Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP nach Artikel 67 des Grundgesetzes
— Drucksache 9/2004 —
Meine Damen und Herren, in der gestrigen Sitzung des Ältestenrates wurde vereinbart, daß zunächst der Herr Bundeskanzler das Wort zur Abgabe einer Erklärung erhält. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialliberale Koalition, deren gewählter Bundeskanzler heute durch ein Mißtrauensvotum gestürzt werden soll, hat 1980 durch die Wählerinnen und Wähler eine überzeugende Bestätigung und einen Auftrag für weitere vier Jahre bekommen.
Die Mehrheit der Wähler hatte weder 1976 Herrn Dr. Kohl noch 1980 Herrn Strauß in das Amt des Bundeskanzlers berufen wollen.
Der Vorsitzende der FDP hatte auf dem Wahlparteitag seiner Partei am 6. Juni 1980 erklärt: „Wer FDP wählt, garantiert, daß Schmidt Bundeskanzler bleibt ... der Wähler soll wissen, woran er ist, ... ohne Wenn und ohne Aber ... Die Entscheidung über uns ist die Entscheidung über die Fortführung der Koalition."
Mit meinem Namen, auch auf ihren Wahlplakaten, hat die FDP im Oktober 1980 ein sehr gutes Wahlergebnis erzielt, und unmittelbar nach der Wahl haben die Parteivorsitzenden von SPD und FDP in einer gemeinsamen Verlautbarung den Willen zum Zusammenwirken und zur gemeinsamen Verantwortung „für Freiheit und sozialen Fortschritt" auch fürdie kommenden vier Jahre ausdrücklich bekräftigt.Seit dem August des vorigen Jahres ist der Vorsitzende der FDP zielstrebig und schrittweise von allen früheren Erklärungen abgerückt. Am 9. September habe ich ihn von dieser Stelle aus zu einer klaren Antwort aufgefordert. Es hätte zu der Antwort nur eines einzigen Satzes bedurft. Aber dieser eine Satz „Wir stehen fest zur sozialliberalen Koalition" wurde absichtsvoll vermieden.Statt dessen hat die FDP acht Tage später, in der Bundestagssitzung am Freitag, dem 17. September, diesem Haus und dem deutschen Volk sehr fadenscheinige Erklärungen vorgetragen. Über viele Jahre, Herr Kollege Genscher, werden die Bürger dieses Verhalten nicht vergessen.
Am letzten Sonntag hatten die hessischen Wählerinnen und Wähler Gelegenheit, hierzu ihre Meinung zu sagen. Jeder weiß: Die katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Antwort der Wähler auf das Verhalten der FDP-Führung hier in Bonn.
Mehr als drei Viertel der Bürgerinnen und Bürger sind für Neuwahlen zum Bundestag. Sie empfinden die Art des Wechsels, der heute von Ihnen in geheimer Abstimmung herbeigeführt werden soll, als Vertrauensbruch.
Sie sind bitter darüber, vorausgegangene Erklärungen nachträglich als Täuschung bewerten zu müssen.
Dabei wissen die Bürger, daß das Grundgesetz Ihnen diese Handlungsweise ermöglicht. Ihre Hand-
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7160 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Bundeskanzler Schmidtlungsweise ist zwar legal, aber sie hat keine innere, keine moralische Rechtfertigung.
Und weil Sie alle auf der rechten Seite des Hauses dies spüren, haben die Parteien der CDU, der CSU und der FDP öffentlich verlauten lassen, sie wollten im März 1983 Neuwahlen herbeiführen. Ich setze Zweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankündigung.
Es ist schließlich erst drei Wochen her, daß viele CDU- und CSU-Führungspersonen öffentlich und dringlich nach Neuwahlen jetzt verlangt haben,
tatsächlich aber seither einer Auflösung des Bundestages — die Ihnen angeboten war, Herr Kollege — und damit einer Neuwahl ausgewichen sind, sorgfältig ausgewichen sind.
Dies gilt auch und besonders für den Vorsitzenden der CSU. Auch er hat seine Forderung nach Neuwahlen jetzt, seit dem hessischen Wahlsonntag und dem unerwartet schlechten Abschneiden der CDU, zurückgenommen.
Deshalb wende ich mich an den Oppositionsführer. Herr Dr. Kohl, Sie wissen von dem Brief des Herrn Bundespräsidenten, den dieser am 29. September — vorgestern — an unseren Kollegen Bindig gerichtet und veröffentlicht hat. Der Bundespräsident erklärt darin, er könne die von Ihnen ins Auge gefaßte Prozedur für Neuwahlen zum Bundestag Anfang März 1983 gegenwärtig nicht abschließend beurteilen. Er erklärt, seine pflichtgemäß zu treffende Ermessensentscheidung könne unter Abwägung aller relevanten Umstände erst dann getroffen werden, wenn ein Bundeskanzler den Bundespräsidenten ins Spiel bringt.In gebotener Zurückhaltung hat damit der Bundespräsident seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zwischen Ihnen, Herr Dr. Kohl, und Herrn Genscher getroffene Abrede zum Ausdruck gebracht.Ich halte es danach für sehr unwahrscheinlich, daß Sie tatsächlich im Januar eine Auflösung des Bundestages herbeiführen werden, damit am 6. März gewählt werden kann. Denn über Ihre Neuwahl-Absicht habe ich in dem in den letzten Tagen von den deutschen Zeitungen veröffentlichten schriftlichen Ergebnis Ihrer Koalitionsgespräche mit der FDP auf insgesamt 22 Seiten kein einziges Wort finden können.
Herr Dr. Kohl, Sie streben eine andere Bundesregierung an. Weil eine solche Bundesregierung nicht aus einem neugewählten Bundestag hervorgehen kann, war Ihre bisherige Ankündigung von Neuwahlen — wenigstens binnen sechs Monaten — durchaus folgerichtig. Sie sollte ja auch aufgebrachte Wählerinnen und Wähler beschwichtigen. Ihre wahrheitswidrige Parole vom „Staatsnotstand" soll ja auch nur davon ablenken, daß Ihnen sofortige Neuwahlen unerwünscht sind. Man darf aber eine Regierung nicht auf Unklarheiten aufbauen.
Ich höre, daß Ihr Kollege Dr. Barzel nach mir sprechen wird.
— Ich billige Ihren Beifall an der Stelle. Herr Barzel hat manchmal auch meinen Beifall. Aber bitte, Herr Dr. Barzel, erklären Sie dann heute morgen für die CDU/CSU dem Bundestag gegenüber und damit dem ganzen Volk gegenüber — ohne Wenn und Aber! —, daß wir am 6. März einen neuen Bundestag wählen werden und auf welche Weise Herr Dr. Kohl zu diesem Zwecke die Auflösung des Bundestages herbeiführen wird.
Wenn die CDU/CSU eine solche Erklärung heute unterlassen sollte, so mag das zwar den FDP-Vorsitzenden beruhigen. Aber Sie gefährden damit die Glaubwürdigkeit von CDU und CSU und FDP insgesamt.
Und Sie würden damit den Eindruck vertiefen, daß diese drei Parteien sich hier im Bundeshaus in Bonn — weit entfernt von der Stimmung im Lande — zu einem Manöver einigen, das von unseren Bürgern weit überwiegend mißbilligt wird.
Dieser Regierungswechsel, den Sie anstreben, berührt die Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Institutionen.
Aber auch andere Werte könnten auf dem Spiele stehen. Ich habe die Absicht, mich dazu in zwölf Punkten zu äußern.Erstens. Glaubwürdigkeit der Institutionen und der handelnden Personen ist eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für die Lebensfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft und eines demokratischen Staates. Wenn die Bürger nicht an die ehrlichen Absichten der an der Spitze des Staates handelnden Personen glauben können, dann wird es den Bürgern sehr schwer gemacht, überhaupt an die Demokratie zu glauben.
Je größer die Glaubwürdigkeitslücken, desto geringer die Handlungsfähigkeit von Parlament und Regierung.
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Bundeskanzler SchmidtAber umgekehrt gilt auch: Je klarer die moralische Legitimation einer Regierung — —
Je klarer ihre moralische Legitimation, desto größer ihre Fähigkeit, auch in kritischen Situationen die Bürger innerlich für die Regierungshandlungen aufzuschließen und zu gewinnen.
Ich füge hinzu: In dem Wort Glaubwürdigkeit steckt das gewichtige Wort „Würde".
Unsere Demokratie braucht Würde.
Für einen großen Teil der jungen Generation ist die Glaubwürdigkeit wichtiger Institutionen gegenwärtig stark gefährdet.
Viele von uns Älteren finden es schwierig, die kritische Jugend zu verstehen. Manche von uns — auch ich selbst — haben inzwischen manches dazugelernt. Aber es kommt darauf an, daß beide Seiten dazulernen, daß beide Seiten sich wirklich ernst nehmen.Wir müssen uns gegenseitig in unseren Sorgen und Angsten, aber auch in unseren Hoffnungen und in unseren Überzeugungen ernst nehmen und uns zu verstehen suchen. Ohne Idealismus der Bürger gibt es keinen moralischen Staat; ohne wägende Vernunft kann blinder Idealismus zur politischen Romantik und damit in Gefahr führen.
Zur Glaubwürdigkeit der Demokratie gehört der Wechsel der Regierungen. Deshalb beklage ich mich nicht, wenn die sozialliberale Bundesregierung ihre Verantwortung abgeben muß. Was ich jedoch beklage, ist der Mangel an Glaubwürdigkeit dieses Wechsels und dieser Art eines Regierungswechsels.
Der Stil, die Hektik und Geschäftigkeit, die Hast und Eile, in der unzureichende Grundlagen einer neuen Regierung aufs Papier gebracht worden sind, offenbart eine Geringschätzung der Wähler.
Zweitens. Die Nation hat verstanden, daß ihr Lebensinteresse eine Politik der guten Nachbarschaft in Mitteleuropa gebietet. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands haben in uns Deutschen eine starke Sehnsucht nach der Dauerhaftigkeit des Friedens bewirkt. Deutsche Außenpolitik muß vom Geist der Friedensbereitschaft und der Friedfertigkeit geprägt sein und bleiben.Ich füge hinzu: Auch der Friedfertige kann sich nicht darauf verlassen, daß seine eigene Friedenssehnsucht schon ausreicht, um den Frieden zu bewahren. Der Friede muß immer wieder neu gestiftet werden. Er muß insbesondere gestiftet werden zwischen solchen Staaten, die sich gegenseitig mißtrauen und die sich gegenseitig bedrohen. Gerade sie müssen miteinander reden und aufeinander hören. Partnerschaft ist unabweisbar notwendig gerade unter Staaten entgegengesetzter Grundordnungen, entgegengesetzter Interessen und Ideologien.Drittens. Wir halten fest an der Europäischen Gemeinschaft und am Nordatlantischen Bündnis. Nur gemeinsam können wir unsere Freiheiten wahren und unseren wirtschaftlichen Wohlstand mehren. Diese Gemeinschaften sind und wollen sein Gemeinschaften von liberalen, von rechtsstaatlichen Demokratien. Sie sind von gemeinsamen Werten geprägt. Dies ist und bleibt, wie ich denke, gemeinsame Auffassung aller Parteien dieses Bundestages.
Ich möchte hinzufügen: Die Nordatlantische Allianz entspricht den gemeinsamen Interessen der Europäer und der Nordamerikaner in den USA und in Kanada. Nur gemeinsam können sie alle ihre Sicherheit und ihre Freiheit, ihren Frieden bewahren.Zugleich ist die Allianz eines der wichtigsten Verbindungsglieder für die deutsch-amerikanische Freundschaft. Wir Deutsche haben die Freiheitsrechte des einzelnen als geistiges Erbe aus der großen amerikanischen Revolution übernommen. Wir sind einander durch Grundwerte verbunden — so sehr wir uns auch voneinander unterscheiden. In solcher Freundschaft ist gegenseitige Kritik notwendig und hilfreich. Wer gegenüber dem Freunde Kritik unterdrückt, kann auf die Dauer kein guter Freund bleiben.
Wer seine eigenen Interessen gegenüber dem Freunde nicht vertritt, kann eben dadurch Respekt und Freundschaft verlieren.
Gerade weil ich vier amerikanischen Präsidenten und Administrationen ein kritischer Partner gewesen bin, bekenne ich mich in dieser Stunde noch einmal zur deutsch-amerikanischen Freundschaft.
Auch die deutsch-französische Zusammenarbeit — vor 20 Jahren von Adenauer und de Gaulle durch den Elysee-Vertrag, durch die Umarmung in der Kathedrale von Reims eingeleitet — muß ein tragender Pfeiler in der Politik beider Staaten bleiben,
und zwar unabhängig davon, wer in Paris und wer in Bonn die Regierungen führt. Die außerordentlich enge Zusammenarbeit mit den französischen Präsidenten Giscard d'Estaing und François Mitterrand hat mich mit großer politischer und ebenso mit menschlicher Befriedigung erfüllt. Wir Sozialdemokraten werden auch in Zukunft beharrlich für eine7162 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982Bundeskanzler SchmidtAusweitung der deutsch-französischen Zusammenarbeit eintreten.
Viertens. Deutsche Außenpolitik muß die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertiefen. Ungeachtet aller ideologischen, aller außenpolitischen Meinungsunterschiede brauchen wir ein Verhältnis guter Nachbarschaft. Die Ostverträge müssen nicht nur eingehalten, sondern sie müssen auch praktisch angewendet und weiterhin entfaltet werden.
Ich füge hinzu: Dazu gehört auch das auf 25 Jahre angelegte wirtschaftliche Kooperationsabkommen mit der Sowjetunion.
Aber die Völker der Sowjetunion, die Völker Osteuropas und wir im Westen, wir haben einander mehr zu bieten als Erdgas und als Röhren und als Weizen.
Wir haben uns zu bieten die gemeinsame Erfahrung aus dem bisher schrecklichsten Kriege, und — dies ist dann eines der versöhnlichen Elemente — wir haben uns zu bieten wechselseitige Beiträge zur Kultur Europas.
Auch unsere tiefe Bedrückung über das Kriegsrecht in der Volksrepublik Polen darf und wird unseren Willen zur Versöhnung mit der polnischen Nation nicht beeinträchtigen.
Eingedenk der Höhen und schlimmen Tiefen über zehn Jahrhunderte deutsch-polnischer Geschichte haben mein Amtsvorgänger Willy Brandt und später auch ich einen neuen Anfang in den deutsch-polnischen Beziehungen eingeleitet; diese bedürfen auch in Zukunft aufrichtiger, nicht nachlassender Bemühungen.
Ich habe gestern den ausländischen Botschaftern die Stetigkeit der deutschen Außenpolitik erläutert. Herr Dr. Kohl: Sozialdemokraten werden sehr sorgfältig darüber wachen, daß die Grundlinien nicht unter dem Deckmantel bloß angeblicher Kontinuität und angeblicher Verläßlichkeit verborgen werden.
Die Bundesrepublik Deutschland hat gestern in New York — da die Zeitungen hier auf innenpolitische Ereignisse konzentriert sind, ist das gegenwärtig noch nicht ins Bewußtsein gedrungen — im Forum der Vereinten Nationen, in dem Staatsminister Wischnewski die Außenpolitik unseres Staates dar-legte, eine überwältigende Demonstration des Vertrauens der Vertreter aller Staaten der Welt in unsere Außenpolitik gefunden. Ich bitte Sie herzlich, dieses Kapital zu bewahren.
Fünftens. Der Sinn unserer Deutschlandpolitik, der innerste Kern, ist die Erhaltung der Einheit der Nation. Beide deutschen Staaten sind sich ihrer Verantwortung für den Frieden bewußt. Die Bundesrepublik darf den Dialog mit der Führung der DDR nicht abreißen lassen. Wir müssen alle Chancen wahrnehmen, die Zusammengehörigkeit aller Deutschen zu stärken und praktisch erlebbar zu machen.Wir dürfen die Hoffnungen der Deutschen in der DDR nicht enttäuschen: Die Bürgerinnen und Bürger der DDR müssen täglich spüren können, daß wir sie nicht nur unsere Landsleute nennen, sondern daß wir ihnen täglich als Landsleute gegenübertreten, daß wir zu ihnen gehören. Daß sie Bürger eines anderen Staates sind, darf unsere Haltung nicht beeinträchtigen.Ich füge hinzu: Herr Dr. Kohl, Ihre Koalitionsvereinbarung, die in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, enthält bisher zur Deutschlandpolitik nur ein leeres Blatt.
Ich bitte Sie eindringlich, dieses Blatt auszufüllen und sich dabei nicht auf die Wiederholung alter Formeln zu beschränken.
Sie haben meinen Besuch bei dem Generalsekretär der SED kritisiert. Ich aber weiß, daß dieser Besuch Millionen Deutschen Mut gemacht hat, der Abgrenzungsideologie der Funktionäre zu widerstehen.
Auch ich werde den Besuch im Dom zu Güstrow nicht vergessen, umgeben von all diesen Sicherheitsbeamten, in einer Kirche, in der Bischof Rathke zu Herrn Honecker und zu mir über die Friedenspflicht des Christenmenschen gesprochen hat.Es ist wahr, wir haben an die DDR nichts zu verschenken. Auch in Zukunft muß zäh verhandelt werden. Aber Deutschlandpolitik muß auch in Zukunft durch die sprichwörtlichen kleinen Schritte dazu helfen, daß Deutsche sich treffen können, daß sie miteinander reden können
und daß sie sich praktisch als Angehörige eines und desselben Volkes erleben.Sechstens. Mit der Bundeswehr leisten wir unseren Beitrag zur gemeinsamen westlichen Verteidigung. Sie hat Gewicht im Kräftefeld zwischen West und Ost; sie ist ein unübersehbares Element der Friedenssicherung. Solange ein einvernehmlich begrenztes, niedrigeres Gleichgewicht der Streitkräfte nicht erreicht ist, mindestens so lange muß es bei
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Bundeskanzler Schmidtder gemeinsamen westlichen Strategie der Abschreckung bleiben. Das heißt mit anderen Worten: Unsere Bundeswehr muß kämpfen können, damit sie niemals wirklich zu kämpfen braucht.
Ich füge hinzu: Die Bundeswehr findet in unserem Land breite Zustimmung. Die Wehrpflicht, die Theodor Heuss zu Recht „das legitime Kind der Demokratie" genannt hat, ist die notwendige Klammer zwischen Armee und Volk. Es befriedigt uns zu sehen, daß auch Gewerkschaften und Bundeswehr Verständnis füreinander gefunden haben.Die Qualität unserer Streitkräfte und unserer Soldaten zeigt: Nicht ein hoher Rüstungshaushalt ist die Hauptsache, sondern die Männer sind die Hauptsache, ihre Motivation und ihre Ausbildung.
Zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren sind deutsche Streitkräfte völlig frei davon, ein Faktor der Innenpolitik sein zu wollen. Wer geschichtlich denken kann, der muß dies als einen unschätzbaren Fortschritt bewerten. Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, hierzu entscheidend beigetragen zu haben.
Wer — anders — als Kriegsdienstverweigerer einen schwierigen Ersatzdienst auf sich nimmt, der verdient den gleichen Respekt wie der wehrpflichtige Soldat.
Es wird im Interesse der jungen Männer, Herr Dr. Kohl und Herr Strauß, höchste Zeit, daß CSU und CDU endlich ihren inneren Streit beenden, der schon allzu lange die notwendige Novellierung des Kriegsdienstverweigerungsrechts behindert hat.
Siebtens. Der weltweite Rüstungswettlauf bedroht den Frieden. Zur Politik der vereinbarten schrittweisen Abrüstung, des vereinbarten Gleichgewichts auf niedrigerer Ebene, gibt es keine vernünftige friedenspolitische Alternative.
Denn weder der Westen noch der Osten kann allein seinen Frieden garantieren. Sicherer Friede bedarf der Sicherheitspartnerschaft beider Seiten, der Partnerschaft zum Frieden.Ich füge hinzu: als ein Land, das sich verpflichtet hat, eigene Atomwaffen weder zu besitzen noch anzustreben, muß die Bundesrepublik hartnäckig auf unserem vertraglichen Anspruch bestehen, daß die Großmächte ihre Kernwaffenarsenale abrüsten.
Als ein Stationierungsland haben wir Deutschen ein vitales Interesse besonders an den Genfer INF-Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen.Wir müssen diese Verhandlungen kritisch und anregend begleiten. Wenn aber die Verhandlungen trotz größter Anstrengungen unserer amerikanischen Freunde dennoch erfolglos bleiben sollten, so brauchen wir ein entsprechendes Gegengewicht gegen die uns bedrohenden sowjetischen SS-20-Raketen.
Verhandlungen und Verträge über Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sind heute Bestandteil umfassender strategischer Konzeptionen geworden. Die in Nordamerika und in Europa begonnene öffentliche Strategiediskussion darf nicht abgebrochen, sie muß vielmehr vertieft werden. Alle Regierungen — in Ost und West — müssen sich der dringenden Frage ihrer Bürger und der Frage der Friedensbewegungen in all den Ländern stellen, wie sie die Gefahren des Rüstungswettlaufs bannen, wann sie endlich aus dem Teufelskreis ausbrechen wollen.Die Antwort darauf kann nicht in einseitiger Abrüstung liegen, weil sie uns militärisch und politisch erpreßbar machen würde. Die Antwort kann ebenso wenig in einseitiger Aufrüstung gesucht werden.
Achtens. Alle Volkswirtschaften befinden sich gegenwärtig in einem tief krisenhaften Anpassungsprozeß. Dabei hat für uns der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit — und das heißt, der Kampf für ein neues Wirtschaftswachstum — den Vorrang. Auch aus eigenem Interesse an Arbeitsplätzen und am Wachstum muß die Bundesrepublik fortfahren, ihr internationales Gewicht gegen den Protektionismus in die Waagschale zu werfen, der sich heute über die ganze Welt ausbreitet.Binnenwirtschaftlich dürfen weder Bundesregierung noch Landesregierungen und Städte durch eine deflationistische Haushaltspolitik zur Schrumpfung der Nachfrage beitragen.
Nachfrageschrumpfung wird nicht zur Belebung der Investitionstätigkeit führen. Die Bundesbank muß endlich entschieden zur Zinssenkung beitragen. Sie hat ihren Spielraum bisher keineswegs ausgenutzt.
Ich füge hinzu: Die Spitzenposition unserer Volkswirtschaft kann nur dann behauptet werden, wenn Leistungwille und Verantwortungsbereitschaft der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften gestärkt werden; nicht aber darf man sie schwächen. Die Bewahrung eines stabilen sozialen Sicherungsnetzes als Ausdruck einer solidarischen Gesellschaft und der soziale Konsens sind unerläßliche Voraussetzungen dafür.Wir haben zwischen zwei extremen ökonomischen Theorien, wie sie heute in einigen Staaten des Westens tatsächlich ausprobiert werden, einen mittleren Kurs gewählt. Wir haben weder eine inflationistische Ausweitung des Staatskredits noch eine de-
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7164 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Bundeskanzler Schmidtflationistische Schrumpfungspolitik betrieben. Dies hat sich ausgezahlt: Unsere Zahlungsbilanz ist gesund, unsere Währung ist stabil, der Preisanstieg in der Bundesrepublik ist der geringste in der Europäischen Gemeinschaft, aber unsere realen Löhne sind die höchsten in der Europäischen Gemeinschaft.
Ich warne vor den Folgen einer deflationistischen Politik.
CDU, CSU und FDP wollen nach ihren veröffentlichten Vereinbarungen die Haushalte kürzen und damit die allgemeine Nachfrage senken oder drosseln. Sie wollen für die Wirtschaft Steuern senken, obgleich schon heute die steuerliche Situation für die Unternehmen die günstigste seit der Währungsreform ist, schon heute!
Es soll hier „Angebotspolitik" kopiert werden. Sie wird genau wie in Amerika, wo das zwei Jahre früher probiert wurde, im Ergebnis zu stärkerer Arbeitslosigkeit führen.
Die Sache wird nicht dadurch besser, daß CDU/ CSU und FDP-Führung die Steuervergünstigungen durch eine Umsatzsteuererhöhung ausgleichen wollen, die jedermann tragen muß und die Sie, meine Damen und Herren von der CDU, uns Anfang des Jahres, als wir sie für die Investitionszulage verwenden wollten, mit der Begründung angeblicher Wirtschaftsfeindlichkeit abgelehnt haben.
Das Monstrum einer Zwangsanleihe erhöht völlig überflüssigerweise die von Ihnen bisher so laut beklagte Staatsverschuldung.
Ökonomisch hat die Zwangsanleihe keinen Sinn; sie ist eine Konstruktion, die nur den Zweck hat, das Gesicht des früheren Wirtschaftsministers wahren zu helfen.
Der Gesamtansatz Ihrer öffentlich dargelegten Finanz- und Wirtschaftspolitik ist verfehlt. Er kann bestenfalls eine kurze Scheinblüte auslösen,
die nach wenigen Monaten einer sich verstärkenden Arbeitslosigkeit weichen wird.
Ich verstehe, daß Sie für diesen Fall schon heute vorbauen möchten, indem Sie den Sozialdemokraten nachträglich und wider besseres Wissen Schuld anlasten wollen. Aber der kritische Bürger durchschaut diese Absicht Ihrer bösen Legendenbildung!
Neuntens. Wir alle spüren, wie im Westen, in den kommunistischen Ländern, auch in der Dritten Welt Millionen Menschen sich immer stärker um ihre natürliche Umwelt sorgen. Jeder verantwortliche Politiker und Unternehmensleiter, auch wenn es unbequem ist, muß in jedem Einzelfall einen vertretbaren Ausgleich zwischen ökonomischen und Umweltschutzinteressen zustande bringen. Wer in Zukunft sichere Arbeitsplätze will, der muß deren Auswirkungen auf die Umwelt berücksichtigen.
Wer das Recht auf eine lebensfähige Umwelt vertritt, der muß gleichzeitig für Arbeitsplätze sorgen, die ihrerseits lebensfähig sind.
Ich füge hinzu: Umweltschutz gehört zu den Kernbereichen sozialliberaler Übereinstimmung. Im Koalitionspapier von CDU/CSU und FDP finde ich dazu fast überhaupt nichts.
Will eigentlich die FDP-Führung ihr umweltpolitisches Programm völlig vergessen? Der Schutz der natürlichen Umwelt bedarf auch internationaler Anstrengungen. Er bedarf der Verträge, wenn die Ausrottung der Fischbestände in den Weltmeeren, wenn die Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid und wenn die Ausbreitung des schwefelsauren Regens tatsächlich verhindert werden sollen.
Zehntens. In aller Welt gefährdet die Stagnation der Wirtschaft oder zu geringes Wachstum die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Die Dynamik dieser Systeme muß deshalb begrenzt werden. Dies darf aber nicht so weit gehen, daß die Lebensrisiken auf den einzelnen zurückgewälzt werden. Das Prinzip der Solidarität mit dem Schwächeren darf nicht außer Kraft gesetzt werden.
Ich füge hinzu: Wir haben die höchsten realen Renten und fast die höchsten Sozialleistungen in Europa erreicht. Sie sollten und dürfen nicht stärker eingeschränkt werden, als dies aus finanziellen Gründen unerläßlich ist. Eine Einschränkung aus ideologischen Gründen hat keinerlei Rechtfertigung.
Wir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach oben!
Sie wollen die Mieter zugunsten der Vermieter und der Bauherren belasten. Gleichzeitig wollen Sie das Wohngeld kürzen, gleichzeitig sollen Bildungschancen beeinträchtigt und gekürzt werden. Sozialhilfeempfänger sollen in stärkerer Weise zu Opfern herangezogen werden als leistungsfähige Einkom-Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7165Bundeskanzler Schmidtmensbezieher. Der gewerkschaftliche Protest dagegen ist sehr einleuchtend.
Wir Sozialdemokraten sehen in der Ergänzungsabgabe ein geeignetes Instrument sozialer Gerechtigkeit. Wenn aber nun die Bessergestellten die von Ihnen erfundene Zwangsanleihe später zurückerhalten sollen — übrigens, Graf Lambsdorff, welch ungeheuer marktwirtschaftliches Instrument, diese Zwangsanleihe! —,
wenn diese Anleihe der Besserverdienenden ihnen später zurückgezahlt werden soll, während doch die Opfer der Schüler und Lehrlinge, der Sozialhilfeempfänger, die Opfer der Rentner, Wohngeldbezieher und Kindergeldempfänger endgültig gemeint sind und nie zurückgegeben werden, dann hat das mit sozialem Ausgleich nichts mehr zu tun.
Und dann wollen Sie zu allem Überfluß den bis zu 15 000 DM im Jahr betragenden steuerlichen Splitting-Vorteil für Ehepaare mit hohen Einkommen auch noch bestehen lassen, statt ihn wenigstens einzuschränken.Elftens. Das Grundgesetz verpflichtet unseren Staat zur Gerechtigkeit. Notwendige Opfer sind moralisch und politisch nur dann zu vertreten, wenn sie gerecht verteilt werden, d. h. hier: Wenn jedermann nach Maßgabe seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit herangezogen wird. Wir Sozialdemokraten werden jedem Versuch entgegentreten, soziale Gerechtigkeit zurückzudrängen und durch das Ellbogenprinzip zu ersetzen.
Zwölftens. Eine menschliche Gesellschaft bedarf der inneren Liberalität. Über die Qualität unserer Demokratie entscheidet zuallererst der Respekt vor der Freiheit und der Würde des anderen, d. h. entscheidet zuallererst das Maß an innerer Liberalität, die wir tatsächlich üben und bewahren. Ohne gelebte Freiheit gibt es keine politische Kultur.
Ich wurde dieser Tage gebeten — das füge ich hinzu —, meine Empfindungen während der lang andauernden Entführung von Hanns Martin Schleyer und der damit verbundenen Verbrechen zu beschreiben. Ich habe sicherlich für die Kollegen aus der CDU/CSU und der FDP, die daran beteiligt waren, mit geantwortet. Es schien dem Fragesteller unvermeidlich, danach zu fragen, ob wir uns damals an der Staatsräson ausgerichtet hätten. Aber in Wirklichkeit hat sich unser Handeln nicht an Staatsräson orientiert, sondern an unseren Grundwerten, an der Notwendigkeit, die innere Freiheitlichkeit unseres Gemeinwesens zu verteidigen, die wir nur durch Festigkeit gegenüber ihren Verächtern und ihren Feinden verteidigen können.
Die freiheitliche Gesellschaft, die offene Gesellschaft hat millionenfach Fürsprecher und Verteidiger. Ich zitiere aus den Freiburger Thesen der FDP:Diese neue Phase— das ist vor gut zehn Jahren geschrieben und beschlossen worden —der Demokratisierung und Liberalisierung, im ursprünglichen und nicht dem heute oft mißbrauchten Sinne dieser Worte, entspringt aus einem gewandelten Verständnis der Freiheit, das dem modernen Liberalismus die neue politische Dimension eines nicht mehr nur Demokratischen, sondern zugleich Sozialen Liberalismus erschließt ... Nicht nur auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien ..., sondern als soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit ... kommt es ... an.Dem stimmen wir Sozialdemokraten immer noch zu, immer noch!
Der beabsichtigte personelle Wechsel im Amt des Bundesministers des Innern muß aber ebenso Besorgnis erwecken wie die fast völlige Ausklammerung der Rechts- und Innenpolitik aus Ihrer Koalitionsvereinbarung.
Die meisten jungen Menschen sind sich der Freiheitlichkeit unseres Staates bewußt, auch wenn sie keineswegs allem zustimmen, was in unserem Staat geschieht; das tun wir ja auch nicht, und sie tun es noch weniger. Aber es gibt auch Gruppen, die den Wert der Freiheit unterschätzen. Wir wollen jene neue Gruppe, die jetzt in den Hessischen Landtag einziehen wird, nicht unter Quarantäne stellen. Aber die Wortführer der Grünen müssen wissen, daß die freiheitlich-demokratische Ordnung nicht zur Disposition steht.
Sie müssen Klarheit darüber gewinnen, daß die Demokratie Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eines politischen Zieles nicht verträgt,
ja, daß die Demokratie sich gegen Gewaltanwendung zu wehren hat.
Das Recht, für Veränderung und Reform einzutreten, haben junge Bürger weiß Gott genauso wie wir hier im Bundestag. Aber sie können sich nur legitimieren, soweit sie sich ohne Wenn und Aber zur parlamentarisch-demokratischen Verantwortung bekennen.
Zum Schluß, meine Damen und Herren: Wir Sozialdemokraten haben — bei wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten in der ganzen
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Bundeskanzler SchmidtWelt — unseren Kurs des Ausgleichs zwischen den sich widerstreitenden Interessen seit langen Jahren beharrlich und kontinuierlich verfolgt. Die Thesen, die ich Ihnen heute vorgetragen habe, habe ich als Sozialdemokrat in ähnlichen Worten schon vor achteinhalb Jahren in die damaligen Koalitionsverhandlungen eingebracht, genau wie die damaligen Koalitionspartner ihre Vorstellungen eingebracht haben. Daraus ist dann ein gemeinsamer Weg geformt worden. Diese Thesen, die schon damals galten, gelten ebenso für die Gegenwart und sie gelten ebenso für die überschaubare Zukunft.
Ich weiß, daß viele treue Liberale unseren und meinen Kurs innerlich bejahen. Tausende haben mir in den letzten Tagen in diesem Sinne geschrieben und telegrafiert.Ich habe Anlaß, mich weiterhin vielen Männern und vor allem Frauen in der FDP — meinen Respekt vor den wackeren Frauen der FDP-Fraktion! —
politisch, aber auch persönlich verbunden zu fühlen, mit denen ich seit 1969 an der Seite Willy Brandts, an der Seite Herbert Wehners zusammengearbeitet habe. Die hier gewachsenen politischen und menschlichen Gemeinsamkeiten können durch taktische Wendemanöver nicht ausgelöscht werden,
sondern sie werden fortbestehen und gewiß auch wieder erlebbar werden.
Ich habe der sozialliberalen Koalition 13 Jahre lang gedient. Ich habe dies aus Überzeugung und mit innerer Befriedigung getan, weil ich wußte, daß dies ein notwendiger Dienst an unserem Land und an der geteilten Nation war.
Ich habe unserem Land, unserem Staat in verschiedenen Ämtern dienen dürfen. Dabei kommt viel politische Erfahrung, viel Lebenserfahrung zusammen. Ich denke in Dankbarkeit an diejenigen, die mich in diese Ämter berufen haben, und in Dankbarkeit an jene, die mir in meinem Dienst geholfen haben.Aber heute richten wir Sozialdemokraten den Blick nach vorne. Wir wissen, daß Millionen von Arbeitnehmern ihre Hoffnung auf die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als diejenige Kraft setzen, die beharrlich für soziale Gerechtigkeit kämpfen wird.
Wir wissen, daß Hunderttausende Menschen in schreibenden und lehrenden Berufen, Gewerbetreibende, Selbständige, Menschen in helfenden und heilenden Berufen, in künstlerischen Berufen ihr Vertrauen in unserer Liberalität gesetzt haben.
Wir wissen, daß nicht nur Millionen junger Menschen, sondern auch Millionen alter Menschen unsmehr Chancengleichheit verdanken und daß sie deshalb auch weiterhin auf uns Sozialdemokraten rechnen.
Ein letztes Wort: Ich weiß, daß diese Stunde von den Deutschen in der DDR und ebenso in der Bundesrepublik mit Besorgnis im Fernsehen verfolgt wird. Sie alle vertrauen unserer Politik der guten Nachbarschaft und unserer Friedenspolitik.
Wir Sozialdemokraten sind für dieses Vertrauen dankbar. Wir werden es auch in Zukunft nicht enttäuschen. Jedermann darf und jedermann muß mit unserer Stetigkeit rechnen. — Herzlichen Dank.
Das Wort zur Begründung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 9/2004 hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Dr. Barzel (von den Abgeordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Sie haben, Herr Bundeskanzler, mit wohlgesetzten Worten noch einmal die Leitlinien Ihrer Politik vorgetragen. Das ist Ihr gutes Recht. Demjenigen, der diese Leitlinien nun seit Jahren kennt, fällt aber auf, daß Sie es soeben unterlassen haben, zwei Ihrer Prinzipien und Versprechungen in Erinnerung zu rufen: die Vollbeschäftigung und die Stabilität.
Dazu schweigen Sie sich aus Gründen aus, auf die ich noch zusprechen kommen werde.
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In dieser Stunde wäre es doch besser, redlicher und — um Ihr Wort aufzunehmen — würdevoller gewesen, wenn der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hier Rechenschaft gegeben hätte,
Rechenschaft über Soll und Haben, über Versprochen und über Gehalten. Statt dessen polemisiert der Bundeskanzler gegen uns in der Opposition.Meine Damen, meine Herren, zunächst: Sie können sich doch vorstellen, Herr Bundeskanzler, daß es eine falsche Information gewesen sein muß, wenn Sie Herrn Kohl, Herrn Genscher und mich kennen, daß bei Deutschlandpolitik eine leere Seite dastehe.
Ich habe hier die beschriebene Seite mit. Sie ist engbeschrieben, und man könnte daraus, wenn man dasDeutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7167Dr. Barzelin „Kanzlerbuchstaben" schreiben würde, mehrere machen.
Von Herrn Mertes, der das für uns gemacht hat und der wirklich unbestritten zuverlässig ist, habe ich die Notiz: „Liegt seit Dienstag, 28. September, 17 Uhr, der Öffentlichkeit vor".
Eine Kenntnis hätte Ihnen möglich sein müssen. Ich lese das nicht vor.
— Nun warten Sie es doch ab; denn Sie müssen doch auch noch ein bißchen hören, wenn die Regierungserklärung abgegeben wird. Das, was hier notwendig ist, werden Sie schon noch hören. Das war sicher eine Fehlanzeige, ausgerechnet mit mir: leeres Blatt bei Deutschlandpolitik.Meine Damen, meine Herren, Sie sprachen die Anleihe an, Herr Bundeskanzler. Wenn Sie genau lesen, wissen Sie doch, daß sie nicht fällig wird, wenn die Herren, die soviel verdienen, investieren. Dies ist also ein Investitionsanreiz. Das sollte eigentlich doch deutlich werden.
Mit den Ellenbogen können wir gar nicht gemeint sein.
Ich will hier nicht zitieren, was die größte deutsche Tageszeitung heute zu den Ellenbogen der Arbeitslosen und derer vor dem Konkursrichter schreibt.
Hier muß mit aller Klarheit und Deutlichkeit festgehalten werden: Sie, die Sozialdemokraten, verantworten, was nun zur Rettung leider getan werden muß. Nicht die, welche den Karren aus dem Dreck ziehen müssen, sind schuld, sondern die, die ihn soweit in den Schlamm gefahren haben.
Unser Volk arbeitet hart in allen seinen Schichten, und es leistet Großes. Hier muß jeder Qualitätsarbeit leisten, auch Qualitätszwischenrufe machen, Herr Kollege Löffler.
Es hat deshalb einen Anspruch auf eine entsprechende Politik. Mit der faulen Ausrede: Regt euch nicht auf, woanders ist es schlimmer, kommt auf die Dauer keiner durch, wie wir heute sehen, auch kein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, dieses Volk, dem wir dienen und für das zu handeln wir gewählt sind, hat Anspruch auf eine Regierung mit einer Mehrheit und mit einer qualitativen Leistung. Die alte Mehrheit zerbrach. CDU/CSU und FDP haben durch gemeinsame Antworten auf anstehende Fragen eine neue Mehrheit gebildet. Entsprechend haben wir fristgerecht den Antrag gestellt, der Ihnen auf Drucksache 9/2004 vorliegt. Er lautet:Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP nach Artikel 67 des GrundgesetzesDer Bundestag wolle beschließen:Der Deutsche Bundestag spricht Bundeskanzler Helmut Schmidt das Mißtrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.Der Bundespräsident wird ersucht, Bundeskanzler Helmut Schmidt zu entlassen.So dieser Antrag.
Meine Damen und Herren! Ich bitte die Mehrheit dieses Hauses, diesen Antrag anzunehmen und so den Weg freizumachen für einen neuen Anfang.Und wenn Sie hier über Wahlen sprechen, Herr Bundeskanzler, so kennen Sie unsere schriftlich vorliegende Verabredung, und Sie kennen das Grundgesetz und das Parteiengesetz und die notwendige Frist von 60 Tagen.Wir halten es für erforderlich, vorher das Signal der Wende zu geben, um deutlich zu machen: Hier beginnt eine neue Politik, die nicht nach mehr Staat, sondern nach mehr Bürgerfreiheit und mehr realer sozialer Gerechtigkeit verlangt.
— Das haben wir doch beantwortet! Das ist doch alles vorgelegt!
Meine Damen und Herren, mit diesem Antrag kehren wir zur Normalität zurück, indem die stärkste Fraktion den Kanzler stellt.
Unser Volk wählt Abgeordnete. Unser Volk wählt am Wahltag nicht den Kanzler. Der Kanzler stellte das soeben alles auf den Kopf.
Deshalb ist es notwendig, den Art. 38 des Grundgesetzes noch einmal in die Erinnerung zu rufen. Da heißt es:Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
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7168 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Dr. BarzelAllein das, was hier steht und dem wir soeben mit Recht alle zugestimmt haben — wie sollte es anders sein! —, allein das ist der Wählerauftrag.
Wenn wir also heute einen anderen Bundeskanzler wählen, so machen wir legitimen Gebrauch von Art. 67 des Grundgesetzes.Auf eben diese Weise hat die SPD im Lande Nordrhein-Westfalen,
das eine ähnliche Verfassung wie der Bund hat,
früher die CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold und Franz Meyers ersetzt durch die SPD- Ministerpräsidenten Steinhoff und Kühn. Wir, meine Damen und Herren, haben da nicht „Verrat!" gerufen. Wir haben das als Demokraten respektiert, weil das Grundrecht der Gewissensfreiheit der Abgeordneten den ersten Rang in diesem Staat haben muß.
Wenn Sie jetzt hier so ganz anders reagieren und reagieren lassen — gestern auf dem Bonner Marktplatz; das gehört ja wohl alles dazu, meine Damen und meine Herren —,
dann offenbart das — es tut mir leid — doch eine Moral zur Auswahl, Herr Kollege Brandt, nicht wahr: Wenn wir etwas machen, ist es verwerflich; wenn Sie das Recht anwenden, ist das natürliche Moral. Das ist eine doppelte Moral und verrät — es tut mir leid — eine gespaltene Zunge.
Und wenn der Bundeskanzler die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik hier so groß herausstellt — was ich sehr gut finde —, dann sollten sich doch einmal die beiden Kollegen, die da nebeneinander sitzen: der Parteivorsitzende und der Fraktionsvorsitzende der SPD, darüber unterhalten, was es hier eigentlich in diesem Hause früher einmal zu einem Zeitpunkt im Jahre 1972 gegeben hat, meine Damen und meine Herren.
Und wenn Sie von Glaubwürdigkeit sprechen, Herr Bundeskanzler, und dabei an die Jugend denken, muß ich sagen: Den jungen Menschen hat man versprochen, alles sei konfliktfrei machbar. Und dann kam wegen eines Konflikts in Afghanistan eine Situation, daß sie nicht einmal zur Olympiade fahren durften. Und die Macher sind so weit, daß sie heute nicht einmal imstande sind, für junge Menschen Arbeit und Ausbildung ausreichend zu sichern. Dies produziert Enttäuschungen und dies sind bleibende Beeinträchtigungen von Glaubwürdigkeit, die, meine Damen und Herren, nicht die Opposition, die diese noch im Amt befindliche Regierung allein verantwortet.
Meine Damen und Herren, es kann niemand übersehen — wir haben dies ja schon in früheren Debatten hier ausgeführt —, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands regierungsunfähig geworden ist. Trotzdem finden Sie den traurigen Mut, auf uns zu schimpfen — denken Sie mal an das Flugblatt von gestern —, die nun wieder in Ordnung bringen müssen, was Sie hinterlassen. Sie hinterlassen, meine Damen und Herren, geplünderte Kassen und Sie hinterlassen Massenarbeitslosigkeit und die um die bessere Zukunft geprellten jungen Menschen.
Aber Sie verunglimpfen uns — —
— Sie machten krank, Herr Kollege Brandt. Und nun wird man schimpfen auf die Ärzte und die Schwestern und die Pfleger, die da ankommen, um das wieder in Ordnung zu bringen. Sie sind verantwortlich für die Übel. Sie kamen, meine Damen und Herren — das war Ihr lautstarkes Versprechen, Sie erinnern sich doch noch, Herr Kollege Brandt —, um das „moderne Deutschland" zu bauen. Nun gehen Sie, weil Sie ein blühendes Gemeinwesen, das Sie übernahmen, in ein krisengeschütteltes Land verwandelt haben. Das ist die Lage.
Und ich sage, meine Damen, meine Herren, egal, wie Sie darauf reagieren, weil dies meine Meinung ist, ich sage von dieser Stelle: Hut ab vor Herrn Genscher, der gehandelt hat, damit nicht alles noch schlimmer wird und weiter bergab geht.
Hätten Sie, Herr Bundeskanzler, mit gleicher Härte und Konsequenz die verabredete Politik in Ihrer Partei durchgesetzt, Sie wären nicht an dem Tag, den Sie heute erleben müssen.
Herr Kollege Brandt, auch wenn Sie, was Sie offenbar wollen, aus einer früheren — ich weiß nicht genau —, aus einer bisherigen Arbeiterpartei — ich sage das mit Respekt — eine schwammige Bewegung machen wollen, es bleiben diese Schatten von enttäuschten jungen Menschen, von Reformruinen, von Arbeitslosen, die diesen Weg säumen. Das bleibt Ihnen lange, lange Zeit erhalten, und ich glaube eben nicht, Herr Bundeskanzler, daß diese Menschen noch das Vertrauen in sozialdemokratische Politik haben.
Deshalb werden wir ja wählen.
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7169Dr. Barzel
— Ja, ich sehe es schon, Herr Löffler, daß Sie mit einer Plakette hier ins Haus kommen. Das ist ein ganz neues Stilgefühl.
Meine Damen, meine Herren, ich weiß natürlich zu schätzen, was der Kanzler gestern hier in Bonn und Herr Wischnewski gestern in New York über die künftige Verläßlichkeit der deutschen Politik gesagt haben. Nur, was die SPD gleichzeitig hier in Bonn veranstaltete, das kann ich auch nicht übersehen. Meine Damen und Herren, wer gestern abend die Nachrichten hörte und sah, konnte unschwer erkennen, warum auch aus außenpolitischen Gründen die alte Koalition zerbrach. Hie Brandt und Eppler, da Schmidt und Wischnewski, so kann Deutschland nicht gut regiert werden.
In der Welt um uns reden ja nicht nur Diplomaten. Da fragt man doch laut und seriös in allen großen Zeitungen: Was ist mit den Deutschen los? Die Verläßlichkeit unseres Wortes wird doch angezweifelt wie die Berechenbarkeit unserer Haltung.
— Ja, meine Damen, meine Herren, da wurde doch mit Frankreich etwas feierlich unterschrieben und unterzeichnet, und das fand dann nicht statt. Das Wort wurde nicht gehalten. Da gibt man dem Bündnis sein Wort und kommt nach Hause und macht an der Zusage ein Fragezeichen. Das ist doch keine verläßliche Politik. Da wurde doch zum Osten — wir haben es oft genug hier behandelt — eine Politik Kasse gegen Hoffnung gemacht statt Leistung um Gegenleistung.
Meine Damen und Herren, auf diese Weise ist der Friede nicht sicherer geworden.Hundert sogenannte lokale Kriege mit 35 Millionen Kriegstoten gab es rund um die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg, also nach 1945. Hier in Europa gab es das nicht, weil in seinem freien Teil — und das ist der eine Grund — unter Adenauer eine eurpäische Friedensordnung geschaffen wurde, die einen Krieg im freien Europa untereinander oder gegeneinander nicht nur undenkbar, sondern unmöglich macht,
und weil — und das ist das andere —, auch unter Adenauer, die auf der militärischen Anwesenheit der USA beruhende Abschreckung hier Frieden sichert. Meine Damen und Herren, solange wir kontrollierte Abrüstung, die wir wollen, nicht haben, brauchen wir Frieden durch Abschreckung. Werdiese Abschreckung beschädigt, gefährdet den Frieden.
Zu diesen Fragen habe ich hier in früheren Debatten gesprochen. Ich will das nicht wiederholen, aber ich sage mit Bedacht dieses persönliche Wort: Bei unseren internen Beratungen, die zu dieser Mehrheit und zu diesem Antrag führten, habe ich als erstes, als für mich dringendstes Argument meine außenpolitisch begründetet Besorgnis über die Zukunft von Frieden und Freiheit ausgeführt. Und da war ich, wie mir scheint, von Herrn Genscher nicht so weit entfernt.Unser Platz ist nicht zwischen Ost und West. Nur aus dem Westen und im Westen können wir auf Ausgleich wirken. Mit beiden Füßen im Westen stehend wollen wir nach Osten die Hand reichen, die Hand, aber nicht das Standbein.
Dies muß klar sein und klar bleiben, wenn hier Frieden und Freiheit bleiben sollen.Wer, Herr Kollege Brandt, die mögliche Abrüstung verhindert oder erschwert, indem er die westliche Position unterläuft, der verhindert nicht nur die Abrüstung, der erhöht die Gefahr. Die neue Mehrheit ist ja nicht zufällig die, welche — gegen die deutschen Sozialdemokraten — diesen freien Staat in den Schutz und die Sicherheit des Bündnisses gebracht hat, meine Damen und Herren.
Und ich füge hinzu: Wir sind bedächtig, erfahren und friedfertig genug, um Frieden hier weiter zu sichern. Dieses Versprechen steht, des bin ich gewiß, hinter dem Namen Kohl. Deshalb, weil ich das weiß, rede ich hier heute und begründe diesen Antrag, meine Damen und Herren.
Frieden wird bleiben. Am besten ist er gesichert, wo Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen, hin und her, ihn sichern. Und da ist noch viel zu tun auch zwischen beiden Staaten in Deutschland.Auch die Ostverträge gelten. Wir werden sie als Instrumente einer aktiven, nüchternen, friedfertigen Politik nutzen. Wie gesagt, die Füße fest im Westen und die Hand ausstrecken nach Osten — kein Zweifel, so werden wir es machen. Und daß wir an EG und Bündnis festhalten wie an deutsch-französischer Freundschaft, dies versteht sich, glaube ich, von selbst.
Ich muß in diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, noch einen Punkt aus Ihrer Erklärung eben zur Sprache bringen. Sie sagten, der Friede müsse insbesondere gestiftet werden zwischen solchen
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7170 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Dr. BarzelStaaten, „die sich gegenseitig mißtrauten und sich gegenseitig bedrohten".
Wen bedrohen wir?
An dieser Stelle hat der Präsident der USA gesprochen und feierlich versichert, was die NATO unterstützte: Der erste Schuß wird kein NATO-Schuß sein. Wir bedrohen niemanden.
Dies gleichsetzen ist unerträglich, Herr Bundeskanzler.
Nun das andere: Wir sind heute, meine Damen und Herren, von der sozialen Gerechtigkeit, dem nächst Frieden und Freiheit wichtigsten Wert, weiter entfernt als 1969.
— Nun, ich pflege ja doch auszuführen, was ich denke, und das dann zu beweisen. Dann können Sie ja kommen und sagen, daß Sie anders denken, und die Beweise anzweifeln. Das ist eine demokratische Debatte, wie ich sie bisher gelernt habe, meine Damen, meine Herren. —
Ich komme, wie jedermann hier weiß, von Karl Arnold, dem Arbeiterführer an der Ruhr. Ich werde nicht vergessen, daß vor kurzem Gewerkschaftler hier in Bonn und anderswo in großer Zahl gegen die Politik eines sozialdemokratischen Kanzlers demonstrierten.
Die marschierten doch nicht nach und durch Bonn, um die Ergebnisse sozialistischer Erfolge zu feiern. Die da kamen, meine Damen, meine Herren, stehen auch nicht als Reservearmee für eine auch sozial gescheiterte Politik zur Verfügung, sondern die bezeugten die Krise; das muß hier festgehalten werden.
Meine Damen und Herren, wir erleben — das ist kein Geheimnis — außer dem politischen Desaster den finanziellen Kollaps. Ich möchte mich in dem, was nun auszuführen ist, auf eine publizistische Säule des Herrn Bundeskanzlers stützen, nämlich auf die Zeitschrift „Die Zeit", die am 24. September 1982 die Bilanz zog.
— Ich habe noch gar nicht angefangen, und da sind Sie schon nervös, meine Damen, meine Herren.
Es kommt doch jetzt erst, es kommt doch erst! Sie haben sich immer so über diese „Zeit" gefreut; nun müssen Sie da auch einmal etwas anderes hören.
Bei einer schlichten Gegenüberstellung der wichtigsten Kennziffern für den Zustand der deutschen Wirtschaft 1969 und im Herbst 1982 muß das Urteil über 13 Jahre ... sozial-liberaler Herrschaft verheerend ausfallen ... Die SozialLiberalen, die 1969 eine Bundesschuld von 45 Milliarden Mark übernahmen, hinterlassen ... einen Schuldenberg von rund dreihundert Milliarden Mark ... Mußten im Durchschnitt der sechziger Jahre nur 1 800 Unternehmen pro Jahr Konkurs oder Vergleich anmelden, so waren es im vergangenen Jahr 8 494 und für 1982 wird mit dem Zusammenbruch von 12 800 Firmen gerechnet.
Neben der Vernichtung selbständiger Existenzen bedeutet dies zugleich, daß als Folge davon allein in diesem Jahr etwa eine halbe Million Arbeitsplätze für immer verloren geht.
Da ist zwar Arbeit noch da, es gibt bloß keine; denn die Arbeitsplätze gehen hier weg.Die Zahl der Selbständigen ging um 377 000 ... zurück. In der gleichen Zeit wuchs das Heer der Staatsdiener allein bei Bund, Ländern und Gemeinden von 2,2 auf 2,7 Millionen ... Der Anteil der Investitionen an der gesamtwirtschaftlichen Leistung . .. sank von 26,5 % Mitte des sechziger Jahre auf 23 % des Bruttosozialprodukts 1981 ...Dazu paßt, daß ... die Bundesrepublik bei wichtigen Zukunftstechnologien den Anschluß verlor. Obwohl der Staat Milliarden in die Forschung pumpte, wurde der Vorsprung in der Kernenergie verspielt, gelang bei der Mikroelektronik nicht der Vorstoß in die Spitzengruppe, sind wir in der Biotechnologie ein Mr. Nobody ... Bei Willy Brandts Amtsantritt gab es 179 000 Arbeitslose. Jeder von ihnen konnte zwischen vier offenen Stellen wählen. Als Helmut Schmidt in der vergangenen Woche vor dem Bundestag den sozial-liberalen Pakt für beendet erklärte, waren 1,79 Millionen Männer und Frauen arbeitslos gemeldet — genau zehnmal soviel wie dreizehn Jahre zuvor. Und diesmal kam auf je achtzehn Arbeitslose nur eine als frei gemeldete Stelle.
Der Autor räumt dann ein — ich zitiere auch das —:Doch nicht alle Probleme sind uns von außen aufgezwungen worden. Das gilt für die finanzielle wie personelle Aufblähung des öffentlichen Dienstes und die Finanzpolitik ebenso wie für die Mißerfolge der Forschungspolitik.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7171
Dr. BarzelEs ist dann, meine Damen, meine Herren — ich will das nicht alles im einzelnen vortragen —, die Rede von den Personalzusatzkosten, von den Arbeitskosten, von den Sozialkosten und von den Krankheitskosten. Dieser Aufsatz in der „Zeit" schließt dann mit dem Satz, meine Damen und Herren
— nun hören Sie einmal gut zu! —:Wenn jemand mit den Ellenbogen arbeitet, dann sind es heute die Ausbeuter des Sozialstaates, die den wirklichen Bedürftigen mehr als nur den Sitzplatz in den öffentlichen Verkehrsmitteln streitig machen.
Meine Damen und Herren, in dieser Bilanz fehlt auch noch, daß der Wohnungsbau ja sicherlich nicht durch die OPEC oder durch die Ölscheichs zum Erliegen gekommen ist. Es fehlt, daß die Abgabenquote von 34 % auf 38 % gestiegen ist. Jetzt zitiere ich den Herrn Bundeskanzler aus seiner in der „Frankfurter Rundschau" — also nicht irgendwie beschafften — veröffentlichten Rede vor der SPD- Bundestagsfraktion am 22. Juni 1982. Er sagt da:Geholt haben wir das Geld beim Arbeitnehmer.
— Das muß man ja wissen: Geholt haben wir das Geld beim Arbeitnehmer! — Meine Damen, meine Herren, wer hier ein soziales Gewissen hat, wird sehen: Man nimmt dem Arbeiter viel und gibt ihm wenig zurück. Was das ist, können Sie dreimal raten. Christlich-demokratisch, christlich-sozial oder liberal ist das bestimmt nicht, das ist sozialistisch.
In dieser Lage ist es nun eben dringend nötig, daß eine neue Mehrheit mit einer neuen Regierung ein neues Programm vorlegt und sich dann den Wählern stellt.
— Bemerkenswert ist Ihre Unruhe. Ich kann das gut verstehen. Aber Sie werden mich doch nicht daran hindern — nicht, lieber Herr Löffler?Die Frage, vor der unser Land steht, heißt doch nicht,
Herr Kollege Brandt: wie schrumpfen wir uns durch immer mehr Rotstift gesund? Sondern die Frage heißt: Wie werden wir wieder flott? Wie werden aus Arbeitslosen wieder Arbeiter, die Lohn erhalten und davon Steuern, Beiträge und Abgaben entrichten? Allein das ist die richtig gestellte Frage.
Die konkreten Antworten, soweit sie nicht schon in den Koalitionsverabredungen vorliegen, wird dieneue Bundesregierung, eine Koalition der Mitte, alsbald in der Regierungserklärung, einem ersten Einstieg, konkret und präzise, berechenbar, nachprüfbar, solide, verläßlich, mit zukunftsweisender Perspektive hier im Hause abgeben. Dann können wir diskutieren, und dann können wir entscheiden. So ist der Gang der Dinge.
Wir sagen mit Bedacht in dieser Lage, wo die Verantwortung zu übernehmen nicht leicht ist — auf die Lage komme ich noch zurück, Herr Kollege Brandt —: Wir, diese neue Mehrheit, trauen uns zu, die Karre wieder herauszuziehen. Die bessere Wirklichkeit ist nötig, und die bessere Möglichkeit ist auch nötig. Unser Volk steht vor der Entscheidung, entweder eine Anstrengung zu machen wie nach 1945 oder in den 50er Jahren — dann kommen wir wieder nach vorn — oder zweitklassig zu werden. Das ist die Entscheidung, vor der wir stehen.
Nicht die faule Ausrede, anderswo sei es schlimmer, wird das Maß der neuen Mehrheit sein, sondern der Anspruch: Hier ist es besser. Deshalb wählen wir das Anspruchsvollere, nämlich die Wende nach vorn.
Als der Bundeskanzler Brandt hier begann, hatte wir eine erste Debatte. Herr Kollege Brandt, vielleicht erinnern Sie sich noch daran. Ich habe damals für die Opposition hier erklärt:Der Schutt der Nachkriegsjahre ist weggeräumt. Die Hektik des Wiederaufbaus ist vorbei. Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabilem Geld und wohlgeordneten Finanzen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland stand kein Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt in einer vergleichbaren Situation.
Wir werden sehen, Herr Bundeskanzler, wie sie von diesem soliden Fundament aus „den Nutzen des deutschen Volkes mehren". Wir sind bereit, Ihnen dabei zu helfen.Solche Töne der Demokratie habe ich bisher vermißt. Schimpfen ist kein Programm, meine Damen und Herren. Wer schimpft, hat Unrecht!
Diese Rede schloß dann in ihrem innenpolitischen Teil so — und jetzt erinnern Sie sich mal, Kollege Brandt, an diese 13 Jahre —:Ohne ein Programm, das den gestiegenen Finanzbedarf für investive Zwecke, für Bildung, Verkehr, Strukturpolitik, Technologie zusammenordnet, ohne den Blick auf die anwachsende Wirtschaftskraft anderer Nationen, welche
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7172 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Dr. Barzelunsere Stellung im Welthandel in Frage stellen, wurden Haushaltsbelastungen ... beschlossen...Wir fragen Sie, Herr Bundeskanzler, nach Ihren Argumenten für diese Politik. Es hätte Ihnen und uns allen besser angestanden, nicht einen fröhlichen Einstand zu geben, sondern die Anstrengungen zu fordern, die unser Land machen muß, wenn es modern bleiben will. Wir fragen Sie, auf welche Lagebeurteilung, auf welche Finanzplanung, auf welche Konjunkturverläufe Sie, Herr Bundeskanzler, diese Politik, erst mal einen auszugeben, gründen wollen. Ich fürchte,— so schließt dieser Teil —diese Politik, die sich zu Beginn so billig macht, wird uns am Schluß allen zu teuer kommen.29. Oktober 1969.
Der Schluß ist da. Es ist zu teuer.
Im Frühjahr 1974 endete die Regierung Brandt, weil sie — so Helmut Schmidt — das Gift der Unsicherheit produziert und gestreut hatte. In der Debatte über Ihre erste Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler Schmidt, habe ich Ihnen hier gesagt:In unserem demokratischen Gemeinwesen muß nicht nur die Kasse stimmen, so wichtig die Kasse ist!Sie reden vom Machbaren und vom Möglichen, ohne zu sagen, möglich wozu und machbar warum. Sie reden nirgendwo von einer Perspektive, von einer Konzeption, vom Sinngehalt ... Kein kulturrelevantes Wort kommt über Ihre Lippen in der Regierungserklärung. Und der Stabilitätsbegriff schrumpft auf den rein materiellen Stabilitätsbegriff zusammen ... Ich hatte eigentlich ... vom ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der wie ich zur Kriegsgeneration gehört, etwas mehr erwartet: ein Wort zu den geistigen Spannungen dieser Zeit, zu unseren Erfahrungen, zu dem, was wir jungen Menschen hier und in der DDR über den Vorrang von Menschlichkeit vor jeder Politik zu sagen haben .. .
Mit Ihrem Einstand, Herr Bundeskanzler, so wie er bisher vorliegt, haben Sie, so fürchte ich, die Führung abgegeben. Und auf diese Weise werden Sie die politische Führung verlieren, denn die behält nur, wer die geistige Führung behält.So haben Sie sie verloren, und so weit ist es nun gekommen.
Wenn Sie nun aus dem Amt scheiden — Herr Kollege Ehmke, ich meine den Bundeskanzler —, dannist als ein Zweites daran nichts so sehr schuld wie Ihre eigene Partei
und — es tut mir leid — auch deren Vorsitzender. Es wäre unserem Lande sicher gut bekommen, wenn Sie so geschlossen, wie Sie eben aufgestanden sind, immer gehandelt hätten, wenn der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland seine Politik hier durchzuhalten versucht hat.
Man hat aus Ihren eigenen Reihen, Herr Bundeskanzler, Ihre Energiepolitik verhindert, indem man aus Notwendigkeiten Optionen machte. Ihre Sicherheitspolitik wurde unterlaufen, indem Ihre Partei eine feste Zusage im Bündnis in eine offene Frage verwandelte. Man hinderte Sie, eine dem Jahreswirtschaftsbericht entsprechende Wirtschaftspolitik zu machen, indem man auf dem Parteitag das Gegenteil von dem beschloß, was Ihr Jahreswirtschaftsbericht mit Recht forderte. Man kündigte Koalitionsabreden zum Haushalt auf. Man streichelte die sogenannte Friedensbewegung, die sich klar gegen Ihre Politik richtete. Die Debatte hier vor der Herzerkrankung des Kanzlers war doch gespenstisch: Der erste Redner der Sozialdemokraten war deren Vorsitzender, und er ließ nicht nur den Kanzler allein, sondern malte eine ganz andere Politik. Das ist doch die Realität, an die wir uns hier alle erinnern, meine Damen und Herren.
Keiner von uns hat über Sie, Herr Bundeskanzler Schmidt, so beleidigend und herabsetzend gesprochen wie einige Ihrer Parteifreunde.
Ich unterlasse es selbst in dieser Stunde, etwa die Herren Eppler oder Lafontaine noch zu zitieren oder aus dem Buch von Baring die Belege vorzulesen. Es ist bitter für Sie. Man hat Ihnen übel mitgespielt. Sozialisten haben, Herr Bundeskanzler, Ihr Gesicht zerkratzt. Herr Kollege Brandt, Sie haben dann als Parteivorsitzender den Schirm gespannt, als diese Beleidigungen kamen. Aber der war so löcherig, daß immer noch genug Spritzer auf den amtierenden Bundeskanzler durchkamen.
Herr Kollege Brandt, bevor Sie anderen „Verrat" vorwerfen oder andere so öffentlich anprangern lassen, prüfen Sie selbst Ihre Haltung zu Ihrem Nachfolger.
Auf die Frage der Menschen draußen — wir spüren das genauso, wie Sie das eben vorgetragen haben, Herr Bundeskanzler —: „Traut ihr euch zu, einen neuen Anfang zu mehr Freiheit durch sozialeDeutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7173Dr. BarzelGerechtigkeit wie zum gesicherten Frieden zu machen?",
antworten wir gewissenhaft: Ja. Wir trauen uns das zu.
Mit Hilfe aller verantwortungsbewußten Deutschen, mit dem Dienst dieser Koalition der Mitte, wird Deutschland wieder dahin kommen, wohin es gehört, nach vorn. Wir wählen den neuen Anfang!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Vorredner, der Herr Kollege Dr. Barzel, hat den Versuch gemacht, uns und den Bundeskanzler so negativ wie möglich zu schildern. Ein Satz, den ich mir notiert habe — das reicht dann —, lautet, daß Deutschland in ein krisengeschütteltes Land verwandelt worden sei.
Sie werden das lange, lange zu tragen haben, Herr Kollege Barzel. Sie tun mir leid, wenn Sie solche Behauptungen aufstellen.
Vor 35 Jahren, 1947, hat Kurt Schumacher in Nürnberg drei Sätze gesagt, die uns allen — ich meine, gerade jetzt — wieder gegenwärtig sein sollten. Erstens. Demokratie beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und der Ehrlichkeit.
Zweitens. Die Demokratie kann nur leben, wenn die Menschen selbständig sind und den Willen zur Objektivität haben.
Drittens. Aber die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Gegenteil.
Ich möchte sagen, wer sich über diese Einsichten kalt hinwegsetzt oder hinwegzusetzen versucht,
handelt verantwortungslos und zerstört letztlich unsere mühsam aufgebaute und gefestigte Demokratie.
Angesichts der taktischen Klüngeleien, angesichts des unaufrichtigen und auch unwürdigen Schauspiels, das CDU, CSU und FDP jetzt aufführen, bitte ich, mir die tiefe Sorge um die Entwicklung unsererparlamentarischen Demokratie zu glauben. Ich artikuliere meine Befürchtungen nicht nur als derzeitiger Vorsitzender der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, sondern nehme auch einmal in Anspruch, als Alterspräsident des Deutschen Bundestages zu sprechen, d. h. als einer, der diesem Parlament seit dessen Bestehen, seit 1949 angehört.In welchem Maß müssen sich die hessischen Wählerinnen und Wähler jetzt verschaukelt vorkommen, die am vergangenen Sonntag alles ihnen Mögliche aufgebracht haben — nämlich ihre Stimme —, um den Kohl-Genscher-Pakt doch noch zu verhindern. Und wie betroffen müssen alle die Bürgerinnen und Bürger außerhalb Hessens sein, denen jetzt eine Entscheidung verwehrt wird, deren Entscheidung von 1980 für Bundeskanzler Helmut Schmidt und eine sozialliberale Koalition jetzt mit Füßen getreten wird.
Ihnen wird von CDU/CSU und FDP vorgetäuscht, sie würden im März noch einmal gefragt, darauf spekulierend, daß sich dann ihr Zorn gelegt habe. Dabei ist erkennbar, daß auch dieses Versprechen gebrochen werden soll.Kann man es insbesondere eigentlich unseren jüngeren Mitbürgern verdenken, die von Politikern Charakter, Geradlinigkeit, Glaubwürdigkeit verlangen, wenn sie sich angewidert abwenden? Die Herren Genscher und Graf Lambsdorff mit ihrer Gefolgschaft versündigen sich vor allem an der jungen Generation, indem sie statt Ehrlichkeit Manipulation erlebbar machen.
Wer heute im Deutschen Bundestag über das künftige Schicksal dieser unserer Republik zu entscheiden hat, sollte nicht um der Konsequenz eines nun einmal eingeschlagenen Weges willen diesen Weg mitgehen, wenn dieser Weg als der falsche begriffen wird. Die geheime Abstimmung unterwirft den einzelnen Parlamentarier keinerlei Weisung, sondern allein seinem Gewissen.
Zu entscheiden ist, ob Herr Kohl jetzt Kanzler wird, den die große Mehrheit der Bevölkerung für überfordert hält, mit den großen Problemen einer krisenerschütterten Zeit fertig zu werden,
oder ob Helmut Schmidt jetzt erneut Gelegenheit erhält, sich der Entscheidung der Wähler zu stellen.
— Hören Sie doch mit Ihrem Gekreische auf, Herr. Wir haben uns ja auch ruhig verhalten. Irgendwo krabbelt's bei Ihnen.
Das dürfte wohl auch nicht außer acht gelassen werden, wie beispielsweise der amerikanische Außenminister Georg Shultz den deutschen Bundes-
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7174 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Wehnerkanzler qualifiziert hat, nämlich — ich zitiere ihn —: „Niemand unterstützt die westliche Allianz so entschlossen wie der Bundeskanzler. Niemand versteht mehr als er von den Problemen der Wirtschaft bei uns und in der übrigen Welt. Bundeskanzler Helmut Schmidt, so meine ich" — sagt Georg Shultz —, „ist eine der hervorragendsten Persönlichkeiten der Welt. Keiner ist tiefer der Demokratie verhaftet als er."
Ich glaube, wir sollten das dankbar feststellen.Wir haben in der Friedenspolitik Kurs gehalten und Orientierung für andere geben können. Wir haben in der Wirtschaftspolitik Kurs gehalten, und das hat uns weitergebracht als manche Wunderkuren in der Welt. Wir haben den Sozialstaat nicht zum Verschiebebahnhof für wirtschaftliche Probleme werden lassen.Mit dem raschen Abbau des Leistungsbilanzdefizits, der Abschwächung des Preisanstiegs, mit den maßvollen Lohnabschlüssen dieses Jahres sind die Chancen für Zinssenkungen und für neue Investitionen größer geworden. Die beschäftigungswirksamen Maßnahmen, die in diesem Jahr ergriffen wurden, werden ebenfalls Wirkung zeigen. Jeder Ausländer bescheinigt uns, daß wir ökonomisch guten Kurs gehalten haben. Noch immer ist unser Lebensstandard einer der höchsten, noch immer sind die Deutschen Weltmeister beim Reisen ins Ausland, und noch immer sind die meisten mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage zufrieden und verlangen eigentlich nicht mehr.Meine Damen und Herren, das sind Sätze aus Helmut Schmidts, des Bundeskanzlers, Bericht zur Lage der Nation in diesem Jahr, am 9. September hier dargelegt. Und Sie haben j a damals auch nicht den Eindruck erweckt, daß das nicht wahr sei, was Schmidt in dieser Bilanz zusammengestellt hat.Nur, wir haben es mit einer Auseinandersetzung zu tun, bei der es Ihnen darum geht, jetzt, und zwar ohne Fristverlust, das zustande zu bringen, was Sie den Regierungswechsel nennen. Vielleicht darf ich Sie noch auf etwas aufmerksam machen. Ich zitiere:Ich habe Mal und Mal dem Koalitionspartner das ernstgemeinte Angebot gemacht, in einer großen und gemeinsamen Anstrengung die Handlungsfähigkeit der sozialliberalen Bundesregierung zu kräftigen und über den Haushalt 1983 hinaus schöpferische Regierungsarbeit auch in der zweiten Hälfte dieser Legislaturperiode zu leisten. Ich bin Mal um Mal ohne eine klare Antwort geblieben. Ein einziger Satz hätte Klarheit schaffen können. Der ist bis heute ausgeblieben. Statt dessen habe ich viele Male von Herrn Kollegen Genscher hören oder lesen müssen, neue Sachfragen schüfen sich neue Mehrheiten. Es drängt sich mir der Eindruck auf, daß die Haushaltsberatungen von einigen Führungspersonen der FDP nur noch zum Schein geführt werden, weil ein Vorwand gesucht wird, mit dem der Partnerwechsel dem Publikum erklärt werden soll.Das war ein Absatz aus des Bundeskanzlers Helmut Schmidt Rede vom 17. September hier. Sie können ihn in Ihren Unterlagen nachlesen.Nur, wir haben es einem, der zur Zeit eben noch Oppositionsführer ist, aber nun Kandidat für den nächsten Bundeskanzler sein will, gesagt:Der Oppositionsführer hat heute — das war am 17. September —in einer Frankfurter Zeitung einen politischen Neuanfang verlangt. „Neuanfang", Herr Dr. Kohl, ist ein sehr unklares Wort. Bekennen Sie sich zur Neuwahl in der kürzesten Frist, wie sie in der letzten Woche schon in vielen Zwischenrufen von den Bänken der Opposition verlangt worden ist! Ich habe Sie vorhin zitiert; Sie sprachen j a in einem anderen Zeitungsgespräch von einem Minderheitskabinett. Ich wiederhole: Damit will ich nicht hantieren, sondern ich bin für die Neuwahl des Bundestages.Das war die vom Bundeskanzler Helmut Schmidt geäußerte Auffassung, Meinung und Überzeugung.
Sie suchen nach einem anderen Weg.
Dabei sind Sie, meine Damen und Herren von der CDU und von der CSU, ja in Wirklichkeit gar nicht überein in dem, was Sie jetzt vormachen. Ich zitiere Herrn Strauß, der betont hat, daß zwar Gegensätzlichkeiten zwischen CDU- und CSU-Spitze bestünden, daß es zwei Wege gegeben hätte und der CSU-Weg ein anderer gewesen sei als der jetzt beschrittene Weg, d. h. der Weg, den Sie heute hier mit dieser Wahl krönen wollen. Ich zitiere Herrn Strauß:Würden wir aber jetzt deshalb unsere Stimmen für das konstruktive Mißtrauensvotum nicht zur Verfügung stellen, wäre, nachdem CDU und FDP es so gewollt haben, der Ärger der Bürger im Augenblick schon größer als der langfristig ganz bestimmt große politische Nutzen aus rechtzeitigen Neuwahlen.Dann wurde ihm die Frage gestellt:Herr Strauß, warum ist die geplante neue Regierung für Sie nur eine Übergangsregierung?Darauf antwortete Herr Strauß:Weil sie nur gebildet wird, um Helmut Schmidt aus dem Amt zu entfernen und um möglichst rasch Neuwahlen zu ermöglichen, durch die dann erst eine neue Regierung wirklich demokratisch legitimiert wird.Also diese jetzige wird nicht wirklich demokratisch legitimiert, sagt Herr Strauß, und er muß es ja wohl wissen.
Er hat dann etwas Besinnliches nachfolgen lassen. Ich zitiere ihn noch einmal wörtlich:Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7175WehnerMan wird auch mit der schlechteren Lösung leben können. Ich habe j a nicht gesagt, daß wir die Wahl Kohls zum Kanzler scheitern lassen wollen. Nicht verhandlungsfähig ist unsere Meinung über den besseren Weg. Die haben wir nicht geändert. Aber wir sind Pragmatiker und Realisten und erfüllen unsere Pflicht, indem wir auch den für bedenklich gehaltenen Weg mitgehen.Sie, meine Damen und Herren mit dem „C" vorne und dem „U" hinten und mit den Unterschied des „D" in der Mitte und des „S" in der Mitte,
gehen also jetzt einen für bedenklich gehaltenen Weg.
— Das ist ja wörtlich; ich kann Ihnen auch das Original geben, mein Herr. Sie dürfen sich darüber nicht — —
— Was ich für ein Recht habe, das bestimmen nicht Sie; das bestimmen die Wählerinnen und Wähler.
Ein Recht ist mir wohl — bei jeder Meinungsverschiedenheit, die uns insbesondere drängt, Sie und uns — klar: nämlich daß man das, was bei Ihnen ausgedrückt wird, zitieren und auch erläutern darf.Nun geht es also weiter mit diesen Debatten. Nur eines werden Sie nicht erreichen — da muß ich noch einmal auf Herrn Barzel zurückkommen, der mir leid tut —: jetzt, wie Sie glauben, eine Art von Fegefeuer zustande zu bringen. Das wird Ihnen nicht gelingen, und es wird außerdem nicht helfen. Es wird der Demokratie sehr schaden, Herr Barzel.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Geißler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wahl eines neuen Bundeskanzlers nach Art. 67 des Grundgesetzes ist gewiß ein schwerwiegender Vorgang im Leben unseres Landes. Aber die Unionsfraktionen und die Freien Demokraten stellen diesen Antrag, weil sie der Auffassung sind, daß die jetzige Bundesregierung nicht mehr in der Lage ist, die Probleme unseres Landes zu meistern und unser Land aus der Krise herauszuführen, von der Sie, Herr Wehner, gerade gesprochen haben.
Ich möchte hier sagen, welche Aufgaben diese neue Regierung zu erfüllen hat.
Es geht darum — erstens —,
das Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie neu zu festigen;
zweitens unser Land aus der schwersten Wirtschafts- und Sozialkrise der Nachkriegszeit wieder herauszuführen;
drittens die geistigen und moralischen Grundlagen unseres Zusammenlebens zu erneuern
und viertens, unserer Jugend wieder Hoffnung für eine lebenswerte Zukunft zu geben.
Herr Wehner, Sie haben von der „Manipulation" gesprochen; ich habe gesagt: Wir müssen das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie neu festigen.
Dieses Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie setzt doch wohl voraus, daß alle demokratischen Parteien die Verfassung achten.
Wenn das Parlament ein verfassungsmäßiges Recht, nämlich die Wahl eines neuen Bundeskanzlers, für sich in Anspruch nimmt, dann darf keine demokratische Partei diesen Vorgang als „kalten Machtwechsel", „politischen Verrat", „Komplott" oder „Machenschaften" kompromittieren.
Es wird vom Wählerauftrag des Jahres 1980 gesprochen.
Aber dieser Wählerauftrag kann doch nicht zum Inhalt haben, eine Regierung, wenn sie unfähig geworden ist, die Probleme zu lösen, zum Zwecke der Machterhaltung bis zum Ende der Legislaturperiode zu retten.
Vielmehr lautet unser Auftrag als Abgeordnete doch, eine handlungs- und entscheidungsfähige Regierung zu wählen, die die Probleme dieses Landes auch tatsächlich lösen kann. Wir haben keine plebiszitäre Demokratie, sondern eine parlamentarische, eine repräsentative Demokratie.
Ich komme auf die Flugblätter und die Anzeigen zu sprechen, die wir in den letzten Tagen haben lesen können, auch auf die Demonstrationen gestern. Wir sind hier in einer politisch wichtigen Stunde, und es tut gut, uns an einem solchen Tag an politi-
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7176 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Dr. Geißlersche Maximen zu erinnern, die große Denker unseres Landes formuliert haben. Immanuel Kant erinnert die politischen Redner, Herr Bundeskanzler, an folgendes: „Der Appell an die Affekte ist eine Trugkunst." Und Jaspers sagt: „Der Politiker wird zum Staatsmann dadurch, an welche Antriebe im Volke er sich wendet. Er ruft aus der Tiefe nicht den Wahn und die Wildheit, nicht die Dummheit und Verführbarkeit, sondern die Vernunft der Bürger."
Die SPD ist eine traditionsreiche, um unsere Demokratie verdiente Partei. Doch wer gibt Ihnen denn das Recht, von Verrat zu sprechen, wo doch in Wirklichkeit Ihre Politik gescheitert ist?
Wer gibt der SPD das Recht, von Komplott zu reden, während in Wirklichkeit Sie selber, die eigene Partei, Ihren Kanzler im Stich gelassen haben?
Die alte Koalition ist an der Zerrissenheit, der Uneinigkeit und der Illoyalität der SPD zerbrochen.
Sehr verehrter Herr Brandt, was hier über „legal" und „legitim" gesagt worden ist, war schwer erträglich. Sie haben 1972 als einziger sozialdemokratischer Kanzler eine relative Mehrheit bekommen. Nach zwei Jahren sind Sie von Ihrem Nachbarn und von dem jetzigen Bundeskanzler gestürzt worden. Ihre Moral, die Sie hier vortragen, ist unerträglich.
Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages — das ist schon zitiert worden —, sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur unserem Gewissen verantwortlich. Willy Brandt hat in seiner ersten Regierungserklärung einen guten Satz gesagt: „Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte." Dieser Bundestag und niemand sonst hat Helmut Schmidt gewählt. Dieses Parlament hat das verfassungsmäßige Recht, diesen Kanzler, wenn seine Politik gescheitert ist, wieder abzuwählen.
Ich füge hinzu: Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen,
die Freien Demokraten haben sich diese Entscheidung wahrlich nicht leichtgemacht.
Wir stimmen überein, daß die Frage der Neuwahlen zu einem wichtigen Punkt der Glaubwürdigkeit der politischen Parteien geworden ist.
Wir unterscheiden uns in einem Punkt von Ihnen:
Wir sind für Neuwahlen im nächsten März, und zwar aus zwei Gründen. Ihre Position kann man vertreten — niemand bestreitet es —, aber ich will Ihnen sagen, warum wir den anderen Weg für richtig halten.Erstens. Jeder Tag, der ohne eine handlungsfähige Regierung ins Land geht, kostet Hunderte von Unternehmen die wirtschaftliche Existenz und Zehntausende von Bürgern ihren Arbeitsplatz.
Wir brauchen unverzüglich eine neue handlungsfä- hige Regierung, um die Gesundung der Staatsfinanzen sofort einzuleiten und erste Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu treffen. Aus diesem Grunde sagen wir: Am 6. März werden die Wähler über die neue Regierung und ihr Programm durch Neuwahlen entscheiden.Dies hat auch einen zweiten plausiblen Grund, meine sehr verehrten Damen und Herren. Sie können von uns nicht verlangen, daß wir in eineinhalb Jahren, bis zum regulären Wahltermin, die Dinge wieder in Ordnung bringen, die Sie in den letzten Jahren hier in Unordnung gebracht haben.
Wir wollen, daß die Bürger die Möglichkeit haben, über ihre Zukunft, über die neue Regierung und über das neue Programm zu entscheiden. Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Diskussion würde gewaltig ansteigen, wenn Sie in den Ländern, wo Sie das tun können, z. B. in Hamburg und Hessen, mit uns zusammen rasch Neuwahlen einleiten würden.
Ton und Inhalt der sozialdemokratischen Kampagne beweisen j a, daß die Sozialdemokraten lautstark von ihrem Scheitern ablenken und ihre Verantwortung für die Wirtschaftskrise, die Millionenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Pleiten vernebeln wollen.
Die Bilanz dieser Regierung ist eine Katastrophe. Rainer Barzel hat dazu das Notwendige gesagt. Wer will, daß die Sozialdemokraten weiter regieren, muß sich die Frage gefallen lassen: Wie ginge es eigentlich weiter, wenn sich in Bonn nichts änderte? Wir hätten nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit Ende 1984 drei Millionen Arbeitslose, und dieselbe Zahl nennt der Deutsche Gewerkschaftsbund. Wollen Sie das eigentlich verantworten? Wir wollen dies nicht verantworten.
Im Jahre 1980 hatten wir 9 000 Konkurse, 1981 waren es 12 000, und in diesem Jahre werden es mit anSicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 16 000Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7177Dr. GeißlerKonkurse sein. Wir brauchen eine neue Regierung, um diesen Marsch in die Konkurse, in den Bankrott zu beenden.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede von der Glaubwürdigkeit gesprochen. Die jetzige Regierung hinterläßt für das Jahr 1983 eine Deckungslücke im Bundeshaushalt von über 50 Milliarden DM.
Ich habe hier eine Anzeige von Helmut Schmidt: „Der Wähler hat Anspruch auf Wahrheit und Klarheit". Sie haben vor wenigen Wochen einen Bundeshaushalt 1983 vorgelegt und dabei ein Defizit von 28,5 Milliarden DM angegeben. Tatsächlich und in Wahrheit beträgt dieses Defizit fast das Doppelte: über 50 Milliarden DM. Glaubwürdigkeit, Wahrheit und Klarheit! Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen: Es ist das Verhängnis Ihrer Regierung, daß das deutsche Volk in den letzten Jahren die Wahrheit über die wirkliche Finanzlage des Staates nur noch in Raten erfahren hat.
— Ich will jetzt nicht über die Situation des Jahres 1976 sprechen. Soll ich über die Renten sprechen? Dann werden Sie verstehen, was ich damit sagen will.
Noch von keiner Regierung seit Kriegsende ist das deutsche Volk in wichtigen Fragen so hinters Licht geführt worden wie von dieser Regierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen die politische Arbeit des Bundeskanzlers durchaus würdigen.
Wir bestreiten dem Bundeskanzler nicht das Bemühen um den Ausgleich mit den osteuropäischen Ländern.
Wir bestreiten nicht seinen Mut in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus. Und wir bestreiten nicht sein Bemühen um die weltwirtschaftliche Stabilität.Aber ich erinnere an diesem Tag an die Situation, wie sie z. B. Joachim Fest in seinem Buch über Hitler und die Weimarer Republik beschrieben hat, wo er die große Angst, la grande peur, beschreibt, die sich in den Angsten der Menschen vor der Zukunft,
vor der Unsicherheit des Arbeitsplatzes, vor der Wirtschaftskrise, vor neuen Krisen ausdrückte. Er schildert, wie diese Ängste sich am Ende dieser Republik sich zu einem explosiven Gemisch verdichteten.Warum sind denn damals die Demokraten nicht damit fertig geworden? Doch nicht deswegen, weil sie nicht redlich und pragmatisch gehandelt hätten,
sondern weil sie nicht in der Lage waren, die Menschen von den Idealen einer freiheitlichen Demokratie zu überzeugen, um sie so vor der totalitären Versuchung zu bewahren.Und heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, stehen wir Demokraten vor einer ähnlichen geistigen und politischen Herausforderung.
Die Grundwidersprüche dieser Zeit sind nicht geringer geworden.
Ich behaupte, daß der Verfall der Regierungsautorität, Ihrer Regierungsautorität, Herr Bundeskanzler, seine Ursache darin hat, daß Ihre Partei diese geistige und politische Herausforderung nicht bestanden hat.
Ein demokratisches Staatswesen ist auf die Dauer nur dann überlebensfähig, wenn der Geist der Verfassung als Grundkonsens aller Demokraten von allen demokratischen Parteien, auch von der Regierungspartei, glaubwürdig vertreten wird.Und glauben Sie mir, Herr Brandt — ich habe es Ihnen vor eineinhalb Jahren gesagt —: Demokratisch gesinnte junge Menschen können es nicht verstehen, daß Ihre Jugendorganisationen z. B. an den Universitäten und Hochschulen eine Zusammenarbeit mit den Christlichen Demokraten ablehnen, dagegen mit Kommunisten und Spartakisten die Bündnisse abschließen
Dies muß j a geistige Ursachen haben. Das ist eine Frage der geistigen Führung, von der gesprochen worden ist.
Vorgestern hat der Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz, in bezug auf Helmut Kohl gesagt, die Bundesrepublik Deutschland brauche einen Kanzler, der die deutschen Interessen in Washington und nicht die amerikanischen Interessen in Bonn vertrete.
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Dr. GeißlerDies sagen Sie. Ich fordere Sie auf, dazu Stellung zu nehmen. Dies wird von einem führenden Sozialdemokraten gegenüber einem Mann gesagt,
der so gut wie Sie, sicher sogar besser, aber auf jeden Fall so gut wie Sie, in der Kontinuität der deutschen Nachkriegsgeschichte, der Vertretung der deutschen Interessen, des Eintretens für den Frieden in der Welt und die Einheit Deutschlands steht.
Und das sagen Sie gegenüber einem Mann, der in seiner Person das Vertrauen verkörpert, das Sie und Ihre Regierung verloren haben. Das möchte ich hinzufügen.
Aber schon einmal fiel in diesem Haus das Wort vom „Kanzler der Alliierten". Peter Glotz ist nicht Kurt Schumacher; das ist richtig.
Aber es ist der gleiche Geist, der damals und jetzt wieder zum Ausdruck kommt.
Es ist ein neutralistisches Denken, das nicht begreift, daß wir uns in dieser Allianz nicht zu einer geographischen Interessengemeinschaft zusammengeschlossen haben. Nicht jede administrative Entscheidung in der Sozialpolitik oder der Innenpolitik der amerikanischen Administration muß von uns gebilligt werden. Wir sind souverän genug, darüber unser eigenes Urteil zu fällen. Aber uns verbindet mit den Vereinigten Staaten die gemeinsame Überzeugung von den demokratischen Grundwerten. Die Atlantische Allianz ist eine Wertegemeinschaft.
Der Neutralismus oder die Versuchung zum Neutralismus Ihrer Politik hat seine Wurzeln im Neutralismus der Werte. Wir lehnen diesen Neutralismus der Werte ab — und ich zitiere hier Walter Scheel —, weil wir wissen, daß es keinen halben Weg zwischen Freiheit und Diktatur gibt.
Ich habe davon gesprochen, daß der Verfall der Regierungsautorität des Bundeskanzlers darauf zurückzuführen ist, daß Sie mit dieser geistigen Herausforderung nicht fertig geworden sind. Dafür gibt es viele Beispiele. Es gibt auch Beispiele dafür, wie Sie Begriffe von Antidemokraten in Ihren eigenen politischen Sprachschatz übernommen haben. Ich will dies hier nicht aufzählen. Lassen Sie mich das aber sagen: nicht Freunde der Demokraten, sondern Kommunisten haben z. B. in den letzten Jahren unsere Verfassung als Formaldemokratie oder gar als FDGO — in der Abkürzung — abgewertet. Darüber kann man nicht erstaunt sein. Aber auf dem Berliner Parteitag der SPD hat Professor Walter Jens — dessen Qualitäten als Gelehrter und Literaturhistoriker ich nicht in Frage stellen will — eben diese freiheitlich-demokratische Grundordnung als FDGO lächerlich gemacht. Auch dies könnte man noch hingehen lassen. Aber nicht mehr hinnehmen kann man, daß eine demokratische Partei wie die SPD diesen Ausführungen frenetischen Beifall geklatscht hat.
Ich erinnere an die Worte eines anderen deutschen Schriftstellers, Rainer Kunze, der aus der DDR geflüchtet ist. Er war acht Tage in der Bundesrepublik Deutschland und wurde von einer Reporterin gefragt, was er denn nun von den Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland halte. Er sagte einen Satz: „Sie wissen nicht, was sie haben."
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch aus diesem Grund brauchen wir eine neue Regierung.
— Es gibt keine Partei und auch keine Sekte, in der die Unwissenden nicht zugleich die Heftigsten sind, das will ich Ihnen einmal sagen.
Wir brauchen eine neue Regierung — und dies ist die Schlußfolgerung, die ich daraus ziehe —, die unserem Volk wieder sagt, welche Werte es verteidigt, wer diese Werte bedroht und wer seine Freunde sind, die ihm im Notfall helfen.
Die geistige Krise der SPD wurde zur politischen Krise der Regierung. Die sozialdemokratischen Konzepte konnten im übrigen auch innenpolitisch nur Erfolg haben in der Zeit voller Kassen. Der Orientierungsrahmen '85, an dem ja der Herr Bundeskanzler an verantwortlicher Stelle mitgearbeitet hat, war ein Wechsel auf ein unbegrenztes Wachstum und auf volle Kassen. Die jetzige Regierung ist auch deswegen am Ende, weil sie es versäumt hat, politische Konzepte für die Zeiten knapper Mittel zu finden. Eine Regierung muß dem Volk sagen — und das ist in dieser Erklärung von heute vormittag nicht getan worden —, wo es wirtschaftlich steht und wann es über seine Verhältnisse lebt. Der wirtschaftliche und soziale Niedergang ist geradezu vorprogrammiert, wenn eine Regierung die schöpferischen Kräfte des Volkes und die Bereitschaft zur Leistung verschüttet und bestraft. Dies ist in den letzten zehn Jahren der Fall gewesen.
Die eigene Partei des Bundeskanzlers hat doch die psychologischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft zerstört. Auf ihren Parteitagen wurde doch der Gewinn als der ausbeuterische Profit des Kapitalismus
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Dr. Geißlerdiffamiert. Lange Jahre hindurch durfte ein Sozialdemokrat das Wort „Gewinn" doch überhaupt nicht mehr in den Mund nehmen, wenn er etwas werden wollte.
Neuerdings spricht der Herr Bundeskanzler wenigstens wieder davon, daß die Unternehmen Erträge machen müßten.
Aber die Wahrheit ist auch hier eine andere: Es ist keine „kapitalistische Sünde", wie die Neomarxisten behaupten, wenn Betriebe Gewinne machen, sondern es ist ein Verhängnis für die Arbeiter und die Unternehmen, wenn die Unternehmen Verluste machen müssen.
Weil Sie von der sozialen Gerechtigkeit gesprochen haben — ich habe Herrn Ehmke gerade gehört; Sie können noch ein paar Zwischenrufe machen —: Mit dieser Politik haben Sie mindestens 1,7 Millionen Arbeitsplätze verwirtschaftet; denn die über hunderttausend Konkurse seit 1973 haben sich alle im mittelständischen Bereich abgespielt, und im mittelständischen Bereich werden 75 % der Arbeitsplätze vorgehalten. Wenn Sie wissen wollen, woher die Arbeitslosigkeit kommt, dann müssen Sie hier ihre Ursachen suchen.
Wir brauchen eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Die neue Regierung muß, was die alte Regierung in den letzten Jahren versäumt hat, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unser Volk an die neuen und auch an die harten Realitäten heranführen. Nur, was nottut, ist nicht allein der Rotstift. Die Menschen sind bereit, Opfer zu bringen, aber wir müssen sie davon überzeugen, daß diese Opfer einen Sinn haben.
Und sie müssen davon überzeugt sein, daß es gerecht zugeht in unserem Land.
— Ich bin mal sehr gespannt, ob Sie nachher auch noch klatschen werden.
Die historische Wahrheit ist die: In der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung, in der Zeit eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers, ist es zu den größten sozialpolitischen Spannungen gekommen, die dieses Land seit 1949 erlebt hat.
Und weil Sie von den Rentnern sprachen: Allein die Rentner werden durch Ihre — ich füge hinzu — manipulativen Entscheidungen am Rentenversicherungssystem in den nächsten zehn Jahren Einkommensverluste zwischen 10 000 und 20 000 DM hin-nehmen müssen. Dies ist die Konsequenz Ihrer Politik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können einen neuen Anfang nur machen, wenn wir neue Grundsätze beherzigen. In einer Zeit knapper Kassen muß sich
— und jetzt hören Sie bitte zu — die soziale Gerechtigkeit auch dadurch bewähren, daß Bürger mit einem hohen Einkommen mit weniger Kindergeld zufrieden sind.
Wer ein hohes Einkommen hat, hat kein Recht darauf, daß ihn der Staat wie einen Bedürftigen betreut.
Und ich füge hinzu: Wer ein hohes Einkommen hat, kann auch die Schulbücher und die Fahrtkosten für seine Kinder aus der eigenen Tasche bezahlen. Dazu braucht er keine staatliche Hilfe.
Deswegen halten wir es auch für richtig, daß Bezieher höherer Einkommen einen zusätzlichen Beitrag als Investitionshilfe leisten, z. B. für den sozialen Wohnungsbau.Ich habe zu meiner großen Verwunderung — das muß ich sagen — vorgestern die Minister Lahnstein, Westphal und noch zwei andere eine neue Sprachregelung ausgeben hören. Herr Barzel hat die Sache schon angesprochen. Aber auch ich möchte dazu noch etwas sagen.
Sie sprachen von einer Rückkehr zur Ellenbogen-Gesellschaft.Ich stelle die Frage: Wer mutet denn eigentlich den Besserverdienenden, den gut organisierten Beamten zum Beispiel, Verzicht zu, die alte oder die neue Bundesregierung? Wer ist denn immer vor denen zurückgewichen, die am lautesten geschrien haben?
Sie haben es in Ihrer ganzen Regierungszeit nicht gewagt, eine einzige Sparmaßnahme gegen die Macht großer Verbände durchzusetzen.
In einer Zeit, in der Millionen Menschen arbeitslos sind und viele Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen, haben Sie es nicht gewagt, von denen ein Opfer an Solidarität zu verlangen, die einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst haben.
Wir schlagen dies vor. Wir suchen das Gespräch mitden Verbänden, aber wir werden uns keinem Druck7180 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982Dr. Geißlerbeugen, wo es um die gemeinsamen Interessen aller geht.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Geißler; ich darf Sie unterbrechen. — Ich bitte, Zwischenrufe in dieser Häufigkeit zu unterlassen, weil sie störend wirken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden mir j a nicht widersprechen können. Ich habe hier nichts Unglaubwürdiges vorgetragen.
Was ich hier sage, ist unsere Politik. Sie unterscheidet sich in den Grundsätzen von dem, was Sie machen. Wir sind keine Ellenbogensozialisten, die die Belastung auf diejenigen konzentrieren, die sich am wenigsten wehren können.
Wir wollen keine Ellenbogengesellschaft, aber wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen wieder den Mut bekommen, die Ärmel hochzukrempeln. Das ist immer noch besser, als wenn sie die Hände in den Schoß legten und auf den Staat warteten oder aber die Fäuste gegen den Staat ballten.
Dann sprach der Herr Bundeskanzler von der Jugend, um die es heute ginge; das ist wahr. Wir brauchen auch deswegen eine neue Regierung, um unserer Jugend wieder Hoffnung für eine lebenswerte Zukunft zu geben. Als die alte Regierung begann, Herr Brandt, hatte sie viele junge Menschen auf ihrer Seite. Und heute? Aussteigertum, Protest, Staatsverdrossenheit und Enttäuschung. Aber das hat eben auch seine Gründe. Sie haben damals sozusagen regierungsamtlich gesagt, alles sei machbar, die wirtschaftliche Entwicklung sei unbegrenzt,
Demokratie fange überhaupt erst an, die Vollbeschäftigung könne vom Staat garantiert werden und das Neue sei im Prinzip eben besser als das Alte. Und dann erleben die jungen Menschen als junge Erwachsene den Zusammenbruch dieser Vorstellungen. Sie erleben jetzt: Arbeitslosigkeit, Einschränkung der freien Berufswahl, Angst vor der Zukunft, Angst vor der Zerstörung der Umwelt, verbunden mit einer tiefen Enttäuschung über Reformvorstellungen und Reformversprechungen.Dies alles bringt viele dazu, nur noch in der Auflehnung, Rebellion oder Resignation eine angemessene Reaktion auf diese Art von Politik zu sehen. Auch deswegen brauchen wir eine neue Regierung — ich sage: eine neue Regierung — unter Helmut Kohl, eine Regierung der Mitte, um einer ernüchterten, einer enttäuschten Jugend durch eine ehrliche Politik wieder erreichbare Ziele zu geben.
Dazu brauchen wir wirtschaftlichen Aufschwung, Ja zum technischen Fortschritt, aber auch die Vorstellung einer Welt, in der die Menschen nicht nur produzieren, sondern auch wissen, wofür sie leben, eine Welt, in der uns die natürliche, soziale und kulturelle Umwelt erhalten bleibt.
Unsere Werte beruhen nicht nur auf dem, was wir haben, sondern auch auf dem, woran wir glauben. Ich habe von der geistigen Erneuerung gesprochen: Wir sind in unserer gesellschaftlichen Entwicklung an einem Scheideweg angekommen.
Wir müssen uns heute entscheiden, in welche Richtung wir weitergehen sollen: weiter in Richtung mehr Staat, mehr Bürokratie, mehr Kollektivismus, mehr Anonymität in Verwaltung, in Schulen, in Krankenhäusern oder umkehren zu einer menschlichen und überschaubaren Ordnung in Staat und Gesellschaft.
Dies heißt z. B.: Der Staat muß auf Übernahme von Aufgaben verzichten. Wir brauchen eine neue Teilung der Aufgaben. Der Staat muß auf solche Aufgaben verzichten, die der einzelne oder die jeweils kleinere Gemeinschaft erfüllen kann. Was der Bürger allein in der Familie, im freiwilligen Zusammenwirken mit anderen ebenso gut leisten kann, soll ihm vorbehalten bleiben. Gemeinde, freie Träger, Initiativgruppen, Nachbarschaft, Familie und soziale Dienste können mehr Bürgersinn und Bürgerverantwortung erzeugen als die große und anonyme Betreuung.
Die neue Regierung, die Koalition der Mitte, wir werden setzen auf freie Initiative und Leistung. Wir wissen, daß das schöpferische Schaffen der Menchen einen sozialen Sinn hat. Wir sagen, wer Leistung verweigert, obwohl er leisten könnte, handelt unsozial,
weil wir sonst denen nicht helfen können, die zur Leistung nicht mehr fähig sind: den Kranken, den Alten und den Behinderten. Wir glauben an die Pflicht zur Solidarität und an den Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung. Wir meinen auch, daß menschliche Selbst- und Nächstenhilfe menschlicher ist als staatliche Fürsorge. Wir erwarten, daß junge Menschen nicht ein bequemes Leben führen, sondern die Übel in dieser Welt bekämpfen wollen. Wir hoffen, daß unsere Bürger keine Anstrengungen unterlassen, um die Freiheit zu verteidigen und dadurch die Hoffnung auf Freiheit für andere erhalten.
Wir übernehmen diese Regierung zu einem Zeitpunkt,
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Dr. Geißlerwo jeder Tag neue Schulden und mehr Arbeitslose bringt. Der Weg aus der Krise ist lang und beschwerlich. Wann hat je eine neue Regierung in der Bundesrepublik Deutschland ein solches Erbe übernehmen müssen? Die neue Regierung allein kann es nicht schaffen. Aber ihre Politik, davon bin ich überzeugt, wird bei den Menschen neue Energien und Initiativen freisetzen um so die Bürger zu neuen Anstrengungen mitreißen. Diese Regierung, die neue Regierung, ist ein Zusammenschluß der politischen Mitte in der Bundesrepublik Deutschland, eine Koalition aller, die mit uns einen neuen Anfang machen wollen. Dafür steht der Mann, den wir heute zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wählen werden, Helmut Kohl.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist eine schwere Stunde — nach meiner Überzeugung eine schwere Stunde für den Staat deshalb, weil wir wissen, ganzgleich wo wir stehen, daß die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland, die über 35 Jahre selbstverständlich war, heute nicht mehr die gleiche Selbstverständlichkeit hat. Landtagswahlen haben dies bewiesen. Dies ist eine schwere Stunde für dieses Parlament, weil ich weiß — es geht mir selbst so —, daß viele Abgeordnete quer durch die Fraktionen hin- und hergerissen sind zwischen dem, was in dem Wahlkampf 1980 als Grundlage der Entscheidung gesehen wurde, und dem, was die Verfassung dem Abgeordneten, wenn er gewählt ist, aufträgt zu handeln.Es ist eine schwere Stunde für meine Partei, weil sich in ihr am meisten diese Diskrepanz, diese Spannung, das Spannungsverhältnis, was daraus entsteht, widerspiegelt. Und ich gestehe offen, es ist eine schwere Stunde für mich. Ich habe diese Koalition vor 13 Jahren bewußt mit herbeigeführt. Ich habe zu ihr gestanden bis zur letzten Minute.
Manche sagen: zu lange. Auch diese Kritiker mögen recht haben.Herr Bundeskanzler, Sie haben am 17. September in einem Gespräch, bevor Sie hier Ihre Rede hielten, deutlich gemacht, daß diese Koalition zu Ende geht. Ich habe Sie gefragt, ob das in Ihrer Rede steht. Sie haben mir geantwortet: Ja. Ich habe Sie gefragt, ob Sie erwarten, daß die Minister der Freien Demokraten zurücktreten. Sie haben das bestätigt. Ich habe Ihnen gesagt: Wenn das nicht geschieht, werden sie dann entlassen? Sie haben mir das bestätigt.Das ist von Ihrem Standpunkt her die Konsequenz Ihrer Rede: es war nicht mehr zumutbar zusammenzuarbeiten.Herr Bundeskanzler, ich möchte allerdings auch hinzufügen: wenn Sie dann zulassen, daß das alsVerrat gekennzeichnet wird, enttäuscht mich das tief.
— Sie brauchen keine Sorge zu haben, daß ich auch nur einen Grund verschweige, den zu nennen ich für notwendig halte. Ich weiß, daß diese Entwicklung, von der Sie meinten, daß sie unaufhaltsam sei, mit dadurch beeinträchtigt worden ist, daß unterschiedliche Meinungen aus meiner Fraktion, aus meiner Partei sichtbar waren. Aber es war doch nicht nur so, daß dies aus der FDP kam, sondern sie kamen ja auch aus der SPD. Die Frage wurde gestellt, ob es noch einen Sinn habe. Wenn man das Postulat — für mich ist es nicht nur ein Postulat, sondern es ist eine innere Einstellung — „Würde" so stark herausstellt, dann, Herr Bundeskanzler und meine Kollegen von der SPD, bitte auch in einem Augenblick, wo man erkennt, daß es eben nicht mehr möglich ist, die gemeinsame Arbeit fortzusetzen, mit Würde festzustellen, daß es sachlich keine Gemeinsamkeit in vielen Fragen mehr gibt. Dies scheint mir notwendig zu sein.
Ich füge auch hier hinzu, daß das unterschiedlich beurteilt wird, daß es Bereiche gibt, bei denen ich fest überzeugt bin, daß man auch morgen noch gemeinsam arbeiten könnte. Aber jetzt steht im Vordergrund das Problem der Wirtschafts-, der Gesellschafts-, der Finanz- und Steuerpolitik.Ich füge hinzu, es steht vor uns die Frage auch von einer anderen Seite, als sie hier zum Teil angesprochen worden ist, nämlich, ob hier dieses Parlament in einer so schwierigen Lage bereit ist, zu handeln, und in Kauf nimmt, den Vorwurf zu bekommen, nicht sofort zum Wähler zu gehen. Ich kann das um so leichter sagen, als ich ja schon am 9. September, Herr Bundeskanzler, als Sie zum erstenmal von Neuwahlen sprachen, als einziger hier eine andere Meinung vertreten habe. Wir waren uns beide in einem Gespräch darüber klar, daß das Grundgesetz unterschiedliche Möglichkeiten zuläßt. Aber ich wiederhole, was ich Ihnen sagte: Ich bin zutiefst überzeugt davon — das ist meine ganz persönliche Meinung —, daß das Grundgesetz in erster Linie das Parlament aufruft zu handeln, und nur dann, wenn es nicht handeln kann, die Neuwahl als letzte Möglichkeit vorgesehen ist.
Dieses Verfassungsverständnis mag heute stärker als früher im Widerspruch zum allgemeinen Empfinden stehen; dies bestreite ich nicht. Es wird eine gemeinsame Aufgabe sein, das — wozu es harter Diskussionen bedarf — sichtbar und deutlich zu machen.Ich füge, um hier keinen Irrtum aufkommen zu lassen, sofort hinzu: Es ist zwischen CDU, CSU und FDP eine Vereinbarung getroffen worden, und ich habe gelernt, Mehrheiten zu respektieren. Ich er-
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Mischnickwarte von meinen Freunden, daß sie Mehrheiten respektieren, und ich respektiere auch Mehrheiten, wenn in einer Koalitionsvereinbarung für die Zukunft etwas festgelegt wird. Ich bitte deshalb darum, in meinen grundsätzlichen Auffassungen, die ich nach wie vor habe, nicht etwa den Versuch des Herausgleitens aus einer Vereinbarung zu sehen. Aber ich halte es für meine Pflicht, die grundsätzliche Meinung auch in diesem Augenblick mit der gleichen Deutlichkeit darzulegen, wie ich es vor wenigen Tagen getan habe, weil auch das zur Glaubwürdigkeit gehört, die hier mehrfach beschworen worden ist.
Meine Damen und Herren, diese Pflicht zum Handeln steht ja auch nicht im Widerspruch zu Auffassungen, die in diesem Hause schon geäußert worden sind. Herr Bundeskanzler, Sie haben als Vorsitzender der SPD-Fraktion in einer Antwort auf meine Rede, die ich im Dezember 1966 zur Regierungserklärung der Großen Koalition hier zu halten hatte, wörtlich gesagt:Es war das Parlament, das aus sich heraus die neue Regierung geschaffen hat. Ein Beweis für die Funktionstüchtigkeit des Deutschen Bundestages!
Ich stimme Ihnen voll zu.Heute gibt es nicht die gleichen Umstände, aber ähnliche Umstände.
Helmut Schmidt hat damals weiter gesagt: EineRegierung muß nach den Möglichkeiten einer arbeitsfähigen Mehrheit gebildet werden.
Dies soll geschehen. — Helmut Schmidt hat seinerzeit auch den damaligen Bundeskanzler Kiesinger zustimmend zitiert und wörtlich gesagt,die gegenwärtige Regierung sei nicht aus einem glänzenden Wahlsieg hervorgegangen, sondern aus einer von unserem Volk mit tiefer Sorge verfolgten Krise.Sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn man von Glaubwürdigkeit spricht, bitte ich auch darum, die Glaubwürdigkeit, die diese damalige Äußerung hatte, nicht dann, wenn das in einer anderen Konstellation genauso zutrifft, in Zweifel zu ziehen.
Ich wiederhole, daß sich die Interessenlage in solchen Situationen verändern kann. Ich werfe niemandem vor, daß er aus seiner Interessenlage zu anderen Entscheidungen kommt.
Da aber, wo ich das Gefühl bekomme, daß die eigene Interessenlage plötzlich mit dem Vorwurf verbrämt werden soll, die Interessenlage der anderen oder deren Entscheidungsbereitschaft sei gegen Recht und Sitte, muß ich darauf verweisen, daß Recht und Sitte im Grundgesetz den hier vorgesehenen Weg absolut legitimieren. Wer dies bezweifelt, muß den Mut haben, zu sagen, daß er das Grundgesetz in diesem Punkte für falsch hält und ändern will.
Ich stehe auch in dieser Stunde nicht an, die 13jährige Regierungsverantwortung, die ja sehr viel Kritik erfahren hat, so zu beurteilen, wie ich es immer getan habe. Es waren entscheidende Schritte, neue Schritte in der Außen- und Ostpolitik, es waren entscheidende Schritte in der Innenpolitik, in der Gesellschaftspolitik, deren Grundlagen ich heute genauso positiv beurteile wie gestern.
Ich bestreite nicht, daß dabei Fehler gemacht worden sind. Wo Menschen tätig sind, werden Fehler gemacht. Das war in der Regierungskoalition CDU/ CSU/FDP so, das war in der Großen Koalition so, das war in der jetzigen Koalition so, und das wird in einer künftigen Koalition genauso sein. Aber worauf es ankommt: ob dann, wenn man erkannt hat, daß da oder dort ein Fehler gemacht worden ist, man den Mut hat, aus diesem Fehler zu lernen. Wenn man dann nicht ideologiebefrachtet, sondern aus der Vernunft heraus entscheidet, ist dies leichter. Wir bemühen uns, aus der Vernunft heraus zu entscheiden.
Nun ist hier mehrfach davon gesprochen worden — und ich bin sicher, es wird auch von den Kollegen, die aus meiner Fraktion eine abweichende Meinung darlegen werden, dazu Stellung genommen werden —, daß doch manches, was jetzt vorgesehen ist, auch in der alten Koalition hätte gemacht werden können,
manches nicht. Ich stelle fest, daß natürlich auch hier — das ist kein Vorwurf, einfach eine Feststellung — zwischen der ersten Reaktion, dies sei in der alten Koalition möglich gewesen, und der zweiten Reaktion, so etwas könne man nie mit der SPD machen, genau das deutlich wird, was das Problem des letzten halben Jahres in dieser Koalition war: daß nämlich innerhalb der SPD eine unterschiedliche Auffassung in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik besteht und deshalb die Voraussetzungen für eine weitere gemeinsame Arbeit immer mehr verlorengegangen sind.
Sie haben sich gewundert, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, weshalb in meiner Partei der Münchener Parteitag so oft erwähnt wurde. Ich füge hinzu: ich habe manche Reaktion aus den Reihen meiner Partei, meiner Fraktion unmittelbar nach dem Münchener Parteitag für überzogen gehalten. Ich muß allerdings heute feststellen,Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7183Mischnickdaß die Wirkung dieses Parteitages in ihre Handlungsfähigkeit hinein größer war, als ich am Anfang befürchtet hatte.
— Da mögen Sie widersprechen. Die Fakten haben mir in den Beratungen immer mehr recht gegeben.
Die Kluft — —
— Lieber, verehrter Herr Kollege, wenn Sie in allen Sachfragen — auch den für Sie kritischen — mit der inneren Anteilnahme, mit dem inneren Engagement gerungen hätten wie ich, dann hätten Sie mehr Recht zu diesem Zwischenruf. Ich möchte Sie bitten, sich das sehr genau zu überlegen. —
Die Kluft, die zwischen dem entstand — das habe ich doch nun in unendlich vielen Gesprächen miterlebt —, was an Übereinstimmung auch des Bundeskanzlers und vieler Kabinettskollegen mit vielen Punkten mit uns, mit vielen Kollegen der Fraktionsführung vorhanden war, und dem, was dann an äußerer Auseinandersetzung kam, zeigte doch, daß hier einfach offensichtlich um der eigenen Identität willen — das schätze ich doch nicht schlecht ein —
für die Sozialdemokraten eine Grenze erreicht war, wo dann die Möglichkeit der Zusammenarbeit nicht mehr gegeben ist.
Dies ist ein durchaus anerkennenswerter Gesichtspunkt. Meine Bitte ist nur: wenn dies eine Rolle spielt, dann dies offen zugeben und nicht so tun, als seien dunkle Machenschaften dahinter, wenn es zu dieser Entscheidung jetzt kommt.
Natürlich frage ich auch mich: hat man immer alles getan, hat man alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Ich glaube es versucht zu haben. Noch an dem Donnerstag vor der Rede des Herrn Bundeskanzlers ist an dem ganzen Abend der Versuch gemacht worden, Kontakt aufzunehmen.
Ich sage das, damit hier keinerlei Legendenbildung kommt.
— Auch diese Reaktion zeigt mir wieder, daß im Augenblick die Emotion — wofür ich Verständnis habe — stärker ist als die nüchterne Betrachtung der Situation.Wir haben in der Vergangenheit — und wir werden dies für die Zukunft in unserer Politik deutlich machen — darum gerungen, mehr Freiräume zu schaffen. Wir haben das in vielen Bereichen erreicht.Und ich weiß, wie schwer die Aufgabe im rechts-und innenpolitischen Bereich ist, die bei einer neuen Koalition auf uns zukommen wird.
Dessen bin ich mir bewußt.
Wir haben in der Außenpolitik und in der Deutschlandpolitik manches bewegen können, was vor zehn, fünfzehn Jahren als nicht beweglich galt. Dies werden wir bewahren, weil wir zu dieser Politik auch in Zukunft stehen werden. Denn es gibt keinen anderen Weg als diesen.
Wir wissen aber auch, daß jetzt mehr Eigenverantwortung, mehr Eigenbereitschaft zur Lösung der ganzen Probleme notwendiger ist als der Ruf nach mehr Staat. Es ist doch nicht so, daß das, was jetzt kulminiert hat, in den letzten Wochen auf den Markt gekommen wäre. Mein Kollege Hoppe hat hier jahrelang immer stärker Warnungen und Mahnungen ausgesprochen, was oft mit sehr viel Kritik bedacht wurde. Aber in Wahrheit hat es sich doch gezeigt, wie berechtigt die Warnung war. Sosehr die einen sagen: zu lange, so sehr müssen die anderen anerkennen, daß das ein Beweis ist, wie man versucht hat, bis zur letzten Minute den gemeinsamen Weg zu gehen, der aus dieser Situation herausführen kann, dann aber festgestellt werden mußte, daß der Mut zu unpopulären Entscheidungen zuletzt im umgekehrten Verhältnis zu den Notwendigkeiten gestanden hat. Das ist das, was ich feststellen muß.
Ich kann nur hoffen, daß für die zukünftige Arbeit, für das, was man sich vornimmt, der Mut bleibt, auch dann, wenn der Widerstand groß wird. Es ist heute notwendig, daß ein Ausstieg aus der Anspruchsmentalität erfolgt, aber nicht ein Ausstieg aus der Gesellschaft oder ein Ausstieg aus der Verantwortung. Die Verantwortung müssen wir wahrnehmen.
Die Freien Demokraten sind in einer Situation, da eine Koalition beendet und eine neue noch nicht gebildet ist, immer von beiden Seiten unter schwerem Druck. Die hessische Wahl hat es bewiesen. — Die hessische Wahl hat natürlich auch eines bewiesen, Herr Bundeskanzler — das muß man neidlos zugestehen —: Die Art, wie Sie es gemacht haben, war genial, der Augenblickserfolg ungeheuer.
Aber, Herr Bundeskanzler, sind Sie sich wirklich im klaren,
was das auch langfristig bedeutet? Einer Ihrer Wegbegleiter im publizistischen Raum, Theo Sommer, hat in der „Zeit" geschrieben:Schmidts unverhohlen zur Schau getragene Abneigung gegen Genscher hat die SPD über dievierzig Prozent gehievt. Zugleich hat sie freilich
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7184 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Mischnickeine Verwerfung der politischen Landschaft mitbewirkt, die uns noch zu schaffen machen wird.Ich teile diese Meinung.
Wir müssen diese Wirkungen unabhängig davon, welche Entscheidung heute fällt, unabhängig von dem, was an politischen Entscheidungen in der Zukunft in diesem Hause fallen wird, ernst nehmen und sollten uns davor hüten,
diesen Weg weiterzugehen, der mit Emotionalisierung am Ende Stabilität in Frage stellt.
— Verehrter Herr Kollege Ehmke, Sie haben nun mehrfach den Zwischenruf „Genscher!" gemacht. Diejenigen, die als Berater des Bundeskanzlers oder wo auch immer meinten, man müsse einen Keil in die FDP hineintreiben, um zu trennen, täuschen sich.
Es war schon zu Adenauers Zeiten so, als man versucht hat, den Vorsitzenden der FDP von außen zu demontieren. Dann hat sich die Partei um so geschlossener dahintergestellt. Ich möchte Sie herzlich bitten, jetzt in diesem Augenblick nicht das zu tun, was wir 1972 — hier wird ja so oft falsch zitiert — gemeinsam abgewehrt haben, wogegen wir uns gewandt haben, nämlich zu versuchen, in die eigenen Reihen Differenzen hineinzutragen. Daß hier manchmal unterschiedliche Meinungen zwischen dem Parteivorsitzenden und dem Fraktionsvorsitzenden
über taktische Überlegungen bestanden, bestreite ich nicht, aber daß wir gemeinsam immer das Interesse hatten, diese Freie Demokratische Partei als einen Faktor, der diese Bundesrepublik Deutschland mitgestaltet hat, geschlossen zu halten, das wird uns niemand absprechen können. Da wird uns niemand einen Keil dazwischentreiben können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade das, was wir durch Emotionalisierung in manchen Bereichen erreicht haben, ist j a durch den Ausruf des Mitglieds des Bundesvorstandes der Grünen, Herrn Dieter Burgmann, nach der Hessen-Wahl sehr deutlich geworden. Er hat gesagt: Wir würden es begrüßen, wenn es in Bonn zu ähnlichen Verhältnissen wie in Hessen käme. — Das rüttelt an dem Bestand unserer Demokratie. Alle in diesem Hause müssen sich einig sein, daß wir uns dagegen wehren müssen.
Wir sollten dies auch in einem Augenblick, in demmanches an Entscheidung wehtut, nicht vergessen.Wir haben aufgefordert, diesen Weg zu gehen, einen neuen Anfang mit politischen Entscheidungen zu treffen.
— Lieber Herr Kollege, Sie machen jetzt den Zuruf: „Zimmermann!" Ich verstehe, daß Sie dies zu personalisieren versuchen.
Nur: Der, der vor Ihnen steht, hat in diesem Hause noch jeden Kollegen — aus Ihren Reihen wie aus anderen Reihen — verteidigt, wenn er das Gefühl hatte: Hier wird er zu Unrecht angegriffen. Das werde ich auch in Zukunft tun. Ich werde sachlich meine Meinung nie ändern, wenn ein anderer Innenminister wird, der nicht meiner Meinung ist. Aber ihn dann persönlich als die Inkarnation des Bösen hinzustellen, ist genauso falsch, wie es aus den Reihen der Union gegenüber Herbert Wehner und anderen geschehen ist. Deshalb bitte ich doch, dies hier sein zu lassen.
Meine Damen und Herren, die Verkrampfung, die in den letzten Wochen und Monaten über unserem Land war, muß endlich gelöst werden. Die Agonie über Wochen und Monate, die beklagt wurde, muß ein Ende haben. Wir werden diesen Versuch unternehmen, und ich füge hinzu: Es ist ein Versuch! Ich behaupte nicht, daß, wenn heute eine Entscheidung gefallen ist, alle Probleme gelöst sind. Aber es ist notwendig, diesen Versuch zu beginnen, ihn zu wagen und damit den Beweis zu liefern, daß — entsprechend der Rede von Helmut Schmidt, die er damals vor dem Bundestag gehalten hat — Mehrheiten in der Lage sind, zu handeln.Ich habe schon darauf hingewiesen — dies wird sich dann hier in Beiträgen niederschlagen —, daß ich im Augenblick mit der Bereitschaft, diesen neuen Weg zu gehen, nur für einen — den größeren — Teil meiner Fraktion spreche. Natürlich wäre ich froh gewesen, wenn es volle Geschlossenheit gegeben hätte. Ich füge hinzu: Ich hätte mich gewundert, weil mir natürlich das harte Ringen um diese Punkte in den eigenen Reihen klar war.
Ich habe Verständnis dafür, wenn Kollegen die Notwendigkeit, die vor uns steht, heute noch nicht als gegeben sehen. Ich habe in diesem Parlament schon bei verschiedenen Gelegenheiten mit allem Nachdruck das Recht jedes einzelnen unterstützt, seine andere Meinung zu vertreten. Was für die Kollegen anderer Fraktionen gilt, gilt selbstverständlich genauso für Kollegen meiner Fraktion. Ich sage das weniger zu den Abgeordneten dieses Hauses als vielmehr nach außen, weil oft die Frage gestellt wurde „Ist denn das richtig?": In diesem Parlament hat jeder das Recht, seine abweichende Meinung zu
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7185
Mischnicksagen. Dieses Recht soll er in Anspruch nehmen, wenn er es für notwendig hält. Ich werde dieses Recht verteidigen. Ich gehe aber auch davon aus, daß die Erkenntnis wächst, daß man aus der Augenblickssituation heraus nicht immer Endgültiges für morgen und übermorgen sagen kann.
Ich werde darum ringen, daß die FDP-Fraktion die Geschlossenheit wiederfindet, die sie über lange Jahre ausgezeichnet hat.Lassen Sie mich noch folgendes sagen: Wir haben viele notwendige Sachentscheidungen zu treffen. Ich will jetzt nicht auf all das eingehen, was als Regierungserklärung, wenn eine Kanzlerwahl stattgefunden hat, dann zur Debatte steht. Ich möchte nur auf eines hinweisen — Kollege Barzel und auch Kollege Geißler haben schon einige Punkte erwähnt —: Man kann natürlich nicht erwarten, daß in der kurzen Zeit, die wir uns vorgenommen haben, nun alle Bereiche mit der Gründlichkeit behandelt werden, wie ich es gern sähe. Aber Sie können sicher sein, wir werden uns bemühen, das auch umzusetzen, was wir uns vorgenommen haben.Wir müssen die notwendigen Sachentscheidungen treffen. Deshalb ist es falsch zu sagen, jetzt müsse der Bundestag aufgelöst werden. Das würde ich als eine Flucht vor den notwendigen Entscheidungen betrachten. Da kann man anderer Meinung sein, aber sich mit den getroffenen Entscheidungen vor den Wähler zu stellen ist nicht leichter,
ist wahrscheinlich schwerer, als zum jetzigen Moment zu wählen. Auch das sollte man nicht vergessen.
Wenn Sie wieder fragen, wann, muß ich erwidern: Ich bedaure, daß Sie überhört haben, daß ich klipp und klar gesagt habe, ich stünde zu dieser Vereinbarung.
— Natürlich, davon gehe ich aus. Das ist ganz klar; das habe ich vorhin schon einmal gesagt, damit kein Irrtum entsteht. Ich habe vorhin schon deutlich gesagt, daß ich mich dazu bekenne, auch wenn ich persönlich eine andere Meinung habe. Aber ich habe das ganz klar gesagt, und dabei bleibe ich.
Gestatten Sie mir zum Abschluß noch zwei persönliche Worte. Herr Bundeskanzler, wir haben über lange Jahre sehr eng zusammengearbeitet. Ich schätze diese Arbeit. Ich respektiere Ihre Leistung. Ich stehe zu dieser Zusammenarbeit. Ich bin dankbar dafür. Daß wir jetzt getrennte Wege gehen müssen, gehört zur Demokratie. Um eines möchte ich Sie bitten: nicht zu vergessen, daß Sie und ich und alle in diesem Haus diesem Staat, diesem Volk dienen wollen und daß deshalb Handlungen, die so oder so vorgenommen werden, unter diesem Gesichtspunktund nicht unter anderen Gesichtspunkten zu sehen sind. Herzlichen Dank für diese Zusammenarbeit.
Herr Kollege Wehner, wir haben über 13 Jahre sehr schwere Entscheidungen treffen müssen. Wir haben manchmal allein vor Entscheidungen gestanden, ausgehend von völlig divergierenden Standpunkten, wenn ich an die Mitbestimmung denke. Und es ging um die Verträge, wo wir gemeinsame Grundlagen hatten. Es war immer ein persönlich faires Verhalten. Ich danke Ihnen dafür.Wir haben bei den schwersten Interessengegensätzen Lösungen gefunden und sie gemeinsam durchgesetzt. Die Kompromisse haben später auch ihre Tragfähigkeit bewiesen. Ich habe Sie kennengelernt als einen fairen Partner, als einen Menschen, der in der Öffentlichkeit oft falsch dargestellt wird. Es tut mir weh, daß wir so auseinandergehen müssen. Herr Kollege Wehner, meine Hochachtung bleibt.
Herr Kollege Kohl, wenn die Wahl so ausgeht, wie wir es wollen — ich bin überzeugt, sie geht so aus —, werden Sie einen fairen Partner haben, weil ich faire Partnerschaft als einen entscheidenden Teil der Glaubwürdigkeit dieser Demokratie ansehe.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Mischnick hat eben eine, wie jeder gespürt hat, verdammt schwierige Aufgabe auf uns alle bewegende Weise gelöst. Respekt, auch wenn, Herr Kollege Mischnick, gerade Sie verstehen werden, daß ich bei der Beantwortung der Fragen, die Sie aufwerfen, in mehr als einem Fall zu einem andere Ergebnis komme. Ich komme darauf gleich zurück.Ich möchte zunächst einen Augenblick bei dem bleiben, was die Kollegen Barzel und Geißler hier heute vormittag vorgetragen haben, wobei sie, wenn man es auf einen Nenner bringen will, hier und vor der deutschen Öffentlichkeit, die dies mit verfolgt, den Eindruck zu erwecken versuchten, als habe unsere heutige Entscheidung damit zu tun, das Vaterland zu retten, und zwar dadurch, daß man Bundeskanzler Helmut Schmidt, einen in der ganzen Welt Hochgeachteten, wie wir dieser Tage von überall her spüren, abwählt.
Dadurch will man vorgeblich die Bundesrepublik retten.
Herr Kollege Barzel und Herr Kollege Geißler, in Teilen haben Sie hier bei Ihrer Rückschau so ge-7186 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982Brandtsprochen, als ob Sie mich heute zu stürzen hätten. Das ist aber ein Irrtum.
Sie haben mich kritisiert und Helmut Schmidt gelobt. Wenn Sie Helmut Schmidt loben, frage ich: Warum lassen Sie ihn dann nicht im Amt?
Sie, Herr Kollege Geißler, zitieren den von mir hochgeachteten Schriftsteller, der aus der DDR zu uns gekommen ist, der auf die Frage, wie er das hier empfindet, sagt: Die hier in der Bundesrepublik wissen nicht, wie sie es haben. Was ist das für eine komische Begründung dafür, die Regierung platzen zu lassen und den Bundeskanzler absetzen zu wollen!
Ich unterstreiche mit allem Nachdruck, was der Vorsitzende der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion für uns alle gesagt hat, wobei sicher nicht überhört worden ist, was er bei seltener Inanspruchnahme seines Amtes als Alterspräsident hinzugefügt hat. Für die ganze Fraktion hat er gesagt: Wir lehnen — das ist auch keine Überraschung für Sie — Ihren Antrag ab. Es geht ja um wesentlich Geringeres als darum, das Vaterland zu retten. Hier geht es um einen — bei allem Respekt, Herr Kollege Mischnick — bloßen Vorgang von Partei- und Machtinteressen, und genauso wird es auch von einem großen Teil der Bürger im Lande verstanden.
Herr Kollege Mischnick, ich nehme das hier und dort von dem einen oder anderen im Zorn gesprochene Wort vom Verrat nicht auf.
Aber ich nehme nichts davon zurück, ich streiche nichts davon ab, daß Sie und Ihre Freunde die Bürger 1980 gebeten haben, Bundeskanzler Schmidt neben Vizekanzler Genscher zu wählen. Das ist so.
Ich kann Ihnen auch nicht schenken, daß Sie vor der Hessen-Wahl — auch Sie, verehrter Kollege Mischnick — Ihrer hessischen Partei empfohlen haben, man solle sich in Hessen für eine andere Koalition einsetzen, weil dies der beste Weg sei, die sozialliberale Koalition in Bonn weiterzuführen. Das war ein windiges Argument von Anfang an. Die Bürger haben es erkannt. Sie haben noch nie so schlecht abgeschnitten. Die CDU hat zum viertenmal ihr Ziel nicht erreicht. Ich füge hinzu: Der honorige Abgang von Herrn Dregger hat auch mir Respekt abgenötigt.
Herr Kollege Mischnick, da Sie von diesen letzten Wochen gesprochen haben, darf ich Sie daran erinnern, daß ich von dieser Stelle aus am 17. September— ich habe damals keine Antwort darauf bekommen, weil es an jenem Tag vielleicht nicht mehr ging, aber auch seitdem keine wie immer geartete Antwort bekommen — folgendes gesagt habe: Der Bundeskanzler hatte die für ihn gesicherte Erkenntnis gewonnen, die im übrigen auch in Bonn die Spatzen von den Dächern pfiffen, daß Herr Genscher schon auf dem anderen Dampfer war, während hier angeblich noch gemeinsam regiert wurde,
und daß die vorbereitenden Gespräche zwischen den Herren Genscher und Kohl weit fortgeschritten waren.Das hat zu dem geführt, womit der Bundeskanzler erst im Bericht zur Lage der Nation und dann am 17. September vor dieses Haus getreten ist.
Verehrte Kollegen, ich versuche ja, mich in Ihre Lage hineinzuversetzen, was geht hier eigentlich vor sich, wenn die Union einem freiheitlichen Liberalen wie Gerhart Baum die Tür weist, statt zu begreifen, daß Leute von Gerhart Baums Geist als Anreger, als Herausforderer, auch als Korrektiv notwendig sind?
Statt dessen bot sich das erbarmungswürdige Schauspiel, daß die Unterhändler eines Mannes, der sich für den designierten Bundeskanzler hält, gleichsam nur bei Nacht und Nebel mit dem gerade zurückgetretenen Bundesinnenminister zu sprechen wagten, dem langjährigen Hüter der Verfassung von Amts wegen,
und dies alles aus Angst vor dem großen Bruder in München,
der in diesen Tagen nichts so nachdrücklich tut, wie auf die Mitverantwortung Ihres künftigen Koalitionspartners, Herr Kohl, für die ach so schlimme Lage unseres Landes hinzuweisen und — Strauß meine ich — knatschig-gnädig hinzuzufügen, daß er die Rest-FDP — wie er sie nennt — für koalitionswürdig halte.Es wäre fällig — lassen Sie mich das zwischendurch sagen —, daß die bayerischen Wähler am nächsten Sonntag in großer Zahl sagen, daß sie die Ausfälligkeiten und die krankhafte Egozentrik ihres Ministerpräsidenten, des CSU-Vorsitzenden, nicht mehr so leicht durchgehen lassen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7187
BrandtIch frage unter Bezug auf die Behandlung von Gerhart Baum: Soll mit einem so ordinären Mangel an Takt und Würde, mit einem solchen Unterwerfungsakt die Zusammenarbeit in einem neuen politischen Bündnis beginnen?
— Das war, verehrter Herr Zwischenrufer, zu klein und zu unfein, also das Gegenteil dessen, was Reinhold Maier einmal von seiner Partei, von der Partei von Heuss und Dehler gesagt hat: „Klein, aber fein". Ich sage Ihnen, Überschlauheit ist ein anderes Wort für Torheit.
Lieber Kollege Genscher, es tut mir leid: Was passiert ist, bedeutet, Sie haben sich selbst und Ihre Partei übertölpelt, aber ich bin sicher, nicht die Wähler.
Die Wähler haben, wie die Hessen-Wahl gezeigt hat, für Überschlauheit nicht viel übrig. Die Wähler wollen Klarheit, Eindeutigkeit und Zuverlässigkeit. Darum brachte die Hessen-Wahl ein Urteil gegen die Supertaktik
und außerdem kein Mehrheitsvotum für die Union. Ich fürchte, die gegenwärtige FDP-Führung soll der Griffel sein, mit dem die Sonthofener Apokalypse zu Ende geschrieben wird.
Danach kann dann der Griffel weggeworfen werden. Aus einer eigenständigen Kraft soll ein Werkzeug oder sogar ein Spielball werden, der zwischen den Herzögen der CDU und der CSU nahezu verächtlich hin- und hergeschoben wird. Wer die Demütigungen von Augsburg hinnimmt, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der zeigt, wie er von nun an behandelt werden kann.
Solch eine Behandlung macht ein Stück Würdelosigkeit zum Grundstein einer neuen Regierung, und das hat unser Staat nicht verdient.
Meine Damen und Herren, vor gut zehn Jahren — es war ja kein Zufall, daß Herr Kollege Barzel nach diesen zehn Jahren zu einem Mißtrauensantrag gesprochen hat; ich hätte mir an seiner Stelle einen anderen Tagesordnungspunkt ausgesucht —,
im Frühjahr 1972 wurde schon einmal von der Möglichkeit eines konstruktiven Mißtrauensvotums Gebrauch gemacht.
Damals wurde der Antrag, der bekanntlich nicht durchging, von Kurt Georg Kiesinger begründet.
Das war am 27. April 1972.
Herr Kiesinger hob damals vor allem darauf ab, Herr Barzel — der heute hier gesprochen hat — müsse Bundeskanzler werden, weil die Außenpolitik, die Entspannungspolitik und die Deutschlandpolitik den Interessen unseres Landes geschadet habe. Jetzt aber schreiben Sie in ein Papier herein, daß Sie diese Politik weiterführen wollen. Was für eine erstaunliche Logik!
Das, was Herr Kiesinger damals gesagt hat — ich kannte ihn ja —, war vielleicht nicht ganz so ernst gemeint, wie er es gesagt hat. Doch es hat keinen Bestand gehabt, weder im Urteil unseres Volkes noch im Urteil eines großen Teils der Kollegen in der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union. Niemand wird nämlich im Ernst bestreiten können: Die sozialliberale Koalition hat in den 13 Jahren ihres Bestehens — da ich nur am ersten Teil führend beteiligt war, wage ich das so zu nennen — eines der hervorragenden Kapitel im Buch der deutschen und europäischen Außenpolitik geschrieben.
Wir Sozialdemokraten bekennen uns in dieser Stunde zu dieser Politik und zu der Notwendigkeit ihrer Fortführung. Entspannung ist kein Zustand, sondern Entspannung ist ein dynamischer Prozeß.
Pacta sunt servanda, Herr Kollege Kohl, auf gut deutsch: Verträge sind dazu da, daß sie eingehalten werden. Das ist selbstverständlich. Doch man wird sie mit Leben füllen und erweitern müssen, oder das Erreichte wird verkümmern.
Union und FDP haben in ihren Vereinbarungen zum Ausdruck gebracht, daß sie sich in der Kontinuität der von uns gemeinsam entwickelten Friedens-und Entspannungspolitik sähen. Dies ist ein hoher Anspruch. Sie können sich darauf verlassen, daß wir Sie in die Pflicht nehmen, diesem Anspruch gerecht zu werden.Dazu gehört dann aber auch — und ich knüpfe direkt an die Rede an, die der Bundeskanzler heute früh gehalten hat — der Gedanke einer umfassenden Sicherheitspartnerschaft, wie er sie hier und vor den Vereinten Nationen dargelegt hat, nämlich alles zu tun, damit der Frieden in diesem Teil der Welt gesichert werden kann; denn dies muß — ich hoffe, darin jedenfalls sind wir uns alle einig — das höch-
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7188 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Brandtste Ziel eines jeden sein, der in diesem Land Regierungsverantwortung trägt.
Jedes einzelne Mitglied des Hauses, von den Kollegen dort drüben bis zu meinen engeren Freunden auf dieser Seite,
wird bei seiner geheimen Entscheidung zu bedenken haben, ob uns die Abwahl des Bundeskanzlers Helmut Schmidt und seine Ersetzung durch Helmut Kohl dem Ziel näherbringt, von dem ich eben gesprochen habe.
Meine Damen und Herren, hier ist heute vormittag schon, nicht zuletzt durch den Bundeskanzler, einiges zu dem gesagt worden, was im Falle des Regierungswechsels zu erwarten wäre. Darauf wird man ja zurückkommen können. Aber eine weniger liberale Innen- und Rechtspolitik hätten wir nach dem, was wir lesen, jedenfalls zu erwarten — und ein Verkümmern dessen, was Herr Baum für die bisherige Bundesregierung zur Umweltpolitik bereits der Öffentlichkeit mitgeteilt hat.
Im Blick auf das, was doch nicht weniger notwendig, sondern notwendiger wird, sei gesagt: Eine Wende zu Lasten des Sozialstaats hätten wir zu erwarten. Herr Kollege Geißler, jeder von uns weiß, wer immer auch Regierungsverantwortung trägt, daß sich veränderte wirtschaftliche Daten auf das auswirken, was die sozialen Systeme leisten können. Trotzdem frage ich Sie jetzt einmal ernsthaft in bezug auf den einen Punkt in Ihrem Papier, der die Sozialhilfe betrifft. Ich nehme diesen einzelnen Punkt hier einmal heraus. Denn da wird in schrecklicher Weise der Rotstift angesetzt, wenn man bei voraussichtlich etwa 5 % Steigerung der Lebenshaltungskosten die Regelsätze von vornherein nur um 2°A erhöhen will, den Anpassungstermin noch hinausschiebt und die Verschlechteurng des Warenkorbs in Aussicht stellt. Dies kann ich nicht für vernünftig halten,
einmal ganz abgesehen davon, daß diejenigen, die bis vor 14 Tagen gesagt haben, der Staat solle weniger Kredite aufnehmen, jetzt mehr aufnehmen wollen, als die bisherige Regierung vorgeschlagen hatte,
und diejenigen, die bisher gesagt haben: „Keinerlei Steuererhöhungen", jetzt Steuererhöhungen wollen, und zwar nicht so, daß die Mehrwertsteuermehreinnahmen zur Senkung der Einkommensteuer, wie es geplant war, weitergegeben werden können, sondern so, daß sie für ganz andere Zwecke dienen, alsneues Element von Umverteilung zu Lasten der Schwachen. Das ist der falsche Weg.
Herr Kollege Barzel, nach dem, was Sie hier über die Wirtschaft gesagt haben, wie katastrophal das alles sei,
wobei immer der Vergleich mit anderen Ländern wegbleibt, verstehe ich eines nicht: Wenn das mit der staatlichen Wirtschaftspolitik alles so katastrophal gelaufen ist, warum haben Sie sich dann Graf Lambsdorff als Ihren Wirtschaftsminister ausgesucht?
Herr Kollege Barzel, Sie vermissen, daß heute morgen in der Erklärung des Bundeskanzlers nicht deutlicher von der Arbeitslosigkeit die Rede war. Dazu sage ich Ihnen: In Ihrer Vereinbarung von 21 Seiten kommt das Wort „Jugendarbeitslosigkeit" nicht einmal als Merkposten vor, sondern diese Vereinbarung enthält Maßnahmen zu Lasten der jungen Menschen — zu Lasten der jungen Menschen! —, die ausgebildet werden wollen und sollen.
Nein, so geht das nicht, so geht das ganz bestimmt nicht!Angesichts aller objektiven und gelegentlich leider auch — lassen Sie es mich vorsichtig sagen —subjektiven Schwierigkeiten haben wir, Sozialdemokraten und Freie Demokraten, nicht als Block, sondern als Partner zusammengearbeitet. Ich behalte das als eine Zusammenarbeit in Erinnerung, die ganz überwiegend und sehr lange im Geist jener guten Nachbarschaft geführt worden ist, von der in meiner Regierungserklärung des Jahres 1969 und auch in anderen Zusammenhängen die Rede war. Ich sage Ihnen: Die deutsche Politik wird ohne eine eigenständige liberale Partei vermutlich ärmer sein; an Taktikern ist nämlich kein Mangel in Bonn.
Wahrhaft freie Demokraten kann es — egal, in welcher Partei — in diesem Hause und in dieser Bundesrepublik gar nicht genug geben.
Wir sind zusammen durch Krisen gegangen, aber wir Sozialdemokraten wollten niemals — das sage ich guten Gewissens — ihre Schwächung, ihre Demütigung, ihre Entmündigung und schon gar nicht ihren Untergang.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7189
BrandtAber nun kommen die Kollegen von der Union wie der Herr Barzel — stärker als Herr Geißler noch — mit dem Gespenst von den bösen Linken
und von den sozialistischen Marterwerkzeugen — die tauchten heute nicht auf, die hatte Graf Lambsdorff in die politische Debatte der vergangenen Wochen gebracht —, wobei es sich in Wirklichkeit darum handelt, daß Sozialdemokraten aus ihrer Verantwortung auf einem Parteitag nichts über eine Regierung, wohl aber über ihren möglichen Beitrag zu der Diskussion darüber beschlossen haben, wie die Krise bekämpft werden soll, wie die Arbeitslosigkeit bekämpft werden soll.
Die Kampagne gegen unseren Münchener Parteitag bietet für einige von Ihnen die Gelegenheit ein neues Gespenst vorzuführen, um Ihr Weglaufen von den sozialliberalen Freiburger Thesen zu camouflieren.
Im übrigen, Herr Kollege Barzel und Herr Kollege Geißler: Das mit den besonders bösen Buben in der SPD ist ja auch nicht besonders neu. Schon in jener Debatte vor gut zehn Jahren, am 27. April 1972, klagte Herr Kiesinger — ich zitiere —:Nicht eine kleine Gruppe, sondern eine sich immer stärker durchsetzende Bewegung neomarxistischer, sozialistischer Ideologen in der Sozialdemokratischen Partei versucht mit äußerster Entschlossenheit, ihr Programm einer sozialistischen Umgestaltung unserer gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, mit oder ohne Stimmzettel, zu verwirklichen.Nun, ich kann nicht erkennen, daß Herrn Kiesingers Angstträume im Laufe von zehn Jahren durch die Wirklichkeit wesentlich bestätigt worden wären; das kann ich nicht erkennen.
Aber ich kann erkennen, Herr Kollege Barzel, daß Ihre Attacke darauf abzielte, die Ehre der Sozialdemokratischen Partei, die diesem Vaterland über zwölf Jahrzehnte gedient hat, anzutasten, und das lassen wir uns nicht gefallen.
Wir werden die politische Kultur im Lande verteidigen und pflegen, die jetzt Schaden zu nehmen droht, und die innere Liberalität dazu. Sozialdemokraten werden sich immer wieder und in großer Zahl für die Grundwerte und die Grundforderungen engagieren, die in ihrem Godesberger Programm stehen. Ich muß wünschen, daß dies noch zunimmt, weil ich ganz und gar nicht die Meinung derer teile, die, wie sie es dann nennen, die sozialdemokratische Epoche in Europa für abgeschlossen halten.Ich bin überzeugt, daß es gerade bei der Auseinandersetzung mit der Weltkrise, also bei den weltwirtschaftlichen Erschütterungen, beim Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie, auch bei der Reform der Reformen, wenn wir uns richtig verstehen, solcher Impulse bedarf, wie sie seit über hundert Jahren aus der Arbeiterbewegung kommen und wie sie in einem mehr als parteipolitischen Sinne sozialdemokratisch zu nennen sind.Einen Parteivorsitzenden muß es mehr als einen Widersacher, Herr Barzel, einen Widersacher im anderen Lager bekümmern, wenn seine Partei nicht immer die Geschlossenheit nach außen bewiesen hat, die geboten gewesen wäre. Die Freien Demokraten zeigen j a, daß sie es damit auch nicht ganz leicht haben. Ich bin jedoch überzeugt, meine Partei wird nie so matt und so zahnlos werden, wie ihre erbitterten Gegner sie sich wünschen.
Im übrigen gilt, was sich aus unserem Programm ergibt und was in unseren mehrheitlich gefaßten Beschlüssen steht. So ist das in einer demokratischen Partei. Es wird niemandem gelingen, Legenden für das Ende der sozialliberalen Koalition zu konstruieren.
Die SPD hat den Bundeskanzler und seine Politik solidarisch unterstützt.
— Sie ist mit ihm nicht so umgesprungen wie Sie mit zwei CDU-Bundeskanzlern zuvor, Herr Barzel. Wir wollen einmal deutsch reden!
Die SPD-Fraktion hat bei aller ihr auferlegten Pflicht zur Kritik — Kritik da, wo sie glaubte, sie anbringen zu müssen — den Bundeskanzler unterstützt, nicht nur aus Pflichtgefühl,
sondern auf Grund von Einsicht und Überzeugung.
— Hören Sie doch zu! Das kann Sie ja interessieren. Wir werden uns hier noch wiedertreffen.
Hören Sie doch gefälligst zu! Das haben wir doch auch gemacht.
Ich sage Ihnen: Wir stehen ohne Wenn und Aber zu dem, was wir gemeinsam mit anderen in der Regierung zustande gebracht haben. Daran werden wir anknüpfen, auch wenn uns eine andere Verantwortung zugewiesen wird.Jetzt will ich Ihnen noch eines sagen, wenn ich darf. Die Neigung zum Taktieren dort, wo Farbe bekannt werden müßte — Herr Kollege Mischnick, Sie haben auf Hessen verwiesen —, hat mit dazu beige-
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7190 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Brandttragen, daß das überkommene Parteiensystem herausgefordert wird.
Ich bin nicht sicher, ob die Grünen und die Alternativen zu würdigen wissen, bei wem sie sich insofern zu bedanken haben.
Nun ist die Frage fällig — sie klang heute an; Herr Kohl hat sie am vergangenen Sonntag zugespitzt, so daß es viele gehört haben —, was der SPD-Vorsitzende wohl Böses im Schilde führe.
Zunächst wiederhole ich die simple Feststellung, daß CDU und FDP in Hessen nicht die Mehrheit bekamen, daß also von einer Mehrheit rechts von der SPD keine Rede sein kann. Auch die Rechtskoalition, die Sie jetzt bilden, hat bis zum Beweis des Gegenteils keine Mehrheit im Volk.
Übrigens der Hinweis auf 1966, damit ich das nicht übergehe:
Natürlich ist 1966 eine neue Regierung aus der Mitte des Bundestages gewählt worden, aber ich darf die verehrten Kollegen, die das Thema aufbringen — und es ist von zwei Seiten aufgebracht worden —, mal bitten, nachzulesen und festzustellen, wer damals beim Scheitern der Regierung Erhard Neuwahlen vorgeschlagen hat und wer dort und dort diesem Vorschlag nicht gefolgt ist. Zweitens: Konnte im Jahre 1966 — im November und Anfang Dezember — irgend jemand daran zweifeln, daß diese beiden großen Fraktionen, wenn sie für eine Weile zusammengingen, die Mehrheit der Wähler vertreten würden? Daran konnte keiner zweifeln; aber heute muß man daran zweifeln.
Daraus leite ich ab, Sie können auch in Landtagen z. B. nicht mit fiktiven Mehrheiten operieren. Wir können neue Gruppen, deren Kandidaten gewählt werden, nicht ausklammern, nicht in Quarantäne stellen, wie Helmut Schmidt heute früh gesagt hat. Aber ich sage, für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands stand und steht die Vertretung der Arbeitnehmerschaft an erster Stelle.
Daraus ergibt sich die erneute Pflicht zum Schulterschluß mit denen, die die Arbeitnehmerschaft in Betrieb und Gewerkschaft vertreten.
Für die SPD gibt es im übrigen kein Sich-Abschotten. Das hat es bei uns nie gegeben. So wie wir von altersher bei Handwerksmeistern, bei Wissenschaftlern, bei Künstlern Unterstützung fanden, so sind wir Ansprechpartner für Teile des sozialliberalenBürgertums, und so begegnen wir in aller Offenheit den Kräften, die aus neuen sozialen Bewegungen kommen.
Wie kämen wir nun dazu, uns nicht auch um das zu kümmern, was aus der Friedensbewegung und aus Bürgerinitiativen kommt! Ob es einem schmeckt oder nicht, hier ist ein neuer, nicht bequemer, auch noch nicht klar zu erkennender, zu beschreibender Faktor unseres politischen Lebens sichtbar geworden. Und machen wir uns nichts vor: wenn jetzt Neuwahlen wären, wüßten wir nicht, welche Gruppierung außer den beiden großen im Bundestag wäre und welche nicht. Meine Partei kann das nicht als etwas Schicksalhaftes betrachten. Aber wir werden uns um die Themen und um die Menschen kümmern und bereit sein, mit uns zu verbinden, was vernünftigerweise mit uns zusammengehört. Dabei steht die Identität der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nicht zur Disposition.
Ich denke auch nicht daran, meinen kritischen Sinn an der Garderobe der Jugend abzugeben. Das habe ich übrigens auch 1968 nicht getan, wer sich daran erinnern mag.Meine Kriterien für Begegnungen, wo immer es sie geben mag, sind klar: Erstens. Die Absage an Gewalt steht bei uns und für uns am Anfang und Ende. Hier gibt es keinen Kompromiß; denn wer Gewalt sät, muß wissen, daß er Gewalt erntet.
Aber ich füge fairerweise hinzu: Selten sind Demonstrationen von Hunderttausenden so gewaltfrei verlaufen wie die beiden Friedenskundgebungen in Bonn im letzten Herbst und in diesem Frühsommer.
Das zweite Kriterium ist Respekt vor dem, was in unserer Verfassung steht, und vor den Einrichtungen, die dazu da sind, die Verfassung zu handhaben.Das dritte ist die Bereitschaft, die Regeln unserer parlamentarischen Demokratie zu achten und auch zu nutzen.Das vierte ist die Einsicht, daß unser Staat durch Verträge, die von unserem Volk in seiner Mehrheit gutgeheißen werden, in die Europäische Gemeinschaft eingebunden ist, die es weiterzuentwickeln gilt, daß unser Staat ferner als Ergebnis der Entwicklung nach dem letzten Weltkrieg und zu seinem Schutz Mitglied der Atlantischen Allianz ist und es bleiben muß, bis eine Ordnung des Friedens für Europa die Auflösung der Militärbündnisse erlaubt oder sogar gebietet.
Auf diesem Boden kann und muß man als Sozialdemokrat über alles reden, was das Volk, seinen Frieden, seine Wohlfahrt, was Arbeitsplätze und Wachstumschancen, Umwelt- und Lebensqualität,
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Deutscher Bundestag - 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7191
Brandtja, Herr Kollege Geißler, auch was Entbürokratisierung und Eigenverantwortung angeht.Dazu sagte Herr Kohl am Sonntagabend im Fernsehen, ich wolle eine andere Republik.
Nun, meine Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine andere als die, in der wir leben,
nämlich die, die wir im Miteinander und nicht selten im Wettstreit gegeneinander geschaffen haben, d. h. die Republik des Grundgesetzes. Die hat sich im Rahmen der Verfassung und auf ihrem Boden beinahe täglich verändert. Soll ich die Veränderungen nachzeichnen, seit Konrad Adenauer seine Kabinette nicht nur mit der FDP, sondern auch mit der Deutschen Partei und dem BHE bildete? Ist die heutige noch die gleiche Republik, die sich im ersten Bundestag mit den Kommunisten auf der einen und der Bayernpartei auf der anderen Seite — die zusammen mit der CSU im Bayerischen Landtag das Grundgesetz abgelehnt hatte, weil es beiden nicht föderalistisch genug war — präsentierte? Nein, so billig kann man an dieses Thema nicht herangehen. Es gibt das bekannte französische Wort von der Nation als einem permanenten Plebiszit. Diese pathetische Forderung, sage ich, meine Damen und Herren, darf nicht zum täglichen Bulletin der Demoskopen degradiert werden.
Die lebendige Republik ist einem Prozeß täglicher Veränderungen unterworfen. Wer das nicht will, bekommt keine Demokratie, sondern eine Ruhestätte, und nicht einmal eine behagliche. Es geht darum, diesen Prozeß unter den formenden Bedingungen der Verfassung so produktiv wie möglich werden zu lassen. Da drängen nun immer wieder neue Generationen nach, und die drängen auch zur Verantwortung. Seien wir froh darüber, daß viele junge Menschen auch heute Verantwortung wollen. Ärgern wir uns nicht, sondern seien wir froh, wenn sie uns mit ihren Ideen das Haus einrennen, ob uns die Ideen zunächst schmecken oder nicht.
Wir werden also um den Realitätsgehalt, die Wahrhaftigkeit und die Machbarkeit der Ideen kämpfen. Wie kämpft ein Demokrat, Herr Kollege Barzel oder, wenn ich auf unser kurzes Gespräch im Fernsehen am Sonntag zurückblicke, Herr Kollege Kohl? Er kämpft, indem er mit anderen spricht, oder? Indem er den anderen zu überzeugen versucht, oder?
Dazu gehört übrigens auch, daß er bereit ist, sich überzeugen zu lassen. Für meine Partei stellt sich nicht allein und nicht einmal in erster Linie die Frage, wie man sich technisch zu neuen Gruppierungen verhält, falls sie in Parlamenten vertreten sind, oder ob und wo die bereit sind, zusammen mit anderen etwas zu tun. Für uns stellt sich vor allem die Frage,wie wir möglichst viel von dem, was im Grunde zuuns gehört, auch mit uns verbinden, so daß einer unvernünftigen Aufsplitterung entgegengewirkt wird.
Aber auch für Sie aus den anderen Parteien ergibt sich nicht die Möglichkeit, die neuen Kräfte zu isolieren. Man kann sie nicht austreiben. Also muß man reden. Wer nicht redet, der resigniert. Wer nicht den Mut zum Dialog hat, der kapituliert. Wer das Wagnis der demokratischen Integration scheut, der schafft ein Potential des Extremismus, gegen das keine Erlasse helfen.
Wer eine Kontaktsperre zwischen den traditionellen Parteien und den neuen Kräften verhängen will, der zwingt Gefahren für die Demokratie geradezu herbei.
Im übrigen gibt es keine lebensfähige Demokratie ohne den Mut zum Risiko. Nichts, von dem ich spreche, hat etwas damit zu tun, daß wir geneigt wären, den Kampf um die Mitte aufzugeben. Wie kämen wir dazu? Doch das, was in der Demokratie Mitte ist, gilt es immer neu auszumessen. Sie verändert sich in der Bewegung der Probleme und der Generationen. Sie hat eine klare Verankerung. Man könnte es nennen: die Verankerung in der Mitte der sozialen Solidarität. Sie ist der Punkt, an dem die sensibelsten Freunde der Freiheit auf der Wacht sind.Jetzt greife ich ein Wort von vorhin noch einmal auf. Was immer sonst geschieht, heute und danach, es muß in unserem Land, also auch in diesem Parlament, eine, wenn auch umgeformte, weiß Gott antiuniforme deutsche Freiheitspartei geben — in den Parteien und über die Parteien hinaus. Moderne Sozialdemokratie, soziale Demokratie versteht sich so, daß sie dazugehört.Schließlich, Herr Kollege Kohl, eine andere Republik? Diese Republik gehört nicht Helmut Schmidt und nicht mir, aber auch nicht Ihnen und Herrn Barzel oder Herrn Strauß.
Sie gehört auch nicht unseren Parteien. Sie gehört dem Volk, das in der Freiheit unserer Verfassung zu Hause ist. Es ist unsere Pflicht, das Heimatrecht der Deutschen, auch der jungen, in dieser Republik und in dieser Verfassung so stark zu verwurzeln, wie es nur menschenmöglich ist. Das ist die Aufgabe, zu der sich die deutsche Sozialdemokratie in dieser Stunde bekennt, nach 16 Jahren Regierungsverantwortung im Bund, davon 13 Jahre unter sozialdemokratischer Führung. Wir sind unverändert bereit, Regierungsverantwortung zu tragen. Wir würden uns auch in der Opposition voll unserer Verantwortung stellen.Nichts könnte das Heimatrecht, von dem ich spreche, in diesem Augenblick mehr kräftigen als eine Neuwahl des Bundestages.
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7192 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
BrandtHerr Kollege Mischnick, daran vorbeigehen, das hat nichts zu tun mit „sich der Verantwortung stellen". Ich kann nicht gelten lassen, daß die Forderung nach Neuwahlen eine Flucht vor der Verantwortung wäre. Ich muß es so sehen, daß das Sich-Drücken vor Neuwahlen eine Flucht vor dem Volk ist.
Neuwahlen und nicht dies, was heute ganz offengeblieben ist: jetzt nicht Neuwahlen, aber bald Neuwahlen — wohl wissend —, da Sie doch Rechtskundige haben, und auch solche, die sich in Karlsruhe auskennen;
da können Sie doch jetzt hier nicht faulen Zauber vormachen —, daß Sie die Neuwahlen auf dem von Ihnen diskutierten Wege nicht zustande bringen, weil Sie damit auflaufen würden. Ich sage: nicht Flucht vor dem Volk, sondern Neuwahl des Bundestages ist die politisch-moralische Pflicht der Stunde. Das erst, verehrter Kollege Genscher, könnte dem leichtfertig in die Welt gesetzten Begriff von der Wende sein Recht und seinen Sinn verschaffen.Deshalb sage ich auch in diesem Augenblick: statt über den Antrag nach Art. 67 des Grundgesetzes zu befinden, wäre es noch immer richtig, dem Volk das entscheidende Wort zu geben. Das verlangten aus meiner Sicht Fairneß, Vernunft und der Respekt vor dem Souverän, dem wir zu dienen haben, alle miteinander. Das Volk ist nicht für die Parteien und für die Parlamente da. Wir haben für das Volk dazusein.
Sich ihm an einem solchen Kreuzweg zu entziehen, ist Flucht vor dem Volk.Jede Regierung, die jetzt aus einem faulen Kompromiß ohne Mitwirkung der Wähler hervorgeht, wäre eine Übergangsregierung. Da nehme ich das Wort von Herrn Strauß auf, in einem aber möglicherweise noch schlimmeren Sinn des Begriffs, als Herr Strauß gemeint hat. Denn der meint ja nur: Übergang, bis er dabei ist.
Jeder Kanzler, Herr Kollege Kohl, der sich heute so in den Sattel setzen ließe, wäre ein Verlegenheitskanzler;
es tut mir leid. Diesen Sattel kann niemand Herrn Kohl wünschen.Nicht nur im Ausland fragt man sich, wieso ein so hoch angesehener und so kompetenter Regierungschef wie Helmut Schmidt parteitaktischen Interessen zuliebe aus dem Amt gedrängt werden soll.
Des Bundeskanzlers Helmut Schmidt Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland
haben hohen Rang, und sie gehören gewiß nicht der Vergangenheit an.Wir Sozialdemokraten sind gegen den Sturz von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Wir sind dafür, daß er gedeihlich weiterarbeiten kann und daß wir uns gemeinsam mit ihm den Wählern stellen können. — Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ich zu sagen habe, ist schmerzhaft für mich und schmerzhaft für andere. Dennoch hat diese Erklärung nicht zum Ziel, neue Wunden zu schlagen oder die aufgerissenen Gräben in meiner Partei oder in diesem Hause zu vertiefen. Ich meine, notwendige Kritik an Liberalen muß von diesen selber kommen. Auch dies, Herr Mischnick, macht liberale Geschlossenheit aus, von der Sie mit Recht gesprochen haben.Ich danke Ihnen, Herr Mischnick, für das Verständnis, das Sie bezeugt haben gegenüber der abweichenden Meinung. Sie haben damit liberale Haltung bekundet. Ich erweise Ihnen Respekt für Ihre Rede, auch wenn ich Ihre Schlußfolgerungen nicht teile, auch wenn ich den Weg, den Sie gehen, heute nicht mit Ihnen gehen kann.
Meine Fraktion hat mit Mehrheit entschieden. Was die unterlegene Minderheit bewegt, was große Teile der liberalen Partei bewegt, will ich deutlich zu machen versuchen. Denn ich bin der Meinung, was viele Menschen in diesem Lande bewegt, muß auch in diesem Parlament ausgesprochen werden, auch wenn es gegen die Mehrheit der eigenen Fraktion geht.
Viele in meiner Fraktion haben die Entwicklung, die zum heutigen Tag geführt hat, nicht gewollt. Manche von denen, die für die neue Koalition stimmen werden, tun dies, so vermute ich, nur deshalb, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen.Ich befürchte, meine Damen und Herren: Das Bild, das Politik jetzt bietet, das Bild, das wir jetzt bieten, hat die Zahl derer vermehrt, die die politischen Parteien ablehnen. Darüber müssen wir uns doch Gedanken machen,
daß es eine große Zahl in der Jugend gibt, die uns, uns alle ablehnt. Es werden bald noch mehr Bürger die politischen Parteien ablehnen, wenn es nicht gelingt, zurückzufinden zu glaubwürdigem Engage-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7193
Baumment für politische Inhalte, zu Eindeutigkeit und Klarheit.
Wir haben Fehler gemacht. Auch ich habe Fehler gemacht. Wir hätten mehr tun müssen, entschlossener kämpfen müssen um den Erhalt der alten Koalition, in der sich liberale Identität weiter entfalten konnte. Der Konflikt zwischen unserer Loyalität zum Vorsitzenden der liberalen Partei und der Loyalität zu der liberalen Politik, für die wir in der alten Koalition gestanden haben, hat Kraft gefordert.Meine Freunde und ich werden auch weiterhin in dieser liberalen Partei für liberale Politik eintreten.
Einige von unseren Freunden fragen sich allerdings, ob sie dies noch können, und ich verstehe sie sehr gut. Ich bitte diese Freunde dennoch — hier wie überall in der liberalen Partei —, sich nicht abzuwenden. Mir ist wohl bewußt, wie bitter den vielen Engagierten zumute ist, die 1980 um das Mandat für liberale Politik mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt gekämpft haben.Wir müssen den Wählern nicht sagen, meine Kolleginnen und Kollegen, was sie erwartet, wenn sie uns wählen. Die Verfassung gebietet das nicht. Wenn wir aber den Wählern etwas versprechen, wenn wir ihnen sagen, was wir mit ihren Stimmen machen wollten, müssen wir es auch halten.
Und wenn wir unser gegebenes Wort nicht halten können — dafür kann es ja Gründe geben —, müssen wir die wirklichen Gründe nennen, die es uns unmöglich machen, zu dem zu stehen, was wir vorher gesagt haben.
Wir haben 1980 um Wähler für liberale Politik geworben. Wir haben ihnen gesagt, was wir mit ihren Stimmen machen würden und mit wem wir es machen würden: Liberale Friedenspolitik mit dem Ziel, die 80er Jahre zu einem Jahrzehnt der Abrüstung zu machen; liberale Wirtschaftspolitik mit dem Ziel, Selbstverantwortung und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen, wie wir das im Freiburger Programm vor zehn Jahren im Sinne eines sozialen Liberalismus niedergelegt haben;
eine Umweltpolitik, die der Verantwortung für künftige Generationen gerecht werden soll, und eine Rechtsstaatspolitik mit dem Ziel, mehr Freiheit, mehr Gleichberechtigung für die Frau in unserer Gesellschaft zu schaffen.
Die Rechtspolitik war eine Domäne der ganzen liberalen Partei. Diese liberale Partei war immer die Partei der Bürgerrechte. Sie hat sich hier über Jahrzehnte hinweg engagiert, in der „Spiegel"-Affäre wie in den großen rechtspolitischen Reformen. Die ganze Partei hat daran Anteil!
Nicht alle Ziele, Herr Bundeskanzler, sind in dieser Koalition erreicht worden; vieles ist unerledigt. Aber meine Freunde und ich meinen: Wir waren auf dem Wege. So haben wir die Supermächte an den Verhandlungstisch gebracht; dies wird nicht reichen, um den Frieden zu sichern, aber es war ein wichtiger Schritt, mit dem Liberale und Sozialdemokraten gezeigt haben, daß sie an der Friedensbewegung teilnehmen und sie eben nicht ausgrenzen.
Es war die Friedens- und Entspannungspolitik, es war die Deutschlandpolitik mit dem, was sie für die einzelnen Menschen an tatsächlichen Erleichterungen gebracht hat, um deretwillen wir schon in den 60er Jahren für die Koalition zwischen Liberalen und Sozialdemokraten gekämpft haben. Die Politik des Brückenschlags zwischen Ost und West prägte das neue Bild von Politik — strahlend und mitreißend für uns wie für viele andere.Im Umweltschutz gab es harte Entscheidungen, präzise Eckwerte für einschneidende Maßnahmen.Wir haben wirklich mehr Demokratie gewagt, meine Damen und Herren, indem wir die Bürgerrechte beispielsweise nicht der öffentlichen Sicherheit untergeordnet haben.
Junge Bürger, die sich für den öffentlichen Dienst bewerben, sollten nicht mehr einer Bürokratie des Mißtrauens unterworfen werden.
Verfassungsschutzbehörden, die das Vertrauen der Bürger brauchen, j a, dringend brauchen, sollten heraus aus der Zone des allgemeinen Mißtrauens. Den Rechtsstaat ausbauen hieß deshalb für die alte Koalition, für Herrn Kollegen Schmude und für mich, Vernunft und Augenmaß auch dort durchzusetzen, wo bürokratische Pauschalierung bisher Freiheit und Vernunft behindert haben.Ich muß leider feststellen: Die Vereinbarung, die meine Partei mit CDU und CSU getroffen hat, bedeutet nicht den Ausbau des Rechtsstaats.
Liberale Rechtsstaatspolitik ist zur Disposition gestellt worden.
Sie wird in den Koalitionsvereinbarungen unter Sonstiges abgehandelt.
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7194 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
BaumDie liberalen Zielsetzungen, mit denen wir 1980 um Wähler geworben haben, werden fallengelassen oder ausgeklammert. Das ist enttäuschend für alle, die wie ich liberale Identität verletzt fühlen. Ich nehme an, das ist enttäuschend für die ganze liberale Partei.
Enttäuschend ist auch, daß für den Umweltschutz eindeutige Festlegungen fehlen. In der neuen Koalition Zugeständnisse zu machen, die dem alten Koalitionspartner verweigert worden sind — dieses Prinzip hat jedenfalls teilweise die Einigung im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik bestimmt. Aber eine inhaltliche Begründung kann auch diese Einigung nicht sein, schon deshalb nicht, weil wir niemandem zu erklären vermögen, warum wichtige Abweichungen von früheren Festlegungen nicht schon dem alten Koalitionspartner zugestanden werden konnten.
Allerdings muß ich hinzufügen, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei: Sie haben es uns manchmal verdammt schwergemacht.
Es gab auch in Ihrer Partei eine Fülle von unterschiedlichen Meinungen, und der Bundeskanzler hat manchmal um Ihr Vertrauen werben müssen. Ich hätte mir gewünscht, daß das nicht so hätte sein müssen, daß Sie ihm das Vertrauen von selbst gegeben hätten.
Für die neue Koalition aber fehlt für meine Freunde und mich die inhaltliche Begründung.
Es fehlt aber auch die politische Legitimation — nicht die juristische, die verfassungsrechtliche, sie ist unbestritten — für die Abkehr vom Wählerauftrag. Auch die letzte Wahl in Hessen kann nicht eine solche Legitimation sein; dann hätte man den Wahlkampf anders führen müssen. Wenn man in Hessen die angebliche neue Mehrheit zum Thema gemacht hat — wie das geschehen ist —, muß man zur Kenntnis nehmen, daß der Wähler diese neue Mehrheit nicht bestätigt hat.
Walter Scheel sagte vor zehn Jahren beim ersten Mißtrauensantrag gegen einen Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition — ich zitiere —:Höchster Maßstab der Gewissensprüfung müssen aber die Achtung vor dem Votum der Wähler, die Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems und das Ansehen der politischen Parteien sein.Das kann man auch heute so stehen lassen.
Wolfgang Mischnick hat hier in beeindruckender Weise hervorgehoben, daß der Bundeskanzler die alte Koalition beendet hat und wie er sie beendet hat. Das hat mich auch berührt. Ich war Mitglied dieses Kabinetts, und ich hätte mir eine andere Form der Beendigung gewünscht. Ich füge aber hinzu, daß auch wir diese Koalition zerrüttet haben. Auch wir. In beiden Parteien gibt es Verantwortliche für diesen Prozeß.Nach der Entscheidung des Bundeskanzlers in Bonn hätte das die Stunde des Wählers sein müssen. Die liberale Partei hat den Wählern erklärt: Wer FDP wählt, garantiert, daß Helmut Schmidt Bundeskanzler bleibt. Wenn das nicht die Stunde des Wählers sein konnte — wir sind in unserer Partei in der Minderheit geblieben —, dann hätte das die Stunde des Parlaments sein müssen und für Liberale gerade nicht die Stunde der Regierungsbeteiligung.
Daß sich eine Opposition auch durch Zusammenarbeit mit der Regierung darstellen und entfalten kann, hält in unserem Lande kaum jemand für möglich. Es ist aber eine Alternative. Es wäre gut für das Ansehen der politischen Parteien, wenn diese Alternative auch in diesem Parlament deutlicher würde. Wenn dies also weder die Stunde des Wählers noch die des Parlaments sein konnte, sind also Neuwahlen nach der Regierungsbildung die einzige Chance für einen neuen Anfang.Ich stimme allen denen zu, die heute früh gesagt haben: Gerade dieser neue Anfang darf nicht im Zwielicht stehen. Ohne Klarheit und Eindeutigkeit über den Neuwahltermin läßt sich verlorenes Vertrauen nicht zurückgewinnen.
Zweifel, ob Neuwahlen nach dem Grundgesetz im März überhaupt möglich sind, müssen so schnell wie möglich ausgeräumt werden.Es sind also das Verfahren, das zu dieser Regierungsbildung geführt hat, und die neue Politik des Ausklammerns liberaler Inhalte, die entscheidend das „Nein" zum konstruktiven Mißtrauensvotum für mich und meine Freunde geprägt haben. Aus diesen Gründen können wir Ihnen, Herr Bundeskanzler Schmidt, das Mißtrauen nicht aussprechen. Deshalb können wir Sie, Herr Kohl, nicht zum neuen Bundeskanzler wählen. Wenn mit der Union liberale Politik möglich wird, gibt es auch für uns keine grundsätzlichen Probleme für eine Zusammenarbeit mit ihr.Wir wollen weiter für die Ziele eintreten, für die wir gewählt worden sind. Die Abkehr vom Wahlversprechen 1980 kann für uns nicht bedeuten, daß Liberale nicht mehr zu den Inhalten stehen, für die sie gewählt sind. Hier täuschen Sie sich bitte nicht, meine Damen und Herren von den anderen Fraktionen: Wir Liberale stehen im großen und ganzen viel geschlossener zu diesen liberalen Inhalten, die wir
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7195
Baumbeschlossen haben, als dies vielleicht in diesem Moment sichtbar wird.
Betrachtet man die Koalitionsvereinbarung und die vorgesehenen Personen, so bestehen Zweifel, ob die neue Koalition „im Zweifel für die Freiheit" eintreten wird.
Daß ein Bundesinnenminister Zimmermann, der unsere Politik bekämpft hat, nunmehr eben diese Politik fortsetzen wird, daran können viele nicht glauben; soll ja auch niemand glauben, mit Verlaub, Herr Kollege Zimmermann: Sie haben eine andere Politik vertreten.
Wir werden jedenfalls den neuen Bundesinnenminister auffordern, nicht zu verheimlichen, was er zu tun gedenkt, in diesem Parlament zu berichten, was er aufheben will, im Bereich der Amtshilfereform und des Datenschutzes im Sicherheitsbereich, um nur zwei Ausschnitte zu nennen, in denen der Freiheitsraum der Bürger erweitert worden ist.Wir meinen, die Zukunft des Liberalismus liegt nicht in der Rückkehr zu den 60er Jahren. Sie liegt in der besonderen Sensibilität für die politischen Ansprüche der Bürger, die selbst Unruhe in dieser Gesellschaft sind, die selbst die freiheits- und zukunftsfeindlichen Verkrustungen aufbrechen und überwinden wollen. Wir meinen, die Friedensbewegung und die Menschen, die sich bei den Alternativen zusammenfinden, sind mehr als ein Ausdruck des Unwillens. Sie haben entscheidende Defizite offenkundig gemacht, auch im Umgang zwischen Staat und Bürgern, zwischen Parteien und Politikern untereinander. Der Mangel an partnerschaftlichem Verhalten, meine Kolleginnen und Kollegen, hat viele sensible Bürger abgestoßen und das Bild von Politik überhaupt in Frage gestellt. Die Politik von morgen braucht deshalb vor allem eines: Übereinstimmung von Reden und Handeln, von Person und Sache.
Das Verfahren, das zu der beantragten Abwahl des Bundeskanzlers Helmut Schmidt geführt hat, kann, so befürchten wir, eine Veränderung der politischen Kultur in diesem Lande bewirken.
In diesem Augenblick sich der Folgen bewußt zu sein, darum möchte ich Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, auch im Namen meiner Freunde in dieser Stunde herzlich bitten.
Das Wort hat Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es sind drei Gründe, die mich zu einer Wortmeldung neben Gerhart Baum veranlaßt haben, mit der ich ausdrücken möchte, was mich zu meinem Abstimmungsverhalten bestimmt hat.Zum einen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, möchte ich öffentlich machen, daß es sich bei dem Dissens innerhalb meiner Fraktion nicht um eine Kontroverse zwischen dem sogenannten rechten und dem linken Flügel meiner Partei handelt, sondern um eine sehr grundsätzliche Auseinandersetzung, die über inner- und zwischenparteiliche Kontroversen hinausgeht und — Sie haben es ja alle gespürt — in Grundfragen unseres Demokratie-und Parlamentsverständnisses hineinführt. Es geht um die Grundfrage, ob die Abgeordneten einer Fraktion — insoweit sind nur wir betroffen —, die mit einer klaren Aussage für eine Koalition und gegen eine andere ein hohes Wahlergebnis erzielt haben, nach zwei Jahren entgegen diesem Versprechen einen Machtwechsel ohne vorheriges Wählervotum herbeiführen dürfen.Für mich persönlich muß ich diese Frage nach langer und schwerer Gewissensprüfung mit einem klaren Nein beantworten.
Ich habe dies — auch meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU wissen das — von allem Anfang an so gesehen und auch in meiner Fraktion vertreten.So betrachtet, ist ein Regierungswechsel für uns, die Liberalen, eben doch keine natürliche Sache. Daher greift auch der Vergleich mit dem Jahr 1966 nicht. Denn damals lag ja keine Koalitionsaussage der betroffenen Parteien vor.
So gesehen, ist der Regierungswechsel für uns, die Liberalen, ein schmerzhafter Gewissenskonflikt. Partei- und Fraktionssolidarität, die Loyalität zu dem Vorsitzenden, für mich persönlich vielleicht auch der freiwillige Verzicht auf ein sehr schönes und sehr wichtiges Amt, dies alles steht versus persönliche und politische Verantwortung, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit.
Ich bedauere zutiefst, daß der politische Liberalismus, dem ich wie Wolfgang Mischnick seit fast 35 Jahren mit Kopf und Herz verbunden bin, über diesen Konflikt in eine so schwere Existenzkrise geraten ist, und ich werde alles in meinen Kräften Stehende versuchen, daß wir diese Krise überstehen. Auch deshalb stehe ich heute hier.Aber nicht nur das. Der Vorgang, den heute jeder Bürger vor dem Fernsehschirm miterleben kann, ist mehr als nur ein liberaler Familienkrach für oder gegen einen Machtwechsel. Er betrifft das Ansehen unseres Parlaments, der parlamentarischen Demokratie überhaupt. Hier liegt, verehrte Kollegen, der
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7196 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Frau Dr. Hamm-Brücherzweite Grund für meine persönliche Wortmeldung. Wir alle beklagen ja gemeinsam den Vertrauensschwund, vor allem bei der jungen Generation, und wir alle denken darüber nach, wie wir das ändern können, und wir alle haben die Pflicht, daraus dann auch Konsequenzen zu ziehen. Ich glaube, wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, wie wenig gefestigt unsere Demokratie immer noch ist und wie wenig überzeugend es für unsere Bürger ist, wenn in unserem Parlament immer nur vorgestanzte Partei-und Fraktionsmeinungen vom Blatt gelesen werden.
Deshalb sollten wir alle — und ich möchte hier einmal sagen: liebe Freunde — der persönlichen Meinung und Verantwortung des gewählten Abgeordneten wieder mehr Gewicht beimessen und sie zu Gehör bringen. Deshalb sollten wir auch in so heiklen Augenblicken wie diesem offener und spontaner miteinander diskutieren und um die bestmöglichen Lösungen ringen.
Aus diesem Grunde möchte ich stellvertretend für viele Freunde und Mitbürger erklären, daß nach meiner Überzeugung der Weg über das Mißtrauensvotum zwar neue Mehrheiten, aber kein neues Vertrauen in diese Mehrheiten schafft.
Dies wird sich, so fürchte ich, um so abträglicher auswirken, als das, wie sich herausstellt, ungeprüft gegebene Wahlversprechen für den Monat März nächsten Jahres offenbar nicht eingehalten werden kann.Der dritte Grund für meine Wortmeldung ist ein offener Protest gegen das, was man da von mir verlangt. Ich würde es übrigens im umgekehrten Verhalten, Herr Kollege Kohl, nicht anders halten. Ganz gewiß sind Koalitionen für mich kein Dogma und ganz sicher auch nicht die Koalition zwischen Sozial- und Freien Demokraten, die während 13 Jahren der Zusammenarbeit unbestritten heute auch Verschleißerscheinungen und Defizite aufweist. Die Diskussion hat das ja offenkundig gemacht.Dennoch, Kolleginnen und Kollegen, vermag ich dem Kanzler dieser Koalitionsregierung nicht das Mißtrauen auszusprechen, nachdem ich ihm doch erst vor ganz wenigen Monaten das Vertrauen ausgesprochen habe.
Auch kann ich doch nicht ihm allein das Mißtrauen für seine Regierungstätigkeit aussprechen und unsere eigenen vier Minister, ja mich selber dabei aussparen.
Ich kann dem Bundeskanzler nicht mein Mißtrauenaussprechen, nachdem ich noch bis vor zwei Wochenmit ihm und seinen Ministern, mit meinen Kollegen uneingeschränkt, loyal und vertrauensvoll zusammengearbeitet habe,
wofür ich mich bei ihm in diesem Augenblick noch einmal persönlich sehr herzlich bedanken möchte.
Ich möchte Sie — damit möchte ich schließen — um Verständnis für diese Position, vielleicht sogar um Verzeihung bitten. Vielleicht ist das eine typisch weibliche Reaktion. Davon war ja in den letzten Tagen hier auch viel die Rede. Ganz gewiß verstehe ich sie persönlich als eine christliche Reaktion.Ich finde, daß beide dies nicht verdient haben, Helmut Schmidt, ohne Wählervotum gestürzt zu werden, und Sie, Helmut Kohl, ohne Wählervotum zur Kanzlerschaft zu gelangen.
Zweifellos sind die beiden sich bedingenden Vorgänge verfassungskonform. Aber sie haben nach meinem Empfinden doch das Odium des verletzten demokratischen Anstands.
Sie beschädigen — und das entnehme ich so vielen Zuschriften sehr ernsthafter Menschen in diesem Jahr — quasi — —(Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Wir haben dochauch Wähler, gnädige Frau!)— Für Sie, Herr Kollege Jenninger, mag das auch gar nicht so relevant sein, wie das für uns in unserer Gewissensentscheidung ist.
Diese beiden Vorgänge haben nach meinem Empfinden also das Odium des verletzten demokratischen Anstands. Sie beschädigen quasi die moralisch-sittliche Integrität von Machtwechseln.
— Ich sehe das so, es tut mir leid. Sie sehen das anders und haben es auch gesagt. Ich meine, daß darauf kein Segen liegen kann.
Mit beidem sollten wir sehr behutsam umgehen, meine Damen und Herren, angesichts unserer immer noch schwach entwickelten politischen Kultur.Vor gerade zwei Jahren hat der Wähler eindeutig zugunsten der sozialliberalen Koalition entschieden.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7197
Frau Dr. Hamm-BrücherDeshalb müssen wir ihn fragen, bevor wir dies ändern.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich eine kurze Bemerkung zu dem machen, was Sie eben gesagt haben, Herr Kollege Mischnick. Sie haben an einer Stelle in Ihrer Rede ausgeführt, daß es das Ende der Demokratie bedeuten würde, wenn eine Gruppierung der Grünen/Alternativen in dieses Parlament einzöge.
Diesem Demokratieverständnis möchte ich entgegenhalten, daß das Grundgesetz auch nicht bestimmt, daß die dritte Partei unbedingt die FDP sein muß.
Kollege Coppik und ich werden heute gegen den Antrag der CDU/CSU und der FDP stimmen. Wir werden dies schon deshalb tun, weil, so unterschiedlich die Beweggründe der Wähler 1980 gewesen sein mögen, jedenfalls kein Wähler der SPD oder auch der FDP einem Abgeordneten, der für die SPD oder FDP kandidiert hat, ein Mandat gegeben hat, zwei Jahre nach der Wahl eine CDU/FDP-Regierung mit einem Kanzler Kohl zu installieren.
Jenseits der Fahndung nach Sündenböcken ist für uns allerdings die Frage wichtiger, welche Interessen dahinterstecken. Dazu einige Anmerkungen.
Kollege Coppik und ich haben über viele Jahre dieser Koalition angehört, haben an ihr gelitten und in ihr gefochten, weil wir gehofft haben, daß dabei vielleicht doch die Arbeits- und Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten gebessert werden könnten, daß der Vormarsch der Reaktion, die in Franz Josef Strauß ja nur personalisiert ist, aufzuhalten sei. Diese Hoffnung haben wir in den letzten Jahren aufgegeben. Wir haben gesehen, wie die FDP in der sich seit 1973/74 verschärfenden Krise der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Sozialdemokraten mit immer neuen Forderungen — nach Abwälzung der sozialen Kosten zur Erhaltung des gleichen Profits — erpreßte. — Herr Präsident, darf ich Sie bitten, auch bei meiner Rede für die notwendige Ruhe zu sorgen.
Gern, Herr Abgeordneter Hansen. — Darf ich bitten, die Plätze einzunehmen und auch dem letzten Redner in der allgemeinen Aussprache noch zuzuhören.
Aber offensichtlich ist dies die Praxis des heute so viel beschworenen demokratischen Stils und der Würde dieses Hauses, die so oft deklamiert wurde. —
Wir haben gesehen, wie sich die Sozialdemokraten immer mehr erpressen ließen, bis schließlich der Punkt erreicht war, an dem die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage waren, den Unmut ihrer Mitglieder zu bremsen und die unsozialen Operationen der Bundesregierung zu rechtfertigen. An diesem Punkt erklärten FDP-Vertreter mit brutaler Offenheit, daß eine SPD, die nicht mehr fähig sei, die Gewerkschaften friedlich zu halten, keinen Regierungswert mehr habe. In der Tat: Für die Kräfte des Großkapitals und der Großindustrie hat sie dann keinen Regierungswert mehr. Deshalb — persönlicher Verrat ist dabei nur eine der Begleiterscheinungen —, deshalb, weil es wirtschaftliche Machtgruppen gibt, weil es Kapitalinteressen gibt, die in der ökonomischen Krise eine Regierung von reinen Kapitalparteien wollen, deshalb wird diese Regierung gestürzt.
Die Betroffenen werden die abhängigen Arbeitnehmer sein, die mehr denn je um Arbeit und Lohn bangen müssen, werden alle sein, die auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sind: Arbeitslose, Rentner, Kranke, Alte, Schüler und Studenten.
Wir, Kollege Coppik und ich, sind weit entfernt davon, das Ende dieser Regierung mit Häme und Schadenfreude zu begleiten. Es wäre einfach, klarzulegen, daß der Versuch, Reformpolitik in der Umarmung mit den Hilfskräften des Kapitals durchzusetzen, scheitern mußte. Sicher ist die Erpressungspolitik der FDP dadurch erleichtert worden, daß der Bundeskanzler Schmidt den konservativen Positionen der FDP nicht selten näherstand als den Beschlüssen seiner eigenen Partei.
Aber darum geht es heute nicht. Nicht mehr. Wir haben die große Sorge, daß von jetzt an die Politik der Aufrüstung mit immer schnelleren Schritten vorangetrieben und daß als Folge davon die Friedensbewegung zum Staatsfeind Nummer eins wird, daß das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten in eine Frostperiode eintreten wird. Wir haben die Sorge, daß die wirtschaftliche Krise ausgenutzt wird, um den sozialen Abbau zu verstärken, daß eine massive Umverteilungspolitik zugunsten der Besitzenden eingeleitet wird, daß aus gewissenlosem Opportunismus die Ausländerfeindlichkeit für parteipolitische Zwecke gefördert wird. Wir haben die Sorge, daß demokratische Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden, daß die berufliche Existenz politisch Andersdenkender noch mehr als bisher gefährdet wird, daß die Verachtung der ökologischen Bewegung, die schon die bisherige Regierung auszeichnete, bald offen in die Kriminalisierung des ökologischen Widerstandes einmündet.
Weil wir diese Sorgen haben, frei von allen parteipolitischen Bindungen, sagen wir als unabhängige Abgeordnete zu dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, Herrn Kohl zum Bundeskanzler zu wählen, klar und eindeutig nein.
Es liegt inzwischen noch eine Wortmeldung zur allgemeinen Aussprache vor.Das Wort hat Herr Abgeordneter Geißler.
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7198 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die persönliche Erklärung der Frau Abgeordneten Hamm-Brücher,
aber auch die Erklärung, die der frühere Innenminister hier abgegeben hat, veranlassen mich, eine zusätzliche Erklärung hier abzugeben. Frau HammBrücher, ich möchte Sie fragen: Wie können Sie in dieser Debatte die Behauptung aufstellen, eine Entscheidung des Parlaments nach Art. 67 des Grundgesetzes verstoße gegen moralische oder sogar christliche Grundsätze?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür, daß Sie persönlich sich so entschieden haben. Aber wie kommen Sie denn dazu, bei Ihrer Äußerung nicht zu erwägen, daß es in diesem Parlament Abgeordnete gibt — und es ist die Mehrheit der Abgeordneten —, die ebenfalls aus moralischen Gründen der Auffassung sind, daß diese Regierung abgelöst werden muß?
Jede Gewissensentscheidung richtet sich nach Normen — nach Normen, die jeder persönlich für sich für richtig hält. Können Sie sich nicht vorstellen, daß es Abgeordnete in diesem Parlament gibt, die ihre persönliche Entscheidung z. B. an dem Schicksal von Millionen Arbeitslosen ausrichten?
Herr Abgeordneter Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. — Können Sie sich nicht vorstellen, daß Abgeordnete ihre Gewissensentscheidung ausrichten in der Verantwortung dem Bürger gegenüber, von dem sie das Mandat haben? Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ich heute hier gehört habe, gegenüber dem Willen der Fraktionen der Union und der Fraktion der Freien Demokraten, dem Willen, ein verfassungsmäßiges Recht auszuüben,
was ich hier gehört habe an Appellen, an Ressentiments und an Emotionen, kann ich teilweise nur verstehen als einen Anschlag auf unsere Verfassung.
Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, meine sehr verehrten Damen und Herren, und die Wahrnehmung der Rechte nach dieser Verfassung können niemals unmoralisch sein — niemals unmoralisch!
Herr Abgeordneter Geißler, ich muß Sie unterbrechen.
Meine Damen und Herren, ich bitte die Plätze einzunehmen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
heute vormittag und heute mittag sind Sätze gefallen, die jeder verantworten muß.
Ich erinnere daran, daß das, was hier gesagt worden ist hinsichtlich der Ausübung unserer verfassungsmäßigen Rechte, hinsichtlich der Wirkung auf junge Menschen, von großer Bedeutung ist. Heinrich Heine richtete einmal
ein Wort an die Adresse des Schriftstellers, aber auch an die Adresse des Politikers.
Herr Abgeordneter Geißler, ich muß Sie erneut unterbrechen. Ich bitte die Plätze einzunehmen.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Geißler. Herr Abgeordneter Gansel bittet um das Wort zu einer Zwischenfrage. Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Nein.
Ich erinnere Sie an das Wort dieses Dichters, der gesagt hat, hinter jedem Wort, hinter jedem Dichter — und das gilt für uns alle, die wir die Verantwortung für das Wort haben — steht der Liktor mit dem Bündel, der Richter mit der Axt und sagt: Ich bin die Tat zu deinem Wort. — Wenn wir verfassungsmäßige Rechte des Parlaments hier ausüben, wenn wir von dem Recht des Grundgesetzes hier Gebrauch machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dann handeln wir nicht nur legal; wir handeln legitim, wir handeln aus dem Geiste der Verfassung, und dies ist die höchste Moralität, die es für einen Politiker geben kann.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die freie Meinungsäußerung eines Abgeordneten oder einer Abgeordneten, die ankündigen, nach ihrem Gewissen zu reden und zu handeln, bezeichnet wird als ein Anschlag auf unsere Verfassung,
als ein Anschlag auf unsere Verfassung,
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7199
Bundeskanzler Schmidt
dann muß die Führung — —
— Ich habe nur die Absicht, drei Sätze zu reden, und ich bitte, mich ausreden zu lassen; noch habe ich das Recht, hier zu reden.
Wenn das ein Anschlag auf die Verfassung sein soll,
dann muß sich die Führung der FDP fragen, ob sie wirklich mit solcher Illiberalität und Intoleranz eine Verbindung eingehen will.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kohl.
Dr. Kohl (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder spürt, daß dies für uns alle eine bewegende und aufwühlende Stunde ist. Gerade weil das so ist, Herr Bundeskanzler, möchte ich, was ursprünglich nicht meine Absicht war, Ihnen in ein paar Sätzen antworten.
Jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages hat selbstverständlich sein Recht, hier seine Meinung zu vertreten. Es ist ebenso selbstverständlich, daß sie das heute wie in Zukunft haben. Eine Bernerkung, wie sie hier von Ihnen gemacht wurde, darf doch nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es in diesem Hause irgend jemanden, der den Gedanken in sich trüge, dieses selbstverständliche Freiheitsrecht in Frage zu stellen.
Bei allem, was uns gerade in dieser Stunde bedrückt, erregt und vielleicht auch zu einem schnellen Wort veranlaßt, sollte doch der Gedanke an die gemeinsame demokratische Grundüberzeugung der entscheidende Gedanke sein.
— Herr Ehmke, ich komme zu Ihrem Satz.
Zweitens. Mein Freund und Kollege Heinrich Geißler ist hier ans Pult gegangen und hat auf eine sehr emotionale, sehr bewegende Rede der Frau Kollegin Hamm-Brücher reagiert. Die Frau Kollegin Hamm-Brücher hat eine Formulierung gebraucht, von der ich sicher bin, daß sie sie, wenn sie sie noch einmal überlegt und vielleicht auch einmal nachliest, so nicht halten kann, wie ich Sie, Frau Kollegin Hamm-Brücher, kenne.
Darauf hat der Kollege Heinrich Geißler geantwortet. Frau Kollegin Hamm-Brücher, das, was Sie gesagt haben, hat nämlich zur Konsequenz, daß jemand, der im Rahmen dieser Verfassung handelt —
diese Verfassung ist auf der Basis moralischer Kategorien normiert; das ist doch das Ergebnis jüngster deutscher Geschichte — —
Dafür haben Männer und Frauen aus den drei großen Gruppen, die hier sitzen, in ihrer Geschichte, in ihrer Tradition gekämpft und gelitten. Diese Verf assung ist ein moralisches Institut deutscher Politik. Wenn im Rahmen dieser Verfassung, ob das in der konkreten Situation dem einen mehr oder weniger gefällt, entschieden, gearbeitet, gekämpft wird, dann kann das nicht unmoralisch und schon gar nicht unchristlich sein, Frau Kollegin!
Darauf, verehrte Frau Kollegin Hamm-Brücher, bezog sich die Reaktion eines Mannes wie Heiner Geißler, der wie Sie und ich im Rahmen der uns geschenkten Spanne unseres Lebens leidenschaftlich für eine freiheitliche Verfassung gekämpft hat und hoffentlich noch viele Jahre kämpfen wird.
Ich will jetzt auch Ihr Wort aufnehmen, auch Ihre persönliche Anrede „liebe Freunde", die Sie einmal gebraucht haben. Liebe Freunde, ich will in diesem Augenblick unter Demokraten zu diesem Punkt sagen: Lassen Sie uns doch nicht in der ganzen Leidenschaft der Stunde das zerstören, was diese Republik in 30 Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hat!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Mischnick.
Herr Bundestagspräsident! Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt: Wie kann die FDP-Führung mit so einem Partner zusammengehen? Herr Bundeskanzler, in dieser Stunde gibt es manche Erregung, aber Pauschalierungen sind in dieser Stunde genauso falsch, wie sie sonst falsch sind. Der Herr Kollege Geißler hat eine Meinung geäußert, die ich in dieser Form nicht teile; ich bin anderer Auffassung. Die Frau Kollegin Hamm-Brücher hat eine Meinung geäußert, die ich nicht teile. Aber niemand wird je auf die Idee kommen, das Recht zu bestreiten, diese Meinung hier zu äußern.
Wertungen müssen jedem einzelnen vorbehalten bleiben. In diesen Wertungen werden wir oft weit auseinander sein. Das schließt aber doch nicht aus, daß ich die Wertung, daß das, was hier geschieht, das Odium des verletzten demokratischen Anstandes hat, wenn ich anderer Meinung bin, zurückweise und diese andere Meinung sage. Denn gerade wenn ich Wert darauf lege, daß jede Meinung frei geäußert werden darf und muß, muß ich auch bereit sein, die Gegenmeinung, und sei sie noch so scharf formuliert, hier vorbringen zu lassen. Darüber, ob er so
7200 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982
Mischnick
oder anders formuliert, muß jeder selbst entscheiden.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Kollegen Kohl sehr dankbar, daß er versucht hat, nicht mehr Scherben entstehen zu lassen, als nötig sind. Wir sind uns einig: Das Recht nach Art. 67 ist ein verfassungsgemäßes Recht. Aber es gibt Kollegen und Kolleginnen — und Frau Hamm-Brücher hat das in für mich ungeheuer eindrucksvoller Weise eben begründet —,
die der Meinung sind, daß es, obwohl es innerhalb der Verfassung ist, nach ihren Maßstäben moralisch-sittlich nicht in Ordnung ist, weil sie nämlich dem Wähler 1980 etwas anderes versprochen haben, als sie jetzt tun sollen. Sie in der CDU sind gar nicht in der Situation, in der die FDP jetzt ist. Aber ich bin der Meinung, wenn eine Kollegin des Hauses das sagt, dann gehört es zu der von Ihnen mit Recht zitierten Toleranz, Herr Kohl, daß ihr diese Meinung abgenommen wird. Sie hat sie keinem anderen aufgezwungen. Darum bin ich der Meinung, Sie sollten Ihren Worten Taten folgen lassen. Ich bitte den Kollegen Geißler sehr herzlich darum, sein Wort vom Verfassungsbruch hier von dieser gleichen Stelle zurückzunehmen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache.
Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Rosenthal.
Herr Präsident! Kollegen aller Parteien! Ich habe es mir wirklich nicht leicht gemacht, hier heraufzukommen, und ich will es Ihnen nicht schwerer machen — nach dem, was ich hier gehört habe — durch eine lange Rede. Ich will nur zwei Punkte aufzeigen, und der eine ist vielleicht auch nicht bei allen in meiner Partei beliebt.
Ich habe zufällig gestern mit dem Bundespräsidenten Carstens gesprochen. Wir waren uns einig; er hat es so gesagt: Wir Deutschen leiden darunter, daß wir wirklich langsam die eingebildeten Kranken werden. Und ich habe gesagt: Wir Deutschen leiden darunter, daß wir die Selbstmiesmacher werden. Wenn einer dies heute mitgehört hat, der Weimar kennt und weiß, wie es in Polen und anderen Ländern aussieht, dann ist ihm bewußt: Dies ist eine würdige Stunde der Demokratie, und wir sollten
stolz auf unsere Demokratie auch in dieser Stunde sein.
Nun der zweite Punkt. Sie, meine Herren Vorsitzenden: Herr Kohl, ich habe ein Papier, wo Ihnen Format abgesprochen werden sollte, nicht unterschrieben. Das halte ich auch nicht für richtig und demokratisch. Aber Sie und Herr Genscher und Herr Strauß haben Neuwahlen versprochen. Ich glaube nicht daran. Sie kennen die Bedenken von der Verfassung, vom Bundespräsidenten.
Herr Barzel, Sie haben von der Gewissensfreiheit des einzelnen Abgeordneten gesprochen. Jetzt lese ich Ihnen etwas vor, was jeden einzelnen von Ihnen in der FDP, jeden einzelnen, wo immer Sie stehen, und jeden einzelnen von Ihnen in der Union angeht — es ist von mir —: Wer nicht weiß, ob Wahlen im Frühjahr, wie versprochen, beabsichtigt oder möglich sind und sich nicht zumindest der Stimme enthält, der hat den Wähler getäuscht und die deutsche Demokratie geschädigt. Das werde ich Ihnen monatelang vorerzählen.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Wahl.
Der Antrag auf Drucksache 9/2004 liegt Ihnen vor. Nach § 97 in Verbindung mit § 49 unserer Geschäftsordnung ist mit verdeckten Stimmkarten, d. h. geheim zu wählen. Nach Art. 67 Abs. 1 des Grundgesetzes ist der Vorgeschlagene gewählt, wenn er mindestens 249 Stimmen, also die absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt.
Ich darf Sie jetzt auf die Formalien für den Wahlgang hinweisen.
Nach Aufruf Ihres Namens erhalten Sie an den Tischen links und rechts von den Schriftführern die allein gültige weiße Stimmkarte. Sie dürfen diese Stimmkarte nur in einer Wahlzelle ankreuzen und müssen — ebenfalls noch in der Wahlzelle — die Stimmkarte in den Umschlag legen.
Gültig sind nur Stimmen auf Stimmkarten mit einem Kreuz bei „Ja" oder „Nein". Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung auf der Stimmkarte. Ungültig sind Stimmen auf nichtamtlichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Bevor Sie die Stimmkarte in die Wahlurne legen, nennen Sie bitte dem Schriftführer Ihren Namen. Die Kennzeichnung Ihres Namens in der Namensliste gilt als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl und ersetzt eine Eintragung in die Anwesenheitsliste.
Ich bitte die Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Für die Stimmkarten der 497 voll stimmberechtigten Abgeordneten ist die gläserne Urne vorgesehen;
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982 7201
Präsident Stücklen
die 22 Berliner Abgeordneten bitte ich, ihre Stimmkarten in die hölzerne Urne einzuwerfen.
Haben die Schriftführer ihre Plätze eingenommen? — Ich eröffne die Stimmabgabe. Darf ich die Schriftführer bitten, mit dem Namensaufruf zu beginnen.
Meine Damen und Herren! Haben alle stimmberechtigten Mitglieder des Hauses von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht? — Noch nicht. Dann warten wir.
Ich bitte den federführenden Schriftführer, mir zu sagen, ob alle Mitglieder des Bundestages — die voll stimmberechtigten und die Berliner Abgeordneten — ihre Stimmen abgegeben haben. Meine Damen und Herren! Nochmals die Frage: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das noch eine Stimme abgeben will? — Dies ist nicht der Fall. Damit ist die Abstimmung, die Wahl beendet.
Für die Dauer der Auszählung der Stimmen unterbreche ich die Sitzung für 30 Minuten. Wir setzen die Sitzung um 15. 10 Uhr fort.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das Ergebnis der Wahl bekannt. Von den voll stimmberechtigten Abgeordneten wurden insgesamt 495 Stimmen abgegeben. Von diesen abgegebenen Stimmen waren 495 Stimmen gültig. Mit Ja haben 256 Abgeordnete gestimmt.
235 Abgeordnete haben mit Nein gestimmt, vier Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Es gab keine ungültigen Stimmen.
Die Berliner Abgeordneten haben wie folgt gestimmt. Abgegebene Stimmen: 21; mit Ja haben 11 Abgeordnete, mit Nein 10 Abgeordnete gestimmt. Enthaltungen: keine, ungültige Stimmen: keine.
Damit ist der Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP nach Art. 67 des Grundgesetzes mit der erforderlichen absoluten Mehrheit der Mitglieder des Bundestages angenommen. Ich stelle fest, der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt.
Ich frage Sie, Herr Dr. Kohl, nehmen Sie die Wahl an?
Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.
Ich spreche Ihnen, Herr Bundeskanzler, die Glückwünsche des Hauses aus und wünsche Ihnen Kraft und Gottes Segen. Damit verbinde ich den Dank an den bisherigen Bundeskanzler und die Mitglieder seiner Regierung.
Das Ergebnis der Abstimmung werde ich unverzüglich dem Herrn Bundespräsidenten mitteilen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute nachmittag um 17.30 Uhr ein. Einziger Punkt der Tagesordnung ist die Eidesleistung des neu gewählten Bundeskanzlers.
Die SPD-Fraktion und die CDU/CSU-Fraktion haben mich gebeten, mitzuteilen, daß sie unverzüglich im Anschluß an diese Sitzung eine Fraktionssitzung haben.
Die Sitzung ist geschlossen.