den Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrieben — nur 4,7% mehr als 50 ha haben und nur 0,6% mehr als 100 ha. Das heißt, 95% liegen unter 50 ha. Und da wollen Sie uns weismachen — am stärksten noch die GRÜNEN —, das seien keine bäuerlichen Betriebe mehr.
Meine Damen und Herren, ich halte einiges von dem, was hier in den Raum gestellt wurde, nicht für redlich. Für redlich halte ich das, was Sie gesagt haben, Herr Schröder. Sie haben nämlich eingesehen, daß früher Fehler gemacht wurden. Der Kollege Oostergetelo hat ja auch am 26. November auf einer Versammlung in Westfalen-Lippe ausdrücklich Fehler der von der SPD geführten Regierung zugegeben. Er hat auch eingeräumt, daß die von der SPD geführte Regierung schuld an der Überproduktion gewesen sei.
Hier wird so getan, als sei alles erst in letzter Zeit verschuldet worden.
— Ich muß Ihnen schon sagen: Damals haben Sie bei allen Agrardebatten gerufen „Heereman soll reden!". Frau Vollmer sagte eben, er solle als letzter reden. Frau Vollmer, wenn die GRÜNEN wirklich ihr Herz für die Bauern entdeckt hätten wären heute ein paar mehr von Ihnen hier. Dann würden Sie sich endlich einmal zeigen. Dann wären Sie während der ganzen Agrardebatte da.
Bei wesentlichen Teilen der Agrardebatte sind Sie gar nicht hier gewesen. Sie haben mich kritisiert, wenn ich einmal aus wichtigem Grund an einer internationalen Agrarveranstaltung teilnehmen mußte, wo es um Kleinbauern ging. Diese Verdrehungen und diese Unterstellungen helfen unseren Bauern nicht, die doch immerhin — dazu möchte ich etwas sagen — einen Verlust gehabt haben.
Von 1969 bis 1982 haben 393 000 Betriebe aufgegeben. Das sind jährlich 30 200. Es ist zu einer Abdämmung wegen der nicht vorhandenen Alternativen gekommen. Es waren im vorigen Wirtschaftsjahr 20 000; jetzt werden wir um 10 000 liegen. Das ist überhaupt kein Erfolg. Aber Dramatisieren erzeugt keine besseren Überlegungen, vor allen Dingen nicht, wenn man alles negativ darstellt. Ich bin schon der Meinung, daß von der Opposition auch nicht viel mehr kommen kann.
Ich muß noch einmal auf groß und klein zurückkommen. Sie glauben, umverteilen zu können. Da ist nichts umzuverteilen. Solche unsinnigen Vorstellungen können nur in einer Partei aufkommen, in der sich Soziologen und Pädagogen weltfremde Urteile über Bauern und Landwirtschaft anmaßen.
Wir haben diese Überheblichkeit, mit der Politik gemacht wird, doch immer wieder festzustellen. Eben wurden schon zu Recht die selbsternannten Götter bei den GRÜNEN erwähnt, die nur ihren Professoren glauben wollen. Nachdem sie selber ökologische Universitäten eingerichtet haben — womöglich noch bestückt mit ihren Leuten —, wollen sie uns beibringen, daß das der neue Weg sei. Das schlagen sie den Bauern vor. Wo leben wir denn?
Wir leben doch immerhin noch in einem Lande, wo man über Fleiß mehr erwirtschaften muß. Und hier setzt die Politik der Bundesregierung an.
Ich möchte aber hauptsächlich etwas zur Verschuldung der Landwirtschaft sagen. Denn was wäre passiert, wenn es heute noch eine Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung gäbe? Wir hätten doch mittlerweile eine Neuverschuldung, die näher bei 60 Milliarden DM läge als unter 30 Milliarden DM, wie das jetzt der Fall ist.
Wir hätten doch eine Inflationsrate, die über 2 % läge.
Nun muß man wissen, daß wir in der Landwirtschaft eine katastrophale Verschuldung haben. Sie war noch nie so hoch. Rund 4 500 DM pro Hektar, im ganzen 46,3 Milliarden DM. Wenn das keine Alarmzeichen sind und wenn Sie daraus nicht folgern können, daß jetzt umgestellt werden muß! Mit jedem Prozentpunkt Zinssenkung wird die deutsche Landwirtschaft jährlich um 450 Millionen DM entlastet.
Sie haben vorhin gelacht, Herr Kollege Immer, als das gesagt wurde. Ende der 70er Jahre stiegen unsere Einkaufspreise um 7 bis 9 %. Das ist auf 2 % zurückgeführt worden. Auch das entlastet um 1,5 Milliarden DM. Man muß doch einmal ein bißchen rechnen, nicht nur quaken, Dinge in den Raum stellen und Klassenkampf machen. Man muß sich eben auch einmal mit nüchternen Zahlen beschäftigen.
Ich will damit kein rosiges Bild malen. Die Landwirtschaft hat Sorgen genug. Aber den Einstieg, der gemacht worden ist — auch endlich einmal bei der Produktion etwas zu tun —, wollen Sie sich doch bitte einmal vor Augen halten. Was hat sich denn entwickelt? Diese Bundesregierung hat einen Einstieg gemacht. Was der Berufsstand gefordert hat, weiß ich j a nun ganz genau.
Ich sage nochmals: Es gibt keinen Zweifel an der Quotenregelung. Das ist auch die einzige Alternative, auch wenn mein Kollege Bredehorn insoweit immer noch Zweifel hat. Was erzählen Sie denn in den Dörfern über die gestaffelte Mitverantwortungsabgabe, daß sie besser sei? Von den gespalte-
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Freiherr Heereman von Zuydtwyck
nen Preisen, Frau Kollegin Vollmer, wollen wir gar nicht reden.
Sie haben ja schon die Kurve gekriegt. Sie sind schon bei den gestaffelten Preisen, nachdem sie erst gespalten waren — was Sie sowieso sind, wie wir gerade in Hamburg gemerkt haben. Aber das wollen wir nicht vertiefen.
Keiner hat gesagt, wie Sie staffeln wollen.
Im Durchschnitt aller Betriebe hätte auch hier eine um 8 % höhere Mitverantwortungsabgabe erhoben werden müssen. Um die sogenannten kleineren Erzeuger — bis 20 Kühe — nicht zusätzlich zu belasten, hätten alle Betriebe über 20 Kühe eine Mitverantwortungsabgabe in Höhe von durchschnittlich 25 % zahlen sollen.
Wenn Sie mir sagen wollen, daß der bäuerliche Familienbetrieb bei 40 oder 45 Kühen aufhört, frage ich mich, was dann noch bäuerlich ist. Da werden Dinge erzählt, die nicht stimmen. Wenn Sie Betrieben mit 21 oder 30 Kühen 25 Prozent Verteuerung auflasten,
dann können Sie mir doch nicht sagen, daß das sozial gedacht ist. — Ich weiß, daß Ihnen das unangenehm ist, Frau Kollegin Vollmer, aber hier müssen Wahrheiten und keine Unwahrheiten gesagt werden. Viele von Ihnen erzeugen sehr viele Unwahrheiten. Wenn Unwahrheiten kurze Beine hätten, dann kämen Sie alle schon als Enten hier hereingelaufen.
In dieser Situation sind wir doch allmählich. Hier wird eine Volksverdummung betrieben, und dagegen müssen wir uns wenden.
Wir haben in der Landwirtschaft große Sorgen mit der Quotenregelung und den jetzigen Ausführungsbestimmungen, aber der Einstieg als solcher ist das einzige, was die Menge schnell wegbringt. Das muß man sagen. Darum gilt es, jetzt Härten zu beseitigen.
An die sozialdemokratischen Damen und Herren gewandt möchte ich einmal fragen: Was habt ihr denn im sozialpolitischen Bereich gemacht? Wenn es alles so gelaufen wäre, wäre im nächsten Jahr bei der Unfallversicherung das Geld in der mittelfristigen Finanzplanung weg gewesen. Und dann erzählen Sie von Sozialpolitik!
Jetzt kommt der nächste Hammer, und da müßt ihr auch wieder aufmerksam sein und zuhören: Wer redet dauernd von Einkommensübertragungen, wer hat sie für benachteiligte Gebiete gefordert? Seit 1969 weiß ich, was der Berufsstand gefordert hat. Wo ist es nicht gemacht worden, wo sind nicht einmal die Mittel, die zur Verfügung standen, ausgeschöpft worden?
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, und ich weiß, wer dort in der Regierung die Mehrheit hat. Es gibt immer Versprechen, Übertragungen zu geben, aber dann wird Geld abgezogen und nicht zur Verfügung gestellt.
Diese Methode halte ich für falsch.
Herr Kollege Immer, wenn ich das, was Sie hier erklärt haben, mit einem Bibelspruch kommentiere, so kann ich nur sagen: Herr, verzeih' ihm, denn er weiß nicht, was er tut. Und was er spricht, muß ich ergänzen.
Denn die Abstimmung bei der Förderung und bei der Dorferneuerung zwischen Bauminister und Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ist im Kabinett erfolgt. Hier wird plötzlich so ein Märchen erzählt. Ich habe schon große Bedenken, ob man nicht alles, was Sie sagen, nachprüfen muß. Ich war gar nicht so mißtrauisch; aber je öfter ich mir Ihre Ausführungen anhöre, desto mißtrauischer werde ich.
Nun wird — lassen Sie mich das auch noch ansprechen — immer wieder davon gesprochen, daß die Verteilung, jetzt der Ausgleich bei den 5 Prozent über die Erhöhung der Vorsteuerpauschale, nur die Großen begünstige. Zu der Situation bei den großen und kleinen Betrieben habe ich etwas gesagt. Ich hätte es mir auch anders vorstellen können. Nur mußte von der Zeit, von der Abstimmung, vom Durchführen her schnell entschieden werden, und hier ist ein auf Umsatz bezogener Ausgleich gegeben worden.
Jetzt steht natürlich noch der Preisbruch für Getreide im Raum, und jetzt steht natürlich noch im Raum, daß die Härten beseitigt werden müssen, die durch die Regelung bei der Milch noch nicht beseitigt sind. Das ist ein dringendes Anliegen. Aber die Erhöhung der Ausgleichszulage auf immerhin 240 DM beinhaltet, daß gerade dort auch Milchviehbetriebe entlastet werden, die in benachteiligten Gebieten vorrangig zu suchen sind.
Von daher ist ein Weg gemacht. Mir braucht man nicht zu sagen, wie die Stimmung in der Landwirtschaft ist.
Herr Kollege Schröder, ich muß Sie noch einmal ansprechen. Sie sagen, das Image der Landwirtschaft sei so schlecht. Hätten Sie ein bißchen früher als Ihre Freunde und Ihre Kollegen die Verantwortung hatten, uns und damals auch der Interessen-
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Freiherr Heereman von Zuydtwyck
vertretung mit geholfen, Dinge durchzusetzen, so hätte ein Teil der Schwierigkeiten, die heute da sind, nicht bereinigt werden müssen.
— Es wäre anders; das könnt ihr schütteln und wenden, wie ihr wollt. Ihr wolltet immer, daß ich rede, und da muß ich euch schon mal die Wahrheiten sagen. Ich habe hier bewußt nicht so oft gesprochen, um euch zu schonen.
Aber wenn ihr es wissen wollt, dann kriegt ihr hier schon einmal gesagt, wie die Situation wirklich ist.
— Die kannst Du holen!
Meine Damen und Herren, wichtig ist zu wissen, daß wir den Ausgleich zunächst schon bekommen haben, sehr schnell und sehr kurzfristig. Zum anderen aber müssen wir wirklich die ergänzenden Maßnahmen sehen. Wenn das weiter konsequent durchgeführt wird, dann werden Sie feststellen müssen, daß diese Bundesregierung und die Regierungsparteien in der kurzen Zeit mit dazu beigetragen haben, endlich dort einzusteigen, wo die Bauern es verlangt haben.
Wodurch sind Agrarfabriken entstanden? Weil kein Ausgleich gewährt worden ist. Wo ist die Produktion weggelaufen? Gerade dort, wo es keine Marktordnungen gibt. Darum soll man die Marktordnungen nicht verteufeln,
wie Sie sie verteufelt haben. Wenn man die Instrumente richtig anwendet, sind viele Schwierigkeiten und Härten zu beseitigen; dessen bin ich ganz sicher. Sie können sich auszeichnen, indem Sie viele gute Vorschläge unterstützen und keinem Sand in die Augen streuen — wie es Frau Kollegin Dr. Vollmer bei der offenen Deklaration verlangt hat. Frau Dr. Vollmer, Sie müssen doch wissen, daß beim Futter für die Kälberaufzucht Nullaustauscher gekauft worden sind, ohne ein Gramm wertvolles Magermilchpulver, und das Pulver auf Halde gelegt wurde, weil das Futter billiger war.
Trotz offener Deklaration werden die Landwirte weiter unter diesem Druck bleiben.
Sie widersprechen sich. Man kann nicht alles nachprüfen. 30 bis 40 % der Bestandteile sind nicht zu greifen. Das neueste Gutachten kommt aus Bayern. Auch hier sagen Sie die Unwahrheit.
Insofern bitte ich doch noch einmal zu überlegen, ob das, was Sie sagen, so überhaupt haltbar ist.
Unterstützen Sie uns bei den guten Vorschlägen des Bundesministers und der Regierungsparteien. Ich glaube, dann können wir mehr für die Bauern tun, als nur in ideologischer Kleinkrämerei hier herumzuhacken.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weyel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute so viel über Bauern gehört. Ich habe in einer Schrift von Walter Bersch eine schöne Charakterisierung aus dem Jahre 1786 gefunden. Hier stellt ein Professor über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis zu den Gutsherren und gegen die Regierung folgendes fest:
Wenn man die Reden der Bauern hört, so oft sie unter sich und bei der Luft sind, wenn man auf die gelegentlichen Äußerungen ihrer Denkungsart genau achtgibt, so wird man finden, daß sie von dem Verstande der vornehmen Leute keine hohe Meinung haben und daß, wenn sie diese als Gelehrte gelten lassen, sie sich und ihresgleichen doch für klüger halten. Den großen Haufen der Vornehmen sieht der Bauer für eine Art von leichtsinnigen Toren an, die nur mit Kleinigkeiten oder mit ihrem Vergnügen beschäftigt sind und die von dem Soliden und Notwendigen, dergleichen der Ackerbau ist, keine Begriffe haben.
— Es mag wohl so sein.
Herr Heereman, nur ein Wort zu Ihren Ausführungen.
Während der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition
war der Bauernverband nicht immer ganz hilfreich, die Regierung zu unterstützen.
Das ist jetzt anders. Insofern tut sich die jetzige Regierung ein bißchen leichter.
Ich möchte jetzt zunächst einmal einen anderen Bereich ansprechen. Denn von der Agrarpolitik
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Frau Weyel
sind nicht nur die Bauern betroffen, sondern auch die gesamte Bevölkerung als Verbraucher.
Sie haben eben gesagt, man solle nicht alles negativ hinstellen. Das gilt auch für die Frage des ökologischen Landbaus und für das, was da nachgefragt worden ist. Ich gehe davon aus, wenn man einmal fragt, was Ziel der Landwirtschaft ist, daß es für uns zunächst einmal um die Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen und gesundheitlich einwandfreien Nahrungsmitteln in ausreichender Menge und zu Preisen geht, die in einem angemessenen Verhältnis zum Einkommen der Verbraucher stehen und — ich setze das hinzu — außerdem die Existenz der Erzeuger sichern. Beides gehört zusammen. Insofern sehe ich überhaupt keinen Unterschied in der Zielsetzung der konventionellen Landwirtschaft und der ökologischen. Beide wollen in der Hinsicht dasselbe.
Nun könnte man fragen: Was soll dann die ganze Aufregung? Aber das wäre wohl zu einfach. Richtig ist, daß die Entwicklung zu einer hochtechnisierten und auf Höchsterträge ausgerichteten Bewirtschaftung geführt hat. Da werden nicht nur Übermengen produziert; auf die Dauer ist die Versorgung keineswegs gesichert, weil die Überproduktion zumindest im tierischen Bereich auf der Einfuhr von Futtermitteln beruht. Die Zahlen der Bundesregierung besagen ganz deutlich: Ohne Einfuhren sind wir nur in der Lage, den Ernährungsbedarf zu 70 bis 75 % selbständig zu decken.
Nun gibt es Betriebe, die als bäuerliche Familienbetriebe in Schwierigkeiten geraten. Die Bundesregierung hat auch in ihrer Antwort auf die Anfrage der CDU/CSU, und zwar in der Antwort auf Frage 34, festgestellt, daß die „Höhe der Nährstoffversorgung der Pflanzen sowie ihre Regulierung durch die Düngung" für die „Beeinflussung der Qualität eine große Rolle" spielt. Es ist wörtlich zitiert, Herr Eigen. Sie weist besonders auf das Problem der Nitratbelastung hin, auch auf die Rückstandsprobleme bei nicht sachgerechter Anwendung von Pflanzenschutzmitteln.
In der Antwort auf die Anfrage der GRÜNEN zum ökologischen Landbau sagt die Bundesregierung: „Das Bemühen ,alternativ` wirtschaftender Landwirte um Schonung des Bodens, der Natur, der Umwelt und die Verbesserung der Produktqualität wird anerkannt." Das freut mich.
— Doch, einige Ihrer Redner haben Bemerkungen gemacht, die nicht ganz in diese Richtung gehen.
Der ökologische Landbau demonstriert insbesondere die Zusammenhänge zwischen Bodenfruchtbarkeit und organischem Kreislauf, will der Gesundheit der Nahrungskette Boden — Pflanze —
Tier — Mensch dienen. Er versteht sich als Alternative zu einer übertrieben auf Ertragsvermehrung ausgerichteten Wirtschaftsweise. Soweit sind diese Anregungen auch ganz verdienstvoll. Die Erzeuger müssen sich aber nach den Erfordernissen des Marktes richten, und die fragen leider nicht immer nach biologischen Gesetzmäßigkeiten. Der Verbraucher ist anspruchsvoll, bewertet aber häufig Größe, Aussehen und Form der Ware höher als gesundheitlich wichtige Inhaltsstoffe und Geschmack. Im übrigen haben wir das durch die Handelsklassen auch noch forciert. Außerdem ist die Information der Verbraucher über eine gesundheitlich vernünftige Ernährung unzulänglich, um das einmal bescheiden zu sagen.
Der konventionelle Landbau ist durch hohe Produktivität, hohe Erträge, preiswerte Nahrungsmittel in guter äußerer Qualität gekennzeichnet.
Die Nachteile liegen in der Belastung durch Rückstände und Überdüngung — nicht überall, aber hin und wieder.
Der alternative Landbau koppelt Ackerbau und Viehzucht wieder stärker aneinander. Übrigens war das früher überall so. Humusversorgung und Fruchtfolgen werden stärker in den Vordergrund gerückt. Qualitätsminderung durch chemischen Pflanzenschutz und Überdüngung ist seltener. Nachteilig ist manchmal die äußere Qualität. Vor allem aber sind das Ertragsniveau und die Produktivität je Arbeitskraft geringer und damit die Preise höher.
Das spielt keine Rolle, solange nur eine kleine Gruppe von Verbrauchern auf diese Erzeugnisse zurückgreift und bereit ist, dafür höhere Preise zu zahlen. Man muß halt auch mal fragen: Wer kann das eigentlich?
Aber
wenn unterstellt wird, daß die Erträge beim ökologischen Landbau um 30 % geringer ausfallen als beim konventionellen System, so würde das zu einer grundsätzlichen Umstellung und zu Versorgungsproblemen führen, wenn nicht eine Umstellung der Verzehrgewohnheiten erfolgen würde, die Veredelungsprodukte zugunsten höherer Anteile pflanzlicher Nahrung zurückdrängt.
Dazu kommt natürlich das Problem des Imports. Wenn bei uns teurer erzeugt wird, dann kommt eben der billige Import herein. Siehe dieses Jahr die Sauerkirschenkatastrophe.
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Frau Weyel
Es ist also die Frage, ob die Bevölkerung zu einer solchen Umstellung bereit ist. Vielleicht heißt die Frage auch nur, wann sie dazu bereit ist.
Daraus ergeben sich zunächst einmal Forderungen. Wir wollen, daß Vergleichsuntersuchungen gefördert werden, die den gesundheitlichen Wert der Nahrungsmittel aus konventionellem und alternativem Anbau auf eine breitere Grundlage stellen. Die LUFA-Studie als alleiniger Standpunkt reicht dafür nicht aus.
Da brauchen wir mehr.
Die landwirtschaftliche Beratung sollte in stärkerem Maße auch ökologisch orientierte Maßnahmen einbeziehen. Dazu müssen die Berater in diesem Bereich stärker fortgebildet werden. Wir halten eine eigene Ausbildung zum ökonomischen Landwirt dafür eher hinderlich, aber man sollte das offizielle Angebot der Hochschulen an Vorlesungen oder Seminaren mit ökologischem Inhalt verstärken.
Ich komme noch einmal auf meine Rede vom 9. Februar zurück, als wir über die Landwirtschaftsklausel sprachen. Die Landwirtschaftsklausel im Bundesnaturschutzgesetz muß den heutigen Erkenntnissen angepaßt werden. Die SPD-Fraktion hat sich bereits über einen Vorschlag geeinigt, der Ihnen in der nächsten Woche vorgestellt wird.
Ich will jetzt noch einmal auf den bäuerlichen Familienbetrieb zurückkommen, bei dem niemand ganz genau sagen kann, wo da nun eigentlich die Abgrenzungen sind. Mit Sicherheit versteht man in den nördlichen Bundesländern etwas anderes darunter als in den südlichen.
Warum sie denn nun grundsätzlich andere Aufgaben in den Bereichen Landschaftspflege und Naturschutz haben sollen, ist nicht ganz klar. Jeder, der Nahrungsmittel herstellt, muß sich heute mit den Bedingungen auseinandersetzen, die gegeben sind: der Forderung nach einer möglichst kostengünstigen Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Nahrungsmitteln, der Entwicklung der Preis-Kosten-Verhältnisse in der Landwirtschaft, der Forderung nach einer wenigstens annähernd paritätischen Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft und den bestehenden Wettbewerbsbedingungen.
Dazu kommt die Notwendigkeit, im Hinblick auf die Sicherung der Trinkwasserversorgung unter Umständen Einschränkungen im Landbau vorzunehmen. Dazu brauchen wir mehr Aufmerksamkeit für
die dauerhafte Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und für die Erhaltung der Kulturlandschaft dort, wo die Haupterwerbsbetriebe zurückgehen, weil sie eben nicht mehr existieren können. Es ist abzusehen, daß Maßnahmen des Verbraucher- und Umweltschutzes die landwirtschaftliche und gärtnerische Bodennutzung und die Nutztierhaltung erheblich komplizieren und meist auch verteuern.
Wenn wir es sowohl mit dem Schutz der Umwelt als auch mit der Erhaltung des bäuerlichen Familienbetriebes ernst meinen, wenn Einschränkungen in der Bewirtschaftung landwirtschaftlich genutzter Flächen notwendig sind, dann muß ein direkter Ausgleich erfolgen, welche Bezeichnung man einer solchen Hilfe auch immer gibt. Die Regierung z. B. redet von Vergütung landespflegerischer Arbeiten; andere nennen das Landschaftspflegegeld oder wie auch immer. Wenn man alle derzeit gewährten Subventionen, die für Erzeugung, für Verarbeitung und für Absatz aufgewendet werden, addiert, dann kommt eine ganz schöne Summe zusammen.
Unsere Forderung in der heutigen Zeit an die Regierung ist — vielleicht können Sie es Herrn Kiechle dann übermitteln —, in diesem Sinne grundsätzliche Überlegungen anzustellen und uns einen Vorschlag zur Neuordnung der landwirtschaftlichen Produktion vorzulegen, bei dem alle diese Gesichtspunkte berücksichtigt werden.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestensrat schlägt Überweisung der Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 5 und 8 auf den Drucksachen 10/1216 und 10/2550 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrats ersehen Sie aus der Tagesordnung. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 6 und 7. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/2173 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Das erste war die Mehrheit; es ist so beschlossen.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/2205 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Drei Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine. Bei drei Gegenstimmen mit Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, wir treten verspätet in die Mittagspause ein und setzen die Sitzung um 14 Uhr mit der Fragestunde fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.
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Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 10/2587 —
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Höpfinger zur Verfügung.
Die Fragen 51 und 52 des Herrn Abgeordneten Menzel, die Frage 56 des Herrn Abgeordneten Günther, die Frage 57 des Herrn Abgeordneten Müller und die Frage 59 des Herrn Abgeordneten Lohmann (Lüdenscheid) sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun die Frage 53 des Herrn Abgeordneten Kirschner auf:
Ist es zutreffend, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung die Leitung der Unterabteilung V b — Krankenversicherung — mit einem der privaten Krankenversicherung nahestehenden Beamten zu besetzen gedenkt?
Herr Kollege Kirschner, der bisherige Leiter der Unterabteilung V b — — im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat am 1. Dezember 1984 die Leitung der Abteilung VI —(Kriegsopferversorgung, Versorgungsmedizin, Rehabilitation) — übernommen. Daher ist ein neuer Leiter der Unterabteilung zu bestellen. Bei dieser Personalentscheidung wird ausschließlich die fachliche Qualifikation Maßstab für die Entscheidung des Ministers sein.
Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort schließen, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung diese Stelle, auf die meine Frage zielte, durch einen Fachbeamten Ihres Ressorts oder aus dem Ressort Wirtschaft besetzen wird?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Zunächst einmal, Herr Kollege Kirschner, wird es darauf angekommen, daß diese Stelle mit einem gut qualifizierten Mann besetzt wird.
Die Entscheidung als solche ist ja noch nicht getroffen. Der Minister wird, wie ich vorhin schon gesagt habe, einen Mann aussuchen, der für diese Stelle geeignet ist.
Weitere Zusatzf rage, bitte.
Herr Staatssekretär, nachdem wir erst gestern eine entsprechende öffentliche Anhörung unseres Ausschusses hatten, gehe ich natürlich davon aus, daß diese Stelle geschlechtsneutral ausgeschrieben wird.
— Ja, ausgeschrieben und auch besetzt, Herr Kollege.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich aus Ihrer Antwort schließen, daß für die Besetzung dieser Stelle ein Fachbeamter Ihres Hauses erste Wahl sein wird?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Zunächst einmal, Herr Kollege Kirschner, darf ich darauf hinweisen, daß eine Ausschreibungspflicht nicht besteht. Wenn es um die Besetzung geht, werden sicher auch im Hause selber Überlegungen angestellt. Aber die entscheidende Frage ist die nach der Qualifikation.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Egert, bitte schön.
Herr Staatssekretär, darf ich noch einmal nachfragen: Mein Kollege Kirschner hat die Vermutung, Sie hätten sich schon entschieden? Können Sie dies definitiv ausschließen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ich kann nicht sagen, daß die Besetzung schon erfolgt sei.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dreßler, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie soeben erklärt haben, daß eine Ausschreibung nicht unbedingt zu erfolgen habe: Darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß Sie deshalb ausgeschrieben haben, weil Sie glauben, daß im Hause selber für diese Position kein geeigneter Bewerber oder keine geeignete Bewerberin vorhanden sei?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, wie mir bekannt ist, ist die Stelle nicht ausgeschrieben worden.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneten Urbaniak.
Herr Staatssekretär, könnten Sie sagen, daß der Minister, wenn er hier antworten müßte, sagen würde, die Stelle sei bereits besetzt?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, ich möchte noch einmal darauf verweisen: Auch der Herr Minister geht zunächst von der Qualifikation aus. Und daß ein Minister bei Gleichqualifizierten mehrere Überlegungen anstellen wird, ist auch klar.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, können Sie die Befürchtung ausschließen, die Besetzung dieser
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Lutz
Stelle sei bereits innerhalb der Koalition ausgehandelt worden?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ihre Befürchtung kann ich nicht bestätigen,
wobei ich hinzufüge, daß natürlich für eine solche Stelle mehrere qualifizierte Leute im Gespräch sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glombig.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wenn Sie behaupten, daß dies nicht Gegenstand einer Koalitionsabsprache zwischen CDU/ CSU auf der einen Seite und FDP auf der anderen Seite ist, meinen Sie, daß es ein reiner Zufall ist, daß es hierbei um einen FDP-Mann geht, der sich in der Zeit der sozialliberalen Koalition eindeutig für den Abbau der Rechte der gesetzlichen Krankenversicherung und für eine Verstärkung der Rechte und Verantwortlichkeiten der privaten Krankenversicherung eingesetzt hat?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Glombig, ich übe mein Amt seit dem 4. April dieses Jahres aus. Von einer Koalitionsabsprache ist mir nichts bekannt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sperling.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß zwar mehrere im Gespräch sind, einer allerdings ausgeguckt ist und daß dies Koalitionsüberlegungen entspricht?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich würde nochmals darum bitten, daß man bei der Besetzung einer solchen Stelle zunächst einmal die Qualifikation in den Vordergrund stellt und daß man dann die personelle Entscheidung dem Minister überläßt.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 54 des Herrn Abgeordneten Kirschner auf:
Trifft es zu, daß die gesetzlichen Rentenversicherungen bei den Banken Überbrückungskredite aufnehmen mußten, um die Dezember-Renten ausbezahlen zu können?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, es trifft zu, daß die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte am 28. November 1984 zur Deckung der Postvorschußzahlungen in Höhe von rund 11,5 Milliarden vorübergehend ihre Konten mit einem Betrag von rund 240 Millionen DM überzogen hat. Die Konten waren bereits am 30. November 1984 wieder ausgeglichen. Die Rentenversicherungsträger haben an diesem Tage bereits wieder überschüssige Mittel angelegt.
Diese Kontenüberziehung war schon seit der Vorlage des Rentenanpassungsberichts 1983 absehbar. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte hatte sich seit langem darauf eingestellt.
Die Überziehung wäre möglicherweise sogar vermeidbar gewesen, wenn nicht die streikbedingten Beitragsausfälle
und die Auswirkungen der unerwartet hohen Inanspruchnahme von Beitragserstattungen als Folge des Rückkehrförderungsgesetzes die Rentenversicherungsträger zusätzlich belastet hätten.
Die Rentenversicherungsträger sind durch diese Maßnahmen per Saldo im übrigen nicht belastet worden, da der Bund Teile des Bundeszuschusses in Höhe von rund 4,1 Milliarden DM vorzeitig gezahlt hat.
Im Hinblick auf den für Dezember zu erwartenden Überschuß in der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von rund 5 Milliarden DM war die vorübergehende Kontenüberziehung wirtschaftlicher als eine teilweise mit Verlusten verbundene Verwertung des vorhandenen Anlagevermögens in Höhe von rund 6,7 Milliarden DM. Die Rentenversicherungsträger haben sich wie jedes solide und finanziell gesunde Unternehmen verhalten.
Die Auszahlung der Renten an die Rentner war nie gefährdet.
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, daß sich die Rentenversicherung wie jedes wirtschaftlich gesunde Unternehmen verhalten hat, können Sie dem Parlament erklären, wann dieser Fall schon einmal eingetreten ist?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Sie meinen jetzt die Aufnahme von 240 Millionen DM?
— Ein Zeitpunkt ist mir nicht bekannt. Ich kann die Frage so also jetzt nicht beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie sieht denn die zukünftige Entwicklung der Rentenversicherung aus? Ist für das Jahr 1985 eine ausreichende Liquidität gegeben, oder besteht nicht die gleiche Situation wie im Jahre 1984, daß nämlich von seiten des Bundes durch Vorziehungskredite eine entsprechende Liquidität gesichert werden muß?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, wie Sie wissen, erwartet uns mit 1985 noch ein sehr schwieriges Jahr, aber die Bundesregierung hat Vorsorge getroffen, daß die Rentner Monat für Monat ihre Rente bekommen. Und ich darf hinzufügen: Es ist Ihnen ja bekannt, daß der Bundeszuschuß nicht mehr gezwölftelt werden muß, sondern vorgezogen werden kann und daß
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
auch die Möglichkeit eingeräumt wurde — das hat das Hohe Haus ja erst vor kurzem beschlossen —, daß die Rentenversicherungsträger auch einen Kredit aufnehmen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Egert.
Herr Staatssekretär, Sie haben Bezug darauf genommen, daß der Bundeszuschuß für 1984 vorgezogen an die Rentenversicherung gezahlt worden ist. Sie haben weiter gesagt, dieser Mangel sei für die Zukunft geheilt. Würden Sie mir bestätigen, daß der Rechnungshof Ihre Praxis für dieses Jahr gerügt hat?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Für das Jahr 1984 hat der Rechnungshof diese Verhaltensweise angesprochen.
Aber für 1985 ist Sorge getroffen, daß dies rechtmäßig gehandhabt werden kann.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Kollege, können Sie mir sagen, wie hoch die Zinsen für die Überbrückungskredite waren, welche Aufwendungen die Rentenversicherungsträger also dafür zahlen mußten, daß sie diese Kredite in Anspruch genommen haben?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, ich kann die genaue Zahl jetzt nicht nennen. Aber ich möchte noch einmal darauf verweisen, daß für die Rentenversicherungsträger praktisch überhaupt keine Zinsleistungen angefallen sind, weil ja der Bundeszuschuß vorzeitig gezahlt wurde.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dreßler.
Davon ausgehend, Herr Staatssekretär, daß Sie die Frage damit beantwortet haben, daß die BfA diesen Vorgang als bereits vorhersehbar definiert habe, und Sie den Arbeitskampf gleichwohl als einen möglichen Grund für diese Situation mit angegeben haben und beide Tatbestände Monate auseinanderlagen — die Einschätzung der BfA erfolgte nämlich viel früher —: Können Sie mir diesen Widerspruch in Ihrer Antwort erklären, und glauben Sie nicht, daß es für die Bundesregierung ein sehr einfaches — um nicht zu sagen: unseriöses — Mittel ist, einen Arbeitskampf zur Begründung dieser Situation der Rentenkasse sozusagen als Beleg ins Parlament einzuführen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, hier geht es nicht um eine Wertung des Arbeitskampfes, sondern es geht um die Feststellung, daß natürlich auch der Arbeitskampf und der damit verbundene Beitragsausfall ihren Niederschlag in den Rentenversicherungsbeiträgen finden. Ich nehme keine Wertung der Streiksituation vor, aber ihre Auswirkungen müssen von der Summe her natürlich genannt werden. Da ja 220
Millionen DM aufgenommen wurden und man die streikbedingte Ausfallsumme etwa in der gleichen Höhe beziffert, kann man durchaus folgern, daß eine Kreditaufnahme nicht notwendig gewesen wäre, wenn diese Ausfälle nicht zu verzeichnen gewesen wären.
Dabei darf ich noch darauf hinweisen, daß ich noch einen zweiten Grund genannt habe, nämlich die starke Inanspruchnahme des Rückkehrangebots für ausländische Arbeitnehmer.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, unterstellt, im nächsten Jahr gäbe es keinen Arbeitskampf: Stimmt dann die Vorhersage, daß die Finanzlage der Rentenversicherung gleichwohl auf ungewöhnliche Weise prekär sein werde und die verfügbaren Mittel in einer Weise abgeschmolzen werden müßten, wie wir das seit der Währungsreform noch nie erlebt haben?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lutz, es wäre zu hoffen, daß wir 1985 keinen Arbeitskampf haben. Aber das sind Entscheidungen, die die Tarifpartner treffen.
Was die Rentenversicherung anlangt, so darf ich doch darum bitten, auch zur Kenntnis zu nehmen, daß die Lohn- und Gehaltsentwicklungen, die ja immer mit etwa 4 % angenommen werden konnten, dieses Ausmaß nicht erreichen, weil bei den Tarifverhandlungen nicht so sehr auf die Lohn- und Gehaltsentwicklung, sondern auf Arbeitszeitverkürzung gesetzt wurde. Wenn Sie jetzt davon ausgehen, daß wir 1985 eine durchschnittliche Lohn- und Gehaltserhöhung von etwa 3,2 % oder 3,3 % haben werden, dann ist natürlich verständlich, daß sich die Finanzen der Rentenversicherung bei der Einmonatsreserve halten werden.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Heyenn.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie meinem Kollegen Kirschner geantwortet, Sie wüßten nicht, ob die Renten bereits vor dem Jahr 1984 einmal auf Pump gezahlt worden seien. Nun gibt es die Rentenversicherung seit 1891. Ich wundere mich, daß Sie darüber keine Kenntnisse haben. Sind Sie bereit, mir schriftlich mitzuteilen, ob es bereits vor dem Jahr 1984, und zwar beginnend mit 1891, dem Jahr der Installierung der Rentenversicherung, in der Geschichte der deutschen Rentenversicherung einmal ein Jahr gegeben hat, in dem die Renten auf Pump gezahlt wurden?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, das möchte ich gerne bestätigen; die schriftliche Antwort bekommen Sie. Ich habe deshalb keine Zahl genannt, weil ich fragliche oder mir nicht genau bekannte Zahlen nicht in den Raum stellen möchte.
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Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glombig.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ist es richtig, aus einer Ihrer Antworten zu entnehmen, daß Sie es aufrichtig bedauern, daß die Tarifabschlüsse des Jahres 1984 nicht höher ausgefallen sind, als sie ausgefallen sind? Heißt das, daß Sie im Gegensatz zu sonstigen Äußerungen der Bundesregierung der Meinung sind, Sie müßten für die Zukunft bedeutend höher ausfallen? Ist das ein Abgehen von Ihrer bisherigen Haltung, daß diese Tarifabschlüsse im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung so hoch nicht sein dürfen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Glombig, auch hier enthalte ich mich einer Wertung. Ich stelle nur fest, daß es so ist. Weil diese Prozentpunkte zugrunde gelegt werden müssen, hat das seinen Niederschlag in den Einnahmen der Rentenversicherung.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Weinhofer.
Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, daß durch den Streik dieses Jahres die Rentenfinanzen in Unordnung geraten seien. Ist Ihnen bekannt, Herr Staatssekretär, daß zwar 0,18 % der Jahresarbeitszeit hier verlorengingen, aber im Gegensatz dazu das Dreifache dieser Zeit — 0,54 % der Jahresarbeitszeit — durch den Umstand kompensiert wurde, daß der gesetzliche Feiertag 17. Juni auf einen Sonntag fiel und sich die Unternehmer dadurch das Dreifache an Zahlungen ersparten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, zunächst möchte ich sagen: Die Rentenfinanzen sind nicht in Unordnung, sondern die Rentenfinanzen sind in Ordnung, auch wenn die Schwankungsreserve auf einem sehr niedrigen Stand ist. Die Rentenfinanzen selber sind natürlich in Ordnung. Darum darf ich diese Formulierung zurückweisen, schon mit Rücksicht auf unsere Rentnerinnen und Rentner, denen auf diese Weise sonst nur Angst eingeflößt würde.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cronenberg.
— Erledigt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß für die Monate September, Oktober und November 1985 ebenfalls erhebliche Liquiditätsengpässe zu befürchten sind? Und ist es denkbar, daß die von der Bundesregierung eingestellten 5 Milliarden eben dazu dienen sollten, diesen Zeitraum abzudecken?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Zunächst darf ich darauf hinweisen, Herr Kollege, daß überall ausgewiesen ist, daß wir für 1985 eine Schwankungsreserve von einer Monatsausgabe haben werden.
Auch die Liquiditätsreserve ist im Rentenversicherungsbereich auf jeden Fall gesichert. Daß wir in Engpässe kommen können, bestätigt ja schon die Tatsache, daß wir die Möglichkeit von Betriebsmitteldarlehen vorgesehen haben.
Dabei möchte ich aber noch einmal darauf hinweisen: Herr Kollege, Sie wissen recht gut, daß es zwar bei den Beitragseinnahmen für September und Oktober gewisse Schwierigkeiten gibt, daß aber im November und Dezember die Beitragseinnahmen sehr in die Höhe schnellen. Das führt auf die erste Frage zurück. Ich darf noch einmal sagen, daß die Rentenversicherungsträger schon zwei Tage danach wieder überschüssige Mittel angelegt haben. Also ich bitte, diese Beitragseinnahmen, die gerade in den letzten beiden Monaten des Jahres, vor allem im letzten Monat erfolgen, bei der Finanzsituation der Rentenversicherung zu berücksichtigen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reimann.
Herr Staatssekretär, da es ja vorrangig um die Bundesversicherungsanstalt geht und da der Arbeitskampf in der Diskussion und auch bei Ihnen eine entscheidende Rolle spielt, frage ich Sie: Wie viele Angestellte haben eigentlich an dem Arbeitskampf teilgenommen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es geht nicht nur darum, wer am Arbeitskampf teilgenommen hat, sondern darum, daß ein Finanzausfall, ein Beitragsausfall eingetreten ist. Ich möchte noch einmal sagen: Hier geht es nicht um die Wertung des Arbeitskampfes, sondern um die Tatsache verminderter Beitragseinnahmen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Stutzer auf:
Wie war die finanzielle Situation der Rentenversicherung zu Beginn und am Ende der früheren Koalition zwischen 1969 und 1982?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stutzer, als im Jahre 1969 ein sozialdemokratischer Arbeitsminister die Verantwortung für die gesetzliche Rentenversicherung übernommen hatte, verfügte die gesetzliche Rentenversicherung noch über eine solide finanzielle Grundlage. Die Schwankungsreserve der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten betrug 7,7 Monatsausgaben. Sie stieg in Nachwirkung der zuvor unter Bundesminister Katzer betriebenen soliden Rentenpolitik bis 1972 sogar auf 9,3 Monatsausgaben an. In den Folgejahren sank die Rücklage kontinuierlich bis auf 2,1 Monatsausgaben zum Ende 1982, obwohl der Beitragssatz 1973 auf 18 % erhöht wurde.
Dann kamen das 20. und 21. Rentenanpassungsgesetz. Diese brachten erhebliche Leistungsein-
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
schränkungen. Ich erinnere an die Verschiebung der Rentenanpassung vom 1. Juli 1978 auf den 1. Januar 1979, an die Kürzung der Rentenanpassungssätze für 1979, 1980 und 1981 um insgesamt 12,5% und an die Festsetzung auf — entgegen der Rentenformel — 4,5 %, 4 % und nochmals 4 %.
Die Verminderung der Rücklage ist einerseits zwar auf übermäßige Ausgabensteigerungen zurückzuführen, zum anderen jedoch maßgeblich beeinflußt durch die negativen Folgen einer Politik, die die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und der öffentlichen Haushalte ständig überfordert hat.
Durch die Haushaltsbegleitgesetze 1983 und 1984 ist die gesetzliche Rentenversicherung wieder auf eine solide finanzielle Basis gestellt worden. Die christlich-liberale Koalition
mußte bei der Übernahme der Regierungsverantwortung erst die Finanzgrundlagen der Rentenversicherung in Ordnung bringen. Nur so können die notwendigen sozialen Maßnahmen, z. B. die Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung und die Einführung von Kindererziehungszeiten, vorgenommen werden.
Die Liquidität der Rentenversicherung ist voll gewährleistet. Keiner braucht sich um die pünktliche Auszahlung der ihm zustehenden Rente Sorgen zu machen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, gab es nicht auch namhafte Sozialdemokraten, die vor dieser Politik gewarnt haben, ohne bei der seinerzeitigen Regierung Gehör gefunden zu haben, und gab es nicht einen sozialdemokratischen Arbeitsminister, der diese Politik nicht mehr glaubte verantworten zu können und zurückgetreten ist?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie kennen die Zusammensetzung der früheren Koalition und wissen, daß in diesem Sachbereich maßgebende Sozialdemokraten tätig waren.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, was haben die Sozialdemokraten in den beiden letzten Bundestagswahlkämpfen zur Finanzsituation der Rentenversicherung gesagt?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Mir ist noch bekannt, Herr Kollege Stutzer, daß im Jahr 1976 von sicheren Rentenfinanzen gesprochen wurde. Dort fiel aber auch das Wort, daß es nur ein kleines Problemchen gebe, das sich nachher zu einem sehr großen Problem entwickelt hatte, und zwar nach der Bundestagswahl.
Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Weinhofer.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß der Rückgang des Vermögens der Rentenversicherungsträger in der Zeit von 1969 bis 1982, wie von Ihnen geschildert, doch zu einem erheblichen Teil auch dadurch verursacht worden ist, daß das Verhältnis der Zahl der Rentner zu der Zahl der Beitragszahler in diesem Zeitraum erheblich ungünstiger geworden ist? Und würden Sie bitte bestätigen, daß diese Entwicklung unabhängig von den politischen Mehrheitsverhältnissen verursacht worden ist?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bestätige, daß es eine Reihe von Sachentwicklungen gegeben hat, die natürlich Einfluß auf die Finanzsituation der Rentenversicherung nehmen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, Sie haben geschildert, wie das Vermögen der Rentenversicherung abgenommen hat. Wie ist es, nachdem die jetzige Regierung nun zwei Jahre im Amt ist, dann möglich, daß diese angebliche Rentenkonsolidierungspolitik zum Dezember 1984 — das haben Sie in Ihrer Antwort vorhin zugegeben — dahin geführt hat, daß die Rentenversicherung zum erstenmal auf den Kapitalmarkt gehen mußte? Ist das ein Beweis dafür, daß die Monatsausgaben der Rentenversicherung noch zugenommen haben?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich darf auf die Frage ganz offen sagen: Wenn die Christlichen Demokraten und die Christlich Sozialen 1982 nicht in der Koalition mit der FDP dafür gesorgt hätten, sofort eine wesentlich bessere Haushaltspolitik, auch eine wesentlich bessere Wirtschaftspolitik und damit auch eine bessere Rentenpolitik zu machen, dann wären 1982 im Rentenversicherungsbereich wesentlich größere Schwierigkeiten entstanden. Sie wissen selber, wie im Herbst 1982 die Rentenfinanzen wirklich waren.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak. Wir können jetzt natürlich nicht den gesamten sozialpolitischen Bereich der Renten hier behandeln, sondern die Frage lautete, wie die Situation 1969 und 1982 war.
Herr Staatssekretär, können Sie ein in den Jahren 1969 bis 1982 beschlossenes aus-gabenwirksames Gesetz im Bereich der Rentenversicherung nennen, das von der damaligen Opposition im Deutschen Bundestag abgelehnt wurde?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, wenn Sie diese Frage stellen, erinnere ich mich sehr gut an die Rentendiskussion 1972. 1969 hat man vor dem Hintergrund von etwa neun Monatsrücklagen diskutiert. Sicher hat man bei der Rentenreform 1972 Neuerungen eingeführt — ich denke nur an die flexible Altersgrenze —, die sich
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
natürlich auch kostenmäßig in der Rentenversicherung niedergeschlagen haben.
Sie haben danach gefragt, welches Gesetz abgelehnt wurde. Wir waren damals der Meinung, daß es richtig sei, zur flexiblen Altersgrenze ja zu sagen, zumal wenn man weiß, wie viele ältere Arbeitnehmer damals vor den Sozialgerichten standen und mit 63 Jahren noch darum kämpfen mußten, eventuell eine Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente zu erhalten.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Heyenn.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben bestätigt, daß die Veränderung in der demographischen Struktur der Bevölkerung in den Jahren 1962 bis 1982 zu einem erheblichen Teil zu der finanziellen Entwicklung beigetragen hat. Können Sie mir im Detail eine schriftliche Darstellung dieser demographischen Entwicklung nachliefern? Sind Sie bereit, mir zumindest zuzugeben, daß in den Jahren 1969 bis 1982, um die es hier geht, die Rente zu keinem Zeitpunkt auf Pump gezahlt wurde?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, ich habe schon auf die vorhin gestellte Frage eines Ihrer Kollegen geantwortet: Wenn nicht 1982 die Wende gekommen wäre, wenn nicht die Regierungsverantwortung von CDU/CSU und FDP übernommen worden wäre, wüßte man nicht, wie es heute in der Rentenversicherung aussähe, und zwar in negativer Hinsicht.
Bezüglich Ihrer beiden anderen Fragen darf ich zunächst einmal darauf verweisen, daß in den Rentenanpassungsberichten, die ja jährlich vorgelegt werden, diese demographischen Entwicklungen dargelegt sind. Herr Kollege Heyenn, selbstverständlich sind wir gern bereit, eine Auflistung der demographischen Entwicklung von 1969 bis jetzt zu geben. Ich glaube, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr wichtig, den Blick nicht nur in die Vergangenheit zu richten, sondern in den Fragen der Rentenversicherung den Blick in die Zukunft zu richten. Dann werden diese Fragen im Bereich der Rentenversicherung mit wesentlich größerer Bedeutung zu diskutieren sein.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reimann.
Herr Staatssekretär, Sie sprechen dauernd von der negativen Politik und davon, wie es aussieht. Ich frage Sie: Trifft es zu, daß die Finanzlage der Rentenversicherungsträger zu Beginn der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition im Jahre 1969 nur deshalb so günstig gewesen ist, weil die Große Koalition zuvor umfangreiche Rentenkonsolidierungsmaßnahmen beschlossen hatte, so z. B. die Anhebung des Beitragssatzes von 14 auf 18%,
die Abschaffung der Heiratserstattung und die Einbeziehung aller Angestellten in die Rentenversicherungspflicht? Trifft es zu, daß die Maßnahmen der Großen Koalition nur deshalb notwendig wa-
ren — —
Herr Abgeordneter Reimann, wir haben hier keine sozialpolitische Debatte. Ich darf Ihnen einmal einen guten Rat geben — nehmen Sie ihn von jemandem an, der schon sehr lange hier ist —: Es gibt manche Aktuelle Stunde, von der ich der Meinung bin, sie ist nicht so aktuell, wie sie bezeichnet wird. Aber es könnte durchaus sein, daß dies ein aktueller Anlaß ist. Das wäre dann eine Aktuelle Stunde. Aber daß Sie hier eine sozialpolitische Debatte machen, kann ich in der Fragestunde mit Rücksicht auf die anderen, die ihre Fragen gestellt haben, nicht zulassen.
Ich bitte, noch eine kurze Frage zu dem Punkt zu stellen, der aufgerufen ist. Bitte sehr, Herr Kollege Reimann.
Trifft es zu, daß die Maßnahmen deshalb notwendig waren, weil die amtierende Regierung Erhard im Grunde genommen diese finanzielle Misere verursacht hatte?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Sie die positiven Rentenfinanzen von 1969 ansprechen, darf ich neben einigen Gründen, die Sie genannt haben, vor allem hervorheben, daß wir zu dieser Zeit noch Vollbeschäftigung und eine blühende Wirtschaft hatten, was zu entsprechenden Beitragseinnahmen geführt hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Egert.
Herr Staatssekretär, Sie haben uns ermahnt, nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft zu blicken. Die Frage des Kollegen Stutzer ist nun leider eine, die in die Vergangenheit weist. Deswegen kann meine Frage auch nicht in die Zukunft weisen. Vielmehr ist es eine Frage zur Vergangenheit.
Sie haben gesagt, damals wäre alles so schrecklich schlimm gewesen. Nun will ich Sie fragen: Ist es richtig, daß am Ende der sozialliberalen Koalition die Arbeitnehmereinkommen um 3 % hinter den Renteneinkommen zurückgeblieben sind, daß sich die Rentner also zumindest zum Zeipunkt der Wende zu Ihrer Regierung positiver standen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Egert, darauf kann ich nur sagen: Wenn wir die verkürzten Anpassungen von 1979, 1980 und 1981 anschauen und dann das Nettorentenniveau vergleichen, das ja 1977 so wie heute einen Höchststand hatte, kann man nur zu dem Schluß kommen,
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
daß das Niveau 1982 abgefallen war. Das sind Zahlen, an denen man nicht vorbeikommt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, wollen Sie ausschließen, daß die betroffenen Rentner das sehr viel anders sehen, als Sie es uns geschildert haben? Die merken nämlich, was von ihrem Lebensstandard tatsächlich abgeschmolzen worden ist.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lutz, ich erinnere mich an die Diskussionen, als innerhalb von drei Jahren die Rentner über 12 % eingebüßt haben. Was heute in der Diskussion eine besondere Rolle spielt, ist der Krankenversicherungsbeitrag der Rentner. Herr Kollege Lutz, ich darf das ganz deutlich sagen: Sie, der Sie in diesem Bereich mit tätig sind, wissen, daß wir an der Frage des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner nicht vorbeikommen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kolb.
Herr Staatssekretär, können Sie in Ihrem Hause einmal nachvollziehen lassen, welche Auswirkungen das vorgezogene Altersruhegeld und welche Auswirkungen das Urteil des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1976 in bezug auf Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente hatten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin sehr dankbar, daß Sie diese Frage stellen. Ich glaube, daß das sehr maßgebende Entscheidungen waren, die zu einer Entwicklung beigetragen haben, von der die Rentenfinanzen mitbeeinflußt worden sind.
Ich lasse noch zwei Zusatzfragen zu. Zunächst Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Staatssekretär, noch einmal zur Klarstellung auf die Frage meines Kollegen Urbaniak: Ich habe Sie richtig verstanden, daß Sie nicht imstande sind, ein ausgabenwirksames Gesetz aus den Jahren 1969 bis 1982 zu nennen, gegen das die damalige Opposition gestimmt hätte? Ist das korrekt, richtig?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Soweit mir die Diskussionen und die Abstimmungen bekannt sind, müßte ich meine Antwort von vorher praktisch wiederholen.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glombig.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, haben Sie nicht auch den Eindruck oder noch besser: können Sie bestätigen, daß Sie versuchen, eine verlorene Schlacht aus der vorvorigen Woche doch noch zu gewinnen, d. h. können Sie bestätigen, daß das eine Fragestunde in Sachen Sozialpolitik ist, die von Ihnen bestellt worden ist und von den Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion bestritten wird, und zwar Ihrerseits mit Formulierungen, die in Ihrem Hause ausgearbeitet worden sind, d. h. die Antworten sind Ihnen gleich mitgeliefert worden — —
Herr Abgeordneter Glombig, diese Zusatzfrage ...
Moment mal! Vielleicht darf ich meine Frage zu Ende führen.
... geht weit über die ursprüngliche Fragestellung hinaus. Ich kann sie nicht zulassen.
Wir kommen sonst in der Fragestunde völlig ins Schleudern. Ich bitte Sie, darauf Rücksicht zu nehmen.
Ich rufe die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Seehofer auf:
Wie hat sich die reale Einkommenssituation der Rentner in den letzten Jahren entwickelt?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Seehofer, die ungünstige Wirtschaftsentwicklung und die hohen Preissteigerungsraten zu Anfang der 80er Jahre sind auf die Entwicklung der realen Einkommenssituation der Rentner nicht ohne Einfluß geblieben. Trotz verhältnismäßig hoher Anpassungssätze, z. B. in den Jahren 1980 und 1981 von jeweils 4%, haben die Rentner Kaufkraftverluste hinnehmen müssen, weil die Preissteigerungsraten höher waren.
Die Erfolge der Regierung der CDU/CSU und FDP bei der Bekämpfung des Geldwertverlustes durch Inflation haben bewirkt, daß den Rentnern im Jahre 1984 wieder ein realer Einkommenszuwachs zugute kommt. Der Rentenanstieg im Jahre 1984 gegenüber dem Jahre 1983 beträgt rund 2,9 %. Die Preissteigerungsrate im Jahre 1984 wird zur Zeit auf 2,5% geschätzt. Dies bestätigt die Bundesregierung in ihrer Auffassung, daß eine Politik, die eine größtmögliche Preisstabilität sicherstellt, eine Politik auch und gerade für die Rentner ist.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, könnten Sie exakt darstellen, wie die Einkommen der Rentner heute aussehen würden, wenn man Ende der 70er Jahre die Anpassung der Renten nicht von den Löhnen abgekoppelt hätte?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ich habe vorhin schon eine Prozentzahl genannt, Herr Kollege Seehofer: Wenn wir uns die verkürzten Anpassungen
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
anschauen, die damals mit 4,5%, 4 % und noch einmal 4 % eingeführt wurden, dann beträgt die Minderung über 12%.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß das hohe Rentenniveau deshalb möglich ist, weil die Aktiven, die im Erwerbsleben stehen, zu mehr als 80% die Krankenversicherung der Rentner bezahlen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Seehofer, für den Bereich der Krankenversicherung der Rentner haben Sie bereits eine Prozentzahl genannt, und die trifft zu. Die im Erwerbsleben Stehenden tragen die Krankenversicherung der Rentner zu 83% mit.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, ich muß noch einmal auf die Frage meines Kollegen Egert zurückkommen,
was auch zu Ihrer Antwort auf die Frage des Herrn Seehofer paßt: Stimmt es nicht, daß 1982 die Einkommen der Rentner in der Entwicklung um 3% über den Einkommen der aktiven Arbeitnehmer lagen, und würden Sie mir die Zahlen über die Entwicklung der beiden Einkommensarten für die Jahre 1957 bis 1981 schriftlich hinzufügen, damit wir das ein für allemal rausbringen, Herr Staatssekretär? Denn die Rentner von damals, wie sich gestern wieder gezeigt hat, wissen ja, daß sich ihre Einkommen kontinuierlich verbessert haben.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ihre Bitte auf schriftliche Darstellung wird gern erfüllt. Da es noch einmal um die Renteneinkommen von damals geht, darf ich auch darauf verweisen, daß es unser Anliegen war, eine Aktualisierung der Rentenanpassung durchzuführen, weil die Rentenanpassung immer um drei Jahre hinterhergehangen hat. Deshalb sind auch Lohn- und Gehaltsentwicklung und Rentenanpassung oft auseinandergefallen. Die Kürzungen in den drei Jahren 1979, 1980 und 1981 haben insgesamt 12,5% ausgemacht.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, bestehen in der Regierung Überlegungen, diese Kürzungen der Haushaltsbegleitgesetze 1983 und 1984, die von Ihnen genannt wurden, rückgängig zu machen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, Sie selber kennen die Rentenfinanzen, und es wäre vermessen, solche Versprechungen zu machen; man muß die Situation der Rentenfinanzen sehen. Unsere wichtigste politische Aussage ist, daß sich Rentnerinnen und Rentner darauf verlassen können, daß sie monatlich pünktlich ihre Rente bekommen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Egert.
Herr Staatssekretär, wir kommen aus der Vergangenheit in die Gegenwart: Würden Sie mir bestätigen, daß der Kaufkraftverlust der Rentner in den drei Rentenanpassungen Ihrer Regierung um 1 % hinter den realen Einkommenssteigerungen der Arbeitnehmer zurückbleibt, ausweislich einer Pressemitteilung Ihres Ministeriums?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Egert, da kommt es aber darauf an, wie hoch der Kaufkraftverlust war.
Wenn wir eine Preissteigerungsrate haben, die im Jahresdurchschnitt knapp über 2 % liegt, dann muß man deutlich machen, wie positiv sich das auf die Einkommen der Rentner auswirkt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Staatssekretär, zurückkommend auf den Krankenversicherungsbeitrag: Stimmen Sie mir zu, daß die Beiträge des Jahres 1982 mit 16,9 Milliarden DM oder 2,7 Prozentpunkten in dem Moment, wo Sie sie auf 5 % erhöhen, nicht zur Kostendeckung, sondern zur Deckung anderer Löcher genutzt werden und damit wesensfremd angelegt werden?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, hier geht es zunächst einmal um den Beitragszahler. Es ist unerheblich und gar nicht so bedeutungsvoll, ob diese Beiträge nun in die Krankenversicherung oder in die Rentenversicherung gehen. Sie zielen mit Ihrer Frage darauf ab, daß die Rentenversicherungsträger praktisch den Krankenversicherungsbeitrag bezahlen, der auf 8,8 % und mit der jetzigen Regelung auf 6,8 % abgesenkt wurde. Aber hier ist doch entscheidend, daß die Beitragslast derer, die im Erwerbsleben stehen, generell stabil bleiben und nicht erhöht werden soll. Deshalb müssen wir den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner bejahen. Ich bitte darum, daß Sie bei all Ihren Überlegungen auch die Ausgaben in der Rentnerkrankenversicherung sehen und dementsprechend realistische Politik betreiben.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Heyenn.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir in der Auffassung zu, daß sich die Einkommenssituation der Rentner wesentlich besser gestalten würde, wenn nicht diese Regierung und die sie tragende Koalition im Jahre 1984 und im Jahre 1985 2 % Krankenversicherungsbeitrag von der Anpassung abziehen würden?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, ich weiß, daß es diese Diskussion gibt. Ich möchte jetzt aber noch einmal einen Blick in die Vergangenheit werfen. Herr Kollege Heyenn, wir stünden in diesen Fragen wesentlich positiver, wenn die damalige Koalition 1969 den Rentner-
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Parl. Staatssekretär Höpfinger krankenversicherungsbeitrag nicht aufgehoben, sondern beibehalten hätte.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glombig.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ist es richtig, wenn ich aus Ihrer Antwort auf die Frage von Herrn Seehofer entnommen habe, daß Sie es außerordentlich bedauern, daß die Rentenanpassung in den Jahren 1979, 1980 und 1981 auf einem wesentlich höheren Niveau als die Rentenanpassungen in der Zeit dieser Regierungskoalition festgeschrieben worden sind, daß Sie also bedauern, daß das finanzielle Ergebnis der Rentenversicherung im Jahre 1982 nicht doch noch geringer geworden ist, als es auf Grund der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung ohnehin sein mußte? Mit anderen Worten: Sie bedauern, daß mit diesen Maßnahmen ein verhältnismäßig gutes Ergebnis vorgelegen hat. Wollen Sie diese Maßnahmen des Jahres 1977 zurückdrehen und den Rentnern die volle Rentenanpassung für die Jahre 1979, 1980 und 1981 nachträglich auszahlen? Ich frage das deshalb, weil ich meine, daß eine solche Maßnahme dann konsequent wäre.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Glombig, die verkürzten Rentenanpassungen, die Sie ansprechen, waren damals für die Rentner deshalb so schwierig, weil es Preissteigerungsraten von 5 % und mehr gab.
Die Preissteigerungsrate lag weit über der Rentenanpassung.
Heute können wir sagen, Herr Kollege Glombig: Die Rentenanpassungen der Jahre 1984 und 1985
fallen in eine Zeit mit niedrigsten Preissteigerungsraten
und sind damit ein Plus für die Rentner.
Meine Damen und Herren, wir haben hier keine Parlamentsdebatte mit Diskussion und Zwischenrufen. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär gibt eine Antwort. Sie können damit zufrieden sein oder auch nicht. Das darf aber nicht dazu führen, daß hier eine Diskussion entsteht.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Steinhauer.
Herr Staatssekretär, finden Sie es den Rentnern gegenüber solidarisch, wenn Sie die Ausgaben der Rentnerkrankenkasse gegen die Beiträge aufrechnen? Wäre es nicht angezeigt, hier einmal darauf hinzuweisen, daß es auch hier einen Solidarpakt gibt und daß die Rentner früher auch einmal erwerbstätig waren?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steinhauer, ich danke Ihnen für diese Zwischenfrage, weil sie mit Gelegenheit gibt, darauf hinzuweisen, daß es bei Darlegung dieser Summen nicht um Vorwürfe gegenüber den älteren Leuten geht. Sie haben einen Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung. Aber wir müssen von einer anderen Überlegung ausgehen. Wir alle haben die Chance, älter zu werden. Aber gesünder wird man dadurch nicht.
Man braucht die Leistung des Arztes, man braucht die Hilfe des Krankenhauses, man braucht Medikamente. Alles hat seinen Preis. Nur, Frau Kollegin Steinhauer, eines ist sicher: Sie können diesen Preis nicht fortwährend den Erwerbstätigen auferlegen. Hier muß man den Rentnern sagen, dieser Preis ist von ihnen mitzutragen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kolb.
Herr Staatssekretär, könnten Sie dem Hohen Hause einmal mitteilen, wie sich die Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung für die Rentner entwickelt haben, und trifft es zu, daß im letzten Jahr 21 Milliarden DM von den Aktiven, d. h. rund drei Beitragspunkte, zusätzlich im Krankenversicherungsbeitrag bezahlt werden mußten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolb, wenn wir von den Ausgaben der Krankenversicherung ausgehen, nehme ich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Die haben im vorigen Jahr über 100 Milliarden DM betragen. Davon gehen 33 Milliarden DM für die Rentnerkrankenversicherung weg. Wenn wir jetzt 5% Rentnerkrankenversicherungsbeitrag verlangten, würden auf diesem Wege — bei 5 %! — zwischen 6 und 7 Milliarden DM eingehen. Der Rest der 33 Milliarden DM müßte dann immer noch von den erwerbstätigen Beitragszahlern mitgetragen werden.
Noch zwei Zusatzfragen, Herr Abgeordneter Möllemann und dann Herr Abgeordneter Penner.
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Herr Staatssekretär, kommt Ihnen ein gut Teil der Fragen angesichts der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung, des von allen im Hause anerkannten voraussichtlichen wirtschaftlichen Wachstums und der Tatsache, daß es allen Fraktionen hier im Hause um eine Konsolidierung der Staatsfinanzen geht, kommt Ihnen angesichts dieser Voraussetzungen nicht ein gut Teil der Debatte hier gespenstisch vor?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Möllemann, ich habe Verständnis, daß gerade Rentenfragen, die auch in der Bevölkerung sehr aktuell sind und sehr heiß diskutiert werden, natürlich hier im Hause ihren Niederschlag finden. Wenn Sie nach der Gespenstigkeit fragen: ich habe schon den Eindruck — ich stehe hier, um Fragen zu beantworten —,
daß eine Reihe von Fragen und Zusatzfragen ganz bewußt und deshalb in die Vergangenheit gehen, um einige Fehler und manche Schwächen von damals heute zu übertuschen.
Weil vorhin das Wort „Rente auf Pump" gefallen ist, darf ich dem Zwischenrufer nur sagen: Wir sollten vorsichtig sein, mit solchen Formulierungen die ältere Generation zu verunsichern.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Penner.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin eine Kaufkraftminderung bei den Renten in den letzten Jahren konzediert, haben aber zugleich die geringere Inflationsrate reklamiert. Herr Staatssekretär, sind Sie sich darüber im klaren, daß bei der Feststellung der Kaufkraft gerade die Inflationsrate eine wesentliche Rolle spielt?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ja, natürlich, Herr Kollege Penner, spielt hier die Kaufkraft eine wesentliche Rolle. Es ist j a auch darauf hinzuweisen, daß eine Preisentwicklung von 2 % — und in diesem Jahr liegt sie etwas über 2 % — positiv angesprochen werden muß, und zwar sowohl für die, die im Erwerbsleben stehen, als auch für die Rentner. Das läßt sich auch zahlenmäßig darstellen.
Ich rufe Frage 60 des Herrn Abgeordneten Keller auf:
Sieht die Bundesregierung angesichts der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung in der zweiten Hälfte der 90er Jahre schon jetzt einen Handlungsbedarf, um das finanzielle Gleichgewicht der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhalten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Keller, die Bundesregierung beobachtet die für die finanzielle Stabilität der Rentenversicherung maßgeblichen Einflußfaktoren sehr genau; sie hält aber jede Dramatisierung der Auswirkungen der künftigen Bevölkerungsentwicklung im Interesse aller
Beteiligten für unverantwortlich. Die Bundesregierung teilt die Ansicht des Sozialbeirats, daß auch längerfristig aus heutiger Sicht kein unmittelbarer Anlaß zur Sorge besteht. Sie ist allerdings mit dem Sozialbeirat auch der Meinung, daß die gesetzliche Rentenversicherung angesichts der längerfristig bestehenden Risiken nicht negativ präjudiziert werden darf. Die von der Bundesregierung beabsichtigte Weiterführung der mit den Haushaltsgesetzen 1983 und 1984 eingeleiteten Strukturreform wird sicherstellen, daß die gesetzliche Rentenversicherung auch langfristig eine solide finanzielle Basis erhält, um die Auswirkungen der demographischen Entwicklung überwinden zu können.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie mir auf Grund Ihrer optimistischen Aussage sagen, in welchem Jahr mit weiteren Maßnahmen im Rahmen der Strukturreform in der Rentenversicherung zu rechnen ist?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Keller, Sie wissen aus der praktischen Arbeit, wie viele Rentenangelegenheiten wir zu Zeit in der parlamentarischen Bearbeitung haben. Wenn wir an die Hinterbliebenenrente mit Anerkennung des Erziehungsjahres denken, wenn wir an die Rentenanpassung 1985 denken, wenn wir an den Rentenanpassungsbericht 1984 denken, dann wissen wir, daß das Parlament mit diesen Fragen weitgehendst ausgelastet ist. Deshalb sind Fragen der weiteren Strukturreform auch noch in der nächsten Legislaturperiode anzugehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Abgeordneter Egert.
Herr Staatssekretär, von der Gegenwart nun in die Zukunft, wie Sie es sich gewünscht haben: Würden Sie vor diesem Hintergrund das Angebot der SPD, die Frage der künftigen demographischen Entwicklung bereits jetzt zu regeln, nicht als hilfreich für die Regierung ansehen, und würden Sie mir von daher bestätigen, daß um so mehr Gewißheit und Sicherheit in der Rentenversicherung für unsere älteren Mitbürger und auch für die zukünftigen Rentner entstehen wird, je früher wir dieses Problem angehen, daß also von daher bereits jetzt ein dringender Handlungsbedarf besteht?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Egert, wenn Sie alle Maßnahmen allein der letzten beiden Jahre im Bereich der Rentenversicherung anschauen, dann werden Sie feststellen, daß bei jeder Neuregelung, die es im Rentenbereich gibt, Strukturmaßnahmen mitschwingen. Wenn Sie das ganz neutral beurteilen — Sie sind j a selber vom Fach —, dann müssen Sie sagen: Diese Bundesregierung ist bereits auf dem besten Wege, Strukturreformen einzuleiten und durchzuführen, um die Entwicklung der 90er Jahre und hin auf das Jahr 2000 entsprechend meistern zu können.
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Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kolb.
Herr Staatssekretär, könnten Sie dem Hohen Hause einmal mitteilen, wie sich seit der Einführung der bruttolohnbezogenen Rente von 1957 bis heute die Dauer der Rentengewährung in der Zwischenzeit verlängert hat, daß in der Zwischenzeit auch die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer von 63 Jahre auf 70 Jahre und der Frauen von 70 Jahre auf 77 Jahre gestiegen ist und wie sich das am Ende ausgewirkt hat?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolb, in einem der letzten Rentenanpassungsberichte ist diese Frage ganz besonders herausgestellt worden. Wie Sie bereits gesagt haben, hat sich die Lebenserwartung verlängert. Die Menschen haben die Chance, älter zu werden. Das bedeutet dann aber auch einen längeren Rentenbezug. Von daher entstehen all die Fragen: Wie kommen wir mit den Beiträgen zurecht? Dabei möchte ich noch einmal darauf verweisen: Sowohl die demographische Entwicklung als natürlich auch die wirtschaftliche Entwicklung sind ausschlaggebend für die Sicherung unserer Altersversorgung.
Ich möchte als letztes zu Ihrer Zusatzfrage sagen: Diese Schwierigkeiten und diese Probleme hat sicher nicht nur die Rentenversicherung; sie werden auf alle Alterssicherungssysteme zukommen und werden diskutiert werden müssen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Steinhauer.
Herr Staatssekretär, ich denke, Ihnen sind die Resolutionen des Bundesverbandes der Rentenversicherungen bekannt — die einstimmig verabschiedet wurden —, in denen dringend auf Lösungen hingewiesen wird, die nicht nur im Augenblick hilfreich sind. Wie stehen Sie zu folgendem Beschluß — ich darf zitieren —:
Notwendig sind aber keine Maßnahmen, die nur an den Symptomen kurieren und das eigentliche Übel nicht an der Wurzel packen, sondern Lösungen, welche Finanzengpässe dauerhaft beseitigen.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steinhauer, solche pauschal erhobenen Forderungen kann man immer unterstreichen, wenn es aber ins Detail geht, muß ich allerdings sagen: Wenn z. B. die Vorlage der Bundesregierung für die Hinterbliebenenversorgung mit Anerkennung von Erziehungszeiten nicht eine ganz konkrete, in die Zukunft gerichtete Maßnahme ist, dann muß ich fragen: Was ist dann noch in die Zukunft gerichtet?
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stutzer.
Herr Staatssekretär, da Sie — meines Erachtens zu Recht — darauf hinwiesen, daß ein enger Zusammenhang zwischen der demographischen Entwicklung und der Rentenpolitik besteht, frage ich Sie: Ist diese besorgniserregende demographische Entwicklung u. a. nicht auch darauf zurückzuführen, daß in den letzten Jahren der sozialdemokratisch geführten Regierung eine Familienpolitik praktisch nicht stattfand?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stutzer, damit greifen Sie — vom zeitlichen Ablauf her gesehen — noch einmal auf die Vergangenheit zurück. Ich kann nur bestätigen: Bei dem, was hier im letzten Jahrzehnt an Familienpolitik geschehen ist, hat man offensichtlich nicht gesehen, welche negativen Beeinträchtigungen es in der Familienpolitik gibt. Das wird seine Auswirkungen haben. Wir werden über diese Auswirkungen nicht nur im Bereich der Sozialversicherung diskutieren müssen. Die Diskussion wird in ganz anderen Bereichen aufbrechen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsleben ausscheiden und nur ganz schwache Geburtenjahrgänge ins Arbeitsleben eintreten.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Heyenn.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit zuzugeben, nachdem diese Fragestunde bisher eindeutig belegt hat, daß Vorwürfe einer früheren Opposition, es gebe Rentenbetrug, falsch sind und zur Verunsicherung der Rentner beigetragen haben, und nachdem eindeutig feststeht, daß unsere Aussagen, heute würden Renten auf Pump gezahlt, den Tatsachen entsprechen, geben Sie nicht zu, daß diese Entwicklung in der Rentenversicherung zu einer totalen Verunsicherung der Rentner, die alles bisher Dagewesene übersteigt, führen muß, und meinen Sie in diesem Zusammenhang nicht auch, daß Sie eine strukturelle Reform, die Sicherheit für die 90er Jahre gibt, den Rentnern vor der Bundestagswahl 1987 schuldig sind?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Also, Herr Kollege Heyenn, ich möchte Ihnen in aller Sachlichkeit antworten. Eine Formulierung „Rente auf Pump" halte ich für so überzogen wie nur irgend etwas. Ich habe vorhin bei der Beantwortung der Hauptfrage darauf hingewiesen, daß die Rentenversicherungsträger eine Rücklage von 6,7 Milliarden DM haben. Also wenn ich eine Rücklage von 6,7 Milliarden DM habe, bin ich kein armer Mann. Hier wurde aus vernünftigen Überlegungen für zwei Tage ein Überziehungskredit genommen, der schon nach dem zweiten Tag um 9 Uhr früh ausgeglichen war. Ich möchte noch einmal betonen, daß bereits zwei Tage später wieder Vermögen angelegt wurde. Ich muß also in aller Sachlichkeit sagen, ich halte das Wort „Renten auf Pump" für erheblich überzogen und ich halte es für gefährlich gegenüber der älteren Generation. Politiker können untereinander das eine oder andere sagen und ausdiskutieren. Aber wir dürfen nie vergessen, daß diese Frage 12 Millionen Rentner betrifft. Sie haben nicht den Einblick in
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
alle Bereiche. Und wenn diese Menschen anfangen, sich Sorgen zu machen, wie es weitergeht, dann sollten, glaube ich, Politiker hier auf die Gefühle dieser älteren Generation Rücksicht nehmen.
Herr Abgeordneter Heyenn, Sie haben eine Frage gestellt. Ich war so großzügig, alles zuzulassen, obwohl es nicht den Richtlinien für die Fragestunde entspricht. Es heißt: kurze Fragen und kurze Antworten. Es sind bis jetzt noch mindestens 70 Fragesteller da, die keine Antwort bekommen werden, weil dieser Teil der Fragestunde so ausgeweitet wurde. Das gilt für alle Seiten, Herr Abgeordneter Dreßler: Antworten genauso kurz wie die Fragen.
Als nächster hat eine Zusatzfrage Herr Abgeordneter Cronenberg.
Herr Staatssekretär, nachdem die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Konsolidierung unseres Rentensicherungssystems, die seit 1980 getroffen worden sind, der kurzfristigen Konsolidierung des Systems gedient haben: Können Sie dem Hohen Hause bestätigen, daß es die feste Absicht der Koalitionsfraktionen ist, die unbestritten auftretenden strukturellen Probleme in dieser Legislaturperiode zu lösen zu beginnen, die Diskussion zu eröffnen, und daß es dabei keine Tabus, weder was das Rentenniveau noch die Beitragshöhe anbelangt, geben darf?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter Cronenberg, ich kann bestätigen, daß bereits jetzt Maßnahmen der Strukturreform eingeleitet sind und daß es die Zielsetzung der Bundesregierung ist, auf diesem Weg weiterzumachen. Wenn wir uns die Schwankungsreserve anschauen — um noch einmal auf den finanziellen Bereich zu kommen —, war ich vorhin offen genug und habe zugegeben, wir werden 1985 eine Schwankungsreserve von etwas über einer Monatsausgabe haben. Aber die Schwankungsreserve nimmt bereits ab 1986 wieder zu und wird auf 1,5 Monatsausgaben ansteigen. Also insofern ist die Politik der Koalition der CDU/CSU und FDP richtig eingeleitet, und sie wird richtig fortgesetzt werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lutz.
Herr Staatssekretär, da ich unterstelle, daß Offenheit gegenüber dem Parlament Ihre Pflicht ist, meine Frage: Sind Sie nicht der Meinung, daß die Gefahren die der Rentenversicherung langfristig drohen, nicht so sehr aus der demographischen Welle erwachsen — das könnte nämlich durch das Erwerbsleben ausgeglichen werden —, sondern erwachsen aus der schrumpfenden Zahl von Arbeitsplätzen? Wie wollen Sie das bewerkstelligen? Wollen Sie unserem Gedanken einer Wertschöpfungsabgabe nähertreten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Zur ersten Zusatzfrage kann ich nur sagen: Ich habe bereits dreimal darauf hingewiesen, wie wichtig eine funktionierende Wirtschaft für die Rentenversicherung ist.
Das heißt, daß die Wirtschaft arbeitet, daß die Wirtschaft Erträge bringt, daß die, die in der Wirtschaft tätig sind, auch Beiträge bezahlen. Alle anderen Fragen — Herr Kollege Lutz, das wissen Sie recht gut — gehören zu dem großen Thema der Strukturreform. Da werden sicher auch solche Überlegungen mit angesprochen werden. Zu welchen Ergebnissen sie dann führen, ist eine andere Sache. Das liegt in der Entscheidung des Parlaments.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort schließen — und wir können wohl davon ausgehen, daß auch Arbeiter und Angestellte, die in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind, dies im Fernsehen verfolgen —, daß diese Bundesregierung keine rechtzeitige Vorsorge im Hinblick auf die zukünftige demographische Entwicklung treffen möchte?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nicht, Herr Kollege Kirschner, aus welcher Antwort Sie das schließen wollen. Ich kann nur sagen: Die erste Aufgabe der Bundesregierung seit 1982 war es, die Renten sicherer zu machen.
Ich habe schon drei- oder viermal darauf hingewiesen, Herr Kollege Kirschner: Es ist das Ziel der Bundesregierung, eine Strukturreform in der Rentenversicherung durchzuführen, damit die Sicherheit der Rentenversicherung gewährleistet ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glombig.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, habe ich Ihre Antwort auf die feststellende Frage des Kollegen Cronenberg so richtig verstanden, daß es bereits in dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung Elemente einer Strukturreform gebe, oder ist es so, daß sie in der nächsten Legislaturperiode erst kommen soll, wie Sie eben angedeutet haben, oder aber, Herr Staatssekretär, glauben Sie, daß die Anrechnung von sonstigen Einkommen auf die Hinterbliebenenrente ein echtes Strukturelement Ihrer Reform sein wird?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Glombig, es würde jetzt zu weit führen, wenn ich auf die Frage der Hinterbliebenenversorgung einginge, die das Parlament in Bälde ausgiebig diskutieren wird. Aber ich möchte noch einmal hervorheben: Dies Ziel einer Strukturreform verfolgt die Bundesregierung auf jeden Fall. Wenn ich noch einmal darauf hinweise, welche Aufgaben jetzt in der Rentenversicherung vor uns liegen, dann wissen wir, daß wir das nächste halbe Jahr auf jeden Fall ausgelastet sein werden.
Herr Kollege Glombig, ich darf Sie auf Ihr Fachwissen hin ansprechen: Sie wissen recht gut, daß z. B. auch die jetzige Rentenanpassung, die Einfüh-
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
rung des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner bereits Teile einer Strukturreform sind.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Kolb auf:
Welche Gründe sind dafür maßgebend, daß Maßnahmen für Liquiditätssicherung in der Rentenversicherung erforderlich sind?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolb, mit den Maßnahmen der Haushaltsbegleitgesetze 1983 und 1984 wurde die Rentenversicherung kurzfristig konsolidiert und mittelfristig an die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepaßt. Allerdings können die Maßnahmen dieser Gesetze teilweise erst in den Folgejahren voll wirksam werden. Vor dem Hintergrund einer noch nicht wieder aufgebauten Schwankungsreserve werden die Finanzen der Rentenversicherung deshalb unmittelbar von Schwankungen auf der Einnahmenseite, insbesondere auf Grund der zu erwartenden Entwicklung der Entgelte und der Zahl der Beitragszahler, berührt. Die Tarifabschlüsse des Jahres 1984, die, anders als in den vorvergangenen Jahren, eine veränderte Aufteilung des Wertschöpfungszuwachses auf Arbeitszeitverkürzung und Nominallohnerhöhung vorgenommen haben, berühren unmittelbar die Liquiditäts- und Finanzsituation der Rentenversicherung. Auf Grund der Tarifabschlüsse ist es nicht mehr möglich, die bisherigen Annahmen über die zukünftig mögliche Lohnentwicklung aufrechtzuerhalten. Während die zwischen den Tarifvertragsparteien vereinbarten Tarifanhebungen und ihre Auswirkungen auf die Lohnentwicklung absehbar sind, muß die als Ergebnis der Arbeitszeitvereinbarungen von den Beteiligten erwartete Zunahme der Zahl der Beschäftigten und damit der Beitragszahler als in Umfang und Zeitpunkt unbestimmt eingeschätzt werden. Um den sich daraus ergebenden Konsequenzen Rechnung tragen zu können, ist aus Gründen der Vorsicht und der Vorsorge vorgesehen worden, den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung vom 1. Januar 1985 bis zum 31. Dezember 1989 um 0,2 Prozentpunkte anzuheben. Diese Maßnahme dient in erster Linie dazu, das heute erreichte Leistungsniveau zu sichern.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, gehen Sie davon aus, daß die Beitragsanhebung zum 1. Januar 1985, von der Sie gesprochen haben, dazu ausreicht, das derzeitige Leistungsniveau zu halten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Nach allen Berechnungen reicht die vorgesehene Beitragsänderung — also plus 0,2 % bei der Rentenversicherung — aus, um die jetzige Rentensituation auf jeden Fall finanziell abzusichern.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Steinhauer.
Herr Staatssekretär, habe ich das richtig gehört, daß Sie gesagt haben, die Haushaltsbegleitgesetze 1983/84 hätten die Finanzsituation der Rentenversicherung konsolidiert, und wie stehen Sie dann zu dem von der Mitgliederversammlung und vom Vorstand des Bundesverbandes der Rentenversicherung, also von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, einstimmig gefaßten Beschluß, in dem es heißt:
Die Rentenversicherung muß in die Lage versetzt werden, ihre Aufgabe auch finanziell aus eigener Kraft zu erfüllen. Würde der Bund, wie von der Rentenversicherung gefordert, die 1983 erfolgte Kürzung des Bundeszuschusses rückgängig machen und würden die Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit wie vor 1983 nach dem letzten Arbeitsentgelt oder wenigstens nach 75 % hiervon bemessen, wäre dies der Fall.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steinhauer, zur ersten Frage darf ich sagen: Die Konsolidierung des Bundeshaushalts war eine der vorrangigsten Aufgaben, die zu lösen diese Bundesregierung übernommen hat, und die Bundesregierung hat diese Last j a von Ihnen übernommen. Das muß in aller Deutlichkeit gesagt werden.
Zum zweiten schneiden Sie eine Frage an, die sehr oft diskutiert wird, nämlich die Frage der Beitragszahlungen an die Rentenversicherung für arbeitslose Arbeitnehmer. Es wird immer vorgeschlagen, man solle Beiträge auf der Grundlage von 75 % des vorhergehenden Bruttolohnes oder -gehalts zahlen. Unsere Überlegung ist, Frau Kollegin Steinhauer: Rentenversicherungsbeiträge kommen aus dem Lohn, also aus dem Einkommen, das der einzelne tatsächlich hat, und der arbeitslose Arbeitnehmer hat das Arbeitslosengeld. Deshalb sind wir der Meinung, daß Sozialversicherungsbeiträge, auch der Rentenversicherungsbeitrag, aus dem Arbeitslosengeld zu zahlen sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Egert.
Herr Staatssekretär, ich möchte, ausgehend von Ihrer letzten Antwort, von Ihnen wissen, inwieweit sich materiell die Kürzung des Beitrages der Bundesanstalt an die Rentenversicherungen in Mark und Pfennig auf die Liquidität der Rentenversicherung ausgewirkt hat, und ich möchte wissen, ob Sie nicht meinen Eindruck teilen, daß Sie den Bundeshaushalt mit dieser Maßnahme zu Lasten der älteren Mitbürger, der Rentner, konsolidiert haben.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Egert, weil Sie das auf Mark und Pfennig wissen möchten, schlage ich vor, daß Ihnen diese Frage schriftlich beantwortet wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Heyenn.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8315
Herr Staatssekretär, Sie haben mitgeteilt, daß die Maßnahmen dieser Regierung ausreichten, um die Liquidität zu sichern. Müssen Sie mir dann, wenn ich Ihnen in Erinnerung rufe, daß zum Jahresende 1982 in der Rentenversicherung 2,1 Monatsausgaben vorhanden waren, Ende dieses Jahres aber nur noch 1,1 Monatsausgaben, nicht zugeben, daß diese Konsolidierungsmaßnahmen in der Rentenversicherung auf Grund von Maßnahmen, die diese Regierung getroffen hatte, nötig waren?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, ich komme bei Ihrer Zusatzfrage praktisch wieder auf die Aussagen vom Anfang der Fragestunde zurück. Wir müssen die Ursachen dafür, daß die Beitragseinnahmen geringer geworden sind, sehen. Ich sage es noch einmal: Sie wissen von der Rentenanpassung 1984, daß man von einer Lohnsteigerung um 4,6 % ausgegangen ist. Diese Zahl legt ja nicht das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung fest, sondern sie ergibt sich aus vorgegebenen Wirtschaftsdaten. Es waren dann aber nicht 4,6%, sondern wegen anderer Ergebnisse, zu denen die Tarifpartner kamen, ergab sich eine Lohn- und Gehaltssteigerung um etwa 3,2 %. Wenn hier nun 1,4% an Beitragseinnahmen fehlen, dann kann die Rechnung vom Anfang des Jahres natürlich nicht mehr stimmen.
Die anderen Dinge habe ich bereits erwähnt. Ich möchte sie nicht wiederholen, um meine Antwort nicht zu lang werden zu lassen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner. •
Herr Staatssekretär, können Sie dem Kollegen Kolb, der nach der Liquiditätssicherung gefragt hat, die Frage nicht dahin gehend beantworten, daß sich die Frage der finanziellen Liquidität der Rentenversicherung, wie sie sich insbesondere in diesem Monat gestellt hat, gar nicht gestellt hätte, wenn nicht die niedrigeren Beitragsüberweisungen der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung in Höhe von rund 5 Milliarden DM erfolgt wären, sondern man nach dem Rechtszustand vor dem 31. Dezember 1983 verfahren wäre?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, Sie nehmen nun wieder eine andere Größe bzw. einen anderen Grund, warum die Einnahmen der Rentenversicherung geringer geworden sind. Ich habe vorhin die anderen Gründe genannt und schon darauf hingewiesen, daß ich es für richtig halte, daß Beiträge zur Sozialversicherung nach dem Einkommen berechnet werden, das jemand tatsächlich hat, und nicht nach einem fiktiven Einkommen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kolb.
Herr Staatssekretär, können Sie dem Hohen Hause erstens mitteilen, was die Ehrenbergsche Regelung von 1977,
nämlich die Beiträge voll aus der Arbeitslosenversicherung zu zahlen, die Bundesanstalt für Arbeit gekostet hat, und können Sie zweitens sagen, um wieviel die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in diesem Jahr hätten erhöht werden müssen, wenn das aus den Einnahmen der Bundesanstalt für Arbeit hätte bezahlt werden müssen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolb, das ist genau der richtige Hinweis.
Wir haben die Bundesanstalt für Arbeit ja in der Tat entlastet. Aber wir hätten sie belastet — es wäre wahrscheinlich heute noch notwendig, die Bundesanstalt mit zusätzlichen Mitteln zu unterstützen —, wenn wir diese Belastung von der Bundesanstalt nicht genommen hätten. Aber das war nicht einmal der ausschlaggebende Grund. Der ausschlaggebende Grund war vielmehr, daß man Beitragsberechnungen nach dem Einkommen vornehmen soll, das der einzelne tatsächlich erhält.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reimann.
Herr Staatssekretär, will die Bundesregierung wirklich bei der ungerechtfertigten Kürzung bleiben, die auf Grund der Arbeitslosigkeit für den arbeitenden Menschen schon eh eine harte Bestrafung ist und die sich später auch auf sein Rentnerleben auswirkt?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist verständlich, daß sich ein anderer Beitragsabzug, nämlich ein Beitragsabzug vom Arbeitslosengeld, später in der Rente niederschlagen wird. Ich darf aber darauf hinweisen, daß hier auch eine Anderung vorgenommen worden ist, nämlich eine Anrechnung auf Ausfallzeiten. Das ist eine Änderung, die sich für den einzelnen Versicherten positiv auswirkt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, können Sie sich noch daran erinnern, daß Sie zu Ihrer Oppositionszeit einzelne Maßnahmen Ehrenbergs als Verschiebebahnhofpolitik gegeißelt haben?
Haben Sie jetzt nicht auch Verschiebebahnhofpolitik betrieben
und die Rentenversicherung dadurch überhaupt erst ins Schleudern gebracht?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lutz, die Bundesregierung ist von der Überlegung ausgegangen, daß die Schwierigkeiten dort zu beheben sind, wo sie gegeben sind. Diesmal lagen die Schwierigkeiten im Rentenversicherungsbereich. Deshalb kann beim Beitrag der Bundesanstalt, also bei der Arbeitslosenversicherung, mit Fug und
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Parl. Staatssekretär Höpfinger
Recht eine Absenkung von 0,2 % erfolgen. Bei der Rentenversicherung dagegen muß, weil die Finanzmittel dort gebraucht werden, eine Anhebung des Beitrags um 0,2 % vorgenommen werden, nämlich von 18,5 % auf 18,7 %.
Letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.
Herr Staatssekretär, da Sie soeben auf die Ehrenbergsche Regelung von 1977 hingewiesen haben, wonach die Beitragszahlungen für Arbeitslose an dem fiktiven Lohn orientiert sind: Könnten Sie mir vielleicht einmal erklären, welches die entscheidende Überlegung der Bundesregierung gewesen ist, sich von dem damals ja wohl von allen Fraktionen getragenen Grundsatz zu verabschieden, wonach die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose ganz ähnlich wie die für die aktiven Lohnarbeiter selbst gestaltet wurden, und zwar deshalb, um die Rentenfinanzen von der Arbeitsmarktentwicklung unabhängig zu machen? Mich würde interessieren, welches der tragende Grund bei den Überlegungen der Regierung gewesen ist, sich aus dieser grundlegenden Überlegung herauszustehlen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, die Umstellung ist, wie ich vorhin schon gesagt habe, deshalb erfolgt: Der Beitrag soll nicht aus einem fiktiven Einkommen, sondern aus dem tatsächlichen Einkommen bezahlt werden. Das ist unser Grundsatz gewesen, und deshalb haben wir auch diese Änderung vorgenommen.
Ich rufe die Frage 62 des Abgeordneten Jagoda auf:
Ist sich die Bundesregierung bewußt, daß die Behauptung, die Renten würden in diesem oder im kommenden Jahr „auf Pump" gezahlt, geeignet ist, Beitragszahler und Rentner zu verunsichern, und in welcher Weise gedenkt sie, dieser Verunsicherung entgegenzutreten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jagoda, für die Bundesregierung liegt es auf der Hand, daß die von Ihnen zitierte Behauptung bei den Menschen den Eindruck hervorrufen soll und auch hervorruft, die Rentenversicherung sei nicht in der Lage, die laufenden Rentenzahlungen mit eigenen Mitteln zu gewährleisten. Das ist aber nicht richtig. Ende 1984 werden die Rentenversicherungsträger voraussichtlich über eine Schwankungsreserve in Höhe von über 11 Milliarden DM verfügen. Diese Schwankungsreserve wird den Soll-Betrag von einer Monatsausgabe übersteigen. Selbst bei einer zurückhaltenden Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Größen wird die Schwankungsreserve vom Jahr 1985 an, wie im diesjährigen Rentenanpassungsbericht ausgewiesen, allmählich wieder aufgebaut. In dem gleichen Umfang werden die liquiden Reserven der Rentenversicherungsträger wieder wachsen. Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß in den Jahren 1984 und 1985 in der gesetzlichen Rentenversicherung unterjährig Liquiditätsengpässe auftreten können.
Dies ist eine Folge der im Jahresverlauf stark schwankenden Beitragseinnahmen. Die Bundesregierung hat jedoch rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergriffen. Die Renten können jetzt und in Zukunft in jedem Monat pünktlich gezahlt werden.
Ich habe schon in der Antwort auf die Frage des Kollegen Kirschner vorhin darauf hingewiesen, daß sich die Rentenversicherungsträger bei der geringfügigen Überziehung einzelner Konten nicht anders als jeder umsichtige und wirtschaftlich denkende Privatmann oder jedes finanziell gesunde Unternehmen verhalten haben. Kein vernünftig Handelnder zieht bei einem vorübergehenden Bedarf eine unwirtschaftliche Verwertung der Vermögensanlagen einer kurzfristigen Kontenüberziehung vor.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Betriebsvereinbarungen die Einmalzahlungen, die sonst im November ausgezahlt werden, nicht ins Frühjahr verlegt hätten, um somit Beiträge an die Sozialversicherung zu sparen, wäre es dann vielleicht möglich gewesen, daß auch die Konten hätten nicht überzogen werden müssen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jagoda, wenn das nicht erfolgt wäre, hätten sich die Einnahmen der Rentenversicherung natürlich verbessert.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Koalition der Mitte
durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen dafür gesorgt hat, daß in der Zukunft die Renten dauerhaft abgesichert sind, z. B. durch die Verschiebung der Rentenerhöhung um ein halbes Jahr und die gleichzeitige Verschiebung des KVdR-Beitrags, durch die Einführung des Krankenversicherungsbeitrags, gestiegen von 1 % auf 5 %, durch Beitragssatzerhöhung auf 18,7 %, durch Neuregelung der Zugangsvoraussetzungen für die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, durch die Einbeziehung der Einmalzahlungen in die Versicherungspflicht, durch die Begrenzung des — —
Herr Abgeordneter Jagoda, wir führen hier in der Fragestunde keine Diskussion. Die Fragen sind kurz zu fassen. Der Präsident ist dafür da, daß die vom Bundestag beschlossenen Richtlinien für die Fragestunde eingehalten werden.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8317
Vizepräsident Stücklen
Ich bitte, daß sich alle daran halten. Aber das gilt ganz besonders natürlich auch für Sie, meine Damen und Herren, und das gilt für den Parlamentarischen Staatssekretär. Ich habe das jetzt zum zweitenmal wiederholt. Ich bin ein so gutmütiger Mensch.
Sie können doch nicht alles auf meine Gutmütigkeit abwälzen, wenn Sie sündigen.
Ich bin noch nicht fertig.
Herr Präsident, ich bedaure außerordentlich, daß die Koalition der Mitte so erfolgreich und so tatkräftig ist, daß es mir gar nicht mehr möglich ist, die ganzen Taten aufzuführen. Deswegen frage ich den Herrn Staatssekretär, ob er in seiner Antwort vielleicht den Rest unserer guten Taten noch mit aufführen kann.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jagoda, ich glaube, daß diese Bundesregierung, die Sie jetzt gefragt haben, allein in den letzten zwei Jahren im Rentenversicherungsbereich und im ganzen sozialen Bereich so viele gute Taten vollbracht und Entscheidungen getroffen hat, daß die Fragestunde nicht ausreichen würde, um sie voll aufzuzählen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Egert.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie hier Selbstverständlichkeiten als Erfolg gerühmt haben, nämlich die Tatsache, daß jeden Monat die Rente gezahlt wird, Sie allerdings über den Tatbestand hinweggemogelt haben, daß Sie es zum erstenmal fertiggebracht haben, dafür Kredite in Anspruch zu nehmen, frage ich Sie,
ob es auf Grund der Frage von Herrn Jagoda nicht darum geht, daß der Übelstand, der dazu führt, daß Sie die Rente auf Pump zahlen müssen, beseitigt wird und daß noch so viel bedrucktes Papier darüber nicht hinwegmogeln kann.
Herr Abgeordneter Egert, Sie haben jetzt nicht eine einzige Frage gestellt.
— Nein. Herr Abgeordneter Egert, bitte, Sie waren einmal Senator.
Ich war nie Senator. Aber ich danke, Herr Präsident. Ich war kurz davor. Ich danke für die späten Lorbeeren! Ich habe gefragt, Herr Präsident, ob der Herr Staatssekretär so gütig ist, mir zu beantworten, ob es nicht darum geht, daß der Übelstand, der hinter der Rente auf Pump steht, abgeschafft wird und daß bedrucktes Papier nicht hilft, darüber hinwegzumogeln. Ich habe gefragt, ob er dem zustimmt. Stimmt er dem zu?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Egert, wenn die Aufnahme von Krediten anhalten würde und diese Kredite vielleicht noch vergrößert werden müßten, dann würde ich sagen, daß Sie recht hätten. Aber ich darf jetzt noch einmal darauf verweisen: Hier geht es nicht um Rente auf Pump. Wenn jemand 6,7 Milliarden DM Rücklagen hat und vorübergehend, für zwei Tage, 240 Millionen DM aufnimmt, dann ist das nicht Rente auf Pump, sondern nur eine Überbrückung. Deshalb wehre ich mich gegen den Vorwurf, hier würden Renten auf Pump gezahlt. Vielmehr sind die Rentenversicherungsträger dank der Politik dieser Bundesregierung in der Lage, jedem Rentner und jeder Rentnerin Monat für Monat ihre Rente zu zahlen. Außerdem ist dies dank der Beitragszahler und der Wirtschaft möglich.
Herr Abgeordneter Egert, ich bitte um Nachsicht, daß ich in Ihnen einen ehemaligen Senator vermutet habe.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Stutzer.
Herr Staatssekretär, können Sie diesem Hohen Haus einmal eine Dokumentation über die Angstmacherei und die Schwarzmalerei der Opposition in dieser Legislaturperiode auf dem Gebiet der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik vorlegen, vorausgesetzt, Ihr Haus schafft das arbeitsmäßig — es darf nicht zuviel Arbeit machen —; denn es handelt sich um eine lange Latte von Prophezeiungen, die nicht eingetreten sind.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stutzer, ich bin der Meinung, daß, wenn es die Zeit und der Arbeitsanfall erlauben, allein diese Fragestunde ein Grund dafür ist, eine noch bessere Aufklärung hinsichtlich der Rentenversicherung zu betreiben, als sie ohnehin schon betrieben wird.
Nur ist es so: Man muß zu dem, was geschrieben und verteilt wird, auch die Bitte an die Bevölkerung richten, daß das, was verteilt wird, gelesen wird.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Lutz.
8318 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß die zu unserer Zeit immer pünktlich und ohne Kreditaufnahme erfolgte Auszahlung der Renten ein wesentlicher Beitrag zur Sicherheit der Rentner war und daß unsere jetzt vorgetragenen Vorschläge zur langfristigen Sanierung der Rentenfinanzen ein ebenso seriöser Beitrag zur Sicherung der Renten wie auch zur Beruhigung der Rentner im Hinblick auf die Zukunft der Rentenversicherung darstellen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lutz, unter der Verantwortung der SPD gab es meines Erachtens zwei sehr kritische Momente. Einmal war das nach der Bundestagswahl 1976, nämlich im Jahr 1977. Vielleicht erinnern Sie sich an die Diskussionen von damals. Ihre Fraktion hatte vor, die Rentenanpassung zu verschieben. Das gab einen Aufschrei in der Bevölkerung. Sie müssen zugeben: Das war einer der dunkelsten Punkte in der Geschichte der Rentenversicherung.
Der zweite kritische Moment war am Ende Ihrer Regierungszeit, 1982. Ich sage noch einmal: Die Rentenzahlung wäre in größte Schwierigkeiten gekommen, wenn nicht noch rechtzeitig die politische Wende eingetreten und die Regierungsverantwortung an die CDU/CSU und die FDP übergegangen wäre.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schreiner.
— Sie können das nicht untereinander ausmachen. Aber ich tue Ihnen gern den Gefallen. Herr Abgeordneter Glombig, bitte sehr.
Sie sind ein entzückender Präsident. Ich danke Ihnen sehr, Herr Präsident.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ist es denn richtig, daß es im Gegensatz zu der Zeit der sozialliberalen Koalition, in der — das gebe ich zu
— die Absicht bestand, die Rentenanpassung um ein halbes Jahr zu verschieben, bei Ihnen nicht bei der Absicht geblieben ist, sondern daß sie tatsächlich die Rentenanpassung in Ihrer Regierungszeit um ein halbes Jahr verschoben haben?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Glombig, da haben Sie recht. Aber Sie haben dasselbe getan; denn nach der Rentenanpassung im Juli 1977 kam die nächste Rentenanpassung erst zum 1. Januar 1979. Sie haben die Rentenanpassung also ebenfalls verschoben.
Herr Abgeordneter Schreiner zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie sich hartnäckig weigern, den korrekten Begriff „Rente auf Pump" zu übernehmen: Könnten Sie denn wenigstens bestätigen, daß der Volksmund immer dann, wenn sich jemand etwas mit geliehenem Geld kauft, sagt, er habe sich das mit gepumptem Geld gekauft?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, ich wehre mich gegen diese Formulierung „Rente auf Pump" nicht deshalb, weil wir im parlamentarischen Bereich damit arbeiten, sondern weil ich einfach die Sorge habe, daß man den älteren Menschen auf diese Weise Angst suggeriert.
Nichts ist schlimmer, als einen Menschen, der von der Rente abhängig ist, in Angst zu versetzen. Deshalb wehre ich mich dagegen.
Wir selber können wochenlang darüber diskutieren.
Herr Abgeordneter Schreiner, Sie wissen doch ganz genau, daß das nicht geht, daß Sie nicht sofort wieder antworten können. Ich sage Ihnen noch einmal: Eine Aktuelle Stunde wäre eine hochinteressante Geschichte gewesen.
Herr Abgeordneter Heyenn, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wenn Sie das Pumpen von Geld in diesem Jahr so bagatellisieren: Stimmen Sie denn mit mir überein, daß eine wahrscheinliche Kreditaufnahme der Rentenversicherung von 6 Milliarden DM im kommenden November nicht mehr bagatellisiert werden kann? Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie gesagt haben, die Kürzung des Kinderzuschusses von mehr als 150 DM auf 50 DM und die Wegnahme der Rente wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit im Falle zahlreicher älterer Frauen seien „gute Taten" gewesen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, ich kann mich nicht erinnern, daß ich zu Fragen der Familienpolitik bzw. des Kinderzuschusses in der Rentenversicherung Stellung genommen habe. Aber wenn Sie es ansprechen, darf ich Ihnen sagen: Auch hier haben wir die Überlegung, daß familienpolitische Maßnahmen in den Bereich der Familienpolitik gehören. Deshalb wurde der Kinderzuschuß in der Rentenversicherung, der übrigens unter Ihrer Verantwortung statisch festgelegt wurde, während er früher dynamisch war, vermindert. Wir sind der Meinung, daß die Kindergeldbezüge dieselbe Größenordnung haben sollten, wie das staatliche Kindergeld. Ich glaube, das ist ordnungspolitisch richtig.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner; danach noch Frau Hürland. Dann sind wir mit der Fragestunde am Ende.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Schwankungsreserve der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten von
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8319
Kirschner
rund 20,5 Milliarden DM zum Jahresende 1982 um rund 9 Milliarden DM zum Jahresende 1984 abgesenkt wurde? Fand darüber auch eine Diskussion im Kabinett statt? Können Sie einmal sagen, wie sich dazu der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, der gleichzeitig Generalsekretär der CDU ist, geäußert hat, der ja früher das üble Wort vom „Rentenbetrug" in die Welt gesetzt hat?
Herr Abgeordneter Kirschner, Sie wissen, daß Dreiecksfragen nicht zulässig sind; es tut mir leid.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Hürland.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir einer Meinung, daß der Ablauf dieser Fragestunde — möglicherweise ist auch der Herr Präsident mit mir einer Meinung — nicht mehr dem Charakter einer Fragestunde entspricht?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Hürland, als Parlamentarischer Staatssekretär möchte ich hier eine Wertung über die Fragestunde nicht aussprechen, weil das die Aufgabe der zuständigen Verantwortlichen in diesem Hohen Hause ist.
Frau Kollegin Hürland, nachdem gerade diese Fragen in breiten Schichten der Bevölkerung so sehr diskutiert wurden, bot sich hier doch auch eine Möglichkeit, auf eine Reihe von Verunsicherungen und Verängstigungen klare Antworten zu geben, daß sich jede Rentnerin und jeder Rentner auf die Bezahlung der monatlichen Rente verlassen kann.
Frau Abgeordnete Hürland, strenggenommen war auch das keine Frage, die zulässig ist. Aber nachdem meine vorweihnachtliche Stimmung schon so strapaziert worden ist, wollte ich auch bei Frau Hürland nicht eingreifen. Es gibt ja noch ein paar Kavaliere.
Ich lasse noch eine Zusatzfrage zu. Herr Abgeordneter Keller, Sie haben das Wort.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß die Behauptung Rente auf Pump in keinem Verhältnis zu der kurzen Zeit der Kreditaufnahme steht, weil man ja sonst auch die hohe Staatsverschuldung, die die SPD-Regierung hinterlassen hat, mit einem Staatsbankrott hätte vergleichen müssen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Keller, ich möchte noch einmal bestätigen, daß das Wort Rente auf Pump sehr überzogen ist,
daß es unangebracht ist. Wenn jemand 1 000 DM
auf der Kasse hat und sich vorübergehend 2 DM
leiht, kann man nicht sagen, daß er verschuldet ist. Vielmehr hat er noch immer einen ganz schönen Brocken Geld auf der hohen Kante. Deshalb ist es richtig, daß wir in diesen Fragen zur Realität zurückkehren und in aller Klarheit die Fragen der Rentenversicherung besprechen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Fragestunde. *)
In der Geschäftsordnung steht: Die Fragestunde dauert entweder 60 oder, wenn vereinbart, 90 Minuten. Da kann der Präsident nicht sagen: „Jetzt gefällt es mir besonders" oder „Da ist noch einer, dem ich das Wort auch noch erteilen möchte". Das geht alles nicht. Ordnung muß sein. Nach 90 Minuten ist also sozusagen das Fallbeil gefallen. Deshalb haben Sie, Herr Kollege Stockhausen, das Wort nicht mehr bekommen. Deshalb hat auch der Herr Abgeordnete Becker das Wort nicht mehr bekommen. Ich verfahre mit engeren Freunden und weiteren Freunden — ich habe nur Freunde — immer gleichmäßig.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Maßnahmen gegen Gesundheitsgefährdung
und Umweltbelastung durch Dioxine
— Drucksache 10/1579 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Innenausschuß
Wirtschaftsausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung und Technologie
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so vereinbart.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Ehmke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider machen wir jetzt mit einem Thema weiter, das ebenfalls nicht zu der vorweihnachtlichen Stimmung paßt, in der wir uns offensichtlich befinden.
Lassen Sie mich dort beginnen, Herr Feilcke, wo wir das letzte Mal aufgehört haben. Der Herr Kol-
*) Die Fragen 69 des Abg. Dr. Kübler, 70 und 71 des Abg. Fiebig sind von den Fragestellern zurückgezogen worden. Die nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden im Plenarprotokoll 10/112 abgedruckt.
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Dr. Ehmke
lege Schmidbauer hat in der Debatte am 8. Juni 1984 gesagt, daß die GRÜNEN mit ihrem Antrag „Konsequenzen aus den jüngsten Dioxinskandalen" völlig daneben lägen. Leider ist der Kollege Schmidbauer noch nicht im Saale. Ich hoffe, daß er gleich noch auftaucht; denn ich wollte gerade dort anknüpfen. Er sagte damals, daß es den GRÜNEN weniger um Aufklärung des tatsächlichen Sachverhalts gehe als vielmehr um die Verunsicherung der Bevölkerung. Wir hätten in diesem Antrag das Sevesogift — wissenschaftlich ausgedrückt 2,3,7,8-TCDD — der Chemikalie Pentachlorphenol zugeschrieben, die von der Rheinfeldener Flick-Firma Dynamit Nobel hergestellt werde. Tatsächlich aber sei das Sevesogift dort niemals nachgewiesen worden.
Ich würde Herrn Schmidbauer sagen, wenn er da wäre: Bitte nehmen Sie die Ergebnisse einer Reihe von Untersuchungen zur Kenntnis, die sowohl von der Landesregierung von Baden-Württemberg als auch von der Staatsanwaltschaft Lörrach durchgeführt worden sind. Hiernach ist das Sevesogift nicht nur in den Handelsprodukten des Pentachlorphenols, sondern fast überall im Produktionsgang und in den Abfällen der PCP-Betriebe dieser Firma gefunden worden.
Ich würde ihm sagen: Er möge auch zur Kenntnis nehmen, daß von den 16 besonders giftigen Dioxinen und Furanen allein zehn im PCP nachgewiesen werden konnten. Er müßte auch zur Kenntnis nehmen, daß die Firma Dynamit Nobel schon seit mindestens 1976, also kurz nach dem Seveso-Unglück, darüber unterrichtet war, daß in ihrer Produktion das Seveso-Dioxin entstehen kann, und daß die Firma seit 1981 auf Grund von Untersuchungen der NATEC, Hamburg, und Boehringer, Hamburg, definitiv wußte, daß sich dieses Gift in einem ihrer PCP-Verkaufsprodukte befindet. Dies geht eindeutig aus den beschlagnahmten Boehringer-Akten sowie aus Äußerungen der Staatsanwaltschaft Lörrach hervor. Ich nenne diese Fakten deshalb in aller Ausführlichkeit, weil das für die Unionsfraktion gerade wegen ihrer Empörung bei unserer letzten Dioxin-Debatte eigentlich besonders peinlich sein muß. Sie haben sich nämlich eben bei dieser FlickFirma erkundigt, und Sie sind belogen worden, oder, um es anders auszudrücken, man hat Sie wider besseres Wissen falsch informiert. Aber damit muß man wohl rechnen, wenn man sich einseitig bei der Industrie informiert, in diesem Fall bei der chemischen Industrie oder im Falle des Tempolimits immer nur bei Daimler-Benz.
Der Kollege Schmidbauer hat noch den Ausdruck „Schindluder" gebraucht. Schindluder treiben doch wohl nicht die GRÜNEN, sondern eine Firma, die Jahr für Jahr 2000 Kilogramm ultragiftiger Dioxine und Furane in die Umwelt entläßt. Schindluder treibt doch wohl ein Bundesgesundheitsamt, das noch heute auf unhaltbaren wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen beharrt, wonach — ich zitiere — „Beweise für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Wirkstoff PCP und den aus mit Holzschutzmitteln behandelten Wohnungen berichteten gesundheitlichen Beschwerden bisher nicht vorliegen."
Das Bundesgesundheitsamt, meine Damen und Herren, das auch vor dem Hintergrund des Formaldehydskandals wohl eher den Namen „Bundesamt zur Gesunderhaltung der Industrie" verdient,
ist schon wieder in die Schlagzeilen geraten, und zwar neuerdings mit den Dioxin-Grenzwerten. In der heutigen Ausgabe des Magazins „stern" können Sie eine Nachricht finden, die, wenn sie den Tatsachen entspricht, eine katastrophale Wende im Umweltschutz bedeutet. Dioxinfabriken wie die Firma Boehringer in Hamburg mit dem höchsten Dioxinausstoß, der bisher aus der Industrie bekannt wurde, könnten ihre Produktion wieder aufnehmen, sie wären geradezu Musterbetriebe, wenn das wahr würde. Minister Geißler hat offensichtlich zusammen mit dem sogenannten Bundesgesundheitsamt und der chemischen Industrie hinter verschlossenen Türen Dioxingrenzwerte für die geplante Gefahrstoffverordnung ausgeheckt, die dazu führen werden, daß die chemische Industrie weiterhin dioxinhaltige Produkte fast ohne jede Einschränkung herstellen darf.
Um ein Beispiel zu nennen: Nach Ihren Vorstellungen vom Bundesgesundheitsamt und vom Bundesgesundheitsministerium kann eine Anlage erst verboten werden, wenn der Wert von 100 ppm Dioxin erreicht wird. In einer Presseerklärung des Gesundheitsministeriums wird zwar erwidert, daß der Grenzwert für die Summe mehrerer Dioxine gelte. Aber in dem Fall, daß in einer Fabrik nur das Seveso-Dioxin und kein anderes Dioxin anfällt, gilt der Grenzwert von 100 ppm nur für dieses gefährlichste aller Dioxine. Genau dieser Fall liegt bei der Firma Boehringer vor. Dort ist bei einer Anlage nur Seveso-Dioxin angefallen, und zwar mit einer Konzentration von 5,5 bis 36 ppm. Im Klartext heißt dies aber, daß unser Dioxinminister Geißler im nachhinein umweltkriminelle Handlungen sanktionieren will, und das ist eine Wende im Umweltschutz, wie sie schlimmer nicht sein kann.
— Das stimmt alles. Ich habe j a gesagt: Wenn das stimmt, was in der Zeitung steht, dann wäre das so. Unter diesem Vorbehalt ist das geschehen; wir müssen das erst mal nachprüfen.
Die Eile und Geheimnistuerei, mit der diese wissenschaftlich unseriösen und unhaltbaren Grenzwerte Gesetzescharakter erhalten sollen, wenn es stimmt, beweist außerdem, daß die Bundesregierung die sachlichen Gegenargumente von Fachleuten fürchtet. Bereits morgen beraten drei Staatssekretäre abschließend über die Dioxin-Werte. Wird darüber Einigkeit erzielt, so soll die Gefahrstoffverordnung im Kabinett verabschiedet werden. Erst
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Dr. Ehmke
danach soll nach unserer Information die Presse über die brisanten Zahlen informiert werden. Bis zur Dioxin-Anhörung des Innenausschusses, die Ende März mit etwa 20 Fachleuten durchgeführt werden soll, sind dann bereits Fakten geschaffen worden, und das ist wohl die Absicht, die hinter dieser Aktivität steckt.
Erschreckend ist aber auch die Hilf- und Tatenlosigkeit der Bundesregierung im Umgang mit der Dioxin-Emission aus Müllverbrennungsanlagen. Spätestens seit dem Bericht des ARD-Magazins „Monitor", das über unglaublich hohe Dioxin-Immissionen in der Umgebung der Solinger Müllverbrennungsanlage berichtete, ist die Mär von der angeblich umweltfreundlichen Müllverbrennung endgültig zerstört. Bezeichnend für den Umgang der politisch Verantwortlichen mit der Dioxin-Problematik ist das Verhalten der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die vor wenigen Wochen zum Abschluß eines Untersuchungsprogramms sehr voreilig, wie sich jetzt herausstellt, verkündet hatte, daß von nordrhein-westfälischen Müllverbrennungsanlagen keine Umweltgefahr ausgehe. Und dann dieser Fall Solingen!
Dabei lassen sich über den Gesamtausstoß von Dioxinen aus Müllverbrennungsanlagen derzeit leider nur Vermutungen anstellen. Statt ein sofortiges bundesweites Untersuchungsprogramm für Müllverbrennungsanlagen zu veranlassen, wie wir von den GRÜNEN es schon im Frühjahr gefordert haben, übt sich die Bundesregierung einmal mehr im Verniedlichen, Totschweigen und Aussitzen dieses Umweltproblems. Nach eindeutigen Untersuchungsergebnissen aus den USA besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Dioxinemission aus Müllverbrennungsanlagen und der Krebshäufigkeit in der Bevölkerung. Statt vom Vorsorgeprinzip in der Umwelt- und Gesundheitspolitik nur zu reden, sollte die Bundesregierung im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht für den Vollzug von Bundesgesetzen endlich veranlassen, daß zumindest die gefährlichsten Dioxinschleudern unter den Müllverbrennungsanlagen sofort geschlossen werden. Dazu zählen die Müllverbrennungsanlagen von Hamburg, Berlin, Bielefeld, Solingen, Iserlohn und Neunkirchen. Bis heute gibt es keine Müllverbrennungstechnologie, die die Dioxinfreisetzung zweifelsfrei unterbinden könnte.
Wir GRÜNE wenden uns strikt gegen die Müllverbrennung, weil die Freisetzung von Ultragiften wie Dioxinen und Furanen, egal, in welcher Konzentration, unverantwortlich ist. Hinzu kommen noch erhebliche Emissionen von anderen Schadstoffen, etwa chlorierte Kohlenwasserstoffe, Chloride, Fluoride und verschiedene Schwermetalle. Eine weitere Umweltbelastung mit diesem gefährlichsten aller Umweltgifte ist mit nicht abschätzbaren Risiken verbunden.
Wir haben deshalb den vorliegenden Antrag eingebracht. Wir stellen einen Katalog von Maßnahmen vor, durch den der Vormarsch der Sevesogifte in die Umwelt und in den Menschen gestoppt werden soll. Die wirkungsvollsten Möglichkeiten bietet dabei das Chemikaliengesetz mit der in § 17 niedergelegten Ermächtigungsgrundlage zu Verboten und Beschränkungen. Das Herzstück des vorliegenden Antrags ist die Aufforderung an die Bundesregierung, eine Chemikalienbeschränkungsverordnung mit den nach § 17 möglichen Verboten des Herstellens, Inverkehrbringens und Verwendens dioxin-und furanhaltiger Stoffe zu erlassen, außerdem bestimmte Herstellungs- und Verwendungsverfahren zu verbieten, bei denen solche Gifte anfallen. Weitere flankierende Maßnahmen zur Beschränkung der Sevesogifte bestehen vor allem in Forderungen nach Verschärfung der TA Luft, der Gefahrgutverordnung, der Störfallverordnung und der Hohe-SeeEinbringungsverordnung.
Meine Damen und Herren, die derzeitigen Erkenntnisse müssen als völlig ausreichend und als so alarmierend bezeichnet werden, daß von der Bundesregierung die restriktivsten gesetzlichen Beschränkungen zu fordern sind. Auch der Bundesrat ist in dieser Sache schon aktiv geworden. Es ist unbegreiflich, daß die Bundesregierung nach wie vor Regelungen auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen mit der Industrie vorzieht, die bisher nichts gebracht haben, anstatt das brachliegende gesetzliche Instrumentarium endlich rigoros zu nutzen, daß sie, wenn überhaupt, rein reaktiv auf einzelne Skandale hin handelt, anstatt ein Gesamtkonzept auf der Grundlage einer vorsorgeorientierten Umweltpolitik zu erstellen. Aber das ist wohl kein Wunder, wenn man sich der Industrie mehr verbunden weiß — wie es inzwischen jeder in unserem Lande merken konnte — als der Gesundheit und der Zukunft von Bevölkerung und Umwelt.
Wir GRÜNE werden jedenfalls nicht nachlassen, den Bürgern deutlich zu machen, in welche Sackgasse der Chemisierung und Vergiftung uns Ihre Politik treibt.
Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Augustin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU und die von ihr und der FDP getragene Bundesregierung werden sich von niemandem in ihrer Sorge um die Gesunderhaltung unserer Bevölkerung übertreffen lassen.
Sicherlich ist es mit ein Verdienst dieser Bundesregierung und natürlich auch ihrer Vorgänger im Amt — da waren Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, überhaupt noch nicht geplant —,
daß unsere Bevölkerung bemerkenswert gesund ist. Wir können mit Freude ein ständiges Anwachsen der Lebenserwartung registrieren, und zwar nicht einfach eine bloße Erhöhung der Lebenserwartung, sondern eine erhöhte Lebenserwartung bei einer
8322 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Frau Augustin
bemerkenswert guten Gesundheit unserer älteren Mitbürger. Wir freuen uns darüber.
Ich finde, dafür sollte man eigentlich erst einmal dankbar sein.
Der von der Fraktion der GRÜNEN vorgelegte Antrag wird in den Ausschüssen ausführlich diskutiert werden.
Ich darf zunächst einmal erklären und ausführen — bei dem vielen Dioxin- und Formaldehydgeschrei in unseren Landen ist in einigen Köpfen schon Verwirrung entstanden —,
worum es sich eigentlich bei dem gemeinhin als Dioxin bezeichneten Stoffgemisch handelt.
Es ist ein Gemisch von Substanzen, die nur zu einem ganz geringen Teil, nämlich 40 Milligramm auf 100 Tonnen, das eigentliche Sevesogift enthalten, das 2,3,7,8-Tetrachlordibenzoparadioxin. Der übrige, überwiegende Teil der gemeinhin als Dioxin bezeichneten Substanz besteht aus einem Gemisch von etwa 75 Isomeren des Dibenzodioxins und 125 Isomeren der Dibenzofurane, beides zyklische chlorierte organische Stoffe. Ich werde mich hüten, hier festzustellen, daß die Begleitsubstanzen ungefährlich, gesund oder geradezu appetitanregend seien. Aber es muß doch einmal deutlich gemacht werden, daß sie weit, weit weniger giftig sind als dieses berüchtigte Sevesogift.
Wir Christdemokraten sind offen für alle Anregungen, Anträge und Vorschläge, die geeignet sind, die Lebensbedingungen unserer Mitbürger unter vernünftigen Bedingungen zu verbessern.
Wir wehren uns aber mit Vehemenz gegen Anträge, deren Ziel es ist, die in unserer Bevölkerung bereits weit verbreitete Angst vor Vergiftungen jedweder Art noch weiter zu schüren.
Mir scheint, die Antragsteller wollen den Eindruck erwecken, als lauerten an jeder Ecke und in jedem Kochtopf irgendwelche Giftgefahren,
als sei es nur dem emsigen Fleiß der GRÜNEN zu verdanken, daß wir in all dem Gift ringsum nicht schon lange erstickt seien. Lassen Sie sich von mir als Apothekerin einmal sagen, daß auch die Ver-
breitung von Angst ein schleichendes Gift sein kann.
Tatsache ist, daß seit dem Unglück in Seveso durch eine ganze Reihe von Maßnahmen, insbesondere in der Störfallverordnung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, allen auf diesem Gebiet erkennbaren Gefahren begegnet worden ist. Tatsache ist es auch, daß insbesondere im Bereich des Vollzugs von Regelungen zahlreiche Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht worden sind, die sich bereits in Gesetzen und Regelungen umsetzen. Tatsache ist schließlich, daß die bei der Produktion von chemischen Stoffen als Nebenprodukt anfallenden Dioxine sowohl durch Verbrennung bei 1250 Grad Celsius in Verbrennungsöfen, die dafür speziell konstruiert sind, als auch durch die Lagerung in der Sondermülldeponie in Hessen in Herfa-Neurode gefahrlos beseitigt werden könnten, wenn der hessische Minister, dem Sie sich ja sicherlich sehr verbunden fühlen, der dazu die Erlaubnis erteilen müßte,
sich nicht seiner Entscheidungsfreiheit zugunsten des Vernünftigen durch die GRÜNEN im Hessischen Landtag geraubt sähe.
In diesem Zusammenhang ist es ja eigentlich ganz interessant, daß gerade am Montag dieser Woche das Kasseler Verwaltungsgericht entschieden hat, daß die Lagerung dieser Stoffe in Herfa-Neurode erlaubt werden muß. Jedenfalls einstweilen ist das der Stand der Dinge.
Übrigens scheint die Dioxin-Verwirrung bei der hessischen Landesregierung bereits so groß zu sein, daß selbst harmlose dioxinfreie Stäube von ihr als dioxinhaltig deklariert werden. Daß dies ein Irrtum war, zeigte sich erst, als die hessische Landesregierung den Transport dieser angeblich dioxinhaltigen Stäube von Darmstadt nach Frankfurt versuchte mit dem Ziel, diese doch hochgefährlichen Stäube im Frankfurter Hafen zwischenzulagern — ich meine, ein umweltpolitisch sehr fragwürdiges Unterfangen! Dieser Transport scheiterte nur an der fehlenden Erlaubnis, dioxinhaltige Stäube transportieren zu dürfen. Nur an der Beförderungserlaubnis scheiterte diese Sache! Weil man nun wirklich nicht mehr wußte, wohin damit, bequemte man sich endlich, diese Substanzen zu untersuchen, und siehe da, es war überhaupt kein Dioxin drin.
In dem hier heute vorliegenden Antrag wird ein Verbot zur Herstellung von chemischen Substanzen verlangt, bei denen Dioxin als Abfallprodukt anfällt.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8323
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich sehr knapp mit der Zeit bin. — Nach meiner Information gibt es zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland im wesentlichen nur eine einzige Firma, bei der Dioxin in nennenswerter Menge anfällt. Dieses Werk — es liegt an der Schweizer Grenze — wird die Produktion ohnehin Ende 1986 auf ein völlig neues Produkt umstellen. Dem Vernehmen nach würde eine frühere Umstellung etwa 100 Arbeitsplätze kosten. Ich meine, der zuständige Minister sollte in diesem Fall bis Ende 1986 eine befristete Erlaubnis geben, um in Herfa-Neurode wirklich gefahrlos die anfallenden Dioxine beseitigen zu können. Aber dann wäre ja für Sie ein wichtiges Thema weg, Herr Ehmke.
— Das fürchte ich auch nicht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber noch einmal etwas sagen, weil das auch durch die Gazetten geistert: Für gesundheitspolitisch gefährlich, ja geradezu verwerflich halte ich die stereotyp und andauernd wieder vorgetragene Forderung der Partei der GRÜNEN auf kostenlose Untersuchung von Muttermilch auf Dioxine. Bei jungen Müttern wird so der Eindruck erweckt, als sei Stillen gefährlich und als solle man dies ja nicht tun, obwohl in keinem einzigen Fall das Sevesogift in einer Muttermilchprobe festgestellt wurde. Ich finde es schon schändlich, wenn Mütter durch diese Panikmache-rei vom Stillen abgehalten werden. Denn welche Mutter bringt schon ihre Milch zur Untersuchung? Viel eher wird sie geneigt sein, das Stillen dann eben ganz zu lassen.
Da ist mir ein Gedanke gekommen: Könnte es vielleicht sein, meine Damen von der Fraktion DIE GRÜNEN, daß Sie auf Grund Ihrer extrem feministischen Haltung nicht einmal mehr dem Säugling die weibliche Brust gönnen?
Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuß. Danke.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute morgen über die Giftgaskatastrophe in Indien gesprochen. Bis zu diesem schlimmen Ereignis haben wahrscheinlich nur wenige — auch in diesem Hause — gewußt, was Methylisocyanat ist. Ich wußte es auch nicht.
Was aber die Dioxine betrifft, Frau Kollegin Augustin, denke ich, gilt diese Ausrede nicht; denn spätestens seit dem 10. Juli 1976, dem denkwürdigen Tag des Seveso-Unglücks, wissen wir alle, daß Dioxine hochgradige Gifte sind, und das ist nunmehr acht Jahre her.
Heute sind über 100 Chemikalien auf dem Markt, in denen Dioxine als unerwünschte Nebenprodukte enthalten sind; nicht nur in PCP, Frau Kollegin Augustin —, sondern auch in Insektenvernichtungsmitteln, in Holzschutzmitteln, in Körperpflegemitteln, in Farbstoffen und Kunststoffen. Sie entweichen aus Müllverbrennungsanlagen und können dort nur aufgefangen werden, wenn entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Meine Damen und Herren, das Wort Dioxine ist nicht zu Unrecht zum Paradebeispiel für die Chemisierung unserer Umwelt geworden; manche sagen auch: zum Schreckgespenst. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, Schrecken weiterzuverbreiten; er sitzt schon tief genug. Aber es ist sehr wohl unsere Aufgabe, etwas zu tun, um diesem Schrekken den Nährboden zu entziehen. Hieran fehlt es eindeutig: Es fehlt am Handlungswillen der Regierung. Darin lassen Sie sich wirklich nicht übertreffen, Frau Kollegin Augustin.
Appelle allein nützen gar nichts. Auch die Verharmlosung, die Sie hier wieder versucht haben, hilft nicht weiter. Wir sind zur Sachlichkeit bereit und fähig; wenn Sachlichkeit bedeutet, die Dinge offen beim Namen zu nennen — einverstanden! Das Seveso-Dioxin ist „einer der giftigsten Stoffe aus Menschenhand". Dies sagte der baden-württembergische Umweltminister Weiser, Mitglied der CDU.
Er sagte, TCDD sei krebserregend, erbgutverändernd; es könne Mißbildungen hervorrufen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, als wir vor Jahresfrist hier im Bundestag dieselben Aussagen machten, um unseren Verbotsantrag für das Unkrautvernichtungsmittel 2,4,5-T zu begründen, haben Sie uns der Panikmache bezichtigt; heute haben Sie es wieder genauso gemacht.
Ich frage: Wer hat nun recht, Weiser und die SPD oder Frau Kollegin Augustin? Sie mögen selbst entscheiden.
Es war doch wohl nicht umsonst, daß der oben genannte Minister sich bereits im August veranlaßt gefühlt hat, ein Schreiben an Bundesgesundheitsminister Geißler zu richten mit der ausdrücklichen Aufforderung, für Dioxine und Furane unverzüglich Grenzwerte festzulegen, die für die menschliche Gesundheit unbedenklich sind. Wir fragen Sie — und Frau Staatssekretärin wird vielleicht antworten können —: Wie hat Ihre Antwort gelautet? Und gleich eine weitere Frage: Sind Sie bereit, die Forderung des DGB zu erfüllen und Dioxine in die Gefahrstoffverordnung aufzunehmen, und zwar mit Werten, die sicherstellen, daß die Arbeitnehmer keine Gesundheitsgefährdung zu befürchten haben? Dieses wollen wir gern wissen.
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Frau Dr. Hartenstein
Nein, in Sachen Dioxine darf es keine Ausweichmanöver mehr geben. Hier ist nicht nur ein Warnsignal am Platze, sondern ein Stoppsignal.
Das Stadium des Herunterspielens muß endgültig der Vergangenheit angehören. Das ist unsere erste Forderung.
Zweite Forderung: für Offenlegung sorgen. Geheimniskrämerei schafft allemal Mißtrauen und schürt erst recht Ängste. Daher ist das Verlangen in Drucksache 10/1579 nach Anlegung und Veröffentlichung „offizieller Listen" von Stoffen, die Dioxinverbindungen enthalten, vernünftig. Auch wir brauchen übrigens solche Informationen, um politisch überhaupt handeln zu können. Sie sind nötig, um die tatsächliche Gefährdung richtig abschätzen zu können. Denn sie ist ja nicht überall gleich, nicht bei allen Produkten und Verfahren gleich hoch. Wir müssen auch konkret wissen, wie viele Produktionsbetriebe und wie viele Arbeitsplätze betroffen sind. Es ist sehr zu hoffen, daß die vom Innenausschuß und vom Gesundheitsausschuß gemeinsam geplante Anhörung klare Fakten auf den Tisch bringt.
Meine Damen und Herren, eine offene Informationspolitik ist ein urdemokratisches Anliegen. Daran hat es bis jetzt gefehlt. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen, wie man es nicht machen sollte. Bis vor kurzem wußte kaum jemand, außer der baden-württembergischen Landesregierung, daß im Werk Rheinfelden der Dynamit Nobel bei der Herstellung von PCP jährlich 2 000 kg Dioxine und Furane anfallen. Dann kam es zu dem inzwischen ja bundesweit berüchtigten Deponieskandal in der Südwestecke des Landes. Dort wurde nämlich ein Teil der giftigen Abfälle seit vielen Jahren in unzulässiger Weise abgelagert. Wenn man so verfährt, nämlich Informationen zurückhält, Gefahren leugnet, Analyseergebnisse nicht veröffentlicht, dann ist dies genau der falsche Weg. Die Probleme vergrößern sich von Tag zu Tag.
Und wenn die Wahrheit dann endlich ans Licht kommt, dann drohen Arbeitsplatzverluste und sogar Betriebsschließungen. So kann der Weg nicht gehen.
Die dritte Forderung lautet: Handeln ist nötig und nicht Reden. Dies ist an die Adresse der Regierung gerichtet. Denn zum Handeln brauchen Sie ja keine neuen Gesetze. Sie haben doch mit der Ermächtigung des § 17 des Chemikaliengesetzes den Hebel in der Hand, Sie brauchen ihn nur zu benutzen. Sie können zum Schutz von Leben oder Gesundheit von Menschen und zum Schutz der Umwelt durch Rechtsverordnung vorschreiben, daß Stoffe, bestimmte gefährliche Zubereitungen oder Erzeugnisse nicht mehr hergestellt, nicht mehr verwendet oder nur noch unter Einschränkungen verwendet werden dürfen. Sie können auch Herstellungs- oder Verwendungsverfahren verbieten, bei denen bestimmte gefährliche Stoffe anfallen. Genau das ist der Punkt beim Dioxin. Es gibt Stoffe, da ist der große Hammer nötig, das Verbot. Dazu gehören die
Ultragifte. Unter den 75 bekannten Dioxinverbindungen werden mindestens 20 als hochgiftig eingestuft. Wir brauchen ihn nicht überall zu schwingen, den großen Hammer. Wir sind zur Differenzierung verpflichtet. Ein blinder Rundumschlag ist nicht das, was wir verlangen. Aber da, wo es nötig ist, muß auch wirksam zugegriffen werden.
Forderung Nummer vier. Es ist unerläßlich, daß die Langzeitwirkungen sehr viel sorgfältiger untersucht werden, und zwar bei allen Chemikalien, nicht nur bei den Dioxinen. Ebenso müssen wir bei der Festsetzung von Höchstwerten endlich mehr Rücksicht auf die Risikogruppen nehmen, auf Kleinkinder, auf alte und kranke Menschen. Der gesunde erwachsene Mensch darf doch nicht der alleinige Maßstab sein.
Was Herr Minister Geißler als Toleranzmenge für PCB in die Schadstoffhöchstmengenverordnung hineingeschrieben hat, meine Damen und Herren, ist um den Faktor 10 zu hoch. Das ist gesundheitspolitisch nicht akzeptabel.
Wir brauchen eine gestaltende, eine verantwortungsvolle Chemiepolitik, die nicht der Entwicklung hinterherläuft, die sich nicht vor den Chemie-Riesen verbeugt, sondern die sich strikt am Prinzip der Vorsorge orientiert. „Im Zweifel für Leben und Gesundheit" muß die Devise lauten. Und die Beweislast gehört nicht auf die Schultern der Opfer, sondern auf die Schultern der Verursacher.
Es hat im übrigen keinen Sinn, nur auf einzelne Schadstoffe zu starren. Wir müssen eine neue Gesamtlinie finden. In der mir verbleibenden Minute möchte ich nur kurz drei Punkte nennen.
Punkt 1: Umweltschädliche Stoffe, nicht nur Dioxine, sondern etwa auch Schwermetalle wie Cadmium oder Quecksilber, müssen da, wo sie heute schon durch Substitute ersetzt werden können, aus der Produktion herausgenommen werden. Ich nenne das einmal das Vermeidungsprinzip.
Punkt 2: Verfahren und Produkte, bei denen umwelt- und gesundheitsschädliche Materialien verwendet werden oder als Abfälle entstehen, müssen steuerlich belastet, also verteuert, werden, um Innovationen in Richtung auf umweltfreundlichere Produkte anzureizen.
Punkt 3: Schließlich muß die Entsorgung schärfer kontrolliert und an strengen Kriterien gemessen werden. Hier dehnt sich noch eine erhebliche Grauzone aus.
Wenn wir dies wollen, dann ist die Konsequenz daraus, rechtzeitig nach Alternativen zu suchen, damit die Umstellung der Betriebe auf neue Produkte und neue Verfahren mit den dort Arbeitenden und nicht ohne sie oder gar gegen sie geschieht. Tun wir das, dann schonen wir Umwelt und Gesundheit, erhalten wir Arbeitsplätze und schaffen sogar neue. Tun wir das nicht, dann laden wir künftigen Gene-
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Frau Dr. Hartenstein
rationen eine Last auf, unter der sie zusammenbrechen können. Ich denke, uns sollte die Wahl nicht schwerfallen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man sich mit der Gruppe der Dioxine beschäftigt, muß man differenzieren, wie dies Frau Augustin getan hat. Man muß zwischen solchen unterscheiden, die hochgiftig sind, und solchen, die weniger oder fast gar nicht giftig sind. Der Antrag der GRÜNEN macht das nicht. Entsprechend der Gefährlichkeit sind unterschiedliche Regelungen, Grenzwerte, Schutzvorschriften vorzusehen. Der Antrag der GRÜNEN macht dies ebenfalls nicht.
Wer von uns ist Chemiker, wer von uns ist Experte, daß er das alles tun könnte?
Ich mische mich nicht gerne mit solchen Anträgen in die Aufgaben der Exekutive ein. Warum haben wir denn das Instrument der Rechtsverordnung?
Damit kein Irrtum entsteht: Natürlich haben wir die Regierung zu kontrollieren, ob sie das, was nötig ist, auch tut, ob die Gesetze, die wir erlassen haben
— und hier geht es um das Chemikaliengesetz —, ausgefüllt und im Sinne des Gesetzgebers erfüllt werden. Ich habe keinen Zweifel daran, daß die Regierung auch in dieser Sache verantwortlich handelt.
— Ja, Sie haben auch ausgeführt, warum. Jeder hat das Recht, hier seine Meinung zu äußern. Gestatten Sie bitte auch mir, meine Meinung zu äußern.
Die Diskussion um Gefahren durch bestimmte Dioxine macht deutlich, daß die von der FDP mit dem Chemikaliengesetz eingeleitete Umorientierung der Umweltpolitik auf zielbewußte Vorsorge konsequent fortgesetzt werden muß,
damit Umweltbelastungen gar nicht erst entstehen. Ziel einer umfassenden Vorsorgepolitik muß es sein, schon bei der Planung von Produkten wie auch später bei der Produktion das Entstehen von gefährlichen Abfällen zu vermeiden. Notwendig sind ökotoxologische Prüfungen, damit schon bei der Produktion und dann bei der späteren Vernichtung das Entstehen von hochtoxischen Verunreinigungen vermieden wird. Angesichts der jährlich zunehmenden Menge der auf dem Markt befindlichen chemischen Wirkstoffe, des damit zunehmenden Gefahrenpotentials für die Gesundheit und Umwelt, der weltweiten Verflechtung der chemischen Industrie ist ein aktive, durchsetzungsorientierte Umweltchemikalienpolitik notwendiger denn je. Der beschrittene Weg zur Einschränkung bzw. zum Verbot umwelt- und gesundheitsgefährdender Chemikalien ist konsequent fortzusetzen.
Soweit in dem Antrag der GRÜNEN das Verbot bestimmter Substanzen gefordert wird, würde dies im Ergebnis darauf hinauslaufen, daß in weiten Bereichen die Herstellung von chemischen Substanzen nicht mehr möglich ist. Notwendig ist aber eine differenzierende Einteilung, ein System, das nach der Giftigkeit — z. B. beim Seveso-Dioxin — differenziert. Gefahren durch Dioxine hängen von der jeweiligen Giftigkeit ab. Zu fragen ist also, welches Dioxin in welcher Konzentration gesundheitsgefährdend, umweltbelastend oder giftig ist.
Die Berichte über Dioxin zeigen, daß diese Probleme ernst genommen werden müssen, aber nicht dramatisiert werden dürfen. Meine Damen und Herren, die Art der Politik, bei der man sich jeweils um einzelne Chemikalien kümmert, verkennt, daß man damit nicht Probleme löst, sondern sich als Politiker nur allzu leicht verzettelt. Wir täuschen Aktivitäten und Sachkompetenzen vor, die wir eigentlich — wenn wir ehrlich sind — nicht haben.
Wir werden unsere Kontrollaufgabe auch hier, im Falle des Dioxin, sehr ernst nehmen. Wir werden Ihren Antrag im Ausschuß sehr sorgfältig beraten. Aber wir werden keine Aktivitäten um der Schau willen entfalten.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Frau Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Ehmke, ich hätte mich nicht zu Wort gemeldet, wenn Sie nicht einige Worte gefunden hätten, die ich mit Entschiedenheit zurückweisen muß. Ich halte es schon für mehr als einen bewußten und kaltblütigen Schlag unterhalb der Gürtellinie, den zuständigen Gesundheitsminister als Dioxin-Minister zu bezeichnen.
Dabei wissen Sie sehr wohl, daß das, was Sie hier gesagt haben, unwahr ist.
Minister Geißler ist der zuständige Gesundheitsminister, und ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß er es war, der in der vergangenen Woche sehr differenziert zu den schon seinerzeit unverschämten Unterstellungen Stellung bezogen hat, er habe im Zusammenhang mit der
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Parl. Staatssekretär Frau Karwatzki
Feststellung von Formaldehyd Einfluß genommen. Ich erkläre hier ganz eindeutig, daß wir überhaupt nicht daran denken, auf die freie Wissenschaft Einfluß zu nehmen. Dies sollten Sie, so meine ich, in Ihre Beurteilung genauso fair und ehrlich einbeziehen, wie Sie dem „Stern" Glauben schenken.
Ein Zweites, meine Damen und Herren: Sie sprachen davon, daß das Bundesgesundheitsamt als „Bundesamt für die Gesunderhaltung der Industrie" zu bezeichnen ist. Dies ist, Herr Kollege, eine wirkliche Beleidigung der hochqUalifizierten Mitarbeiter, die im Bundesgesundheitsamt tätig sind.
Ein Letztes, Herr Kollege Ehmke: Staatssekretärsgespräche gehören nun einmal zur guten Vorbereitung von Vorlagen, damit Sie, wir alle, sowohl die Mitglieder dieses Hauses als auch die Mitglieder des Bundesrates, eine Vorlage bekommen, die gut ist. Darum verstehe ich überhaupt nicht, wie Sie das Gespräch meiner Kollegen, der beamteten Staatssekretäre, zum Inhalt einer Bundestagsdebatte machen können. Dafür habe ich kein Verständnis!
Oder Sie hatten kein anderes Thema.
Meine Damen und Herren, zu den unverschämten Darlegungen im „Stern" möchte ich nun gern folgende Stellungnahme abgeben.
Weder im Schnellverfahren noch — ich zitiere — unter strenger Geheimhaltung sollen extrem hohe Grenzwerte für Dioxin in der geplanten Gefahrstoffverordnung zugelassen werden. Richtig ist, daß das Bundesgesundheitsministerium den Bereich der Dioxine und Furane erstmals umfassend durch Grenzwerte regeln will. Diese sollen, Herr Kollege Ehmke, so niedrig sein, daß Gefahren durch Dioxine und Furane gebannt werden.
Obwohl die Diskussion um das krebserzeugende Potential von Dioxinen und Furanen noch nicht abgeschlossen ist und insbesondere eine Einstufung durch die Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft für gefährliche Arbeitsstoffe, die berühmte MAK-Kommission, noch nicht vorliegt, hält das Ministerium Regelungen schon heute für notwendig. Daher ist die Behauptung des „Stern" völlig abwegig, das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit oder das Bundesgesundheitsamt weigerten sich, die krebsauslösende Wirkung des Seveso-Dioxins anzuerkennen.
Falsch ist auch die Aussage — ich zitiere —: „Bei uns macht ausgerechnet der Gesundheitsminister die Schleusen auf." Richtig ist, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß das Gesundheitsministerium gerade dabei ist, Schutzdämme zu errichten.
Der „Stern" unterstellt, daß nach der zukünftigen Regelung einem Arbeiter das Einatmen einer gesundheitsgefährlichen Menge Dioxin zugemutet werden solle. Diese Unterstellung ist infam. Richtig ist, daß Reaktionen, bei denen Dioxine entstehen können, nur in geschlossenen Anlagen durchgeführt werden dürfen, daß der Arbeitnehmer also gar nicht mit dem Dioxin in Berührung kommen kann.
Falsch ist auch, daß Unkrautvernichtungsmittel nach der geplanten Gefahrstoffverordnung 0,05 ppm Seveso-Dioxin enthalten dürfen. Hier sollte der „Stern" Zahlen wenigstens richtig abschreiben. Als Grenze, Frau Kollegin Hartenstein, ist 0,005 ppm Dioxine, und zwar nicht Seveso-Dioxin, sondern die Summe aller gefährlichen Dioxine und Furane, vorgesehen.
Die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, aber auch auf Initiative Hamburgs eingebrachte Regelung berücksichtigt nicht nur das sehr gefährliche 2,3,7,8-TCDD, sondern sie soll, was offensichtlich auch — ich zitiere — „ein hoher Beamter aus dem Bereich des Umweltschutzes übersehen hat," auch den Umgang mit weiteren sehr gefährlichen Polyhalogendibenzodioxinen und Furanen regeln.
Meine Damen und Herren, die Gefahrstoffverordnung, die hier wiederholt zitiert wurde, geht auf den Weg. Wir gehen davon aus, daß sie dem Bundesrat noch in diesem Jahr zugestellt wird. Dann, meine Damen und Herren, Herr Kollege Ehmke, haben wir alle ja sehr viel Zeit, zu prüfen, ob das Papier, das jetzt erstellt wird, also ein Referentenentwurf, in dieser Phase als geheim oder nicht geheim einzustufen war. Ich würde auch der Regierung ein bißchen mehr Vertrauen schenken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/1579 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und zur Mitberatung an den Innenausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen. Darüber hinaus wird interfraktionell vorgeschlagen, den Antrag auch dem Ausschuß für Forschung und Technologie zur Mitberatung zu überweisen. Gibt es andere, weitergehende Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die heutige Tagesordnung um die Zusatzpunkte 7a und 7b erweitert werden. Das ist die Beratung der Sammelübersichten 60 und 61 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen auf den Drucksachen 10/2617 und 10/2618.
Außerdem ist im Ältestenrat vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 14 und 15 abzusetzen.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8327
Vizepräsident Westphal
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 a auf:
Beratung der Sammelübersicht 56 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 10/2356 —
Zur Beratung der Sammelübersicht 56 auf Drucksache 10/2356 liegt auf Drucksache 10/2611 ein Anderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden! — Ich sehe auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?
— Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Ich erteile als erstem dem Abgeordneten Wartenberg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in diesem Fall eine Petition zur Berücksichtigung ins Plenum genommen — das kommt j a relativ selten vor —, weil wir meinen, daß die Entscheidung des Petitionsausschusses in einem relativ wichtigen Fall nicht sachgemäß getroffen worden ist. Das heißt: Die Mehrheit aus CDU und FDP hat nur für Überweisung als Material gestimmt.
Was ist der zugrundeliegende Sachverhalt? Es geht um das leidige Thema der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Über die Frage des Mieterschutzes und dessen Verbesserung in diesem Bereich haben wir häufig diskutiert. Einige Regelungen sind im Laufe der Jahre verbessert worden, obwohl das immer noch unzureichend ist.
Hier ist ein neuer Tatbestand aufgetreten, der ohne Frage dadurch, daß skrupellose Großumwandler, Firmen, die ein Geschäft mit der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen machen, eine Gesetzeslücke entdeckt haben, um die zukünftigen Eigentümer solcher Wohnungen auszubeuten und in eine Rechtsstellung zu schieben, die schlechter als die eines Mieters ist.
Was liegt der Petition zugrunde? Der Berliner Petent schreibt, daß er eine Eigentumswohnung in einem Komplex von 139 Einheiten — 63 Eigentumswohnungen, 64 Garagenplätze, 12 Geschäftsräume
— erworben habe. Der Umwandler Bentzko — so heißt diese Firma, sie ist stadtbekannt — hat aber folgenden Trick gemacht: Alle 63 Eigentumswohnungen sind an Eigentümer verkauft worden; die 64 Garagenplätze hat er in der Hand behalten, und er hat in einem Vertrag festgelegt, daß ein Garagenplatz genau das gleiche Stimmrecht gebe wie eine Eigentumswohnung. Das bedeutet: Mit 64 Garagenstellplätzen hat er die Mehrheit in der Eigentümergemeinschaft gegenüber 63 Eigentümern von Wohnungen. Insofern ist der Eigentümer einer Wohnung nach einer solchen Rechtslage nur eingeschränkt Eigentümer. Denn die Mehrheit aus den Garagenplätzen — und das kann ein einzelner sein
— kann in vielen Dingen beschließen, was sie will.
Ich verstehe, daß die Leute, die in so einem Komplex Wohnungen gekauft und dies nicht rechtzeitig gemerkt haben, im Viereck springen und sagen: Wir werden ausgebeutet. Das ist eine Sache, die wirklich gesetzlich geändert werden muß. Es geht nicht an, daß in zunehmendem Maß neben der sowieso schon problematischen Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen der vorherige Gesamtbesitzer durch eine Gesetzeslücke eine Mehrheit bei der Umwandlung behält und dann bestimmen kann, wer diesen Komplex verwaltet, über die Verwaltung neue Geschäfte macht und die Eigentümer, die letzten Endes nichts weiter als schlechtgestellte Nutzer sind, weiter in einer Situation hält, die ganz und gar nicht dem Sinn des Wohnungseigentumsgesetzes entspricht. Das ist eine makabre Pervertierung des Wohnungseigentumsgesetzes. Als es geschaffen wurde — so problematisch es insgesamt ist —, hat der Gesetzgeber an solch einen Fall eigentlich überhaupt nicht gedacht. Es ist kein Zufall, daß ein geschäftstüchtiger Großumwandler als erster auf diesen Trick gekommen ist, diese Garagenplätze dort Eigentumswohnungen gleichrangig zu behandeln und sich damit die Mehrheit zu sichern.
Besonders skandalös ist in diesem Fall, daß der Umwandler in der Teilungserklärung bestimmt hat, daß die Wohnungskäufer neben den eigentlichen Betriebskosten auch noch 30 % der auf die 64 Garagenflächen und 12 Geschäftsräume entfallenden laufenden Kosten und Lasten zu zahlen haben. Es ist also nicht nur so, daß die Garagenplätze nicht ihnen, sondern nur dem Umwandler gehören, der daraus sein Stimmrecht bezieht; nein, per Vertrag legt er auch noch fest, daß sie, obwohl sie überhaupt nicht die Nutzung haben, 30 % der Kosten der Garagen und Gewerbeflächen zu zahlen haben.
Wenn man diese Petition nicht gelesen und sich die rechtlichen Stellungnahmen nicht angeguckt hat, glaubt man kaum, daß es so etwas gibt, daß die Rechtsstellung von Eigentümern so schlecht ist.
— Bei fünf Minuten Redezeit keine Zwischenfragen!
Die CDU/CSU und die FDP sind nicht bereit, in diesem Fall einer Gesetzesänderung zuzustimmen. Sie wollen die Petition als „Material" behandeln. Jeder weiß: „Material" ist Beerdigung zweiter Klasse.
Unabhängig von der heutigen Entscheidung wird die SPD-Fraktion schon Anfang 1985 ein Artikelgesetz zu dem Bereich Umwandlung einbringen, in dem wir verschiedene Verbesserungen aus unserer Wohnungsbau-Arbeitsgruppe in das Plenum bringen werden, um das Wohnungseigentumsrecht in diesem Punkt zu verbessern,
weil wir meinen, daß dieser Fall, der dem Petitionsausschuß vorgetragen worden ist, typisch für eine
8328 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Wartenberg
ganze Menge von Großumwandlern zu werden scheint,
die in gleicher Weise tätig werden und damit nicht nur den Mieterschutz, sondern eben auch den Schutz des Eigentümers in einer Art und Weise beeinträchtigen, die nicht gutzuheißen ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schulze .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum besseren Verständnis der Kollegen, die mit der Petition nicht so vertraut sind, möchte ich mich bemühen, hier noch einmal kurz eine sachliche Darstellung zu geben, wie sich die Petition uns im Petitionsausschuß dargestellt hat.
Von den 139 Eigentumseinheiten der Wohnanlage — eines ehemaligen Mietwohnungskomplexes —, in der der Petent seine Eigentumswohnung hat, gehören dem Umwandler — Herr Wartenberg nannte eben den Namen Bendzko — zusätzlich 64 Garagenflächen und 12 Geschäftsräume; das sind also auch Eigentumsanteile.
Der Petent wendet sich nun dagegen, daß trotz notarieller Beteiligung das im Wohnungseigentumsgesetz für die Miteigentümer verankerte Stimmrecht in diesem Fall ungleich zugunsten des von mir erwähnten Umwandlers und von der Fläche her Haupteigentümers verteilt worden sei. Damit habe dieser eine nicht zu akzeptierende Stimmenüberlegenheit und könne damit bestimmen, was die Miteigentümer an Betriebskosten zusätzlich zu ihren eigenen Kosten zu zahlen hätten.
Inwieweit hier der beurkundende Notar seiner Pflicht zur Erläuterung der rechtlichen Tragweite in diesem Fall der Teilungserklärung nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist, ist zuständigkeitshalber vom Petitionsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses zu klären und dorthin abgegeben worden.
In dem vorliegenden Fall ist in der Teilungserklärung zulässig durch Abdingen von der gesetzlichen Regelung abgewichen worden, daß jeder Wohnungseigentümer grundsätzlich nur eine Stimme hat. Damit soll der wirtschaftlichen Beteiligung und auch dem Risiko weiter Rechnung getragen werden. Soweit die Ausnutzung des Stimmenübergewichts eines einzelnen als Rechtsmißbrauch anzusehen ist, können auf Antrag die Gerichte nach den Grundsätzen von Treu und Glauben entgegenwirken. Wegen des umständlichen und möglicherweise zeitraubenden Gerichtsverfahrens richtet sich auch hiergegen eine gewisse Kritik.
Für die Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes gibt diese Eingabe auch nach Auffassung des Bundesjustizministers keinen Anlaß zu gesetzgeberischen Maßnahmen, weil die vom Gesetz eingeräumte zivilrechtliche Vertrags- und Gestaltungsfreiheit Regelungen im Einzelfall zuläßt.
Die Frage der Stimmrechtsverteilung hat im übrigen — das sollte man hier wissen — bei der Beratung über die Novellierung des Wohnungseigentumsgesetzes — es handelt sich um die Bundestagsdrucksache 8/2444 — sowohl den Bundesrat als auch die Bundesregierung befaßt. Trotz des Vorschlags des Bundesrats, eine Stimmrechtsregelung der vereinfachten Abänderung zu treffen, ist die Bundesregierung nach Anhörung und gründlicher Beratung zu dem Ergebnis gekommen, daß eine andere Regelung notwendigerweise sehr kompliziert wäre.
Erwogen wurde von der Bundesregierung z. B. auch eine Stimmrechtsbegrenzung. Auch das ist fallengelassen worden. Die Bundesregierung und der Gesetzgeber sind damals — das Gesetz ist letzten Endes nicht verabschiedet worden — zu dem Ergebnis gekommen, daß ein praktisches Bedürfnis zur Novellierung des Stimmrechts nicht erkennbar ist.
Wie wir bereits bei der Beratung im Petitionsausschuß betont haben, stellt sich allerdings, auch bezogen auf einschlägiges Schrifttum, die Frage, ob nicht in Zukunft zu prüfen sei, ob die Möglichkeit der richterlichen Beschlußfassung ausreicht oder die Praxis die Notwendigkeit einer einschränkenden Regelung im Wohnungseigentumsgesetz unterstreicht. Weil hier zur Zeit von uns jedenfalls kein unmittelbarer Handlungsbedarf erkennbar ist und wir, was diesen Fall anlangt, nicht der Meinung sind, daß er typisch sei, um hier eine Gesetzesänderung herbeizuführen, sind wir im Petitionsausschuß der Ansicht gewesen und unterstreichen es hier auch noch einmal, daß wir diese Petition dem Bundesjustizminister als Material überweisen sollten und von ihm spätestens in einem Jahr einen Erfahrungsbericht erbitten.
— Das mag Ihnen lauwarm erscheinen. Aber Sie sind eigentlich auch nicht ganz korrekt gewesen, muß ich Ihnen dazu sagen.
Im Petitionsausschuß haben Sie gemeint, man sollte diesen Fall dem Bundesjustizminister zur Erwägung überweisen, und hier sind Sie für Berücksichtigung.
Ich möchte aber auch bei dieser Gelegenheit zum Schluß noch einmal zurückweisen, was der Kollege Wartenberg eingangs zur Firma Bendzko gesagt hat, als er von „Ausbeutern" und „Austricksern von Miteigentümern" gesprochen hat. Ich glaube, daß auch die Firma Bendzko, die wir von Berlin her kennen, als eine durchaus seriöse Firma anzusehen ist.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Sauermilch.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8329
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Vorredner haben ja schon einiges zur Situation gesagt. Der Petent strebt eine Novellierung des Wohnungseigentumsgesetzes an. Wir machen die Berechtigung in Anlehnung an die Begründung des Petenten und an die Stellungnahme des Justizministers an folgenden Punkten fest.
Nach § 25 Abs. 2 Wohnungseigentumsgesetz hat jeder Wohnungseigentümer eine Stimme. Diese gesetzliche Regelung kann allerdings durch Vereinbarung, z. B. in der sogenannten Teilungserklärung, durch eine andere Regelung ersetzt werden. Hiervon wird vielfach Gebrauch gemacht. Der Verkäufer hat ebenfalls davon Gebrauch gemacht, indem er nicht nur nur den Wohnungen, sondern auch dem anderen Teileigentum — Geschäftsräume und Garagen — Stimme gegeben hat. Dies hat er in der Teilungserklärung dargestellt.
Wenn, wie hier geschehen, der mit der Beurkundung des Vertrags beauftragte Notar eine so bedeutende Abweichung von den Festlegungen des WEG wie die abweichende Verteilung der Stimmen, auch wenn dies häufiger praktiziert wird, im Vertrag vorsieht, so hat er eine besondere Aufklärungspflicht dem Schwächsten, dem einfachen, unerfahrenen Käufer, gegenüber, welche bedeutsamen Folgen diese Stimmenverteilung — wie man sieht — hat.
Aus meiner Sicht werden hier zwei Mißstände sichtbar, und zwar erstens der Mißbrauch des § 17 des Beurkundungsgesetzes durch Notare, wie dies übrigens vom Petenten sehr richtig erkannt wurde, was standesrechtlich von der Notarkammer geahndet werden müßte.
Zweitens. Wenn gemäß § 10 Abs. 2 WEG von der gesetzlichen Regelung in freier Vereinbarung abgewichen werden kann, dann fehlt es an Kriterien, unter denen dies möglich sein kann. Nur so ist es überhaupt möglich, daß es in das Ermessen von Maklern und fragwürdigen Notaren gestellt werden kann, ob man den Käufer z. B. über die Folgen der Abweichung vom Gesetz aufklärt oder nicht.
Daraus folgt, daß im WEG etwas bereinigt werden muß. Der Hinweis des Justizministers, daß im Zweifel die Gerichte entscheiden müssen, kann von uns aus nur Bedenken auslösen, weil traditionell die Gerichte marktwirtschaftlich, d. h. im Klartext: für die Makler z. B. als Umwandler von — wie in diesem Fall — sozialem Altwohnungsbestand und somit gegen die im Markt Schwächsten, die Käufer der unteren und mittleren Einkommensschichten, entscheiden.
Das Risiko eines Rechtsstreits ist also für den Käufer ausgeprochen hoch. An die Stelle der Rechtsprechung kann daher nur eine gesetzliche Beseitigung dieser Mißstände treten.
Als dritter Mißstand muß erkannt werden, daß es möglich ist, daß solche Vereinbarungen unter Mißachtung oder Ausklammerung baurechtlicher Festlegungen erfolgen können, wie z. B. hier durch eine nachträgliche und im übrigen auch meiner Ansicht nach wertmindernde Abtrennung der Garagen oder Stellplätze von der baurechtlichen Einheit Wohnung/Stellplatz und Schaffung einer eigenständigen Einheit Stellplatz oder Garage. In einer Neufassung des WEG müßte also berücksichtigt werden, daß Wohnungen überhaupt nur dann errichtet werden können, wenn ihnen jeweils Garagen bzw. Stellplätze in der geforderten Zahl und der geforderten Zuordnung beigestellt werden. Es muß daher sichergestellt werden, daß die Wohnungseinheit untrennbar von der zugeordneten Garagen/StellplatzEinheit ist. Die Majorisierung der in diesem Fall vorhandenen Käufer, ja geradezu die Tyrannisierung — da gebe ich Herrn Wartenberg recht — durch einen raffinierten Makler, der die Notare nach seiner Pfeife tanzen läßt, damit später auch die Käufer nach seiner Pfeife tanzen müssen, ist nur durch die beschriebenen Mißstände möglich. Der Gesetzgeber hat schon lange erkannt, daß diese Mißstände bestehen, vermeidet aber eine Korrektur aus Rücksicht auf die Marktwirtschaft. Beweis hierfür ist der weggedrückte Referentenentwurf von 1977.
Ich komme zum Schluß. Bei einer verantwortungsbewußten Bereinigung kann sich der Gesetzgeber auch nicht länger darum herumdrücken, über die Bewertung von Wohneigentum zu anderem Eigentum in gemeinschaftlichem Eigentum neu nachzudenken. Wir unterstützen daher den Antrag der SPD auf Drucksache 10/2611.
Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Sache haben wir jetzt eine ganze Menge gehört, was ich nicht wiederholen will. Allerdings muß ich in methodischer Hinsicht doch das wiederholen, was der Kollege Schulze schon angemerkt hat. Der Antrag der SPD hat auf seinem Wege — ich will das gar nicht kritisieren, sondern nur feststellen — von der Ausschußberatung hierher eine wesentliche Änderung erfahren. Dort wurde zur Erwägung beantragt. Der Grad der Dringlichkeit war im Ausschuß offenbar noch nicht als so hoch erkannt, wie das eben in dramatischer Weise dargestellt worden ist. Hier spielt das nun eine ganz andere Rolle.
Ich sagte, ich will das gar nicht kritisieren. Aber das ist für mich nur ein weiteres Symptom der Problematik, einzelne Petitionen hier nicht nur zur Debatte zu stellen, sondern Einzelfälle auch sofort zum Anlaß zu nehmen — besonders in sehr komplizierten Zusammenhängen —, allgemeine gesetzliche Regelungen zu fordern.
Wir haben es gehört: Es geht um Fragen, die sich aus dem Wohnungseigentumsgesetz ergeben, speziell um die Folgen der Teilung des Wohn- bzw. Teileigentums. Durch die undifferenzierte Stimmrechtsverteilung und die damit zusammenhängende Verteilung der Betriebskosten sieht sich der
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Neuhausen
Petent benachteiligt. Nun haben zwei Berliner gesprochen, die die örtlichen Verhältnisse vielleicht besser kennen als ich. Ich stütze mich auf das Aktenmaterial.
Die Frage aber, die zu erörtern ist, ist ja die, ob dieser Einzelfall ausreicht, umfassende gesetzliche Regelungen in die Wege zu leiten. Es wurde auch dargestellt, daß nach § 25 des Gesetzes jeder Wohnungseigentümer in der Eigentümerversammlung eine Stimme unabhängig von der Größe seines Miteigentumsanteils hat, auch dann, wenn er mehrere Wohnungen hat. Aber auch hiervon kann — auch das wurde gesagt, aber mit einem negativen Unterton — nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit — ein wichtiger Grundsatz — z. B. in der Weise abgewichen werden, daß sich das Stimmrecht nach der Größe des Miteigentumsanteils oder nach der Anzahl der Wohnungen richtet.
Trotz der hier und auch sonst schon oft gestellten kritischen Fragen kann eine solche Regelung, die ja ein Ausfluß der Gestaltungsfreiheit im BGB ist, angesichts der Vielzahl sehr unterschiedlicher Gegebenheiten nicht einfach von vornherein als unsachgemäß bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund dieser in der Praxis wirklich außerordentlich verschiedenen Fälle ist auch die Regelung der Frage, nach welchen Anteilen ein Gesamtobjekt durch den aufteilenden Verkäufer aufgeteilt wird, nicht prinzipiell und für alle Fälle zu beanstanden. Die Festlegung des Verhältnisses zwischen den einzelnen Eigentumsanteilen hat das Gesetz — meines Erachtens ebenfalls aus gutem Grund — den Eigentümern überlassen.
Ein meinetwegen skandalöser Einzelfall darf nicht gegen eine vernünftige Betrachtungsweise ins Feld geführt werden. Trotz möglicher Probleme darf nach meiner Auffassung die Berechtigung einer Stimmrechtsverteilung auch entsprechend der wirtschaftlichen Beteiligung der einzelnen Eigentümer nicht einfach in Frage gestellt werden. Ich meine, auch hier wäre der Gesetzgeber überfordert, die Vielzahl der tatsächlich auftretenden Einzelfälle in Gesetzesform zu gießen.
Ein erhebliches praktisches Bedürfnis mag zwar in bezug auf einzelne Fälle erkennbar geworden sein, aber für die Fülle der verschiedenen Regelungen gilt das bis heute nicht.
Deshalb sage ich — auch im Gegensatz zu dem, was Herr Kollege Sauermilch gesagt hat —: Wir sollten auch weiterhin den unabhängigen Gerichten vertrauen zu erkennen, wann im Einzelfall eine Teilungserklärung wegen einer unangemessenen Stimmrechtsverteilung geändert werden muß. Ich kann mich nicht der — das muß ich ganz ausdrücklich sagen — erfolgten prinzipiellen Gerichtsschelte und der allgemeinen Unterstellung, die Gerichte nähmen eine bestimmte Haltung ein, anschließen. Das muß man etwas zurückweisen.
Wegen der mehrfach genannten Probleme oder Kritikpunkte sollte der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der als Material zu überweisenden Petition tatsächlich die weitere Entwicklung beobachten, um gegebenenfalls neu zu entscheiden, ob er einen anderen Weg gehen will, der aber ohne erhebliche und auch bedenkliche Einschränkungen der Privatautonomie nach heutiger Sicht nicht möglich wäre.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Gemeinsam mit der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Frau Berger, beklage ich hier oben, daß bei Beratungen von Petitionen die Regierungsbank wieder einmal leer war.
Der Bundesminister der Justiz wäre zuständig, und Sie können ihn nicht ersetzen, Herr Hennig.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe zuerst den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2611 auf. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, die in der Sammelübersicht 56 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10b auf:
Beratung der Sammelübersicht 59 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 10/2552 —
Das Wort wird dazu nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, die in der Sammelübersicht 59 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses einstimmig angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte zur Tagesordnung 7a und 7 b auf:
Beratung der Sammelübersichten 60 und 61 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksachen 10/2617 und 10/2618 — Dazu wird das Wort nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses, die in den Sammelübersichten 60 und 61 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses einstimmig angenommen worden.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8331
Vizepräsident Westphal
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren
— Drucksache 10/2129 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 10/2605 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Bachmeier Eylmann
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Bachmeier, Buschfort, Dreßler, Egert, Dr. Emmerlich, Fischer , Glombig, Heyenn, Kirschner, Klein (Dieburg), Dr. Kübler, Lambinus, Lutz, Peter (Kassel), Reimann, Schmidt (München), Schreiner, Schröder (Hannover), Dr. Schwenk (Stade), Frau Steinhauer, Stiegler, Urbaniak, Weinhofer, von der Wiesche, Dr. de With und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung
— Drucksache 10/81 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 10/2605 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Bachmeier Eylmann
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b und eine Aussprache von 60 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur allgemeinen Aussprache. Herr Abgeordneter Eylmann hat das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Schwierigkeiten, die uns nun schon seit Jahren bei der Behandlung von Sozialplänen im Konkurs zu schaffen machen, haben ihre Ursache in einem Versäumnis des Gesetzgebers, das ihm bei der Beratung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 1972 unterlaufen ist. Damals wurde nämlich nicht ausdrücklich geregelt, daß Sozialpläne auch im Konkurs aufzustellen sind. Selbst wenn man das als selbstverständlich unterstellt, bleibt das Versäumnis, daß im Gesetz keine Kriterien für die Bemessung des Sozialplanvolumens im Konkurs zu finden sind.
In § 112 des Betriebsverfassungsgesetzes heißt es z. B., der Sozialplan müsse für das Unternehmen wirtschaftlich vertretbar sein. Damit ist aber nichts anzufangen, wenn das Unternehmen pleite ist.
Dann müßte man vielmehr auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit für die anderen Konkursgläubiger abstellen, denn sie bezahlen im Endergebnis den Sozialplan, nicht der in Konkurs gefallene Unternehmer.
Außerdem hat es der Gesetzgeber seinerzeit leider unterlassen, die Rangstelle festzusetzen, in der Sozialpläne im Konkursfall zu befriedigen sind.
Nun kommen solche Fälle in der Gesetzgebung immer wieder vor. Es ist schwierig, alle Anwendungsfälle und Konsequenzen einer neuen gesetzlichen Regelung von vornherein zu überblicken. Der Gesetzgeber sollte sich allerdings nach Aufdeckung solcher Lücken beeilen, sie auszufüllen. Das ist im vorliegenden Fall jahrelang nicht geschehen, was sich als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Justiz erwies. Würde man die Arbeitsstunden zusammenzählen, die Richter der verschiedensten Gerichtsbarkeiten bis hinauf zu Bundesarbeitsgericht und Bundesverfassungsgericht darauf verwandt haben, diese Lücke rechtsschöpferisch auszufüllen, so würde man sicherlich auf fünfstellige, wenn nicht sechsstellige Zahlen kommen. Am Sinn solcher richterlichen Produktion kann man unter den verschiedensten Gesichtspunkten, auch unter dem Gesichtspunkt der Überlastung der Gerichtsbarkeit, füglich zweifeln.
Daß das ein Jahrzehnt andauernde Nichtstun von der damaligen Bundesregierung Schmidt und den von ihr gestellten Justizministern zu verantworten ist, habe ich bereits zur ersten Lesung des Gesetzes ausgeführt. Ich will das hier nicht im einzelnen wiederholen, zumal diese politische Verantwortung ohnehin auf der Hand liegt. Ich habe sie seinerzeit auch nur erwähnt, weil die SPD im blinden Vertrauen auf die Vergeßlichkeit der Welt uns eine Ver' antwortung für die unklare Rechtssituation zuzuschieben zu können glaubte. Das ist von vornherein ein abwegiger Versuch.
Die Übergangsregelung, die wir heute beschließen, beendet den seit 1972 andauernden Zustand weitgehender Rechtsunsicherheit. Darüber werden sich in erster Linie die Arbeitnehmer freuen. Denn die unklare Rechtslage ging zwar nicht allein zu ihren Lasten — auch die anderen Konkursgläubiger waren betroffen —, aber diese Unklarheit traf natürlich sie als die sozial Schwächeren besonders. Der vorliegende Gesetzentwurf hat somit eine ausgesprochen sozialpolitische Zielrichtung. Er soll mithelfen, die Lage wenigstens eines Teils der von konkursbedingten Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer zu verbessern. Daß infolge der gestiegenen Zahl der Konkurse in den letzten Jahren auch die Zahl der konkursbedingten Arbeitslosen stark angestiegen ist, brauche ich nicht besonders zu betonen.
Das Wort Übergangsregelung macht deutlich, daß es sich um ein Zeitgesetz handelt, das lediglich bis zum Inkrafttreten der nach wie vor angestrebten Gesamtreform des Insolvenzrechts gelten soll. Da die Geltungsdauer bis zum 31. Dezember 1988 begrenzt ist, läßt sich daraus der Zeitrahmen ableiten, den wir uns für die Ausarbeitung der Gesamtreform gesetzt haben. Mein Wunsch geht dahin, daß
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Eylmann
dieses Datum einen gewissen Druck auf den Fortgang der Insolvenzrechtsreform bringen möge und wir nicht zu einer Verlängerung der Geltungsdauer Zuflucht nehmen müssen.
Weiter signalisiert die Vokabel Übergangsregelung, daß das Gesetz natürlich nicht alle Ungereimtheiten der zur Zeit geltenden Regelung beseitigen kann. Dieses Zeitgesetz muß sich in die Rangfolge einpassen, die die geltende Konkursordnung für bestimmte Forderungen vorsieht. Gerade diese Rangfolge wird zunehmend als unbefriedigend empfunden. Die Tendenz bei der Reform geht dahin, die Rangfolgen völlig abzuschaffen und zu dem Grundsatz der gleichen Befriedigung aller Gläubiger zurückzukehren.
Die Ausgangssituation, die wir bei der Ausarbeitung der Zwischenlösung vorfanden, ist durch folgende Eckpunkte gekennzeichnet. Der eine rechtliche Eckpunkt ist der, daß nach den letzten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts Sozialplanansprüche aus dem sechsten und damit dem letzten Rang der Konkursordnung zu befriedigen sind. Da die Gläubiger auf diesem Rang in der Regel nichts oder vielleicht nur 2 % oder 3% aus der Masse erhalten, wären beim Fortbestand dieser Rechtslage soziale Ansprüche wertlos. Das wäre ein unter Berücksichtigung berechtigter Unternehmerinteressen nicht hinnehmbarer Zustand.
Der andere Eckpunkt tatsächlicher Art ist der, daß in den Jahren, in denen das Bundesarbeitsgericht den Sozialplanansprüchen die absolut erste Rangstelle zumaß — diese Rechtsprechung ist inzwischen durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden —, die Inanspruchnahme der freien Konkursmasse durch die Sozialpläne zwischen 10% und 100% lag. Dem entsprach es auch, daß die Entschädigungssummen, die die Arbeitnehmer aus den Sozialplänen erhielten, nach Auskunft eines erfahrenen Konkursverwalters, den wir im Hearing des Rechtsausschusses anhörten, pro Arbeitnehmer zwischen 100 DM und 50 000 DM schwankten.
Diese Bandbreite verdeutlicht doch, daß bei der Festlegung der Sozialplanvolumina seinerzeit eine geradezu abenteuerliche, eines Rechtsstaats nicht würdige Rechtsunsicherheit und Willkür herrschte. Würden wir also, wie die SPD es nun will, uns damit begnügen, die Sozialplanansprüche in die erste Rangstelle vor allen Forderungen zu plazieren, wäre die Folge, daß wir wieder in diesen Zustand absoluter Willkür zurückfallen würden. Es liegt doch nun wirklich nicht im Arbeitnehmerinteresse, daß der eine Arbeitnehmer mal 100 DM aus einem Sozialplan bekommt, der andere 50 000, daß der eine Sozialplan 10% der Masse aufzehrt, der andere 100%, von den Interessen der in solchen Fällen ohnehin auch beteiligten anderen Konkursgläubiger, die ja auch Schutz verdienen, gar nicht zu reden.
Mithin kann eine sinnvolle Zwischenlösung doch nur darin bestehen, einerseits den Sozialplanansprüchen einen Rang zuzuweisen, der es gewährleistet, daß die Arbeitnehmer auch tatsächlich aus der Masse etwas erhalten, andererseits aber den Umfang der Sozialpläne aus dem bisherigen Zustande des ungezügelten Wildwuchses zu befreien und den Parteien, die die Sozialpläne aushandeln — Konkursverwalter und Betriebsrat —, einen gewissen gesetzlichen Plan vorzugeben, und zwar im Interesse der durchaus schutzbedürftigen anderen Konkursgläubiger, damit für sie noch etwas aus der Masse bleibt, aber auch im Interesse der Arbeitnehmer; denn nach all den Erfahrungen wird sich dieser Rahmen, den wir jetzt vorgeben, alsbald als der Regelfall herausbilden.
Was den Rang angeht, so kann die von der SPD vorgeschlagene Superpriorität nicht in Betracht kommen, und zwar schon deshalb nicht, weil jeder einsichtige Grund dafür fehlt, daß der Anspruch des Arbeitnehmers auf eine soziale Zusatzleistung noch vor den rückständigen Lohnforderungen rangieren kann. Das ist nicht einzusehen. Wenn da das Bundesarbeitsgericht einmal gemeint hat, man tue ja sonst etwas für die Bundesanstalt für Arbeit, die in die Rangfolge des § 61 Abs. 1 Nr. 1 fällt, so ist das zu kurz gegriffen, denn letzten Endes bezahlt die Bundesanstalt für Arbeit das Konkursausfallgeld nicht; das bezahlt mit Ausnahme von 15%, die im Durchschnitt aus der Masse hereingeholt werden, die Gesamtheit der Arbeitgeber. Infolgedessen wäre das, wenn man die Superpriorität wählt, nur wieder ein Trick, um den Leuten, die mit dem Konkurs überhaupt nichts zu tun haben, aber dennoch zur Kasse gebeten werden, noch tiefer in die Tasche zu fassen.
Was die Begrenzung des Sozialplanvolumens angeht, so darf ich zunächst darauf hinweisen, daß die Insolvenzrechtskommission in ihrem gestern dem Justizminister abgegebenen Bericht zwei Begrenzungen vorschlägt, nämlich als absolute Begrenzung die Summe von eineinhalb Bruttomonatsverdiensten der ausscheidenden Arbeitnehmer, wobei nur solche Arbeitnehmer berücksichtigt werden, die entweder mehr als fünf Jahre in dem Unternehmen beschäftigt waren oder die das 45. Lebensjahr vollendet haben, und als relative Begrenzung 25% der freien Teilungsmasse. Ich hebe hervor, der vorliegende Entwurf geht deutlich über dieses Votum der Insolvenzsrechtskommission hinaus. Im Entwurf gilt als absolute Grenze die Summe von zweieinhalb Bruttomonatsverdiensten. Unterschiedslos werden alle Arbeitnehmer erfaßt, und die relative Grenze liegt bei einem Drittel der Masse.
Ich will nicht verschweigen, daß es in den Koalitionsfraktionen teilweise erhebliche Bedenken gegen die im Entwurf vorgesehene Begrenzung des Sozialplanvolumens gibt. Mancher hätte sich niedrigere Eckwerte gewünscht. Die Befürchtung, daß mit diesen höheren Werten die Gesamtreform präjudiziert werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Wir haben letztlich diese Bedenken zurückgestellt, betonen aber ausdrücklich, daß bei der Gesamtreform die Grenzen keineswegs so bleiben müssen. Wir wollen mit dieser Zwischenlösung die endgültige Reform des Insolvenzrechts nicht präjudizieren. Es möge auch im Zuge der weiteren Beratungen der Gesamtreform niemand auf den Gedanken kommen, die jetzige Zwischenregelung als so-
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Eylmann
zialen Besitzstand zu verteidigen. Es ist und bleibt eine vorläufige Regelung, die bei der endgültigen Reform durchaus in ihrer endgültigen Ausgestaltung wieder zur Disposition steht.
Der Umstand, daß wir über die Vorschläge der Insolvenzrechtskommission hinausgehen, beweist im übrigen die Arbeitnehmernähe dieses Entwurfs. Er stellt die äußerste Grenze, wie ich meine, dessen dar, was den anderen Konkursgläubigern zuzumuten und im Hinblick auf eine Präjudizierung der Gesamtreform zu verantworten ist.
Als um so unverständlicher muß es angesehen werden, daß die SPD in ihrem Entwurf überhaupt keine Begrenzung vorgesehen hat. Lassen Sie mich dazu noch einige Fakten nennen. Der von einer konkursbedingten Kündigung betroffene Arbeitnehmer ist bereits gegenüber einem Arbeitnehmer, der außerhalb des Konkursverfahrens seinen Arbeitsplatz verliert, in mehrfacher Weise privilegiert. Er erhält das Konkursausfallgeld. Seine darüber hinausgehenden Lohnansprüche sind Masseschulden bzw. erstrangige Konkursforderungen. Das alles hat der Arbeitnehmer, der außerhalb des Konkursverfahrens seinen Arbeitsplatz verliert, nicht. Eine weitere Bevorzugung besteht darin, daß die Sozialplanansprüche, die im Grunde auch nichts anderes als Kündigungsabfindungen sind, nach dem vorliegenden Gesetzentwurf erstrangige Konkursforderungen sind, während individuelle Abfindungsansprüche nicht geschützt sind.
Herr Abgeordneter Eylmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de With?
Bitte nur kurz, ich habe nur noch zwei Minuten, Herr Kollege. Ich habe es Ihnen neulich versprochen.
Herr Kollege, vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gab es überhaupt keine Begrenzung, und von Ihnen gab es nie eine Kritik. Warum muß das dann jetzt, da wir denselben Zustand nur wiederherstellen wollen, schlecht sein?
Weil — das habe ich ausgeführt — das ein Zustand absoluter Willkür war. Es ist im Interesse anderer Konkursgläubiger nicht einzusehen, daß ein Sozialplan die Masse in einem Fall zu 100 % aufzehrt, in einem anderen Fall nur zu 10 %. Sagen Sie mir aus dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit einen Grund für diese willkürliche Handhabung. Die wollen wir nicht. Wir wollen eine mittlere Linie fahren, nämlich ein Drittel. Darauf soll sich der Arbeitnehmer verlassen können, darauf sollen sich aber auch die anderen schutzbedürftigen Konkursgläubiger verlassen können.
Meine Damen und Herren, ich darf zur Benachteiligung der Arbeitnehmer in Klein- und Mittelbetrieben noch sagen: In diesen Betrieben wird kein
Sozialplan aufgestellt. Die geht mir allmählich zu weit. Der Arbeitnehmer in den Kleinbetrieben wird in vielfältiger Hinsicht nicht geschützt. Es können viele kleine Betriebe mit im Durchschnitt zehn Arbeitnehmern Pleite gehen: Danach kräht kein Hahn:
aber wenn ein Großunternehmen mit 1 000 Leuten in Konkurs zu gehen droht, dann kommt die öffentliche Hand, schießt erst einmal die Gelder zu, und dann wird der Sozialplan aufgestellt. Das ist ein Zustand, den wir so nicht länger hinnehmen wollen.
Der Entwurf, den wir vorlegen, führt nicht dazu, daß sich im Durchschnitt die Sozialplanvolumina ändern, sondern dazu, daß nur die ungewöhnlich großen Sozialplanvolumina kupiert werden. Das habe ich ausgeführt. Das ist auch vernünftig und richtig.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Die Koalition schafft nach zwölfjähriger Rechtsunsicherheit endlich eine klare gesetzliche Regelung für die Sozialpläne im Konkurs. Die Arbeitnehmer wissen jetzt, daß sie beim Konkurs von Unternehmen, die einen Betriebsrat haben, in aller Regel mit 30 % der freien Masse als Abfindungs- und Überbrückungshilfe rechnen können. Die anderen — zum Teil auch durchaus schutzwürdigen — Konkursgläubiger wissen jetzt ebenfalls, woran sie sind. Sie laufen nicht mehr Gefahr, daß die Masse völlig aufgezehrt wird.
Der Gesamtreform des Insolvenzrechts bleibt es vorbehalten, die Interessen aller Konkursgläubiger noch einmal in Ruhe und mit aller Sorgfalt abzuwägen und zu einem Ergebnis zu kommen, das die nach der heutigen Zwischenlösung noch notwendigerweise — weil im System der Konkursordnung begründeten — vorhandenen Ungereimtheiten beseitigt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend die beiden Gesetzentwürfe zum Sozialplan im Konkurs auf dem Hintergrund einer immer bedrohlicher werdenden Entwicklung im Insolvenzbereich. Dies ist ein Faktum. Ich glaube, das sollten wir hier nicht außer Betracht lassen. Die jüngst veröffentlichten Zahlen der Creditreform — —
— Warten Sie ab, Sie kriegen es in Form von Zahlen. — Die jüngst veröffentlichten Zahlen der Creditreform weisen beängstigende Tendenzen auf.
8334 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Bachmaier
— Ja, ich weiß, daß Sie das nicht hören wollen. Ich kenne j a Ihren Slogan: Schulden, Pleiten, Arbeitslose; so hieß es doch.
Sie produzieren allein in diesem Jahr 5 % mehr Pleiten als im vergangenen Jahr. Das ist die Realität!
— Ich sage es Ihnen gleich noch einmal.
Ja, „Creditreform" können Sie natürlich nicht hören.
— Einen Moment, ich lasse mir meine Zeit nicht klauen. — Mit einer Steigerung von ca. 5 % gegenüber dem Vorjahr kletterten die Insolvenzen in diesem Jahr auf die Rekordmarke von 17 000 Pleiten.
Der dadurch verursachte volkswirtschaftliche Gesamtschaden wird auf 24 Milliarden DM geschätzt. 175 000 Arbeitnehmer verloren und verlieren in diesem Jahr insolvenzbedingt ihren Arbeitsplatz. Bei 76,7 % — hören Sie genau hin, lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen — aller Insolvenzfälle wurde die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt. Das heißt, daß in mehr als drei Vierteln aller Insolvenzfälle sämtliche nicht abgesicherten Gläubiger keinerlei Ansprüche realisieren können.
— Ich komme gleich darauf, Herr Bohl. Ich weiß, das ist Ihre Kost, nicht unsere Kost. Sie sehen, der Konkurs macht seinem Ruf als Jobkiller ersten Ranges alle Ehre.
— Sie können Beifall geben, wenn Sie wollen.
Meine Damen und Herren, wir können heute nicht über den Stellenwert des Sozialplans im Konkurs beraten und entscheiden, ohne über die Rechtsstellung von Arbeitnehmern und sonstigen Gläubigern und diese ihre Ansprüche aushebelnde Entwicklung zu sprechen. Gerade die erdrückend hohe Zahl der mangels Masse nicht eröffneten Konkursverfahren bestätigt die seit einiger Zeit geäußerte Befürchtung der Sachkenner, daß die Konkursmassen mit ständig zunehmender Regelmäßigkeit ausgeplündert sind, bevor es überhaupt zum formellen Insolvenzverfahren kommt.
Wenn man weiß, daß die weitaus größte Zahl der pleite gegangenen Unternehmen in der Rechtsform der GmbH oder GmbH & Co. KG betrieben wird, dann muß jedem einzelnen einleuchten, daß hier Zusammenhänge bestehen, über die auch der Gesetzgeber nicht zur Tagesordnung übergehen kann.
In der Unternehmensorganisation hat sich in den zurückliegenden Jahren ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Die Zauberformel von der Betriebsaufspaltung hat sich wie eine Epidemie in unserem Lande verbreitet. Immer mehr Unternehmen werden in sogenannte Besitz- und Produktionsgesellschaften aufgespalten, wobei das Betriebsvermögen der Besitzgesellschaft gehört und die in aller Regel ausschließlich mit dem Mindesthaftkapital ausgestattete, ansonsten bettelarme Produktionsgesellschaft die unternehmerischen Risiken trägt. Arbeitgeber ist in aller Regel der Hungerleider des aufgespaltenen Unternehmens, die Produktionsgesellschaft. Dieser Wandel, der sich in den zurückliegenden Jahren in der Organisation
— langsam, Herr Marschewski — vieler Unternehmen vollzogen hat, ist eine entscheidende Ursache dafür, daß Arbeitnehmer und sonstige Gläubiger — ich rede jetzt auch von den sonstigen Gläubigern, Herr Eylmann, die Ihnen so ans Herz gewachsen sind — bei der weit überwiegenden Zahl der Insolvenzen schon von Anfang an keine Chance haben, auch nur einen Bruchteil ihrer Forderung zu realisieren. Wenn wir in den nächsten Jahren nach der nunmehr erfolgten Übergabe des Berichts der Insolvenzkommission daran gehen, unser Insolvenzrecht grundlegend neu mit dem Ziel der Reorganisation und Sanierung zu gestalten, dann kann diese Arbeit nur von Erfolg gekrönt sein, wenn sichergestellt ist, daß sich das Insolvenzverfahren auf das gesamte, eine Einheit darstellende Unternehmen erstreckt und künstliche juristische Trennungen von Betriebseinheiten im Insolvenzverfahren außer Betracht bleiben. Das ist die entscheidende Grundlage für alles, was wir in Zukunft bei der großen Insolvenzreform tun müssen. Das ist buchstäblich die Geschäftsgrundlage dafür.
Es ist grundsätzlich erfreulich, meine Damen und Herren, Herr Justizminister, daß die Regierung sich nach einem langen und quälenden Entscheidungsprozeß doch noch dazu durchgerungen hat, wenigstens einen Teil der Sozialplanansprüche der vom Konkurs betroffenen Arbeitnehmer abzusichern. Was passiert eigentlich — daß muß man ja immer wieder mal ins Bewußtsein rufen — mit einem Arbeitnehmer, dessen Unternehmen pleite geht? Er verliert seinen Arbeitsplatz und damit in aller Regel die Existenzgrundlage von sich und seiner Familie. Mit gutem Grund wurden im Betriebsverfassungsgesetz 1972 bei einer Betriebsstillegung den davon betroffenen Arbeitnehmern Ansprüche auf einen Sozialplan gewährt. Heute geht es um die für den Arbeitnehmer wohl härteste Form der Betriebsstillegung, nämlich um den Konkurs des Unternehmens. Herr Eylmann, wenn Sie auf eine ungeklärte Rechtslage hinweisen: die Rechtslage war gar nicht ungeklärt. Das Bundesarbeitsgericht hat eine feste und solide Grundlage geschaffen. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
Meine Damen und Herren, ich meine, daß man als Oppositionspolitiker den Mund nicht zu voll nimmt, wenn man hier feststellt, daß auch diese Minimallösung nicht vorgelegt worden wäre — das
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8335
Bachmaier
wissen Sie ganz genau —, wenn wir und die Gewerkschaften nicht seit eineinhalb Jahren mit bohrender Hartnäckigkeit auf eine gesetzliche Absicherung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gedrängt hätten.
Wir wollen nicht mehr und nicht weniger als das,
was das Bundesarbeitsgericht — der Große Senat
— im Jahre 1978 festgeschrieben hat.
— Herr Eylmann, ich bitte um Verzeihung. Ich bin ein bißchen knapp in der Zeit. Ich würde es gerne tun. Aber wir haben ja hinreichend Gelegenheit, uns über diese Fragen zu unterhalten. Seien Sie mir nicht böse.
Unser Gesetzentwurf wurde bereits am 18. Mai 1983 im Bundestag eingebracht. Bei seiner Annahme würde die bewährte und praktikable Regelung, wie sie durch das Bundesarbeitsgericht im Jahre 1978 gefunden wurde — ich erwähnte dies schon —, fortgeschrieben. Sozialplanansprüche von Arbeitnehmern, die im Konkurs ihren Arbeitsplatz verlieren, hätten danach den ihnen gebührenden Vorrang vor anderen Gläubigerforderungen. Dies halten wir auch bei dem existenziellen Eingriff, dem Verlust des Arbeitsplatzes in der Insolvenz, für eine angemessene Lösung. Das ist nämlich der Unterschied zur Qualität anderer Gläubigerforderungen wie Forderungen von Wundärzten, Tierärzten und ähnlichem.
— Aber es müßte Ihnen doch recht sein, wenn ich mich mit dem Mehrheitsvotum und nicht mit dem Minderheitsvotum beschäftige.
Das Bundesverfassungsgericht hat Ende 1983 diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts allein deshalb für nicht zulässig erklärt, weil nach seiner Ansicht die Festlegung der Rangfolge von Ansprüchen in Konkursverfahren nur dem Gesetzgeber und nicht den Gerichten zusteht. Das war der einzige Grund, sonst gar nichts.
Auch nach diesem Karlsruher Signal zeigte die Regierung keine Neigung, den unhaltbar gewordenen Zustand zu verbessern. Man konnte sogar den Eindruck haben — jetzt drücke ich das einmal sehr vorsichtig aus —, daß der Regierung die Karlsruher Entscheidung sehr gelegen kam, um ihre Strategie des Abbaus von Arbeitnehmerrechten auf dem Wege einer Gerichtsentscheidung abzurunden.
Erst als die überwältigende Mehrheit — Sie wissen das ganz genau — der Konkursrechtsexperten anläßlich des von der SPD-Bundestagsfraktion beantragten Hearings im April 1984 eine Verbesserung der Position von Sozialplanansprüchen im Ranggefüge der Konkursforderungen für geboten erachtete, kamen zarte Töne aus dem Regierungslager, vielleicht doch etwas zu tun. Es bedurfte aber der Inanspruchnahme aller parlamentarischen Mittel unserer Fraktion, die Regierung zur Vorlage eines Gesetzentwurfes im Herbst dieses Jahres zu bewegen. Ich wollte die weniger drastische Form nehmen; besser wäre, zu sagen: „zu zwingen".
Was uns heute von Ihnen zur abschließenden Beratung und Entscheidung vorgelegt wird, ist zwar mehr als nichts, aber es ist doch gerade für diejenigen Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz im Rahmen eines massearmen Konkursverfahrens verlieren, eine herbe, eine bittere Enttäuschung.
— Herr Marschewski, ich habe bisher nie festgestellt, daß Sie sich mit diesen Fragen etwas intensiver beschäftigten. Im Rechtsausschuß war davon nie die Rede.
Statt der in unserem Gesetzentwurf festgeschriebenen Rechtsprechung — wir schreiben nur das fest, was das Bundesarbeitsgericht der Große Senat, gesagt hat; das muß ich immer wieder wiederholen —, die einen dem Verlust des Arbeitsplatzes angemessenen Stellenwert der Sozialansprüche verlangt, soll nunmehr nach dem Willen der Regierung ein kompliziertes und für juristische Laien schwer durchschaubares Regelwerk treten, dessen allerdings leicht durchschaubares Ziel es ist, die Sozialplanansprüche gerade in massearmen Verfahren drastisch zu reduzieren. Auf dem Trittbrett einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, durch die lediglich Zuständigkeitsprobleme zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung abgegrenzt und geklärt werden sollten, hat die Regierung die Chance genutzt
— Herr Kleinert, Achtung, genau hinhören; ich weiß, das wollen Sie nicht hören —, die Position der ohnehin durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes existenziell betroffenen Arbeitnehmer zurückzuschneiden.
Wir meinen, daß sich unser Entwurf, der auf einer fundierten Praxis der Rechtsprechung basiert, bewährt hat, für die Beteiligten unkompliziert handhabbar ist, die bessere, und vor allem — dies ist der entscheidende Punkt — die sozial gerechtere Lösung darstellt.
Die 175 000 Menschen, die allein in diesem Jahr ihren Arbeitsplatz durch die Pleiten ihrer Arbeitgeberfirma verlieren und bei der hohen Arbeitslosigkeit häufig keine Beschäftigungschance haben, erwarten Solidarität. Diese Solidarität können Sie — auch Sie, Herr Eylmann — und wir heute in einem wichtigen Teilbereich dadurch unter Beweis stellen, daß wir den Sozialplanansprüchen im Konkurs den ihnen angemessenen Stellenwert in der Rangfolge der Konkursansprüche einräumen.
8336 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Bachmaier
Wir fordern Sie auf, wir appellieren an Sie, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen,
der die bessere und gerechtere Lösung darstellt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt es, daß die Ausschüsse dem Hause die unveränderte Annahme des Regierungsentwurfes vorschlagen. Die Bundesregierung begrüßt es aber in der gleichen Weise, daß sich mit dem SPD-Entwurf keine besonderen Kontaktmöglichkeiten im Sinne der Bejahung ergeben haben. Der Entwurf der SPD hätte die Weichen für die Zukunft, d. h. für die gesamte Reform des Insolvenzrechtes, heillos falsch gestellt.
Wenn ich dies sage, so meine ich „heillos" ganz wörtlich, nämlich falsch in einem wohl nicht wiedergutzumachenden Sinne. Wenn die Arbeitnehmer mit ihren Sozialplanabfindungen ein schrankenloses Supervorrecht erhalten, so wie Sie es wünschen, brauchten wir in der künftigen Zeit mit den Banken, den Warenlieferanten und anderen gesicherten Gläubigergruppen über die Gesamtreform des Insolvenzrechtes überhaupt nicht mehr zu reden. Es bliebe dabei, daß die kleinen Handwerker und Lieferanten, die fast immer zu spät kommen, die nicht abgesichert sind, die aber doch wohl in der gleichen Weise Anspruch erheben können, abgesichert zu werden und auch zu ihrem Recht zu kommen, wieder draußen vor der Tür bleiben. Deswegen, meine Damen und Herren von der Opposition, ist Ihr Vorschlag so heillos. Herr Kollege Dr. Bachmaier, auch wenn Sie ihn noch so sehr mit der Schilderung einer schwarz in schwarz und düster gemalten Landschaft garnieren, wird er damit nicht besser.
Ich wundere mich, daß Sie, die Sie 1978 durch Berufung der Kommission für eine Reform des Insolvenzrechtes die Weichen gestellt haben, nun von dem, was seit langem als Kommissionsergebnis absehbar ist, überhaupt nichts mehr wissen wollen. Sonst könnten Sie einen solchen Vorschlag nicht erneut vertreten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de With?
Ja, Herr Präsident.
Bitte schön.
Herr Minister, war dann auch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, die wir lediglich in das Gesetz schreiben wollen, heillos?
Es mag einem Gericht überlassen bleiben, nach seiner Einsicht — so wie dieses Gericht es für richtig hält — eine Entscheidung zu treffen. Es steht mir nicht zu, Gerichtsschelte zu betreiben. Nur, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und nach der jetzt anstehenden Reform des gesamten Insolvenzrechts erneut in diese Richtung zu steuern, Herr Kollege de With, ist ohne alle Zweifel heillos.
Herr Bundesminister, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage von dem Abgeordneten Urbaniak.
Ich bitte um Verständnis.
Meine Damen und Herren, der Regierungsentwurf ermöglicht es, wie das Hearing im Rechtsausschuß, insbesondere die Darlegungen der Sachverständigen Frau Dr. Plett, gezeigt hat, daß in Zukunft angemessene Abfindungen gezahlt werden. Die Bundesregierung hat — ganz anders, als die Opposition dies zu schildern beliebt — den Entwurf sehr beschleunigt vorgelegt, und die Ausschüsse des Bundestages haben — dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken — sehr beschleunigt beraten. Die Bundesregierung ist deswegen besonders dankbar, weil dieses Gesetz bald in Kraft treten muß. Tausende von Arbeitnehmern warten bereits seit langer Zeit auf die Realisierung ihrer Ansprüche. Eine ganze Reihe von Insolvenzfällen konnte nicht abgeschlossen werden, bis wir die hier anstehende Frage einer Entscheidung zugeführt haben.
In dieser Situation wäre es gut, wenn es auch der Bundesrat ermöglichen könnte, noch in diesem Jahr im zweiten Durchgang zu einer Entscheidung zu kommen. Ich erinnere daran, daß auch der Bundesrat eine angemessene Zwischenlösung für die konkursrechtliche Behandlung des Sozialplans als besonders dringlich bezeichnet hat.
Der Bundesrat hat — diese Frage möchte ich noch ansprechen — um Prüfung der Frage gebeten, wie die Auszahlung der Sozialplanabfindungen beschleunigt werden kann. Die Bundesregierung hat diese Frage sehr genau geprüft, leider mit dem Ergebnis, daß sich dafür weder konkursrechtlich noch außerkonkursrechtlich vernünftige Möglichkeiten anbieten — außerkonkursrechtlich auch deshalb, weil niemand zu sagen weiß, wie dies zu finanzieren wäre. Die Ausschüsse haben denn auch davon abgesehen, dem Hause eine besondere Regelung für eine solche Vorauszahlung vorzulegen. Nach dem Regierungsentwurf kann aber der Konkursverwalter ohne das geringste Wagnis jede dritte Mark, die er einnimmt und die nicht für Masseverbindlichkeiten verwendet werden muß, an die Sozialplangläu-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8337
Bundesminister Engelhard
biger ausschütten. Zudem kann und sollte er von der Möglichkeit der Abschlagszahlungen angemessen Gebrauch machen.
Ich appelliere deswegen an dieser Stelle sehr nachdrücklich sowohl an die Konkursverwalter wie die Konkursgerichte, dem Geist des Entwurfs entsprechend dem insoweit in ihrer Praxis nach Kräften Rechnung zu tragen.
Nun haben die Ausschüsse ebenso wie der Bundesrat bei der Beratung großes Gewicht auf die Feststellung gelegt, daß die Zwischenlösung die Gesamtreform des Insolvenzrechts nicht präjudizieren darf. Die Kommission für Insolvenzrecht hat mir gestern den ersten Teilbericht übergeben. Dieser enthält Vorschläge zu den wichtigen und bedeutsamen Materien der Insolvenzrechtsreform. Wir würden die nun einsetzende sehr wichtige und notwendigerweise auch ausführliche Diskussion der Reformvorschläge schwerstens belasten und mit Sicherheit in eine falsche Richtung lenken, wenn der Eindruck entstünde, als sei das, was wir heute hier beschließen, die totale Vorwegnahme dessen, was endgültig sein soll. Dies ist nicht die Geschäftsgrundlage dessen, was wir für die Zukunft zu regeln haben.
Die Gesamtreform muß dazu führen, daß wieder in weit mehr Insolvenzfällen in einem geordneten, rechtsstaatlich vernünftigen Verfahren unter Beteiligung und Begünstigung möglichst vieler Gläubiger ein Verfahren stattfindet, wie dies ehedem unsere Konkursordnung und auch die Vergleichsordnung im Sinne hatten. Ich meine, es sollte klar sein, daß im Gesamtzusammenhang einer solchen Reform dann auch neu und ganz unbefangen über Sozialplanregelungen nachgedacht werden muß.
Für die heute zur Entscheidung anstehende Übergangsregelung bitte ich um Ihre Zustimmung.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Reetz.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Noch 5,5 Minuten für die Stellungnahme der GRÜNEN.
Wir GRÜNEN werden dem Gesetzentwurf der SPD zustimmen und den Gesetzentwurf der Bundesregierung ablehnen.
Ich betone, daß wir feststellen, daß in der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ein gewisser Druck ausgeübt wird, indem als Termin für das Außerkrafttreten des Gesetzes der 31. Dezember 1988 genannt wird, also mehr Druck, als z. B. von der Regierung vorgesehen war, die fünf bis sieben Jahre vorgesehen hatte.
In dem Gesetzentwurf der Regierung steht zwar, die augenblickliche Rechtslage werde der sozialen Bedeutung von Sozialplänen nicht gerecht. Aber die Lösung erscheint uns sehr unvollkommen. Es bleibt die Grundproblematik, daß Arbeitnehmerrechte im Konkurs nicht den gebührenden Rang erhalten. Aussonderungs- und Absonderungsberechtigte, also Pfandgläubiger und Sicherungseigentümer, genießen Vorrang. Das bewirkt z. B., daß ein Arbeitnehmer, der mit sicherungsübereigneten Betriebsmitteln arbeitet, im Fall eines Konkurses nicht mehr weiterarbeiten kann, aber im Konkurs gegenüber diesen Sicherungseignern eine weit schlechtere Stellung hat.
Ich möchte noch auf eine Passage in der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats kommen. Ich möchte diese Passage festhalten, weil ich befürchte: Die ist wie eine Sprechblase gemacht worden, und man wird nie mehr daran denken. In dieser Gegenäußerung heißt es, die Regierung wolle prüfen, wie Forderungen aus den Sozialplänen, die bis zur Erfüllung bekanntermaßen Jahre brauchen, eventuell durch eine Vorfinanzierung befriedigt werden. Über diese Überprüfungen soll vielleicht noch einmal gesetzgeberisch nachgedacht werden.
Das Thema Vorfinanzierung aus dieser Passage möchte ich festhalten. Denn es gibt schon sehr viele soziale Selbsthilfeprojekte, bei uns in der Bundesrepublik weit weniger allerdings als im übrigen Europa. Das sind Projekte, die von Arbeitslosen aufgezogen werden, die ihrer Arbeit eine neue Struktur geben wollen. Nach einer Erhebung der EG-Kommission hat sich innerhalb dieser örtlichen Beschäftigungsinitiativen in den vergangenen fünf Jahren die Zahl der Arbeiterproduktivgenossenschaften von 6 900 auf 13 000 und die Zahl der Mitglieder von 298 000 auf 540 000 erhöht. Zählt man jene Initiativen dazu, die in anderen Rechtsformen, aber aus denselben Motiven und mit vergleichbaren Zielsetzungen begründet wurden, dürfte die Gesamtzahl der heute in diesem Sektor Arbeit Findenden nahe bei der Millionengrenze liegen. Ich meine, bei unseren Überlegungen sollten im Zusammenhang mit dem Gedanken der Vorfinanzierung diese Beschäftigungsinitiativen einen größeren Raum einnehmen, denn sie schaffen weit mehr Arbeit. Sie sind auf dem Prinzip aufgebaut, Arbeit zu bringen und nicht wegzurationalisieren.
Ich muß auch sagen: In einer Zeit, in der die Arbeitgeber immer wieder Risikokapital angeboten bekommen, ist es notwendig, darüber nachzudenken, daß auch die Arbeitslosen Risikokapital in dieser Art erhalten. Es dürfen nicht nur durch Unternehmerinitiative Betriebe erhalten und neu aufgebaut werden, sondern das muß auch durch diese Arbeitsloseninitiativen geschehen, die vor allem — das muß gesagt werden — durch die selbstbestimmte Arbeit, die sie anstreben, Dauerarbeitsplätze schaffen, welche eine weit sinnvollere Verbindung von Mensch und Arbeit ermöglichen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Silvester ist noch nicht. Herr Bachmaier, das Zahlenfeuerwerk, das Sie hier abgebrannt haben, verlischt genauso, wie es am ersten Januarmorgen in der Winterkälte
8338 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Kleinert
die Raketen tun werden. Wenn Sie nicht Zahlen bringen, die etwas gründlicher sortiert sind, z. B. nach der interessanten Frage, um welche Betriebsgrößen es sich bei den von Ihnen aufgezählten Konkursen handelt, wieviel Arbeitnehmer beteiligt sind
und für wieviel Prozent dieser Arbeitnehmer — es dürfte sich um knapp 10% handeln — hinterher Sozialpläne überhaupt in Frage kommen können
— es sind knapp 10 oder 8%; wollen wir streiten? —, wenn Sie das nicht genauer aufschlüsseln, dann sind solche Zahlen nichts weiter als eben besagtes, noch nicht ganz fälliges Silvesterfeuerwerk. Sie sollten nicht versuchen, damit hier die Diskussion zu bestreiten, zumal die Gewerkschaften, mit denen Sie zusammen gestritten haben, im Minderheitsvotum gesagt haben, wir sollten lediglich für zwei Monate zahlen, und zwar nur für diejenigen, die mindestens zwei Jahre dem Betrieb angehören. Der Regierungsentwurf geht über beide Forderungen der Gewerkschaften hinaus.
Im übrigen, meine Damen und Herren, beziehe ich mich auf meine Ausführungen in der 86. Sitzung, Protokoll Seite 6283, und in der 98. Sitzung, Seite 7141 des Protokolls.
— Des Protokolls des Deutschen Bundestages dieser Legislaturperiode.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest und ein gutes Neues Jahr.
Das heißt, Herr Kollege, wir brauchen Sie bis Weihnachten in der Rednerliste nicht mehr zu berücksichtigen.
Das Wort hat Herr Kollege Urbaniak.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag, so meine ich, wird zunehmend als Abstimmungsmaschine mißbraucht.
— Sie werden das hören. — Das ist mehr als eine Zumutung, es ist ein Skandal. Es ist Mißachtung des Gesetzgebers, wenn bei einem wichtigen Gesetz zwischen der ersten und der dritten Lesung nur fünf Wochen liegen. Ein Einzelfall wäre noch entschuldbar. Aber es geht jetzt Woche um Woche so. Mit dem Selbstverständnis des Parlaments ist das nicht zu vereinbaren.
Die Bundesregierung drückt sich monatelang, ja, jahrelang um eine Entscheidung. Dem Parlament wird hier im Anschluß an ein unseriöses Schnellverfahren etwas zugemutet. Denn der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat überhaupt nicht beraten können. Deshalb sage ich ausdrücklich: Einen Wiederholungsfall werden wir nicht zulassen. Unsere Geduld ist überstrapaziert.
Noch schlimmer als das Verfahren ist der Inhalt dessen, worüber heute abzustimmen ist. Maximal zweieinhalb Monatsgehälter sind nach der neuen Regelung noch drin. Die von Ihnen zu verantwortende Demontage der Sozialplanregelung ist in der Tat ohne Beispiel.
Ich erinnere daran: Sozialpläne sind die Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums am Produktionsmittel. Darum geht es konkret. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums wird massiv zurückgeschnitten. Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Politik der Wende-Strategen. Die Arbeitnehmer haben darunter zu leiden.
Die Arbeitskammer Bremen hat das, worum es geht, in einer fundierten Stellungnahme auf den Punkt gebracht:
Der Sozialplan mit den darin festgelegten Abfindungen stellt ein soziales Schmerzensgeld für die Arbeitnehmer gegenüber den einseitig durchgesetzten wirtschaftlichen Entscheidungen des Arbeitgebers dar. Angesichts der herrschenden Massenarbeitslosigkeit bedeutet doch der Verlust des Arbeitsplatzes für den Arbeitnehmer einen schweren und andauernden Eingriff in seine persönlichen, familiären und sonstigen Lebensverhältnisse. — Daraus die Konsequenz zu ziehen, hieße: Die alten Regelungen hätten nicht ab-, sondern ausgebaut werden müssen — wie wir das wollten.
Bei steigender Massenarbeitslosigkeit wird es immer schwerer, neue Arbeitsplätze zu finden,
denn die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit steigt bekanntlich laufend an. Das, was hier beschlossen werden soll, geht eindeutig in die falsche Richtung.
Es geht zu Lasten der Arbeitnehmer, meine Damen und Herren, und zerstört den sozialen Konsens.
Darüber hinaus wird ein Kernstück der Betriebsverfassung in der Tat demontiert; ein gefährliches Vorhaben.
Zu kritisieren ist weiterhin, daß Vorschußzahlungen überhaupt nicht geregelt sind. Wie Sie wissen, will ja Herr Blüm mit weiteren Gesetzgebungsrege-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8339
Urbaniak
Lungen, seinem „Entlassungsförderungsgesetz", Änderung der Sozialplanregelungen auch im Betriebsverfassungsgesetz vorsehen. Wir stemmen uns dagegen.
Alles in allem: Dieses weitere Beispiel von Sozialabbau zu Lasten der Arbeitnehmer hat die Mehrheit dieses Hauses, die Rechtskoalition, zu vertreten. Wer den Arbeitnehmern verpflichtet ist, kann Ihren Vorstellungen nicht zustimmen.
Herr Kollege Urbaniak, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Marschewski? — Bitte schön.
Herr Kollege Urbaniak, ich habe einmal eine Frage: Sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Gesetzgebung Ihrer Koalition 1972 dazu beigetragen hat, daß das Bundesverfassungsgericht eben gesagt hat, daß Sozialpläne erst an Nr. 6 erscheinen und dies — Ihre Gesetzgebung — somit unsozial war?
Herr Kollege, das Verfassungsgericht hat uns die Chance offengelassen, die Praxis des Bundesarbeitsgerichts durch eine heute zu verabschiedende Rechtsregelung festzulegen. Dagegen stemmen Sie sich.
Sie hatten die Chance, dem SPD-Entwurf, der sich auf die Urteilspraxis des Bundesarbeitsgerichts stützt und der die Zustimmung der Gewerkschaften erfahren hat, zuzustimmen. Diese Chance haben Sie vertan. Die rückschrittliche Regelung haben nun Sie zu verantworten, und das auf dem Hintergrund der größten Pleitewelle seit der Währungsreform,
17 000 Insolvenzen sind zu erwarten. Dazu kommt die Ankündigung der Bauindustrie, daß — leider, müssen wir sagen — 200 000 Arbeitnehmer freigesetzt werden, mit der Folge einer weiteren Pleite-welle. Die Pleitewelle rollt und rollt, und Sie flankieren sie zu Lasten der Arbeitnehmer. Da machen wir nicht mit.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. — Ich schließe die Aussprache.
Zur Abgabe einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat das Wort der Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ich halte das Gesetz für einen Fehler, erst recht in der Fassung des Gesetzentwurfes der SPD, und werde deswegen keinem der vorliegenden Gesetzentwürfe zustimmen. Ich verstehe den Kollegen Blüm, der sich für das Gesetz besonders eingesetzt und sich um das Gesetz verdient gemacht hat. Er ist eben nicht nur unser Arbeits- und Sozialminister, sondern auch unser Gewerkschaftsminister;
aber nicht alles, was Gewerkschaften vorschlagen, ist auch immer gut und zukunftsweisend. Dieses Gesetzesvorhaben ist es jedenfalls nicht.
Was bedeutet der Gesetzentwurf, auch der Regierungsentwurf? Er bedeutet, daß die Arbeitnehmer in der Regel nach dem Konkurs eines Betriebs nichts auf die Hand bekommen, sondern daß erst in einem aufwendigen Verfahren festgestellt wird, welcher Anspruch im Endergebnis besteht. In der Regel bedeutet das, daß erst nach zwei oder drei Jahren feststeht, in welcher Höhe etwas ausbezahlt werden kann.
Der große Nachteil ist aber, daß durch diese Regelung die Substanz des Betriebes in einer Zeit vermindert wird, in der es besonders um die Substanzerhaltung geht. Dann, wenn der Konkurs droht oder ein Konkursantrag gestellt ist, kann natürlich in Hunderten von Konkursfällen entscheidend sein, was noch bei der Masse bleibt. In diesen Fällen kann die Festlegung, die wir heute mit dem Gesetz treffen, dazu führen, daß einige Gläubiger, die wir brauchen, um über diese Notsituation des Betriebes hinwegzukommen, nicht bereit sind mitzumachen.
Selbst wenn das nur einige oder einige hundert Betriebe betrifft, ist das für mich Grund genug zu sagen: Nein, die Erhaltung des Betriebs geht vor. Die Arbeitnehmer, die später, in zwei oder drei Jahren, etwas realisieren können, wären in der Regel wahrscheinlich froh, wenn der Betrieb hätte erhalten werden können.
Herr Justizminister, ich fürchte auch — und deswegen mein Nein —, daß die Entscheidung heute doch eine Vorwegnahme des Insolvenzrechts ist, die wir schaffen wollen; denn ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß wir jemals in der Lage sein werden, in den kommenden Monaten und Jahren, wenn wir über eine Reform des Insolvenzrechts debattieren, von dieser Vorlage wieder herunterzukommen. Ich hätte mir gewünscht — das wäre Voraussetzung für eine Zustimmung gewesen —, daß wir mit dem Gesetzentwurf eine Regelung zu § 613 a des Bürgerlichen Gesetzbuches koppeln, der in vielen Fällen Haupthindernis ist, einen Betrieb noch zu erhalten, wenn er dabei ist kaputtzugehen.
Danke.
Wir kommen nun zur Einzelberatung und Abstimmung, und zwar zunächst über Tagesordnungspunkt 11 a, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren auf Drucksache 10/2129. Ich rufe die §§ 1 bis 8, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften in zweiter Beratung mit Mehrheit angenommen.
8340 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Vizepräsident Westphal
Wir stimmen jetzt ab über Tagesordnungspunkt 11 b, den von den Abgeordneten Bachmeier, Buschfort, Dreßler und weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung auf Drucksache 10/81. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.
Wir kommen nunmehr zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung über Tagesordnungspunkt 11 a, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 10/2129. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Das Gesetz ist bei einer großen Anzahl von Enthaltungen und einigen Gegenstimmen angenommen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schmude, Frau Steinhauer, Amling, Büchner , Klein (Dieburg), Lambinus, Becker (Nienberge), Berschkeit, Buckpesch, Buschfort, Dreßler, Esters, Fiebig, Frau Fuchs (Köln), Heistermann, Dr. Holtz, Frau Huber, Jaunich, Dr. Jens, Jung (Düsseldorf), Dr. Klejdzinski, Kretkowski, Liedtke, Lohmann (Witten), Frau Matthäus-Maier, Meininghaus, Menzel, Dr. Mertens (Bottrop), Dr. Müller-Emmert, Müntefering, Dr. Nöbel, Dr. Penner, Poß, Purps, Reschke, Reuschenbach, Sander, Schanz, Schlatter, Schluckebier, Frau Schmedt (Lengerich), Schmidt (Wattenscheid), Schmitt (Wiesbaden), Schröer (Mülheim), Steiner, Toetemeyer, Urbaniak, Westphal, Wieczorek (Duisburg), Wiefel, von der Wiesche, Wischnewski, Zeitler, Dr. Ehmke (Bonn), Ibrügger, Bernrath und der Fraktion der SPD
Olympische Sommerspiele 1992 im Ruhrgebiet
— Drucksache 10/2019 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Sportausschuß
Haushaltsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Dazu sehe ich keinen Widerspruch? — Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Der Beschluß der Oberbürgermeister der Ruhrgebietsstädte vom 17. August dieses Jahres, sich um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 1992 zu bewerben, verdient ernstgenommen zu werden.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sind offenbar nicht bereit, das olympische Anliegen des Ruhrgebietes zu unterstützen.
Weder der für die Sportpolitik dieser Regierung zuständige Innenminister noch die Koalitionsfraktionen haben bisher eine positive Haltung eingenommen.
Dabei ist die Ausrichtung der Olympiade nicht nur eine städtische Angelegenheit oder eine Regionsangelegenheit, sondern auch von staatlicher Bedeutung. Es ist daher klar, daß schon das Bemühen um die Bewerbung des Ruhrgebietes ohne die Hilfe der Bundesregierung nachteilig ist. Deshalb begrüßen wir auch die aktive Unterstützung der Landesregierung Nordrhein-Westfalens durch den Ministerpräsidenten Rau.
Der konservativen Bundesregierung und ihren Abgeordneten empfehle ich, sich ein Beispiel an dem Vorsitzenden der CDU Westfalen-Lippe, Professor Kurt Biedenkopf, zu nehmen. Wie zu hören ist, soll heute auch niemand aus Nordrhein-Westfalen von der CDU/CSU reden. Man fragt sich: Traut sich niemand aus Nordrhein-Westfalen?
Ich betone ausdrücklich, daß eine solche Bewerbung in erster Linie eine Angelegenheit der Region und der Städtegemeinschaft ist, in Verbindung mit dem NOK und mit den olympischen Fachverbänden.
Die sozialdemokratische Fraktion begrüßt daher ganz besonders, daß Anfang Januar 1985 ein Treffen zwischen den Oberbürgermeistern der in Frage kommenden Städte und den Vertretern des NOK in Deutschland in Essen vorgesehen ist.
Ein parteipolitisches Gerangel wünschen wir nicht,
aber eine wohlwollende und unterstützende Haltung gegenüber dem Ruhrgebiet ist notwendig.
Aber selbst dazu scheinen Sie, meine Herren und Damen von der konservativen Seite, nicht bereit zu sein.
Es kann keinen Zweifel geben, die Ruhrgebietsstädtegemeinschaft hat ein Recht, sich um die Olympischen Spiele zu bewerben. 1992 mag eine Zielmarke sein. Ich darf in Erinnerung rufen, daß selbst die Olympiastädte Moskau und Los Angeles zwei Anläufe benötigten, um ihre Bewerbung erfolgreich zu vertreten.
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Frau Steinhauer
Vor diesem Hintergrund ist die aus CDU-Kreisen zu hörende Unterstellung, die Bewerbung sei überhaupt nicht ernst zu nehmen — das Lachen hier ist eine Bestätigung dafür —, polemisch und töricht, schlicht unwahr und beleidigend.
Wir weisen das mit Nachdruck zurück. Da kommt auch Aversion gegen das Ruhrgebiet zum Ausdruck.
Bisher haben sich Paris, Amsterdam, Barcelona, Belgrad, Neu Delhi und Brisbane in Australien um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 1992 beworben oder die Bewerbungsabsicht geäußert.
Das Ruhrgebiet braucht sich mit seinen Möglichkeiten und Voraussetzungen nicht zu verbergen.
Vor allem aus der bayerischen Ecke ist dann auch einiges an Ruhrgebietsaversion zu hören. Es wird vorgeschlagen, eine Bewerbung der Städtegemeinschaft reduziere auch die Chancen von Berchtesgaden für die Ausrichtung der Winterolympiade 1992.
Zunächst einmal ist man im Ruhrgebiet ganz sicher, daß das „olympische Heil" nicht aus den bayerischen Bergen kommt.
Abgesehen davon bewirbt sich Frankreich mit Paris und der Region Albertville ebenfalls um die Sommer- und Winterspiele 1992. Was aber die Konzessionen betrifft, die das IOC hinsichtlich der räumlichen Entfernung der olympischen Sportstätten in Moskau und Los Angeles gemacht hat, wird eine Bewerbung der Ruhrgebietsstädtegemeinschaft geradezu herausgefordert. Wir meinen, daß das Ruhrgebiet, wenn es sich bewirbt, darauf pochen kann, daß es eine Olympiade der kurzen Wege gibt.
Wenn sich das Internationale Olympische Komitee sogar mit dem Gedanken trägt, aus politischen Gründen einige Wettbewerbe 1988 bei den Sommerspielen in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul gegebenenfalls auf dem Gebiet von Nordkorea auszurichten, so kann der räumliche Vorbehalt heute überhaupt nicht mehr gelten.
Zudem verdient auch die frühzeitige Bereitschaft von Kiel, sich an der Bewerbung der Ruhrgebietsstädtegemeinschaft zu beteiligen, Anerkennung und Unterstützung.
Von besonderem Wert ist die außerordentlich positive Resonanz des Oberbürgermeisterbeschlusses und der Unterstützung des Kommunalverbandes Ruhr bei der Bevölkerung und bei den verschiedensten Organisationen und Institutionen im Ruhrgebiet und auch darüber hinaus. Wer vorurteilsfrei und ohne die leider immer noch zutreffende „Ruhrgebietsaversion" die Bewerbungsbereitschaft prüft, wird sich über die inhaltliche Qualität in jeder Hinsicht wundern. Das Netz der Sportstätten ist international erprobt und anerkannt. Umbauten oder Neubauten halten sich in einer vertretbaren Größenordnung.
Die Medieneinrichtungen sind optimal. Die Unterbringung der Sportler, Betreuer und Journalisten und der Besucher ist problemlos. Ein olympisches Dorf würde sich nach den Olympischen Spielen ohne Schwierigkeiten z. B. im sozialen Wohnungsbau weiterverwenden lassen. Die europäischen Verkehrsverbindungen des Ruhrgebiets entsprechen den Erfordernissen. Bei der Finanzierung könnte das Münchner Modell von 1972 herangezogen werden, wobei sich heute noch völlig andere Finanzierungsmöglichkeiten auf Grund der Fernsehvergaberechte ergeben.
Dann ist auch nicht unbedeutend: im Ruhrgebiet wohnt eine sportbegeisterte Bevölkerung.
Von herausragender Wichtigkeit ist aber: Im Gegensatz zu Moskau und Los Angeles würde eine Bewerbung der Ruhrgebietstädtegemeinschaft die Zusage enthalten, daß alle traditionellen Veranstaltungen neben den eigentlichen Olympischen Spielen garantiert werden können. Dazu gehören: eine würdevolle Ausrichtung der Olympischen Spiele der Behindertensportler,
die umfassende Ausrichtung eines olympischen Jugendlagers, die Kulturolympiade, der internationale Wissenschaftskongreß.
Aus all diesen Gründen bekräftigen wir heute als sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Zielsetzungen unseres Ihnen vorliegenden Antrags. Wir fordern die anderen Bundestagsfraktionen und die Bundesregierung auf, ebenfalls eine positive und aktiv unterstützende Haltung einzunehmen. Dem Überweisungsvorschlag stimmen wir zu.
Lassen Sie mich zusammenfassend für die Unterstützung unseres Antrags und die Beurteilung des Ruhrgebiets und seiner Darstellung mit einem Goethe-Zitat schließen:
Wie kann die Welt wissen, was du Gutes zu bieten hast, wenn du es nicht bekanntmachst?
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch meine Fraktion wird dem Überweisungsvorschlag gerne zustimmen. Liebe „Glöckner", auch meine Fraktion wird mit denjenigen, die für die Vergabe der Olympischen Sommerspiele an die Städtegemeinschaft des Ruhrgebiets eintreten, an einem Strang ziehen. Die
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Beckmann
Glocke für die Olympischen Spiele an der Ruhr ist erklungen.
Ihr Klang wird von einer Welle der Zustimmung begleitet, die die Bevölkerung des Ruhrgebiets erfaßt hat.
Dies bestätigt mich in dem Urteil, daß sich das Ruhrgebiet zu Recht um die Ausrichtung von Olympischen Spielen bewirbt.
Wer jemals ein Fußballspiel etwa zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund gesehen
und den Enthusiasmus der Zuschauer im Stadion gespürt hat,
der weiß, welche besondere Begeisterung die Menschen im Revier für den Sport empfinden.
Ich bin sicher, meine Damen und Herren, daß die Olympischen Spiele bei uns im Ruhrgebiet bestens aufgenommen und die Sportler aus aller Welt mit offenen Armen empfangen würden. Ich will damit nicht sagen, daß das nicht auch anderswo der Fall wäre. Die Olympischen Spiele von München sind uns noch in bester Erinnerung. Aber ich glaube doch, daß für die Menschen im Revier der Sport als Ausgleich für die in vielen Bereichen besonderen Anforderungen der Arbeitswelt immer einen ganz besonderen Stellenwert besessen hat.
Diese Einstellung wird sich — da bin ich sicher, Herr Kollege Roth — auch auf die Besucher aus aller Welt übertragen.
Das ist aber nur der eine Aspekt dieser Idee. Nebenbei bemerkt, kam übrigens der erste Anstoß zu diesem Vorhaben aus den Reihen der Freien Demokraten.
Bereits vor vielen Jahren hat der damalige Düsseldorfer Beigeordnete Landwers gefordert, die Olympischen Sommerspiele an die Rhein-Ruhr-Region zu vergeben.
Und ich füge hinzu: aus gutem Grund.
Zunächst verfügt kein anderer Teil Deutschlands über eine so große Anzahl von Sportstätten auf so engem Raum wie die Ruhrregion. Ich möchte nicht alle Städte aufzählen, die bereits jetzt, ohne größere bauliche Veränderungen vorzunehmen, bereit und in der Lage wären, eine oder mehrere olympische
Disziplinen aufzunehmen. Es sei an dieser Stelle aber doch darauf hingewiesen, daß z. B. Gelsenkirchen für die Eröffnungs- und Schlußfeier sowie für die Leichtathletik, Dortmund für Handball, Hockey und Turnen, Duisburg für die Ruder- und Kanuwettbewerbe und den Basketball, Essen für Boxen, Ringen, Judo und das Reiten sowie die Großstadien vieler Städte des Reviers für den Fußballsport als Austragungsort jederzeit zur Verfügung stünden.
Die Fähigkeit zur Organisation und Durchführung derartiger internationaler Wettbewerbe haben diese Städte bereits mehrfach durch die Austragung von verschiedenen Europa- und Weltmeisterschaften unter Beweis gestellt. Das Ruhrgebiet ist also jederzeit ohne Zweifel in der Lage, mit den vorhandenen Sportstätten und Organisationsstrukturen olympische Sommerspiele durchzuführen. Dies ist im übrigen auch die Einschätzung vieler an der Vorplanung beteiligter Fachleute.
Meine Damen und Herren, aber auch ein anderer Aspekt spricht für das Revier. Olympia an der Ruhr könnte wirklich einmal ein Olympia der kurzen Wege werden. Die Berechnungen der Planer haben ergeben, daß, nimmt man einmal Kiel als Austragungsort der Segelwettbewerbe aus, im Umkreis von 50 Kilometern Sportstätten für alle olympischen Disziplinen zur Verfügung stünden. Zudem sind diese Sportstätten dank eines dichten Straßen- und Schienennetzes jederzeit schnell zu erreichen.
Olympia im Revier heißt aber auch Olympia des geringen Aufwandes. Da ein Großteil der benötigten Sportstätten bereits vorhanden ist, liegt der Kostenaufwand im wesentlichen bei der Renovierung und Modernisierung dieser bestehenden Einrichtungen. Damit wird vermieden, daß neue Sportpaläste gebaut werden müssen, die nachher mangels Auslastung als kostenträchtige Zuschußobjekte der öffentlichen Hand zur Last fallen könnten. Da, wo jedoch Baumaßnahmen wie etwa durch Umbau oder Modernisierung von bestehenden Sportstätten oder bei der Verbesserung und Anpassung der Infrastruktur notwendig werden, kommen diese Investitionen später einmal allen Menschen im Revier zugute. Es sind nicht wie so oft verlorene Zuschüsse, sondern Investitionen in die Zukunft dieser Region.
Überhaupt bin ich der Auffassung, daß bei der Zugrundelegung der Erfahrungen mit dem Management der Olympischen Spiele von Los Angeles gerade bei der Vergabe an das Ruhrgebiet möglich sein müßte, die Spiele für den Steuerzahler kostenneutral zu gestalten. Ich könnte mir beispielsweise sehr gut vorstellen, daß eine Gruppe von privaten Investoren bereit und in der Lage wären, den erforderlichen Finanzrahmen für die Olympischen Spiele auszufüllen. Wie dies im einzelnen aussehen kann, damit beschäftigen sich im Augenblick die Experten. Die FDP-Bundestagsfraktion will sich dieser Frage ganz besonders intensiv annehmen. Sie hat hierzu eine Arbeitsgruppe gebildet, die aus
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Beckmann
den Kollegen Graf Lambsdorff, Baum und mir besteht.
Diese Arbeitsgruppe, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird prüfen, ob und wie dieses gesamte Vorhaben überhaupt zu verwirklichen ist.
Lassen Sie mich mit ein paar Zeilen aus dem Schillerschen Gedicht „Von der Glocke" schließen. Ich möchte die von Frau Kollegin Steinhauer hier soeben eingeführte klassische Methode fortsetzen und Ihnen zurufen:
Fest gemauert in den Erden stehen Stadien und Parcours. Heute muß Olympia werden. Frisch, Kollegen,
an die Ruhr!
Vielen Dank.
Nun bin ich ja fast geneigt zu fragen, was der Sportsfreund Schwenninger für Zitate bringen wird. Sie haben jetzt das Wort, Herr Kollege Schwenninger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum ist das Medienspektakel Los Angeles aus den Schlagzeilen der Presse verschwunden, sind einige findige Köpfe dabei, das entstandene olympische Sommerloch in ihrem Sinne zu stopfen.
Im Blick auf die Landtagswahl in NordrheinWestfalen verspricht sich die SPD gerade jetzt viel von der populären Forderung und, wie wir sehen, auch die FDP.
Die olympischen Spiele 1992 an Rhein und Ruhr
— das klingt auch gut; es ist ein Stabreim —, also mitten ins Industriezentrum der Bundesrepublik. Da sich die Regierungskoalition diesem Anliegen nicht so leicht entziehen kann, scheint es durchaus möglich, daß die Bundesregierung eine Werbekampagne der Ruhrgebietsstädte finanziell und politisch unterstützen wird, dies sogar, obwohl weder ein detailliertes Planungs- und Finanzierungskonzept vorliegt, das alle Auswirkungen ökonomischer, ökologischer sowie sozialer und politischer Art analysiert,
noch die Unterstützung der verantwortlichen Sportgremien gegeben ist.
— Man muß auch darüber nachdenken, ob die Spiele zum Frieden taugen; das ist richtig, Herr Sauer.
Bezüglich des hier vorliegenden Antrags will ich mich nicht vorschnell festlegen und den Antrag einfach ablehnen. Nein, wir sind nicht einfach die
Nein-Sager. Wir wollen hier sachlich abwägen, Pro und Contra gegenüberstellen.
— Ja, wir haben jetzt auch noch Zeit, um im Ausschuß zu beraten. —
Für die Olympischen Spiele im Ruhrgebiet spräche, daß sich wohl alle olympisch Interessierten im Ruhrgebiet freuen würden, so nahe — sozusagen vor der eigenen Haustür — die gesamte sportliche Weltelite vertreten zu sehen. Das wäre einmal eine Alternative zum Dauerfußball und zu den SechsTage-Rennen.
— Ja, die anderen Sportarten kann ich jetzt nicht aufzählen, denn sonst wäre meine Redezeit zu Ende.
Darüber hinaus kann es dem Ruhrgebiet gelingen, durch ein fröhlich buntes Fest — wie z. B. bei den „Heiteren Spielen" von München 1972 — den Eindruck zu verdrängen, im „Kohlenpott" sei alles grau, rußig und laut. Die Änderung dieses Schattendaseins soll ja auch ein wichtiges Ziel der OlympiaPlaner sein.
Schließlich ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß schon fast alle benötigten Sportanlagen vorhanden sind, die Sportstätten ziemlich nahe beieinander liegen und auch die noch fehlende Infrastruktur ohne großen finanziellen Aufwand geschaffen werden könnte.
Angesichts dieser Positiv-Punkte frage ich mich aber: Haben diejenigen, die sich über olympische Spiele im Ruhrgebiet freuen, auch wirklich alle etwas davon, und was wäre mit denen, die mit solch einem Olympia-Rummel nichts am Hute haben?
Stünde es nicht gerade dem Ruhrgebiet besser zu Gesicht, sein Image durch gute Sozialpolitik, umfassende Kulturangebote, ökonomische Sicherheiten für die arbeitende Bevölkerung, vor allen Dingen für die Arbeitslosen, zu verbessern? Ich frage mich auch, ob nicht gerade dadurch, daß sich alles auf engem Raum abspielen soll, ein gewaltiges Chaos durch die Menschenmenge dort entsteht. Wahrscheinlich müßten alle Betriebe im Ruhrgebiet für drei Wochen schließen, um einen reibungslosen Transport zu gewährleisten. Das wäre j a auch nicht schlecht.
Oder aber unter Umständen kommen gar keine Zuschauer mehr, weil sich die Olympischen Spiele bis zu diesem Zeitpunkt — 1992 — immer mehr zu Fernsehspielen entwickelt haben und die Leute dann zu Hause vor der Glotze hocken.
Nun gibt es aber auch zwei Argumente, die gegen diese Bewerbung zur Sommerolympiade 1992 spre-
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Schwenninger
chen. Betrachten wir einmal die Situation aus der Sicht der Verantwortlichen im Ruhrgebiet. Es zeigt sich, daß die Kommunen hochverschuldet sind und durch ein schlechtes Image der strukturelle Ausbau der Region zu einem modernen Technologiepark verhindert wird. Da sollten mit einer Klappe wohl zwei Fliegen erwischt werden. Durch das gewonnene Renommee könnte die Neuansiedlung moderner Industriezweige gefördert werden, und durch den Verkauf der Fernsehrechte, die ja immer wichtiger werden, könnten — wie zur Zeit absehbar — die Schulden der Gemeinden getilgt werden.
Diesen Weg zur Sanierung des Ruhrgebiets wollen wir aber nicht mitgehen. Weder erscheint uns das Setzen auf die moderne Technologie mit ihren Wachstums- und Rationalisierungsproblemen noch das Anbiedern an die kommerziellen Medienkonzerne und ihre Beeinflussungsversuche als wünschenswert.
— Ja, klar, da kommt noch mehr.
Wie jeder und auch jede weiß, stehen zudem die Chancen für das Ruhrgebiet bei der Bewerbung ziemlich schlecht. Auf nationaler Ebene befürchtet das NOK Konkurrenz zur anvisierten Winterolympiade 1992 in Berchtesgaden, der wir im übrigen aus ökologischen und ökonomischen Gründen unsere Zustimmung versagen. Deshalb ist das NOK über diese Bewerbung gar nicht so erfreut. Aber auch auf internationaler Ebene ist klar, daß es schon eine einmalige Sonderstellung bedeuten würde, wenn innerhalb von 13 Olympiaden gleich zum drittenmal die Sommerspiele nach Deutschland bzw. in die Bundesrepublik Deutschland vergeben werden dürfen. Da sind Paris oder Barcelona garantiert aussichtsreichere Bewerber. Man kann daran aber erkennen, daß einzig das vielversprechende Wahlkampfthema die SPD und FDP jetzt anspornt, diesen Antrag zu forcieren.
Nun zu unserer eigenen Position. Wir lehnen die Olympischen Spiele nicht grundsätzlich ab. Die derzeitige Durchführung aber läßt von der ursprünglichen Intention nur sehr wenig erkennen. Wir wollen die olympische Idee irgendwie retten, d. h. zu einem neuen Konzept zu der Ausrichtung kommen. Das heißt, die Fehlentwicklung in Richtung auf Hochleistungsvergötterung, in Richtung auf Nationalismus, so wie wir diesen nationalistischen Rummel in den Vereinigten Staaten gehabt haben, in Richtung auf Kommerzgigantomanie müßte korrigiert werden. Das heißt, wir müßten zu ganz neuen Spielen kommen, zu Spielen, die gegenseitige Kommunikation, Kulturaustausch zulassen. Vor allen Dingen müßten sie solche Formen finden, die ökologisch angepaßt sind. — Zu solchen Spielen kann ruhig auch die Liebe mit hereinkommen, Herr Rumpf, wenn Sie daran festhalten wollen. Sicher, ein sportlicher Eros muß schon mit dabei sein.
Solche Spiele würden wir also durchaus unterstützen. Das muß erarbeitet werden, dazu muß man sich zusammensetzen. Wir finden, es muß vor allen Dingen der Friedensgedanke, der ja bei Coubertin mit dem Adjektiv völkerverbindend genannt worden ist, noch viel mehr herauskommen. Das heißt, man muß dort viel stärker darüber diskutieren, warum wir eigentlich keinen Frieden auf dieser Welt haben. Die begrenzte mögliche Funktion von Olympischen Spielen, was sie für eine Welt hergeben, in der mal Frieden sein kann, sollte man durchaus diskutieren, vielleicht in dem Sinne, wie Coubertin es mal gesagt hat: Der Geist soll eingeladen werden. Er dachte da wahrscheinlich an andere Dinge. Aber nehmen wir die Form: Einladung des Geistes. Das würde heißen, daß man über die Probleme, warum Olympische Spiele bis jetzt doch überhaupt nicht zum Frieden beigetragen haben, mal spricht. Da käme man ja zu ganz bestimmten Gründen. Die sollten ruhig bei den Olympischen Spielen angesiedelt sein. In diesem Sinne, glaube ich, wäre auch der Wissenschaftskongreß, den Sie vorhin erwähnt haben, durchaus zu begrüßen, eine kritische Reflexion über die Spiele, eine kritische Reflexion über den Friedensgedanken der Spiele — eine begrenzte, wie ich gesagt habe —, eine kritische Reflexion über die Höchstleistung. Wo sind wir denn da hingekommen? Ist das überhaupt noch ein humanes Ziel, so eine durch teilweise inhumane Methoden erkämpfte Höchstleistung, Spitzenleistung? Was sind das für Werte? Über so etwas muß man doch diskutieren.
Wenn man also Olympische Spiele in diese Richtung umändert, mit einem ökologisch angepaßten Rahmen und finanziell begrenzt, dann noch unter dem Aspekt der Einladung wirklich aller Völker der Welt, d. h. wenn man solche Formen findet, daß auch Vertreter der Länder der Dritten Welt hier mitmachen können, und zwar wirklich in Partizipation, können wir zu solchen Spielen durchaus ja sagen.
Bezogen auf die Spiele im Ruhrgebiet — ich komme zum Schluß. Herr Präsident, ich sehe schon das grüne Licht —:
Den Problemen des Ruhrgebiets kann und sollte anders geholfen werden als durch die Olympischen Spiele, deren zukünftige Form wir noch diskutieren wollen.
Danke schön, liebe Sportsfreundinnen und Sportsfreunde.
In der Farbe haben Sie sich geirrt, Herr Kollege Schwenninger.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schwarz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Kollege Schwenninger, Sie waren hier heute etwas ver-
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Schwarz
wirrt — das hat man gemerkt —; denn Sie haben aus einem roten Licht ein grünes Licht gemacht.
Es wird mit Sicherheit, meine lieber Kollege Schwenninger — darüber haben wir uns im Sportausschuß ausführlich unterhalten — nicht die Olympischen Spiele geben, die Sie hier skizziert haben.
Unsere Sportler und die Offiziellen haben uns berichtet, daß die Olympischen Spiele von Los Angeles Olympische Spiele waren, wie sie von den Sportlern, wie sie von den Offiziellen gewünscht werden.
— Mein lieber Herr Kollege Büchner, ich habe bei den Gesprächen, die wir mit den Offiziellen des Olympischen Komitees, des Bundesausschusses Leistungssport, der Sportförderung hatten, keinen gehört, der massive Kritik an den Olympischen Spielen in Los Angeles geübt hätte. Ich weiß nicht, warum im Ausschuß so geredet wird und im Plenum des Deutschen Bundestages, nachdem der Herr Schwenninger ein paar kritische Akzente gesetzt hat, dann auf einmal auf grün eingeschwenkt wird. Das bin ich nicht gewöhnt.
— Jetzt komme ich zu Ihren „anderen Argumenten", Frau Kollegin Steinhauer. Sehr geehrte, geschätzte Kollegin, nun haben Sie Ihren Wahlkreis doch nicht im Ruhrgebiet, auch ich nicht.
Und wenn hier niemand aus Nordrhein-Westfalen spricht, so deshalb, weil die CDU/CSU-Fraktion ihren Obmann im Sportausschuß — so wichtig nehmen wir diesen Antrag — gebeten hat, dazu Stellung zu nehmen.
— Frau Kollegin Steinhauer, wenn die Ruhrgebietler — ich kenne sie, ich wohne am Rande des Ruhrgebiets — permanent den Komplex hätten, den Sie hier zum Ausdruck gebracht haben, indem Sie mehrmals von der Aversion gegen das Ruhrgebiet sprachen, wären sie viel schlechter, als sie in Wirklichkeit sind.
Es gibt keine Aversion gegen das Ruhrgebiet.
Im Gegenteil, ich stelle fest, daß wir darüber streiten, wer zuerst Olympische Spiele an der Ruhr gefordert hat. Der Herr Beckmann hat das für sich bzw. für die FDP in Anspruch genommen. Der Landesverband der Jungen Union Westfalen hat 1970
gesagt: Wir brauchen Olympische Spiele im Ruhrgebiet.
Der Fraktionsvorsitzende der CDU im Essener Stadtrat, Königshofen, hat 1978 gesagt: Wir brauchen die Olympischen Spiele im Ruhrgebiet.
Heini Köppler hat das als Landesvorsitzender damals aufgegriffen: Wir brauchen Olympische Spiele im Ruhrgebiet.
Der Oberbürgermeister von Hagen, Rinsche, hat damals gesagt: Wir brauchen Olympische Spiele im Ruhrgebiet.
— Der Oberbürgermeister von Hamm, Entschuldigung.
Warum sage ich das? Ich sage das deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, weil es, wenn man das Ruhrgebiet kennt, wenn man die sportpolitische Infrastruktur des Ruhegebietes kennt, überhaupt keinen Zweifel darüber geben kann, daß Olympische Spiele in der Region Ruhr eine preiswerte, sportlich gute Angelegenheit sein würden. Das wollen wir einmal festhalten.
Nur,
die Frau Kollegin Steinhauer weiß natürlich ganz genau, daß der Deutsche Bundestag für die Bewerbung um die Olympischen Spiele nicht zuständig ist. Sie weiß, daß über die Vergabe von Olympischen Spielen das IOC entscheidet und die zuständige deutsche Instanz das Nationale Olympische Komitee ist.
— Ich weiß gar nicht, weshalb die Sozis da jetzt so querschreien. Wir haben uns doch eben gegenseitig schön zugehört.
— Und jetzt sage ich Ihnen, was meiner Meinung nach los ist. In Nordrhein-Westfalen stehen wir vor Landtagswahlen, und da macht sich das natürlich ganz gut. Das verstehe ich auch. 1978, als unsere Freunde dort die Olympischen Spiele gefordert haben, standen wir ja auch vor Wahlen an der Ruhr. Der Sport ist ja immer noch eine sehr populäre Angelegenheit. Aber wir müssen doch im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Teppich bleiben und hier im Parlament über das verhandeln, wofür das Parlament zuständig ist.
Damit komme ich zu Ihrem Antrag. Sie haben beantragt, daß die Bundesrepublik Deutschland — die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag —
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Schwarz
Mittel bereitstellen soll, um die Bewerbung der Ruhrstädte zu unterstützen.
Das ist der konkrete Antrag. Dies allerdings ist neu in der Bundesrepublik Deutschland, denn Planungskosten oder Bewerbungskosten wurden weder für München — das hat die Stadt München selber gemacht — noch für Berchtesgaden, das mit seiner Bewerbung für die Winterspiele 1992 vom Nationalen Olympischen Komitee unterstützt wird, zur Verfügung gestellt. Nie hat jemand irgendwelche Anträge gestellt, Bewerbungskostenhilfe zu bekommen, sondern die Bundesrepublik Deutschland hat, wenn es in die Verhandlungen ging, durch die Bundesregierung jeweils gesagt, daß die Finanzierung sichergestellt wird.
Nun wollen wir uns doch einmal den Mann anhören, der der Präsident des wirklich zuständigen Gremiums ist. Ich darf hier vorlesen, was Willi Daume am 17. November 1984, also vor gar nicht allzulanger Zeit, vor dem NOK in Mainz gesagt hat:
Sie wissen, es ist auch immer wieder die Rede von einer Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 1992 in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu muß zunächst einmal grundsätzlich gesagt werden, daß wir für jedes Interesse jeder Stadt solcher Art dankbar sind.
Dem schließen wir als Union uns an. In diesem Fall
— so weiter Daume —
wissen wir natürlich, daß die Aussichten für Berchtesgaden leiden würden, wenn das NOK auch eine Sommerbewerbung beim IOC vertreten würde, aus einer Reihe von Gründen, die wohl bekannt sind und auch naheliegend.
Ich glaube, damit hat Willy Daume ganz klar gesagt, was ist. Die deutschen Sportverbände und auch der Präsident des Deutschen Sportbundes haben ganz klar gesagt: Wir unterstützen Berchtesgaden.
Nun sagen Sie, daß sich Frankreich für Sommer-und Winterspiele bewirbt. Da wollen wir doch einmal sehen, ob das für beide Spiele hilfreich ist. Ich glaube, diejenigen, die in den internationalen Organisationen zu verhandeln haben, wissen, daß es zweckmäßig ist, die Winterspiele hier und die Sommerspiele dort zu veranstalten. So haben die letzten Spiele stattgefunden, und es hat sich mittlerweile sozusagen als selbstverständlich herausgestellt, daß das nicht im selben Lande geschieht. Nach Möglichkeit finden die beiden Spiele noch nicht einmal auf demselben Kontinent statt. Denken Sie an Sarajevo und an Los Angeles, denken Sie an Kanada und Europa.
Bei aller Kollegialität, die wir im Sport haben, sage ich: Wenn die Landesregierung von NordrheinWestfalen den Sport unterstützen will — sie unterstützt ja dieses Anliegen —, würde ich ihr doch empfehlen, daß sie das Geld, das sie jetzt zur Verfügung hat, nimmt, um die Sportförderungsmittel, die von 1980 bis 1984 reduziert worden sind, zugunsten der Sportvereine in Nordrhein-Westfalen wieder ein bißchen aufzustocken.
— Ja, es wäre eine gute Sache, wenn NordrheinWestfalen jetzt, wenn es Geld hat, konkret etwas täte.
Die Sportförderung pro Kopf der Bevölkerung sieht — es ist ganz gut, daß das kein NordrheinWestfale sagt — so aus, daß in Nordrhein-Westfalen 7,95 DM ausgegeben werden, in Rheinland-Pfalz 16,60 DM und in Baden-Württemberg 15,80 DM.
Warum nenne ich diese Zahl? Ich nenne die Zahl, weil ich glaube, daß — bei all unserer gemeinsamen Akzeptanz für Olympische Spiele an der Ruhr — dieser Antrag zu diesem Zeitpunkt nicht ganz getrennt von dem Landtagswahlkampf, der in Nordrhein-Westfalen stattfindet, gesehen werden kann.
— Warum sind Sie denn neidisch? Weil Berchtesgaden jetzt eine gewisse Priorität hat? Aber dieser Antrag ist doch schon Gott weiß wie lange her; der ist doch schon auf dem Weg. Und da kommen Sie jetzt!
Herr Kollege Beckmann, wir werden uns im Ausschuß über diese Frage zu unterhalten haben, und wir werden dann in aller Ruhe und sachlich darüber zu reden haben, wie die Chancen für eine Olympiade an der Ruhr sind.
Wir werden zu fragen haben, was wir unterstützen können. Nur kann ich eines schon jetzt sagen: Ich glaube nicht, daß wir von der Koalition Bewerbungskosten übernehmen werden. Vielmehr werden wir alle hier, wenn die Chance besteht, die Olympiade in die Bundesrepublik Deutschland zu bekommen, wieder das tun, was wir in München getan haben und was wir auch für Berchtesgaden tun werden:
Wir werden dies alles unterstützen. In diesem Sinne sollten wir, so meine ich, den Sport aus der parteipolitischen Auseinandersetzung herauslassen und keine solchen parteitaktischen Anträge — diesen Antrag muß ich so eingruppieren — stellen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag auf Drucksache 10/2019 zur federführenden Beratung
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Vizepräsident Stücklen
an den Sportausschuß und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? — Ich sehe keine Wortmeldungen. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über Erfahrungen mit dem Arzneimittelgesetz
— Drucksachen 9/1355, 10/358 Nr. 80, 10/2413 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Augustin Jaunich
Hierzu liegt auf Drucksache 10/2610 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat Kurzdebatte vereinbart. Das bedeutet zehn Minuten für jede Fraktion. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch dies beschlossen.
Wird das Wort von seiten der Berichterstatter gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Augustin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auftragsgemäß hat die Bundesregierung den Erfahrungsbericht zum Arzneimittelgesetz vorgelegt. Ich glaube, daß wir in diesem Parlament übereinstimmend sagen können, daß das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976 einer kritischen Betrachtung — auch aus der Sicht des Jahres 1984/85 — in erstaunlich weiten Bereichen standhält. Es erscheint mir angebracht, den Müttern und Vätern dieses Gesetzeswerkes einmal ein herzliches Dankeschön auszusprechen.
Aber, meine Damen und Herren, ein Gesetz kann noch so gut sein: Immer wieder werden wir vor die Tatsache gestellt, eingestehen zu müssen, daß man irgend etwas vielleicht doch noch besser hätte machen können oder daß die damals anstehenden Probleme — aus der heutigen Sicht — anders hätten gewichtet werden müssen. Dies trifft auch auf das hier heute zur Diskussion stehende Arzneimittelgesetz zu.
Auch damals schon stand die Arzneimittelsicherheit im Mittelpunkt der Betrachtung. Zu einem erheblichen Teil ist es ein Verdienst dieses Gesetzes, daß es auf der Welt kaum ein anderes Land gibt, in dem die Arzneimittelsicherheit einen so hohen Standard aufweist, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.
: Das muß endlich auch einmal gesagt werden!)
Selbstverständlich ist das aber auch ein Verdienst der vielen an der Entwicklung, Herstellung und Prüfung von Arzneimitteln beteiligten Wissenschaftler und Fachkräfte. Ich meine, das sollte auch
einmal gesagt werden. Dennoch ist — durchaus mit einiger Berechtigung — die Forderung nach noch mehr Arzneimittelsicherheit, die Suche nach noch größerer Herabminderung von Arzneimittelrisiken zum Mittelpunkt der öffentlichen und natürlich auch der fachöffentlichen Diskussion geworden.
Gestatten Sie, daß ich hierzu einige grundsätzliche Bemerkungen mache: Je intensiver, je fachkundiger und sachkundiger man sich mit diesem Problem beschäftigt, mit den Wegen, die zu diesem Ziel führen, desto klarer sieht man, daß Arzneimittelsicherheit von vielen Faktoren abhängt. Ein Großteil dieser Faktoren entzieht sich jedweder Regelung durch Gesetze und Vorschriften. Er ist nämlich von der Einsicht und der Umsicht jener abhängig, die mit Arzneimitteln umgehen, die Arzneimittel verwenden.
Fehlerquellen, die zum Schaden führen, können z. B. eine nicht zutreffende Diagnose, eine falsche Dosierung oder das Außerachtlassen von Interaktionen gleichzeitig gegebener Arzneimittel sein. Die aus falscher Einschätzung der Wirksamkeit eines Arzneimittels resultierende gleichgültige Einnahme in zu großen Mengen kann ebenso zum Schaden führen wie die Nichteinnahme aus übertriebener Angst. Ein weiterer Faktor, der dem gewünschten Ziel einer absoluten Arzneimittelsicherheit entgegensteht, ist die Tatsache, daß stark wirksame Arzneimittel, auf deren Einsatz man bei lebensbedrohenden Erkrankungen einfach nicht verzichten kann, häufig eben nicht ohne Nebenwirkungen sind. Es wird weiter Aufgabe der Forschung sein, hier Fortschritte zu erzielen.
Um die Situation der Arzneimittelsicherheit insgesamt zu verbessern, ist es dringend geboten, durch geeignete Aufklärung aller am Gesundheitswesen Beteiligten dem Arzneimittel im Bewußtsein unserer Bevölkerung wieder den Platz einzuräumen, der ihm auf Grund seiner enormen gesundheitspolitischen Leistung zukommt. Ich bedaure, daß vieles von diesem ursprünglich in unserer Bevölkerung vorhandenen Bewußtsein zum Teil durch Gleichgültigkeit, zum Teil durch gewollte Verunsicherung, aber auch durch Desinformation durch zum Teil politisch motivierter pseudowissenschaftlicher Bücher abhanden gekommen ist.
Die im Augenblick anstehenden Probleme möchte ich in den vier wichtigsten Punkten zusammenf assen.
Erstens: zum Verfalldatum. Aus Gründen der Arzneimittelsicherheit und aus Gründen der Anpassung an die gültigen EG-Richtlinien sind wir zu der Auffassung gekommen, daß alle Arzneimittel künftig ein offenes Verfalldatum tragen sollen, obwohl es Arzneimittel gibt, die eine enorm lange Haltbarkeitsdauer bei sachgerechter Lagerung aufweisen. Aber aus Gründen der Vereinheitlichung schien es uns geboten, einheitlich auf allen Fertigarzneimittel ein offenes Verfalldatum anzubringen. Wir sind uns bewußt, daß dies für nahezu alle am Arzneimittel beteiligten Fachkreise Mehrkosten verursacht.
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Frau Augustin
Diese Bedenken müssen aber zur Erreichung des zu erreichenden Zieles zurückstehen.
Zweitens: die Fachkreisinformation. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß der nicht zuletzt durch eine große Zahl an gesetzlichen Auflagen recht umfangreich gewordene Beipackzettel zu Arzneimitteln auf Grund der vielen, für den Laien häufig unverständlichen Fachausdrücke mehr zu Ängsten und zu Mißverständnissen geführt hat als zur gewünschten Information und Aufklärung. Dies hatte zur Folge, daß das Einnahmeverhalten des Patienten erheblich gestört wurde. Die durch die vorgesehene Änderung des AMG zu schaffende Fachkreisinformation soll dem Hersteller von Arzneimitteln die Möglichkeit geben, den Beipackzettel zu entlasten, aber den Arzt und Apotheker noch genauer und noch ausführlicher mit für ihn wichtigen Informationen versorgen.
Drittens: die Abgabe von Arzneimittelmustern. Aus Gründen der Arzneimittelsicherheit, aber auch aus Kostengründen, ist eine Eindämmung der Überflutung der Arztpraxen mit Arzneimitteln erforderlich.
Die Bundesregierung wird deshalb in dem Entschließungsantrag aufgefordert, geeignete Schritte zur Erreichung dieses Zieles einzuleiten. Die Frage, ob die im Entschließungsantrag eingebrachten Initiativen für diesen Zweck ausreichend sind, sollte vor der Vorlage des Referentenentwurfs noch einmal eingehend — sicherlich unter Hinzuziehung von Fachleuten — geprüft werden.
Viertens: die Selbstbedienung mit Arzneimitteln. Nach § 52 ist Selbstbedienung mit frei verkäuflichen Arzneimitteln außerhalb der Apotheken erlaubt, wenn eine Person, die die notwendige Sachkenntnis nach § 50 AMG besitzt, zur Verfügung steht. Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, daß durch die Möglichkeit zur Selbstbedienung ganz allgemein ein gewisser Kaufanreiz beim Kunden ausgelöst wird. Vor diesem Hintergrund ist in sehr ernst zu nehmenden Fachkreisen die Befürchtung laut geworden, Selbstbedienung könne zum unerwünscht hohen Verbrauch von Arzneimitteln führen.
Darüber hinaus führe dies auch zur Verharmlosung der Wirksamkeit von Arzneimitteln und könne der Bagatellisierung von Erkrankungen Vorschub leisten.
Die Fraktion der CDU/CSU und die Fraktion der FDP haben diesen Tatbestand eingehend diskutiert und sind gemeinsam zu dem Entschluß gekommen, die Bundesregierung schon jetzt aufzufordern, den angesprochenen Bereich zu überprüfen und an den Stellen, wo eine gesundheitliche Gefährdung zu befürchten ist, die Arzneimittel aus der Freiverkäuflichkeit und damit auch aus der Selbstbedienung herauszunehmen und in die Apothekenpflicht zu überführen.
Abschließend will ich gerne eingestehen, daß ich persönlich in manchen Punkten zu etwas tiefgreifenderen Änderungen des bestehenden Gesetzestextes gekommen wäre. Gemeinsam sind wir aber als Antragsteller zu der Überzeugung gelangt, daß die notwendigen Änderungen nicht radikal, sondern mit der hierfür erforderlichen Behutsamkeit vorgenommen werden sollten. Dies erwies sich insbesondere deshalb als notwendig, weil die am Arzneimittelrecht fachlich beteiligten Kreise eine dem Zweck dienende Kontinuität der Gesetzgebung mit Recht erwarten können.
Ich bitte Sie, dem Entschließungsantrag des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit in Drucksache 10/2413 Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich wäre es die Aufgabe meines Kollegen Jaunich, hier zu stehen und seine Arbeit, die er im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu dem Bericht und der Ausschußempfehlung geleistet hat, darzustellen. Der Kollege Jaunich — das kommt vor — ist sehr krank und hat mich gebeten, für ihn einzuspringen.
Ich denke, ich spreche für alle Fraktionen, wenn ich ihm Genesungswünsche von diesem Platz aus ausrichte.
Sie werden verstehen, daß ich vor diesem Hintergrund jetzt nicht so tue, als hätte ich an den Ausschußberatungen teilgenommen. Dies wäre nun wirklich tollkühn. Ich habe als stellvertretendes Mitglied nur an einer Sitzung des Ausschusses beim Bundesgesundheitsamt teilnehmen können. Die Problematik ist mir dennoch, Herr Kollege Dr. Faltlhauser, nicht wenig vertraut, weil die Kollegin Augustin gerade einem Vater des Arzneimittelgesetzes von 1976 gedankt hat, der nämlich ich bin. Der andere ist Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, der mit mir zusammen den Unterausschuß für Arzneimittelrecht geleitet hat. Insofern fühle ich mich legitimiert, zu den anstehenden Problemen ein paar Worte zu sagen.
Frau Kollegin Augustin, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie ins Bewußtsein gerufen haben, daß der Versuch, den wir mit dem Arzneimittelgesetz 1976 unternommen haben, nach einer gewissen Zeit der Überprüfung bedarf. Das hat der Ausschuß nach meinem Eindruck auch sehr gewissenhaft getan. Ich glaube, daß sich das Thema der Arzneimittelsicherheit auch wenig zur parteilichen Profilierung eignet.
Wir sollten gemeinsam bemüht sein — so haben wir damals die Arbeit verstanden —, Arzneimittelsicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger bei dem Umgang mit dem risikoträchtigen Gut Arzneimittel sicherzustellen. Wenn dennoch in Nuancen unterschiedliche Vorstellungen über die einzuschlagenden Wege bestehen, dann hat das sicherlich auch damit zu tun, wie die Erfahrungen gewertet
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Egert
werden, die zu den einzelnen Punkten gemacht werden.
Ich will mich im wesentlichen darauf konzentrieren, die Änderungswünsche meiner Fraktion zu der Ausschußempfehlung zu interpretieren, und zwar deshalb, weil wir bei diesen Punkten — da nehme ich Ihr Angebot auf — den Bedarf an gemeinsamem Nachdenken nicht dadurch beschließen sollten, daß wir heute einen Auftrag an die Regierung geben. Wir werden ja Gelegenheit haben, bei der Diskussion einer noch vorzulegenden Novelle zum Arzneimittelgesetz das eine oder andere vertieft diskutieren zu können.
Welches sind nun die Punkte aus der Sicht meiner Fraktion, die über das hinaus, was der Ausschuß in seiner Gesamtheit festgestellt hat, klärungsbedürftig sind? Der eine gewichtige Punkt, der auch bei der Diskussion auf dem Apothekertag eine Rolle gespielt hat, ist der: Ist das wirklich tauglich, was uns eingefallen ist, um die Zahl der Ärztemuster einzuschränken? Wir sind überzeugt, daß unser Vorschlag weitergehend ist und in der Praxis effektiver sein wird als das, wozu sich der Ausschuß in Gänze verstehen konnte. Das ist ein Punkt, bei dem ich sage: Hier sollte man das, was ebenfalls auf dem Apothekertag kritisch an die Adresse der Fraktionen des Bundestages gesagt worden ist, aufgreifen und für die Novellierung aufnehmen, die das Bundesministerium vornehmen soll.
Ein zweiter Punkt, bei dem wir finden, daß — nach dem, was der Ausschuß gesagt hat — ein Nachholbedarf da ist, ist das Selbstbedienungsverbot. Sie haben das angesprochen. Wir als Fraktion gehen davon aus, daß wir das Arzneimittelangebot dem Grundsatz nach nicht in Selbstbedienung vorhalten sollten. Dies hat auch damit zu tun, daß wir uns einen qualifiziert ausgebildeten Fachberuf leisten, der den Umgang mit Arzneimitteln steuern soll, während die Sachkunde, die bei Selbstbedienungsangeboten zwar vorrätig gehalten werden soll, für den Kunden oder die Kundin dann doch nicht greifbar ist. Von daher befürworten wir es vom Grundsatz her, die Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln durch ein Selbstbedienungsverbot zu erfassen, und wir sollten Ausnahmen nur in begründeten Fällen nach der sehr strengen Fassung des Arzneimittelbegriffs in unserem Arzneimittelgesetz zulassen. Auch hier richte ich den Wunsch und den Appell an die anderen Fraktionen des Bundestages, zu einer rigideren Formulierung hinsichtlich der Abgabe des Arzneimittels durch Selbstbedienung zu kommen.
Sie, Frau Kollegin Augustin, haben darauf hingewiesen, daß in der Öffentlichkeit eine Diskussion über Fragen der Arzneimittelsicherheit stattfindet. Ich glaube, wir haben inzwischen eine höhere Sensibilität im Umgang mit diesem risikoträchtigen Gut erreicht. Wir sollten diese nutzen und sie nicht zerstören, nach dem Motto, daß die Aufregung, die mit kritischen Beiträgen in Buchveröffentlichungen im etablierten Bereich verursacht wird, sozusagen einfach wegdiskutiert wird, sondern wir sollten dafür sorgen, daß wir im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu einem Umgang mit dem Gut Arzneimittel kommen, der sicherstellt, daß wir tatsächlich ein Optimum an Arzneimittelsicherheit anbieten, auf das unsere Bürgerinnen und Bürger Anspruch haben.
Ein dritter Punkt, von dem meine Fraktion meint, daß er über das, was der Ausschuß festgelegt hat, hinaus regelungsbedürftig sei, ist die klinische Prüfung und dort die Grauzone der erstmaligen klinischen Prüfung an Menschen. Ich glaube, daß es darüber eine ganze Menge an berechtigter Aufregung in der Öffentlichkeit gegeben hat. Hier brauchen wir Regelungen, die für Beteiligte und Betroffene in diesem Bereich befriedigend sind.
Ein weiterer Punkt aus dem Katalog der Prüfaufträge, die in unserem Änderungsantrag enthalten sind, ist unser Wunsch nach Einführung einer Melde- und Berichtspflicht für sogenannte Feldversuche. Warum „sogenannte" Feldversuche? Weil ich zunehmend den Eindruck gewinne, daß diese Feldversuche zu einer besonderen Marketing-Strategie werden. Ich halte das für eine problematische Entwicklung auf dem Arzneimittelmarkt, die wir aufgreifen und regeln sollten, weil wir nicht zulassen sollten, daß Arzneimitel zu einem Konsummittel werden. Wir können nicht auf der einen Seite verlangen, daß das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Aufklärungsmaßnahmen hinsichtlich des Tablettenmißbrauchs ergreifen, und gleichzeitig Konsumentenstrategien zulassen, die alle diese Bemühungen, die eh bescheiden genug sind, konterkarieren. Ich glaube, hier ist es angezeigt, im gemeinsamen Interesse zu Regelungen zu kommen. Sie sollten sich dem nicht verschließen und uns künftig auf diesem Weg folgen.
Noch eine Bemerkung zu der Frage, wie es nun weitergehen soll. Wir richten hier eine Aufforderung an die Regierung, und wir meinen, daß sie tatsächlich der Novellierungsnotwendigkeit unverzüglich Rechnung tragen sollte. Wir erwarten dabei, daß die Regierung auch für über den Ausschußbericht hinausgehende Empfehlungen offen ist. Wir gehen davon aus, daß wir dort in eine -Art Idealkonkurrenz eintreten. Wir werden gemeinsam mit den uns politisch nahestehenden Ländern Anfang des Jahres einen Novellierungsvorschlag für eine Gesetzesregelung vorstellen.
Wir haben hier keinen Autorenehrgeiz. Auch der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit darf auf Vorschläge, die er unterstützen will, zurückgreifen. Wenn wir auf diesem Feld zu einer gemeinsamen Übung kommen, ist dies im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger kein Schaden.
Ich will eine letzte Bemerkung zu einem Punkt machen, der mich ebenfalls sehr besorgt macht. Diesen Punkt werden wir im Rahmen der Novellierung auch ansprechen. Es geht dabei um die Kombinationspräparate oder, anders gesagt, die „Arzneimittelvielfalt". Wir haben in der Bundesrepublik rund 60 000 — je nachdem, wie man zählt — zugelassene Arzneimittelspezialitäten in verschiedenen Darreichungsformen. Ich frage mich, wie bei dieser
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Egert
Vielfalt die Arzneimittelsicherheit angesichts der Informationen, die der Arzt, die der Verbraucher hat, noch festgestellt werden soll. Auf diesem Hintergrund halte ich es für bedenklich — fast alle Pharmakologen, die man am Stammtisch oder in trauter Runde trifft, bestätigen einem dies —, daß in der Bundesrepublik Spielereien mit Kombinationspräparaten stattfinden. Dies muß eingegrenzt werden, insbesondere die Molekülspielereien, alles mit der Absicht, die Gewinne zu steigern. Der therapeutische Nutzen für die, die die Arzneimittel nutzen sollen, um eine Hilfe gegen ihre Krankheit zu bekommen, ist sekundär. Primär ist das Gewinninteresse. Ich glaube, auch vor diesem Hintergrund sollten wir uns überlegen, wie wir diesen Unfug abstellen können. Wir werden einen Vorschlag in unserer Gesetzesnovelle machen. Wir erhoffen uns Offenheit bei den anderen Fraktionen dieses Hauses.
Wenn wir das als ein gemeinsames Anliegen weiter betreiben, denke ich, daß das nur den Verbrauchern von Arzneimitteln helfen kann, ein sicheres Angebot von Arzneimitteln zu bekommen. Vielleicht wird damit aber auch die Chance eröffnet, ein preisgünstiges Angebot zu bekommen.
Die SPD-Fraktion hat heute auch dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie meint, daß man damit den Pharmamarkt in den Griff bekommen kann. Auch da meine ich, daß der andere Minister, der heute nicht gefragt ist, unsere Autorenschaft nutzen darf, um selber zu Vorschlägen zu kommen und sein Schweigen zu unseren Appellen zu brechen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
Das Wort hat Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht heute nicht um Arzneimittelkosten, es geht auch nicht um eine Bereinigung des Arzneimittelmarktes — Herr Egert, ich erwähne Sie auch gar nicht, sondern sage das ganz allgemein, auch auf dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion —, sondern es geht um eine Verbesserung der Arzneimittelsicherheit.
In dem Bericht, den wir heute dem Bundesminister zur Vorlage einer Novelle des Arzneimittelgesetzes überweisen wollen, werden elf Bereiche angesprochen. Für uns sind sechs Bereiche ganz besonders wichtig. Deshalb möchte ich sie auch kurz erläutern.
Erstens. Wir wollen, daß der Weg einer besseren Transparenz des Arzneimittelmarktes weiter beschritten wird, daß er zügig weiter beschritten wird und daß damit gleichzeitig auch eine Qualifikation der Arzneimittel verbunden ist.
Zweitens. Wir möchten, daß die Nachzulassung der Arzneimittel, die sich schon sehr lange auf dem Markt befinden, zügig vorangebracht wird, weil eine solche zügige Nachzulassung zusammen mit der Verbesserung der Transparenz andere Eingriffe in den Arzneimittelmarkt überflüssig macht. Dieser
Weg, den wir beschreiten wollen, wird der angemessene Weg zu einer vernünftigen Arzneimittelsicherheit unter Beachtung der Therapiefreiheit, aber auch der Pluralität der Arzneimittel sein.
Drittens. Wir ziehen die Konsequenz aus den Vorgängen, die sich um den Rückruf aristolochiahaltiger Arzneimittelpräparate ergeben haben. Die Reaktion des Bundesgesundheitsamtes ist von vielen Gruppen als unangemessen beurteilt worden. Es ist besonders kritisiert worden, daß vor dem Rückruf die Kommission, die für die Zulassung neuer Arzneimittel zuständig ist, nicht befragt wurde. Wir möchten, daß das als ein neues Element in das Arzneimittelgesetz aufgenommen wird, weil die Experten, die Sachverständigen, die wir bei der Zulassung befragen, doch sicherlich auch den Sachverstand haben, das mögliche Risiko eines Arzneimittels zu beurteilen, bevor dann eine so tiefgreifende Entscheidung getroffen wird, wie es der Rückruf eines Arzneimittels darstellt.
Das ist besonders wichtig im gesamten Bereich der Naturheilmittel oder auch Phytopharmaka.
Viertens. In dem Beschlußentwurf wird wiederholt, was wir auch schon im Beschluß des Bundestages zur EG-Richtlinie für die gegenseitige Anerkennung der Zulassung bekräftigt haben. Wir wollen, daß auch bei den Kombinationspräparaten die klar definierten Erfordernisse der Zulassung, so wie sie jetzt im Arzneimittelgesetz beschrieben sind, bestehenbleiben. Wir sehen keinerlei Notwendigkeit, die Zulassungsversagungsgründe über das hinaus zu erweitern, was heute schon im Arzneimittelgesetz steht. Gerade das ist besonders wichtig für einen Arzneimittelmarkt wie den unseren, der nämlich in sehr viel größerem Umfange Naturheilmittel beinhaltet, als das in anderen Ländern der Fall ist. Deshalb werden wir auch die Erwartungen, die aus anderen EG-Ländern immer wieder an uns gerichtet werden, in diesem Punkt ablehnen.
Fünftens. Wir wollen, daß die Arzneimittelmusterabgabe beim Arzt in der Zukunft über das Maß hinaus eingeschränkt wird, in dem es heute der Fall ist. Hier muß ich ganz klar sagen: Wenn die Formulierung so, wie wir sie im Ausschußbericht gewählt haben, dazu Anlaß gibt, daß nicht eine Einschränkung der Arzneimittelmuster, sondern eventuell sogar eine Ausweitung darunter verstanden werden könnte, dann ist diese Formulierung nicht gut, und dann muß sie geändert werden.
Deshalb müssen wir im Gesetzgebungsverfahren prüfen, wie sich das verhält. Wir wollen auf jeden Fall von dieser Stelle bekräftigen, daß uns daran gelegen ist, tatsächlich eine Einschränkung der Abgabe von Arzneimittelmustern über das hinaus zu erreichen, was nach der freiwilligen Vereinbarung des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie heute üblich ist.
Sechstens. Zur Selbstbedienung mit Arzneimitteln möchten wir ganz nachdrücklich bekräftigen, daß wir es nicht für gut halten, wenn eine aus-
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Frau Dr. Adam-Schwaetzer
ufernde Selbstbedienung mit Arzneimitteln Platz greifen würde. Wir sind aber überzeugt, daß das Ziel der Verhinderung einer Ausuferung mit den Mitteln des geltenden Arzneimittelgesetzes erreicht werden kann. Die Nutzen-Risiko-Abschätzung für Arzneimittel — das ist die Voraussetzung für die Entscheidung, ob ein Arzneimittel in der Freiverkäuflichkeit und damit in der Selbstbedienung verbleiben kann — kann nur für ein einzelnes Arzneimittel durchgeführt werden. Sie kann nicht für ganze Arzneimittelgruppen unterschiedlicher Zusammensetzung mit unterschiedlichen Inhaltsstoffen durchgeführt werden, und sie kann nicht für bestimmte Vertriebsformen, wie die Selbstbedienung, gemacht werden. Deshalb wollen wir, daß der gesamte Bereich der Arzneimittel einer kritischen Überprüfung unterzogen wird, und zwar auf das einzelne Arzneimittel abgestellt. Ich denke, daß dieser Weg die Interessen der Patienten sehr gut berücksichtigt. Ich denke aber auch, daß dieser Weg die Interessen aller anderen am Arzneimittelmarkt Beteiligten ebenfalls ausreichend berücksichtigt. Eine Gesetzesänderung verlangt immer Augenmaß und das Abwägen zwischen unterschiedlichen Interessen. Ich denke, mit den Dingen, die wir dem Gesundheitsminister aufgegeben haben, werden wir dem Ziel einer Verbesserung der Arzneimittelsicherheit gerecht.
Ich würde mich freuen, wenn es uns gelingen würde, diese Novelle, die keine völlige Neuformulierung des Arzneimittelgesetzes werden soll, in diesem Hause einvernehmlich zu verabschieden, wie es 1976 bei der Verabschiedung des jetzt geltenden Arzneimittelgesetzes zu einer großen Übereinstimmung zwischen allen Fraktionen des Hauses gekommen ist. Ich denke, das würde bekräftigen, daß wir das Ziel der Arzneimittelsicherheit konsequent und mit Augenmaß weiter verfolgen.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hickel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Adam-Schwaetzer, bis ich Ihnen da zustimmen kann, müßte sich in der Beschlußempfehlung noch sehr vieles drastisch ändern, denke ich.
Die GRÜNEN sind u. a. auch aus dem Grunde hier in Bonn aufgekreuzt, weil sich unser Gesundheitswesen seit Mitte/Ende der 70er Jahre zunehmend zu einem Krankheitswesen verändert hat. Es ist j a nicht so, wie Sie heute morgen gesagt haben, Frau Augustin, daß der Gesundheitszustand in unserer Bevölkerung kontinuierlich besser wird. Wenn Sie sich die Statistiken über Krankheits- und Todesfälle einmal ansehen, so können Sie in fast allen Bereichen sehen, daß Mitte/Ende der 70er Jahre in den Aufwärtskurven überall ein Knick nach unten, zum Schlechteren eingetreten ist,
und daraus müßten wir nun doch Konsequenzen ziehen.
Wenn z. B. in manchen Kliniken heutzutage bis zu einem Drittel der Patienten auf Grund jatrogener Erkrankungen liegen, d. h. als Folge der sogenannten Therapien, die sie genossen haben, oder wenn bei uns etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung ständig unter Psychopharmaka-Einfluß, unter seelenverändernden Mitteln, steht, dann heißt das meines Erachtens, daß auch an unserer Arzneimittelversorgung etwas falsch ist und unser Arzneimittelmarkt nicht mehr in erster Linie der Gesundheit dient.
Wer nun geglaubt hat, daß der zuständige Ausschuß in seiner Beschlußempfehlung zum Arzneimittelgesetz, die uns heute vorliegt, wenigstens den Versuch macht, die vorhandenen Fehlentwicklungen zu korrigieren, der sieht sich leider getäuscht. Die mickrigen Vorschläge in dieser Beschlußempfehlung nützen wirklich nicht viel; allerdings schaden sie auch nicht. Besser sind da schon die zusätzlichen Anträge der SPD, die, wie ich denke, in eine richtige Richtung gehen.
Ganz empörend finde ich — ich finde es schade, daß es hier nicht angesprochen worden ist —, daß mit 10 gegen 9 Stimmen abgelehnt wurde, sich mit der Frage zu befassen, ob wir es weiterhin zulassen sollen, daß Arzneimittel von hier in die Dritte Welt exportiert werden, die hier gar nicht erlaubt sind. Damit hätte man sich befassen müssen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jaunich?
Bitte schön. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, welche über das mickrige Ergebnis hinausgehenden Vorschläge von Ihrer Fraktion gekommen sind?
Die kommen jetzt gleich. Im Frühjahr 1985 werden wir Anträge zum Arzneimittelgesetz vorlegen, auf die Sie hoffentlich schon sehr gespannt sind.
Wir sind schwer am Arbeiten.
Natürlich kann man mit einem Arzneimittelgesetz nicht allen Mißständen, die es auf dem Arzneimittelmarkt gibt, an die Wurzel gehen. Aber etwas
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Frau Dr. Hickel
mehr, als Frau Adam-Schwaetzer sagte, könnte man tun.
Wenn z. B. kleine Kinder heute massenweise mit Cortison vollgestopft werden, weil durch die miserable Luft bei Ihnen schlimmste Atembeschwerden auftreten, die man anders nicht glaubt therapieren zu können, oder wenn die kleinen Kinder große Mengen an Psychopharmaka bekommen, weil sie in einer extrem kinderfeindlichen Umgebung nicht zurechtkommen, dann kann man diese wie viele andere Ursachen des übermäßigen Arzneimittelkonsums sicher nicht mit einem Arzneimittelgesetz bekämpfen. Das ist wahr. Auch die meines Erachtens bitter notwendige bessere Aufklärung über Arzneimittel, zu der besonders die Apotheker aufgerufen sind, kann nicht hier, sondern muß in einer grundlegenden Änderung der Ausbildungsordnung und der Berufsordnung der Apotheker bewerkstelligt werden.
Hier wird aber nicht einmal der Versuch gemacht, wenigstens die Maßnahmen zu ergreifen, die durchaus Sache eines Arzneimittelgesetzes wären.
Unser Arzneimittelmarkt ist durch exzessiven Überkonsum und unbedachten Fehlkonsum von Arzneimitteln gekennzeichnet. Formaldehydhaltige Lutschtabletten, die immer noch auf dem Markt sind, wie ich höre, sind nur ein Beispiel dafür. Die Unbezahlbarkeit unserer Arzneimittelversorgung durch die Krankenkassen ist eine andere Folge dieses Über- und Fehlkonsums. Dieser Mißstand ist in der unübersehbaren und auch für Fachleute nicht mehr zu überschauenden Flut der etwa 60 000 oder, je nach Zählweise, 100 000 verschiedenen Industriepräparate begründet, die eingedämmt werden muß; das, so denke ich allerdings, wäre wichtig. Die allermeisten Präparate werden nur deshalb vermarktet, weil noch eine weitere Firma an dem großen Kuchen des Profits, den die Krankenkassen bisher weitgehend unbesehen bezahlen, auf einem bestimmten Therapiegebiet teilhaben will. Ein vernünftig geregelter therapiegerechter und den medizinischen Wissenschaften wirklich folgender und nicht sie pervertierender Arzneimittelmarkt müßte daher vor allem — das ist eine zentrale Forderung der GRÜNEN — nach dem Bedürfnis für jedes zuzulassende Arzneimittel fragen. Das wäre der Nachweis des therapeutischen Forschritts, den Sie nicht wollen — ich weiß es —,
gegenüber dem, was auf dem Markt ist. Zumindest wäre das eine Bedürfnisprüfung etwa in der Art, wie sie in Norwegen bereits praktiziert wird. Das vermisse ich ganz entschieden in der vorliegenden Beschlußempfehlung.
— Das halte ich für Ideologie.
Bei der Einschränkung der Arzneimittelflut ist vor allem sicherzustellen, daß auch die milderen
Arzneimittel — wir denken, daß bei uns viel zuviel starkwirkende Arzneimittel verbraucht werden — und die Arzneien der alternativen Therapierichtungen, die nicht der Schulmedizin angehören, in gleichberechtigter Weise verwendet werden können. Die Arzneimittelkommissionen beim Gesundheitsamt, die für die alternativen Therapierichtungen zuständig sind, sind daher nach unserer Ansicht in gleicher Weise auszustatten wie die der Schulmedizin, was j a bisher nicht der Fall ist. Sie sind auch nicht nur bei der Bedürfnisprüfung, die wir verlangen, sondern auch bei Nachzulassungen und vor allen Dingen bei Rücknahmen vom Markt in gleicher Weise zu hören wie die schulmedizinischen Kommissionen.
Um den verbreiteten Fehlkonsum der Arzneimittel zu bekämpfen, müßte die Verwendung mild wirkender Arzneimittel gefördert werden. Dazu gehört ein außerordentlich verantwortungsvoller Umgang mit solchen Arzneimitteln, die nicht der Rezeptpflicht unterliegen, und auch solchen, die zur Zeit nicht einmal der Apothekenpflicht unterliegen. Das absolute Verbot der Selbstbedienung bei Arzneimitteln, wo die SPD bereits in die richtige Richtung argumentiert, ist meines Erachtens eine gesundheitspolitische und ökologische Selbstverständlichkeit.
Wir wissen, wer das große Interesse an der Selbstbedienung mit Arzneimitteln hat. Es sind in erster Linie die großen Kaufhausketten mit ihren Drogeriewarenabteilungen, die natürlich wollen, daß man sich massenweise Großpackungen mit Arzneimitteln aus dem Regal nimmt. Solange eine solche Kaufhauskette hergehen kann und 6 Millionen DM investiert zur Subventionierung einer Partei, die sich grundsätzlich immer für die Selbstbedienung bei Arzneimitteln eingesetzt hat, so lange muß uns klar sein, daß es bei dieser Forderung nicht in erster Linie um eine gesundheitspolitische Forderung geht.
— So sehe ich aber den Zusammenhang sehr deutlich.
— Das geht alles sehr indirekt, diese Einflußnahme.
Zum vernünftigen und wohlüberlegten Umgang mit Arzneien gehört es in unseren Augen ferner, die Beobachtungen der Arzneimittelwirkungen in der Vermarktungsphase völlig neu zu organisieren. Es geht doch wohl nicht an, daß, wie es heute der Fall ist, praktisch nur die herstellende Industrie die volle Übersicht über alle ungewollten Wirkungen ihrer Präparate hat, keineswegs aber die Wissenschaft, die Öffentlichkeit und die Kontrollbehörden. Auch da macht die SPD Vorschläge in die richtige Richtung. Klinische sogenannte Erprobung findet eben doch heute allzu oft als Marketing-Strategie statt. Ganz besonders muß ich, was die Marktbeob-
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Frau Dr. Hickel
achtungsphase angeht, monieren, daß die Regierung bis heute keinerlei Anstrengungen gemacht hat, die von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschriebene Marktbeobachtung bezüglich des Konsums an Psychopharmaka durchzusetzen.
Wir sind ferner der Auffassung, daß auch neue Impulse für die Arzneimittelforschung gegeben werden müssen. Wir werden Vorschläge dazu einbringen. Es geht heute nicht mehr so sehr darum, neue Arzneimittel zu finden, sondern darum, die vorhandenen besser anwenden zu lernen und die Forschung in dieser Richtung zu orientieren. Dann kommt man auch ohne Tierversuche aus.
Wir werden die entsprechenden Vorschläge in Form von Anträgen Anfang nächsten Jahres für die GRÜNEN vorlegen, wenn das neue Arzneimittelgesetz beraten wird.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe zuerst den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2610 auf. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Das zweite war die Mehrheit. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit auf Drucksache 10/2413 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer größeren Zahl von Enthaltungen mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung
— Drucksache 10/1963 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
— Drucksache 10/2586 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Delorme
Dr. Becker
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jaunich, Frau Fuchs , Egert, Lutz, Glombig, Hauck, Kirschner, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährleistung der Weiterbildung der Hausärzte in der kassenärztlichen Versorgung (HausärzteWeiterbildungsgesetz)
— Drucksache 10/1755 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/2604 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Faltlhauser Egert
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Hoss
Meine Damen und Herren, interfraktionell sind eine gemeinsame Beratung der Zusatzpunkte 3 und 4 zur Tagesordnung und eine Aussprache von 60 Minuten vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Dies ist nicht der Fall.
Dann erteile ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Becker das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das heute zur Schlußberatung anstehende Vierte Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung soll einen Notstand verhindern, der in den nächsten Jahren eintreten wird. Durch die übermäßig angestiegene Zahl der Medizinstudenten, die sich innerhalb weniger Jahre verdoppelte, ist die praktische Ausbildung in der klinischen Studienphase nicht mehr gewährleistet. Dies wird allseits anerkannt. Die Zahl der für die Lehre geeigneten Patienten in Universitätskliniken und Lehrkrankenhäusern ist zu klein. Der angehende Jungarzt kann sein gutes theoretisches Wissen nicht mehr in dem Studium praktisch bei Untersuchungen und Anwendungen am Patienten einüben oder umsetzen.
Bei der Anhörung der Betroffenen zu diesem Gesetz haben die Studenten diese Schwierigkeit treffend gekennzeichnet, als sie sagten: Heute gibt es schon klinische Praktika, die im Hörsaal verlaufen. Man kann sozusagen mit dem Fernglas aus der zehnten Reihe eines Hörsaales versuchen, die Narbe einer Gallenoperation noch zu erkennen. — Es kann daher nicht mehr verantwortet werden, einen nur mangelhaft ausgebildeten Jungmediziner als selbständig tätigen Arzt direkt nach dem Studium zur Behandlung der kranken Menschen zuzulassen. Daher ist der Gesetzgeber zum Handeln gezwungen.
Bei jährlich über 12 000 Studienanfängern in der Medizin ist während des Studiums eine praxisbezogene Ausbildung nicht mehr möglich. Man kann zwar theoretischen Unterricht im Schichtdienst erteilen, aber keinesfalls den Patienten im Schichtdienst mehrmals am Tage zur Einübung medizinischer Fertigkeiten belasten. Eine Ausweitung der klinischen Bereiche der medizinischen Hochschulen angesichts des schon bestehenden Kettenberges ist auch nicht möglich. Daher bleibt nur ein Weg übrig, eine Praxisphase von eineinhalb bis zwei Jahren im Anschluß an das theoretische Studium anzufügen. Dadurch kann der Jungarzt we-
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Dr. Becker
nigstens im notwendigsten Maße sein theoretisches Wissen in der Praxis umsetzen, so daß er anschließend als selbständig tätiger Arzt in Klinik und Praxis verantwortlich wirken kann.
Gewiß ist auch diese Lösung nicht ideal, da der Ausbildungsgang verlängert wird. Andererseits muß man wissen, daß die Ärzte bisher vor ihrer Niederlassung fünf bis sieben Jahre in der Klinik zubrachten. Diese vor allem aus der Sicht der Patienten notwendige Lösung ist von den meisten in der Praxis stehenden Fachleuten akzeptiert worden. Einige forderten dagegen für die Niederlassung insgesamt eine komplette Weiterbildung. Diese Forderung ist auch in dem Gesetzentwurf der Opposition enthalten, würde aber für die Studenten ein schlechteres Ergebnis bringen.
Abgesehen von erheblichen rechtlichen Einwendungen bei dem Gesetzentwurf der SPD ist die Zahl der jährlich freiwerdenden Assistentenstellen im Krankenhaus viel zu gering, um allen Absolventen — nicht nur denen, die einmal in die Praxis wollen, sondern auch denen, die in der Klinik eine Spezialistenweiterbildung anstreben — einen Platz zu gewährleisten.
Wir haben in unseren Krankenhäusern 45 000 Assistentenstellen. Bereits in den letzten Jahren war hier kein Stellenzuwachs mehr zu verzeichnen, und auch in Zukunft ist kaum damit zu rechnen. Von den 45 000 Assistentenstellen werden jährlich 4 000 bis 5 000 frei, entweder durch Aufstieg in Lebensstellungen als Chefarzt oder Oberarzt oder durch Niederlassung in freier Praxis. Bei 12 000 Absolventen des Medizinstudiums in jedem Jahr würden dann bei einer Pflichtweiterbildung ca. 6 000 bis 7 000 Jungmediziner keine Stelle finden. Sie wären gezwungen, berufsfremd zu arbeiten und jahrelang auf Wartestand zu gehen, wobei erfahrungsgemäß das theoretische Wissen sehr rasch versandet. Eine Niederlassung ohne genügend qualifizierte Ausbildung und ohne Kassenzulassung wäre für den Jungarzt existenzbedrohend, für den Patienten aber unter Umständen lebensgefährlich. Dabei muß man wissen, daß schon heute als Voraussetzung der Kassenzulassung eine eineinhalbjährige Vorbereitungszeit nach dem Studium erforderlich ist, die nach 1988 aus EG-rechtlichen Gründen wegfallen wird.
Der nachteiligen Alternative einer Pflichtweiterbildung gegenüber kann bei dem Arzt-im-Praktikum-Modell durch das Aufteilen von 4 000 bis 5 000 Assistentenstellen die doppelte bis dreifache Zahl an Plätzen für eine notwendige praxisbezogene Ausbildung gewonnen werden. Eine Garantie für diese Stellen kann es nicht geben. Die gab es auch früher nicht, als in der Medizinalpraktikantenzeit und später in der Pflichtassistentenzeit ähnliche Praxisphasen eingerichtet waren. Die für die Weiterbildung zuständigen Bundesländer haben sich einverstanden erklärt, daß diese Praxisphase grob strukturiert werden soll, in konservative und operative Fachzeiten sowie in Zeiten im öffentlichen Gesundheitsdienst, in der Bundeswehr oder in ähnlichen Einrichtungen. Dadurch können solche Zeiten auf die Weiterbildung anrechenbar gemacht werden. Die Weiterbildungszeit würde dann nicht unnötig verlängert.
Es ist möglich, daß der eine oder andere Student nicht sofort nach seinem Examen eine Arzt-imPraktikum-Stelle erhält. Aber schon jetzt sind Wartezeiten auf eine Assistentenstelle von einem halben Jahr bis zu einem Dreiviertelj ahr gang und gäbe. Und diese werden sich in den nächsten Jahren sehr rasch verlängern. Bereits heute sind über 4 000 Jungmediziner arbeitslos gemeldet. Eine kürzere Wartezeit auf eine Arzt-im-Praktikum-Stelle ist nicht auszuschließen und wird als zumutbar angesehen. Sie wird jedenfalls erheblich geringer sein, als dies für die Mehrzahl der Studienabgänger bei dem Gesetzesmodell der SPD eintreten würde. Das Hausärzte-Weiterbildungsgesetz würde nämlich am Ende eines sechsjährigen Studiums auf Jahre hinaus einen ganz engen Flaschenhals mit jahrelanger Wartezeit schaffen, mit massiven Nachteilen für diese jungen Menschen. Auch die knappe Bezahlung mit einem Gehalt, das etwa dem eines Studienreferendars entsprechen wird, wird allgemein als zumutbar angesehen.
Die Praxisphase wird erst 1987 anlaufen. Wir haben in den Ausschußberatungen die Übergangszeit von Ende 1988 bis auf Dezember 1991 für eine Arztim-Praktikum-Zeit auf eineinhalb Jahre verlängert. Dadurch werden für diesen Zeitraum nur 18 000 Stellen benötigt. Hier mußten wir Konzessionen machen, damit eine Wartezeit nicht zu lang ausgedehnt würde.
Wir sind überzeugt, meine Damen und Herren, daß nach dem Inkrafttreten des Gesetzes die Krankenhäuser und auch die niedergelassenen Ärzte recht bald die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um diese Stellen zum vorgesehenen Zeitpunkt, 1987, zu schaffen. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben bereits in der vergangenen Woche im Krankenhausneuordnungsgesetz entsprechende Vorschriften und Möglichkeiten für die Einrichtung solcher Stellen in den Krankenhäusern eingebaut. Es gibt darüber hinaus auch schon Untersuchungen aus zwei Bundesländern, daß die Zahl der Stellen realisierbar sein wird. Der Arzt im Praktikum ist jetzt mehr als Notlösung für Patienten und Studenten zu sehen. Weitere Reformen der Arztausbildung müssen folgen. Die Gesellschaft muß sich zudem überlegen, ob sie Jahr für Jahr die doppelte Anzahl der benötigten Ärzte ausbilden will, dies mit einem Kostenaufwand von jährlich über dreiviertel Milliarden DM. 90 % unserer Bevölkerung sind in der gesetzlichen Krankenversicherung versorgt. Der von den Krankenkassen zu verteilende Kuchen wird annähernd gleich bleiben. Die Kuchenstücke werden aber in Zukunft erheblich kleiner werden. Die drängenden Probleme in der Alterssicherung unserer Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten lassen nur geringen Spielraum für einen Kostenzuwachs im Gesundheitssektor übrig.
Dies sollten alle wissen, auch die, die heute im Medizinstudium stehen, oder die, die damit demnächst beginnen wollen, aber auch jene zum Handeln zwingen, die die Weiterentwicklung bei der
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Dr. Becker
Arztausbildung zu verantworten haben. Nicht die Übermenge der Ärzte ist für eine gute Gesundheitsversorgung der Bevölkerung entscheidend, vielmehr die Qualität des Arztes selber.
Der besseren Qualität in der Ausbildung kann die Einführung eines Krankenpflegedienstes zu Beginn des Studiums dienen, aber auch Verbesserungen im Studium selber, bei dem eine Überfrachtung mit zuviel Spezialwissen durch einen mehr praxisbezogenen Unterricht ausgetauscht werden sollte. Wenn dies gelingt, kann man sich darüber hinaus überlegen, ob zur Reduzierung der Studienzeit bei einer besseren praxisbezogenen klinischen Studienphase auf das praktische Jahr verzichtet werden kann.
Hier sind besonders die Kultusminister und die Gesundheitsminister von Bund und Ländern gefordert, bald zu handeln.
Aber auch die Kapazitätsverordnung, die die Studentenzahlen festlegt, ist stärker auf den Praxisbezug der Ausbildung abzustellen. Das heißt, die für die Lehre zur Verfügung stehende begrenzte Anzahl von Patientenbetten ist mehr als bisher zu berücksichtigen. Dabei ist auch die Notwendigkeit der Forschung im universitären Bereich wieder stärker einzubeziehen, als dies bisher durch die quantitaive Überbetonung der Lehre geschehen ist.
Die Bundesregierung läßt derzeit diese Fragen der Kapazitätsverordnung überprüfen. Sehr bald sollte nach den Beratungen mit allen Beteiligten die fünfte Änderung der Approbationsordnung für Ärzte verabschiedet werden.
Aber auch der Bundesarbeitsminister muß sich Gedanken machen, daß die drohende Ärzteschwemme nicht durch das damit verbundene Mengenproblem des Angebots von ärztlichen Leistungen zu einer Überbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung führt
und damit bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern Erhöhungen der Beiträge zur Krankenversicherung und damit der Lohnnebenkosten auslöst, die überhaupt nicht in die derzeitige arbeitsmarktpolitische Landschaft passen.
Die CDU/CSU-Bundestragsfraktion wird dieser Gesetzesnovelle zur Bundesärzteordnung zustimmen, weil sie sowohl für die Patienten als auch für die Studenten der einzig gangbare Weg ist, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD jedoch ablehnen.
Besten Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Delorme.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Herrn Kollegen Dr. Becker zuzustimmen, daß die Medizinerausbildung vor allem in ihrem praktischen Teil verbessert werden muß. Durch die großen Studentenzahlen, die sich nach den Hörsaalkapazitäten richten und im Klinikbereich ständig zu Engpässen führen, hat sich die patientenorientierte Ausbildung merklich verschlechtert. Da auch in Zukunft jährlich mit etwa 12 000 Studienanfängern gerechnet werden muß, ist eine Reform der Ausbildung dringend erforderlich. Dem Bundestag liegen hierfür zwei Gesetzentwürfe vor.
Die SPD-Fraktion hat ein Hausärzte-Weiterbildungsgesetz eingebracht, das im Kern vorsieht, daß alle Ärzte, die in Zukunft die Niederlassung anstreben und die Zulassung als Kassenarzt erwerben wollen, vor ihrer Zulassung eine Weiterbildung entsprechend den Weiterbildungsanforderungen der Bundesländer absolvieren müssen. In seiner Zielsetzung deckt sich der SPD-Entwurf mit ähnlichen Absichten des Europarates und der EG-Kommission, die ebenfalls eine Weiterbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin fordern.
Unser Entwurf hat in der Fachöffentlichkeit Kritik, aber auch viel Zustimmung gefunden. So heißt es beispielsweise in einer Stellungnahme des Bundesverbandes der Praktischen Ärzte — ich zitiere wörtlich —:
Als zutreffend bewertet der BPA die Entscheidung der SPD-Fraktion, mit ihrem Gesetzentwurf an der Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit anzusetzen. Der Kassenärzteschaft obliegt die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Der Gesetzgeber hat zu gewährleisten, daß die Kassenärzteschaft diesem Sicherstellungsauftrag nachkommen kann. Unter diesen Voraussetzungen erscheint es zulässig, die Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit von einer beruflichen Qualifikation des Arztes abhängig zu machen, die über die Approbation hinausgeht.
Ich glaube, mit dieser Aussage wird auch der Einwand, hier würden verfassungsmäßige Bedenken bestehen und es ginge um eine Art Berufsverbot, hinfällig.
Der Einwand, die für die Weiterbildung notwendigen Stellen würden nicht zur Verfügung stehen, ist ebenfalls nicht stichhaltig, denn woher wollen Sie dann, wenn nachher die „Ärzte im Praktikum" auf den Markt drängen, die Weiterbildungsstellen bekommen?
Der gleiche Verband hat in einer minutiösen Berechnung festgestellt, daß durchaus Weiterbildungsstellen zusätzlich geschaffen werden können, beispielsweise nach dem sogenannten Hessen-Modell. Übrigens hat auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung eine gewisse Sympathie für den SPD-Entwurf bekundet.
Leider hat die Koalitionsmehrheit in den zuständigen Ausschüssen unseren Gesetzentwurf abgelehnt. Union und FDP setzen auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung der Bundesärz-
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Delorme
teordnung. Kernstück dieser Vorlage ist die Einführung einer zweijährigen Praxisphase, die nach einem sechsjährigen Medizinstudium abzuleisten ist.
Dieser Vorschlag hat nicht nur bei den betroffenen Studenten, sondern auch bei Ärzteverbänden, bei der Westdeutschen Rektorenkonferenz, beim Medizinischen Fakultätentag, bei Kassenverbänden und bei Vertretern des Wissenschaftsrates herbe Kritik gefunden.
Auch wir sehen in dem Vorschlag aus dem Hause Geißler keinen brauchbaren Lösungsansatz und werden deshalb den vorliegenden Regierungsentwurf ablehnen.
Dabei befinden wir uns in sehr guter Gesellschaft.
Bei einer öffentlichen Anhörung am 17. Oktober wurde der Regierungsentwurf überwiegend mit Ablehnung und Skepsis beurteilt. Besonders die Regelung „Arzt im Praktikum" wurde von einer großen Mehrheit der Sachverständigen als unzweckmäßig und unrealisierbar bezeichnet. Einen besonderen Mangel sah man im Fehlen der Gewißheit, daß die 24 000 benötigten Ausbildungsplätze auch tatsächlich zur Verfügung gestellt werden können. Die Krankenhausgesellschaft und einige Verbände bekundeten zwar ihre gute Absicht, mußten aber erklären, daß sie keine Garantie für die Bereitstellung der notwendigen Ausbildungsplätze geben können.
Selbst die Gesetzesmacher bezweifeln mittlerweile, ob genügend Plätze mobilisiert werden können. Sie wollen deshalb für eine Übergangszeit die Praktikumsphase auf 18 Monate begrenzen. Damit wird der Mangel an Ausbildungsplätzen aber nur kaschiert.
Es ist unseres Erachtens unverantwortlich, den Medizinstudenten nach einem sechsjährigen Studium und nach bestandenem Examen die Approbation zu verweigern und sie als „Halb- oder Dreiviertelärzte" auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz zu schicken. Daß dabei Wartezeiten von einem Jahr und mehr in Kauf genommen werden müssen, hat Minister Geißler im Ausschuß zugegeben. Es wird wohl sein Geheimnis bleiben, wie bei einer solchen Zwangspause eine bessere Verzahnung von theroretischer und praktischer Ausbildung, wie sie ja angeblich durch den Gesetzentwurf der Regierung angstrebt wird, erreicht werden kann.
Gerade das Gegenteil wird der Fall sein!
Nun hat der Minister, um das Defizit an Ausbildungsplätzen zu verringern, einen genialen Vorschlag gemacht. Er regt an, daß freiwerdende Arztstellen in Krankenhäusern — bis 1988 sollen das 5 000 Stellen sein — dergestalt gestückelt werden, daß auf einer Planstelle drei „Ärzte im Praktikum" beschäftigt werden; das sei im übrigen auch kostenneutral. Meine Damen und Herren, Kostenneutralität ist ja quasi eine Zauberformel dieser Bundesregierung und ihrer Koalitiom.
Offenbar sind die windigsten Experimente erlaubt, wenn sie nur kostenneutral sind.
Aber, meine Damen und Herren, im vorliegenden Fall trifft selbst dies nicht zu. Bei einer von der Bundesregierung für möglich gehaltenen Dreiteilung von 5000 Assistenzarztstellen würden den Krankenhäusern durch Lohnnebenkosten wie Sozialabgaben und Versicherungsbeiträge und durch Raumkosten erhebliche Mehrbelastungen entstehen. Das Land Schleswig-Holstein kommt bei einer entsprechenden Berechnung auf Mehrausgaben von 40 Millionen DM allein für den „Arzt im Praktikum".
Die Krankenkassen haben bereits deutlich gemacht, daß sie nicht bereit sind, diese Mehrausgaben über höhere Pflegesätze zu finanzieren, weil es nicht Aufgabe der Kassen sein könne, Ausbildungskosten zu übernehmen.
Erhebliche Bedenken hat auch die Westdeutsche Rektorenkonferenz angemeldet. Sie befürchtet, daß durch die Praxisphase — ich zitiere —
die Universitätsausbildung noch schlechter wird und die Forschungsmöglichkeiten nochmals stark eingeschränkt werden. Denn die Umwandlung von Assistenzarztstellen in Praktikumsstellen führt dazu, daß der Anteil der in Forschung und Lehre erfahrenen Assistenten an den Universitätskliniken und akademischen Lehrkrankenhäusern abnimmt.
Es ist offensichtlich — so Originalton Rektorenkonferenz —, daß mit verringertem, weniger erfahrenem wissenschaftlichen Personal weder die Qualität der Ausbildung noch das Niveau der Forschung, aber auch nicht der Standard der Krankenversorgung gehalten werden können.
Die Rektorenkonferenz weist weiter darauf hin, daß mit der geplanten Neuregelung ein Teil der Ausbildung aus der Verantwortung der Fakultäten ausgegliedert wird.
Vor einer solchen Ausgliederung müsse nachdrücklich gewarnt werden. In der Stellungnahme wird
auch die fehlende Garantie für die Bereitstellung
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8357
Delorme
der notwendigen Ausbildungsplätze bemängelt. Abschließend und im Ergebnis heißt es dann:
Wegen der vorstehend genannten Bedenken ersucht die Westdeutsche Rektorenkonferenz in Übereinstimmung mit dem Medizinischen Fakultätentag die gesetzgebenden Körperschaften, den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung nicht weiter zu verfolgen.
Bei der zurückhaltenden Sprache, deren sich die Westdeutsche Rektorenkonferenz üblicherweise bedient, ist dies ein vernichtendes Urteil über den Regierungsentwurf.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam der Vertreter des Wissenschaftsrates, der bei der Oktober-Anhörung wörtlich erklärte: „Uns erfüllt die Regelung ,Arzt im Praktikum' mit großer Sorge."
In diesem Zusammenhang darf ich noch einmal aus der Stellungnahme des Bundesverbandes der Praktischen Ärzte zitieren. Ich tue das deswegen, weil ich möglichst viel Sachverstand in die Debatte mit einbringen möchte:
Die zweijährige Praxisphase für den ,Arzt im Praktikum` begegnet auch verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie ist Teil der Ausbildung. Daraus folgt, daß diejenigen, die zu dieser Ausbildung zugelassen worden sind, zumindest eine Chance haben müssen, die Ausbildung abschließen zu können.
Zusammenfassend stellt der BPA fest, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom Ansatz her verfehlt und hinsichtlich der vorgesehenen zweijährigen Praxisphase nicht realisierbar ist, daß er keinesfalls kostenneutral wäre und daß er darüber hinaus einer qualifizierten allgemeinärztlichen Versorgung der Bevölkerung nicht dienen, sondern sie — im Gegenteil — wesentlich behindern würde.
Meine Damen und Herren, aus all dem wird deutlich, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung in eine Sackgasse führt. Jungen Menschen wird der Abschluß ihrer Ausbildung unzumutbar erschwert und verzögert.
Während Jura-Studenten einen selbstverständlichen Anspruch auf einen Platz als Referendar haben, werden die Medizin-Studenten geradezu in die Ungewißheit entlassen.
Dies ist unfair. Wenn der Bundestag in dieser Frage eine Gesetzgebungskompetenz hat, dann hat er diesen jungen Menschen gegenüber auch eine Fürsorgepflicht. Und ich appelliere an Sie, dieser Fürsorgepflicht zu entsprechen.
Uns geht es aber nicht allein um die Wahrung existentieller Interessen der Medizin-Studenten, so berechtigt diese sind. Uns geht es ebenso um eine optimale Krankenversorgung. Von einem an der Anhörung beteiligten Verband wurde zutreffend ausgeführt, die Verlängerung der Ausbildung „am Patienten" würde zwangsläufig dazu führen — und jetzt zitiere ich wieder wörtlich —,
daß die Patienten noch sehr viel häufiger als jetzt schon und von einer ständig wechselnden Flut noch in der Ausbildung befindlicher Mediziner befragt, untersucht und begutachtet würden. Die Grenze des Zumutbaren für die Patienten, bei denen es sich schließlich um kranke und damit verunsicherte Menschen handelt, würde weit überschritten.
Wenn diese sachkundigen Stellungnahmen und Warnungen kein Gehör finden, frage ich mich allen Ernstes, warum wir überhaupt die öffentliche Anhörung am 17. Oktober durchgeführt haben.
Da wurde hochkarätiger Sachverstand bemüht, da wurden auf kritische Fragen detaillierte Antworten gegeben. Und mit welchem Ergebnis? Die Vertreter der Koalitionsfraktionen haben sich das zwar angehört, aber sie haben keine Folgerungen daraus gezogen. Sie bleiben unbeirrt auf der Marschquote, die ihnen der Gesundheitsminister vorgegeben hat.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird, wie schon angekündigt, den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen. Sie fordert statt dessen die Bundesregierung auf, ein neues und umfassendes Konzept zur Neuordnung der Ärzteausbildung vorzulegen
und dabei folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
a) Das Medizin-Studium ist praxisnäher zu gestalten und von überflüssigen Studieninhalten zu befreien.
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Delorme
Die Vermittlung praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten muß Angelegenheit des gesamten Studiums sein.
b) Dem Medizin-Studium ist ein obligatorisches einjähriges Krankenpflegepraktikum vorzuschalten.
c) Es ist sicherzustellen, daß die Medizinerausbildung auch in bezug auf die zu erlernenden praktischen Fähigkeiten und Inhalte hinlänglich inhaltlich strukturiert ist.
d) Es ist zu gewährleisten, daß für alle Medizinstudenten, die ihr Studium ordnungsgemäß begonnen haben, in allen Ausbildungsphasen eine ausreichende Zahl von Studienplätzen vorhanden ist.
e) Parallel zur Neuordnung des Studiums sind die Zulassungsbestimmungen des Kassenrechts so zu verändern, daß in Zukunft eine kassenärztliche Tätigkeit an den Nachweis einer der Weiterbildung entsprechenden Qualifikation gebunden ist.
Sie, meine Damen und Herren, werden gebeten, sich in diesem Sinn für eine bessere Medizinerausbildung einzusetzen.
Das Wort hat Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was einem an Freiheit gewöhnten Liberalen bei dem Konzept zur Hausärzteweiterbildung, das die SPD vorgelegt hat, als erstes auffällt, ist die Forderung nach der Zwangspensionierung für Kassenärzte im Alter von 65 Jahren.
— Herr Egert, Sie sind mir noch die Antwort auf meine Frage bei der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs schuldig, ob Sie nicht eigentlich daran denken, daß es in Ihren Augen ganz sinnvoll sein könnte, eine solche Zwangspensionierung auch für Parteivorsitzende einzuführen. Ich stelle es mir eigentlich ganz reizvoll vor, mir vorzustellen,
welchen Weg die SPD gegangen wäre, wenn Willy Brandt vor sechs Jahren hätte aufhören müssen.
Meine Damen und Herren, ein solches Element gehört nicht in den Bereich freiberuflicher Tätigkeit. Deshalb werden wir allen Ansätzen, die Freiberuflichkeit durch solche Maßnahmen zu durchlöchern, energischen Widerstand entgegensetzen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Frau Kollegin, damit Sie hinsichtlich dieser Frage heute nicht ungetröstet ins Bett gehen, will ich Ihnen sagen: Ich kenne keine Berufsbilder für Parteivorsitzende. Allerdings kann ich mir durchaus vorstellen, daß bezahlte Ärzte frühzeitiger in Rente gehen
und ihre eigenen Aufwendungen machen. Dies finde ich durchaus nicht illegitim, wenn es nicht zu Lasten der Geldbeutel der Versicherten geht.
Das war zwar keine Frage, Herr Egert, aber auch als Zwischenruf, wenn auch etwas länger geraten, lassen wir Ihre Worte im Protokoll stehen. Ich möchte dazu nur eine Anmerkung machen: Ein Berufsbild eines Kassenarztes gibt es nicht.
Das leitet zwanglos über zu dem zweiten Teil Ihres Gesetzentwurfs. Da werfen Sie durcheinander, was bundesgesetzlich als Zulassung zum Arztberuf und als Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit geregelt werden kann und was in Ländergesetzen bezüglich der Weiterbildung geregelt werden muß. Wir haben bezüglich dieses Teils erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, die wir auch auf die beiden Urteile, die das Bundesverfassungsgericht zur ärztlichen Tätigkeit gefällt hat, stützen. Es handelt sich einmal um das Kassenarzturteil von 1960 und zum anderen um das Facharzturteil von 1972. Diese Urteile verschließen bei gründlicher Interpretation die Möglichkeit, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf angesprochen haben.
Ganz abgesehen davon, meine Damen und Herren, werden wir es nicht zulassen, daß es Zwei-Klassen-Ärzte gibt und damit auch Patienten unterschiedlicher Klassen. Wenn Sie fordern, daß jeder Kassenarzt eine Pflichtweiterbildung zu absolvieren hat, bedeutet das im Umkehrschluß nichts anderes, als daß ein Patient, der sich privat behandeln läßt — das trifft übrigens auch die große Masse der Beamten —, offensichtlich von einem minderqualifizierten Arzt behandelt werden kann. Das ist die Konsequenz Ihres Gesetzentwurfs. Eine solche Zwei-Klassen-Medizin wollen wir nicht und werden wir nicht zulassen.
Wir möchten, daß eine bessere praktische Ausbildung der Ärzte vor ihrer Niederlassung tatsächlich durchgeführt wird.
Auf Ihren Zwischenruf, Herr Jaunich, ist zu sagen: Nach der Approbation kann sich ein Arzt nie-
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Frau Dr. Adam-Schwaetzer
derlassen. Wir möchten daran festhalten, daß die Approbation die Voraussetzung für die Niederlassung ist. Deshalb möchten wir, daß der Arzt schon zur Approbation über ausreichende praktische Erfahrung verfügt, die es ihm ermöglicht, den Patienten qualifiziert zu helfen.
Wir haben derzeit bei unseren Universitäten so viele Medizinstudenten, daß vor allem die praktische Ausbildung zu kurz kommt. Die Quantität an den Universitäten ist zu Lasten der Qualität gegangen. Das können wir auf Dauer nicht akzeptieren. Deshalb wollen wir mit der Einfügung einer Phase aus dem Praktikum vor allem den praktischen Bezug in der Ausbildung verbessern.
Wir können uns auch andere Ausbildungsmodelle vorstellen. Wir haben immer davon geträumt, daß es möglich sein müßte, ein Arztstudium so zu gestalten, daß auch ohne eine solche Regelung „Vorapprobation, praktische Phase, endgültige Approbation" genügend praktische Bezüge im Studium untergebracht sind. Dies scheitert u. a. daran, daß der Bund nicht allein die Kompetenzen hat und daß die Länder mit ihren begrenzten Haushalten, die sie für die Universitäten zur Verfügung haben, nicht in der Lage, aber auch nicht bereit sind, so viel zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen.
Deshalb stehen wir wieder einmal vor dem Problem, hier einen Kompromiß zwischen Bund und Ländern verabschieden zu müssen. Aber das ist j a nichts Neues. Die Opposition kann immer leicht die reine Lehre fordern. Es ist Aufgabe der Fraktionen, die die Regierung unterstützen, dann auch die Bürde eines solchen Kompromisses zu tragen.
Jeder, der eine solche Phase „Arzt im Praktikum" durchlaufen hat, hat damit mindestens anderthalb Jahre zusätzlich am Krankenbett verbringen können. Das Ziel der Ausbildung ist j a schließlich, den Patienten helfen zu können, und zwar so, daß der Ausgebildete mit genügend Selbstbewußtsein und im Vertrauen auf die notwendige Qualifikation mit den Patienten umgehen kann.
Wir haben die Sorge der Studenten sehr gut nachvollziehen können, die sich sehr wohl Gedanken darüber machen, ob denn genügend Ausbildungsstellen zur Verfügung stehen. Das ist der Grund, weshalb wir uns einverstanden erklärt haben, bis 1991 nicht eine zweijährige Zeit „Arzt im Praktikum" einzuführen, sondern nur anderthalb Jahre. Im übrigen werden wir schon dafür sorgen, daß auch durch die weitere Zulassung von Zeitverträgen für die Weiterbildung in begrenztem Umfange im Krankenhaus zusätzliche Stellen geschaffen werden, die dann sowohl für die Weiterbildung genutzt werden können, aber eben auch die Möglichkeit geben, Weiterbildungsstellen gedrittelt für die Arzt-im-Praktikum-Stellen zur Verfügung zu stellen.
Unsere Forderung war von Anfang an, diese Zeit so zu gestalten, daß sie auf eine mögliche Weiterbildung, die sich an die Approbation anschließen kann, anrechenbar wäre. Dem wollen die Länder bei der Umgestaltung der Weiterbildungsordnung Rechnung tragen. Alle Länder haben das zugesagt. Für uns war dieser Aspekt besonders wichtig, weil wir es eben nicht ertragen können, daß die Ausbildung des Arztes über Gebühr ausgedehnt wird. Das wäre zweifellos der Fall gewesen, wenn nach der jetzt so geänderten Approbationsordnung zusätzlich noch eine komplette Weiterbildung hätte angehängt werden müssen.
Die Grobstrukturierung der Zeit, die der Arzt im Praktikum durchläuft, entspricht unseren Vorstellungen. Sie dient vor allen Dingen dazu, dieses Konzept in seiner Akzeptanz auch bei den Medizinstudenten zu verbessern.
Insgesamt ist dies für die schwierigen Zeiten der Ausbildung, die uns gerade in den nächsten Jahren noch bevorstehen eine passable Lösung, die einerseits dazu führen wird, die Qualität der ärztlichen Ausbildung entscheidend zu verbessern, die aber auch dem Rechnung trägt, was wir zu vergegenwärtigen haben, daß nämlich in den nächsten Jahren sehr viel mehr junge Menschen an die Universitäten und damit in die Ausbildung drängen. Auch sie sollen ihre faire Chance auf eine gute Ausbildung bekommen.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Bard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon bei der ersten Beratung dieses Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung hat die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Karwatzki wortreich, aber erfolglos versucht, die Einwände gegen diese zweijährige Praktikumsphase zu umschiffen. Heute hat Frau Adam-Schwaetzer das gleiche getan; ich habe auch von Herrn Becker nichts anderes gehört. Die Behauptung, mit diesen Gesetzesänderungen eine bessere praktische Qualifizierung der Ärzte zu erreichen, ist reine Ideologie.
Das Gegenteil ist richtig. Erstens konnte uns die Regierung nicht erklären, wie sie diese 24 000 Praktikumsplätze kostenneutral herzaubern wird.
Die Übergangslösung mit den 18 Monaten, die jetzt in der Beschlußempfehlung steht, macht das Problem auch nicht viel kleiner.
Zweitens. Die Ausbildung wird dadurch sogar verschlechtert. Das Auseinanderdividieren von Theorie und Praxis wird dazu führen, daß im Studium selbst der notwendige Bezug zum Lebendigen völlig verlorengeht, auf die Zeit nach dem Studium
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Frau Dr. Bard
und damit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.
Es ist keine vernünftige Betreuung garantiert.
Drittens halten wir für gefährlich, daß diese Zementierung der Trennung von Theorie und Praxis die heute notwendigen Umdenkungsprozesse verhindern wird. Heute vormittag malte uns der CDUKollege und Chemiker Boroffka in der Aktuellen Stunde zur Chemiekatastrophe in Indien eine Apokalypse der Notwendigkeit der Fortsetzung der jetzigen Industrialisierung aus. Die pharmazeutische Industrie als Teil dieser Entwicklung hat Katastrophen hervorgerufen und wird weiterhin Katastrophen hervorrufen.
Man wirft uns vor, wir würden Ängste schüren.
— Ich weiß, daß Sie uns das vorwerfen. Aber die Angst kommt doch aus der realen Wirklichkeit, nicht aus einem Phantom. Was ist denn in Indien passiert?
Wir glauben, daß der Ausstieg aus dieser Logik möglich ist. Für die Ausbildung der Mediziner heißt dieser Ausstieg
— Ausstieg aus der Logik der pharmazeutischen Industrie, mit immer neuen Mitteln etwas draufzusetzen —: Es geht darum, sich wieder mit dem zu befassen, was der Mensch ist, ein biologisches, soziales und kulturelles Wesen. Aus dieser Komplexität heraus wird er auch krank. Theorie und Praxis gehören hier zusammen. Dieser Weg wird blokkiert.
Ich weiß, daß Sie den Einwänden der GRÜNEN nicht allzuviel Bedeutung beimessen. Aber eines sollte Sie stutzig machen: das Ergebnis der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung und des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit. Fast alle Verbände haben sich gegen diese Gesetzesänderung ausgesprochen. Für die Studentenvertreter war z. B. nach dieser Anhörung klar: Alle wichtigen Einwände konnten nicht widerlegt werden. Sie schlossen daraus, daß diese Vorlage damit erledigt sei.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. AdamSchwaetzer?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, haben Sie bei der Anhörung denn ein wirklich durchgängiges, schlüssiges, einheitliches Konzept von all den Verbänden gehört, die wir dort befragt haben, oder war es nicht vielmehr so, daß dort ganz unterschiedliche Wünsche in den Raum gestellt wurden, aus denen nicht erkennbar war, wie man denn zu einem anderen schlüssigen Konzept hätte kommen können?
Es gibt sicher verschiedene Vorstellungen, wie man mit Theorie und Praxis in der Ausbildung umgehen kann. Das heißt aber doch in der Konsequenz nicht, daß man ein falsches Konzept verfolgen muß.
In der Ablehnung des Konzepts — dieses Auseinanderreißen von Theorie und Praxis, diese zwei Jahre Praxis — waren sich die Verbände fast einig.
Wenn jetzt doch, wider besseres Wissen, diesem Gesetzentwurf zugestimmt wird, bleibt der Geruch
— genau, die Ärztekammer —, die Ständeorganisation der Ärzte habe sich durchgesetzt, und zwar deswegen, weil es gegen Konkurrenz ging.
Was die jungen Leute, die Studentenvertreter, in dieser Anhörung konkret erfahren haben und was sie, wenn in diesem Entscheidungsprozeß solche Konsequenzen nicht gezogen werden, von unserem Staat halten, darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir würden hier diese Debatte nicht führen müssen, wenn nicht seit Jahren alle Sachverständigen, aber auch die Studenten selber und die Ärzte und Verbände den Umstand beklagen würden, daß die praktische ärztliche Ausbildung Jahr für Jahr immer schlechter wird. Dies ist der Ausgangspunkt der Überlegungen.
Diese Neuordnung der Bundesärzteordnung ist neben dem Jugendschutzgesetz oder neben der Neuordnung des Kriegsdienstverweigerungsrechts und des Zivildienstes eine von den gesetzlichen Vorlagen,
die nun endlich — innerhalb von zwei Jahren — eine praktikable und durchdachte Lösung für Probleme anbieten, die über Jahre hindurch liegengelassen worden sind.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8361
Bundesminister Dr. Geißler
Dieses Problem hätte auch früher angepackt werden könnten.
Herr Delorme hat davon gesprochen, daß die vorgesehene Verbesserung der praktischen Ausbildung an die Grenzen der Unzumutbarkeit stoße, und zwar an die Grenzen der Unzumutbarkeit für Studenten. Ich bin der Auffassung, daß es unzumutbar ist, daß unsere Versicherten, daß Millionen von Patientinnen und Patienten in die Sprechzimmer kommen und dort Gefahr laufen, auf Ärzte zu treffen, die nicht ordentlich und ausreichend ausgebildet sind. Dies ist meine eigentliche Sorge.
Deswegen ist dies ein Gesetzentwurf für die Patientinnen und Patienten, für die Bürger dieses Landes. Darauf kommt es zunächst einmal entscheidend an.
Ich bin deshalb dem federführenden Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und den anderen Ausschüssen dankbar, daß sie es ermöglicht haben, daß dieser Gesetzentwurf in diesem Jahr behandelt und in der zweiten und dritten Lesung verabschiedet wird.
Worum geht es denn? — Es ist draußen — wie ich festgestellt habe —, viel an Desinformation vorhanden, leider auch in den universitären Bereichen. Man muß sich manchmal wundern, wie wenig die Informationsschriften gelesen werden und wie wenig sich auch die Leute, die es nun eigentlich besser wissen müßten, darum bemühen, sich wirklich informieren zu lassen.
Was wollen wir denn? — Wir wollen eine Verlängerung der Ausbildung um eine zweijährige Praxisphase. Ich mache unsere Studentinnen und Studenten darauf aufmerksam, daß in den meisten europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten die Ausbildung für Ärzte länger als in der Bundesrepublik Deutschland dauert. Machen wir uns nichts vor: Andere Länder nehmen die ärztliche Ausbildung ernster als manche in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir ziehen daraus die Konsequenzen.
Zweitens. Diese Praxisphase umfaßt zwingend ärztliche Ausbildungsteile in operativen und nichtoperativen Fächern. Sie kann und soll in der Praxis niedergelassener Ärzte absolviert werden.
Diese Praxisphase soll drittens nach dem Willen der Bundesregierung und der Koalition für die Weiterbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin, zum Arzt für Chirurgie und andere Fachrichtungen angerechnet werden. Erst danach wird die Approbation erteilt. Denn erst danach kann der Arzt verantwortlich einen Menschen ärztlich behandeln. Dies liegt in unserer Verantwortung. Es ist unverantwortlich, Menschen auszubilden und sie als Ärzte mit der Behandlung kranker Menschen zu betrauen, wenn der Staat, wenn der Gesetzgeber keine ausreichenden Voraussetzungen dafür geschaffen hat, daß die Ärzte kranke Menschen auch ordentlich behandeln können. Dies ist unsere Verantwortung.
Wir wollen unmittelbar nach der Verabschiedung dieser Novelle eine neue Approbationsordnung erlassen, die vor allem die mündlich-praktischen Prüfungen verstärken, mehr Gewicht auf praktischen Unterricht in kleinen Gruppen und auch neue praktische Unterrichtsveranstaltungen bieten soll.
Nun komme ich zu einem der Hauptargumente, nämlich der Frage: Wie kann denn garantiert werden, daß die Studenten, die ihre sechs Jahre Ausbildung an der Universität hinter sich haben, nun auch einen Ausbildungsplatz als Arzt im Praktikum bekommen? — Eine völlig berechtigte Frage.
Alle Studenten, die mir gegenüber diese Sorge geäußert haben, haben recht, wenn sie diese Sorge artikulieren. Darauf muß eine Antwort gegeben werden.
Selbstverständlich können wir — das ist wahr — keine Rechtsgarantie auf einen bestimmten Platz zu einem bestimmten Zeitpunkt geben. Aber die Studentinnen und Studenten haben die politische Garantie,
daß entsprechend der Zahl der jungen Ärzte Praktikumsplätze zur Verfügung stehen werden.
Keiner, der aus der Hauptschule herausgeht, hat eine Rechtsgarantie, einen Ausbildungsplatz in einem Handwerksbetrieb zu bekommen. Aber die Tarifparteien, wir alle miteinander sorgen dafür, daß diese Ausbildungsplätze vorhanden sind.
Eine bessere Garantie zur Absicherung der benötigten Praktikumsplätze als die bekundete Bereitschaft von Bund, Ländern, Gemeinden und den in Betracht kommenden Organisationen, alle Kräfte für diese Plätze einzusetzen, kann es nicht geben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Egert?
Bitte schön!
Herr Minister, Sie haben hier von einer „politischen Garantie" gesprochen. Sind Sie bereit, mir zu bestätigen, daß alle Länder gerade diese politische Garantie weitestgehend dadurch entwertet haben, daß sie darauf hingewiesen haben, diesen Anspruch nicht erfüllen zu können?
Aber das ist doch gar nicht wahr!
— Herr Egert, was Sie hier erzählen, stimmt ganz einfach nicht.
8362 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Bundesminister Dr. Geißler
— Herr Egert, was Sie sagen, stimmt nicht.
— Das ist einfach falsch. Der Bundesrat hat beim ersten Durchgang zwar Erwartungen an die Adresse der Bundesregierung gerichtet, hat aber dieser Bundesärzteordnung zugestimmt.
Es ist gar keine Frage, daß der Bundesrat, d. h. die Mehrheit der Länder, ihr auch im zweiten Durchgang zustimmen wird.
— Entschuldigung! Ich habe Informationen dazu aus den Ländern. Wir beraten ja über dieses Gesetz nicht im luftleeren Raum. Ich komme nachher noch zu den anderen Fragen, die Sie aufgeworfen haben.
Ich mache Sie ebenfalls darauf aufmerksam, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß wir durch das Krankenhausfinanzierungsgesetz für die Länder die Möglichkeit geschaffen haben, die Hergabe von Investitionsförderungsmitteln davon abhängig zu machen,
daß die Krankenhäuser entsprechende Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen.
Herr Egert, jetzt darf ich einmal an Ihre politische Vernunft appellieren.
Machen Sie weniger in Ideologie! In der Bundesrepublik Deutschland gibt es 5 200 Akutkrankenhäuser, und wenn ich einmal davon ausgehe, daß wir 20 000 bis 24 000 Plätze brauchen, dann ist es doch klar, daß in der Bundesrepublik
jedes Krankenhaus wenigstens fünf Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen kann.
Dies muß doch möglich sein, wobei ich alle kleinen Krankenhäuser, alle Landeskrankenhäuser hier schon mit einbezogen
und mit 400-, 500- und 1 000-Betten-Krankenhäusern gleichgewichtet habe, die natürlich mehr Ausbildungsplätze als ein kleines Krankenhaus zur Verfügung stellen können.
— Wissen Sie, ich will die „Leute" nur sachlich informieren. Ich möchte gerne, daß sich die Studentinnen und Studenten durch die Panikmache der GRÜNEN, denen sich die Sozialdemokraten offenbar anschließen, nicht irremachen lassen. Darum geht es.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Bard?
Kann man mir sagen, wieviel Zeit ich noch habe?
— Nicht mehr sehr viel? — Dann muß ich leider darauf verzichten, eine Zwischenfrage zuzulassen;
denn ich möchte hier gern noch zu einigen Punkten Stellung nehmen.
Natürlich muß man jetzt die Frage nach den Alternativen stellen. Das hat Frau Adam-Schwaetzer völlig zu Recht gesagt. Ich höre Kritik; das ist wahr. Aber es gibt zu dem Vorschlag, den wir gemacht haben,
keine praktikable Alternative. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, daß der SPD-Entwurf überhaupt keine Stellengarantie ausweist, und merkwürdigerweise wird dort auch nicht danach gefragt.
Seit Jahren diskutiert man über die ärztliche Ausbildung — das ist hinreichend bekannt — sowie darüber, daß die Studenten mit guten theoretischen Kenntnissen von der Universität kommen, daß sie aber im praktischen Bereich zum Teil eben erhebliche Mängel aufweisen. Wir wollen mit dieser Bundesärzteordnung erreichen, daß alle Medizinstudentinnen und Medizinstudenten eine qualifizierte praktische Ausbildung erhalten.
Der SPD-Entwurf — dies muß den Universitäten und den Studenten gesagt werden — schafft ein Zweiklassenrecht für junge Ärztinnen und Ärzte.
Nur ein kleiner Teil der jungen Ärzte wird einen Weiterbildungsplatz erhalten können, wenn Ihr Gesetzentwurf in Kraft treten sollte. Der von der SPD vorgelegte Entwurf löst die Probleme überhaupt nicht. Die SPD hat noch niemandem gesagt, nach welchen Kriterien denn eigentlich Weiterbildungs-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8363
Bundesminister Dr. Geißler
plätze vergeben werden sollen, wer einen Weiterbildungsplatz erhalten soll und wer ihn nicht erhalten kann. Auf die Frage, was mit den Ärzten geschehen soll, die nicht das Glück haben, eine solche Stelle zu finden, sind Sie doch die Antwort schuldig geblieben!
Kein Mensch weiß, was die Ärzte machen sollen, die ihren Weiterbildungsplatz nicht bekommen,
und das sind mindestens 50 % der Ärzte, die nach Ihren Vorstellungen die Approbation erhalten sollen. Das ist eine elitäre Lösung, die hier von der SPD vorgelegt wird. Man möchte beinahe meinen, daß sich hinter ihr eine verkappte Zulassungssperre für die Niederlassung verbirgt. Das ist offenbar gewollt und beabsichtigt.
Dies müssen die Studentinnen und Studenten wissen, wenn über den SPD-Entwurf geredet wird.
Wir haben einen Vorschlag gemacht, und er ist praktikabel. Im übrigen haben die Verbände gesagt, daß sie diesen Vorschlag für realisierbar halten. 5 000 Assistenzarztstellen von insgesamt 45 000, die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, werden umgewandelt in Plätze für Ärzte im Praktikum und mit zwei bis drei Ärzten besetzt. Allein schon diese Maßnahme schafft mindestens 15 000 Stellen für Ärzte im Praktikum. Dazu kommen noch die Stellen bei niedergelassenen Ärzten, im öffentlichen Gesundheitsdienst, bei der Bundeswehr und bei den betriebsärztlichen Diensten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich merke, meine Zeit ist um, aber einen Satz will ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten noch sagen: Wir brauchen eine politische Lösung. Wir sind nicht in einer Verbändedemokratie. Der Fakultätentag und die Rektorenkonferenz und der VDS und wer auch immer, sie haben natürlich Argumente gegen eine solche Lösung. Wenn Sie den Fakultätentag fragen, so ist er gegen jede Lösung, es sei denn, sie enthielte die Möglichkeit, die Zahl der Studenten zu reduzieren. Das ist natürlich klar. Gruppen, die eine solche Vorstellung haben, werden dem Vorschlag die Zustimmung nicht geben könnnen.
Was Sie machen, ist nichts anderes als ein Sammelsurium von Negativurteilen gegenüber einer praktikablen Lösung, ohne eine alternative Gesamtlösung vorlegen zu können. Darum geht es.
Wir sind nicht die Funktionäre irgendwelcher Verbände, sondern das frei gewählte Parlament. Wir haben eine politische Lösung vorzuschlagen, die dem Wohle aller dient, in erster Linie dem Wohle der Patientinnen und Patienten, aber langfristig auch der Forderung, daß alle Medizinstudenten, alle ohne jede Ausnahme — nicht elitär wie bei Ih-
nen —, eine qualifizierte praktische Ausbildung bekommen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über Zusatztagesordnungspunkt 3. Ich rufe Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Zur Abstimmung wünscht nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Herr Abgeordnete Sielaff das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte in drei Punkten begründen, warum ich persönlich der Beschlußempfehlung zum Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung nicht folgen werde.
— Wollen Sie § 31 der Geschäftsordnung abschaffen?
Erstens. Vor wenigen Monaten haben wir eine Debatte über das Selbstverständnis des Bundestages geführt, in der der Vertrauensschwund in der Öffentlichkeit bezüglich des Parlaments eine große Rolle spielte. Art und Weise der Behandlung dieses Gesetzentwurfes zeigt mir überdeutlich, daß wir unsere eigene Debatte nicht ernst nehmen, wenn wir über dieses Gesetz heute entscheiden. Der zur Verfügung stehende Zeitrahmen war so eng, daß die Behandlung dieser Drucksache noch nicht einmal auf der am 6. Dezember zugesandten Tagesordnung des Bundestages erscheinen konnte.
Zweitens. Die zuständigen Ausschüsse haben am 17. Oktober eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf durchgeführt. Trotz massiver Einwände von seiten der Fachverbände gegen den Entwurf wurde nichts Wesentliches mehr verändert. Die Anhörungen werden damit zu Alibiveranstaltungen degradiert. Wenn dieser Stil fortgeführt wird, werden namhafte Fachleute in Zukunft kaum noch bereit sein, Abgeordnete und Bundestag zu beraten.
Dritter Punkt. Für mich zeigt dieser Vorgang eine erschreckende, ja fast blinde Hörigkeit der Koalition gegenüber der Regierung. Alle Argumente werden dieser Hörigkeit untergeordnet.
Das schafft kein weiteres Vertrauen in den Bundestag und in die Arbeit der Abgeordneten.
Ich wehre mich mit meinem Nein zu diesem Gesetz auch dagegen, daß die Mehrheit dieses Hauses
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Sielaff
wiederholt so übereilt und mit zu heißer Nadel ein Gesetz strickt und durchsetzt, daß es nicht einmal in der Tagesordnung aufgeführt werden kann. Nicht nur der Inhalt dieses Gesetzes, auch die Art und Weise der Behandlung der Bundesärzteordnung, die völlige Nichtachtung des Anhörungsverfahrens und der vielen Argumente Betroffener ist für mich Grund, dieses Gesetz abzulehnen.
Ebenfalls zur Abstimmung hat nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Herr Abgeordnete Faltlhauser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um Sie nicht weiter zeitlich in Anspruch zu nehmen, gebe ich dem Herrn Präsidenten meine persönliche Erklärung, die ich zu der Abstimmung über dieses Gesetz entsprechend § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung vorbereitet habe, in die Hand. Ich bitte ihn, dies ins Protokoll aufzunehmen*). Dann brauche ich Sie zu später Stunde nicht weiter aufzuhalten.
Auch dies ist nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung möglich.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Eine Enthaltung.
Mit Mehrheit ist dieses Gesetz angenommen.
Es ist noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/2586 unter Nr. 2 die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Die Entschließung ist mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über Zusatzpunkt 4 zur Tagesordnung, den von den Abgeordneten Jaunich, Frau Fuchs , Egert und weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Gewährleistung der Weiterbildung der Hausärzte in der kassenärztlichen Versorgung (Hausärzte-Weiterbildungsgesetz) auf Drucksache 10/1755. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.
*) Anlage 2
Die Punkte 14 und 15 der Tagesordnung sind abgesetzt.
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin, Lutz, Frau Fuchs , Bachmaier, Frau Blunck, Buschfort, Catenhusen, Delorme, Dr. Diederich (Berlin), Dreßler, Egert, Fiebig, Frau Fuchs (Verl), Gilges, Glombig, Frau Dr. Hartenstein, Hauck, Heyenn, Frau Huber, Immer (Altenkirchen), Jaunich, Jung (Düsseldorf), Kirschner, Dr. Kübler, Kuhlwein, Frau Dr. Lepsius, Frau Luuk, Frau Dr. Martiny-Glotz, Frau Matthäus-Maier, Müller (Düsseldorf), Frau Odendahl, Peter (Kassel), Reimann, Frau Renger, Frau Schmedt (Lengerich), Frau Schmidt (Nürnberg), Schreiner, Sielaff, Frau Simonis, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Frau Steinhauer, Stiegler, Frau Terborg, Frau Dr. Timm, Frau Traupe, Urbaniak, Weinhofer, Frau Weyel, von der Wiesche, Frau Zutt, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Teilzeitbeschäftigten
— Drucksache 10/2559 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Der Ältestenrat schlägt eine Aussprache von einer Stunde vor. — Ich sehe keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Teilzeitbeschäftigten, das wir heute in die parlamentarische Beratung einbringen, wollen wir zwei scheinbar einander widersprechende Dinge unter einen Hut bringen. Wir wollen für jene Arbeitnehmer einen Rechtsrahmen schaffen, die in der Teilzeitarbeit eine Chance sehen, Beruf, Familie und Freizeit besser miteinander zu vereinbaren.
— Der Teilzeitminister ist gegangen; er könnte uns vielleicht behilflich sein.
Aber wir wollen auch verhindern, daß diese Form der Beschäftigung zu einem Absinken des sozialen Standards, zu neuen Formen der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und zu neuen Diskriminierungen im Beschäftigungssystem führt. Mit anderen Worten, wir wollen einen Rechtsrahmen schaffen, der die reinen Abrufarbeitsverhältnisse unmöglich macht, der verhindert, daß das Risiko bei der Teilung eines Arbeitsplatzes zwischen zwei Arbeitnehmern, dem sogenannten Job-Sharing, den beteiligten Arbeitnehmern aufgehalst wird, und der verhindert, daß immer mehr Beschäftigungsverhältnisse zu Lasten der Arbeitnehmer unterhalb
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8365
Lutz
der versicherungspflichtigen Schwelle abgeschlossen werden. Wir wollen also die Würde des einzelnen auch bei diesen Sonderformen der abhängigen Arbeit gewahrt wissen, und wir sind der festen Überzeugung, daß dies auch dringend notwendig ist angesichts des Umfangs, den Teilzeitarbeit bei uns mittlerweile angenommen hat.
Erste Reaktionen auf Ihrer Seite — ich beziehe mich dabei auf die leichtfertige Schelte des Parlamentarischen Staatssekretärs Vogt, den ich nicht sehe — zeigen uns, daß die wenigen Herren und Damen — eine Dame und drei Herren — der CDU/ CSU nicht begreifen wollen, worum es geht. Ihr Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Beschäftigung sanktioniert eigentlich nur, was sich in der betrieblichen Wirklichkeit eingeschliffen hat, und operiert mit guten Absichten da, wo vernünftigerweise verwirklichbare Rechtstitel stehen müßten. Während Sie tatsächlich einer vernünftigen Regelung ausweichen, verdoppeln Sie Ihre rhetorischen Anstrengungen, um Ihren gesetzlichen Wechselbalg als wohlgeratene Denkfrucht dem Volke darzubieten. Sie sollten sich nicht täuschen, diese Methode — sie beherrscht seit der Wende Ihren politischen Arbeitsstil — verfängt nicht länger. Die Arbeitnehmer kommen sich in wachsendem Maße vom Arbeitsminister und von dieser Koalition verschaukelt vor, und die Tatsachen sprechen in der Tat für diesen Eindruck.
Ich will mal versuchen, in möglichst einfachen Worten zusammenzufassen, was wir mit unserem Gesetzesvorschlag erreichen wollen, und ich lade die Gewerkschafter unter Ihnen ein — es ist zur Zeit keiner im Saal —, unsere Vorschläge ernst zu nehmen und mit uns gemeinsam einen Rechtsrahmen zu erstellen — ich meine die CDU-Gewerkschaftsmitglieder —, der die Arbeitnehmer bei jeder Form von Beschäftigung vor Übervorteilung schützt.
Denn ich meine, allein der Aufwand von Teilzeitarbeit macht die von uns vorgeschlagenen Regelungen notwendig. Rund 1,8 Millionen Arbeitnehmer, meist Frauen, arbeiten derzeit in versicherungspflichtiger Teilzeitbeschäftigung. Zwischen eineinhalb und zwei Millionen Beschäftigte sind es, die Verträge abgeschlossen haben, die ohne jeden Versicherungsschutz bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter sind. In einem erheblichen Umfang werden Sozialversicherungsbeiträge hinterzogen. Das ist zum einen für unser Sicherungssystem ärgerlich.
Aber es wird auch der Mensch ungeschützt unternehmerischer Willkür ausgeliefert. Und das ist dann nicht nur ärgerlich, das ist ein Skandal.
Wir dagegen, meine Damen und Herren, wollen erreichen, daß jede Benachteiligung des teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmers ausgeschlossen wird.
Solche Arbeitsverträge sollen künftig nur dann wirksam sein, wenn mindestens die Hälfte der vollen Arbeitszeit, also von 40 Stunden im Regelfall, als vereinbart gilt und bezahlt wird. Die konkreten Arbeitszeiten müssen zudem dem Arbeitnehmer mindestens 14 Tage im voraus mitgeteilt werden. bei einer vernünftigen Personalplanung, scheint mir, kann man das auch.
— Es ist einfach, Herr Faltlhauser, menschenunwürdig, wenn der einzelne gezwungen wird, in der Nähe seines Telefons darauf zu warten, bis er von seinem Arbeitgeber gebraucht und abgerufen wird.
Es ist auch nicht zumutbar, daß zwei Arbeitnehmer, die sich einen Arbeitsplatz teilen, gegenüber dem Arbeitgeber dafür haften, daß im Krankheits-, Urlaubs- oder Verhinderungsfall eines Partners die volle Arbeitszeit vom anwesenden anderen Arbeitnehmer erbracht wird. Das, was wir wollen, macht zugegebenermaßen sogenannte McDonalds-Arbeitsverhältnisse mit Entgelten unterhalb der Versicherungspflichtgrenze von 390 DM nicht attraktiver, es verhindert sie. Und das sollte eigentlich unser aller Bestreben sein.
Das würde nämlich auch dazu führen, daß künftig nicht länger zwei oder drei Scheinarbeitsverhältnisse mit Mitgliedern der Familie des Teilzeitbeschäftigten abgeschlossen werden, nur, um die Versicherungsplicht umgehen zu können. Ich frage Sie ernsthaft, ob das nicht auch Ihr Wille sein müßte.
Es gibt nämlich auch Arbeitgeber, beispielsweise im Gebäudereinigungsgewerbe, die uns zu solchen gesetzlichen Regelungen geradezu ermutern.
Sie wollen saubere Verhältnisse in des Wortes wörtlicher Bedeutung, weil nur so Schmutzkonkurrenz auf der Basis der Beitrags- und Steuerhinterziehung verhindert werden kann.
Meine Damen und Herren, es wird sehr interessant sein, zu erleben, mit welch fadenscheinigen Begründungen Sie in der nun anstehenden parlamentarischen Beratung eine Neuregelung auf dieser Basis verhindern werden. Daß Sie dies beabsichtigen, ist leider jetzt schon abzusehen.
Meine Kollegin Dr. Däubler-Gmelin hat zu Wochenbeginn auf einer Pressekonferenz deutlich gemacht, wie sehr Frauen in Teilzeitarbeitsverhältnissen nach wie vor benachteiligt sind. Das ist nicht nur in sogenannten kleinen Klitschen so; auch in Großbetrieben mit ansonsten recht beachtlichen Sozialleistungen gibt es beklagenswerte Zustände, die wir gemeinsam schleunigst ändern sollten.
Bei der Umsetzung der 38 1/2-Stunden-Woche im Volkswagenwerk beispielsweise will die Werksleitung den Vollzeitbeschäftigten neun bezahlte Freizeitschichten zugestehen. An eine vergleichbare Regelung für Teilzeitarbeiterinnen ist nicht gedacht.
Die Lastenausgleichsbank, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, gewährt Teilzeitbeschäftigten eine Urlaubsverbesserung von 18 auf 22 Tage
— Herr Faltlhauser, reden Sie doch nachher —, allerdings unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs und unter der Voraussetzung, daß die Betreffenden bei Urlaub und Krankheit ihre Kolleginnen in der Telephonzentrale jederzeit vertreten, notfalls — das fügt die Bank zu ihrer Sicherheit hinzu — auch ganztägig.
Die Deutsche Bundespost, jenes Unternehmen, das derzeit dem Herrn Schwarz-Schilling ausgeliefert ist, bietet in großformatigen Anzeigen Teilzeitarbeitsverhältnisse unterhalb der 390-Mark-Grenze an.
— Das ist wohl unglaublich, aber leider wahr, Herr Kirschner. — Es wird sich wohl nie exakt feststellen lassen, wie viele Reinigungsbedienstete in öffentlichen Gebäuden zu unzumutbaren sozialen Konditionen eingesetzt werden,
weil man eben nur auf den Preis der Dienstleistung achtet, nicht aber auf die Bedingungen, unter denen sie erbracht wird.
Manchem McDonald's-Kunden bliebe der Hamburger im Halse stecken,
wüßte er, daß von den dort Beschäftigten rund 12 000 Arbeitnehmern mehr als die Hälfte, exakt 58%, weniger als 390 DM verdient und damit ohne jeglichen Versicherungsschutz ist.
Hinzu kommt, daß diese Menschen nur dann bestellt und bezahlt werden, wenn die Imbißkette gute Umsätze erwartet.
Nach Angaben der Verbände arbeiten im Gebäudereinigungshandwerk rund 270 000 Menschen unterhalb der Versicherungsgrenze. Im Gartenbau sind es zirka 300 000 Arbeitnehmerinnen, denen der Versicherungsschutz versagt bleibt, und in großen Bereichen des Einzelhandels sowie im Hotel- und
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Gaststättengewerbe kommt noch einmal eine runde Million hinzu. Wer da Regelungsbedarf leugnet, der muß schon ein sehr gewissenloser Interessenvertreter oder ein sehr einäugiger Wendepolitiker sein.
Meine Damen und Herren, möglicherweise kommen Sie mir mit dem Einwand, Sie hätten j a schon eine ganze Reihe der strittigen Fragen durch Ihren Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes aufgegriffen,
und Sie hätten sehr viel unbürokratischere Regelungen als wir getroffen. Aber diesen Quatsch erzählen Sie immer; er wird dadurch nicht besser, nur quätscher.
Ich will einmal Ihre und unsere Vorstellungen miteinander vergleichen, damit offenbar wird, auf welch fundamentale Weise unsere Lösungsansätze von Ihren abweichen. Der Blüm-Entwurf — so will ich ihn einmal nennen — verbietet zunächst eine Benachteiligung der Teilzeitbeschäftigten. Das ist auch bei uns so. Aber bei uns bleibt es nicht bei der Wiederholung dessen, was die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ohnehin schon festgeschrieben hat. Wir wollen ein Gleichbehandlungsgebot mit Biß,
und deshalb sagen wir, daß Teilzeitbeschäftigte nach den gleichen Grundsätzen vergütet werden müssen wie Vollzeitbeschäftigte
und daß dies auch für die Überstundenvergütung gelten muß. So etwas Ähnliches hatte Herr Blüm, den wir hier natürlich auch nicht begrüßen können, in den Referentenentwürfen seines Hauses ursprünglich vorgesehen. Aber einmal mehr konnte es sich gegenüber dem Wirtschaftsminister nicht durchsetzen und hat dann die richtigen Positionen kleinlaut geräumt.
Auch das, was der Regierungsentwurf zum Jobsharing vorschlägt, verdient das Etikett einer sozialverträglichen gesetzlichen Regelung nicht. Bei Ihnen bleibt es bei der gegenseitigen Vertretung der Job-sharing-Partner, und wir lehnen dies ganz entschieden ab.
Wir haben, wie ich schon sagte, entschieden etwas dagegen, wenn die Arbeitnehmer sich dem Arbeitgeber gegenüber zur gegenseitigen Vertretung bei Urlaub und Krankheit verpflichten müssen.
Unsere Regelung läuft praktisch auf ein Verbot des
Jobsharing hinaus, wenn es nicht eine freiwillige
Vereinbarung ist. Das scheint uns auch die einzig richtige Konsequenz des Gesetzgebers zu sein.
Kommen wir zur variablen Arbeitszeit: Bei Vereinbarungen über eine variable Arbeitszeit schreiben wir eine Mindestarbeitszeit vor und sichern den Betroffenen so eine Mindestvergütung als Existenzgrundlage. Bei Ihnen kann es passieren, daß jemand Monate hindurch nicht beschäftigt wird, und niemand kümmert sich darum, wovon er dann leben kann.
Ferner legen wir fest, daß dem Arbeitnehmer mindestens 14 Tage vorher der Einsatzplan mitgeteilt werden muß.
Sie dagegen halten eine Information vier Tage im voraus für ausreichend. In weiten Bereichen des Handels — das haben Sie übersehen — werden die Einsatzpläne heute schon zu Beginn eines Monats festgelegt und den Betroffenen mitgeteilt. Wir können nicht begreifen, warum der Regierungsentwurf hinter dieser Praxis zurückbleibt.
Besonders schändlich aber, meine Damen und Herren, ist Ihr Vorhaben, die Teilzeitbeschäftigten aus dem Kündigungs- und Arbeitsplatzschutzgesetz auszuklammern.
Dies führt nicht nur dazu, daß Sie den Teilzeitbeschäftigten in Kleinbetrieben den Kündigungsschutz nehmen, sondern das führt auch dazu, daß in den Kleinbetrieben die Vollzeitbeschäftigten ihren Kündigungs- und Arbeitsplatzschutz verlieren. Blüm macht die Arbeitnehmer in den Kleinbetrieben zum arbeitsrechtlichen Freiwild.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie nicht von Natur aus so gutdurchblutete Ohren hätten, eine Dauerschamröte müßte Ihnen ins Gesicht steigen!
Wir Sozialdemokraten — das beweist unser heutiger Gesetzentwurf — lehnen eine solche Flexibilisierung im ausschließlichen Arbeitgeberinteresse ab. Wir wollen die Teilzeitarbeit zu einem vollgültigen und vollwertigen Arbeitsverhältnis ausgestalten. Wir wollen den Männern und Frauen, die eine Teilzeitarbeit suchen, eine gesicherte Grundlage dafür bieten. Wir meinen, dies sei auch den Arbeitgebern zumutbar. Denn die Leistung eines Teilzeitarbeitenden ist nicht weniger wert als die eines Vollzeitbeschäftigten.
Wir wollen Schluß machen mit dem Sozialversicherungsbetrug unterhalb der 390-DM-Grenze,
der ausschließlich zu Lasten des Teilzeitarbeitnehmers geht. Denn — ich erinnere Sie — geringfügige Entgelte lösen automatisch die alleinige Beitragspflicht des Unternehmers aus, wenn die 390-DMGrenze fällt. Der Arbeitgeber kann sich davor da-
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Lutz
durch schützen, daß er mit den Arbeitnehmern Verträge mit einer vernünftigen Stundenzahl und einem ausreichenden Entgelt abschließt.
Das, meine Damen und Herren, ist Sozialgesetzgebung, die diesen Namen verdient.
Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dagegensetzen, ist sozialer Waldfrevel,
das ist ein permanenter Kotau vor dem großen Geld. Und, Herr George: Mir scheint, Sie werden Ihre Gründe dafür haben.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hürland.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal ist man froh, daß es hier im Deutschen Bundestag nur Teilzeitbeschäftigung gibt, und zwar weniger als unter der 390-DMGrenze oder 20 Stunden. Denn das war sehr, sehr schwer zu ertragen, Herr Kollege Lutz.
— Na, ich weiß nicht, Herr Kollege Egert.
Das Thema Teilzeitbeschäftigung ist nicht neu. In der täglichen Lebensgestaltung der Menschen sind die damit verbundenen Fragen und Probleme immer wieder gegenwärtig. In privaten Runden, dort, wo befreundete Ehepaare und Familien, Nachbarn und Arbeitskollegen gesellig beieinander sitzen, kommt dieses Thema auf und löst lebhafte Diskussionen aus.
— Das liegt an der Technik.
Es ist nicht nur ein Thema für Frauen. Es ist ein Thema für Männer und Frauen, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Um welche Fragen geht es denn? Es geht darum: Wie findet die Frau eine Teilzeitbeschäftigung? Und wie kann sie, die sich weiterhin in dem erforderlichen Maß um ihre Kinder, um ihre Familie, um den Haushalt kümmern möchte, diese Aufgaben mit einer Berufstätigkeit in Einklang bringen? Das ist das Hauptproblem, meine Damen und Herren, besonders aber meine Herren.
Die Alternative „Nur Hausfrau oder nur volle Berufstätigkeit" wird immer mehr in Frage gestellt, weil diese Alternative die Probleme nicht löst und weil sie zu wenig für den Weg hergibt, den die Frau in unserer Gesellschaft zunehmend sucht.
Das Emanzipierungsmuster, wonach Frauen, auch wenn sie eine Familie haben, ihr Streben nach Selbstverwirklichung vornehmlich in einer beruflichen Tätigkeit zu verfolgen hätten, stößt zunehmend auf Vorbehalte und Zurückhaltung.
Denn sehr viele Frauen wollen beides: Familie und Beruf.
Sie erkennen, daß Selbstverwirklichung, Selbstwertgefühl, persönliche Erfüllung gleichermaßen in einer beruflichen Tätigkeit wie auch in der Hinwendung zur Familie, zu den eigenen Kindern und auch in der Übernahme von Aufgaben in der Gemeinschaft liegen könnten; ich denke an die Gemeinde, an die Schule, an die Kirchengemeinde, an soziale Einrichtungen, an das Vereinsleben usw. Alles dies beansprucht den gleichen Rang.
— Ich glaube, Frau Nickels, Sie haben wohl bemerkt, daß ich besonders zu den Herren gesprochen habe, und nicht nur nach rechts; die Linken können das genauso gut gebrauchen; denn im Alltagsleben sieht das manchmal sehr viel anders aus, als hier die Theorien dargelegt werden.
der CDU/CSU! Mehr sind nicht da!)
Der abgenutzte Vorwurf, wir verfolgten eine Politik, mit der Frauen aus dem Berufsleben abgedrängt und auf Haus und Herd beschränkt werden sollten, geht ins Leere. Unsere Bemühungen richten sich vielmehr darauf, die Verwirklichung der gleichwertigen und gleichberechtigten Belange von Frauen zu ermöglichen.
Deshalb geht es darum, viel mehr Gelegenheiten für Teilzeitbeschäftigung herbeizuführen.
— Frau Kollegin, wir haben dieses Thema ja schon seit zehn Jahren behandelt. Es ist in der Frauenvereinigung der CDU zu sehr vielen Kongressen und Delegiertentagungen gekommen. Aber es gibt immer weniger Männer, die sich das anhören, was wir dazu beitragen,
es sei denn hier am Rednerpult; und wenn sie nach draußen gehen, haben sie auch keine Möglichkeiten, uns Teilzeitarbeitsplätze zu beschaffen.
Es geht darum, allen Frauen eine berufliche Tätigkeit zu ermöglichen, die sich im Umfang, in der zeitlichen und kräftemäßigen Beanspruchung von der Vollzeit-Berufstätigkeit unterscheidet und die es erlaubt, den Beruf und die anderen soeben aufgezeigten Belange miteinander zu vereinbaren.
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Frau Hürland
Und da das nicht nach dem starren Schema „Statt 40 Stunden 20 Stunden in der Woche
und statt 8 oder 9 Stunden 4 oder 5 Stunden am Tag" funkioniert, jedenfalls in vielen Fällen nicht funktioniert, wollen wir flexiblere Regelungen erreichen.
An dieser Stelle spätestens beginnt der Dissens: Sie setzen unsere Bemühungen um Flexibilität des Arbeitslebens einseitig und massiv dem Verdacht und der Unterstellung aus, in Wirklichkeit laufe dies alles vorwiegend auf eine krasse Benachteiligung der weiblichen Arbeitnehmer hinaus und diene nur dem Vorteil des Unternehmers und des Arbeitgebers.
Ich bedauere ausdrücklich, daß auf diese Weise klassenkämpferische Denkmuster immer wieder die Oberhand gegenüber einer Politik für die Frauen und die Familien gewinnen,
um die es uns doch allen wirklich gemeinsam gehen sollte.
Die Tatsache, daß ich hier stehe, Herr Kollege, besagt ja wohl, daß ich nicht eine Frau zweiter Klasse bin. Oder würden Sie mich als solche ansehen?
— Das bin ich auch — für eine gute Sache.
Wissen Sie, ich habe schon gekämpft, als die Nazis noch hier waren. Mir brauchen Sie mit solchen Sachen nicht zu kommen.
Nachdem ich aufgezeigt habe, worauf es bei dem Problem der Teilzeitbeschäftigung ankommt, muß ich fragen, was der von der Fraktion der SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Teilzeitbeschäftigten zur Lösung dieser Problematik beiträgt. Zunächst einmal sind wir uns alle darüber einig, daß es viel zu wenig Angebote für Teilzeitbeschäftigungen gibt. Das stellen Sie in Ihrem Gesetzentwurf ja auch ausdrücklich fest. Aber dazu, wie dieses Angebot verbessert werden soll, vermisse ich den entscheidenden Beitrag in Ihrem Gesetzentwurf. Offensichtlich wissen auch Sie keine Patentlösung.
Ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß der arbeits- und der sozialrechtliche Schutz der Teilzeitbeschäftigten verbesserungsbedürftig ist, daß er teilweise nicht befriedigend funktioniert und daß es Mißbräuche gibt. Dabei denke ich vor allem an Mißbräuche im Bereich der 390-DM-Regelung, der sogenannten geringfügigen Beschäftigung. Wir haben im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gerade über diesen Punkt reichlich debattiert. Wir hatten seinerzeit ja auch vor, die Grenze anzuheben. Das ist uns aus den bekannten Gründen aber leider gemeinsam nicht gelungen.
Allerdings: Geringfügige Beschäftigung im echten Sinne ist nicht in jeder Beziehung dasselbe wie Teilzeitbeschäftigung.
Wir wollen die geringfügige Beschäftigung nicht abschaffen oder beseitigen. Wir wollen aber die Mißbräuche bekämpfen und möglichst beseitigen.
Im Gegensatz zur Fraktion der SPD, die dem sogenannten Job-sharing außerordentlich skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, halten wir sehr viel von dieser neuen Form der Teilzeitarbeit, die in unserem Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes in Art. 1 § 5 unter dem Stichwort „Arbeitsplatzteilung" behandelt wird.
Frau Kollegin Hürland, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin?
Bitte schön.
Frau Hürland, warum eigentlich muß Job-sharing bei Ihnen mit schlechteren Arbeitsbedingungen verbunden sein? Warum können Sie nicht einfach Job-sharing mit gleichen Arbeitsbedingungen machen, wie wir das wollen?
Frau Kollegin, wir haben gute Muster für Arbeitsverträge mit Job-sharing ausgearbeitet, die draußen von der Wirtschaft angewandt werden und gut ankommen. Ich selber habe bei meiner Tochter, die mit einer Kollegin in einem Krankenhaus Job-sharing macht, die besten Erfahrungen. Beide haben kleine Kinder. Beide wechseln sich ab, wenn ein Kind krank ist oder sonstige Dinge passieren, die die Anwesenheit der Hausfrau zu Hause erfordern.
— Weitere Fragen kann ich leider nicht beantworten. Ihre Frage habe ich beantwortet. Ich kenne Ihre Worte „Beantworten Sie meine Frage!" in diesem Hause zur Genüge. Diese Worte wiederholen Sie so oft, daß ich mich darauf nicht einlassen kann. Diese Worte sind so alt! Sie müssen sich einmal etwas Neues einfallen lassen.
— Ich weiß das, Frau Däubler-Gmelin. Wir haben uns j a neulich aus einem anderen Anlaß darüber unterhalten, wie heuchlerisch und pharisäerhaft etwas sein kann. Als Sie mich angesprochen haben, warum die FDP 6 Millionen DM bekommen habe,
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Frau Hürland
habe ich Sie gefragt: Und wo sind die 7,5 Millionen DM, die Sie von Herrn Nau bekommen haben? Darauf haben Sie gesagt: Pah, der ist ja tot.
Das ist die Ehrlichkeit Ihrer Überzeugung.
— Nein, ich gehe darauf nicht mehr ein.
Der Vorteil des Jobsharings liegt für Männer und Frauen in folgendem.
— Ich habe genügend Erfahrung mit Ihren Worten, Frau Däubler-Gmelin. Ich möchte jetzt fortfahren.
Qualifizierte Freizeitarbeit wird ermöglicht — —
Frau Hürland, ich darf Sie für einen Moment unterbrechen. — Ich wäre dankbar, wenn die Zwischenrufe nun ein bißchen zurückgestellt werden könnten und zugehört würde. Zwischenrufe sind zwar erlaubt, aber in der Massierung stören sie den Redner. Reden hat hier immer noch den Vorrang.
Ich habe bedauert, daß ich diese Erfahrung mit Ihnen machen mußte, Frau Däubler-Gmelin.
— Es geht um die Qualität der Aussagen.
Qualifizierte Teilzeitarbeit wird ermöglicht, und zwar durch Teilung normaler Arbeitsplätze.
— Das kommt auf den Standpunkt an. — Es gibt größere Flexibilität: Es können nicht nur halbtägige Teilzeitarbeit, sondern auch Dreiviertel- und ähnliche Teilzeitarbeitsplätze angeboten werden; am besten, Sie sehen sich unsere Musterverträge einmal an.
Im Grundsatz teile ich die Bedenken der SPD gegen die Zulassung einer generellen, im voraus vereinbarten Vertretungspflicht der Arbeitnehmer bei der Arbeitsplatzteilung. Die Kommission Familienlastenausgleich der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat deshalb gegen die jetzige Fassung des § 5 des Entwurfs des Beschäftigungsförderungsgesetzes Einwände erhoben. Der Bundesarbeitsminister hat daraufhin mitgeteilt, daß er die Bedenken der Kommission teilt, wonach die Zulassung einer generellen, im voraus vereinbarten Vertretungspflicht die Attraktivität dieser neuen Form der Teilzeitarbeit für die Arbeitnehmer einschränken und die angestrebten arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen gefährden könnte. Wir werden das im Gesetzgebungsverfahren weiterverfolgen.
Sie sehen also, meine Damen und Herren von der Opposision, es gibt Bereiche in Ihrem Gesetzentwurf und im Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes, in denen wir uns aufeinander zubewegen könnten. Deshalb haben wir der Beratung Ihres Gesetzentwurfes schon jetzt — ich bitte, das auch einmal zur Kenntnis zu nehmen und zu werten, wie auch wir ihr Entgegenkommen in solchen Gebieten werten — und unter Verzicht auf Fristerfordernisse zugestimmt. Dabei haben wir auf den Sachzusammenhang beider Gesetzentwürfe abgestellt. Wir haben also die Behandlung Ihrer Initiative aus Gründen des Sachzusammenhangs vorgezogen, wie wir andererseits Wert darauf legen, daß Initiativen Ihrerseits zurückgestellt werden, wenn sie im Sachzusammenhang mit Vorhaben der Koalition stehen, deren Beratung für einen absehbaren späteren Zeitpunkt vorgesehen ist.
Wir haben deshalb auch der Einbeziehung Ihres Entwurfes eines Gesetzes zum Schutz der Teilzeitbeschäftigten in die Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Beschäftigungsförderungsgesetz im Januar zugestimmt. Wir sind kooperativ im Interesse der Sache, und das heißt im Interesse der betroffenen Menschen.
Aber ob ansonsten der Gesetzentwurf den Interessen der Betroffenen gerecht wird, die Teilzeitbeschäftigungen suchen, so wie eingangs dargelegt, muß ich leider mit einem großen Fragezeichen versehen. In erheblichen Teilen und in seiner jetzigen Ausgestaltung wird Ihr Gesetzentwurf das Angebot von Teilzeitbeschäftigungen eher drastisch vermindern als ausweiten. Sie sind leider nicht zur eigentlichen Aufgabe vorgestoßen, zu dem worauf die Menschen, namentlich die Frauen, die Teilzeitbeschäftigung suchen, warten, sondern Sie sind zu sehr in Reglementierungen steckengeblieben.
Ich möchte daher nach allen Seiten für mehr Gemeinsamkeit der Frauen in diesem Hohen Haus werben, im Interesse der Verbesserung des Angebots von Teilzeitbeschäftigungen für Frauen und im Interesse flexiblerer Arbeitszeitgestaltungen für Männer und Frauen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Beratung des Gesetzentwurfes über Teilzeitarbeit, der j a gleichzeitig mit dem von der Regierungskoalition vorgelegten Artikelgesetz, hier insbesondere mit dem Artikel über Teilzeitarbeit, behandelt wird, wird es gut sein, uns in Erinne-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8371
Hoss
rung zu rufen und in Erinnerung zu halten, wie es um die Betroffenen steht und wie wir ihre Interessen durch ein möglichst gutes Gesetz, durch eine gute Regelung berücksichtigen können.
— Alle Betroffenen! —
Inzwischen haben wir 3,2 Millionen Frauen und zusätzlich 350 000 Männer in Teilzeitarbeit. Die Teilzeitarbeit nimmt also einen großen Raum ein und bedarf dringend der Regelung.
Warum nimmt die Teilarbeitszeit zu? Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens gehen Frauen und Männer auf eigenen Wunsch in die Teilzeitarbeit, weil sie eigene Auffassungen von der Gestaltung ihres Lebens haben, mit den vorgegebenen Regelungen — 40 Stunden — nicht einverstanden sind und deshalb eine kürzere Arbeitszeit wollen. Sie orientieren ihr Leben anders.
Der zweite Grund ergibt sich aus dem Zwang des Arbeitsmarktes. Es gibt viele Männer und Frauen, die gerne einen Vollzeitarbeitsplatz hätten, aber keinen kriegen und notgedrungen auf einen Teilzeitarbeitsplatz ausweichen. Ich rate Ihnen allen, die hier sitzen, einmal mit den Frauen zu sprechen, die die Räume hier, im Langen Eugen und im Hochhaus Tulpenfeld sauber machen.
Das sind Frauen, die aus dem Raum Aachen — also nicht aus der Stadt — hierher gefahren werden. Sie haben eine Anfahrtszeit von zwei Stunden. Sie stehen nachts um zwei Uhr auf, fangen hier um vier Uhr an und sind etwa gegen acht Uhr fertig, arbeiten also vier Stunden. Sie sind etwa gegen zehn Uhr, halb elf Uhr wieder zu Hause.
Solcherart Arbeitsverhältnisse gibt es sehr viele. Der Zwang des Arbeitsverhältnisses bringt viele Menschen dazu, sich zu solchen Bedingungen sozusagen zu verkaufen.
Deshalb ist es wichtig, daß Regelungen gefunden werden. Ich hoffe — ich habe die große Hoffnung, die aber bisher nie aufgegangen ist —, daß wirklich einmal auf allen Seiten des Hauses, unabhängig von den Parteien und den Programmen, von den Interessen der Betroffenen ausgegangen wird.
In diesem Zusammenhang sind auch solche Worte wie Flexibilisierung, die heute sehr im Schwange sind und von allen Seiten gebraucht werden, daraufhin zu überprüfen, ob das, was hinter solchen Worten steckt, tatsächlich den Betroffenen nützt oder nur dazu dient, vom Standpunkt des Unternehmens aus die Leute greifbarer und handhabbarer zu haben.
Der dritte Grund für die viele Teilzeitarbeit liegt darin — da bitte ich um Aufmerksamkeit —, daß wir die Frauen in einer Rolle festgeschrieben haben: Teilzeitarbeit sozusagen aus dem Zwang heraus, die sich aus der Rolle der Frau in der Familie ergibt, nämlich die Kinder und vielleicht auch andere Familienangehörige zu versorgen. Nur so ist es zu erklären, daß 92 % der Frauen und nur 8 % der Männer eine Teilzeitarbeit verrichten.
Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD zielt also darauf ab — insofern findet er unsere Unterstützung —, die arbeitsrechtliche und soziale Absicherung der Teilzeitarbeiterinnen und -arbeiter zu gewährleisten, und zwar sowohl hinsichtlich der Rentenversicherung als auch hinsichtlich der Krankenversicherung. Auch in bezug auf die Paragraphen, die die Kapovaz, die kapazitätsorientierte Arbeitszeit, behandelt, gibt der Entwurf eine Vorgabe, mit der man sich auseinandersetzen kann. Der Entwurf enthält allerdings kein direktes Verbot der kapazitätsorientierten Arbeitszeit, nämlich der Verfügbarhaltung von Arbeitskräften auf Abruf zu Hause am Telefon, wie das schon beschrieben worden ist.
Wir bringen in der ersten oder zweiten Sitzungswoche des nächsten Jahres einen Arbeitszeitgesetzentwurf ein, in dem das Verbot dieser sogenannten Kapovaz enthalten ist.
Man muß aber sagen, daß das, was in dem Entwurf der SPD zur Kapovaz steht, bedeutend besser ist als das, was Herr Blüm vorgelegt hat. Bei Herrn Blüm finden wir eine vorherige Anmeldung der Arbeitszeit, die zu erwarten ist, mit einer Frist von vier Tagen, während man nach dem SPD-Entwurf 14 Tage vorher die Arbeitszeit mitgeteilt bekommt und so in etwa disponieren kann. Dabei will ich aber darauf aufmerksam machen, daß das eine ziemliche Halbheit ist; denn stellen wir uns einmal eine Frau vor, die Kinder zu versorgen hat und dann alle 14 Tage umdisponieren muß, ihren Tagesablauf anders organisieren muß. Ich glaube daher, daß es besser wäre, die Kapovaz ganz zu verbieten. Wir werden jedenfalls in diesem Sinne einen Änderungsantrag einbringen.
Noch einige kritische Anmerkungen: Insgesamt sehen wir das positiv. Wir fragen uns, warum man bei der Arbeitslosenversicherung nicht ähnlich verfährt wie bei der Rentenversicherung und Krankenversicherung: Da nimmt man bis auf Bagatellfälle jeden Betrag in einem Arbeitsverhältnis — und seien es auch nur 300 DM oder 400 DM, die verdient werden — in die Rentenversicherung und die Versorgung mit rein, bei der Arbeitslosenversicherung geht man auf 17,5 Stunden. Das ist überhaupt nicht einsehbar.
Ich sehe, daß das Licht schon aufleuchtet. Die Teilzeitarbeit führt unter den gegebenen Bedingungen zu einer Verschärfung und Intensivierung, und wir müssen da auch die Frage der Pausen in der Teilzeitarbeit mit hineinnehmen. Wir haben in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, daß man persönlich verfügbare Zeiten hat, also 5 Minuten pro Stunde, die man auf Teilzeitarbeit gewähren muß.
Ich überschlage jetzt und sage nur den einen Satz: Wir werden die Anregungen in den Beratungen einbringen. Ich stelle fest, daß man sich in diesem Gesetzentwurf und bei Herrn Blüm erst recht
8372 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984
Hoss
keine Gedanken macht, wie man über innovative Gedanken die Rolle der Frau verändern kann, die durch diese Teilzeitarbeitsverhältnisse festgeschrieben wird.
Herr Abgeordneter, dies war schon ein ganzer voller Satz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man sollte Bedingungen schaffen, daß Männer und Frauen da gleichermaßen zu sehen sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Teilzeitarbeit ist sinnvoll und notwendig, und sie entspricht den Wünschen und Bedürfnissen von Millionen von Arbeitnehmern. Ich möchte, was die Ursachen anbelangt, dem Kollegen Hoss im Prinzip durchaus zustimmen: erstens Wunsch der Beteiligten, zweitens Arbeitsmarktlage und drittens, wenn auch nicht mit der Interpretation des Kollegen Hoss, durchaus der Wunsch der Frauen, neben ihrer Tätigkeit im Haushalt eine berufliche Tätigkeit ausüben zu dürfen, ohne Vollzeitarbeit zu leisten.
Wenn Sie einmal feststellen, wie das Verhältnis der offenen Teilzeitstellen zu den nachgefragten Stellen ist, dann werden Sie feststellen, daß es ein Verhältnis von 1 : 30 ist. Das beweist, daß die Notwendigkeit solcher Arbeitsplätze aus verschiedenen, zum Teil wünschenswerten, zum Teil beklagenswerten Ursachen vorhanden ist.
Deswegen möchte ich mich von dieser Stelle aus ausdrücklich gegen die Abqualifizierung der Teilzeitarbeit an sich wenden. Ich möchte auch ausdrücklich die Notwendigkeit der Regelung dieser neuen Arbeitsverhältnisse bejahen. Ich möchte dem Hohen Hause auch nicht verhehlen, daß ich aus eigener betrieblicher Erfahrung sagen kann, daß ich hervorragende Erfahrungen in der individuellen Gestaltung von Arbeitszeit mit solchen Teilzeitarbeitsverhältnissen gemacht habe, sehr zur Zufriedenheit der Arbeitnehmer und — damit kein Mißverständnis entsteht, Egon Lutz — nicht über die 390-DM-Regelung.
Wie notwendig mehr Teilzeitarbeitsplätze sind, wissen wir im Grunde genommen alle. Deswegen sollten wir uns bemühen, die Voraussetzung für die Schaffung solcher Teilzeitarbeitsplätze zu fördern und nicht zu behindern. Das sind wir im Grunde genommen denjenigen schuldig, die, aus welchen Gründen auch immer, diesen Wunsch nach Teilzeitarbeit haben. Ich glaube auch nicht, wenn ich alles, was an üblichen parteipolitischen Differenzen hier vorgetragen worden ist, abstreiche und richtig gewichte, daß es in der Zielsetzung keine großen Unterschiede gibt. Aber es gibt schon beachtliche Unterschiede auf dem Weg, wie wir dahin kommen wollen.
Mit dem Anke Fuchs, Egon Lutz und Herta Däubler-Gmelin eigenen Charme haben Sie alte, bekannte Vorschläge auf den Tisch gelegt, die zwischen uns schon oft streitig erörtert worden sind. Im Grunde genommen läuft es auf mehr Reglementierung, also letztlich auf weniger Teilzeitarbeitsplätze hinaus. Denn ob es uns paßt oder nicht, entschieden wird über das Angebot von Teilzeitarbeitsplätzen in den Betrieben. Die Betriebe bieten an, oder nicht, und deswegen ist die Regelung, die wir hier in dieser Frage treffen, entscheidend dafür, wie hoch später das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen sein wird. Jeder übertriebene Bürokratismus, den wir durch Regelungen schaffen, die, egal, ob über das Beschäftigungsförderungsgesetz oder diesen Gesetzentwurf, Teilzeitarbeitsplätze verhindern, wird mehr schaden als nützen.
Ausgehend von dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Voll- und Teilzeitbeschäftigten geht das Beschäftigungsförderungsgesetz im Gegensatz zu diesem vorliegende SPD-Gesetzentwurf davon aus, daß sachliche Gründe eine differenzierte Betrachtung rechtfertigen. Bedauerlicherweise trägt dieser Entwurf solchen Unterschieden nicht Rechnung. Im Grunde genommen wird alles über einen Kamm geschoren.
Ich will das an Beispielen erläutern. Ich vermisse in Ihrem Gesetzentwurf die notwendige Bestimmung, daß Teilzeitarbeitnehmer bei den Schwellenwerten mancher Beschäftigungszahlen anteilig berücksichtigt werden. Wenn Sie nach Köpfen zählen, wird insbesondere in kleineren Betrieben die Bereitschaft, Teilzeitarbeitsplätze einzurichten, notwendigerweise sinken. Ich bitte Sie, zu überlegen, ob hier nicht eine andere Berechnungsmethode — etwa das Addieren der Stunden — im Interesse von Teilzeitbeschäftigten sehr viel sinnvoller ist als der von Ihnen vorgeschlagene Weg.
Ebenso fehlt eine Regelung, die sicherstellt, daß der Übergang von einer Vollzeitbeschäftigung zu einer Teilzeittätigkeit in all den Fällen, in denen der Arbeitnehmer über der Pflichtversicherungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung lag und nun zwangsweise versicherungspflichtig würde, problemlos möglich ist. Wenn jemand, der sich freiwillig krankenversichern konnte, durch das Zurverfügungstellen eines halben Arbeitsplatzes zwangsversichert werden würde, wird das nicht die Bereitschaft fördern, einen solchen Schritt zu tun. Ich bitte diesem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen. Das ist ein Petitum, von dem ich auch im Hinblick auf das Beschäftigungsförderungsgesetz, Herr Staatssekretär Vogt, sehr bitten möchte, daß er im Beschäftigungsförderungsgesetz berücksichtigt wird. Das ist zur Zeit leider nicht der Fall. Wir hoffen hier nicht nur die SPD, sondern auch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung von der Richtigkeit dieser Argumentation überzeugen zu können.
In dem Entwurf finden wir darüber hinaus eine Vielfalt alter Bekannter. Man möchte fast sagen: Man kann immer wieder den Hut ziehen. Dazu gehört, um ein Beispiel zu nennen, die Regelung, daß Mehrarbeit ab der 21. Stunde als Überstunde gilt.
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Cronenberg
Abgesehen davon, daß das, wenn es so geregelt würde, letztlich wie das Hornberger Schießen oder wie bei Radio Eriwan ausginge, Egon Lutz — theoretisch ja, praktisch nein —, weil eine höhere Arbeitszeit vereinbart würde, bedeutet dies in der Praxis eine Verhinderung möglicher Teilzeitarbeitsplätze. Deswegen hat die IG Metall — nicht zu Unrecht — auf Überstundenvergütungen für solche Teilzeitarbeitsplätze im letzten Tarifvertrag verzichtet. Überstundenregelungen gibt es eben nur für Vollzeitbeschäftigte, und zwar auf Grund dieser Überlegung.
— Über den Freizeitausgleich kann man in der Tat reden. Das ist eine Möglichkeit.
Es muß nur gewährleistet sein, daß der Arbeitsplatz im Ergebnis nicht teurer wird.
Denn sonst würden weniger Arbeitsplätze angeboten.
Wer nach den Erfahrungen der Vergangenheit gedacht hatte, daß mit der Änderung der Geringfügigkeitsgrenze für sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten Einsicht bei der SPD eingekehrt wäre, hat sich geirrt, wie der Entwurf beweist.
— In der Tat können wir uns gegenseitig bescheinigen, daß sich unsere Standpunkte in dieser Frage nicht geändert haben, Herr Lutz. Das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Ich glaube, das ist aus guten Gründen so.
Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Wenn ich mich richtig erinnere, machen Sie eine rigorose Einschränkung, lassen Ausnahmen nur bei Tätigkeiten im Haushalt und bei karitativen, bei mildtätigen Organisationen zu.
Ich sage Ihnen: Das Ergebnis Ihrer Bemühungen wird sein, daß es — erstens — mehr Schwarzarbeit gibt und daß — zweitens — viele ganz bestimmte Tätigkeiten nicht mehr wahrgenommen werden, weil das zu teuer wird. Ich verkenne nicht, daß es große Probleme im Bereich der Rentenversicherung gibt. Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, daß das insbesondere für Frauen, die solche Arbeiten leisten, ein großes Problem ist. Aber dieses Problem wird durch Ihren Vorschlag deswegen nicht gemindert, weil es keine Umwandlung in versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse geben wird; die Arbeitsplätze werden überhaupt nicht mehr zur Verfügung stehen. Deswegen ist die vorgesehene Regelung nicht zu begrüßen.
Herr Abgeordneter Cronenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Däubler?
Jawohl, Herr Präsident.
Was ich nicht verstehe, ist, daß Sie meinen, daß die Schwarzarbeit zunimmt. Ich meine, Schwarzarbeit ist, wenn Facharbeiter samstags arbeiten, damit sie keine Sozialversicherung zahlen müssen. Wenn wir davon ausgehen, daß wir bestimmte Mißbräuche im Bereich unter 390 DM verhindern wollen, und deswegen sagen, wir senken die Grenze oder wir schaffen sie ganz ab: Wo ist Ihrer Meinung nach die Möglichkeit, daß hier in Schwarzarbeit übergegangen wird?
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, leider ist es nicht so, daß ausschließlich oder schwergewichtig diese SamstagsFacharbeiter-Schwarzarbeit vorhanden ist. Wir müssen vielmehr mit großer Besorgnis feststellen, daß auch und gerade im Bereich der kleineren und mittleren Betriebe Schwarzarbeit angeboten und teilweise von Menschen angenommen wird, die Arbeitslosenunterstützung oder Arbeitslosenhilfe bekommen. Sie können sicher sein, daß dieser Mißbrauch in größerem Umfang betrieben wird, als wir denken.
— Ich habe bedauerlicherweise nur noch eine Minute. Ich möchte noch einen Satz loswerden, den ich für die weitere Diskussion für wichtig halte. Ich halte es nicht für gut, diese Kapovaz zu tabuisieren. Ich glaube, daß ein reales Bedürfnis dafür vorliegt. Ich habe aber sehr viel Verständnis dafür, daß das Angebot von Arbeitsleistung in einem vernünftigen Verhältnis zur Inanspruchnahme stehen muß. Unerträglich lange Wartezeiten oder zu lange unentgeltliche Wartezeiten halte ich in der Tat für unzumutbar. Wir werden bei den Beratungen beider Gesetzentwürfe auf diesen Punkt großen Wert legen müssen; denn das wäre in der Tat eine Methode, nach einer ganz bestimmten Bedarfssituation Arbeit in Anspruch zu nehmen, bei der der zeitliche Aufwand und das Angebot nicht im angemessenen Verhältnis stehen.
Ich darf also alles in allem feststellen, daß dieser Gesetzentwurf meiner Überzeugung nach Teilzeitarbeit nicht fördern wird und deswegen nicht unsere Zustimmung findet.
Lassen Sie mich aber abschließend noch einen Satz sagen. Wir werden infolge der technischen und technologischen Entwicklung, die nicht nur ein Zwang ist, der uns bedrückt, sondern auch sehr viele Chancen beinhaltet, dafür Sorge tragen müssen, daß die Individualisierung von Arbeit — das Wort „Flexibilisierung" hat Herr Kollege Hoss hier nicht besonders geliebt — eine Chance erhält. Wir werden sie zu nutzen haben. Wir müssen dafür praktikable Voraussetzung schaffen, ohne daß im unangenehmen Sinne des Wortes — wie Sie gesagt haben — Ausbeutung möglich ist.
Die Beratung beider Gesetzentwürfe ist sicher eine vernünftige Grundlage hierfür.
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Cronenberg Herzlichen Dank.
Das Wort hat noch für eine Minute die Abgeordnete Frau Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat haben wir zwei verschiedene Konzepte vorliegen, den Blümschen Entwurf und unseren Entwurf. Ich glaube — jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Hürland — auch Sie werden sich entscheiden müssen.
Wenn wir Teilzeitarbeit aus dem Ghetto der entrechteten Arbeit herausnehmen wollen, können wir schlechtere Arbeitsbedingungen oder eine Durchbrechung des arbeits- und sozialrechtlichen Schutzes nicht zulassen. Nicht die Frauen, die Teilzeitarbeit leisten, müssen mehr Flexibilität zeigen. Ich habe den Eindruck, daß Sie von der rechten Seite des Hauses diese Flexibilität zeigen müssen. Sie werden sich entscheiden müssen.
Gestatten Sie mir den Hinweis, Frau Hürland: Sie werden in den kommenden Beratungen durch irgendwelche finsteren Verdächtigungen, die ebenso lächerlich wie abstrus sind, nicht davon ablenken können, daß das, was Sie bisher zu Job-sharing sagen, Teilzeitarbeit plus Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Frauen bedeutet.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/2559 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie zur Mitberatung und zur Beratung nach § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung wirtschaftsrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 10/1790 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 10/2579 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Jens
Ich wäre dankbar, wenn die Kollegen noch einen Moment blieben. Wir brauchen sie zur Abstimmung.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?
— Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfasssung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind bei einer Reihe von Enthaltungen, die fast die Mehrheit waren, mit Mehrheit angenommen.
— Dies würde aber, wie Sie wissen, keine Bedeutung haben.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei einer Reihe von Enthaltungen mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Frau Dr. Bard, Bastian, Baum, Frau Beck-Oberdorf, Bernrath, Berschkeit, Burgmann, Daubertshäuser, Drabiniok, Dr. Ehmke (Ettlingen), Fischer (Frankfurt), Frau Fuchs (Köln), Gilges, Frau Gottwald, Herterich, Frau Dr. Hickel, Dr. Holtz, Horacek, Hoss, Ibrügger, Dr. Jannsen, Frau Kelly, Kleinert (Marburg), Kretkowski, Krizsan, Lennartz, Frau Matthäus-Maier, Frau Nickels, Dr. Nöbel, Frau Potthast, Frau Reetz, Reents, Frau Renger, Sauermilch, Schily, Schlatter, Schneider (Berlin), Frau Schoppe, Schwenninger, Stratmann, Verheyen (Bielefeld), Vogt (Kaiserslautern), Frau Dr. Vollmer, Vosen, Wiefel, Wischneski
S-Bahn Köln
zu dem Antrag der Abgeordneten Milz, Straßmeir, Schmitz Dr. Möller, Müller (Wesseling), Müller (Remscheid), Herkenrath, Krey, Braun, Louven, Wimmer (Neuss), Lamers, Broll, Dr. Daniels, Günther, Hauser (Krefeld), Dr. Kronenberg, Dr. Hupka, Pesch, Wilz, Dr. Pohlmeier, Schemken, Dr. Blank, Dr. Blens, Hanz (Dahlen), Bühler (Bruchsal), Fischer (Hamburg), Tillmann, Seesing, Dr. Pinger, Weiß, Dr. Hüsch, Haungs, Nelle, Bohlsen, Pfeffermann, Hoffie, Kohn, Paintner, Dr. Weng und der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
S-Bahn im Kölner Raum
— Drucksachen 10/1376, 10/1724 , 10/2573 —
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1984 8375
Vizepräsident Westphal
Berichterstatter:
Abgeordnete Kretkowski Milz
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? —
— Die beiden Punkte in getrennter Abstimmung?
— Einen Augenblick!
Wir haben zwei Anträge. Wie sieht die Beschlußempfehlung aus?
Ich habe nur eine Möglichkeit, abstimmen zu lassen, zumal es im Ausschuß Einmütigkeit gegeben hat. Es tut mir leid, es geht nicht anders.
Zur Berichterstattung ist nicht das Wort gewünscht. — Das Wort zur Aussprache wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 10/2573 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist bei einer Reihe von Enthaltungen mit Mehrheit angenommen.
Die Vorlage zu Tagesordnungspunkt 19 ist zurückgezogen worden.
Ich rufe deshalb die Tagesordnungspunkte 20 und 21 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Einführung einer Beihilfe für die Wanderhaltung von Schafen, Ziegen und Rindern in Griechenland
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Verstärkung der Dienststellen für Qualitätskontrollen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen in Griechenland
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Ermächtigung Griechenlands, eine Beihilfe für den Transport von Produktionsmitteln nach bestimmten Inseln zu gewähren
— Drucksachen 10/1691 Nr. 12, 10/2534 — Berichterstatter:
Abgeordneter Sauter
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung
a) Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Verwendung von Isoglukose bei der Herstellung bestimmter Erzeugnisse im Sinne von Artikel 31 der Verordnung (EWG) Nr. 1785/81
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1400/78 zur Festlegung von Grundregeln für die Erstattung bei der Erzeugung für in der chemischen Industrie verwendeten Zucker
b) Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Festlegung der Grundregeln für die Verwendung von Zucker bei der Herstellung bestimmter Erzeugnisse der chemischen Industrie im Sinne von Artikel 31 der Verordnung (EWG) Nr. 1785/81
— Drucksachen 10/1589 Nr. 1, 10/1589 Nr. 5, 10/2547 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Wimmer
Das Wort wird nicht gewünscht. Die Empfehlungen des Ausschusses sind einmütig beschlossen. Ich lasse deshalb über die Vorlagen gemeinsam abstimmen. Wer den Beschlußempfehlungen des Ausschusses auf den Drucksachen 10/2534 und 10/2547 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist gegen eine Reihe von Stimmen angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Dezember 1984, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.